Entartung 9783110257069, 9783110256406

In a new edition, Karin Tebben presents Nordau’s best-known work “Degeneration” (“Entartung,” 1892/93), which focuses on

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German Pages 860 [864] Year 2013

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Entartung
 9783110257069, 9783110256406

Table of contents :
Text
Entartung. Von Max Nordau. Erster Band
Erstes Buch. Fin de Siècle
I. Völkerdämmerung
II. Symptome
III. Diagnose
IV. Aetiologie
Zweites Buch. Der Mysticismus
I. Psychologie des Mysticismus
II. Die Präraphaeliten
III. Die Symbolisten
IV. Der Tolstoismus
V. Der Richard-Wagner-Dienst
VI. Parodieformen der Mystik
Entartung. Von Max Nordau. Zweiter Band
Drittes Buch. Die Ich-Sucht
I. Psychologie der Ich-Sucht
II. Parnassier und Diaboliker
III. Decadenten und Aestheten
IV. Der Ibsenismus
V. Friedrich Nietzsche
Viertes Buch. Der Realismus
I. Zola und die Zolaschulen
II. Die „jungdeutschen“ Nachäffer
Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert
I. Prognose
II. Therapie
Anhang
Editorische Notiz
Kommentar
Nachwort
Personenregister
Sachregister
Dank

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Max Nordau Entartung

Europäisch-jüdische Studien Editionen

Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß

Max Nordau

Entartung

Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Karin Tebben

DE GRUYTER

Die Arbeit an diesem Buch wurde durch großzügige Zuwendungen der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt.

ISBN ---- e-ISBN ---- ISSN - Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems GmbH, Wustermark Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Text 1 Entartung. Von Max Nordau. Erster Band 3 11 Erstes Buch. Fin de Siècle. I. Völkerdämmerung. 13 II. Symptome. 19 III. Diagnose. 27 IV. Aetiologie. 45 Zweites Buch. Der Mysticismus. 55 I. Psychologie des Mysticismus. 57 II. Die Präraphaeliten. 77 III. Die Symbolisten. 108 IV. Der Tolstoismus. 149 V. Der Richard-Wagner-Dienst. 174 VI. Parodieformen der Mystik. 214 Entartung. Von Max Nordau. Zweiter Band 241 Drittes Buch. Die Ich-Sucht. 245 I. Psychologie der Ich-Sucht. 247 II. Parnassier und Diaboliker. 271 III. Decadenten und Aestheten. 298 IV. Der Ibsenismus. 338 V. Friedrich Nietzsche. 409 Viertes Buch. Der Realismus. 461 I. Zola und die Zolaschulen. 463 II. Die „jungdeutschen“ Nachäffer. 495 Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert. 527 I. Prognose. 529 II. Therapie. 542 Anhang 553 Editorische Notiz 555 Kommentar 557 Nachwort 773 Personenregister 823 Sachregister 832 Dank 848

Text

Entartung. |

[I]

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Entartung. Erster Band

Max Nordaus Schriften: Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande.  Bände. Leipzig, . Seifenblasen. Federzeichnungen und Geschichten. Leipzig, . Vom Kreml zur Alhambra. Kulturstudien.  Bände. Leipzig, . Paris unter der dritten Republik. Neue Bilder aus dem wahren Milliardenlande. Leipzig, . Der Krieg der Millionen. Schauspiel in fünf Aufzügen. Leipzig, . Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig . Paradoxe. Leipzig, . Ausgewählte Pariser Briefe. Kulturbilder. Leipzig, . Die Krankheit des Jahrhunderts. Roman.  Bände. Leipzig, . Gefühlskomödie. Roman. Breslau, . Seelenanalysen. Novellen. Berlin, . |



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Entartung. Erster Band

Entartung.

Von Max Nordau.

Erster Band.

 Berlin NW.

Verlag von Carl Duncker. .

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Entartung. Erster Band

Herrn Cesare Lombroso, Professor der Irrenheilkunde und gerichtlichen Medizin an der Universität zu Turin, gewidmet vom Verfasser.



Entartung. Erster Band

Statt eines Vorwortes.



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Herrn Professor Cesare Lombroso in Turin. Hochgeehrter und theurer Meister, Ich widme Ihnen dieses Buch, um laut und freudig die Thatsache anzuerkennen, daß es ohne Ihre Arbeiten nie hätte geschrieben werden können. Der zuerst von Morel in die Wissenschaft eingeführte, durch Sie genial ausgestaltete Begriff der Entartung hat sich, von Ihnen gehandhabt, bereits nach den verschiedensten Richtungen hin überaus fruchtbar erwiesen. Sie haben über zahlreiche dunkle Hauptstücke der Irrenheilkunde, des Strafrechts, der Politik und Gesellschaftslehre eine wahre Flut von Licht verbreitet, welche nur von denen nicht wahrgenommen wird, die aus eigensinniger Verstocktheit ihre Augen schließen oder die zu blödsichtig sind, um noch aus irgend einer Helligkeit Nutzen zu ziehen. In ein weites und wichtiges Gebiet aber haben bisher weder Sie noch Ihre Schüler die Leuchte Ihrer Methode getragen, nämlich in das der Kunst und des Schriftthums. Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituirte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler. Aber diese weisen dieselben geistigen — und meist auch leiblichen — Züge auf wie diejenigen Mitglieder der nämlichen anthropologischen Familie, die ihre ungesunden Triebe mit dem Messer des Meuchelmörders oder der Patrone des Dynamit-Gesellen statt mit der Feder oder dem Pinsel befriedigen. Einige dieser Entarteten des Schriftthums, der Musik und Malerei sind in den letzten Jahren außerordentlich in Schwang gekommen und werden von zahlreichen Verehrern als Schöpfer einer neuen Kunst, als Herolde der kommenden Jahrhunderte gepriesen. Das ist keine gleichgiltige Erscheinung. Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen. Aus ihnen schöpft ein Zeitalter sein Ideal von Sittlichkeit und Schönheit. Wenn sie nun unsinnig und gesellschaftfeindlich sind, so wirken sie verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts. Dieses, namentlich die eindrucksfähige, sich für alles Seltsame und scheinbar Neue leicht begeisternde Jugend, muß deshalb gewarnt und über die wirkliche Natur der blind bewunderten Schöpfungen aufgeklärt werden. Die landläufige Kritik thut dies nicht. Eine ausschließlich literarisch-ästhetische Bildung ist ja auch die denkbar schlechteste Vorbereitung zu einer richtigen Erkenntniß des pathologischen Charakters der Werke von Entarteten. Der phrasendreschende Schöngeist trägt mehr oder weniger zierlich, hochtrabend oder geistreichelnd die subjektiven Eindrücke vor, die er von den kritisirten Werken empfängt, | ist aber [VIII] außer Stande, zu beurtheilen, ob diese Werke die Ausgeburten eines zerrütteten Gehirns sind und welcher Art die Geistesstörung ist, die sich in ihnen ausdrückt. Ich habe es nun unternommen, die Moderichtungen in Kunst und Schriftthum möglichst nach Ihrer Methode zu untersuchen und den Nachweis zu führen, daß

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Entartung. Erster Band

sie ihren Ursprung in der Entartung ihrer Urheber haben und daß ihre Bewunderer für Kundgebungen des stärker oder schwächer ausgesprochenen moralischen Irrsinns, des Schwachsinns und der Verrücktheit schwärmen. So ist dieses Buch ein Versuch wirklich wissenschaftlicher Kritik, die ein Werk nicht nach den sehr zufälligen, grillenhaften und mit dem Temperament und der Stimmung des einzelnen Lesers wechselnden Emotionen beurtheilt, welche es erweckt, sondern nach den psychophysiologischen Elementen, aus denen es entstanden ist, und es wagt zugleich eine Lücke ausfüllen zu wollen, die in dem mächtigen Bau Ihres Systems noch besteht. Ueber die Folgen, welche mein Beginnen für mich haben wird, bin ich nicht im Zweifel. Es ist heute ungefährlich, die Kirche anzugreifen, denn sie verfügt nicht mehr über Scheiterhaufen; auch gegen Herrscher und Regierung zu schreiben ist wenig bedenklich, denn schlimmstenfalls wird man eingesperrt und hat als Entschädigung den Ruhm der Blutzeugenschaft. Uebel aber ist das Schicksal desjenigen, der sich unterfängt, ästhetische Moden als Formen geistiger Zersetzung zu kennzeichnen. Der getroffene Schriftsteller oder Künstler verzeiht es nie, daß man ihn als Geisteskranken oder Erfolg-Schwindler erkannt hat; die subjektiv schwatzende Kritik ist wüthend, daß man ihr nachweist, wie seicht und unzuständig sie ist oder wie feig sie mit dem Strome schwimmt; und selbst das Publikum ist geärgert, wenn es einsehen muß, daß es hinter Narren, Zahnbrechern und JahrmarktRufern wie hinter Propheten hergelaufen ist. Die Graphomanen und ihre kritische Leibwache beherrschen aber ungefähr die ganze Presse und besitzen in dieser das Marterwerkzeug, um den unbequemen Spielverderber bis an sein Lebensende indianisch zu foltern. Doch die Gefahr, der er sich aussetzt, kann einen Mann nicht abhalten, das zu thun, was er als seine Pflicht erkannt hat. Wenn man eine wissenschaftliche Wahrheit gefunden hat, schuldet man sie der Menschheit und darf sie ihr nicht vorenthalten. Aber man kann es nicht einmal, ebensowenig wie das Weib sich willkürlich enthalten kann, die gereifte Frucht seines Leibes zu gebären. Ohne mich im Entferntesten mit Ihnen, einer der stolzesten geistigen Erscheinungen des Jahrhunderts, vergleichen zu wollen, darf ich mir doch die lächelnde Ruhe zum Beispiel nehmen, mit der Sie Ihren Weg gehen, ohne sich um Verkennung, Begeiferung und Unverstand zu kümmern. Bleiben Sie weiter gewogen, hochgeehrter und theurer Meister, Ihrem dankbar ergebenen Max Nordau.

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Entartung. Erster Band

Inhalt. Erstes Buch. Fin de Siècle. I. Völkerdämmerung . . . . II. Symptome . . . . . . . . . .  III. Diagnose . . . . . . . . . . . IV. Aetiologie . . . . . . . . . .

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Seite    

Zweites Buch. Der Mysticismus. I. Psychologie des Mysticismus II. Die Präraphaeliten . . . . . . . .  III. Die Symbolisten . . . . . . . . . IV. Der Tolstoismus . . . . . . . . . . V. Der Richard-Wagner-Dienst . . VI. Parodieformen der Mystik . .

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Druck von G. A. Brodmann in Erfurt.

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Entartung. Erster Band

Entartung. Erster Band

Erstes Buch. Fin de Siècle.

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

Völkerdämmerung.

I. Völkerdämmerung.



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Der gemeinsame Charakter zahlreicher Zeiterscheinungen wird ebenso wie die Grundstimmung, die sich in ihnen ausdrückt, in den Namen „fin-de-siècle“ zusammengefaßt. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Bezeichnung für einen Begriff der Sprache des Volkes entnommen zu sein pflegt, welches diesen zuerst gebildet hat. Die Sprachforschung im Dienste der Sittengeschichte hat dieses Gesetz stets benutzt, um aus der Herkunft der Wortwurzeln Aufschlüsse über die Heimat der frühesten Erfindungen und über den Entwickelungsgang der verschiedenen Menschenracen zu gewinnen. „Fin-de-siècle“ ist französisch, denn in Frankreich ist man sich zuerst des Seelenzustandes bewußt geworden, den man so nennt. Das Wort ist durch beide Welten geflogen und hat in alle gebildeten Sprachen Eingang gefunden. Ein Beweis, daß dafür ein Bedürfniß bestand. Der „fin-de-siècle“Zustand der Geister ist heute überall anzutreffen, doch ist er in vielen Fällen bloße Nachahmung einer für vornehm geltenden fremden Mode und nicht organisch entstanden; am echtesten tritt er doch in seinem Ursprungslande auf und Paris ist der richtige Ort, um ihn in seinen mannigfaltigen Kundgebungen zu beobachten. Daß das Wort an sich ein höchst einfältiges ist, bedarf keines Beweises. Nur das Gehirn eines Kindes oder eines Wilden konnte die grobe Vorstellung bilden, daß das Jahrhundert eine Art lebenden Wesens sei, das wie ein Thier oder Mensch geboren wird, alle Abschnitte des Daseins durchläuft, | nach einer blühenden Kind- [] heit, fröhlichen Jugend und kräftigen Reife allmälig altert und verfällt, um mit dem Ablaufe des hundertsten Jahres zu sterben, nachdem es in seinem letzten Jahrzehnte von allen Gebrechen kläglicher Greisenhaftigkeit heimgesucht war. Dieser kindische Anthropo- oder Zoomorphismus bedenkt nicht einmal, daß die willkürliche Theilung der ewig gleichmäßig dahinrollenden Zeit nicht bei allen gesitteten Menschen die nämliche ist und daß zu derselben Zeit, da das verkörpert gedachte neunzehnte Jahrhundert der Christenheit angeblich in tiefster Erschöpfung seinem Tode entgegensiecht, das vierzehnte Jahrhundert der mohamedanischen Welt noch in den Kinderschuhen seines ersten Jahrzehnts dahinhüpft und das siebenundfünfzigste Jahrhundert der Juden mit seinem zweiundfünfzigsten Jahre gerade auf der Höhe seiner Entwickelung stattlich einherschreitet. Jeden Tag wird auf unserm Erdball ein Geschlecht von . Menschen geboren, für das die Welt mit diesem Tage neu beginnt, und der junge Weltbürger ist weder welker noch frischer, ob er nun  inmitten des Todeskampfes des neunzehnten oder  am Geburtstage des zwanzigsten Jahrhunderts ins Leben gesprungen ist. Es ist aber französische Sprachgepflogenheit, für das eigene Mißgeschick Andere zu bedauern. Man kann in Frankreich jeden Tag Reden wie diese hören: „Mein armer Freund, wissen Sie, was geschehen ist? Ich habe mein ganzes Vermögen verloren!“ Diese den Deutschen gewiß wunderlich anmuthende Redeweise geht aus der unbewußt selbstverliebten Vorstellung des Franzosen hervor, daß das, was ihn betrifft, für die ganze Welt von höchster Wichtigkeit und seine jämmerliche Lage für die übrige Mensch-

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

heit mindestens ein ebenso großes Unglück ist wie für ihn selbst. Dieser naiv egoistischen Denkgewohnheit entspricht es, daß die Franzosen ihre eigene Greisenhaftigkeit dem Jahrhundert andichten und von „fin-de-siècle“ sprechen, wo sie richtig „fin de race“ sagen sollten. | [] Aber so thöricht das Wort „fin-de-siècle“ sein mag, die Geistesbeschaffenheit, die es bezeichnen soll, ist in den führenden Gruppen thatsächlich vorhanden. Die Zeitstimmung ist eine seltsam wirre, aus fieberhafter Rastlosigkeit und stumpfer Entmuthigung, aus ahnender Furcht und verzichtendem Galgenhumor zusammengesetzte. Die vorherrschende Empfindung ist die eines Untergehens, eines Erlöschens. „Fin-de-siècle“ ist ein Beicht-Bekenntniß und zugleich eine Klage. Der alte nordische Glaube enthielt die schauerliche Lehre von der Götterdämmerung. In unseren Tagen erwacht in den höher entwickelten Geistern In dunkles Bangen vor einer Völkerdämmerung, in der alle Sonnen und Sterne allmälig verglimmen und inmitten der sterbenden Natur die Menschen mit allen ihren Einrichtungen und Schöpfungen vergehen. Es ist nicht das erstemal im Laufe der Geschichte, daß ein WeltuntergangsGrauen die Geister erfaßt. Beim Herannahen des Jahres  bemächtigte sich der christlichen Völker ein ähnliches Gefühl. Aber der chiliastische Schrecken unterscheidet sich doch wesentlich von den fin-de-siècle-Erregungen. Die Verzweiflung der Menschen um die Wende des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung ging aus einem Gefühle der Lebensfülle und Lebenslust hervor. Man spürte die Säfte in allen Gliedern ungestüm kreisen, man hatte das Bewußtsein ungeschwächter Genußfähigkeit und fand es unverwindbar entsetzlich, zusammen mit der Welt unterzugehen, da es noch so viele Becher zu leeren und Lippen zu küssen gab und man sich der Liebe wie des Weines noch so kraftvoll erfreuen konnte. Davon ist in der fin-de-siècle-Empfindung nichts enthalten. Sie hat auch nichts mit der ergreifenden Abendroth-Schwermuth eines Faust gemein, der im Alter sein Lebenswerk überblickt, auf das Gelungene stolz ist, aber bei der Betrachtung des Begonnenen, nicht Vollendeten vom heftigen Verlangen, es vollbracht zu sehen, ergriffen wird [] und, von seiner treibenden | Unruhe nachts geweckt, mit dem Rufe aufspringt: „Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen“. Die fin-de-siècle-Stimmung ist ganz anders. Sie ist die ohnmächtige Verzweiflung eines Siechlings, der inmitten der übermüthig blühenden, ewig weiterlebenden Natur sich zollweise sterben fühlt, der Neid des greisen, reichen Wüstlings, der ein junges Liebespaar einem verschwiegenen Waldversteck zustreben sieht, die Beschämung von Erschöpften und Unfähigen, die sich vor einer Pest von Florenz in einen zauberischen Garten geflüchtet hätten, um einen Decamerone zu erleben, und sich vergebens abquälen würden, um der unsichern Stunde noch einen Sinnenrausch zu entreißen. Wer „das adlige Nest“ von Turgenjeff gelesen hat, erinnert sich des Schlusses dieser edeln Dichtung. Der Held, Lavretzky, kommt als alternder Mann in das Haus zu Besuche, wo er in jüngeren Jahren seinen Liebesroman erlebt hat. Es ist Alles unverändert: im Garten duften die Blumen, in den großen Bäumen nisten lustig

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Völkerdämmerung.

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zwitschernde Vögelchen, auf dem frischen Rasen tummeln sich übermüthige,  jauchzende Kinder, nur Lavretzky ist alt geworden und blickt, ein gramvoller Aus-

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geschlossener, auf das Bild dieser Natur, die fröhlich weiterlebt und sich nicht darum kümmert, daß die geliebte Lisa verschwunden und Lavretzky ein gebrochener, lebensmüder Mann geworden ist. Lavretzkys Erkenntniß, daß inmitten dieser ewig jungen, ewig blühenden Natur er allein keinen kommenden Morgen mehr hat, Alvings Todesschrei nach „der Sonne, der Sonne“ in Ibsens „Gespenstern“, das ist die richtige „fin-de-siècle“-Verfassung der Zeitgenossen. Das Modewort hat die nothwendige Unbestimmtheit, welche es geeignet macht, all das Halbbewußte und Undeutliche zu bezeichnen, das sich in den Geistern regt. Wie die Worte „Freiheit“, „Ideal“, „Fortschritt“, die Begriffe auszudrücken scheinen und thatsächlich blos Laute sind, so sagt auch „fin-de-siècle“ an sich nichts und empfängt eine wechselnde Bedeutung | von der verschiedenartigen [] Vorstellungs-Welt derjenigen, die es gebrauchen. Das sicherste Mittel, um zu wissen, was man sich unter „fin-de-siècle“ denkt, ist, eine Reihe von Einzelfällen zu betrachten, in welchen das Wort angewendet worden ist. Diejenigen, die hier angeführt werden, sind aus französischen Zeitschriften und Büchern der beiden letzten Jahre geschöpft. Ein König dankt ab, verläßt sein Land und schlägt seinen Wohnsitz in Paris auf. Er hat sich noch gewisse politische Rechte gewahrt. Eines Tages verspielt er viel Geld und geräth in eine Klemme. Da schließt er mit der Regierung seines Landes einen Vertrag, nach welchem er gegen Bezahlung einer Million Franken für jetzt und immer auf alle ihm noch gebliebenen Titel, amtlichen Stellungen und Vorrechte verzichtet. Fin-de-siècle-König. Ein Bischof wird wegen Beleidigung des Kultusministers seines Landes gerichtlich verfolgt. Bei der Schlußverhandlung läßt er durch seine Domherren, die ihn begleiten, eine vorher vervielfältigte Vertheidigungsrede im Gerichtssaal an die Zeitungsberichterstatter vertheilen. Nach seiner Verurtheilung zu einer Geldstrafe veranstaltet er eine öffentliche Sammlung, die ihm mehr als das Zehnfache des Betrages der Buße einbringt. Er gibt einen Reklame-Band heraus, der alle an ihn gelangten Zustimmungsschreiben gesammelt enthält. Er macht eine Rundreise durch das Land, stellt sich in allen Kathedralen vor der auf die Tagesberühmtheit neugierigen Menge zur Schau und läßt bei der Gelegenheit den Klingelbeutel herumgehen. Fin-de-siècle-Bischof. | Der Mörder Pranzini wird nach seiner Hinrichtung auf die Anatomie gebracht. [] Das Haupt der Geheimpolizei schneidet sich von der Leiche ein großes Stück der

  Eine vieraktige Komödie von H. Micard und F. de Jouvenot, „Fin-de-siècle“, die  in Paris gespielt wurde, ist zur Feststellung des von den Franzosen mit dem Worte verbundenen Sinnes kaum zu gebrauchen, weil es den Verfassern nicht um die Darstellung einer Zeitstimmung oder eines Seelenzustandes, sondern blos darum zu thun war, ihrem Stück einen Titel zu geben, den sie für zugkräftig hielten.

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

Haut ab, läßt diese gerben und aus dem Leder für sich und einige Freunde Zigarren- und Visitenkarten-Taschen anfertigen. Fin-de-siècle-Beamter. Ein Amerikaner läßt sich in einer Gasanstalt mit seiner Braut trauen, besteigt dann mit ihr einen bereitgehaltenen Luftballon und tritt die Hochzeitsreise in die Wolken an. Fin-de-siècle-Hochzeit. Ein chinesischer Gesandtschafts-Attaché gibt unter seinem Namen geistreiche Bücher in französischer Sprache heraus. Er unterhandelt mit Banken wegen einer großen Anleihe seiner Regierung und läßt sich auf das abzuschließende Geschäft starke Geldbeträge vorschießen. Später stellt sich heraus, daß die Bücher von seinem französischen Sekretär verfaßt sind und daß er die Banken beschwindelt hat. Fin-de-siècle-Diplomat. Ein Quartaner geht mit einem Kameraden an dem Gefängniß vorbei, in dem sein Vater, ein reicher Bankier, wiederholt wegen betrügerischen Bankerotts, Unterschlagung und ähnlicher einträglicher Verbrechen gesessen hat. Er zeigt seinem Freund das Gebäude und sagt lächelnd: „Siehst du, das ist das Gymnasium meines Papas.“ Fin-de-siècle-Sohn. Zwei Fräulein aus guter Familie, Pensionsfreundinen plaudern mit einander. Die eine seufzt. „Was hast du?“ fragt die andere. „Schweren Kummer“, ist die Antwort. „Was ist es?“ „Ich liebe Raoul und er liebt mich.“ „Das ist ja reizend! Er ist schön, jung, elegant — und darüber bist du betrübt?“ „Ja, aber er hat nichts und ist nichts und meine Eltern wollen, daß ich den Baron heirate, der fett, kahl und häßlich ist, aber ungeheuer viel Geld hat.“ „So heirate doch ruhig den Baron und mache Raoul mit ihm bekannt, du Gänschen!“ Fin-de-siècle-Fräulein. | [] Diese Proben lassen erkennen, wie das Wort in seinem Ursprungslande verstanden wird. Die deutschen Nachäffer der Pariser Moden, welche „fin-de-siècle“ ziemlich ausschließlich im Sinne von zotenhaft und unzüchtig anwenden, mißbrauchen in ihrer groben Unwissenheit das Wort ebenso, wie sie ein Menschenalter vorher den Ausdruck „demi-monde“ aus Unkenntniß seiner eigentlichen Bedeutung vergemeinert und ihm den Sinn von „Freudendirne“ gegeben haben, während sein Schöpfer Dumas mit diesem Worte Personen bezeichnen wollte, in deren Leben ein dunkler Punkt ist und die deshalb aus dem Kreise ausgeschlossen wurden, dem sie durch Geburt, Erziehung oder Laufbahn angehören, die aber durch ihr Auftreten, wenigstens dem Unkundigen, nicht verrathen, daß sie nicht länger anerkannte Mitglieder ihrer Kaste sind. Auf den ersten Blick scheint ein König, der seine Herrscherrechte um einen ansehnlichen Check verkauft, wenig Aehnlichkeit mit Neuvermählten zu haben, die ihre Hochzeitsreise in einem Luftballon machen, und der Zusammenhang zwischen einem bischöflichen Barnum und einem wohlerzogenen Fräulein, das der Freundin zu einer durch einen Hausfreund gemilderten Geldheirat räth, ist nicht sofort zu erkennen. Und doch haben alle diese fin-de-siècle-Fälle ein Gemeinsames: die Mißachtung der herkömmlichen Anschauungen von Anstand und Sitte. Das ist der Begriff, der dem Worte „fin-de-siècle“ zu Grunde liegt: die praktische Lossagung von der überlieferten Zucht, die theoretisch noch zu Kraft besteht.

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Dem Wüstling bedeutet dies zügellose Unflätigkeit, die Entfesselung der Bestie im Menschen; dem trockenen Selbstling die Verachtung aller Rücksicht auf die Nebenmenschen, das Niedertreten aller Schranken, welche rohe Geldgier und Genußsucht einschließen; dem Weltverächter das unverschämte Hervortreten der niedrigen Triebe und Beweggründe, welche man sonst, wenn nicht tugendhaft zu unterdrücken, doch heuchlerisch zu verbergen | pflegte; dem Gläubigen die [] Abschüttelung des Dogmas, die Leugnung der übersinnlichen Welt, das Aufgehen im flachen Phänomenismus; dem Feinfühligen, nach ästhetischen Nervenschwingungen Verlangenden das Schwinden des Ideals in der Kunst und deren Unvermögen, mit den alten Formen noch Empfindungen zu erregen; Allen aber das Ende einer Weltordnung, die Jahrtausende lang die Logik befriedigt, die Ruchlosigkeit gebändigt und in allen Künsten Schönes gezeitigt hat. Ein Geschichtsabschnitt neigt sich unverkennbar zur Rüste und ein anderer kündigt sich an. Durch alle Ueberlieferungen geht ein Riß und Morgen scheint nicht an Heute anknüpfen zu wollen. Das Bestehende wankt und stürzt, man läßt es niedertaumeln, weil man seiner satt ist und nicht glaubt, daß seine Erhaltung eine Anstrengung werth sei. Die Anschauungen, die bisher die Geister beherrscht haben, sind todt oder wie entthronte Könige verjagt; um ihre Erbschaft ringen berechtigte und anmaßende Nachfolger. Einstweilen waltet das Interregnum mit all seinen Schrecken: Verwirrung der Gewalten, Rathlosigkeit der ihrer Führer beraubten Menge, Willkür der Starken, Auftauchen falscher Propheten, Entstehen vergänglicher, doch um so tyrannischerer Theilherrschaften. Sehnsüchtig blickt man nach dem kommenden Neuen aus, ohne indeß zu ahnen, aus welcher Richtung es zu erwarten ist und was es sein wird. Im Durcheinander der Gedanken erhofft man von der Kunst Aufschlüsse über die Ordnung, welche dem Wirrwarr folgen soll. Der Dichter, der Musiker soll verkünden oder doch errathen, mindestens ahnen lassen, in welchen Formen die Gesittung sich weiter entwickeln wird. Was wird morgen sittlich, was schön sein? Was wird man morgen wissen, woran glauben, wofür sich begeistern, wie genießen? So tönt die tausendstimmige Frage aus der Menge und wo ein Marktschreier eine Bude aufthut und eine Antwort zu haben behauptet, wo ein Narr oder ein Schwindler | plötzlich in Vers oder Prosa, [] in Tönen oder Farben zu weissagen beginnt oder seine Kunst anders zu üben vorgibt wie seine Vorgänger und Wettbewerber, da entsteht ein großer Zulauf zu ihm, die Leute, die sich um ihn drängen, suchen in seinen Leistungen wie in Orakeln der Pythia einen Sinn zu errathen und sie zu deuten und je dunkler, je nichtssagender sie sind, umso mehr Zukunft scheinen sie den armen nach Offenbarungen lechzenden Maulaffen in sich zu schließen und umso gieriger, umso leidenschaftlicher werden sie ausgelegt. Das ist der Anblick, den im rothen Lichte der Völkerdämmerung das Menschengetriebe darbietet. Die geballten Wolken am Himmel flammen in der unheimlich schönen Lohe, die nach dem Krakatoa-Ausbruche jahrelang beobachtet wurde. Über die Erde kriechen tiefer und tiefer werdende Schatten und hüllen die Erschei-

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

nungen in ein geheimnißvolles Dunkel, das alle Gewißheiten zerstört und alle Ahnungen gestattet. Die Formen verlieren ihre Umrisse und lösen sich in fließende Nebel auf. Ein Tag ist vorüber, die Nacht zieht herauf. Die Alten sehen ihr mit Bangen entgegen, denn sie fürchten, daß sie ihr Ende nicht erleben werden. Einige wenige Junge und Starke fühlen in allen Adern und Nerven ihre Lebenskraft und freuen sich auf den Sonnenaufgang. Die Träume, welche die Stunden der Dunkelheit bis zum Anbruch des neuen Tages ausfüllen, sind bei jenen trostlose Erinnerungen, bei diesen hochgemuthe Hoffnungen, und die Form, in der diese Träume sinnfällig werden, sind die künstlerischen Hervorbringungen der Zeit. Hier ist der Platz, einem möglichen Mißverständnisse vorzubeugen. Die große Mehrheit der mittleren und unteren Klassen ist natürlich nicht „fin-de-siècle“. Zwar wühlt die Zeitstimmung die Völker bis in ihre letzten Tiefen auf und erweckt selbst im dunkelsten, rudimentärsten Menschen ein wunderliches Gefühl des Wogens und Treibens. Aber dieser Zustand mehr oder minder leichter seelischer Seekrank[] heit | erregt in ihm nicht die Gelüste schwangerer Frauen und drückt sich nicht in neuen ästhetischen Bedürfnissen aus. Der Philister und der Proletarier, wenn er sich nicht vom höhnischen Blick eines Modemenschen beobachtet weiß und sich ohne Zwang seinen eigenen Neigungen hingibt, findet noch immer ungemischte Befriedigung an den alten und ältesten Kunst- und Dichtungformen. Er zieht Ohnets Romane allen Symbolisten und Mascagnis „Bauernehre“ allen WagnerSchülern und Wagner selbst vor; er unterhält sich königlich bei Ohrfeigen-Possen und Tingeltangel-Gassenhauern und gähnt oder ärgert sich bei Ibsen; er bleibt bei Oelfarbendrucken nach Münchener Bierkneipen- und Bauernschenken-Bildern vergnügt stehen und geht an den Freiluftmalern ohne einen Blick vorüber. Nur eine ganz kleine Minderheit findet an den neuen Richtungen aufrichtig Gefallen und verkündet sie mit echter Ueberzeugung als die allein berechtigten, als die allein in die Zukunft führenden, Genuß und Erbauung gewährenden. Aber diese Minderheit hat die Gabe, die ganze sichtbare Oberfläche der Gesellschaft einzunehmen, wie eine sehr geringe Menge Öls weite Ausdehnungen des Meeresspiegels zu bedecken vermag. Sie besteht meist aus reichen und vornehmen Leuten oder aus Fanatikern; jene geben allen Gecken, Thoren und Flachköpfen den Ton an, diese machen auf die Schwachen und Unselbstständigen Eindruck und schüchtern die Aengstlichen ein. Alle Snobs heucheln, denselben Geschmack zu haben wie die ausschließende und sich absondernde Minderheit, die mit Mienen tiefster Verachtung an allem vorübergeht, was bisher für schön galt, und so kann der Schein entstehen, als ob die ganze gesittete Menschheit zur Völkerdämmerungs-Aesthetik bekehrt wäre.

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Mischen wir uns auf den Zierplätzen europäischer Großstädte, auf den Spazierwegen vornehmer Badeorte, bei Abend-Empfängen reicher Leute unter die Menge und betrachten wir die Gestalten, aus denen sie sich zusammensetzt. Von den Frauen trägt die eine das Haupthaar rückwärts glatt hinabströmend wie die Rafaelische Maddalena Doni in den Uffizien von Florenz, die andere trägt es zu einem Stirnwulst hoch aufgebaut wie Julia, Tochter des Titus, oder Plotina, die Gattin des Trajan auf den Büsten im Louvre, eine dritte vorn kurz verschnitten, an den Schläfen und im Nacken lang wallend, gekräuselt und locker zerblasen nach der Mode des fünfzehnten Jahrhunderts, wie man sie bei Gentile Bellini, bei Botticelli, bei Mantegna an den Köpfen von Pagen und jungen Rittern dargestellt sieht. Bei vielen ist das Haar gefärbt, und zwar so, daß es durch seine Auflehnung gegen das Gesetz des organischen Zusammenklanges überrasche und wie eine gewollte Dissonanz wirke, welche ihre Auflösung in der höhern Polyphonie der Gesammttoilette finden soll. Diese dunkelhäutige und schwarzäugige Frau schlägt der Natur ein Schnippchen, indem sie ihr braun getöntes Gesicht kupferroth oder goldgelb umrahmt, jene blauäugige Schöne mit Milch- und Blut-Färbung steigert die Helligkeit ihrer Wangen durch eine Einfassung von künstlich blauschwarzen Locken. Diese bedeckt ihr Haupt mit einem mächtigen, schweren Filzhut, der mit seinem hinten aufgeklappten Rand und seinem Aufputz von | großen Plüschbällen [] unverkennbar dem Sombrero der spanischen Stierkämpfer nachgebildet ist, welche während der Weltausstellung von  ihre Kunst in Paris geübt und den Modistinen allerlei Motive eingegeben haben; jene pflanzt auf ihr Haar das smaragdgrüne oder rubinrothe Sammtbarett der fahrenden Schüler des Mittelalters. Der Anzug setzt die Seltsamkeiten der Haartracht und Hutform fort. Hier ein bis zum Gürtel reichendes, an der einen Seite geschlitztes Mäntelchen, das sich vor der Brust wie ein Thürvorhang drapirt und am Saume mit kleinen Seidenknäuelchen besetzt ist, deren unaufhörliches Bimmeln einen nervösen Zuschauer binnen kürzester Frist hypnotisiren oder in wilde Flucht jagen muß; dort ein griechischer Peplos, dessen Name dem Schneider so geläufig geworden ist wie einem ehrbaren Altphilologen; neben der steifen Monumental-Robe der Katharina von Medicis und dem hohen Panzerkragen der Maria Stuart die fließenden weißen Gewänder der Verkündigungs-Engel auf den Schildereien Memlings und im größten Gegensatze dazu ein Zerrbild männlicher Tracht: anliegender Tuchrock mit weitoffener Brustklappe, Weste, gestärkte Hemdbrust, kleiner Stehkragen und Halsbinde. Als Grundform erscheint bei der Mehrheit, die nicht hervortreten will und sich zu phantasieloser Durchschnittlichkeit bescheidet, ein gequältes Rococo mit verwirrenden Schräglinien, mit unverständlichen Wülsten, Bäuschen, Schwellungen und Einziehungen, mit Faltenzügen ohne vernünftigen Anfang und begründetes Ende, worin alle Umrisse der Menschengestalt untergehen und das den weiblichen Körper bald einem Thier der Apokalypse, bald einem Armstuhl, einem Triptychon oder sonstigem Prunkgeräth ähnlich macht.

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Die Kinder der so herausgeputzten Mütter wandeln neben ihnen als Verkörperungen einer der unleidlichsten Verirrungen, auf die jemals die kranke Einbildungskraft einer bejammernswerthen alten Jungfer verfallen ist. Sie sind lebendig [] ge-|wordene Bilder der unausstehlichen Engländerin Kate Greenaway, die durch ihre Ehelosigkeit zum Verzicht auf die Mutterfreuden verurtheilt ist und deren unterdrückte und in Folge dessen naturwidrig entartete Kinderliebe in greulich manierirten Zeichnungen Befriedigung sucht, welche Kinder in den lächerlichsten Verkleidungen zeigen und geradezu eine Entehrung der heiligen Kindheit darstellen. Dieser Knirps ist von Kopf bis Fuß blutroth in die Tracht eines mittelalterlichen Henkers gekleidet, jenes vierjährige Mädchen trägt einen Cabriolet-Hut von Urgroßmutterform und schleift einen Staatsmantel aus schreiend gefärbtem Sammt nach, ein anderes Würmchen, das sich noch kaum auf den Wackelbeinchen halten kann, steckt im schoppärmeligen, kurzleibigen, langschößigen, hochgegürteten Schleppkleide einer Empire-Dame u. s. w. Die Männer vervollständigen das Bild. Zwar in der Tracht sind sie durch Furcht vor dem Lachen der Philister oder durch einen Rest von Gesundheit des Geschmacks vor schlimmeren Absonderlichkeiten bewahrt und bis auf den rothen Frack mit Metallknöpfen und die Kniehosen mit Seidenstrümpfen, mit welchen einige Monocle- und Gardenia-Idioten den Künstlern der Affentheater ähnlich zu werden suchen, bemerkt man an ihnen wenig, was vom herrschenden Kanon der männlichen Kleidung unserer Zeit abweicht. Aber bei der Herrichtung der Köpfe übt die Einbildungskraft umso freier ihre Laune. Dieser zeigt die kurzen Löckchen und den gekräuselten zweispitzigen Bart des Lucius Verus, jener den in der Mitte in breitem Streifen kahlgeschorenen, an den Seiten länger behaarten Kopf und den spärlich gepflanzten, wie bei Katzen gesträubten Schnurrbart eines japanischen Kakemono, sein Nachbar den Knebelbart Heinrichs IV., ein Anderer den wilden Schnauzbart eines F. Brun’schen Landsknechts oder den energischen Bartstummel der bürgerlichen Schützen auf der Nachtrunde von Rembrandt u. s. w. | [] Der gemeinsame Charakter aller dieser Menschen-Erscheinungen ist, daß sie nicht ihre wirkliche Eigenart geben, sondern etwas darstellen wollen, was sie nicht sind. Sie begnügen sich nicht damit, ihre natürliche Bildung zu zeigen, auch nicht damit, diese mit erlaubter Nachhilfe ihrem richtig empfundenen Typus entsprechend zu vervollkommnen, sondern suchen irgend ein Vorbild aus der Kunst zu verkörpern, das mit ihrem eigenen Schema keine Verwandtschaft hat, ja ihm oft heftig entgegengesetzt ist; und meist nicht einmal ein einziges Vorbild, sondern mehrere zugleich, die wieder gegen einander die Zähne fletschen. So entstehen Köpfe, die auf Schultern sitzen, zu welchen sie nicht gehören, Trachten, deren Bestandtheile unzusammenhängend sind wie ein Traumcostüm, Farbengesellungen, die im Dunkeln vorgenommen scheinen. Man hat den Eindruck, auf einem Maskenfeste zu sein, auf dem Jeder in einer Verkleidung und mit einem CharakterKopf erschienen ist. Bei manchen Gelegenheiten, wie am Firnißtage des Pariser Marsfeld-Salons oder bei der Eröffnung der Gemälde-Ausstellung der Londoner

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 Royal Academy, kann sich dieser Eindruck so unheimlich steigern, daß man

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glaubt, unter Larven zu wandeln, die in einer fabelhaften Leichenkammer aus zerstückten Körpern aufs Gerathewohl zusammengeflickt wurden, Köpfe, Rümpfe, Gliedmaßen, wie sie gerade zur Hand waren, und die der Bildner dann in unbedenklichem Durcheinander mit den erstbesten Gewändern aus allen Geschichtszeiten und Weltgegenden bekleidet hat. Jede einzelne Gestalt strebt sichtlich danach, mit irgend einer Seltsamkeit des Umrisses, der Haltung, des Schnittes, der Farbe die Aufmerksamkeit heftig wachzurütteln und gebieterisch festzuhalten. Sie will einen starken, gleichgiltig ob angenehmen oder unangenehmen, Nervenreiz üben. Ihr fixer Gedanke ist, grell aufzufallen. Folgen wir diesen Menschen im Maskenanzug und mit Charakterköpfen in ihre Wohnungen. Diese sind zugleich | Theaterdekorationen und Rumpelkammern, Trö- [] delbuden und Museen. Das Arbeitszimmer des Hausherrn ist ein gothischer Rittersaal mit Panzern, Schilden und Kreuzbannern an den Wänden oder der Kaufladen eines morgenländischen Bazars mit kurdischen Teppichen, Beduinen-Truhen, circassischen Narghilehs und indischen Lackschachteln. Neben dem Spiegel des Kamins schneiden japanische Masken wilde oder drollige Gesichter. Zwischen den Fenstern starren Trophäen von Schwertern, Dolchen, Streitkolben und alten Radschloßpistolen. Das Tageslicht filtert durch Glasmalereien, welche hagere Heilige in verzückter Anbetung zeigen. Im Salon sind die Wände mit wurmstichigen Gobelins, deren Farben die Sonne zweier Jahrhunderte (vielleicht auch blos ein schlau gemengtes chemisches Bad) gefressen hat, oder mit Morris’schen Tapeten bekleidet, auf denen fremde Vögel zwischen toll rankendem Gezweige huschen und große lüsterne Blumen mit eiteln Faltern kokettiren. Zwischen Armstühlen und Rundsitzen, wie sie der verwöhnte Leib unserer Zeitgenossen kennt und fordert, stehen Renaissance-Sessel, von deren muschel- oder herzförmigem Holzsitze höchstens die abgehärtete Kehrseite rauher Turnier-Helden sich zum Platznehmen eingeladen fühlen würde. Eine vergoldete und bemalte Sänfte überrascht zwischen Boulle-Schränken und ein verzwicktes chinesisches Tischchen neben einem eingelegten Damen-Secretär von anmuthigen Rococoformen. Auf allen Tischen und in allen Schränken sind kleinere und größere, in der Regel verbürgt unechte, Alterthümer oder Werke der Kleinkunst ausgestellt: ein Tanagrafigürchen neben einer durchbrochenen Jade-Dose, eine Limoges-Platte neben einer langhalsigen persischen Messing-Gießkanne, eine Bonbonnière zwischen einem Meßbuch mit geschnitzter Elfenbeintafel und einer Putzscheere aus ziselirtem Kupfer. Auf sammtdrapirten Staffeleien stehen Bilder, deren Rahmen durch irgend eine Absonderlichkeit: eine Spinne in ihrem Netz, einen Strauß von Distelköpfen aus Metall u. dgl., vordringlich den | Blick auf sich zu ziehen suchen. In einer Ecke ist einem [] kauernden oder aufrecht stehenden Buddha eine Art Tempel errichtet. Das Boudoir der Hausfrau hat etwas von der Kapelle und etwas vom Haremgemach an sich. Der Toilettetisch ist als Altar gedacht und dekorirt, ein Betschemel verbürgt die Frömmigkeit der Bewohnerin des Gemachs und ein breiter Divan mit orgiastisch

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umhergeworfenen Kissen scheint zu beruhigen, daß es nicht so schlimm sei. Im Speisesaale sind die Wände mit dem ganzen Waarenvorrath eines Porzellanladens behängt, kostbares Silberzeug steht in einem alten Bauernbüffet zur Schau und auf dem Tisch blühen hocharistokratische Orchideen und prangen stolze SilberAufsätze zwischen dörflichen Steinguttellern und Krügen. Das Licht, das mannshohe Lampen am Abend in diesen Räumen verbreiten, ist durch röthliche oder gelbe oder grüne, oft noch mit schwarzen Spitzen umflorte Schirme von ausschweifender Form zugleich gedämpft und getönt, so daß die Menschen, auf die es fällt, bald in bunte, durchsichtige Nebel gebadet scheinen, bald von farbiger Helle umflossen sind, während kunstvolle Halbschatten die Ecken und Hintergründe in Geheimniß hüllen und unwahre Farbenakkorde den Möbeln und Bibelots eine Eigenartigkeit anschminken, die sie bei natürlicher Beleuchtung nicht haben, wie denn auch die Personen sich in studirten Stellungen gefallen, welche ihnen ermöglichen, an ihren Gesichtern Rembrandt’sche oder Schalcken’sche Lichtwirkungen herauszuarbeiten. Alles in diesen Häusern sucht die Nerven zu erregen und zu verwirren. Das Unzusammenhängende und Gegensätzliche aller Einrichtungsstücke, der beständige Widerspruch zwischen ihrer Form und ihrem Zweck, die Fremdartigkeit der meisten Gegenstände soll verblüffen. Die Ruhe, welche man angesichts eines Gesammtbildes von leichter Uebersichtlichkeit empfindet, das Behagen, in das der Geist gelullt wird, wenn er alle Einzelheiten seiner Umgebung sofort begreift, soll nicht aufkommen. Wer hier eintritt, soll nicht duseln, sondern [] vibriren. Wenn der Hausherr in diesen | Räumen nach dem Beispiele Balzacs in einer weißen Mönchskutte, oder nach dem Muster Richepins im rothen Mantel eines Operetten-Räuberhauptmanns umherläuft, so drückt er damit nur die Erkenntniß aus, daß in diesen Komödien-Schauplatz folgerichtig ein Hanswurst gehört. Es ist alles ungleichartig, alles wahllos zusammengewürfelt; die Einheitlichkeit eines bestimmten geschichtlichen Stils gilt für altmodisch, für provinzialphilisterhaft; einen eigenen Stil hat die Zeit noch nicht hervorgebracht. Vielleicht den einzigen Ansatz zu einem solchen kann man in den Möbeln Carabins sehen, die im Pariser Marsfeldsalon ausgestellt waren. Aber diese Treppengeländer, an denen sich nackte Furien und Besessene in rasendem Tumult hinabwälzen, diese Bücherschränke, an denen ein Stoß abgeschnittener Armesünder-Köpfe den Untersatz und einen Pilaster bildet, selbst dieser Tisch, der ein von Gnomen getragenes aufgeschlagenes Riesenbuch darstellt, geben zusammen einen Stil für Fiebernde oder Verdammte. Wenn der Generaldirektor der Dante’schen Hölle ein Empfangszimmer hat, so mag es mit solchen Möbeln ausgestattet sein. Carabins Schöpfungen sind keine Wohnungs-Einrichtung, sondern ein Alpdrücken. Wir haben gesehen, wie die gute Gesellschaft sich kleidet und wie sie wohnt. Wir wollen nun beobachten, wie sie sich vergnügt, wo sie Anregung und Zerstreuung sucht. In der Kunstausstellung umdrängt sie unter schicklich leisen Ausrufungen der Bewunderung Besnard’s Frauen, die grasgrüne Haare, schwefelgelbe oder flammrothe Gesichter und violett- und rosagepardelte Arme haben und in eine

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leuchtende blaue Wolke von schwach erkennbarer Schlafrockform gekleidet sind.  Sie liebt also keck revolutionäre Farbenschwelgerei? Ja. Aber nicht ausschließlich.

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Denn nach Besnard verrichtet sie mit derselben oder noch stärkerer Verzückung ihre Andacht vor den verblaßten, wie mit einer halbdurchsichtigen Kalktünche ausgelöschten Puvis de Chavannes, vor den von einem rätselhaften Dunst überwallten, | wie von einer Weihrauchwolke durchqualmten Carrière’s, vor den in mil- [] dem Silberschimmer bebenden Rolls. Das die ganze sichtbare Schöpfung gleichmäßig in ein Märchenlicht tauchende Violett der Manet-Schüler, die verschollenen, ausgelüfteten, wie aus einem uralten Grabe wiedererstandenen Halbfarben oder vielmehr Farben-Gespenster der Archaisten, diese Palette von „welkem Laub“, von „altem Elfenbein“, von verduftetem Gelb, von ersticktem Purpur, ziehen im Ganzen mehr schwärmende Blicke an als die üppige Orchestration der Besnard’schen Gruppe. Was das Bild darstellt, läßt diese auserlesenen Beschauer angeblich gleichgiltig; blos Näherinen und Landleute, das dankbare Publikum der Oelfarbendrucke, verweilen bei der „Anekdote“. Und doch halten jene auf ihren Kunstwanderungen mit Vorliebe vor Henri Martin’s „Jeder mit seiner Chimäre“, auf dem verquollene Menschengestalten in einer gelben Brühe allerlei Unverständliches thun, was erst eine tiefsinnige Erklärung begreiflicher machen soll, vor Jean Bérauds „Christus und die Ehebrecherin“, wo in einem Pariser Speisesaal inmitten einer befrackten Gesellschaft vor einer Dame in Ballrobe ein richtiger Christus in morgenländischer Kleidung und mit orthodoxem Heiligenschein einen Auftritt aus dem Evangelium spielt, oder vor Raffaellis Schnapsbrüdern und Gurgelabschneidern der pariser Vororte, die intensiv gezeichnet, aber mit Pfützenwasser und zerlassenem Lehm gemalt sind. Wer im Kielwasser der guten Gesellschaft durch eine Gemälde-Ausstellung steuert, wird unwandelbar feststellen, daß sie vor den Bildern die Augen verdreht und die Hände faltet, vor welchen die gewöhnlicheren Leute in ein Gelächter ausbrechen oder die Aergermiene eines Menschen zeigen, der sich gefoppt glaubt, und daß sie achselzuckend oder mit höhnischem BlickAustausch dort vorbeieilt, wo die anderen dankbar genießend stillhalten. Im Opern- und Konzertsaal lassen die geschlossenen Formen der ältern Melodik kalt. Die Durchsichtigkeit der thematischen | Arbeit klassischer Meister, ihre [] gewissenhafte Beobachtung der Gesetze des Kontrapunkts gilt für flach und langweilig. Bei einer anmuthig abfallenden, klar ausklingenden Coda, bei einem Orgelpunkte mit richtiger Harmonik gähnt man. Beifallklatschen und Kränze gelten Wagners „Tristan und Isolde“ und besonders dem mystischen „Parsifal“, der Kirchenmusik in Bruneaus „Traum“, den Symphonien von Cäsar Franck. Die Musik, die gefallen soll, muß entweder religiöse Andacht heucheln oder durch ihre Form aus der Fassung bringen. Der musikalische Hörer hat die Gewohnheit, jedes Motiv, das im Tonstück auftritt, unwillkürlich im Geiste ein wenig zu entwickeln. Die Art, wie der Tonsetzer sein Motiv weiterführt, muß nun von dieser vorausgeahnten Entwickelung gänzlich verschieden sein. Sie darf nicht errathen werden können. Wo man einen konsonanten Intervall erwartet, muß ein dissonanter erscheinen;

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wenn man die Phrase in einleuchtender Schlußkadenz bis zu einem natürlichen Ende ausgesponnen zu sehen hofft, muß sie inmitten eines Taktes jäh abreißen. Die Tonarten und Höhenlagen müssen plötzlich wechseln. Im Orchester muß eine eifrige Polyphonie die Aufmerksamkeit nach vier, fünf Seiten zugleich hinrufen; einzelne Instrumente oder Instrument-Gruppen müssen ohne Rücksicht für einander auf den Hörer gleichzeitig losreden, bis er in die nervöse Erregung eines Menschen geräth, der sich vergebens bemüht, im Wirrwarr eines Dutzends durcheinander sprechender Stimmen die Worte zu verstehen. Das Thema, auch wenn es zuerst eine deutlich umrissene Figur hat, muß immer unbestimmter werden, immer mehr verfließen und bald in einen Nebel zerrinnen, in welchem die Einbildungskraft wie in jagenden Nachtwolken alle Formen sehen kann, die sie will. In chromatisch steigenden und fallenden endlosen Triolengängen auf- und abwogend muß die Tonflut ohne erkennbare Grenzen und Ziele hinströmen und dem angestrengt nach [] Land auslugenden Blicke des mit ihr treibenden Hörers manchmal | ein fernes Ufer vortäuschen, das bald als verschwimmende Luftspiegelung erkannt wird. Die Musik muß fortwährend versprechen, darf aber nie halten, sie muß thun, als wollte sie ein großes Geheimniß erzählen, und verstummen oder abschweifen, ehe sie das mit Herzklopfen erwartete Wort gesprochen. Der Hörer sucht im Konzertsaal Tantalus-Stimmungen und verläßt ihn mit der tiefen Nerven-Erschöpfung des jungen Liebespaares, das beim nächtlichen Stelldichein stundenlang durch ein engvergittertes Fenster zu kosen gesucht hat. Die Bücher, an welchen das hier geschilderte Publikum sich ergötzt oder erbaut, verbreiten einen merkwürdigen Parfüm, in welchem Weihrauch, Eau de Lubin und Unrath unterschieden werden können, mit abwechselndem Vorwiegen des einen oder des andern dieser Gerüche. Mit dem bloßen Kloakendunste macht man nichts mehr. Die Koth-Dichtung Zolas und seiner Lehrlinge im schriftstellerischen Kanalräumer-Berufe ist überwunden und darf sich nur noch an zurückgebliebenere Gesellschaftsschichten und Völker wenden. Die Klasse, die im Vordertreffen der Gesittung einherzieht, hält sich die Nase vor der Senkgrube des ungemilderten Naturalismus zu und beugt sich mit Theilnahme und Neugierde über sie erst dann, wenn mit schlauen Kanalisationskünsten auch etwas Boudoirund Sakristeiduft hineingeleitet worden ist. Bloße Sinnlichkeit gilt für gewöhnlich und wird erst als zulässig angesehen, wenn sie in Form von Widernatürlichkeit und Entartung auftritt. Bücher, in denen blos die Beziehungen des Mannes zum Weibe behandelt werden, und wäre es auch noch so unverschleiert, scheinen geradezu schal sittlich. Die elegante Prickelei beginnt erst, wo die regelrechte Geschlechtlichkeit aufhört. Priapus ist zum Tugend-Sinnbild geworden. Das Laster sieht sich nach Verkörperungen in Sodom und Lesbos, in Ritter Blaubarts Schlosse und im Dienstbotenzimmer der Justine des „göttlichen“ Marquis de Sade um. Das [] Buch, das in Mode kommen will, muß | vor Allem dunkel sein. Das Verständliche ist marktgängig und nur für den Pöbel gut. Es muß ferner einen gewissen mild salbungsvollen, nicht allzu aufdringlichen Predigerton anschlagen und schlüpfri-

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gen Auftritten thränenfeuchte Ausbrüche der Liebe zu allen Leidenden und Niedrigen oder lodernde Aufflüge inbrünstiger Gottgläubigkeit folgen lassen. Sehr beliebt sind Gespenstergeschichten, die aber in wissenschaftlicher Verkleidung, als Hypnotismus, Telepathie, Somnambulismus, auftreten müssen, Puppenspiele, in welchen naiv thuende, aber geriebene Kumpane die abgestandensten Balladenfiguren wie kleine Kinder oder Blödsinnige lallen lassen, und esoterische Romane, in denen der Dichter andeutet, daß er über Magie, Kabbala, Fakirismus, Astrologie und andere weiße und schwarze Künste viel sagen könnte, wenn er nur wollte. Man berauscht sich an den nebelhaften Wortfolgen symbolistischer Gedichte, Ibsen entthront Goethe, Maeterlinck wird Shakespeare an die Seite gestellt, Nietzsche erklären deutsche und selbst französische Kritiker für den ersten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, die „Kreutzersonate“ ist die Bibel von liebesfröhlichen Damen, die ihre Liebhaber nicht mehr zählen können, feine Herren finden die Gassenhauer und Schelmenlieder von Jouy, Bruant, Mac Nab und Xanroff „sehr distingué“ wegen des „in ihnen kreisenden warmen Mitleids“ (die zwischen Gänsefüßen stehenden Worte sind eine Formel) und Weltkinder, die nur an Baccara und Börse glauben, wallfahren zu den Oberammergauer Bauernmysterien und wischen sich die Augen bei Verlaine’s Anrufungen der heiligen Jungfrau. Kunstausstellungen, Konzerte, Theater und Bücher, wären sie auch noch so außerordentlich, genügen aber dem ästhetischen Bedürfnisse der eleganten Gesellschaft nicht. Sie sucht unbekannte Befriedigungen. Sie verlangt gesteigerte Anregungen und hofft sie in Schaustellungen zu finden, in welchen verschiedene Kunstarten in neuen Verknüpfungen auf alle Sinne zugleich zu | wirken bestrebt sind. [] Dichter und Künstler strengen sich unablässig an, diesen Drang zu befriedigen. Ein Maler, der es allerdings weniger auf neue Eindrücke als auf altbewährte Reklame abgesehen hat, zeigt sein Bild, das den an seinem „Requiem“ arbeitenden sterbenden Mozart schlecht und recht darstellt, Abends in einem tief dämmerigen Salon, während ein blendender Strahl geschickt gerichteten elektrischen Lichtes auf das Gemälde fällt und ein unsichtbares Orchester leise das Requiem spielt. Ein Musiker geht einen Schritt weiter. Einen Bayreuther Gedanken bis zum Aeußersten entwickelnd, veranstaltet er ein Konzert in gänzlich verfinstertem Saal und erfreut damit diejenigen Zuhörer, deren glücklich gewählte Nachbarschaft ihnen Gelegenheit bietet, im Dunkeln die musikalischen Erregungen durch solche anderer Art angenehm zu verstärken. Der Dichter Haraucourt läßt auf der Bühne eine in schwungvolle Verse gefaßte Umschreibung des Evangeliums von Sarah Bernhardt deklamiren, während wie in altmodischen Melodramen verhaltene Musik die Schauspielerin mit einer unendlichen Melodie begleitet. Auch an die von den schönen Künsten bisher schnöde mißachtete Nase wenden sich die Pfadpfinder und laden sie zur Theilnahme an den ästhetischen Genüssen ein. Im Theater wird eine Brause aufgestellt, welche Parfüms in den Zuschauerraum sprüht. Auf der Bühne wird eine Dichtung von annähernd dramatischer Form gesprochen. In jedem einzelnen Abschnitt, Aufzug, Auftritt, oder wie man es sonst nennen will, herrscht ein ande-

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rer Selbstlaut vor, bei jedem wird das Theater von anders gefärbtem Licht beleuchtet, zu jedem spielt das Orchester ein Musikstück aus anderer Tonart und versendet die Brause einen andern Duft. Der Gedanke dieser Parfüm-Begleitung des Verses ist vor Jahren von Ernst Eckstein halb scherzhaft hingeworfen worden. In Paris hat man ihn mit heiligem Ernst verwirklicht. Die Neuerer holen aus der Kinderstube [] das Puppentheater, um darauf für Er-|wachsene Stücke zu spielen, die in künstlich einfältigem Tone angeblich tiefen Sinn enthüllen oder verbergen, und das Schattenspiel, das sie mit großer Begabung und Findigkeit vervollkommnen: hübsch gezeichnete und gefärbte Figuren bewegen sich auf überraschend beleuchteten Hintergründen und diese belebten Bilder machen den Gedankengang eines vom Verfasser dazu gesprochenen Gedichtes sichtbar, dessen Grundstimmung ein Piano auch dem Ohre zu versinnlichen sucht. Und um diese Darbietungen zu genießen, drängt sich die Gesellschaft in einen Vorstadtzirkus, in den Speicher eines Hinterhauses, in einen Kunsttrödelladen oder in eine phantastische Künstlerkneipe, deren Vorstellungen die schmierigen Stammgäste mit ätherischen Marquisen in einem Biersaale vereinigen.

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Die Erscheinungen, die im vorigen Kapitel geschildert sind, muß Jeder sehen, selbst der beschränkteste Philister. Dieser hält sie aber für eine Mode und nichts weiter und die Schlagworte: Laune, Exzentrizität, Sucht nach Neuem, Nachahmungstrieb, scheinen ihm eine ausreichende Erklärung. Der Schöngeist, dessen einseitig ästhetische Bildung ihn nicht befähigt, den Zusammenhang der Dinge zu verstehen und ihre wirkliche Bedeutung zu erfassen, täuscht sich selbst und die Anderen über seine Unwissenheit mit klingenden Redensarten hinweg und spricht hochmüthig von „einem unruhigen Suchen der modernen Seele nach einem neuen Ideal“, von den „reicheren Schwingungen des verfeinerten Nervensystems der Zeitgenossen“, von den „unbekannten Sinneswahrnehmungen des Menschen der Auslese.“ Der Arzt aber, namentlich der welcher sich besonders dem Studium der Nerven- und Geistes-Krankheiten gewidmet hat, erkennt in der fin-de-siècle-Stimmung, in den Richtungen der zeitgenössischen Kunst und Dichtung, in dem Wesen der Schöpfer mystischer, symbolistischer, „decadenter“ Werke und dem Verhalten ihrer Bewunderer, in den Neigungen und Geschmacks-Trieben des Modepublikums auf den ersten Blick das Syndrom oder Gesammtbild zweier bestimmter Krankheits-Zustände, mit denen er wohlvertraut ist, der Degeneration oder Entartung und der Hysterie, deren geringere Grade als Neurasthenie bezeichnet werden. Diese beiden Verfassungen des Organismus sind an sich verschieden, | doch haben sie [] manche Züge gemein, auch kommen sie häufig neben einander vor, so daß es leichter ist, ihre Mischformen, als jede für sich rein zu beobachten. Der Begriff der Degeneration, der heute die ganze Wissenschaft der Geisteskrankheiten beherrscht, ist zuerst von Morel scharf erfaßt und umschrieben worden. In seinem häufig angeführten, aber leider nicht genug gelesenen Hauptwerke gibt dieser ausgezeichnete Irrenarzt, der einen Augenblick lang in Deutschland auch außerhalb der Fachkreise berühmt war, von dem, was er unter „Degeneration“ verstanden wissen will, diese Erklärung: „Wir müssen uns die Entartung als eine krankhafte Abweichung von einem ursprünglichen Typus vorstellen. Diese

  Traité des Dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives. Par le Dr. B. A. Morel. Paris, . S. .  Graf Chorinsky hatte auf Anstiften seiner Geliebten Ebergenyi seine Gattin, eine ehemalige Schauspielerin, vergiftet. Der Mörder war ein Epileptiker und „Degenerirter“ im Sinne Morels. Seine Familie berief diesen aus der Normandie nach München, damit er den dortigen  Geschworenen, vor denen die Strafsache () verhandelt wurde, erkläre, daß der Angeklagte unzurechnungsfähig sei. Dieser war bezeichnender Weise hierüber sehr entrüstet und auch die Staatsanwaltschaft widersprach entschieden den Ausführungen des französischen Irrenarztes, wobei sie sich auf die Gutachten der hervorragendsten Münchener Psychiatriker stützte. Chorinsky wurde schuldig gesprochen, doch kurz nach seiner Verurtheilung brach bei ihm der  Wahnsinn aus und wenige Monate später starb er in tiefster Geistesnacht, alle Vorhersagungen des französischen Irrenarztes rechtfertigend, der vor deutschen Geschworenen in deutscher Sprache die Unzulänglichkeit des Wissens seiner münchener Berufsgenossen nachgewiesen hatte.

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Abweichung, auch wenn sie anfänglich noch so einfach wäre, schließt übertragbare Elemente von solcher Beschaffenheit in sich, daß derjenige, der ihren Keim in sich trägt, immer mehr und mehr unfähig wird, seine Aufgabe in der Menschheit [] zu erfüllen, und daß der geistige Fortschritt, der | schon in seiner Person gehemmt ist, sich auch bei seinen Nachkommen bedroht findet.“ Wenn unter dem Einflusse von Schädlichkeiten aller Art ein Organismus geschwächt wird, so werden seine Nachkommen nicht dem gesunden, normalen und entwickelungsfähigen Typus der Gattung ähnlich, sondern bilden eine neue Abart, welche wie alle anderen die Fähigkeit besitzt, ihre Eigenthümlichkeiten, in diesem Falle krankhafte Abweichungen von der Norm, Bildungslücken, Mißbildungen und Gebrechen, in fortwährender Steigerung den eigenen Abkömmlingen zu vererben. Was die Entartung von der Artbildung unterscheidet, das ist, daß die krankhafte Abart sich nicht wie die gesunde dauernd erhält und fortpflanzt, sondern glücklicherweise bald mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist und nach wenigen Geschlechtsfolgen, oft ehe sie die tiefsten Grade organischer Erniedrigung erreicht hat, ausstirbt. Die Entartung verräth sich beim Menschen durch gewisse körperliche Merkzeichen, welche man „Stigmate“ oder Brandmarken nennt, ein unglückliches Wort, denn es ist von der falschen Vorstellung eingegeben, als wäre die Entartung nothwendig die Folge einer Schuld und ihr Anzeichen eine Strafe. Solche Stigmate sind Mißbildungen, Mehrbildungen und Bildungshemmungen, in erster Reihe die Asymmetrie, das heißt die ungleiche Entwickelung der beiden Hälften des Gesichtes und Schädels, dann Unvollkommenheiten an der Ohrmuschel, die durch unförmliche Größe auffällt oder henkelartig vom Kopfe absteht, deren Läppchen fehlt oder angewachsen, deren Randleiste (helix) nicht umgeschlagen ist, ferner Schielauge, Hasenscharte, Unregelmäßigkeiten in der Form und Stellung der Zähne, spitzbogiger oder flacher Bau des Gaumens, zusammengewachsene oder überzählige Finger [] (Syn- und Polydaktylie) | u. s. w. Morel gibt in seinem angeführten Buch ein Verzeichniß der anatomischen Entartungs-Erscheinungen, das durch spätere Beobachter bedeutend verlängert wurde. Namentlich Lombroso hat die Kenntniß der Stigmate bedeutend erweitert, nur stattet er mit ihnen blos seinen „geborenen Verbrecher“ aus, eine Einschränkung, die gerade vom wissenschaftlichen Standpunkte Lombroso’s aus nicht zu rechtfertigen ist, denn die „geborenen Verbrecher“ sind nichts anderes als eine Unter-Abtheilung der Entarteten. Féré drückt dies sehr bestimmt aus, indem er sagt: „Laster, Verbrechen und Wahnsinn sind blos durch gesellschaftliche Vorurtheile geschieden.“ Es gäbe ein sicheres Mittel, um zu beweisen, daß die Behauptung, die Urheber aller fin-de-siècle-Bewegungen in Kunst und Literatur seien Entartete, nicht will Morel, a. a. O. S. .  L’Uomo delinquente in rapporto all’antropologia, giurisprudenza e alle discipline carcerarie. a edizione. Torino, . S.  ff.  La famille nevropathique. Archive de Neurologie. , Nr.  u. .

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 kürlich, daß sie kein unbegründeter Einfall, sondern eine Thatsache ist: und das

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wäre eine sorgfältige körperliche Untersuchung der betreffenden Persönlichkeiten und eine Prüfung ihres Stammbaumes. Man würde fast bei allen unzweifelhaft degenerirte Verwandte und ein oder mehrere Stigmate antreffen, welche die Diagnose „Degeneration“ außer Zweifel stellen. Freilich würde man das Ergebniß einer derartigen Untersuchung häufig aus menschlicher Rücksicht nicht veröffentlichen dürfen und sie würde nur den überzeugen, der sie selbst vornehmen könnte. Die Wissenschaft hat aber neben den körperlichen auch geistige Stigmate gefunden, welche die Entartung eben so sicher kennzeichnen wie jene, und diese lassen sich in allen Lebensäußerungen, namentlich auch in allen Werken der Entarteten mit Leichtigkeit nachweisen, so daß es nicht nöthig ist, den | Schädel eines [] Schriftstellers zu messen oder das Ohrläppchen eines Malers zu sehen, um zu erkennen, daß er zur Klasse der Entarteten gehört. Man hat für diese eine ganze Anzahl verschiedener Bezeichnungen gefunden. Maudsley und Ball nennen sie „Grenzbewohner“, nämlich Bewohner des Grenzlandes zwischen voller Vernunft und erklärtem Wahnsinn; Magnan gibt ihnen den Namen „dégénérés supérieurs“ („höhere Entartete“) und Lombroso spricht von „Mattoiden“, (vom italienischen „matto“, wahnsinnig) und „Graphomanen“, unter welchen er diejenigen Halbwahnsinnigen versteht, die schriftstellerischen Drang empfinden. Trotz der Mannigfaltigkeit dieser Benennungen handelt es sich aber um eine einzige Gattung von Individuen, die ihre Zusammengehörigkeit durch die Ähnlichkeit ihrer Geistesphysiognomie bekunden. Dieselbe Ungleichmäßigkeit, die wir in der körperlichen Entwickelung der Entarteten beobachtet haben, treffen wir auch in ihrer geistigen an. Die Asymmetrie des Gesichtes und Schädels findet gleichsam ihr Gegenstück in ihren Fähigkeiten. Einzelne von diesen sind ganz verkümmert, andere krankhaft übertrieben. Was fast allen Entarteten fehlt, das ist der Sinn für Sittlichkeit und Recht. Für sie gibt es kein Gesetz, keinen Anstand, keine Schamhaftigkeit. Sie begehen mit größter Ruhe und Selbstzufriedenheit Verbrechen und Vergehen, um irgend einen augenblicklichen Trieb, eine Neigung, eine Laune zu befriedigen, und sie begreifen nicht, daß Andere daran Anstoß nehmen. Wenn diese Erscheinung in hohem Grade vorhanden ist, dann spricht man von „moralischem Irrsinn“, „moral insanity“ Maudsleys, doch gibt es auch geringere Grade, in welchen | der Entartete vielleicht selbst [] nichts thut, was ihn mit den Strafgesetzen in Streit bringt, aber wenigstens theoretisch die Berechtigung des Verbrechens behauptet, mit philosophisch klingendem Wortschwall zu beweisen sucht, daß „gut“ und „böse“, Tugend und Laster willkürliche Unterscheidungen sind, sich für Missethäter und ihre Handlungen begeistert, am Gemeinsten und Abstoßendsten angebliche Schönheiten entdeckt und für alle

 Siehe hierüber namentlich: Krafft-Ebing, Die Lehre vom moralischen Wahnsinn, , H. Maudsley, Verbrechen und Wahnsinn, Internationale Wissenschaftliche Bibliothek, und Ch. Féré,  Dégénérescence et criminalité, Paris, .

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Bestialitäten Theilnahme und sogenanntes „Verständniß“ zu erwecken strebt. Die beiden psychologischen Wurzeln des moralischen Irrsinns in allen Entwickelungsgraden sind einmal eine ungeheuerliche Selbstsucht und zweitens die Impulsivität, das heißt das Unvermögen, irgend einem plötzlichen innern Antrieb zu einer Handlung zu widerstehen, welche auch die vornehmsten geistigen Stigmate der Entarteten bilden. In den folgenden Büchern werde ich Gelegenheit finden, zu zeigen, aus welchen organischen Gründen, in Folge welcher Eigenthümlichkeiten ihres Gehirns und Nervensystems die Degenerirten egoistisch und impulsiv sein müssen. In dieser Einleitung wollte ich nur das Stigma selbst kennzeichnen. | [] Ein anderes geistiges Stigma der Entarteten ist ihre Emotivität. Morel hat aus dieser Eigenschaft sogar ihr Haupt-Kennzeichen machen wollen, doch, wie mir scheint, mit Unrecht, denn sie kommt in demselben Maße auch den Hysterikern zu, ja sie findet sich bei ganz gesunden Menschen, die durch irgend eine vorübergehende Ursache, durch Krankheit, Erschöpfung, eine starke seelische Erschütterung, zeitweilig geschwächt sind. Immerhin ist sie eine Erscheinung, die beim Degenerirten selten fehlen wird. Er lacht bis zu Thränen oder weint reichlich auf eine unverhältnißmäßig schwache Anregung, bei einer gewöhnlichen Zeile in Vers oder Prosa rieseln ihm Schauer den Rücken hinab, vor gleichgiltigen Bildern oder Statuen geräth er in Verzückung und ganz besonders die Musik, auch eine flaue und wenig verdienstliche, gibt ihm die heftigste Gemüthsbewegung. Er ist sehr stolz darauf, daß er ein so stark schwingendes Tonwerkzeug sei, und rühmt sich, daß er dort sein ganzes Innere durchwühlt, sein ganzes Wesen gelöst fühle und die Wonne des Schönen bis in die Fingerspitzen empfinde, wo der Philister gänzlich kalt bleibt. Seine Erregbarkeit scheint ihm eine Ueberlegenheit, er glaubt, er habe ein besonderes Verständniß, das den übrigen Sterblichen abgeht, und er verachtet gerne die Banausen wegen der Stumpfheit und Verschlossenheit ihrer Sinne. Der Unglückliche ahnt nicht, daß er auf eine Krankheit eingebildet ist und sich einer Geistesstörung rühmt, und gewisse alberne Kritiker, welche aus Furcht, für verständnißlos erklärt zu werden, verzweifelte Anstrengungen machen, um angesichts irgend eines flauen oder lächerlichen Werkes die Gemüthsbewegungen eines

 J. Roubinovitch, Hystérie mâle et dégénérescence, Paris, , S. : „Die Gesellschaft, die ihn“ (den Entarteten) „umgibt, bleibt ihm vollständig fremd. Er kennt nichts, er nimmt an nichts Antheil als an sich selbst.“ Legrain, Du délire chez les dégénérés. Paris, . S. : „Stets ist er der Spielball seiner Leidenschaften; er wird von seinen Trieben fortgerissen, er hat nur noch eine Sorge: die, seine Begierden zu befriedigen.“ S. : „Sie sind selbstsüchtig, hochmüthig, eitel, aufgeblasen.“ U. s. w.  Henry Colin, Essay sur l’état mental des hystériques. Paris, . S. : „Zwei große Thatsachen beherrschen das Dasein des erblich Entarteten: die Obsession“ (die tyrannische Vorherrschaft eines Gedankens, von dem man sich nicht befreien kann; Westphal hat für sie das gute Wort „Zwangs-Vorstellung“ geschaffen;) „und die Impulsion beide unwiderstehlich.“  Morel, Du délire émotif. Archives généerales, ème. Série. . Band, Seite  und . Siehe auch Roubinovitch, a. a. O. Seite .  J. Roubinovitch, a. a. O. Seite : „Die Musik erregt ihn lebhaft.“

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Diagnose.

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Degenerirten nachzu-|fühlen, oder die in überschwänglichen Ausdrücken Schön- []  heiten preisen, die der Degenerirte darin zu finden behauptet, ahmen unbewußt

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ein Stigma des Halbwahnsinnes nach. Neben dem moralischen Irrsinn und der Emotivität kommt bei dem Entarteten ein Zustand geistiger Kraft- und Muthlosigkeit zur Beobachtung, der, je nach seinen Lebensumständen, die Form des Pessimismus, einer unbestimmten Furcht vor allen Menschen und der ganzen Welterscheinung oder des Widerwillens gegen sich selbst annimmt. „Diese Kranken“, sagt Morel „haben ein beständiges Bedürfniß, sich zu beklagen, zu schluchzen, dieselben Fragen und Worte mit einer Einförmigkeit zu wiederholen, die zur Verzweiflung bringt. Sie haben delirirende Vorstellungen von Untergang und Verdammniß und allerlei eingebildete Besorgnisse.“ „Der Ekel verläßt mich nicht,“ äußert ein derartiger Kranker, dessen Geschichte Roubinovitch erzählt, „es ist der Ekel vor mir selbst.“ „Unter den geistigen Stigmaten“, heißt es bei demselben Verfasser, „sind auch noch jene nicht zu bestimmenden Befürchtungen zu verzeichnen, welche die Entarteten an den Tag legen, wenn sie irgend etwas betrachten, riechen oder berühren sollen.“ Und weiterhin gedenkt er ihrer „unbewußten Angst vor Allem und Jedem.“ In diesem Gemälde des niedergeschlagenen, düstern, an sich und der Welt verzweifelnden Melancholikers, den die Furcht des Unbekannten peinigt und den unbestimmte, aber schreckliche Gefahren umdrohen, erkennen wir Zug für Zug den Menschen der Völkerdämmerung und die fin-de-siècle-Stimmung wieder, die im ersten Kapitel geschildert wurden. | Mit der bezeichnenden Niedergeschlagenheit des Entarteten ist in der Regel [] eine Abneigung gegen alles Handeln verbunden, die bis zum Abscheu vor der Thätigkeit und bis zum Unvermögen des Wollens („Abulie“) gesteigert sein kann. Nun ist es eine jedem Psychologen bekannte Eigenthümlichkeit des menschlichen Geistes, daß er, da das Gesetz der Ursächlichkeit sein ganzes Denken beherrscht, allen eigenen Entschließungen verständliche Gründe unterlegt. Schon Spinoza hat das hübsch ausgedrückt, als er sagte: „Wenn ein von Menschenhand geschleuderter Stein denken könnte, würde er sich gewiß einbilden, er fliege, weil er fliegen wolle.“ Viele Seelenzustände und Handlungen, deren wir uns bewußt werden, sind die Folge von Ursachen, die uns nicht zum Bewußtsein kommen. In diesem Falle erfinden wir für sie nachträglich Gründe, die unser seelisches Bedürfniß nach klarer Ursächlichkeit befriedigen, und wir überreden uns ohne Mühe, daß wir sie nunmehr wirklich erklärt haben. Der thatenscheue, willenlose Entartete, der nicht ahnt, daß seine Unfähigkeit zum Handeln eine Folge seiner ererbten Gehirn-Mängel ist, macht sich selbst weis, daß er aus freier Entschließung das Handeln ver-

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Morel, Du délire panophobique des aliénés gémisseurs. Annales médico-psychologiques, . Roubinovitch, a. a. O. Seite . Roubinovitch, a. a. O. Seite . Roubinovitch, a. a. O. Seite .

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achte und sich in Thatlosigkeit gefalle, und um sich in den eigenen Augen zu rechtfertigen, baut er sich eine Philosophie der Entsagung, der Weltabkehr und Menschenverachtung auf, gibt vor, er habe sich von der Vorzüglichkeit des Quietismus überzeugt, nennt sich voll Selbstbewußtsein einen Buddhisten und rühmt in dichterisch beredten Wendungen die Nirvanah als das höchste und würdigste Ideal des Menschengeistes. Die Degenerirten und Irren sind die vorbestimmte Gemeinde von Schopenhauer und Hartmann und sie brauchen den Buddhismus blos kennen zu lernen, um zu ihm bekehrt zu werden. Mit der Unfähigkeit zum Handeln hängt die Vorliebe zur leeren Träumerei zusammen. Der Entartete ist nicht im Stande, seine Aufmerksamkeit lange oder [] überhaupt auf einen Punkt | zu lenken, und ebensowenig, die Eindrücke von der Außenwelt, welche seine mangelhaft arbeitenden Sinne seinem zerstreuten Bewußtsein zutragen, richtig zu erfassen, zu ordnen, zu Vorstellungen und Urtheilen zu verarbeiten. Es ist ihm leichter und bequemer, seine Hirnzentren halbklare, nebelhaft verschwommene Bilder, kaum geformte Gedanken-Embryone hervorbringen zu lassen und sich in beständigem Dusel einer unabsehbaren, ziel- und uferlosen Gedankenflucht hinzugeben, und er rafft sich kaum jemals zu dem mühevollen Versuche auf, den willkürlichen, in der Regel rein äußerlichen Ideen-Verbindungen und Bilderfolgen hemmend entgegenzuwirken und Zucht in den wüsten Tumult seiner fließenden Vorstellungen zu bringen. Im Gegentheil. Er freut sich seiner Einbildungskraft, die er der Nüchternheit des Philisters entgegenstellt, und widmet sich mit Vorliebe allerlei freien Beschäftigungen, welche seinem Geiste das ungebundene Umherschweifen gestatten, während er es in geregelten bürgerlichen Berufen, die Aufmerksamkeit und beständige Rücksicht auf die Wirklichkeit erfordern, nicht aushält. Er nennt das „ideal angelegt sein“, schreibt sich unwiderstehliche ästhetische Neigungen zu und bezeichnet sich stolz als einen Künstler. Einige Eigenthümlichkeiten, die der Entartete häufig aufweist, seien kurz angeführt. Er ist von Zweifeln gequält, fragt nach dem Grund aller Erscheinungen, ganz besonders solcher, deren letzte Ursachen uns vollkommen unzugänglich sind, und ist unglücklich, wenn sein Forschen und Grübeln, wie natürlich, zu keinem Ergeb[] niß führt. Er stellt für das Heer system-|erfindender Metaphysiker, der tiefsinnigen Erklärer des Welträthsels, der Sucher des Steins der Weisen, der Quadratur des Zirkels und des perpetuum mobile immer neue Rekruten und namentlich diese  Charcot, Leçons du Mardi à la Salpetrière. Policlinique –. Paris, . . Theil S. : „Der eine (vorgestellte Kranke) ist Jahrmarkt-Gaukler, er bezeichnet sich als „Künstler.“ Die Wahrheit ist, daß seine Kunst darin besteht, in Jahrmarktbuden einen „wilden Mann“ darzustellen.“  Legrain, a. a. O. S. : „Die Kranken sind beständig von einer Menge Fragen gequält, die ihren Geist bestürmen und auf die sie nicht antworten können; die Folge dieser Unfähigkeit sind unaussprechliche moralische Leiden. Der Zweifel umfaßt alle möglichen Gegenstände: Metaphysik, Theologie u. s. w.“  Magnan, Considérations sur la folie des héréditaires ou dégénérés. Progrès médical . S. . (In einer Krankengeschichte:) „Er hatte auch den Gedanken, den Stein der Weisen zu suchen und Gold zu machen.“

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letzteren drei Gegenstände ziehen ihn so mächtig an, daß beispielsweise das Patentamt von Washington gedruckte Antworten auf die zahllosen Eingaben vorräthig halten muß, in welchen fortwährend für die Lösung jener phantastischen Probleme Patente verlangt werden. Nach Lombrosos Forschungen wird man auch kaum bezweifeln dürfen, daß den Schriften und Handlungen vieler Umsturzmänner und Anarchisten ebenfalls Entartung zu Grunde liegt. Der Degenerirte ist unfähig, sich gegebenen Verhältnissen anzupassen; dieses Unvermögen ist ja für krankhafte Abarten jeder Gattung kennzeichnend und wohl ein Hauptgrund ihres raschen Aussterbens; er lehnt sich also gegen Zustände und Anschauungen auf, die er nothwendig als beschwerlich empfinden muß, vor Allem schon darum, weil sie ihm die Pflicht der Selbstbeherrschung auferlegen, zu der er in Folge seiner organischen Willensschwäche unfähig ist. So wird er zum Weltverbesserer und ersinnt Pläne zur Beglückung der Menschheit, die sich ohne Ausnahme eben so sehr durch ihre glühende Nächstenliebe und ihre oft rührende Aufrichtigkeit wie durch ihre Absurdität und | ihre ungeheuerliche Unkenntniß aller wirklichen Ver- [] hältnisse auszeichnen. Ein Hauptstigma des Degenerirten endlich, das ich für zuletzt aufgespart habe, ist der Mysticismus. „Von allen delirirenden Kundgebungen, die dem erblich Belasteten eigenthümlich sind,“ heißt es bei Colin „gibt es, glauben wir, keine, welche den Zustand sicherer erkennen lassen als das mystische Delirium oder, wenn die Dinge nicht bis zum Delirium gediehen sind, die beständige Beschäftigung mit mystischen und religiösen Fragen, die übertriebene Frömmigkeit u. s. w.“ Ich will die Zeugnisse und Anführungen an dieser Stelle nicht vervielfältigen. In den folgenden Büchern, wo von der mystischen Kunst und Dichtung des Tages die Rede sein wird, werde ich Gelegenheit finden, dem Leser zu zeigen, daß zwischen diesen Richtungen und der religiösen Schwärmerei, die fast bei allen Entarteten und erblich Geisteskranken beobachtet wird, kein Unterschied besteht. Ich habe die wichtigsten Züge aufgezählt, die den Geisteszustand des Degenerirten kennzeichnen. Der Leser kann jetzt selbst beurtheilen, ob die Diagnose „Entartung“ auf die Urheber der neuen ästhetischen Richtungen anwendbar ist oder nicht. Man glaube übrigens nicht, daß Degeneration mit Tatenlosigkeit gleichbedeutend sei. Fast alle Forscher, die viele Entartete beobachtet haben, stellen ausdrücklich das Gegentheil fest. „Der Degenerirte“, sagt Legrain, „kann ein Genie sein. Ein Geist, der nicht das richtige Gleichgewicht hat, ist der höchsten Gedanken fähig, aber freilich trifft man in demselben Geiste Erbärmlichkeiten und Kleinlichkeiten an, die umso auffälliger sein werden, als sie neben den glänzendsten Eigen-

 Lombroso, La physionomie des anarchistes. Nouvelle Revue. . Mai . S. : „Sie (die  Anarchisten) haben sehr oft jene Entartungs-Merkzeichen, die den Verbrechern und Irren gemeinsam sind, denn sie sind Anormale, erblich Belastete.“ Siehe auch desselben Verfassers „Pazzi ed anomali“. Turin, .  Colin, a. a. O. S. .  Legrain, a. a. O. S. .

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schaften vorkommen.“ Diesen Vorbehalt werden wir bei allen Schriftstellern finden, die Beiträge zur Naturgeschichte | des Degenerirten geliefert haben. „Er kann“, heißt es bei Roubinovitch, „in geistiger Hinsicht eine bedeutende Entwickelung erreichen, aber in sittlicher Hinsicht ist sein Leben vollständig zerrüttet … Er wird seine glänzenden Fähigkeiten ebensowohl im Dienste einer großen Sache wie zur Befriedigung seiner verworfensten Neigungen verwenden.“ Lombroso hat eine ganze Anzahl unbestreitbarer Genies aufgeführt, die ebenso unbestreitbar Mattoide, Graphomanen oder erklärte Wahnsinnige waren, und ein französischer Gelehrter, Lasègue, hat den zum geflügelten Worte gewordenen Ausspruch thun können: „Das Genie ist eine Nervenkrankheit.“ Diese Aeußerung war eine unvorsichtige, denn sie gab den unwissenden Schwätzern einen Vorwand, mit anscheinender Berechtigung von Uebertreibung zu reden und die Nerven- und Irrenärzte zu verspotten, weil sie angeblich in jedem Menschen, der sich erlaube, etwas anderes, etwas mehr zu sein als der gewöhnlichste, unpersönlichste Normal-Unterthan, einen Wahnsinnigen sähen. Die Wissenschaft behauptet nicht, daß jedes Genie ein Wahnsinniger sei; es gibt gesunde, kraftüberströmende Genies, deren hohe Begnadung darin besteht, daß irgend eine ihrer geistigen Fähigkeiten außerordentlich entwickelt ist, ohne daß alle übrigen hinter dem Durchschnittsmaße zurückbleiben; ebensowenig ist natürlich jeder Wahnsinnige ein Genie, die meisten sind vielmehr, selbst wenn man von den Blödsinnigen verschiedener Grade absieht, kläglich dumm und unfähig; aber in manchen, ja in vielen Fällen hat der „höhere Entartete“ Magnans, wie er ab und zu auch körperliche Riesenhaftigkeit oder übermäßige Bildung einzelner Theile aufweist, eine besonders entwickelte Geistesgabe, [] freilich auf Kosten der übrigen Fähigkeiten, die ganz oder theilweise | verkümmert sind. Das ist es, was dem Kundigen auf den ersten Blick gestattet, das gesunde Genie vom hoch- oder selbst höchstbegabten Entarteten zu unterscheiden. Man nehme jenem die Sonderfähigkeit, durch die es zum Genie wird, und es bleibt noch immer ein tüchtiger, oft hervorragend kluger und geschickter, sittlicher, urtheilsfähiger Mensch übrig, der sich auf jedem Platz in unserm gesellschaftlichen Gefüge anständig behaupten wird. Man versuche dasselbe beim Degenerirten und es bleibt nur ein Verbrecher oder ein Tollhäusler übrig, den die gesunde Menschheit zu nichts gebrauchen kann. Wenn Goethe nie einen Vers geschrieben hätte,

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 Roubinovitch, a. a. O. S. .  Lombroso, Genie und Irrsinn. Deutsch von A. Courth. Reclams Universal-Bibliothek, Bändchen –. Siehe auch besonders: J. F. Nisbet, The insanity of Genius. London, .  Falret, Annales médico-psychologiques, . S. : „Seit ihrer Kindheit haben sie gewöhnlich eine sehr ungleiche Entwickelung ihrer Geistesfähigkeiten gezeigt, die in ihrer Gesammtheit schwach, aber durch gewisse besondere Fähigkeiten bemerkenswerth sind; sie haben eine außergewöhnliche Begabung zum Zeichnen, zum Rechnen, zur Musik zur Bildhauerei oder Mechanik an den Tag gelegt … und neben diesen vereinzelt entwickelten Geschicklichkeiten, die ihnen den Ruf von Wunderkindern zugezogen haben, lassen sie meistens ungeheure Lücken in ihrem Verstande und vollkommene Schwäche der übrigen Geisteskräfte erkennen.“

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so wäre er noch immer ein weltkluger Mann von guten Grundsätzen, ein feiner Kunstkenner, ein geschmackvoller Sammler, ein durchdringender Naturbeobachter gewesen. Man denke sich dagegen einen Schopenhauer, der nicht der Verfasser erstaunlicher Bücher gewesen wäre, und man hätte nur noch einen abstoßenden Sonderling vor sich, den seine Sitten aus jeder ehrbaren Gesellschaft ausschließen mußten und den seine Verfolgungs-Wahnvorstellungen für das Irrenhaus bezeichneten. Der Mangel an Gleichklang, das Fehlen des Gleichgewichts, das eigenthümlich Unnütze und Unbefriedigende selbst der anzuerkennenden Fähigkeit beim genialen Degenerirten fällt jedem gesunden Beurtheiler auf, der sich von lärmender Bewunderung selbst krankhaft entarteter Kritiker nicht beeinflussen läßt, und wird | ihm immer gestatten, den Mattoiden nicht mit dem gesunden Uebermenschen [] zu verwechseln, der der Menschheit neue Pfade erschließt und sie zu höheren Entwickelungen führt. Ich bin nicht der Ansicht Lombrosos, daß die genialen Degenerirten eine treibende Kraft des Fortschrittes der Menschheit sind. Sie bestechen und blenden, sie üben leider auch häufig eine tiefe Wirkung, aber diese ist stets eine unheilvolle. Wenn man es nicht gleich bemerkt, so stellt es sich später heraus. Wenn die Zeitgenossen es nicht erkennen, so zeigt der Sittengeschichtschreiber es nachträglich. Sie leiten ebenfalls die Menschheit auf eigenen, selbstgefundenen Pfaden zu neuen Zielen, aber diese Ziele sind Abgründe oder Wüsteneien. Sie sind Führer in Sümpfe wie Irrlichter oder in den Untergang wie der Rattenfänger von Hameln. Ihre unheimliche Unfruchtbarkeit wird von den Beobachtern ausdrücklich hervorgehoben. „Sie sind“, sagt Tarabaud, „Sonderlige, Querköpfe, aus dem Gleichgewicht Gerathene, Unfähige; sie gehören zu denen, von welchen man nicht sagen kann, daß sie keinen Geist haben, deren Geist aber nichts Taugliches hervorbringt.“ „Ein gemeinsamer Charakter“, schreibt Legrain, „vereinigt sie: die Schwäche des Urtheils und die ungleiche Entwickelung der Geisteskräfte.“ „Ihre Vorstellungsreihen sind niemals von hoher Art. Sie sind unfähig, große Gedanken, fruchtbare Einfälle zu haben. Diese Thatsache bildet einen eigenthümlichen Gegensatz zur oft übertriebenen Entwickelung ihrer Einbildungskraft.“ „Wenn sie Maler sind,“ heißt es bei Lombroso, „so wird bei ihnen die vorherrschende Eigenschaft die Farbe sein; sie werden dekorativ sein. Wenn sie Dichter | sind, werden sie sehr reiche Reime, eine glänzende Form, aber [] keinerlei Gedanken haben; manchmal werden sie Decadenten sein.“ So sind die Begabtesten unter denen beschaffen, welche in Kunst und Schriftthum die neuen Pfade finden und von begeisterten Jüngern zu Führern nach dem verheißenen Lande der Zukunft ausgerufen werden. Unter ihnen herrschen die Degenerirten oder Mattoide vor. Auf die Menge dagegen, welche sie bewundert und

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Nouvelle Revue, . Juli . Tarabaud, Des rapports de la dégénérescence mentale et de l’hystérie. Paris, . S. . Legrain, a. a. O. S.  u. . Lombroso, Nouvelles recherches de psychiatrie et d’anthropologie criminelle. Paris, . S. .

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bei ihnen schwört, welche die von ihnen ersonnenen Moden nachahmt und sich in den Absonderlichkeiten gefällt, die im vorigen Kapitel geschildert wurden, findet meist die zweite der oben gestellten Diagnosen Anwendung: bei ihr haben wir es hauptsächlich mit Hysterie oder Neurasthenie zu thun. Aus Gründen, die im nächsten Kapitel beleuchtet werden sollen, ist die Hysterie in Deutschland bisher weniger studirt worden als in Frankreich, wo man sich am ernstesten mit ihr beschäftigt hat. Was wir von ihr wissen, verdanken wir ziemlich ausschließlich französischen Forschern. Die großen Abhandlungen von Axenfeld, Richer und namentlich Gilles de la Tourette fassen unsere gegenwärtige Kenntniß von dieser Krankheit vollständig zusammen und auf sie werde ich mich berufen, wenn ich die Züge aufzähle, welche die Hysterie hauptsächlich kennzeichnen. Bei den Hysterikern — und man glaube nicht, daß diese sich ausschließlich oder selbst nur vorwiegend beim weiblichen Geschlechte vorfinden, man trifft sie unter den Männern ebenso oft, vielleicht noch öfter an als unter den Frauen — [] bei den | Hysterikern wie bei den Degenerirten fällt zunächst eine außerordentliche Emotivität auf. „Der Grundzug der Hysteriker“, sagt Colin „ist die übermäßige Eindrucksfähigkeit ihrer psychischen Zentren … Sie sind vor Allem Sensitive.“ Aus dieser ersten Eigenschaft geht eine zweite, ebenso auffallende und wichtige hervor, die überaus große Leichtigkeit, mit der sie der Suggestion unterworfen werden können. Die älteren Beobachter haben immer von der grenzenlosen Verlogenheit der Hysteriker gesprochen, wohl gar sich über sie entrüstet und sie zum vornehmsten Merkmal ihrer Geistesbeschaffenheit gemacht. Sie haben einen Irrthum begangen. Der Hysteriker lügt nicht bewußt. Er glaubt an die Wahrheit seiner tollsten Erfindungen. Die krankhafte Beweglichkeit seines Geistes, die übertrieben leichte Erregbarkeit seiner Einbildungskraft führt seinem Bewußtsein allerlei wunderliche und unsinnige Vorstellungen zu, er suggerirt sich selbst, daß diese Vorstellungen auf wirklichen Wahrnehmungen beruhen, und er glaubt so lange an die Wahrheit seiner tollen Erfindungen, bis eine neue Suggestion, sei es eine eigene, sei es eine von einem Andern ausgehende, die frühere verdrängt hat. Eine Folge der Empfänglichkeit des Hysterikers für die Suggestion ist seine unwiderstehliche Nachahmungssucht und der Eifer, mit welchem er auf alle Eingebungen von Schriftstellern und Künstlern eingeht. Wenn er ein Bild sieht, will er ihm in Haltung und Kleidung ähnlich werden; wenn er ein Buch liest, eignet er sich dessen Anschauun-

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Axenfeld, Des névroses.  Vol. ème édition, revue et complétée par le Dr. Huchard. Paris, . Paul Richer, Etudes cliniques sur l’hystéro-épilépsie ou grande hystérie. Paris, . Gilles de la Tourette, Traité clinique et thérapeutique de l’hystérie. Paris, . Paul Michaut, Contribution à l’étude des manifestations de l’hystérie chez l’homme. Paris, . Colin, a. a. O. S. . Gilles de la Tourette, a. a. O. S.  und passim. Colin, a. a. O. S.  und . Gilles de la Tourette, a. a. O. S. .

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Diagnose.

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 gen blindlings an; er nimmt die Helden der Romane, die er gerade in Händen hat,

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zum Vorbild und lebt sich in den Charakter der Personen hinein, die sich auf der Bühne vor ihm bewegen. Zu der Emotivität und Suggestibilität kommt eine bei gesunden | Menschen [] niemals auch nur entfernt in diesem Maße zu beobachtende Selbstverliebtheit. Sein eigenes Ich steht riesengroß vor dem innern Auge des Hysterikers und füllt seinen geistigen Gesichtskreis so vollständig aus, daß es ihm die ganze übrige Welterscheinung verdeckt. Er duldet auch nicht, daß andere ihn übersehen. Er will, daß er den Mitmenschen ebenso wichtig sei, wie er sich selbst ist. „Ein unablässiges Bedürfniß verfolgt und beherrscht den Hysteriker, seine Umgebung mit seiner Person zu beschäftigen.“ Ein Mittel, dieses Bedürfniß zu befriedigen, ist das Ersinnen von Geschichten, durch die er interessant wird. Daher die abenteuerlichen Erlebnisse, die oft genug die Polizei und die Berichterstattung der Tagespresse beschäftigen. Der Hysteriker wird in der belebtesten Straße von unbekannten Männern angefallen, beraubt, mißhandelt, verwundet, in eine entlegene Gegend geschleppt und sterbend liegen gelassen. Er rafft sich mühselig auf und erstattet bei der Polizei die Anzeige. Er kann an seinem Körper die empfangenen Wunden vorweisen. Er gibt alle Einzelheiten an. Und an der ganzen Sache ist kein wahres Wort, es ist Alles erträumt und eingebildet und die Wunden hat er sich selbst beigebracht, um einen Augenblick lang der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden. In den geringeren Graden der Hysterie nimmt dieses Bedürfniß, aufzufallen, harmlosere Formen an. Es äußert sich in Wunderlichkeiten der Tracht und des Benehmens. „Die Hysteriker lieben leidenschaftlich grelle Farben und ausschweifende Formen, sie wollen den Blick auf sich ziehen und von sich reden machen.“ Es ist wohl nicht nothwendig, den Leser erst noch besonders darauf aufmerksam zu machen, wie vollständig dieses klinische Bild des Hysterikers sich mit der Schilderung der Eigenheiten des fin-de-siècle-Publikums deckt und wie wir in | jenem alle Züge antreffen, die uns von der Betrachtung der Zeiterscheinungen her [] bekannt find, insbesondere auch die Sucht, im Äußern, in der Kleidung, Haltung, Haar- und Barttracht, den Gestalten in alten und neuen Gemälden ähnlich zu werden, und das fieberhafte Bestreben, durch irgend eine Seltsamkeit aufzufallen und von sich reden zu machen. Die Beobachtung der erklärten Degenerirten und Hysteriker, deren Zustand ärztliche Behandlung nothwendig gemacht hat, gibt uns aber auch den Schlüssel zum Verständniß untergeordneterer Einzelheiten der Tagesmoden. Die Sammelwuth der Zeitgenossen, das Vollrammen der Wohnungen mit zwecklosem Trödel, der dadurch nicht nützlicher oder schöner wird, daß man ihm den Kosenamen „bibelots“ gibt, erscheint uns in einem ganz neuen Lichte, wenn wir wissen, daß Magnan bei den Degenerirten einen unwiderstehlichen Drang zum

 Gilles de la Tourette, a. a. O. S. .   Legrain, a. a. O. S. .

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Erwerben unnützen Krams festgestellt hat. Er ist so ausgeprägt und eigenthümlich, daß Magnan ihn als ein Stigma der Entartung anspricht und für ihn den Namen „Oniomanie“ oder „Einkauf-Wahnsinn“ geschaffen hat. Man darf ihn nicht mit der Kauflust der Kranken verwechseln, die sich im ersten Stadium der allgemeinen Lähmung befinden. Die Käufe dieser Individuen sind eine Folge ihres Größenwahns. Sie machen große Anschaffungen, weil sie sich für Millionäre oder Milliardäre halten. Der Oniomane dagegen kauft weder bedeutende Mengen eines und desselben Gegenstandes wie der Paralytiker, noch ist ihm der Preis gleichgiltig wie diesem. Er kann nur an keinem Gerümpel vorübergehen, ohne den Antrieb zu empfinden, es zu erwerben. Die merkwürdige Vortragsweise gewisser neuerer Maler, der Impressionisten, der Punktirer oder Mosaisten, der Zitterer oder Flimmerer, der brüllenden Koloristen, der Grau- und Fahlfärber, wird uns sofort verständlich, wenn wir uns die [] Untersuchungen der Charcot’schen Schule über die Sehstörungen | der Entarteten und Hysteriker gegenwärtig halten. Die Maler, welche versichern, daß sie aufrichtig sind und die Natur so wiedergeben, wie sie sie sehen, sagen die Wahrheit. Der Degenerirte, der an Nystagmus oder Zittern des Augapfels leidet, wird in der That die Welterscheinung bebend, ruhelos, ohne feste Umrisse wahrnehmen und wenn er ein gewissenhafter Maler ist, wird er uns Bilder liefern, welche an die Manier erinnern, in der die Zeichner der Fliegenden Blätter einen sich kräftig schüttelnden nassen Hund darzustellen pflegen, und die nur darum nicht komisch wirken werden, weil der aufmerksame Betrachter aus ihnen das verzweifelte Ringen nach der vollen Wiedergabe eines Eindrucks herauslesen wird, der mit den von normal sehenden Menschen geschaffenen Mitteln der bildenden Kunst eben nicht wiedergegeben werden kann. Fast bei keinem Hysteriker fehlt die Unempfindlichkeit eines Theils der Netzhaut. In der Regel sind die unempfindlichen Stellen zusammenhängend und nehmen die äußere Hälfte der Netzhaut ein. In diesen Fällen ist das Sehfeld mehr oder weniger verengt und erscheint dem Hysteriker nicht wie dem Normalmenschen als ein Kreis („Gesichtskreis“), sondern als ein Bild, das von einer launenhaft aus- und einspringenden Linie begrenzt wird. Manchmal hängen aber die unempfindlichen Stellen nicht zusammen und finden sich inselförmig über die ganze Netzhaut zerstreut. Dann wird der Kranke in seinem Sehfeld allerlei Lücken von merkwürdiger Wirkung haben und wenn er malt, was er sieht, wird er geneigt sein, größere oder kleinere Punkte oder Flecke neben einander zu setzen, die mit einander gar nicht oder unvollkommen verbunden sind. Die Unempfindlichkeit braucht nicht vollständig zu sein und kann blos für einzelne oder alle Farben bestehen. Hat der Hysteriker die Farbenempfindung ganz eingebüßt („Achromatopsie“), so sieht er alles einförmig grau, nimmt aber die Verschiedenheiten der Helligkeitsgrade wahr. [] Das Weltbild stellt sich ihm also wie ein Kupferstich | oder eine Bleistiftzeichnung dar, wo die Wirkung der abwesenden Farben durch die Verschiedenheit der Lichtstärke, durch die größere oder geringere Tiefe und Kraft der weißen und schwarzen

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Diagnose.

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Stellen ersetzt ist. Farbenunempfindliche Maler werden natürlich eine Vorliebe für fahle Malerei haben und ein an demselben Uebel leidendes Publikum an mißfarbigen Bildern nichts Anstößiges finden. Wenn aber neben der die Farben gleichmäßig auslöschenden Kalktünche eines Puvis de Chavanne auch das tosende Gelb und Blau und Roth eines Besnard Fanatiker findet, so hat das ebenfalls einen Grund, den uns die Klinik enthüllt. „Gelb und Blau,“ belehrt uns Gilles de la Tourette, „sind peripherische Farben“ (d. h. sie werden mit den äußersten Theilen der Netzhaut gesehen) „sie werden also bis zuletzt“ (wenn die Empfindung für die übrigen Farben schon erloschen ist) „wahrgenommen. Dies sind nämlich … die beiden Farben, für welche die Empfindung in der hysterischen Amblyopie“ (Stumpfsichtigkeit) „am längsten erhalten bleibt. Bei manchen Kranken ist es übrigens das Roth und nicht das Blau, das zuletzt verschwindet.“ Das Roth hat noch eine andere Eigenthümlichkeit, die es erklärt, daß die Hysteriker eine solche Vorliebe dafür haben. Die Versuche von Binet haben festgestellt, daß die Eindrücke, welche die Sinnesnerven dem Gehirn zuführen, einen bedeutenden Einfluß auf die Art und Stärke der Anregungen üben, die das Gehirn an die Bewegungsnerven ausgibt. Manche Sinneseindrücke wirken schwächend und hemmend auf die Bewegungen („depressiv,“ „inhibirend“), andere im Gegentheil machen diese kräftiger, rascher und lebhafter, sie sind „dynamogen“ oder „krafterzeugend“. Da mit der Dynamogenie oder Krafterzeugung stets ein Lustgefühl verbunden ist, so hat jedes Lebewesen den | Trieb, dynamogene Sinneseindrü- [] cke zu suchen, hemmende und schwächende zu meiden. Roth ist nun hervorragend dynamogen. „Wenn wir“, heißt es bei Binet in der Beschreibung eines Versuchs mit einer an Unempfindlichkeit der einen Körperhälfte leidenden Hysterikerin, „in die empfindungslose rechte Hand von Amelie Cle … einen Dynamometer legen, so gibt der Druck der Hand  Kilogramm. Läßt man sie in demselben Augenblick eine rothe Scheibe betrachten, so verdoppelt sich sofort die Kilogramm-Zahl des unbewußten Druckes.“ Es ist also verständlich, daß hysterische Maler in Roth schwelgen und hysterische Beschauer an rothen Bildern, die dynamogen auf sie wirken und in ihnen Lustgefühle erzeugen, besondere Freude haben. Wie Roth dynamogen, so ist umgekehrt Violett hemmend und schwächend. Es ist kein Zufall, daß Violett von manchen Völkern als ausschließliche und auch von uns als Halb-Trauer-Farbe gewählt wurde. Der Anblick dieser Farbe wirkt niederschlagend und das Unlustgefühl, das sie erweckt, stimmt zur Gedrücktheit eines trauerbefangenen Geistes. Es liegt nun nahe, daß malende Hysteriker und

 Traité clinique et thérapeutique de l’hystérie. S. .  Alfred Binet, Recherches sur les altérations de la conscience chez les hystériques. Revue  philosophique, , Vol. XXVII.  A. a. O. S. .  Ch. Féré, Sensation et Mouvement. Revue philosophique. . Siehe auch desselben Verfassers „Sensation et Mouvement,“ Paris, , „Dégénérescence et criminalité“, Paris,  und „L’énérgie et la vitesse des mouvements volontaires,“ Revue philosophique .

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Neurastheniker die Neigung haben werden, die ihrem Zustande der Müdigkeit und Erschöpftheit entsprechende Farbe gleichmäßig über ihre Bilder zu verbreiten. So entstehen die violetten Gemälde Manets und seiner Schule, die aus keinem in der Natur wirklich zu beobachtenden Anblick, sondern aus einer innern Anschauung, einem Nervenzustande hervorgehen. Wenn ganze Wandflächen zeitgenössischer [] „Salons“ und Kunstausstellungen gleichmäßig in | Halbtrauer gehüllt scheinen, so drückt sich in dieser Vorliebe für Violett einfach die Nervenschwäche der Maler aus. Noch eine Erscheinung ist in hohem Grade für die Entartung der Einen, die Hysterie der Anderen bezeichnend, und das ist die Bildung von geschlossenen, nach Außen sich schroff absondernden Gruppen oder Schulen, die gegenwärtig in Kunst- und Schriftthum beobachtet wird. Gesunde Künstler oder Schriftsteller, deren Geist sich im Zustande des regelrechten Gleichgewichts befindet, werden nie daran denken, sich zu einer Verbindung zusammenzuthun, die man nach Belieben eine Sekte oder eine Bande nennen kann, einen Katechismus zu ersinnen, sich an bestimmte ästhetische Dogmen zu binden und für diese mit der fanatischen Unduldsamkeit spanischer Inquisitoren einzutreten. Wenn irgend eine menschliche Thätigkeit, so ist die künstlerische eine individuelle. Das wirkliche Talent ist immer persönlich. Es gibt in seinen Schöpfungen sich selbst, seine eigenen Anschauungen und Empfindungen, nicht aber angelernte Glaubenssätze irgend eines ästhetischen Apostels wieder; es folgt seinem Schaffenstriebe, nicht aber einer theoretischen Formel, die der Stifter einer neuen Kunst- oder Literaturkirche predigt, es gestaltet sein Werk zu der Form, die ihm organisch nothwendig ist, nicht zu der, welche ein Häuptling für die von der Tagesmode geforderte erklärt. Die bloße Thatsache, daß ein Schriftsteller oder Künstler sich auf ein Schlagwort, irgend einen „ismus“ einschwören läßt, daß er mit Gejohl hinter einer Fahne und einer türkischen Musik herläuft, ist ein voller Beweis für Mangel an Eigenart, das heißt für Talentlosigkeit. Wenn die geistigen Bewegungen einer Zeit, auch die ganz gesunden und fruchtbaren, in der Regel in große Hauptrichtungen geordnet werden, die je einen besondern Namen erhalten, so ist dies das Werk von Sitten- oder LiteraturGeschichtschreibern, die nachträglich das Gesammtbild einer Epoche überblicken [] und zu ihrer eigenen Bequemlichkeit, damit sie selbst | in der Mannigfaltigkeit der Erscheinung sich leichter zurechtfinden, Eintheilungen und Klassifikationen vornehmen. Diese sind aber fast immer willkürlich und künstlich. Die selbstständigen Geister (von bloßen Nachahmern ist hier nicht die Rede), die ein guter Kritiker zu einer Gruppe vereinigt, werden ja vielleicht eine gewisse Aehnlichkeit erkennen lassen, aber in der Regel wird diese nicht die Folge wirklicher innerer Verwandtschaft, sondern äußerer Einflüsse sein. Niemand vermag sich ganz den Einwirkungen seiner Zeit zu entziehen und unter dem Eindrucke der für alle Zeitgenossen gleichen Ereignisse sowie der in einem gegebenen Augenblicke vorherrschenden wissenschaftlichen Anschauungen entwickeln sich in allen Werken einer Epoche gewisse Züge, die sie gleichsam mit einer Jahreszahl stempeln. Aber dieselben Men-

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schen, die sich später im Geschichtsbuche so natürlich zusammenfinden, daß sie eine Familie zu bilden scheinen sind im Leben weit auseinander ihren besondern Weg gegangen und haben schwerlich geahnt, daß man sie einst unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenfassen werde. Ganz anders ist es, wenn Schriftsteller oder Künstler bewußt und absichtlich zusammentreten und eine ästhetische Schule gründen, wie man eine Maklerbank gründet: mit einem Titel, für den man womöglich den gesetzlichen Schutz in Anspruch nimmt, mit Satzungen, gemeinsamen Betriebs-Mitteln u. s. w. Das kann gewöhnliche Spekulation sein, aber in der Regel ist es Krankheit. Die Neigung zur Gruppenbildung, die bei allen Entarteten und Hysterikern auftritt, kann verschiedene Formen annehmen. Bei den Verbrechern führt sie zum Zusammenschluß von Banden, wie Lombroso ausdrücklich feststellt, bei erklärten Geisteskranken zur „folie à deux“, dem „Wahnsinn zu zweien“, in welchem der eine Gestörte seine Wahnvorstellungen einem Genossen vollständig aufnöthigt, bei Hysterikern zu jenen lebhaften Freund-|schaften, die Charcot veranlassen, bei jeder Gelegenheit den Ausspruch [] zu wiederholen: „Nervöse ziehen einander an“, bei Schriftstellern endlich zur Errichtung von Schulen. Die gemeinsame organische Grundlage dieser verschiedenen Formen einer und derselben Erscheinung, des „Wahnsinnes zu zweien“, der Gesellung Nervöser, der Bildung ästhetischer Schulen und der Gründung von Verbrecher-Banden, ist bei dem thätigen Theile, den Führern und Anregern, das Vorherrschen von Zwangsvorstellungen, bei den Mitläufern, den Jüngern, dem unterwürfigen Theile, Willensschwäche und krankhafte Ueberempfänglichkeit für Suggestion. Der Träger einer Zwangsvorstellung ist ein unvergleichlicher Apostel. Es gibt keine durch gesunde Gedankenarbeit gewonnene vernünftige Überzeugung, die sich eines Geistes so vollständig bemächtigen, seine ganze Thätigkeit so tyrannisch sich unterwerfen, ihn so unwiderstehlich zu Worten und Thaten drängen würde wie ein Delirium. An dem delirirenden Wahnsinnigen und Halbverrückten prallt jeder Beweis der Unsinnigkeit seiner Vorstellungen ab; ihn berührt kein Widerspruch, kein Spott, keine Verachtung; die Meinung der Mehrheit ist ihm gleichgiltig, Thatsachen, die ihm nicht passen, bemerkt er nicht oder deutet sie so, daß sie scheinbar seinem Delirium zu Hilfe kommen, Hindernisse schrecken ihn nicht zurück, weil gegen die Gewalt seines Deliriums selbst sein Erhaltungstrieb nicht anzukämpfen vermag, und aus demselben Grunde ist er oft genug ohne Weiteres bereit, bis zur Blutzeugenschaft zu gehen. Geistesschwache oder aus dem Gleichgewichte gerathene Menschen, die mit einem Delirirenden | in Berührung kommen, werden von der Stärke [] seiner krankhaften Vorstellungen sofort unterjocht und bekehren sich augenblick-

 Lombroso, l’Uomo delinquente, S. .   „Les nerveux se recherchent.“ Charcot, Leçons de Mardi passim.  Legrain, a. a. O. S. : „In der vorbestehenden Neigung zu deliriren einerseits, in der sie begleitenden Geistesschwäche andererseits muß man die wirkliche Erklärung der Fälle von Wahnsinn zu zweien suchen.“ Siehe auch: Régis, La folie à deux. Paris, .

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lich zu ihnen. Manchmal ist es möglich, sie von den auf sie übertragenen Delirien zu heilen, indem man sie von deren Urhebern trennt, häufig aber überdauert ihre erworbene Störung selbst diese Trennung. Das ist die Naturgeschichte der ästhetischen Schulen. Ein Degenerirter verkündet unter der Wirkung einer Zwangsvorstellung irgend ein literarisches Dogma, den Realismus, die Pornographie, den Mysticismus, den Symbolismus, den Diabolismus. Er thut es mit heftiger, durchdringender Beredsamkeit, mit Aufregung, mit wüthender Rücksichtslosigkeit. Andere Degenerirte, Hysteriker, Neurastheniker schaaren sich um ihn, empfangen das neue Dogma aus seinem Munde und leben von nun an nur für dessen Ausbreitung. In diesem Falle sind alle Betheiligten guten Glaubens: der Stifter wie die Jünger. Sie handeln, wie sie in Folge der krankhaften Verfassung ihres Gehirns und Nervensystems müssen. Aber freilich wird das klinisch ganz klare Bild in der Regel getrübt, wenn es dem Apostel eines Diliriums und seinem Gefolge gelingt, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich zu ziehen. Dann erhält er Zulauf von Leuten, die nicht mehr guten Glaubens sind, die sehr wohl das Wahnwitzige des neuen Dogmas zu erkennen vermögen, es aber dennoch annehmen, weil sie hoffen, als Mitglieder der neuen Sekte Ruf und Geld zu gewinnen. Es gibt in jedem gesitteten Volk mit entwickelter Kunst und Literatur zahlreiche Geisteseunuchen, die zwar nicht fähig sind, aus eigener Kraft eine lebende Geistesthat hervorzubringen, die aber ganz gut die Gesten des Schaffens nachzuahmen vermögen. Diese Krüppel bilden leider die große Mehrheit der berufsmäßigen Schriftsteller und Künstler und ihre ungezieferhaft wimmelnde Menge erdrückt oft genug das wahre, ursprüng[] liche Talent, Sie | nun sind es, welche sich beeilen, jeder neuen Richtung, die in Mode zu kommen scheint, den Troß zu liefern. Sie sind naturgemäß immer die Allermodernsten, denn kein Gebot der Eigenart, kein künstlerisches Gewissen hindert sie, mit stets gleicher Handwerkerbeflissenheit das jeweilige neueste Muster verhunzend nachzuahmen. Geschickt im Absehen der Äußerlichkeiten, unbedenkliche Abschreiber und Nachäffer, drängen sie sich um jede eigenartige Erscheinung, sie sei krankhaft oder gesund, und machen sich ohne Zeitverlust daran, von ihr gefälschte Abdrücke in Umlauf zu setzen. Heute sind sie Symbolisten, wie sie gestern Realisten oder Pornographen waren. Sie schreiben mit derselben Geläufigkeit Mysterien, wenn sie sich von diesen Ruhm und Absatz versprechen, wie sie Ritter- und Räuberromane, Abenteuer, römische Tragödien und Dorfgeschichten fabrizirten, als bei der Zeitungskritik und dem Publikum mehr nach diesen Sachen Nachfrage zu sein schien. Diese Praktikanten, die, es sei wiederholt festgestellt, die große Mehrheit der geistigen Arbeiter, also auch der Mitglieder von Mode-Sekten in Kunst und Schriftthum ausmachen, sind nun allerdings geistig ganz gesund, wenn auch auf einer recht tiefen Entwickelungsstufe stehend, und wer sie prüfen würde, könnte leicht die Richtigkeit der Diagnose „Degeneration“ für die Bekenner der neuen Lehren anzweifeln. Man muß deshalb bei der Untersuchung einige Vorsicht üben und stets die gutgläubigen Urheber von den nachahmenden Strebern unter-

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scheiden, den Religionsstifter und seine Apostel von dem Janhagel, dem es nicht um die Bergpredigt, sondern um den wunderbaren Fischzug und die Vermehrung der Brode zu thun ist. Es ist nun gezeigt worden, wie die Schulen entstehen: sie gehen aus der Degeneration der Schaffenden und ihrer überzeugten Nachahmer hervor. Daß sie in Mode kommen, einige Zeit lang lärmende Erfolge erringen können, hat seinen Grund wieder in den Eigenthümlichkeiten der Empfangenden, des | Publikums, [] namentlich in der Hysterie. Wir haben gesehen, daß Überempfänglichkeit für Suggestion das Kennzeichen der Hysteriker ist. Dieselbe Macht der Zwangsvorstellung, mit welcher der Entartete Nachahmer gewinnt, sammelt auch Anhänger um ihn. Wenn dem Hysteriker laut und unablässig versichert wird, daß ein Werk schön, tief, zukunftschwanger sei, so glaubt er daran. Er glaubt an Alles, was ihm eindringlich genug suggerirt wird. Als die kleine Kuhmagd Bernadette die Erscheinung der heiligen Jungfrau in der Grotte von Lourdes sah, da glaubten die herbeiströmenden Betschwestern und männlichen Hysteriker der Umgegend dem halluzinirten Mädchen nicht etwa blos, daß es selbst die Erscheinung gesehen habe, sondern alle sahen mit ihren eigenen Augen die heilige Jungfrau. Goncourt erzählt, daß  in Paris während des deutsch-französischen Krieges eine nach Zehntausenden zählende Menschenmenge in und vor dem Börsenpalaste überzeugt war, ein Telegramm über französische Siege selbst gesehen, theilweise sogar selbst gelesen zu haben, das im Innern des Börsensaales an einer Säule angeheftet sein sollte, auf das alle Leute mit dem Finger wiesen und das thatsächlich nicht existirte. Man könnte solche Beispiele, daß einer aufgeregten Menge Sinnestäuschungen suggerirt wurden, zu Dutzenden anführen. Die Hysteriker lassen sich also ohne Weiteres von der Herrlichkeit eines Werkes überzeugen und sie finden dann sogar darin Schönheiten höchster Art, an die sein Urheber und dessen bestellte Ruhmestrompeter selbst noch gar nicht gedacht haben. Ist die Sekte erst so weit ausgebaut, daß sie außer dem Stifter und den Tempelpriestern, den bezahlten Sakristanen und Chorknaben auch eine Gemeinde, Umzüge mit Fahnen und Gesängen und weithin schallende Glocken hat, dann schließen sich ihr außer den Hysterikern, die sich den neuen Glauben suggeriren ließen, | auch andere Bekenner an. Junge [] Leute ohne Urtheil, die noch ihren Weg suchen, gehen dorthin, wohin sie die Menge strömen sehen, und sie folgen unbedenklich dem Zuge, weil sie glauben, daß er auf der richtigen Bahn dahinschreite. Flachköpfe, welche vor Nichts solche Angst haben, als für zurückgeblieben gehalten zu werden, schließen sich ihm mit einem überlauten Hoch- und Heil-Gebrüll an, welches sie selbst überzeugen soll, daß sie auch wirklich vor dem allerneuesten Triumphator, der allerjüngsten Berühmtheit einhertanzen. Abgelebte Greise, die eine lächerliche Angst davor haben, daß man ihr richtiges Alter erkenne, besuchen eifrig den neuen Tempel und mischen ihre meckernde Stimme in den Gesang der Andächtigen, weil sie

 Journal des Goncourt, ème Série. Premier volume –. Paris, . S. .

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hoffen, daß man sie für jung halten werde, wenn man sie in einer Gruppe sehe, in der junge Leute vorherrschen. So entsteht ein förmlicher Auflauf um einen unglücklichen Entarteten; dem Hysteriker, welchem Bewunderung suggerirt wurde, guckt der Modegeck, der ästhetische „Gigerl“, über die Schulter, dem Jugendheuchler tritt der Streber auf die Füße und zwischen sie alle drängt sich mit Ungestüm die neugierige Gassenjugend, die überall dabei sein muß, wo „etwas los ist.“ Und diese Menge macht, weil sie von Krankheit, Eigennutz und Eitelkeit getrieben ist, sehr viel mehr Lärm und Getümmel als eine weit größere Anzahl gesunder Menschen, die sich ruhig und ohne selbstsüchtige Nebenabsicht an den Werken gesunder Talente erfreuen und sich nicht verpflichtet fühlen, ihre Schätzung auf der Straße auszubrüllen und harmlose Entgegenkommende, die in ihr Gejohl nicht einstimmen wollen, mit Todtschlag zu bedrohen.

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Aetiologie.

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IV. Aetiologie.



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Wir haben die für „fin-de-siècle“ geltenden Literatur- und Kunst-Richtungen und Moden und die Empfänglichkeit des Publikums für sie als Wirkung von Krankheiten erkannt und feststellen können, daß diese die Entartung und die Hysterie sind. Wir haben jetzt zu untersuchen, wie diese Zeitkrankheiten entstanden sind und weshalb sie gerade jetzt so außerordentlich häufig auftreten. Morel, der große Erforscher der Entartung, führt diese in der Hauptsache, auf Vergiftung zurück. Ein Geschlecht, das regelmäßig, selbst ohne Uebermaß, Betäubungs- und Reiz-Stoffe in irgend einer Form gebraucht (also gegohrene, weingeisthaltige Getränke, Tabak, Opium, Haschisch, Arsenik), das verdorbene Nahrungsmittel genießt (mutterkornhaltiges Brod, schlechten Mais), das organische Gifte in sich aufnimmt (Sumpffieber, Syphilis, Tuberkulose, Kropfkrankheit), erzeugt entartete Nachkommen, die, wenn sie denselben Einwirkungen ausgesetzt bleiben, rasch zu den tiefsten Stufen der Degeneration, zum Blödsinn, zur Zwerghaftigkeit u. s. w. hinabsteigen. Daß die Vergiftung der gesitteten Völker in größtem Maße andauert und zunimmt, ist aus jeder Statistik zu ersehen. Der Tabakverbrauch ist in Frankreich von , Kilo auf den Kopf der Bevölkerung im Jahre  auf , Kilo im Jahre  | gestiegen. Für England sind die entsprechenden Zahlen  und  [] Unzen, für Deutschland , und , Kilo. Der Alkoholgenuß hat sich in derselben Zeit in Deutschland () von , Quart auf () , Quart, in England von

 Traité des dégénérescences. Passim.  Persönliche Mittheilung des ausgezeichneten Statistikers Herrn Josef Körösi, Leiters des Budapester statistischen Amtes.  Rede des Schatzkanzlers Goschen im engl. Unterhause am . April .   J. Vavasseur im „Economiste français“ von . Siehe auch Bulletin de Statistique für . Die Zahlen sind unsicher, denn sie werden von jedem Statistiker, den ich zu Rathe gezogen habe, anders angegeben. Nur die eine Thatsache der Zunahme des Alkohol-Verbrauchs geht aus allen einschlägigen Schriften mit Bestimmtheit hervor. Außer Spiritus verbrauchte man nach J. Körösi an gegohrenen Getränken pro Kopf der Bevölkerung: 

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Großbritannien. Wein. Bier und Cider. – . . . . . . . . . . . . . . , Gallonen. . . . . . . . . . . . .  Gallonen. –. . . . . . . . . . . . . . , . . .  . . . . . . . . . . . . . . .  . . .  Frankreich. –. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . .  . . .  –. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . .  . . .  Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , Quart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , . . 

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Deutsches Reich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , Liter. / . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , . . 

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, Liter auf , Liter, in Frankreich von , auf  Liter vermehrt. Die Zunahme des Opium- und Haschisch-Verbrauchs ist sogar noch stärker, doch haben wir uns mit ihr nicht zu beschäftigen, da unter ihr hauptsächlich blos die Völker des Ostens leiden, die in der Geistesbewegung der weißen Menschheit keine Rolle spielen. Zu diesen Schädlichkeiten kommt aber noch eine, die Morel nicht gekannt oder nicht beachtet hat: der Aufenthalt in der Großstadt. Der Bewohner der Großstadt, selbst der reichste, der vom ausbündigsten Luxus umgebene, ist fortwährend ungünsti[] gen Einflüssen aus-|gesetzt, die seine Lebenskraft weit über das unvermeidliche Maß hinaus vermindern. Er athmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechsels geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte, gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustande beständiger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner einer Sumpfgegend gleichstellen. Die Wirkung der Großstadt auf den menschlichen Organismus zeigt die größte Ähnlichkeit mit jener der Maremmen und ihre Bevölkerung verfällt demselben Verhängniß der Entartung und des Unterganges wie die Opfer der Malaria. Die Sterblichkeit in der Großstadt ist um mehr als ein Viertel größer als der Durchschnittssatz, der für das ganze Volk gilt, und sie ist doppelt so groß wie auf dem flachen Lande, obwohl sie eigentlich kleiner sein sollte, weil in der Großstadt die kräftigsten Lebensalter vorherrschen, in welchen die Sterblichkeit weit geringer ist als im Kindes- und Greisenalter. Und auch die Kinder der Großstadt, die nicht in frühem Alter weggerafft werden, erleiden die eigenthümliche Bildungshemmung, welche Morel bei der Bevölkerung der Fiebergegenden feststellt. Sie entwickeln sich ziemlich regelmäßig bis zum . oder . Lebensjahre, sind bis dahin aufgeweckt, ja manchmal glänzend begabt und das Höchste versprechend, dann tritt plötzlich ein Stillstand ein, der Geist erlischt, das Fassungsvermögen geht verloren und aus dem Burschen, der noch gestern ein Musterschüler war, wird ein stumpfer, schwerfälliger Knoten, den man nur mit der größten Mühseligkeit durch die Prüfungen lootsen kann. Mit diesen geistigen [] Veränderungen gehen körperliche Hand in Hand. Das | Wachsthum der Röhrenknochen wird äußerst langsam oder hört ganz auf, die Beine bleiben kurz, das Becken behält eine weibliche Form, gewisse andere Organe entfalten sich nicht weiter und das ganze Wesen zeigt ein befremdliches und abstoßendes Gemisch von Unfertigkeit und Welkheit.

 In Frankreich war – die allgemeine Sterblichkeit , von . In Paris betrug sie aber ,, in Marseille ,, in allen Städten mit mehr als . Einwohnern im Durchschnitt ,, in allen Orten mit weniger als . Einwohnern ,. („La Médicine Moderne“, Jahrgang .)  Traité des dégénérescences. S.  und .  Brouardel. La Semaine médicale. Paris, . S. . In dieser höchst bemerkenswerthen Studie des Pariser Professors kommt u. a. folgende Stelle vor: „Was wird später aus diesen“ (in ihrer Entwickelung stehen gebliebenen) „jungen Parisern? Unfähig, eine lange und gewissenhafte Arbeit auszuführen, zeichnen sie sich gewöhnlich in Kunstthätigkeiten aus. Sind sie Maler, so haben sie mehr Farbe als Zeichnung. Sind sie Dichter, so sichert ihnen mehr die Glätte der Verse als die Kraft des Gedankens den Erfolg“.

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Nun ist es aber bekannt, wie außerordentlich im letzten Menschenalter die  Bewohnerzahl der Großstädte zugenommen hat. Heute ist ein unvergleichlich grö-

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ßerer Theil des ganzen Volkes den zerstörenden Einwirkungen der Großstadt unterworfen als vor fünfzig Jahren, die Anzahl ihrer Opfer ist deshalb auch entsprechend bedeutender als früher und sie wird fortwährend gewaltiger. Mit dem Wachsthum der Großstädte gleichlaufend ist die Vermehrung der Entarteten aller Art, der Verbrecher, der Wahnsinnigen und der „höheren Degenerirten“ Magnans, und es ist natürlich, daß diese letzteren im Geistesleben eine immer auffälligere Rolle spielen, in Kunst und Schriftthum immer mehr Wahnsinns-Elemente einzuführen streben. | Die ungeheure Zunahme der Hysterie in unseren Tagen hat zum Theil diesel- [] ben Ursachen wie die der Entartung, außerdem aber noch eine, die sehr viel allgemeiner ist als das Wachsthum der Großstädte und zwar für sich allein vielleicht nicht genügt, um Degeneration hervorzubringen, sicher aber vollständig ausreicht, um Hysterie und Neurasthenie zu erzeugen. Diese Ursache ist die Ermüdung des gegenwärtig lebenden Geschlechts. Daß Hysterie in der That eine Folge von Ermüdung ist, hat Féré durch beweiskräftige Versuche über eine bloße Vermuthung erhoben. In einer Mittheilung an die Pariser biologische Gesellschaft sagt der ausgezeichnete Forscher: „Ich habe eine gewisse Anzahl von Thatsachen beobachtet, welche die Aehnlichkeit ersichtlich machen, die zwischen der Müdigkeit und dem Dauerzustand der Hysteriker besteht. Man weiß, daß bei den Hysterikern die“ (unwillkürliche!) „Symmetrie der Bewegungen häufig in höchst kennzeichnender Weise auftritt. Ich habe festgestellt, daß bei gesunden Menschen unter dem Einflusse der Müdigkeit dieselbe Symmetrie der Bewegungen anzutreffen ist … Eine in der großen Hysterie stark ausgeprägte Erscheinung ist die besondere Reizbarkeit, welche bewirkt, daß die Kraft der willkürlichen Bewegungen durch peripherische Erregungen oder geistige Vorstellungen rasche und vorübergehende Aenderungen erleidet, mit denen gleichzeitige Aenderungen des Empfindungsvermögens und der Ernährungs-Thätigkeit verbunden sind. Dieselbe Reizbarkeit kann auch bei Müdigkeit nachgewiesen werden … Die Müdigkeit stellt also eine wahre Versuchs-Hysterie dar. Sie bildet einen Uebergang vom Zustand der Gesundheit zu den verschiedenen Zuständen, die wir als Hysterie bezeichnen. Man kann einen gesunden Menschen in einen Hysteriker verwandeln, indem man ihn ermüdet … | Alle Ursachen“ (wel- [] che Hysterie veranlassen) „können, was ihre Rolle als Krankheiterreger betrifft, auf

 Die  deutschen Städte, die heute über . Einwohner haben, zählten  zusammen  Millionen,  ..; die  englischen Städte dieser Kategorie  ..,   ..; die  französischen Städte  ..,  ... Zu bemerken ist, daß etwa ein Drittel dieser  Städte um  überhaupt noch keine . Einwohner hatte. Heute wohnen in Deutschland, Frankreich und England .. Menschen in Großstädten, während um  blos .. sich unter diesen Lebensbedingungen befanden. (Mittheilung des Herrn Josef Körösi.)   Féré, La Semaine Médicale. Paris. Jahrgang . S. .

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

einen einzigen physiologischen Vorgang zurückgeführt werden: auf die Ermüdung, auf die Herabstimmung der Lebensthätigkeit.“ Dieser Ursache nun, welche nach Féré gesunde Menschen in Hysteriker verwandelt, der Ermüdung, ist die ganze gesittete Menschheit seit einem halben Jahrhundert ausgesetzt. Alle ihre Lebensbedingungen haben in dieser Zeit eine Umwälzung erfahren, für die es in der Weltgeschichte kein Beispiel gibt. Noch hat die Menschheit kein Jahrhundert zu verzeichnen, in welchem sich die Erfindungen, die in die Lebensweise jedes Einzelnen so tief, so tyrannisch eingreifen, zusammendrängen wie in dem unsrigen. Die Entdeckung von Amerika, die Reformation haben ohne Zweifel die Geister sehr erregt und gewiß auch das Gleichgewicht von Tausenden wenig widerstandskräftiger Gehirne gestört. Aber das stoffliche Dasein der Menschen hat sich dadurch nicht geändert. Man stand auf und legte sich, aß und trank, kleidete, unterhielt sich, verbrachte seine Tage und Jahre, wie man es immer gewohnt gewesen war. In unserer Zeit dagegen haben Dampf und Elektrizität die Lebensgewohnheiten eines jeden Angehörigen gesitteter Völker auf den Kopf gestellt, selbst des gebundensten und beschränktesten Spießbürgers, der den treibenden Gedanken der Zeit vollkommen unzugänglich war. In einem außergewöhnlich bemerkenswerthen Vortrag, den Prof. A. W. von Hofmann  vor der deutschen Naturforscher-Versammlung in Bremen hielt, gab er am Schluß eine kurze Schilderung des Lebens eines Städters im Jahre . Er zeigt uns einen Naturforscher, der damals mit der Post aus Bremen in Leipzig ankommt. Die Reise hat vier Tage und vier Nächte gedauert und der Mann ist natürlich gerädert. Er wird von den Freunden empfangen und möchte sich ein [] wenig erfrischen. Es gibt aber noch kein Münchener Bier in | Leipzig. Nach kurzem Beisammensein mit den Berufsgenossen sucht er seinen Gasthof auf. Das ist ein mühseliges Geschäft, denn in den Straßen herrscht eine ägyptische Finsterniß, die nur in weiten Abständen von der rauchenden Flamme einer Oellampe unterbrochen wird. Er findet endlich seine Wohnung und möchte Licht machen. Es gibt noch keine Streichhölzchen, er muß sich also mit dem Feuerstein die Fingerspitzen wundschlagen, bis er es schließlich fertig bringt, ein Talglicht anzustecken. Er erwartet einen Brief, der ist aber nicht eingetroffen und er kann ihn jetzt nicht früher als in einigen Tagen bekommen, denn die Post verkehrt nur zweimal in der Woche zwischen Frankfurt und Leipzig … Doch es ist unnöthig, bis zum Jahre  zurückzugehen, das Professor Hofmann gewählt hat. Verweilen wir zum Vergleiche mit der Gegenwart beim Jahre . Dieses Jahr ist nicht willkürlich herausgegriffen. Es ist ungefähr der Zeitpunkt, um welchen das Geschlecht geboren ist, welches das Eindringen der neuen Erfindungen in alle Verhältnisse mit erlebt und die Wandlungen, die ihre Folge sind, am eigenen Leibe erfahren hat. Dieses Geschlecht regiert und verwaltet heute,

 Siehe außer Hofmanns Vortrag auch namentlich das vortreffliche Buch: „Eine deutsche Stadt vor  Jahren. Kulturgeschichtliche Skizze von Dr. Otto Bähr.“ . Aufl. Leipzig, .

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es gibt allenthalben den Ton an und seine Söhne und Töchter sind die europäische und amerikanische Jugend, in welcher die neuen ästhetischen Richtungen ihre fanatischen Anhänger gewinnen. Sehen wir nun, wie es  und ein halbes Jahr[] hundert später in der gesitteten Welt zuging. |  gab es in Europa . Kilometer Eisenbahnen,  beträgt deren Gesammtlänge . Kilometer. Die Anzahl der Reisenden betrug  in Deutschland, Frankreich und England  ½ Millionen,   Millionen. In Deutschland kamen  auf den Kopf der Bevölkerung ,   Briefe.  beförderte die Post in Frankreich , in England  Millionen Briefe,   und  Millionen. Der gesammte Postverkehr aller Länder untereinander ohne den innern Verkehr jedes einzelnen Landes belief sich  auf  Millionen Briefsendungen,  auf  Millionen. In Deutschland erschienen  ,  . Zeitungen, in Frankreich  und ., in England (.)  und .. Der deutsche Buchhandel brachte  . neue Nummern,  .. Der Aus- und Einfuhr-Handel der Welt hatte  einen Werth von ,  einen solchen von  Milliarden Mark. Die Schiffe, die  in sämmtlichen Häfen Großbritanniens eingelaufen sind, hielten  ½,  dagegen  ½ Millionen Tonnen. Alle britischen Handelsschiffe maßen  ..,  .. Tonnen. Man erwäge nun, wie diese ungeheuren Zahlen entstehen. Die . neuen buchhändlerischen Erscheinungen, die . Zeitungen in Deutschland wollen gelesen sein, obschon viele von ihnen dies allerdings vergebens wollen; die . Millionen Briefe müssen geschrieben werden; der größere Waarenumsatz, die vielen Reisen, der stärkere Schiffsverkehr bedeuten eine entsprechend größere Thätigkeit der einzelnen Menschen. Der letzte Dorfbewohner hat heute einen weitern geographischen Gesichtskreis, zahlreichere und verwickeltere geistige Interessen als vor einem Jahrhundert der erste Minister eines kleinen und selbst mittlern Staates; wenn er blos seine Zeitung, und | wäre es das harmloseste Kreisblättchen, [] liest, nimmt er, zwar nicht thätig eingreifend und entscheidend, aber doch neugierig verfolgend und empfangend, an tausend Ereignissen theil, die sich auf allen Punkten der Erde zutragen, und er kümmert sich gleichzeitig um den Verlauf einer Umwälzung in Chile, eines Buschkrieges in Deutsch-Ostafrika, eines Gemetzels in Nord-China, einer Hungersnoth in Rußland, eines Straßenputsches in Südspanien und einer Weltausstellung in Nordamerika. Eine Köchin empfängt und versendet mehr Briefe als einst ein Hochschulprofessor und ein kleiner Krämer reist mehr, sieht mehr Land und Volk als sonst ein regierender Fürst.

 Um den Apparat der Fußnoten nicht zu schwerfällig zu machen, gebe ich hier an, daß die folgenden Zahlen theils Mittheilungen des Herrn Josef Körösi, theils einer bemerkenswerthen Studie von Charles Richet: „Dans cent ans“, Revue scientifique, Jahrgänge  und , und zum  kleinern Theile Sonder-Veröffentlichungen (wie „Annuaire de la Presse“, „Press-Directory“ u. s. w.) entnommen sind. Für einzelne Ziffern wurden auch Mulhall und Herrn von Stephans Reichstagsrede vom . Februar  herangezogen.

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

Alle diese Thätigkeiten, selbst die einfachsten, sind aber mit einer Anstrengung des Nervensystems, mit einem Verbrauch von Stoff verbunden. Jede Zeile, die wir lesen oder schreiben, jedes Menschengesicht, das wir sehen, jedes Gespräch, das wir führen, jedes Bild, das wir bei einem Blick aus dem Wagenfenster des dahinfliegenden Schnellzugs aufnehmen, versetzt unsere Sinnesnerven und unsere Hirnzentren in Thätigkeit. Ja selbst die gar nicht bewußt wahrgenommenen kleinen Erschütterungen auf der Eisenbahnfahrt, die beständigen Geräusche und wechselnden Anblicke der Großstadt-Straßen, unsere Spannung auf die Fortsetzung der Mittheilungen über begonnene Ereignisse, die beständige Erwartung der Zeitung, des Briefträgers, der Besucher bereitet unserm Gehirn Arbeit. Die Bevölkerung Europas hat sich seit fünfzig Jahren nicht verdoppelt, ihre Leistungen haben sich verzehn-, theilweise verfünfzigfacht. Jeder einzelne gesittete Mensch liefert heute fünf- bis fünfundzwanzigmal so viel Arbeit, wie vor einem halben Jahrhunderte von einem solchen gefordert wurde. Dieser ungeheuer gestiegenen organischen Ausgabe steht kein entsprechendes Steigen der Einnahme gegenüber, kann ihr nicht gegenüberstehen. Die Europäer [] essen heute etwas mehr | und besser als vor  Jahren, aber nicht entfernt in dem Verhältnisse, in welchem sie sich heute mehr anstrengen müssen als damals. Und selbst wenn sie die auserlesensten Nahrungsmittel in größtem Uebermaße hätten, es würde ihnen auch nichts helfen, da sie sie nicht verdauen könnten. Unser Magen kann mit dem Gehirn und Nervensystem nicht Schritt halten. Dieses fordert sehr viel mehr, als jener zu leisten vermag. Es tritt also ein, was stets geschieht, wenn großen Ausgaben kleine Einnahmen gegenüberstehen: zuerst wird das Ersparte aufgebraucht, dann kommt der Zusammenbruch. Die gesittete Menschheit wurde von ihren neuen Erfindungen und Fortschritten überrumpelt. Es blieb ihr keine Zeit, sich ihren geänderten Daseinsbedingungen anzupassen. Wir wissen, daß unsere Organe durch Übung immer größere Leistungsfähigkeit erlangen, sich durch ihre eigene Thätigkeit entwickeln und nahezu jeder Anforderung entsprechen können, die an sie gestellt wird; aber nur unter einer Bedingung: daß dies allmälig geschieht, daß ihnen Zeit gelassen wird; sollen sie ohne Übergang das Vielfache des Gewohnten leisten, so versagen sie rasch vollständig. Unseren Vätern ist keine Zeit gelassen worden. Gleichsam von einem Tag auf den andern, ohne Vorbereitung, mit mörderischer Plötzlichkeit mußten sie den behaglichen Schleichschritt des frühern Daseins mit dem Sturmlauf des modernen Lebens vertauschen und das hielten ihr Herz und ihre Lunge nicht aus. Die Stärksten konnten allerdings mitkommen und sie verlieren jetzt auch in der raschesten Gangart den Athem nicht mehr, die minder Tüchtigen aber fielen bald rechts und links aus und füllen heute die Straßengräben der Fortschrittsbahn. Um unbildlich zu sprechen: die Statistik gibt an, in welchem Maße die Arbeitsleistung der gesitteten Menschheit seit einem halben Jahrhundert gestiegen ist. [] Dieser größern Anstrengung, die sie zu machen hatte, war sie nicht ganz ge-|wachsen. Sie hat sie ermüdet und erschöpft und diese Erschöpfung und Ermüdung

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Aetiologie.

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 kommt beim ersten Geschlecht als erworbene, beim zweiten als erbliche Massen-

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Hysterie zur Erscheinung. Die neuen ästhetischen Schulen und ihr Erfolg sind eine Form dieser MassenHysterie. Sie sind aber nicht entfernt ihre einzige. Die Zeitkrankheit gibt sich noch in vielen anderen Erscheinungen kund, die gemessen und gezählt werden können, also einer wirklich wissenschaftlichen Feststellung zugänglich sind. Und diese sicheren, unzweideutigen Erschöpfungs-Anzeichen sind wohl geeignet, die Unkundigen aufzuklären, welchen es im ersten Augenblicke willkürlich scheinen würde, wenn der Sachkenner auch Moderichtungen in Kunst und Schriftthum auf Ermüdungszustände der gesitteten Menschheit zurückführt. Es ist geradezu Gemeinplatz geworden, von der beständigen Zunahme der Verbrechen, des Wahnsinns und der Selbstmorde zu sprechen.  kamen in Preußen auf . strafmündige Personen  Verurtheilte,  .. (Briefliche Mittheilung des k. preußischen statistischen Bureaus.)  kamen auf . Europäer  Selbstmorde,   und seitdem hat ihre Zahl noch bedeutend zugenommen. Man hat in den letzten zwanzig Jahren eine Anzahl neuer Nervenkrankheiten entdeckt und benannt. Man glaube nicht etwa, daß sie immer vorhanden waren und nur übersehen worden sind. Wären sie irgendwo aufgetreten, so hätte man sie auch zu erkennen gewußt, denn wenn auch die Theorien, die zu verschiedenen Zeiten in der Heilkunde herrschten, irrig waren, so hat es doch immer klar blickende, aufmerksame Ärzte gegeben, die zu beobachten gewußt haben. Wenn man also die neuen Nervenkrankheiten nicht bemerkte, so ist dies eben, weil sie früher nicht vorkamen. Und sie sind | ausschließlich eine Folge der heutigen Lebensbedingun- [] gen der gesitteten Menschheit. Manche Erkrankungen des Nervensystems werden schon in ihrer Benennung als unmittelbare Folge bestimmter Kultur-Einwirkungen bezeichnet. Der Name „Eisenbahn-Rückenmark“ und „Eisenbahn-Gehirn“, „railway-spine“ und „railway-brain“, den die englischen und amerikanischen Pathologen gewissen Zuständen dieser Organe gegeben, zeigt, daß sie als ihre Ursache die Erschütterungen erkennen, die der Reisende im Eisenbahnzuge beständig erleidet. Die starke Zunahme des Verbrauchs an Betäubungs- und Reizmitteln, welche oben durch Anführung von Zahlen bewiesen worden ist, hat ihre Ursache unzweifelhaft ebenfalls in der Erschöpfung der Zeitgenossen. Es besteht da ein unheilvoller fehlerhafter Kreis von Wechselwirkungen. Der Trinker (und wahrscheinlich auch der Raucher) erzeugt geschwächte, erblich ermüdete oder entartete Nachkommen und diese trinken und rauchen wieder, weil sie ermüdet sind, sich nach einer Erregung, nach einem Augenblick künstlichen Kraftgefühls oder nach einer Beruhigung ihrer schmerzhaften Reizbarkeit sehnen und dann aus Willensschwäche ihrer Gewohnheit nicht widerstehen können, wenn sie erkannt haben, daß diese sowohl ihre Erschöpfung als auch ihre Reizbarkeit auf die Dauer vermehrt.

 Siehe G. André, Les nouvelles maladies nerveuses. Paris, .   Legrain, a. a. O. S. : „Die Trinker sind Degenerirte.“ Und S.  (nach vier Krankengeschichten, welche der folgenden zusammenfassenden Bemerkung zur Grundlage dienen): „So finden wir also am Boden jeder Form des Alkoholismus die geistige Degeneration.“

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

Viele Beobachter stellen fest, daß das gegenwärtige Geschlecht weit früher altert als die voraufgegangenen. In seinem Vortrag zur Eröffnung des Winterhalbjahrs  an der medizinischen Fakultät der Victoria-Universität zeigt Sir James Crichton-Browne diese Wirkung der heutigen Lebensverhältnisse auf die Zeitge[] nossen. In England starben an | Herzkrankheiten  bis  . Personen, dagegen  bis  .. An Nervenkrankheiten starben in der Zeit von  bis  . Personen, von  bis  aber .. Der Unterschied der Zahlen wäre noch viel auffallender, wenn Sir James einen weiter zurückliegenden Zeitabschnitt zum Vergleich mit der Gegenwart gewählt hätte, denn um  war der Hochdruck, unter welchem die Engländer arbeiteten, fast schon so groß wie . Die Todten, welche die Herz- und die Nervenkrankheiten hingerafft haben, sind die Opfer der Gesittung. Herz und Nervensystem brechen zuerst unter der Ueberanstrengung zusammen. Weiterhin sagt Sir James in seinem Vortrage: „Männer und Frauen altern vor der Zeit. Die Greisenhaftigkeit greift auf die Zeit der kräftigen Mannheit über … Die Todesfälle, die ausschließlich dem Alter zuzuschreiben sind, treten jetzt zwischen  und  Jahren auf … Mr. Critchett“ (ein hervorragender Augenarzt) „sagt: Meine eigene Erfahrung, die sich jetzt über ein Vierteljahrhundert erstreckt, veranlaßt mich zu glauben, daß Männer und Frauen gegenwärtig in früherem Alter zur Brille greifen, als ihre Vorfahren es nöthig hatten. Früher nahm man mit fünfzig Jahren seine Zuflucht zur Brille. Jetzt geschieht dies durchschnittlich zu  Jahren.“ Die Zahnärzte stellen früheres Morschwerden und Ausfallen der Zähne, Dr. Lieving ein früheres Kahlwerden fest und letzterer fügt hinzu, daß man Haarschwund besonders „bei nervösen, geistesthätigen Menschen von schwacher allgemeiner Gesundheit“ beobachtet. Jeder, der sich in seinem eigenen Bekanntenkreise umsieht, wird bemerken, daß man sehr viel früher zu ergrauen anfängt als in älteren Zeiten. Die meisten Menschen entdecken heute ihre ersten weißen Haare am Anfange der dreißiger Jahre, viele noch in sehr viel jüngerem Alter. Sonst war das weiße Haar der Begleiter des fünfzigsten Lebensjahres. | [] Alle die aufgeführten Anzeichen sind Folgen von Ermüdungs- und Erschöpfungs-Zuständen und diese wieder sind die Wirkung der zeitgenössischen Gesittung, des Schwindels und Wirbels unseres rasenden Lebens, der ungeheuer gestiegenen Anzahl von Sinneseindrücken und organischen Gegenwirkungen, also Wahrnehmungen, Urtheilen und Bewegungsantrieben, die sich heute in eine gegebene Zeiteinheit zusammendrängen. Zu dieser allgemeinen Ursache der Krankheitserscheinungen der Gegenwart tritt in Frankreich noch eine besondere. Durch die furchtbaren Blutverluste, welche der französische Volkskörper in den zwanzig Jahren der napoleonischen Kriege erlitten hatte, durch die heftigen seelischen Erschütterungen, denen er in der großen Umwälzung und während der Dauer des kaiserlichen Heldengedichts unterworfen worden war, fand er sich für den

 Revue Scientifique, Jahrgang , Band , S.  ff.

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Aetiologie.

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Ansturm der großen Erfindungen des Jahrhunderts außergewöhnlich schlecht vor bereitet und wurde von diesen ärger zerrüttet als die anderen, robusteren und

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widerstandskräftigeren Völker. Ueber dieses nervös angegriffene und zu krankhaften Störungen vorbestimmte Volk brach dann das grauenhafte Gericht von  herein. Es hatte sich mit einem fast bis zum Größenwahne gesteigerten Selbstbewußtsein das erste der Welt geglaubt, es sah sich plötzlich gedemüthigt und zerschmettert. Alle seine Ueberzeugungen brachen jäh zusammen. Jeder einzelne Franzose erlitt Einbuße an seinem Vermögen, verlor Angehörige und fühlte sich persönlich seiner theuersten Vorstellungen, ja seiner Ehre beraubt. Das ganze Volk gerieth in den Zustand eines Menschen, den plötzlich ein vernichtender Schicksalsschlag an seinem Gute, seiner Stellung, seiner Familie, seinem Ansehen, seiner Selbstachtung heimsucht. Tausende wurden wahnsinnig. Man beobachtete in Paris sogar eine wahre Epidemie von Geisteskrankheiten, für die man den eigenen Namen „Belagerungs-Wahnsinn“, folie obsidionale, fand. Und auch diejenigen, die nicht geradezu der Zerstörung des | Geistes anheimfielen, trugen dauernden Scha- [] den an der Gesundheit ihres Nervensystems davon. Das erklärt es, daß die Hysterie und Neurasthenie in Frankreich so viel häufiger und in so viel mannigfaltigeren Formen auftritt und daß man sie in diesem Lande so viel genauer studiren konnte als überall anders. Es erklärt aber auch, daß die delirirendsten Moderichtungen in Kunst und Schriftthum gerade in Frankreich aufkommen mußten und daß man sich gerade da der krankhaften Erschöpfung zuerst mit genügender Deutlichkeit bewußt wurde, um für sie ein besonderes Wort zu suchen und die Bezeichnung „fin-de-siècle“ zu erfinden. Die Behauptung, die hier zum Beweise gestellt wurde, ist nun wohl als erwiesen anzusehen. In der gesitteten Welt herrscht unverkennbar eine Dämmerstimmung, welche sich unter Anderm auch in allerlei seltsamen ästhetischen Moden ausdrückt. Alle diese neuen Richtungen, der Realismus oder Naturalismus, der Decadentismus, der Neomysticismus und ihre Unterformen, sind Kundgebungen der Entartung und Hysterie und mit deren klinisch beobachteten und unzweifelhaft festgestellten geistigen Stigmaten identisch. Entartung und Hysterie sind aber die Folge übermäßiger organischer Abnützung, welche die Völker durch die riesenhaft gesteigerten Ansprüche an ihre Thätigkeit und durch das starke Anwachsen der Großstädte erlitten haben. Geleitet von dieser festgefügten Kette der Ursachen und Wirkungen wird Jeder, der folgerichtigem Denken zugänglich ist, zur Einsicht gelangen, daß er einen schweren Irrthum begeht, wenn er in den seit einigen Jahren entstandenen ästhetischen Schulen Herolde einer neuen Zeit sieht. Sie weisen nicht in die Zukunft hinüber, sondern deuten rückwärts in die Vergangenheit. Ihr Wort ist keine verzückte Weissagung, sondern das unsinnige Stammeln und Schwatzen von geistig Gestörten und was von den Unkundigen für einen Ausbruch übersprudelnder Jugendkraft und tobenden Gestaltungsdranges | gehalten wird, das sind thatsäch- [] lich die Zuckungen und Krämpfe der Erschöpfung.

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Erstes Buch. Fin de Siècle.

Man darf sich durch gewisse Schlagworte nicht täuschen lassen, die in den Werken dieser angeblichen Neuerer häufig ausgesprochen werden. Sie reden von Sozialismus, von Geistesbefreiung u. s. w. und erwecken dadurch den Anschein, daß sie mit den Gedanken und Bestrebungen der Zeit durchtränkt sind. Das ist aber eitel Schein. Die Mode-Schlagworte sind ohne innern Zusammenhang in das Werk gestreut, die Zeitbestrebungen sind ihm äußerlich aufgepinselt. Es ist eine Erscheinung, die in jedem Delirium beobachtet wird, daß es seine besondere Färbung von dem Bildungsgrade des Kranken und von den herrschenden Anschauungen der Zeit, in der er lebt, erhalten. Im Größenwahn hält sich der Katholik für den Papst und der Jude für den Messias, der Deutsche für den Kaiser oder einen Feldmarschall, der Franzose für den Präsidenten der Republik. Im Verfolgungswahn klagte der Kranke früher über die Bosheit und Tücken der Zauberer und Hexen, heute beschwert er sich darüber, daß die eingebildeten Feinde ihm elektrische Ströme in die Nerven senden und ihn mit Magnetismus quälen. Die Degenerirten faseln heute von Sozialismus und Darwinismus, weil ihnen diese Worte, im besten Falle auch die mit ihnen verbundenen Vorstellungen, geläufig sind. Eine Förderung erfährt die Entwickelung der Gesellschaft zu gerechteren wirthschaftlichen Formen und zu vernünftigeren Anschauungen vom Zusammenhange der Welterscheinung durch sogenannte sozialistische oder freidenkerische Werke von Degenerirten ebensowenig, wie etwa durch die Klagen und Schilderungen eines am Verfolgungswahn Leidenden, der für seine unangenehmen Empfindungen die Elektrizität verantwortlich macht, die Kenntniß von dieser Naturkraft gefördert wird. Jene unklaren oder seicht schwatzhaften Werke, welche den Anspruch erhe[] ben, Lösungen der ernsten Fragen unserer Zeit | darzubieten oder mindestens vorzubereiten, hindern sogar und halten auf, weil sie schwache oder ungeschulte Köpfe verwirren, ihnen falsche Anschauungen suggeriren und sie vernünftigen Belehrungen schwerer zugänglich machen oder ganz verschließen. Der Leser ist nun auf die Aussichtspunkte gestellt, von denen er die neuen ästhetischen Richtungen in ihrer wahren Beleuchtung und Gestalt sieht. Aufgabe der folgenden Bücher wird es sein, bei jeder einzelnen die Krankhaftigkeit nachzuweisen und zu untersuchen, mit welcher besondern Gattung von Entartungs-Delirien oder hysterischen Denkvorgängen sie verwandt oder identisch sind. | []

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Zweites Buch. Der Mysticismus.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Psychologie des Mysticismus.

I. Psychologie des Mysticismus.



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Wir haben den Mysticismus (S. ) bereits als ein Hauptmerkmal der Entartung kennen gelernt. Er tritt in deren Gefolge so allgemein auf, daß es kaum eine Krankengeschichte von Degenerirten gibt, in der er nicht verzeichnet wäre. Gewährsmänner hierfür anzuführen ist ungefähr ebenso unnöthig wie etwa dafür, daß beim Typhus eine Erhöhung der Körperwärme beobachtet wird. Es sei daher auch nur eine Äußerung von Legrain wiedergegeben, welcher sagt: „Die mystischen Gedanken kommen auf die Rechnung des Wahnsinns der Entarteten. Es gibt zwei Verfassungen, in denen sie beobachtet werden: im epileptischen und im hysterischen Delirium.“ Wenn Federoff, der das religiöse Delirium und die Extase unter den Begleiterscheinungen des hysterischen Anfalls erwähnt, sie der Frau als Besonderheit zuschreibt, so begeht er einen Irrthum, denn sie sind beim männlichen Hysteriker und Degenerirten mindestens ebenso häufig wie bei den weiblichen Kranken. Was ist unter diesem etwas unbestimmten Ausdrucke „Mysticismus“ eigentlich zu verstehen? Das Wort bezeichnet einen Geisteszustand, in welchem man unbekannte und unerklärliche Beziehungen zwischen den Erscheinungen wahrzunehmen oder zu ahnen glaubt, in den Dingen einen Hinweis auf Geheimnisse erkennt und sie als Sinnbilder betrachtet, durch welche eine | dunkle Gewalt allerlei Wun- [] derbares zu enthüllen oder doch anzudeuten sucht, das man sich, meist vergebens, zu errathen bemüht. Dieser Geisteszustand ist stets mit starken Gemütserregungen verbunden, die das Bewußtsein als eine Folge seiner Ahnungen auffaßt, obgleich umgekehrt jene Emotionen das Vorbestehende, die Ahnungen aber von ihnen veranlaßt sind und auch ihre besondere Richtung und Farbe von ihnen erhalten. Dem Mystiker stellen sich alle Erscheinungen der Welt und des Lebens anders dar wie dem gesunden Menschen. Das einfachste Wort, das vor ihm ausgesprochen wird, scheint ihm eine Anspielung auf etwas Verborgenes; in den gewöhnlichsten und natürlichsten Bewegungen sieht er versteckte Winke; alle Dinge haben für ihn tiefe Hintergründe; sie werfen weitreichende Schatten in Nachbargebiete hinüber; sie senden ausgedehnte Wurzeln in entlegene Unterschichten. Jedes Bild, das in seinem Geist auftaucht, weist geheimnißvoll verschwiegen, doch mit vielsagendem Blick und Finger auf andere, deutliche oder schattenhafte Bilder hin und veranlaßt ihn, Vorstellungen zu verknüpfen, zwischen denen Andere keinerlei Zusammenhang erkennen. In Folge dieser Eigenthümlichkeit seines Denkens lebt der Mystiker wie von unheimlichen Masken umgeben, hinter deren Larven räthselhafte Augen hervorblicken und die er mit beständigem Grauen betrachtet, da er nie sicher ist, die Gestalten zu erkennen, die sich unter der Verkleidung um ihn drängen. „Die Dinge sind nicht, was sie scheinen“, ist die bezeichnende Aeußerung, die man vom Mystiker häufig zu hören bekommt. In der Krankengeschichte eines Degenerir-

 Legrain, a. a. O. S. .   Angeführt von J. Roubinovitch, Hystérie mâle et dégénérescence, S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

ten der Magnan’schen Klinik heißt es: „Ein Kind verlangt von ihm an einem öffentlichen Brunnen zu trinken. Er findet das nicht natürlich. Dieses Kind folgt ihm. [] Das setzt ihn in Erstaunen. Ein andermal sieht er eine Frau auf einem | Prellstein sitzen. Er fragt sich, was das wohl zu bedeuten haben mag.“ In äußersten Fällen steigert sich diese krankhafte Anschauungsweise bis zur Halluzination, die sich in der Regel an das Gehör wendet, aber auch das Gesicht und die anderen Sinne betreffen kann. Dann beschränkt sich der Mystiker nicht darauf, in und hinter den Erscheinungen Geheimnißvolles blos zu vermuthen oder zu errathen, sondern er hört und sieht leibhaftig Dinge, die für die gesunden Menschen nicht vorhanden sind. Die irrenärztliche Beobachtung läßt es sich an der Schilderung dieses Geisteszustandes und an der Feststellung seines Vorkommens bei Degenerirten und Hysterikern genügen. Damit ist es aber nicht gethan. Wir wollen auch wissen, in welcher Weise das entartete oder erschöpfte Gehirn dem Mysticismus verfällt. Um den Vorgang zu verstehen, müssen wir auf einige einfache Thatsachen des Seelenlebens zurückgreifen. Das bewußte Denken ist eine Thätigkeit der grauen Hirnrinde, eines Gewebes, das aus zahllosen Nervenzellen besteht, welche durch Nervenfasern mit einander verbunden sind. Zu diesem Gewebe führen die Nerven der Körperoberfläche und der inneren Organe. Wird einer dieser Nerven gereizt (der Sehnerv durch einen Lichtstrahl, ein Hautnerv durch eine Berührung, ein Organ-Nerv durch einen innern chemischen Vorgang u. s. w.) so leitet er seinen Reiz bis zu der Nervenzelle in der Hirnrinde fort, in die er mündet. Diese Zelle erleidet dadurch chemische Veränderungen, welche im gesunden Zustande des Organismus in einem geraden Verhältnisse zur Stärke des Reizes stehen. Die unmittelbar von dem Reiz des Zulei[] tungsnerven getroffene Nervenzelle gibt ihrerseits | den empfangenen Reiz an alle Nachbarzellen weiter, mit denen sie durch Faserzüge verknüpft ist, der Vorgang breitet sich nach allen Seiten aus wie eine Kreiswelle, welche ein in Wasser geworfener Gegenstand erregt, und er verläuft allmälig, ganz wie diese Welle: rascher oder langsamer, in größerer oder kleinerer Ausdehnung, je nachdem der ihn veranlassende Reiz stärker oder schwächer gewesen ist. Jeder Reiz, der eine Stelle der Hirnrinde trifft, hat ein Zuströmen von Blut zu dieser Stelle zur Folge, wodurch ihr Nährstoffe zugeführt werden. Die Hirnzelle zersetzt diese Stoffe und wandelt die in ihnen aufgespeicherte Kraft in andere

 Legrain, a. a. O. S. .  Der Psychologe von Fach wird die ihm so geläufigen Ausführungen vielleicht mit einiger Ungeduld lesen. Sie sind aber für die leider sehr zahlreichen, selbst höher gebildeten Leser nicht überflüssig, die sich niemals über die Gesetze der Hirnthätigkeit unterrichtet haben.  Mossos Versuche und Beobachtungen an der durch Trepanation blosgelegten Hirnoberfläche haben diese Thatsache festgestellt.

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Formen der Kraft um: nämlich in Vorstellungen und in Bewegungs-Anregungen. Wie aus der Zersetzung von Stoffen eine Vorstellung wird, wie ein chemischer Vorgang sich in Bewußtsein umgestaltet, das weiß Niemand. Aber die Thatsache, daß mit dem Stoffzersetzungs-Vorgang in den gereizten Hirnzellen bewußte Vorstellungen verknüpft sind, ist nicht zweifelhaft. Zu den Grundeigenschaften der Nervenzelle gehört neben der Fähigkeit, auf einen Reiz mit einer chemischen Thätigkeit | zu antworten, auch die, ein Bild der [] Stärke und Beschaffenheit dieses Reizes zu bewahren. Um es volksthümlich auszudrücken: die Zelle ist im Stande, sich ihrer Eindrücke zu erinnern. Wenn nun ein neuer, wenn auch schwacher, Reiz sie trifft, so weckt er in ihr das Bild ähnlicher Reize, die sie früher getroffen haben, und dieses Erinnerungsbild verstärkt den neuen Reiz und macht ihn deutlicher, dem Bewußtsein verständlicher. Könnte die Zelle sich nicht erinnern, so wäre das Bewußtsein ewig unvermögend, ihre Eindrücke zu deuten, und könnte niemals eine Vorstellung von der Außenwelt erlangen. Die einzelnen unmittelbaren Reize würden zwar wahrgenommen werden, aber sie würden ohne Zusammenhang und Sinn bleiben, da sie zu dürftig sind, um für sich allein, ohne die Mitwirkung früherer Eindrücke, zur Erkenntniß zu führen. Die erste Bedingung einer normalen Hirnthätigkeit ist also das Gedächtniß. Der Reiz, der eine Hirnzelle trifft, gibt, wie wir gesehen haben, zu einer Ausbreitung dieses Reizes auf die Nachbarzellen, zu einer nach allen Richtungen verlaufenden Reizwelle Anlaß. Und da jeder Reiz mit dem Entstehen bewußter Vorstellungen verbunden ist, so bedeutet das, daß jeder Reiz eine große Anzahl von Vorstellungen ins Bewußtsein ruft, und zwar nicht nur solche Vorstellungen, welche sich auf die unmittelbare äußere Ursache der wahrgenommenen Reizung beziehen, sondern auch solche, die nur dadurch geweckt worden sind, daß die sie ausarbeitenden Zellen zufällig in der Nachbarschaft der Zelle oder Zellengruppe liegen, die von dem äußern Reize unmittelbar getroffen worden ist. Die Reizwelle ist, wie jede andere Wellenbewegung, am stärksten an ihrem Ursprung, sie schwillt in dem Maße ab, in welchem ihr Kreis sich erweitert, bis sie zuletzt ins Unwahrnehmbare ausläuft. Dem entspricht es, daß die Vorstellungen, deren Träger die unmittelbaren Nachbarn der vom Reiz zuerst getroffenen Zellen sind, am lebhaftesten auftreten, daß die in den entfernteren Zellen | entstehenden eine etwas gerin- []

 Die Versuche Ferriers haben ihn zwar dazu geführt, zu leugnen, daß ein Reiz, der die Hirnrinde der Stirnlappen trifft, auch Bewegungen zur Folge haben könne. Der Fall liegt indessen  nicht so einfach, wie Ferrier ihn sieht. Ein Theil der Energie, welche der peripherische Reiz in der Zelle der Stirnlappen-Rinde frei macht, wandelt sich gewiß in Bewegungsimpulse um, wenn die unmittelbare Reizung des Vorderhirns auch keine Muskelzuckungen auslöst. Doch ist hier nicht der Ort, diesen Punkt gegen Ferrier zu vertheidigen.  Die Hypothese, daß die Zersetzung der organischen Verbindungen in den Hirnzellen mit  Bewußtsein, der Wiederaufbau dieser Verbindungen mit Ruhe, Schlaf und Bewußtlosigkeit verbunden ist, rührt von A. Herzen her. Alles, was wir von der chemischen Beschaffenheit der Ausscheidungen im Schlaf und Wachen wissen, beweist die Richtigkeit dieser Hypothese.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

gere Deutlichkeit haben und daß diese immer mehr abnimmt, bis das Bewußtsein sie endlich überhaupt nicht mehr wahrnehmen kann, bis sie, wie die Wissenschaft sich ausdrückt, unter die Bewußtseins-Schwelle sinken. Ein jeder Reiz weckt also nicht nur in der Zelle, zu welcher er unmittelbar geleitet wird, sondern auch in zahllosen anderen ihr benachbarten und mit ihr verknüpften die Thätigkeit, welche mit Vorstellung verbunden ist. So entstehen gleichzeitig oder richtiger in unmeßbar kurzem Zeitabstand hintereinander Tausende Vorstellungen von regelmäßig abnehmender Deutlichkeit und da unausgesetzt Tausende von äußeren und inneren organischen Reizen das Gehirn treffen, so laufen fortwährend Tausende von Reizwellen im Gehirn übereinander hin, einander in der mannigfaltigsten Weise kreuzend und überschneidend und in ihrem Ablauf Millionen auftauchender, verdämmernder und verschwindender Vorstellungen erweckend. Das ist es, was Goethe meint, wenn er in so prächtigen Worten schildert, wie

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„… ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.“

Die Fähigkeit der Erinnerung kommt nun nicht blos der Nerven-Zelle, sondern auch der Nervenfaser zu, die nur eine Abänderung jener ist. Sie hat Gedächtniß für den Reiz, den sie geleitet, wie die Zelle für den, den sie in Vorstellung und Bewegung umgearbeitet hat. Sie wird von einem Reize, den sie schon einmal geleitet hat, leichter durchlaufen als von einem solchen, den sie zum erstenmal aus einer Zelle in die andere weitertragen soll. Jeder Reiz, der eine Zelle trifft, wird sich in der Richtung des geringsten Widerstandes ausbreiten und diesen setzen ihm die Nervenbahnen entgegen, die er bereits früher durchlaufen hat. So bildet sich für den [] Verlauf einer Reizwelle ein bestimmter Weg, eine Marsch-Gewohnheit heraus. | es sind immer dieselben Nervenzellen, welche einander gegenseitig ihre Reize zusenden, eine Vorstellung weckt immer dieselben Gefolgs-Vorstellungen und erscheint immer von ihnen begleitet im Bewußtsein. Dieser Vorgang heißt Ideen-Assoziation. Es ist nicht Willkür noch Zufall, die bestimmen, welchen anderen Zellen eine erregte Zelle ihren Reiz gewohnheitsmäßig weitersendet, welche Begleitvorstellungen eine erweckte Vorstellung nach sich ins Bewußtsein zieht. Die Verknüpfung der Vorstellungen steht vielmehr unter Gesetzen, die namentlich von Wundt gut zusammengefaßt worden find. Wer nicht gerade wie die unglückliche Laura Bridgman, die von allen Psychologen angeführt wird, blind und taub geboren ist, der wird niemals von einem äußern Reiz allein, sondern stets von vielen zugleich erregt. Jede einzelne Erscheinung der Außenwelt hat in der Regel nicht blos eine Eigenschaft, sondern deren mehrere, und da das, was wir Eigenschaft nennen, die vorausgesetzte Ursache einer bestimmten Sinneserregung ist, so heißt das, daß die Erscheinungen sich gewöhnlich an mehrere Sinne zugleich wenden, daß sie gleichzeitig gesehen, gehört, gefühlt, und zwar gleichzeitig in verschiedener Lichtstärke und Färbung

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 gesehen, in verschiedener Klangfärbung gehört werden u. s. w. Die wenigen

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Erscheinungen, die blos eine Eigenschaft haben, also blos einen Sinn erregen, z. B. der Donner, der, wenn auch in vielen Abstufungen, blos gehört wird, treten doch in Verbindung mit anderen Erscheinungen auf, etwa, um beim Donner zu bleiben, zusammen mit bewölktem Himmel, mit Blitz, mit Regen. Unser Gehirn ist also gewohnt, von jeder Erscheinung zugleich mehrere Reize zu empfangen, die theils von den verschiedenen Eigenschaften der Erscheinung selbst, theils von den gewöhnlich mit ihr gleichzeitig auftretenden Erscheinungen herrühren. Es genügt nun, daß ein einziger dieser Reize das | Gehirn trifft, um in ihm kraft der gewohn- [] heitsmäßigen Gesellung der Erinnerungsbilder auch die übrigen Reize derselben Gruppe wachzurufen. Gleichzeitigkeit der Eindrücke ist also eine Ursache von Ideen-Assoziation. Eine und dieselbe Eigenschaft kommt vielen Erscheinungen zu. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die blau, die rund, die glatt sind. Der gemeinsame Besitz einer Eigenschaft bedingt Aehnlichkeit, die um so größer ist, je zahlreicher die gemeinsamen Eigenschaften sind. Jede einzelne Eigenschaft gehört aber zu einer gewohnheitsmäßig gesellten Gruppe von Eigenschaften und kann durch den Mechanismus der Gleichzeitigkeit das Erinnerungsbild dieser Gruppe wachrufen. Infolge der Aehnlichkeit werden also die Erinnerungsbilder aller Gruppen wachgerufen werden können, denen die ihre Aehnlichkeit bedingende Eigenschaft gemeinsam ist. Blaue Farbe ist z. B. eine Eigenschaft, die zugleich dem heitern Himmel, der Kornblume, dem Meere, gewissen Augen, manchen militärischen Uniformen zukommt. Die Wahrnehmung von Blau wird die Erinnerung an manche oder viele blaue Dinge erwecken, die nicht anders als durch diese ihnen gemeinsame Farbe zusammenhängen. Aehnlichkeit ist also eine zweite Ursache der IdeenAssoziation. Es ist eine Eigenthümlichkeit der Hirnzelle, daß sie immer mit einer Vorstellung zugleich deren Gegentheil ausarbeitet. Wahrscheinlich ist das, was wir als Gegentheil wahrnehmen, in seiner ursprünglichsten und einfachsten Form überhaupt blos das Bewußtwerden des Aufhörens einer bestimmten Vorstellung. Wie Ermüdung der Sehnerven durch eine Farbe die Empfindung der KomplementärFarbe erweckt, so erscheint bei der Erschöpfung einer Hirnzelle durch die Ausarbeitung einer Vorstellung die entgegengesetzte Vorstellung im Bewußtsein. Diese Deutung sei nun richtig oder nicht, die Thatsache selbst ist durch den von C. Abel gefundenen „Gegensinn | der Urworte“ sichergestellt. Die Gegensätzlichkeit ist die [] dritte Ursache von Ideen-Assoziationen. Viele Erscheinungen treten in demselben Raume neben oder nach einander auf und wir gesellen die Vorstellung des gegebenen Raumes mit derjenigen der Gegenstände, denen er zum Rahmen zu dienen pflegt. Gleichzeitigkeit, Aehnlichkeit, Gegensätzlichkeit und Auftreten in demselben Raume sind also nach Wundt

  Carl Abel, Ueber den Gegensinn der Urworte. Leipzig, .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

die vier Bedingungen, unter welchen die Erscheinungen in unserm Bewußtsein durch Ideen-Assoziation verknüpft werden. Ihnen glaubte James Sully noch eine fünfte hinzufügen zu sollen: das gemeinsame Wurzeln von Vorstellungen in derselben Emotion. Doch läßt sich in allen von dem ausgezeichneten englischen Psychologen angeführten Beispielen ungezwungen das Walten eines oder mehrerer der Wundt’schen Gesetze nachweisen. Damit ein Organismus sich erhalten könne, muß er im Stande sein, sich die Naturkräfte nutzbar zu machen und sich vor den Schädlichkeiten jeder Art zu bewahren. Dies kann er nur, wenn er Kenntniß von diesen Schädlichkeiten und von den zu benutzenden Naturkräften hat, und er kann es um so besser und sicherer, je vollständiger diese Kenntniß ist. Im höher differenzirten Organismus fällt dem Gehirn und Nervensystem die Aufgabe zu, die Kenntniß von der Außenwelt zu erwerben und zum Vortheile des Organismus zu verwerthen. Ermöglicht wird dem Gehirn die Erfüllung seiner Aufgabe durch das Gedächtniß und der Mechanismus, durch welchen das Gedächtniß dem Zwecke der Erkenntniß dienstbar gemacht wird, ist die Ideen-Assoziation. Denn es leuchtet ein, daß ein Gehirn, in dem eine einzige Wahrnehmung durch die Wirkung der Ideenassoziation eine ganze Reihe von zusammenhängenden Vorstellungen erweckt, sehr viel rascher [] erkennen, begreifen und urtheilen wird als ein solches, in welchem | keine IdeenAssoziation walten, das also nur solche Begriffe bilden würde, deren Inhalt die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und die Vorstellungen wären, welche in den Zellen entstehen, die durch den Zufall der Nachbarschaft in den Kreis einer Reizwelle zu liegen kommen. Dem Gehirn, das mit Ideen-Assoziation arbeitet, genügt die Wahrnehmung eines Lichtstrahls, eines Tones, um im Augenblicke die Vorstellung des Gegenstandes, von dem diese Sinneserregung ausgeht, und seiner Beziehungen in Zeit und Raum zu bilden, diese Vorstellungen zu Begriffen zu verknüpfen und aus den Begriffen ein Urtheil zu erlangen. Dem Gehirn ohne Ideenassoziation würde jene Wahrnehmung eben nur die Vorstellung geben, daß es etwas Helles oder Tönendes vor sich habe, daneben würden Vorstellungen erwachen, die mit dem Hellen und Tönenden nichts gemein haben, es würde sich von dem Erreger des Sinnes gar kein Bild machen können, sondern erst noch eine Reihe weiterer Eindrücke mehrerer oder aller Sinne erlangen müssen, um die verschiedenen Eigenschaften des Gegenstandes, von dem zuerst blos ein Ton oder eine Farbe wahrgenommen wurde, kennen zu lernen und sie zu einer einzigen Vorstellung zu verknüpfen. Auch dann würde das Gehirn erst wissen, wie der Gegenstand beschaffen ist, also was es vor sich hat, nicht aber, wie er sich zu anderen Dingen verhält, wo und wann er bereits wahrgenommen wurde, von welchen Erscheinungen er begleitet war u. s. w. Die so erlangte Kenntniß des Gegenstandes wäre also zur Bildung eines richtigen Urtheils noch gänzlich ungeeignet. Man sieht nun, welchen großen Vortheil die Ideen-Assoziation dem Organismus

 James Sully, Illusions. London, 

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im Kampf ums Dasein gewährte und welchen ungeheuern Fortschritt in der Entwickelung des Gehirns und seiner Thätigkeit ihre Erlangung bedeutete. Dies ist aber nur mit einer Einschränkung wahr. Die Ideen-Assoziation an sich erleichtert dem Gehirn seine Aufgabe | des Erkennens und Urtheilens nicht mehr [] als das tumultuose Auftauchen von Erinnerungsbildern in der Nachbarschaft des Reizzentrums. Die Vorstellungen, welche die Ideen-Assoziation ins Bewußtsein ruft, stehen zwar mit der Erscheinung, welche einen Reiz ins Gehirn gesendet hat und von diesem wahrgenommen worden ist, in einem etwas nähern Zusammenhange als die im geometrischen Kreise der Reizwelle auftauchenden, aber selbst dieser Zusammenhang ist so lose, daß er zur Deutung der Erscheinung keine nützliche Mitwirkung bietet. Wir dürfen nicht vergessen, daß eigentlich alle unsere Wahrnehmungen, Vorstellungen und Begriffe durch Ideen-Assoziation näher oder ferner zusammenhängen. Wie bei dem oben angeführten Beispiel die Wahrnehmung von Blau die Vorstellungen vom Himmel, vom Meer, von einem blauen Auge, einer Uniform u. s. w. erweckt, so wird jede dieser Vorstellungen wieder die nach dem Wundt’schen Gesetz ihnen assoziirten Ideen erwecken, der Himmel die Vorstellung von Sternen, Wolken, Regen, das Meer die von Schiffen, Reisen, fremden Ländern, Fischen, Perlen u. s. w., das blaue Auge die eines Mädchenantlitzes, der Liebe und aller ihrer Emotionen, kurz diese eine Wahrnehmung kann durch den Mechanismus der Ideen-Assoziation ungefähr alle Vorstellungen erwecken, die wir überhaupt jemals gebildet haben, und der blaue Gegenstand, den wir thatsächlich vor Augen haben und wahrnehmen, wird durch diesen Tumult von Vorstellungen, die sich nicht unmittelbar auf ihn beziehen, weder verdeutlicht noch erklärt. Damit also die Ideen-Assoziation ihre Funktion in der Hirnthätigkeit erfülle und sich als nützliche Erwerbung des Organismus bewähre, muß eines hinzutreten: die Aufmerksamkeit. Sie ist es, die Ordnung ins Chaos der durch die IdeenAssoziation wachgerufenen Vorstellungen bringt und sie der Erkenntniß und dem Urtheil nutzbar macht. | Was ist Aufmerksamkeit? Th. Ribot umschreibt diesen Begriff als „eine frei- [] willige oder künstliche Anpassung des Individuums an einen vorherrschenden Gedanken.“ (Ich übersetze diese Definition frei, weil die von Ribot gebrauchten Ausdrücke für den Laien zu lange Erklärungen nöthig machen würden.) Mit anderen Worten: Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit des Gehirns, von den Erinnerungsbildern, welche durch Ideen-Assoziation oder Reizwelle bei jeder Erregung einer Hirnzelle oder Zellengruppe ins Bewußtsein treten, einen Theil zu unterdrücken und nur einen andern Theil bestehen zu lassen, nämlich blos diejenigen Erinnerungsbilder, welche sich auf den Erreger des Reizes, auf den eben wahrgenommenen Gegenstand beziehen. Wer trifft diese Auswahl unter den Erinnerungsbildern? Der Reiz selbst, der die Hirnzellen in Thätigkeit versetzt. Am stärksten werden natürlich die Zellen

 Th. Ribot, Psychologie de l’attention. Paris, .

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erregt, die unmittelbar mit den Zuleitungsnerven zusammenhängen. Etwas schwächer ist schon die Erregung der Zellen, denen die erst erregte Zelle ihren Reiz auf der gewohnheitsmäßig durchlaufenen Nervenbahn zusendet, noch schwächer die der Zellen, welche durch denselben Mechanismus von der in zweiter Linie erregten Zelle ihren Reiz erhalten. Am lebhaftesten wird also die Vorstellung sein, welche die unmittelbare Wahrnehmung erweckt, etwas schwächer schon die, welche die erste Vorstellung durch Ideen-Assoziation wachruft, noch schwächer die, welche die assoziirte Vorstellung ihrerseits nach sich zieht. Wir wissen ferner, daß eine Erscheinung nie einen einzigen Reiz übt, sondern mehrere zugleich. Wenn wir z. B. einen Menschen vor uns sehen, so nehmen wir nicht blos einen Punkt von ihm wahr, sondern einen größern oder geringern Theil seiner Oberfläche, das heißt eine ganze Anzahl verschieden gefärbter und verschieden beleuchteter Punkte; wir [] hören ihn außerdem | vielleicht, berühren ihn etwa auch und nehmen jedenfalls außer ihm selbst auch etwas von seiner Umgebung, von seinen Beziehungen im Raume wahr. So entsteht in unserm Gehirn eine ganze Anzahl von Reizzentren, die gleichzeitig in der oben dargestellten Weise wirken. Im Bewußtsein erwacht eine Reihe von Ur-Vorstellungen, die stärker, das heißt deutlicher sind als die assoziirten, die Gefolgs-Vorstellungen, gerade die Vorstellungen, die der vor uns stehende Mensch selbst erweckt hat. Sie sind gleichsam hellste Lichtpunkte inmitten solcher von geringerer Leuchtkraft. Diese hellsten Lichtpunkte herrschen nothwendig im Bewußtsein über die minder hellen vor. Sie erfüllen das Bewußtsein, das sie zu einem Urtheil verknüpft. Denn was wir Urtheil nennen, ist in letzter Linie nichts Anderes als das gleichzeitige Aufleuchten einer Anzahl von Vorstellungen im Bewußtsein, die wir im Grunde blos deshalb zu einander in Beziehung bringen, weil wir uns ihrer eben zu gleicher Zeit bewußt werden. Das Uebergewicht, das die hellsten Vorstellungen über die dunkleren, die Ur- über die Gefolgs-Vorstellungen im Bewußtsein erlangen, ermöglicht ihnen, mit Hilfe des Willens eine Zeit lang die ganze Hirnthätigkeit zu ihren Gunsten zu beeinflussen, nämlich die schwächeren, die Gefolgs-Vorstellungen zu unterdrücken, diejenigen Vorstellungen, welche sich mit ihnen nicht vereinigen lassen, zu bekämpfen, andere, durch die sie selbst verstärkt werden und die ihnen inmitten des beständigen Auftauchens und Verschwindens einander jagender Vorstellungen einige Dauer sichern, zu kräftigen, in ihren Erregungskreis zu ziehen oder überhaupt erst wachzurufen. Das Eingreifen des Willens in diesen Kampf ums Dasein der Vorstellungen denke ich mir so, daß er (wenn auch unbewußte) Bewegungsimpulse an die Muskeln der Hirnarterien [] ausgibt. Dadurch werden die Blutgefäße nach Bedarf erweitert oder | verengert  Es ist möglich, daß nicht eine aktive Erweiterung der Blutgefäße stattfindet, sondern blos eine Verengung. Es ist in der letzten Zeit (u. A. von Dr. Morat, Semaine médicale, , S. ) geleugnet worden, daß es gefäßerweiternde Nerven gebe. Aber die Wirkung wäre in beiden Fällen dieselbe. Denn durch die Verengung der Gefäße einzelner Hirnbezirke würde das aus diesen verdrängte Blut in die anderen Hirntheile getrieben und diese würden einen stärkern Blutzufluß erfahren, ganz wie wenn ihre Gefäße aktiv erweitert wären.

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 und die Blutzufuhr erfolgt reichlicher oder spärlicher. Die Zellen, die kein Blut

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bekommen, müssen ihre Arbeit einstellen, die, welche eine größere Menge Blutes erhalten, können im Gegentheil kräftiger arbeiten. Der Wille, der auf Anregung einer zeitweilig das Uebergewicht erlangenden Gruppe von Vorstellungen diese Blutvertheilung besorgt, gleicht also einem Diener, der in einem Gemache fortwährend damit beschäftigt ist, auf Befehl einer Herrschaft hier Gasflammen anzuzünden, dort sie höher zu schrauben, da sie theilweise oder ganz abzudrehen, so daß bald dieser, bald jener Winkel des Gemachs hell, halbdunkel oder finster wird. Die Vorherrschaft einer Gruppe von Vorstellungen gestattet ihr nicht blos die Hirnzellen, sondern den ganzen Organismus während der Dauer ihrer Herrschaft in ihren Dienst zu stellen und sich nicht nur durch die Vorstellungen zu stärken, welche sie durch Ideen-Assoziation wachruft, sondern auch neue Sinnes-Eindrücke zu suchen und andere abzuhalten, um durch die einen neue, ihrem Bestande günstige Erregungen, neue Ur-Vorstellungen, zu erlangen und durch Ausschließung der anderen solche Erregungen abzuwehren, die ihren Bestand gefährden. Ich sehe z. B. auf der Straße einen Vorübergehenden, der aus irgend einem Grunde im Stande ist, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Aufmerksamkeit unterdrückt sofort alle anderen Vorstellungen, die eben noch in meinem Bewußtsein waren, und läßt nur die bestehen, welche den Vorübergehenden zum Gegenstande haben. Um diese Vorstellungen zu verstärken, sehe ich ihm nach, das heißt die CiliarMuskeln, die Augenmuskeln, dann die Muskeln des Halses, vielleicht noch die des Rumpfes und der | Beine empfangen Bewegungs-Impulse, die blos dem Zwecke [] dienen, immer neue Sinnes-Eindrücke von dem Gegenstande meiner Aufmerksamkeit zu erhalten, durch welche die ihn betreffenden Vorstellungen fortwährend verstärkt und vermehrt werden. Andere Personen, die während dieser Zeit in meinem Sehfeld auftauchen, bemerke ich nicht, den Tönen, die mein Ohr treffen, schenke ich keine Beachtung, ich höre sie vielleicht gar nicht, wenn meine Aufmerksamkeit stark genug ist, ich würde sie dagegen sofort hören, wenn sie vom Vorübergehenden ausgingen oder sich auf ihn bezögen. Das ist „die Anpassung des ganzen Organismus an eine vorherrschende Idee“, von welcher Ribot spricht. Sie ist es, die uns genaue Kenntniß der Außenwelt gibt. Ohne sie würde diese Kenntniß sehr viel schwerer zu erlangen sein und sehr viel unvollkommener bleiben. Diese Anpassung wird so lange dauern, bis die Zellen, welche die Träger der vorherrschenden Ideen sind, ermüden. Dann werden sie nothwendig ihre Herrschaft an andere Zellengruppen abgeben müssen und nun werden diese die Macht erlangen, den Organismus ihren Zwecken anzupassen. Die Fähigkeit der Ideen-Assoziation wird also, wie wir gesehen haben, erst durch die Aufmerksamkeit zu einer vortheilhaften Eigenschaft für den Organismus und die Aufmerksamkeit ist nichts anderes als die Fähigkeit des Willens, das Aufleuchten, den Helligkeitsgrad, die Dauer und das Erlöschen der Vorstellungen im Bewußtsein zu bestimmen. Je kräftiger der Wille ist, umso vollkommener können wir unsern ganzen Organismus einer gegebenen Vorstellung anpassen, umso mehr

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Sinneseindrücke, die zu ihrer Verdeutlichung dienen, können wir uns verschaffen, umso mehr Erinnerungsbilder durch Ideen-Assoziation heranziehen, die sie ergänzen und berichtigen, um so entschiedener die Vorstellungen unterdrücken, die sie stören oder die ihnen fremd sind, mit einem Worte umso erschöpfender und richtiger wird unsere Kenntniß der Erscheinungen und ihres wahren Zusammenhanges sein. | [] Die Gesittung, die Herrschaft über die Naturkräfte sind einzig das Ergebniß der Aufmerksamkeit, alle Irrthümer, aller Aberglaube eine Folge ihres Mangels. Falsche Vorstellungen vom Zusammenhange der Erscheinungen entstehen durch deren mangelhafte Beobachtung und werden durch genauere Beobachtung berichtigt. Beobachten heißt aber nichts anderes, als dem Hirn absichtlich bestimmte Sinneseindrücke zuführen und dadurch eine Gruppe von Vorstellungen zu solcher Stärke und Helligkeit steigern, daß sie im Bewußtsein die Vorherrschaft erlangen, durch Ideen-Assoziation die zu ihnen passenden Erinnerungsbilder wecken, die mit ihnen unvereinbaren unterdrücken kann. Beobachtung, die allen Fortschritten zu Grunde liegt, ist also die durch die Aufmerksamkeit bewirkte Anpassung der Sinnesorgane und ihrer Wahrnehmungs-Zentren an eine im Bewußtsein vorherrschende Vorstellung oder Gruppe von Vorstellungen. Der Zustand der Aufmerksamkeit läßt im Bewußtsein keine Dunkelheit bestehen. Denn der Wille verstärkt jede auftauchende Vorstellung entweder zu voller Helle und Deutlichkeit oder wenn er dies nicht kann, so löscht er sie vollständig aus. Das Bewußtsein des gesunden, willensstarken und in Folge dessen aufmerksamen Menschen gleicht einem taghell beleuchteten Raum, in welchem das Auge alle Gegenstände deutlich sieht, alle Umrisse scharf sind und nirgends unbestimmte Schatten schwimmen. Aufmerksamkeit hat somit Willensstärke zur Voraussetzung und diese wieder ist nur einem normal gebauten und nicht ermüdeten Gehirn eigen. Dem Degenerirten, dessen Gehirn und Nervensystem durch angeborene Bildungsmängel oder Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet sind, dem Hysteriker, den wir als einen Erschöpften kennen gelernt haben, fehlt der Wille ganz oder er besitzt ihn nur in verminderter Stärke. Die Folge der Willensschwäche oder Willenlosigkeit ist die [] Unfähigkeit, auf- | merksam zu sein. Alexander Starr hat  Fälle von Verletzungen oder Erkrankungen der Stirnlappen des Gehirns veröffentlicht, in welchen es den Betreffenden „unmöglich war, ihre Aufmerksamkeit zu fixiren“, und Ribot bemerkt: „Ein Mensch, der durch einen langen Spaziergang ermüdet ist, ein Genesender, der eine schwere Krankheit überstanden hat, mit einem Worte alle Geschwächten sind der Aufmerksamkeit unfähig … Das Unvermögen, aufmerksam zu sein, geht mit allen Formen der Erschöpfung einher.“ Die Hirnthätigkeit der Degenerirten und Hysteriker, nicht überwacht und gezügelt von der Aufmersamkeit, ist eine willkürliche, plan- und ziellose. Die Vorstel Brain, Januar . Angeführt von Ribot, Psychologie de l’attention, S. .  Ribot, a. a. O. S.  u. .

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lungen werden durch das Spiel der uneingeschränkten Ideen-Assoziation ins  Bewußtsein gerufen und können sich darin frei tummeln. Sie erwachen und erlö-

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schen automatisch und der Wille greift nicht ein, um sie zu verstärken oder zu unterdrücken. Neben einander erscheinen Vorstellungen, die einander fremd sind oder einander ausschließen. Da sie zu gleicher Zeit und in ungefähr gleicher Stärke im Bewußtsein enthalten sind, so knüpft sie dieses, dem Gesetze seiner Thätigkeit entsprechend, zu einem Gedanken aneinander, der nothwendiger Weise unsinnig ist und die wirklichen Beziehungen der Erscheinungen nicht ausdrücken kann. Das Fehlen oder die Schwäche der Aufmerksamkeit führt also zunächst zu falschen Urtheilen über die Welterscheinung, über die Eigenschaften der Dinge und ihre Beziehungen zu einander. Das Bewußtsein erlangt ein verzerrtes und verschwommenes Bild der Außenwelt. Aber es tritt noch eine zweite Folge ein. Der chaotische Verlauf der Reize die Bahnen der Ideen-Assoziation und der anatomischen Nachbarschaft entlang weckt die Thätigkeit naher, ferner und fernster Zellen- | gruppen, die sich selbst überlassen bleiben und nur so lange und so stark [] oder schwach arbeiten, wie es dem Stärkegrade des Reizes entspricht, der sie getroffen hat. Es entstehen im Bewußtsein helle, dunklere und dunkelste Vorstellungen, die nach einiger Zeit wieder verschwinden, ohne über ihren ursprünglichen Grad von Deutlichkeit hinaus belichtet worden zu sein. Die hellen Vorstellungen geben einen Gedanken, der aber keinen Augenblick lang ein fester und klarer sein kann, weil sich in die bestimmten Vorstellungen, aus denen er zusammengesetzt ist, auch andere mischen, die das Bewußtsein nur undeutlich oder fast gar nicht mehr wahrnimmt. Solche halbdunkle Vorstellungen treten auch beim gesunden Menschen über die Bewußtseinsschwelle, aber die Aufmerksamkeit schreitet sofort ein, um sie vollkommen aufzuhellen oder ganz zu unterdrücken. Diese mitklingenden Obertöne jedes Gedankens können also den Grundton nicht unrein machen. Die auftauchenden Gedankengespenster können keinen Einfluß auf das Denken erlangen, weil ihnen die Aufmerksamkeit entweder ins Gesicht leuchtet oder sie in ihre Unterwelt des Unbewußten zurückbannt. Anders bei dem Degenerirten und Erschöpften, der an Willensschwäche und mangelhafter Aufmerksamkeit leidet. Die blassen, kaum erkennbaren Grenzvorstellungen werden zugleich mit den gut belichteten Mittelpunktvorstellungen wahrgenommen. Das Urtheil wird schwankend und fließend wie Nebelmassen im Morgenwind. Das Bewußtsein, das die geisterhaft durchsichtigen, formlosen Grenzvorstellungen bemerkt, sucht sie vergebens zu begreifen und deutet sie ohne Vertrauen, wie man Wolkenumrissen Aehnlichkeiten mit Dingen oder Wesen andichtet. Wer in finsterer Nacht die Erscheinungen am fernen Gesichtskreis zu erkennen gesucht hat, der kann sich eine Vorstellung von dem Bilde machen, das die Gedankenwelt eines Geschwächten darbietet. Sieh da eine dunkle Masse! Was ist es? Ein Baum? Eine Heumiethe? Ein Räuber? Ein Raubthier? Soll man fliehen? Soll man darauf losgehen? | Die [] Unfähigkeit, den mehr geahnten als wahrgenommenen Gegenstand zu erkennen, erfüllt mit Unruhe und Angst. Das ist denn auch der Seelenzustand des

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Geschwächten angesichts seiner Grenzvorstellungen. Er glaubt in ihnen hundert Dinge zugleich zu sehen und er bringt alle Formen, die er scheinbar bemerkt, mit der Hauptvorstellung in Zusammenhang, welche jene angeregt hat. Er hat aber sehr wohl die Empfindung, daß dieser Zusammenhang ein unbegreiflicher und unerklärlicher ist. Er verknüpft Vorstellungen zu einem Gedanken, der zu allen Erfahrungen in Widerspruch steht, den er aber dennoch als gleichwerthig mit allen seinen übrigen Gedanken und Urtheilen betrachten muß, weil er auf dieselbe Weise zu Stande kommt wie sie. Und wenn er sich selbst klar machen will, welchen Inhalt sein Urtheil eigentlich hat, aus welchen einzelnen Vorstellungen es sich zusammensetzt, so bemerkt er, daß diese Vorstellungen thatsächlich keine sind, sondern unerkennbare Schatten von Vorstellungen, denen er vergebens einen Namen zu geben versucht. Diese Geistesverfassung nun, in welcher man zu sehen sich anstrengt und zu sehen glaubt, aber nicht sieht, in welcher man Gedanken aus Vorstellungen bilden muß, die das Bewußtsein narren und necken wie Irrlichter oder Dünste über Sümpfen, in welcher man zwischen deutlichen Erscheinungen und vieldeutigen, formlosen Schemen nicht zu verfolgende Beziehungen wahrzunehmen sich einbildet, diese Geistesverfassung ist es, welche man Mysticismus nennt. Dem schattenhaften Denken des Mystikers entspricht seine verwaschene Ausdrucksweise. Das Wort, selbst das abstrakteste, hat eine konkrete Vorstellung oder einen aus den gemeinsamen Eigenschaften verschiedener derartiger Vorstellungen gebildeten, immer noch seinen kronkreten Ursprung verrathenden Begriff zum Inhalte. Für das, was man wie durch Qualm ohne erkennbare Form zu sehen glaubt, hat keine Sprache ein Wort. Der Mystiker hat aber in seinem Bewußtsein [] derartige | gespenstische Vorstellungen ohne Umrisse und sonstige Eigenschaften und um sie auszudrücken gebraucht er entweder bekannte Worte, denen er einen ganz andern als den aller Welt geläufigen Sinn gibt, oder er empfindet das Unzulängliche des von Gesunden geschaffenen Sprachschatzes und schmiedet sich neue, eigene Worte, die dem Fremden überhaupt unverständlich sind und deren wolkig chaotischer Inhalt nur ihm bekannt ist, oder endlich er faßt die verschiedenen Deutungen, welche er seinen unförmlichen Vorstellungen gibt, in ebenso viele Worte und bringt dann jene verblüffenden Nebeneinanderstellungen von einander ausschließenden, vernünftig in keiner Weise zu vereinigenden Ausdrücken zu Stande, die für den Mystiker so bezeichnend sind. Er spricht dann, wie die deutschen Mystiker des . und . Jahrhunderts, vom „kalten Feuer“ der Hölle und dem „dunkeln Lichte“ Satans, oder er sagt wie der Degenerirte der . Krankengeschichte Legrains, „daß ihm Gott in der Gestalt leuchtender Schatten erscheine“, oder er bemerkt, wie ein anderer Kranker Legrains: „Sie haben mir einen unwandelbaren Abend (soireé immuable) verschafft.“ |  Legrain, a. a. O. S. .  Legrain, a. a. O. S. .  In dem Kapitel, das von den französischen Neomystikern handelt, werde ich eine Blumenlese solcher Verknüpfungen von unzusammenhängenden oder einander ausschließenden Ausdrücken

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Der gesunde Leser oder Hörer, der zu seinem eigenen Urtheil Vertrauen hat []  und mit voller Klarheit und Selbstständigkeit prüft, erkennt natürlich sofort, daß

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die mystischen Ausdrücke sinnlos sind und blos die verworrene Denkweise des Mystikers widerspiegeln. Die Mehrheit der Menschen hat aber weder Selbstvertrauen noch Urtheilsfähigkeit und kann sich der natürlichen Neigung nicht entschlagen, mit jedem Worte auch einen Sinn zu verbinden. Da die Worte des Mystikers nun an sich oder in ihrer Nebeneinanderstellung keinen bestimmten Sinn haben, so wird ihnen ein solcher willkürlich untergelegt, es wird in sie ein Sinn hineingeheimnißt, wie der glückliche Ausdruck für diese willkürliche Deutungsthätigkeit lautet. Die Wirkung der mystischen Ausdrucksweise auf die Leute, die sich verblüffen lassen, ist deshalb eine sehr starke. Sie gibt ihnen zu denken, wie sie es nennen, das heißt, sie gestattet ihnen, sich allen möglichen Träumereien hinzugeben, was sehr viel bequemer und darum angenehmer ist als das beschwerliche Nachdenken fest umrissener, kein Abschweifen und Ausbrechen gestattender Vorstellungen und Gedanken. Sie versetzt ihren Geist in denselben Zustand der durch ungezügelte Ideen-Assoziation bestimmten Denkthätigkeit, der dem Mystiker eigen ist, sie erweckt auch in ihnen seine vieldeutigen, unaussprechlichen Grenzvorstellungen und sie gibt auch ihnen die Ahnung befremdlichster, | unmöglichster [] Beziehungen der Dinge zu einander. Allen Schwachköpfen erscheint der Mystiker deshalb „tief“ und diese Bezeichnung ist durch die Anwendung, welche sie im Munde jener gefunden hat, fast zu einer beleidigenden geworden. Wirklich tief sind blos sehr starke Geister, welche ihre Denkthätigkeit in der Zucht einer außergewöhnlich mächtigen Aufmerksamkeit halten können. Solche Geister sind im Stande, die Ideen-Assoziation in der vollkommensten Weise auszunützen, allen Vorstellungen, welche durch sie ins Bewußtsein gerufen werden, die größte Schärfe und Helligkeit zu geben, sie sicher und rasch zu unterdrücken, wenn sie zu den übrigen nicht passen, sich neue Sinneseindrücke zu verschaffen, wenn

geben, die vollkommen den von Legrain angeführten Proben der Redeweise erklärter Geisteskranker gleichzustellen sind. Hier sei nur noch eine Stelle aus Vte E. M. de Vogué, „Le Roman Russe“, Paris, , wiedergegeben, in welcher dieser mystische Schriftsteller, unbewußt und ungewollt, die Schattenhaftigkeit und Leere der mystischen Redeweise vortrefflich  kennzeichnet, freilich auch als Vorzug rühmt. „Ein Zug“, sagt er, (S. .) „ist ihnen“ (gewissen russischen Schriftstellern) „gemein: die Kunst, mit einer Zeile, einem Worte, unendlichen Widerhall, Reihen von Gefühlen und Gedanken zu erwecken … Die Worte, welche Sie auf diesem Papier lesen, scheinen nicht in Länge, sondern in Tiefe geschrieben zu sein. Sie schleppen dumpfe Nachklänge hinter sich her, die sich allmälig verlieren, man weiß nicht wo.“ Und Seite  : „Sie sehen die Menschen und Dinge im grauen Lichte des ersten Dämmers. Die schwach angedeuteten Umrisse enden im verworrenen und wolkigen Vielleicht …“  „Es ist sicher, daß das Schöne niemals solchen Reiz für uns hat, wie wenn wir es aufmerksam in einer Sprache lesen, die wir blos halb verstehen… Es ist die Zweideutigkeit, die Ungewißheit, das heißt die Schmiegsamkeit der Worte, die einer ihrer großen Vortheile ist und es ermöglicht,  von ihnen einen genauen“ (!) „Gebrauch zu machen“. Joubert; angeführt von Charles Morice, „La Littérature de tout à l’heure“ Paris, . S. .

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diese nöthig sind, um die jeweilen in ihnen herrschenden Gedanken und Urtheile noch lebhafter und deutlicher zu machen; sie gewinnen auf diese Weise ein Weltbild von unvergleichlicher Klarheit und decken wirkliche Beziehungen zwischen den Erscheinungen auf, die einer schwächern Aufmerksamkeit verborgen bleiben müssen. Diese wirkliche Tiefe auserlesen starker Geister ist ganz Helligkeit. Sie scheucht Schatten aus verborgenen Winkeln und erfüllt Abgründe mit strahlendem Licht. Die Scheintiefe des Mystikers dagegen ist ganz Dunkelheit. Sie läßt die Dinge durch dasselbe Mittel tief erscheinen wie die Finsterniß: dadurch, daß sie ihre Grenzen unwahrnehmbar macht. Der Mystiker löst die festen Umrisse der Erscheinungen, er breitet Schleier über sie und hüllt sie in blauen Dunst. Er trübt das Klare und macht das Durchsichtige blind wie der Tintenfisch die Wasser des Ozeans. Wer also die Welt durch die Augen des Mystikers sieht, starrt in eine schwarze, wogende Masse, in der er alles finden kann was er will, obwohl und gerade weil er thatsächlich gar nichts wahrnimmt. Den Schwachköpfen ist Alles platt, was hell, fest umrissen und deshalb streng eindeutig ist. Tief ist ihnen Alles, was keinen Sinn hat und sich deshalb beliebig deuten läßt. Mathematische Analyse ist ihnen [] platt, | Theologie und Metaphysik tief. Platt ist das römische Recht, tief das Traumbuch und die Prophezeiung des Mönchs von Lehnin. Die Figuren, die beim Bleigießen in der Sylvesternacht zum Vorschein kommen, wären die richtigen Sinnbilder ihrer Tiefe. Der Inhalt des mystischen Denkens wird durch den Charakter und Bildungsgrad des Degenerirten und Hysterikers bestimmt. Denn man vergesse nie, daß das krankhaft veränderte oder erschöpfte Gehirn blos der Nährboden ist, der von der Erziehung, dem Unterricht, den Lebenseindrücken und Erfahrungen u. s. w. die Saat empfängt. Die Saatkörner entstehen nicht in ihm, sie erhalten nur in ihm und durch ihn ihre besonderen Entwickelungs-Störungen, ihre Verkrüppelungen, Mißbildungen und tollen Schößlinge. Der Naturforscher, der die Fähigkeit der Aufmerksamkeit verliert, wird zum sogenannten „Naturphilosophen“ oder zum Entdecker des vierdimensionalen Raumes wie der unglückliche Zöllner. Der rohe und unwissende Mensch aus den tiefen Volksschichten verfällt dem wildesten Aberglauben. Der religiös erzogene, mit Dogmen genährte Mystiker bezieht seine Schattenvorstellungen auf Glaubensdinge und deutet sie als Offenbarungen über die Natur der Dreieinigkeit oder über das Dasein vor der Geburt und nach dem Tode. Der dem Mysticismus verfallene Techniker reibt sich mit unmöglichen Erfindungen auf, glaubt der Lösung des Problems eines perpetuum mobile auf der Spur zu sein, ersinnt Verbindungen zwischen der Erde und den Sternen, Schächte zum glühenden Erdkern und dgl. Der Astronom wird zum Astrologen, der Chemiker zum Alchemisten und Sucher des Steins der Weisen, der Mathematiker zum Bearbeiter der Quadratur des Zirkels oder zum Erfinder eines Systems, in welchem der Begriff des Fortschritts durch eine Integration und der er Krieg durch eine Gleichung ausgedrückt wird u. s. w. [] Wie oben ausgeführt wurde, empfängt die Hirnrinde | ihre Reize nicht blos von Außennerven, sondern auch aus der Tiefe des Organismus, von den Nerven der

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 einzelnen Organe und den Nervenzentren des Rückenmarks und des Sympathikus.

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Jeder Erregungszustand in diesen Zentren beeinflußt die Hirnzellen und erweckt in ihnen mehr oder minder deutliche Vorstellungen, welche sich nothwendig auf die Thätigkeit der Zentren beziehen, von denen der Reiz ausgeht. Einige Beispiele werden dies auch dem vollständigen Laien deutlich machen. Wenn der Organismus Bedürfniß nach Nahrung empfindet, also wenn wir hungrig sind, so werden wir uns nicht blos im Allgemeinen eines dunkeln Verlangens nach Speise bewußt, sondern in unserm Geiste entstehen auch bestimmte Vorstellungen von Gerichten, von gedeckten Tischen, von allen Nebendingen, die beim Essen eine Rolle spielen. Wenn wir aus irgend einem Grunde, etwa wegen einer Herz- oder Lungenkrankheit, nicht gut athmen können, so haben wir nicht blos Lufthunger, sondern auch Begleitvorstellungen ängstlicher Natur, Ahnungen von Gefahren unbekannter Art, schwermüthige Erinnerungen u. s. w., das heißt Vorstellungen von Erscheinungen, die athemraubend oder beklemmend zu wirken pflegen. Auch im Schlafe üben die organischen Reize diesen Einfluß auf die Hirnrinde und ihnen verdanken wir die sogenannten Leibes-Träume, das heißt Traumvorstellungen, deren Inhalt sich auf die Thätigkeit der Organe bezieht, die sich gerade in nicht normaler Verfassung befinden. Nun ist es bekannt, daß gewisse organische Nervenzentren, namentlich die geschlechtlichen im Rücken- und im verlängerten Mark, bei Degenerirten häufig mißbildet oder krankhaft erregt sind. Die von ihnen ausgehenden Reize erwecken also im Hirn eines Degenerirten dieser Art Vorstellungen, die näher oder entfernter mit der Geschlechtsthätigkeit zusammenhängen, und diese Vorstellungen sind dauernd, weil auch die sie veranlassenden Erregungszustände dauernd sind. Im Bewußtsein | eines solchen Degenerirten bestehen also neben den übrigen Vorstel- [] lungen, welche von den wechselnden Reizen der Außenwelt erweckt sind, stets auch Vorstellungen aus dem Bereiche der Geschlechtlichkeit und er knüpft an jeden Eindruck, den er von den Wesen und Dingen empfängt, auch erotische Gedanken. So gelangt er dazu, geheimnißvolle Beziehungen zwischen allen möglichen Erscheinungen der Wirklichkeit, zwischen einem Eisenbahnzuge, dem Titel seiner Zeitung, einem Piano u. s. w. und dem Weibe zu ahnen und bei Anblicken, Worten, Gerüchen, die keinem gesunden Menschen einen derartigen Eindruck machen, Erregungen verliebter Natur zu empfinden, die er auf unbekannte Eigenschaften jener Anblicke, Worte u. s. w. zurückführt. So kommt es, daß der Mysticismus in den meisten Fällen eine deutliche erotische Färbung und der Mystiker, wenn er seine dunkeln Grenzvorstellungen deutet, stets die Neigung hat, ihnen einen erotischen Inhalt zuzuschreiben. Das Gemisch von Übersinnlichkeit und Sinnlichkeit, von Glaubens- und Liebesschwärmerei, welches das mystische Denken kennzeichnet, ist selbst jenen Beobachtern aufgefallen, die nicht verstehen, auf welche Art es zu Stande kommt. Der Mysticismus, den ich bisher untersucht habe, ist die auf angeborner oder erworbener Willensschwäche beruhende Unfähigkeit, das Walten der Ideen-Asso-

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ziation durch die Aufmerksamkeit zu leiten, schattenhafte Grenzvorstellungen in den hellen innern Kreis des Bewußtseins zu ziehen und die Vorstellungen zu unterdrücken, welche mit den die Aufmerksamkeit eben fesselnden unverträglich sind. Es gibt aber auch eine andere Form des Mysticismus, deren Ursache nicht mangelnde Aufmerksamkeit, sondern eine Anomalie der Reizfähigkeit des Gehirns und Nervensystems ist. Im gesunden Organismus leiten die Sinnesnerven die Eindrücke der Außenwelt in ihrer vollen Stärke dem Gehirn zu und die Erregung der Hirnzelle steht in geradem Verhältnisse zur Stärke des ihnen zugeführten Reizes. Anders | [] verhält sich ein entarteter oder erschöpfter Organismus. Bei diesem kann das Gehirn seine normale Reizbarkeit eingebüßt haben, es ist stumpf und wird von den ihm zugeführten Reizen nur schwach erregt. Ein solches Gehirn gelangt überhaupt nie dazu, scharf umrissene Vorstellungen auszuarbeiten. Es denkt immer schattenhaft und verschwommen. Die Eigenthümlichkeiten seiner Denkthätigkeit eingehend zu schildern habe ich jedoch keine Ursache, weil ein stumpfes Gehirn beim höhern Degenerirten kaum jemals vorkommt und in Literatur und Kunst keine Rolle spielt. Der Besitzer eines schwer erregbaren Gehirns verfällt schwerlich jemals auf den Gedanken, zu dichten oder zu malen. Nur als das vorbestimmte und dankbare Publikum des schöpferischen Mystikers kommt er in Betracht. Die ungenügende Erregbarkeit kann ferner eine Eigenschaft der Sinnesnerven sein. Diese Störung führt Anomalien des Geisteslebens herbei, die im nächsten Buche eine erschöpfende Behandlung finden werden. Endlich kann statt Stumpfheit auch übermäßige Reizbarkeit bestehen und diese kann dem ganzen Nervensystem und Gehirn oder nur einzelnen Theilen des letztern eigen sein. Allgemeine übermäßige Reizbarkeit gibt jene krankhaft empfindlichen Naturen, die den gleichgiltigsten Erscheinungen die erstaunlichsten Wahrnehmungen abgewinnen, die das „Schluchzen der Abendröthe“ hören, bei der Berührung einer Blume schaudern, im Säuseln des Windes erschütternde Weissagungen und furchtbare Drohungen unterscheiden u. s. w. Übermäßige Reizbarkeit einzelner Zellengruppen der Hirn[] rinde | gibt zu anderen Erscheinungen Anlaß. In dem sei es durch Außen- oder durch Nachbar-Reiz, durch Sinnes-Eindruck oder durch Ideen-Assoziation erregten Hirntheile läuft in diesem Falle die Zellenthätigkeit nicht im natürlichen Verhältnisse zur Stärke der Erregung ab, sondern sie ist stärker und anhaltender, als der sie veranlassende Reiz rechtfertigt. Die erregte Zellengruppe kann schwer oder gar nicht wieder zur Ruhe kommen. Sie rafft große Mengen Nährstoffe an sich, um sie zu zersetzen, und entzieht sie den übrigen Hirntheilen. Sie arbeitet wie ein Mechanismus, den eine ungeschickte Hand in Bewegung gesetzt hat und nicht  Gérard de Nerval, Le Rêve et la vie: „Alles in der Natur nahm ein anderes Ansehen an. Geheime Stimmen quollen aus der Pflanze, dem Baume, den Thieren, den kleinsten Käfern hervor, um mich zu warnen und zu ermuthigen. Die Sprache meiner Genossen hatte geheimnißvolle Wendungen, deren Sinn ich verstand. Die form- und leblosen Dinge selbst liehen sich zu den Berechnungen meines Geistes her.“ Hier finden wir vollständig dieses „Verstehen des Geheimnißvollen“ wieder, das eine der gewöhnlichsten Einbildungen der Wahnsinnigen ist.

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wieder zum Stillstand bringen kann. Wenn man die normale Hirnzellen-Thätigkeit  mit einer ruhigen Verbrennung vergleichen kann, so ist die Thätigkeit der krank-

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haft reizbaren Zellengruppe als eine Explosion zu bezeichnen, und zwar als eine Explosion, die mit Heftigkeit Dauer verbindet. Auf einen Reiz flammt dann im Bewußtsein eine Vorstellung oder eine Reihe von Vorstellungen, Begriffen und Gedanken auf, die es mit der Helligkeit einer Feuersbrunst erfüllen und alle anderen Vorstellungen überstrahlen. Je nach dem Grade der krankhaften Reizbarkeit einzelner Hirntheile ist auch das Vorherrschen der von ihnen ausgearbeiteten Vorstellungen mehr oder weniger ausschließlich und unbezwingbar. Bei mäßigen Graden entstehen die Zwangsvorstellungen, die das Bewußtsein als krankhaft erkennt. Sie schließen gesunde Hirnthätigkeit nicht aus. Neben ihnen erwachen und erlöschen normale Vorstellungen und das Bewußtsein gewöhnt sich daran, die gleichzeitig anwesenden Zwangsvorstellungen gleichsam als Fremdkörper zu behandeln und aus seinen Gedanken und Urtheilen auszuschließen. In einem höhern Grade wird die Zwangsvorstellung zur fixen Idee. Die übermäßig reizbaren Hirntheile arbeiten ihre Vorstellungen zu solcher Lebhaftigkeit aus, daß das Bewußtsein von ihnen erfüllt ist und sie nicht mehr von jenen unterscheiden kann, die | eine Folge von Sinneseindrücken sind [] und deren Beschaffenheit und Stärke richtig widerspiegeln. Dann haben wir es mit Halluzinationen und Delirien zu thun. Im höchsten Grade endlich entsteht die Ekstase, welche Ribot „die akute Form des Strebens zur Einheit des Bewußtseins“ nennt. In der Ekstase arbeitet der gereizte Hirntheil mit solcher Heftigkeit, daß er die Thätigkeit des ganzen übrigen Gehirns unterdrückt. Der Ekstatiker ist vollkommen unempfindlich für äußere Reize. Es findet keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, keine Verknüpfung von Vorstellungen zu Begriffen und von Begriffen zu Gedanken und Urtheilen statt. Eine einzige Vorstellung oder Gruppe von Vorstellungen füllt das Bewußtsein aus. Diese Vorstellungen sind von höchster Schärfe und Deutlichkeit. Das Bewußtsein ist wie von blendender Mittagshelle durchflutet. Es findet also genau das Gegentheil von dem statt, was beim gewöhnlichen Mystiker beobachtet wird. Mit der Ekstase sind überaus starke Gefühle verbunden, in denen sich höchste Wonne mit Schmerz mischt. Diese Gefühle begleiten jede heftige und übermäßige Thätigkeit von Nervenzellen, jede außerordentliche, explosionartige Zersetzung von Nerven-Nährstoff. Das Wollust-Gefühl ist ein Beispiel dieser Begleiterscheinungen von außergewöhnlichen Zersetzungsvorgängen in der Nervenzelle. Beim gesunden Menschen sind die Geschlechtszentren die einzigen, die, ihrer Funktion angemessen, so differenzirt, so eingerichtet sind, daß sie keine gleichmäßige, dauernde Thätigkeit üben, sondern während des weitaus größten Theils der Zeit vollkommen ruhen und große Mengen Nährstoffe aufspeichern, um dann während sehr kurzer Zeitabschnitte diese Nährstoffe plötzlich, gleichsam explosiv zu zersetzen. Jedes Nervenzentrum, das so arbeitete, würde uns WollustEmpfindungen verschaffen, doch gibt es eben beim gesunden Menschen außer den Geschlechtszentren keines, das in dieser Weise arbeiten müßte, um den Zwecken

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des Organismus | zu dienen. Beim Degenerirten dagegen arbeiten krankhaft erregte einzelne Hirnzentren auf diese Art und die Wonneempfindungen, die ihre explosive Thätigkeit begleiten, sind in dem Maße mächtiger als die Wollustgefühle, in welchem die Hirnzentren empfindlicher sind als die untergeordneteren und stumpferen Rückenmarkzentren. Es ist den großen Ekstatikern, einer heiligen Therese, einem Mohamed, einem Ignaz von Loyola, durchaus zu glauben, wenn sie versichern, daß die Wonnen, die ihre ekstatischen Gesichte begleiten, mit nichts Irdischem zu vergleichen und dem Sterblichen fast unerträglich sind. Dieser Zusatz beweist, daß sie sich auch des scharfen Schmerzes bewußt werden, der den Zersetzungsvorgang in den überreizten Hirnzellen begleitet und bei aufmerksamer Analyse in jedem sehr starken Lustgefühl unterschieden werden kann. Der Umstand, daß die einzige uns bekannte normale organische Empfindung, welche denen der Ekstase ähnlich ist, die Wollust-Empfindung ist, erklärt es, daß die Ekstatiker durch Ideen-Assoziation Vorstellungen der Liebe mit ihren ekstatischen Vorstellungen verbinden und die Ekstase selbst als eine Art überirdischen Liebes-Akt, als eine Vereinigung unfaßbar hoher und reiner Art mit Gott oder der heiligen Jungfrau deuten. Diese Heranziehung Gottes und der Heiligen ist die natürliche Folge einer religiösen Erziehung, welche die Gewohnheit erzeugt, alles Unerklärliche als Übernatürliches anzusehen und mit den Vorstellungen der Glaubenslehre in Zusammenhang zu bringen. Wir haben nunmehr gesehen, daß Mysticismus auf Unfähigkeit, die IdeenAssoziation durch Aufmerksamkeit zu beherrschen, und diese Unfähigkeit auf Willensschwäche beruht, während die Ekstase eine Folge krankhafter Reizbarkeit bestimmter Hirnzentren ist. Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein, veranlaßt aber außer dem Mysticismus noch andere Eigenthümlichkeiten des Denkens, die hier nur ganz kurz erwähnt seien. Bei den tiefsten Graden der Entartung, im Blödsinn [] (Idiotismus), | fehlt die Aufmerksamkeit ganz. Kein Reiz ist im Stande, sie zu erregen, und es gibt überhaupt kein äußeres Mittel, im Idioten-Gehirn einen Eindruck hervorzubringen und bestimmte Vorstellungen in seinem Bewußtsein zu wecken. In der minder vollständigen Entartung, dem Schwachsinn (Imbecillität), ist Aufmerksamkeit möglich, aber sie ist überaus schwach und flüchtig. In aufsteigender Folge findet man beim Schwachsinnigen Gedankenflucht, das heißt das Unvermögen, die nach den Gesetzen der Ideen-Assoziation einander automatisch ins Bewußtsein rufenden Vorstellungen festzuhalten und zu einem Gedanken oder Urtheil zu verknüpfen, und Träumerei, die eine andere Form der Gedankenflucht ist, sich aber von ihr dadurch unterscheidet, daß die einzelnen Vorstellungen, aus denen sie sich zusammensetzt, schwach ausgearbeitet, also schattenhaft und undeutlich sind, so sehr manchmal, daß ein Schwachsinniger, den man mitten in seiner Träumerei plötzlich fragt, woran er eben denke, nicht im Stande ist, anzugeben, was sich gerade in seinem Bewußtsein befindet. Alle Beobachter stellen fest, daß der höhere Degenerirte häufig „originell, brillant, witzig“, daß er zwar zu Thätigkeiten, welche Aufmerksamkeit und Selbstzucht fordern, unfähig ist, aber starke []

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Psychologie des Mysticismus.

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künstlerische Neigungen hat. Alle diese Eigenthümlichkeiten sind auf ungezügeltes Walten der Ideen-Assoziation zurückzuführen. Man erinnere sich, wie das zur Aufmerksamkeit unfähige Gehirn arbeitet: eine Wahrnehmung erweckt eine Vorstellung, welche tausend andere assoziirte Vorstellungen ins Bewußtsein ruft. Der gesunde Geist unterdrückt die widersprechenden oder mit der ersten Wahrnehmung nicht vernünftig zusammenhängenden Vorstellungen, der Schwachsinnige kann das nicht. Die bloße Lautähnlichkeit bestimmt den Lauf seines Denkens. Er hört ein Wort und muß es einmal oder öfter nachsprechen — Echolalie; oder es ruft ihm ähnliche Worte ins Bewußtsein, die nur dem Klange, nicht dem Sinne nach mit jenem verwandt | sind, dann denkt und spricht [] er in einer Reihe gänzlich unzusammenhängender Reime; oder die Worte haben außer dem Gleichklang auch eine sehr entfernte und schwache Sinngemeinschaft, dann entsteht das Wortspiel. Der Unkundige ist geneigt, den reimenden und wortspielenden Schwachsinnigen witzig zu nennen, und er bedenkt nicht, daß diese Art des Verknüpfens der Vorstellungen nach dem Klange der Worte den Zweck des Denkens vereitelt, da sie die Erkenntniß des wirklichen Zusammenhanges der Erscheinungen nicht fördert, sondern von ihr entfernt. Keine Witzelei hat jemals die Entdeckung einer Wahrheit erleichtert und wer einmal den Versuch gemacht hat, mit einem witzelnden Schwachsinnigen ein ernstes Gespräch zu | führen, der [] wird die Unmöglichkeit erkannt haben, ihn bei der Stange zu halten, von ihm einen folgerichtigen Schluß zu erlangen, ihm eine Thatsache oder ein Causalverhältniß begreiflich zu machen. Wenn die Verknüpfung der Vorstellungen nicht blos nach den Eindrücken des Gehirns, nicht nach der reinen Klangähnlichkeit, sodern auch nach den übrigen Gesetzen der Ideen-Assoziation geschieht, dann kommen jene Nebeneinanderstellungen von Worten zu Stande, welche der Unkundige als „originelle Ausdrucksweise“ bezeichnet und die ihrem Urheber den Ruf eines „brillan-

 Ein schwachsinniger Degenerirter, dessen Krankengeschichte Dr. G. Ballet erzählt, sagt: „Il y a  mille ans que le monde est monde. Milan, la cathédrale de Milan“ (La Semaine médicale , S. .) „Mille ans,“ „tausend Jahre“, rufen diesem Schwachsinnigen das gleichklingende „Milan“, „Mailand“, ins Gedächtniß, obwohl zwischen beiden Vorstellungen keinerlei vernünftiger Zusammenhang besteht. Ein Graphomane Jasno, den Lombroso anführt, sagt „la main se mène“ (die Hand wird geführt), kommt dann auf „semaine“ (Woche) zu sprechen und fährt fort, mit den  gleichklingenden Wörtern se mène, semaine und main zu spielen. (Genie und Irrsinn, deutsche Ausgabe, S. .) In dem Buche eines deutschen Graphomanen, betitelt „Rembrandt als Erzieher“ (Leipzig ), einem Buche, das ich noch einigemale als ein Beispiel der Faselei eines Schwachsinnigen anzuführen haben werde, finde ich gleich auf den ersten Seiten folgende WortZusammenstellungen nach dem Gleichklange: „Sie verkünden eine Rückkehr … zur Einheit und  Feinheit.“ (S. .) „Je ungeschliffener Jemand ist, desto mehr ist an ihm zu schleifen.“ (S. .) „Jede rechte Bildung ist bildend, formend, schöpferisch, und also künstlerisch.“ (S. .) „Rembrandt war nicht nur ein protestantischer Künstler, sondern auch ein künstlerischer Protestant.“ (S. .) „Sein Hundertguldenblatt allein könnte schon als ein Tausendgüldenkraut gegen so mancherlei Schäden … dienen.“ (S. .) „Christus und Rembrandt haben … darin etwas Gemeinsames, daß  Jener die religiöse, dieser die künstlerische Armseligkeit – die Seligkeit der Armen – zu … Ehren bringt.“ (S. .) U. s. w.

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ten“ Plauderers oder Schriftstellers verschaffen. Sollier führt einige bezeichnende Beispiele der „originellen“ Ausdrucksweise von Schwachsinnigen an. Einer sagte seinem Kameraden: „Du siehst aus wie ein Gerstenzucker in Ammenschaft.“ Ein anderer drückte den Gedanken, sein Freund mache ihn lachen, daß er den Speichel nicht zurückhalten könne, so aus: „Du machst mich Hutdeckel geifern.“ Die Aneinanderreihung von Wörtern, die sinngemäß gar nicht oder nur entfernt zusammengehören, ist in der Regel ein Beweis von Imbecillität, obschon sie häufig genug verblüfft und lachen macht. Die Geistreichigkeit, die man in Paris als „Blague“ oder „Boulevard-Esprit“ bezeichnet, erkennt der Psychologe als Schwachsinn. Auch daß dieser mit künstlerischen Neigungen Hand in Hand geht, leuchtet ein. Alle Berufe, welche Kenntniß der Wirklichkeit und Anpassung an sie erfordern, setzen Aufmerksamkeit voraus. Diese fehlt dem Schwachsinnigen, er ist also für die ernsten Berufe untauglich. Gewisse künstlerische Beschäftigungen, namentlich solche untergeordneter Art, sind dagegen mit ungezügelter Ideen-Assoziation, Träumerei, ja Gedankenflucht vereinbar, weil sie nur eine sehr geringe Anpassung [] an die Wirklichkeit erheischen, | und sie haben deshalb für den Schwachsinnigen eine große Anziehungskraft. Zwischen dem Denkvorgang und der Bewegung besteht ein genauer Parallelismus, der sich aus der Thatsache erklärt, daß die Ausarbeitung von Vorstellungen nichts anderes ist als eine Modifikation der Ausarbeitung von Bewegungs-Antrieben. Die Bewegungs-Erscheinungen versinnlichen dem Laien am deutlichsten den Mechanismus der Denkthätigkeit. Der Ideen-Assoziation entspricht die automatische Gesellung der Muskel-Zusammenziehungen, der Aufmerksamkeit die Koordination. Wie bei mangelnder Aufmerksamkeit kein verständiger Gedanke, so kommt bei fehlender Koordination keine zweckmäßige Bewegung zu Stande. Dem Idiotismus des Gehirns ist die Lähmung, der Zwangsvorstellung und fixen Idee der Bewegungs-Tic (unwillkürliches Zucken) gleichzustellen. Die Witzeleien des Schwachsinnigen sind wie fuchtelnde Lufthiebe, die Gedanken und Urtheile gesunder Gehirne wie sorgfältig dem Zwecke der Abwehr und des Angriffs angepaßtes Fechten. Der Mysticismus findet sein Spiegelbild in den ziel- und kraftlosen, oft blos angedeuteten Bewegungen des greisenhaften und paralytischen Zitterns und die Ekstase ist für ein Hirnzentrum derselbe Zustand, wie ein dauernder und heftiger tonischer Krampf für einen Muskel oder eine Muskelgruppe.

 Dr. Paul Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile. Paris, . S. .

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Die Präraphaeliten.

II. Die Präraphaeliten.



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Der Mysticismus ist der gewöhnliche Zustand der Menschen und keineswegs eine außerordentliche Verfassung ihres Geistes. Ein kräftiges Gehirn, das jede Vorstellung zu voller Schärfe ausarbeitet, ein starker Wille, der die mühselige Aufmerksamkeit aufrecht hält, sind seltene Gaben. Das Dämmern und Träumen, das freie Schweifen der in den mäandrischen Bahnen der Ideen-Assoziation sich grillenhaft tummelnden Einbildungskraft erfordern weniger Anstrengung und werden deshalb der harten Arbeit des Beobachtens und verständigen Urtheilens weit vorgezogen. So ist das Bewußtsein der Menschen mit einer ungeheuern Menge vieldeutiger Schatten-Vorstellungen erfüllt und in unzweifelhafter Klarheit sehen sie in der Regel blos die sich täglich wiederholenden Erscheinungen ihres engsten SelbstLebens und unter diesen namentlich die, welche Gegenstand ihrer unmittelbaren Bedürfnisse sind. Die Sprache, dieses große Hilfsmittel der Entwickelung des menschlichen Denkens, ist keine ungemischte Wohlthat. Sie trägt in das Bewußtsein der meisten Menschen unvergleichlich mehr Dunkelheit als Helle. Sie bereichert ihr Gedächtniß mit Klängen, nicht mit gut umrissenen Bildern der Wirklichkeit. Das Wort, das geschriebene wie das gesprochene, erregt einen Sinn, das Gesicht oder das Gehör, und löst eine Thätigkeit des Gehirns aus. Das ist richtig. Es erweckt immer eine Vorstellung. Auch eine Reihe musikalischer Töne thut das. Man denkt sich auch bei einem unbekannten Worte, bei Abra- | cadabra, bei einem Eigennamen, bei [] einer gefiedelten Weise etwas, aber freilich etwas Unbestimmtes oder etwas Unsinniges oder etwas Willkürliches. Es ist ein gänzlich aussichtloses Bemühen, durch das Wort einem Menschen neue Vorstellungen zu geben und den Kreis seiner hellen Erkenntniß zu erweitern. Es kann immer nur Vorstellungen wachrufen, die er schon besitzt, und in letzter Linie arbeitet Jeder doch blos mit dem Vorstellungsstoffe, den er durch aufmerksame Selbstbeobachtung der Welterscheinung erworben hat. Dennoch kann er auf die Anregungen nicht verzichten, die ihm die Sprache zuträgt. Der Drang, das Ganze der Welterscheinung lückenlos zu begreifen, ist unwiderstehlich, die Gelegenheit zu persönlichen Wahrnehmungen selbst im günstigsten Falle beschränkt. Was wir nun nicht selbst erfahren haben, das lassen wir uns von den Anderen, den Todten und Lebenden, sagen. Das Wort muß uns die unmittelbaren Sinneseindrücke ersetzen. Ein Sinneseindruck ist es selbst ja auch und unser Bewußtsein ist gewohnt, diesen Eindruck den anderen gleichzusetzen, die Vorstellung, die das Wort erweckt, jenen Vorstellungen gleich zu bewerthen, die wir durch gleichzeitiges Zusammenwirken aller Sinne, durch allseitiges Betrachten und Betasten, Rücken und Heben, Behorchen und Beriechen des Dinges selbst erlangt haben. Diese Gleichbewerthung ist aber ein Denkfehler. Sie ist in allen Fällen falsch, wenn das Wort mehr thun soll als das Erinnerungsbild einer durch eigene Wahrnehmung erworbenen Vorstellung oder eines aus derartigen Vorstellungen zusammengesetzten Begriffes ins Bewußtsein zu rufen. Wir begehen

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diesen Denkfehler jedoch alle. Wir vergessen, daß die Sprache von der Gattung blos als ein Mittel der Verständigung zwischen den Individuen ausgebildet wurde, daß sie eine soziale Funktion, nicht aber eine Quelle der Erkenntniß ist. Das Wort ist in Wirklichkeit eher eine Quelle des Irrthums. Denn nicht was er gehört und [] gelesen hat und | was er nachspricht weiß der Mensch thatsächlich, sondern blos was er unmittelbar erfahren und aufmerksam beobachtet hat, und wenn er sich von den Irrthümern befreien will, die das Wort ihm zuträgt, so hat er dazu kein anderes Mittel als die Vermehrung seines vollwerthigen Vorstellungsstoffes durch eigene Wahrnehmung und aufmerksame Beobachtung. Und da der Mensch hierzu immer nur bis zu einer gewissen Grenze im Stande ist, so ist Jeder verurtheilt, in seinem Bewußtsein zugleich mit unmittelbaren Vorstellungen und mit Worten zu arbeiten. Das Gedanken-Gebäude, das mit Baustoff von so ungleicher Festigkeit aufgeführt wird, erinnert an jene gothischen Kirchen, deren beschädigte Stellen von hirnlosen Maurern früher mit einem Kleister von Ruß und Käse verstrichen zu werden pflegten, dem sie durch eine Tünche das Ansehen von Stein gaben. Dem Auge stellt sich die Schauseite tadellos dar. Einem kräftigen Stoße der Kritik widerstehen viele ihrer Theile keinen Augenblick lang. Viele irrige Deutungen der Naturerscheinungen, die meisten falschen wissenschaftlichen Hypothesen, alle Religionen und metaphysischen Systeme sind so entstanden, daß die Menschen in ihre Gedanken und Urtheile neben Vorstellungen, die aus unmittelbarer Wahrnehmung entsprangen, auch solche, die von Worten angeregt wurden, als gleichwerthige Bestandtheile einflochten. Die Worte waren entweder von Mystikern erfunden worden und bedeuteten schon ursprünglich nichts anderes als den Schwindelzustand eines kranken und schwachen Gehirns, oder sie drückten anfangs zwar eine bestimmte und richtige Vorstellung aus, doch war ihr eigentlicher Sinn den Nachsprechern nie aufgegangen und von ihnen willkürlich gefälscht, umgedeutet oder verwaschen worden. Angeborne oder erlangte Geistesschwäche und Unwissenheit führen zu demselben Ziele: dem Mysticismus. Das Gehirn des Unwissenden arbeitet nebelhafte [] Vorstellungen aus, weil es | nicht von der Erscheinung selbst, sondern nur von einem Worte angeregt und dieser Reiz nicht stark genug ist, um die Hirnzellen zu kräftigerer Arbeit zu veranlassen, das Gehirn des Erschöpften und Entarteten aber arbeitet Nebelvorstellungen aus, weil es überhaupt nicht im Stande ist, auf einen Reiz mit einer kräftigen Thätigkeit zu antworten. So ist Unwissenheit künstliche Geistesschwäche, wie umgekehrt Geistesschwäche die natürliche organische Unfähigkeit zum Wissen ist. In irgend einem Theile seines geistigen Gesichtskreises ist also Jeder von uns Mystiker. Von allen Erscheinungen, die er nicht selbst beobachtet hat, macht Jeder sich schattenhafte, schwankende Vorstellungen. Aber dennoch wird man den gesunden Menschen von dem, der die Bezeichnung Mystiker verdient, leicht unterscheiden. Es gibt ein sicheres Merkmal für beide. Der gesunde Mensch ist im Stande, aus seinen unmittelbaren Wahrnehmungen scharf umrissene Vorstellun-

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Die Präraphaeliten.

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gen zu gewinnen und ihren wirklichen Zusammenhang zu begreifen. Der Mystiker  dagegen mischt seine vieldeutigen, wolkigen Grenzvorstellungen auch in die

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unmittelbaren Wahrnehmungen, die dadurch gestört und verdunkelt werden. Selbst der abergläubigste Bauer hat von seiner Feldarbeit, der Fütterung seines Viehs und der Hütung seines Grenzsteins sichere Vorstellungen. Er mag an die Wetterhexe glauben, weil er nicht weiß, wie der Regen zu Stande kommt, aber er erwartet keinen Augenblick lang, daß Engel für ihn pflügen werden. Er läßt vielleicht sein Feld segnen, weil ihm die wirklichen Bedingungen des Gedeihens oder Verkommens der Saat unbekannt sind, aber er wird im Vertrauen auf übernatürliche Gunst niemals das Ausstreuen des Saatkorns unterlassen. Beim eigentlichen Mystiker dagegegen durchdringt und überwuchert das Unbegreifliche, weil Formlose, alle Vorstellungen, auch die seiner täglichen Erfahrung; sein Mangel an Aufmerksamkeit macht ihn unfähig, die wirkliche Verkettung selbst der einfachsten Erscheinungen von sicht-|barstem Zusammenhang zu erkennen, und führt ihn [] dazu, ihnen als Ursache irgend eine der unfaßbaren Nebelvorstellungen unterzulegen, die in seinem Bewußtsein wogen und wallen. Diese Kennzeichnung des Mystikers paßt auf keine Menschenerscheinung in der Kunst und Dichtung des Jahrhunderts so vollständig wie auf die Urheber und Fortsetzer der „präraphaelitischen Bewegung“ in England. Die Geschichte dieser Bewegung kann, wenigstens in ihren Umrissen, als bekannt vorausgesetzt werden und es sei hier nur kurz an ihre Hauptzüge erinnert. Drei Maler, Dante Gabriel Rossetti, Holman Hunt und Millais, traten im Jahre  zu einem Bunde zusammen, der sich „Präraphaelitische Verbrüderung“, „Preraphaelitic Brotherhood“ nannte. Als die Gruppe sich gebildet hatte, schlossen sich ihr die Maler F. G. Stephens und James Collinson und der Bildhauer Thomas Woolner an. Sie stellten im Frühling  in London eine Anzahl Gemälde und Statuen aus, die alle außer dem Namenszuge des Urhebers die gemeinsame Bezeichnung „P.R.B.“ trugen. Der Erfolg war niederschmetternd. Das Publikum, dem noch keine hysterischen Fanatiker den Glauben an die Schönheit diese Werke tyrannisch aufgenöthigt hatten und das auch noch nicht unter der Herrschaft der von den ästhetischen Snobs erfundenen Mode stand, ihre Bewunderung als Merkmal der Vornehmheit und der Zugehörigkeit zu einem engen und ausschließlichen Kreise von Geschmacksadeligen anzusehen, trat ihnen unvoreingenommen gegenüber und fand sie unverständlich und drollig. Ihre Betrachtung erweckte ein unauslöschliches Gelächter bei den Gutgelaunten und Grimm bei den Griesgrämigen, die sich ärgern, wenn sie sich zum Narren gehalten glauben. Die Verbrüderung erneuerte ihren Versuch nicht. Die „P.R.B.“-Ausstellung erlebte keine Wiederholung. Der Bund selbst löste sich auf. Seine Mitglieder fügten ihren Namen | nicht mehr die Erkennungs-Buchstaben [] hinzu. Sie bildeten nicht mehr einen geschlossenen Verein, in den man förmlich aufgenommen wurde, sondern nur noch einen losen Freundeskreis mit gemeinsamen Neigungen, den Zu- und Abgänge fortwährend umgestalteten. So näherten sich ihnen Burne Jones und Madox Brown, die ebenfalls für „Präraphaeliten“ gel-

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ten, obschon sie der ursprünglichen „P.R.B.“ nicht angehört hatten. Später wurde die Bezeichnung von bildenden Künstlern auf Dichter ausgedehnt und man versteht unter den Präraphaeliten im Schriftthum außer D. G. Rossetti, der bald den Pinsel mit der Feder vertauschte, Algernon Charles Swinburne und William Morris. Welches sind die treibenden Gedanken und Ziele der präraphaelitischen Bewegung? Ein englisch-deutscher Kritiker von Rang, F. Hüffer, glaubt diese Frage zu beantworten, wenn er sagt: „Ich möchte diese Bewegung die Wiedergeburt mittelalterlicher Gefühlsweise nennen.“ Abgesehen davon, daß diese Worte eigentlich nichts bedeuten, da Jeder sich unter „mittelalterlicher Gefühlsweise“ denken kann, was er will, ist der Hinweis auf das Mittelalter überhaupt nur eine Hervorhebung der alleräußerlichsten Begleiterscheinung des Präraphaelismus und läßt dessen inneres Wesen gänzlich unberührt. Es ist richtig, daß die Präraphaeliten in Bild und Wort eine gewisse Vorliebe, allerdings keine ausschließliche, für das Mittelalter verrathen, doch ist das Mittelalter ihrer Gedichte und Gemälde nicht das geschichtliche, sondern ein fabelhaftes, eine einfache Bezeichnung für das, was außerhalb der Zeit und des Raumes liegt, eine Traumzeit und ein Traumland, in welches alle unwirklichen Gestalten und Handlungen bequem verlegt werden können. Daß sie ihrer außerirdischen Welt einige Züge andichten, welche entfernt an Mittelalterliches erinnern mögen, daß [] sich in ihr Königinen und Ritter, Edel-|fräulein mit Krönlein im goldenen Haar und Pagen mit Federbaretten bewegen, das erklärt sich aus den Vorbildern, welche den Präraphaeliten, vielleicht ihnen selbst unbewußt, vorschwebten. Bewegungen in Kunst und Schriftthum entstehen nicht plötzlich und durch Urzeugung. Sie haben Vorfahren, von denen sie in natürlicher Geschlechtsfolge abstammen. Der Präraphaelismus ist ein Enkel der deutschen und ein Sohn der französischen Romantik. Aber auf ihrer Wanderung durch die Welt hat die Romantik unter dem Einfluß der wechselnden Zeitstimmungen und der Sonderart der verschiedenen Völker solche Aenderungen erlitten, daß im englischen Abkömmling kaum noch eine leise Familien-Aehnlichkeit an die deutsche Ahnin erinnert. Die deutsche Romantik war in ihren Ursprüngen ein Rückschlag gegen den Geist der französischen Encyklopädisten, die das achtzehnte Jahrhundert unbestritten beherrscht hatten. Ihre Kritiken alter Irrthümer, ihre neuen Systeme, welche die Räthsel der Welt und der Menschennatur erklären wollten, hatten zuerst geblendet und fast berauscht. Auf die Dauer konnten sie jedoch nicht befriedigen, denn sie begingen nach zwei Richtungen hin einen großen Fehler. Sie deuteten die Welterscheinung mit ungenügender Kenntniß der Thatsachen und sie hielten den Menschen für ein Verstandeswesen. Stolz auf ihr streng folgerichtiges, mathematisches Denken, übersahen sie, daß dieses eine Methode der Erkenntniß, nicht aber die Erkenntniß selbst ist. Der logische Apparat ist eine Maschine, die nur den Stoff

 Poems by Dante Gabriel Rossetti. With a memoir of the author by Franz Hüffer. Leipzig . S. VIII.

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verarbeiten kann, den man in sie hineingeschüttet hat. Ist sie nicht gefüttert, so läuft sie leer und macht zwar Geräusch, erzeugt aber nichts. Der Stand der Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert erlaubte den Encyklopädisten nicht, ihren logischen Apparat mit Nutzen in Betrieb zu setzen. Sie merkten das aber nicht und führten unbewußt waghalsig mit ihren geringen Mitteln ein System auf, das sie selbstgefällig | für das getreue Abbild des Weltbaues ausgaben. Man kam natürlich [] bald dahinter, daß die vernunftstolzen Encyklopädisten sich und ihre Jünger täuschten. Es wurden Thatsachen bekannt, die ihren vorschnellen Erklärungen widersprachen, und es gab eine ganze Reihe von Erscheinungen, von denen das System überhaupt keine Kenntniß nahm, die es wie ein zu kurzes Mäntelchen nicht bedeckte und die spöttisch an allen Säumen hervorguckten. Da mißhandelte man die Philosophie der Encyklopädisten mit Fußtritten und beging ihr gegenüber denselben Fehler, den auch sie begangen hatte: man verwechselte die Methode der verständigen Kritik mit ihren Ergebnissen in der Hand der Encyklopädisten. Weil diese, aus Mangel an thatsächlichen Kenntnissen, die Natur falsch und willkürlich erklärten, schrieen die enttäuschten Wissensdurstigen, die verständige Kritik an sich sei eine falsche Methode, das folgerichtige Denken führe zu nichts, die Aufschlüsse der Aufklärungs-Philosophie seien ebenso unerwiesen und unerweislich wie die der Religion und der Metaphysik, nur unschöner, kälter und enger, und man stürzte sich mit Inbrunst in alle Tiefen des Glaubens und Aberglaubens, wo zwar der Baum der Erkenntniß nicht wuchs, aber schöne Luftspiegelungen das Auge enzückten und die warmen, durchdufteten Quellen aller Emotionen rieselten. Und noch verhängnißvoller als der Irrthum ihrer Philosophie war die falsche Psychologie der Encyklopädisten. Sie glaubten, das Denken und Handeln des Menschen sei vom Verstande, von den Gesetzen der Folgerichtigkeit bestimmt, und hatten keine Ahnung davon, daß die eigentliche treibende Kraft seiner Gedanken und Thaten die Emotionen sind, jene in den Tiefen der inneren Organe ausgearbeiteten Erregungen, deren Ursprung sich dem Bewußtsein entzieht, die plötzlich wie eine Horde von Wilden ins Bewußtsein einbrechen, nicht angeben, woher sie kommen, sich keiner Polizeiordnung des gesitteten Denkens fügen und gebieterisch Unterkunft fordern. Das ganze | weite Gebiet der organischen Bedürfnisse und der [] ererbten Triebe, das, was E. v. Hartmann das „Unbewußte“ nennt, blieb den Rationalisten verborgen und sie sahen nichts als den engen Kreis des Seelenlebens, der vom Lämpchen des Bewußtseins aufgehellt ist. Eine Dichtung, die den Menschen nach den Anschauungen dieser unzulänglichen Psychologie darstellte, mußte unwahr bis zur Lächerlichkeit sein. Sie hatte keinen Platz für die Leidenschaften und Thorheiten. Sie sah in der Welt nur logische Formeln auf zwei Beinen und mathematische Sätze mit gepudertem Kopf und gestickten Moderöcken. Die natürliche Empfindung rächte sich an dieser Kunstverirrung, indem sie in Sturm und Drang ausbrach und ihrerseits nur noch das Unbewußte, nur noch den Erbtrieb und die organischen Begierden, gar nicht mehr Verstand und Willen, die doch auch vorhanden sind, gelten ließ.

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Der Mysticismus, der sich gegen die Anwendung der rationalistischen Methode auf die Deutung der Welterscheinung, der Sturm und Drang, der sich gegen ihre Anwendung auf das menschliche Seelenleben empörte, wurden die Vorfrucht der Romantik, die nichts ist als die Vereinigung und Uebertreibung dieser beiden aufrührerischen Bewegungen. Daß sie die Form der Schwärmerei für das Mittelalter annahm, war durch die Ereignisse und die Zeitstimmung bedingt. Denn die Anfänge der Romantik fallen mit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands zusammen und der Schmerz der jungen Talente über die Schmach der Fremdherrschaft gab dem ganzen Inhalt ihrer Gedankenwelt eine vaterländische Färbung. Im Mittelalter hatte Deutschland eine Zeit höchster Macht und Geistesblüthe erlebt, jene Jahrhunderte, die zugleich von der Gewalt der hohenstaufischen Weltkaiser, der Herrlichkeit der höfischen Minnedichtung und der Größe der gothischen Dombauten durchleuchtet waren, mußten die aus einer geistig nüchternen, politisch demü[] thigenden Gegenwart voll Ekels ausbrechender Geister | naturgemäß anziehen. Sie flüchteten sich vor Napoleon zu Friedrich Rothbart und erholten sich bei Walther von der Vogelweide vom Widerwillen gegen Voltaire. Die ausländischen Nachahmer der deutschen Romantiker wissen nicht, daß sie, wenn sie auf ihrer Flucht aus der Wirklichkeit im Mittelalter Halt machen, die deutsche Vaterlandsliebe zum Reiseführer haben. Die patriotische Seite der Romantik wurde übrigens nur von den gesündesten Talenten dieser Richtung betont. Bei den anderen enthüllt sie sich mit voller Deutlichkeit als das, was sie ist: eine Erscheinungsform der Entartung. Die Brüder Schlegel gaben in ihrem Athenäum dieses Programm der Romantik: „Der Anfang aller Poesie ist, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft wieder aufzuheben und uns wieder in die schöne Verirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen … Die Willkür des Dichters leidet kein Gesetz über sich.“ Das ist die richtige Denk- und Redeweise des Geistesschwachen, des Imbecillis, der unfähig ist, mit seiner Hirnthätigkeit den Erscheinungen der Welt beobachtend und begreifend zu folgen, und der mit der Selbstgefälligkeit, welche den Imbecillen kennzeichnet, sein Gebrechen für einen Vorzug ausgibt, sein von der ungezügelten Ideen-Assoziation beherrschtes verworrenes Denken für das allein richtige und empfehlenswerthe erklärt und sich dessen rühmt, wofür ihn der Gesunde beklagt. Neben der regellosen Ideen-Assoziation wird bei den meisten Romantikern auch der natürliche Begleiter dieser Hirnschwäche, der Mysticismus beobachtet. Sie bezauberte an der Vorstellung des Mittelalters nicht die Größe und Macht des deutschen Reiches, nicht die Fülle und Schönheit des deutschen Lebens jener Zeit, sondern der Katholizismus mit seinem Wunderglauben und Heiligendienste. „Unser Gottesdienst“, schreibt H. von Kleist, „ist keiner. Er spricht nur zu dem [] kalten Ver-|stand; aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest.“ Unzweifelhaft regt die abgründig dunkle Sinnbildlichkeit des Katholizismus, all das Aeußerliche seiner priesterlichen Bewegungen, seines geheimnißvollen Altardienstes, seiner

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Pracht der Kirchengewänder, liturgischen Geräthe und Kunstwerke, seiner Sinnenüberwältigung mit Orgeldonner und Weihrauchqualm und blitzender Monstranz mehr wirre, vieldeutige Schattenvorstellungen an als der nüchterne Protestantismus. Die Bekehrung der Friedrich Schlegel, Adam Müller, Zacharias Werner, Graf Stolberg zum Katholizismus ist nur folgerichtig, ebenso wie es dem Leser, der den Ausführungen über die Psychologie des Mysticismus folgte, verständlich ist, daß bei diesen Romantikern eine oft bis zur Geilheit gesteigerte Sinnlichkeit die Aufwallungen der Frömmigkeit begleitet. Um ein Menschenalter später als in Deutschland trat die Romantik in Frankreich auf. Die Verspätung ist geschichtlich leicht zu erklären. In den Stürmen der Umwälzung und der napoleonischen Kriege fanden die führenden Geister des französischen Volkes keine Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen. Sie hatten keine Muße, die Philosophie ihrer Encyklopädisten zu prüfen, sie unzulänglich zu finden, sie zu verwerfen und gegen sie aufzufahren. Sie gaben ihre ganze Kraft in rauhen, großen Muskelthaten des Krieges aus und das Bedürfniß nach den Gemüthsbewegungen, welche Kunst und Dichtung geben, machte sich wenig geltend, da es von den weitaus stärkeren Emotionen der Eigenliebe und Verzweiflung durch ruhmreiche Schlachten und weltuntergangmäßige Niederlagen vollauf befriedigt wurde. Erst in der Halbschlummerzeit, die auf Waterloo folgte, traten die ästhetischen Neigungen wieder in ihre Rechte und nun führten dieselben Ursachen zu denselben Ergebnissen wie in Deutschland. Die jungen Fähigkeiten erhoben auch hier die Fahne des Aufruhrs gegen die herrschenden ästhetischen und philosophischen Richtungen. Sie wollten, daß die Einbildungs-|kraft den Verstand [] niederringe und ihm den Fuß auf den Hals setze, und sie verkündeten das Standrecht der Leidenschaft gegen das bedächtige Verfahren der Zucht und Sitte. Durch Frau von Stael und durch den theils persönlich auf seinen französischen Umgang wirkenden, theils früh ins Französische übersetzten A. W. v. Schlegel mit der deutschen Bewegung einigermaßen bekannt, knüpften sie, vielleicht halb unbewußt, an diese an. Von den verschiedenen Triebkräften, die in der deutschen Romantik thätig waren, blieben die vaterländischen und katholisirend-mystischen ohne Wirkung auf den französischen Geist und nur der Vorliebe für das zeitlich und räumlich Entfernte und für das sittlich und geistig Ungebundene erwies sich dieser zugänglich. Die französische Romantik war weder mittelalterlich noch fromm. Sie nahm ihren Aufenthalt lieber in der Renaissance-Zeit, wenn sie sich zeitlich, und im Morgenlande oder in Fabelländern, wenn sie sich räumlich von der Wirklichkeit entfernen wollte. Bei Victor Hugo stehen dem einen Drama „Die Burggrafen“, das im dreizehnten Jahrhundert spielt, alle anderen, „Cromwell“, „Maria Tudor“, „Lucrezia Borgia,“ „Angelo,“ „Ruy Blas,“ „Hernani“, „Marion Delorme,“ „Der König unterhält sich,“ gegenüber, deren Handlung ins sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert verlegt ist, und seinem einzigen mittelalterlichen Roman „Notre-Dame de Paris“ kann man alle anderen entgegenhalten, von „Han d’Islande“, der ein

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Traum-Thule zum Schauplatze hat, bis zu den „Miserables“ und „“, die in einem apokalyptischen Paris und in einer Revolutionsgeschichte zum Gebrauche von Haschischrauchern vorgehen. Der Zug der französischen Romantik zur Renaissance ist natürlich. Diese war die Zeit der großen Leidenschaften und großen Verbrechen, der Marmorpaläste, goldblitzenden Kleider und berauschenden Feste, eine Zeit, in der das Aesthetische über das Zweckmäßige und das Phantastische [] über das Vernünftige vorherrschte und in der selbst | die Missethat schön war, da der Meuchelmord mit ziselirten und damascirten Dolchen ausgeführt und das Gift in Benvenuto Cellinischen Bechern gereicht wurde. Die französischen Romantiker bedienten sich der Unwirklichkeit ihrer Schauplätze und Kostüme hauptsächlich, um ihren Gestalten ohne Zwang alle die bis zur Ungeheuerlichkeit übertriebenen Eigenschaften beilegen zu können, welche der noch nicht vom Schmerz der Niederlage angekränkelte Franzose am Menschen liebte. So lernen wir an den Helden Victor Hugos, Alexander Dumas, Theophile Gautiers, Alfred de Mussets das französische Männer- und Frauenideal kennen. Faustisches Grübeln oder hamletsches Selbstgespräch ist nicht ihre Sache. Sie plaudern unerschöpflich in blendenden Witzworten und Gegensätzen, sie schlagen sich einer gegen zehn, sie lieben wie Herkules in der Thespiden-Nacht und ihr ganzes Leben ist ein einziges Schwelgen in Kampf, Wollust, Wein, Duft und Prunk, eine Art Größenwahn mit Gladiator-, Don Juan- und Monte Christo-Vorstellungen, ein tolles Verprassen unerschöpflicher Schätze an Körperkraft, Lustigkeit und Gold. Diese naiven Menschen-Ideale mußten nothwendig Wämser oder spanische Mäntel tragen und die Sprache unbekannter Zeiten sprechen, da in der Enge des zeitgenössischen Bratenrocks diese Muskelfülle nicht unterzubringen ist und die Pariser Salon-Unterhaltung die Aufrichtigkeiten dieser vom Innersten nach außen gekehrten Seelen nicht zuläßt. In England waren die Geschicke der Romantik denen, die sie in Frankreich erfuhr, genau entgegengesetzt. Hatten die Franzosen aus der deutschen Romantik hauptsächlich, ja ausschließlich, die Auswanderung aus der Wirklichkeit und die Verkündigung des Herrscherrechts der Leidenschaft zur Nachahmung übernommen, so gestalteten die Engländer ebenso ausschließlich ihre katholisch-mystischen Bestandtheile aus. Für sie hatte das Mittelalter blos deshalb eine mächtige [] Anziehung, weil es die Zeit | des kindlichen Buchstabenglaubens, des Schwelgens der frommen Einfalt im persönlichen Umgang mit der Dreifaltigkeit, der heiligen Jungfrau und allen Schutzheiligen war. Handel, Gewerbe und Gesittung waren nirgends in der Welt so entwickelt wie in England. Nirgends arbeiteten die Menschen so angestrengt, nirgends lebten sie unter so künstlichen Bedingungen wie dort. Der Zustand der Entartung und Erschöpfung, den wir heute in allen gesitteten Ländern als Folge dieser Ueberanstrengung beobachten, mußte darum in England früher auftreten als anderwärts und er gibt sich dort in der That schon in den Dreißiger und Vierziger Jahren mit fortwährend steigender Heftigkeit kund. Die Entartungs- und Erschöpfungs-

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dort nothwendig eine religiöse Färbung annehmen. Das angelsächsische Volk ist von Natur ein gesundes und geistesstarkes und hat deshalb den dem kräftigen Normalmenschen eigenen Drang nach Erkenntniß in hohem Grade. Es hat zu jeder Zeit nach dem Warum und Wie der Erscheinungen geforscht und brachte Jedem, der ihm Aufschluß hierüber versprach, leidenschaftliche Theilnahme und Dankbarkeit entgegen. Die bekannte tiefsinnige Rede des anglischen Edeln über das, was dem Leben des Menschen vorhergeht und folgt, eine Rede, die Beda uns in seiner Erzählung von König Edwins Bekehrung zum Christenthum aufbewahrt hat, wird von allen Schriftstellern angeführt, die sich mit den Anfängen der englischen Geistesbildung beschäftigen, z. B. auch von G. Freytag und H. Taine. Sie beweist, daß die Angelsachsen schon zu Beginn des siebenten Jahrhunderts von Sehnsucht nach Verständniß der Welterscheinung verzehrt waren. Diese schöne | und vornehme Wißbegierde nun ist zugleich die Stärke, [] aber auch die Schwäche der Engländer geworden. Sie führte bei ihnen zur gleichlaufenden Entwickelung der Naturwissenschaften und der Theologie. Die Forscher brachten durch mühselige Beobachtung gewonnene Thatsachen, die Gottesgelahrten aus willkürlich ersonnenen Begriffen zusammengeknüpfte Systeme, beide aber erhoben den Anspruch, das Wesen der Dinge zu erklären, und beiden war das Volk tief dankbar, den Theologen freilich mehr als den Gelehrten, weil jene reichlicher und zuversichtlicher lehren konnten als diese. Die Neigung der Menschen, Worte mit Thatsachen und Behauptungen mit Beweisen gleich zu bewerthen, setzt ja den Theologen und Metaphysiker immer in ungeheuern Vortheil gegen den Beobachter. Die Wißbegierde der Engländer hat zugleich die Induktionsphilosophie und den Spiritismus erzeugt. Ihr verdankt die Menschheit Lord Bacon, Harvey, Newton, Locke, Darwin, J. St. Mill, aber auch Bunyan, Berkeley, Milton, die Puritaner, die Quäker und alle religiösen Schwärmer, Apokalyptiker und Medien dieses Jahrhunderts. Wie kein Volk für seine naturwissenschaftlichen Forscher so viel gethan und sie so hoch geehrt hat, so hat auch keines mit solcher Innigkeit und Hingebung im Glauben hauptsächlich die Unterweisung gesucht wie das englische. Drang nach Erkenntniß ist also die Hauptquelle der englischen Religiosität. Neben ihr kommt dann allerdings auch in Betracht, daß die herrschenden Klassen niemals das Beispiel der Gleichgiltigkeit in Glaubenssachen gaben, sondern Religiosität systematisch zu einem Merkmal gesellschaftlicher Vornehmheit machten, im Gegensatze zu Frankreich, wo der Adel des . Jahrhunderts Voltairianismus zum Rangzeichen erhob. Die geschichtliche Entwickelung führte in England zu zwei Ergebnissen, die einander scheinbar ausschließen: zu Kasten-Herrschaft und persönlicher Freiheit. Die Kaste, die im Besitze des Reichthums und der Macht ist, wünscht natürlich ihren | Besitz zu vertheidigen; leiblichen Zwang kann sie bei der starren Unabhän- []

 Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Erster Band: Aus dem Mittelalter.  Leipzig, . S. . H. Taine, Histoire de la littérature anglaise. Paris, . . Band.

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gigkeit des englischen Volkes nicht anwenden, sie pflegt also von jeher die geistigen Gewaltmittel, durch welche sie die niedrigeren Kasten unterwürfig und fügsam erhalten kann, und unter diesen ist die Religion weitaus das wirksamste. So erklärt sich die Gläubigkeit der Engländer und zugleich der religiöse Charakter ihrer Geistesentartung. Das erste Ergebniß der epidemischen Degeneration und Hysterie war die Oxforder Bewegung der Dreißiger und Vierziger Jahre. Wyseman verdrehte alle schwachen Köpfe, Newman ging zum Katholizismus über, Pusey kleidete die ganze englische Hochkirche in römische Tracht. Der Spiritismus kam bald darauf und es ist bezeichnend, daß alle Medien theologische Redensarten im Munde führten und über Paradies und Hölle Aufschlüsse gaben. Die „Revival-“Versammlungen der Siebenziger Jahre und die heutige Heilsarmee sind die unmittelbare Fortsetzung der Oxforder Strömung, nur dem niedrigern Bildungsgrad ihrer Teilnehmer angemessen verschlammt und verpestet. In der Kunst aber suchte die Glaubensschwärmerei der entarteten und hysterischen Engländer ihren Ausdruck im Präraphaelismus. Eine sichere Bestimmung des Vorstellungsinhaltes dieses Wortes ist nicht möglich, denn es ist von Mystikern erfunden und theilt mit allen neuen Wortbildungen der Geistesschwachen und Geistesgestörten die Eigenschaft der Verschwommenheit und Vieldeutigkeit. Die ersten Mitglieder der Verbrüderung glaubten in den Künstlern des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, in den Vorgängern der großen Genies aus der umbrischen und venezianischen Schule, mit ihnen gleichgestimmte Geister zu entdecken, sie nahmen sich eine kurze Zeit lang ihre Malweise zum Muster und schufen die Bezeichnung „Präraphaeliten“, die ihnen sehr gefallen mußte, weil die Vorsilbe „prae“ Vorstellungen von Uraltem, Entferntem, kaum [] Wahrnehmbarem, geheimnißvoll Schattenhaftem erweckt. Bei dem | Worte „Präraphaeliten“ klingen durch Ideen-Assoziation „Prä-Adamiten“, „Prähistorie“ u. s. w. mit, kurz Alles, was unermeßliche Durchblicke ins dämmerige Unbekannte öffnet und dem Geiste träumendes Schweifen in Unzeit und in Fabelländern gestattet. Daß die Präraphaeliten aber gerade in den Quattrocento-Malern ihr Kunstideal verwirklicht fanden, das verdanken sie John Ruskin. Ruskin ist einer der trübsten und falschesten Geister und einer der gewaltigsten Stilisten dieses Jahrhunderts. In den Dienst vollkommen delirirender Gedanken stellt er die wilde Verbissenheit des gestörten Fanatikers und die tiefe Empfindung des Morel’schen „Emotiven“. Seine Geistesverfassung ist die der ersten spanischen Großinquisitoren. Er ist ein Torquemada der Aesthetik. Am liebsten möchte er den mit ihm nicht übereinstimmenden Kritiker oder den an Kunstwerken ohne Andacht vorübergehenden stumpfen Philister lebendig verbrennen. Da aber Scheiterhaufen nicht in seinem Machtbereiche liegen, so rast und tobt er wenigstens mit dem Wort und vernichtet die Ketzer bildlich mit Schimpf und Fluch. Mit seinem unbändigen

 Dies ist keine willkürliche Behauptung. Eins der berühmtesten Gedichte D. G. Rossettis, von dem später die Rede sein soll, „Eden Bower“, behandelt die Prä-Adamitin Lilith.

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Zornmuth verbindet er große Kenntniß aller Einzelheiten der Kunstgeschichte. Wenn er über Wolkenformen spricht, so gibt er die Wolken aus sechzig oder achtzig bestimmten Gemälden wieder, die durch alle Sammlungen Europas verstreut sind, und wohlgemerkt: er that dies in den Vierziger Jahren, als die Lichtbilder nach den Meisterwerken der Kunst, die heute deren vergleichendes Studium so bequem machen, noch nicht bekannt waren. Diese Anhäufung des Thatsächlichen, diese peinliche Gelehrsamkeit eroberte ihm den englichen Geist. Sie erklärt den mächtigen Einfluß, den er auf die Kunstempfindung und die theoretischen SchönheitsAnschauungen der angelsäch-|sischen Welt erlangt hat. Der klare Positivismus des [] Engländers fordert genaue Angaben, Maße, Zahlen. Liefert man man ihm diese, so ist er zufrieden und kritisirt die Ausgangspunkte nicht. Der Engländer nimmt ein Delirium an, wenn es mit Fußnoten auftritt, und eine Faselei erobert ihn, wenn sie von statistischen Tafeln begleitet ist. Es ist echt englisch, daß Milton in der Beschreibung der Hölle und ihrer Bewohner so eingehend und gewissenhaft ist wie ein Landmesser und ein Naturforscher und daß Bunyan den „Zug des Pilgers“ nach dem mystischen Reiche der Erlösung mit der Methode des anschaulichsten Reisebeschreibers, eines Kapitäns Cook oder Burton, schildert. Ruskin hat im denkbar höchsten Grade diese englische Eigenthümlichkeit des Genauen im Unsinnigen und des Messens und Zählens der Fiebergesichte. Im Jahre , fast gleichzeitig mit dem Ausbruche der großen katholisirenden Bewegung, begann Ruskin die aufgeregten Kunststudien zu veröffentlichen, die später unter dem Titel „Modern Painters“ vereinigt wurden. Er war damals ein junger Theologe und als solcher trat er an die Betrachtung der Kunstwerke heran. Die alte Scholastik wollte aus der Philosophie die „Magd der Gottesgelahrtheit“ machen. Der Mysticismus Ruskins hatte diese Absicht mit der Kunst. Die Malerei, die Bildhauerei sollten eine Form des Gottesdienstes oder sie sollten gar nicht sein. Das Kunstwerk galt blos durch den übersinnlichen Gedanken, den es ausdrücken wollte, durch die Andacht, mit der es ersonnen war und die sich darin offenbarte, nicht durch die Meisterhaftigkeit der Form. Aus dieser Anschauung heraus konnte er zu Aussprüchen gelangen, von denen ich einige der bezeichnendsten hier anführen will. „Es scheint mir“, sagt er „daß ein rohes Sinnbild oft wirksamer als ein verfeinertes das Herz bewegen kann | und [] daß Bilder in dem Maße, in welchem sie als Kunstwerke im Range steigen, mit weniger Andacht und mehr Neugierde betrachtet werden … Was der sogenannte Kunstkenner immer sucht und anbetet, das ist der Mensch und seine Einbildungen, der Mensch und seine Kunstkniffe, der Mensch und seine Erfindungen, der armselige, erbärmliche, schwächliche, selbstsüchtige Mensch. Zwischen Scherben und Misthaufen, zwischen besoffene Rüpel und verrunzelte Madamen, durch alle Schauspiele der Ausschweifung und Verworfenheit folgen wir dem sich umhertreibenden Künstler, nicht um eine gesunde Lehre zu empfangen, nicht um von Mitleid

 J. Ruskin, Modern Painters. American edition. Bd. , S.  u. f.

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bewegt oder vor Entrüstung erregt zu werden, sondern um die Geschicklichkeit des Pinsels zu beobachten und im Glitzern der Farbe zu schwelgen … Malerei ist nichts als eine edle und ausdrucksvolle Sprache, unschätzbar als Träger von Gedanken, an und für sich aber nichts … Nicht durch die Art, wie die Dinge dargestellt oder gesagt werden, sondern durch das, was sie darstellen und sagen, wird die Größe des Malers oder Schriftstellers in letzter Linie bestimmt … Die frühen Anstrengungen von Cimabue und Giotto sind die brennenden Botschaften von Weissagung, verkündet von den stammelnden Lippen kleiner Kinder … Das Bild, das mehr und edlere Gedanken in sich schließt, und wären sie noch so unbeholfen ausgedrückt, ist ein größeres und besseres Bild als ein solches, das weniger und minder edle Gedanken, wenn auch noch so schön dargestellt, enthält … Je unzulänglicher die Mittel im Verhältnisse zum Zweck erscheinen, um so mächtiger wird der Eindruck künstlerischer Gewalt sein.“ Diese Sätze wurden für die Richtung der jungen Engländer, die um  künstlerische Neigungen mit dem Mysticismus der Entarteten und Hysteriker verbanden, entscheidend. Sie schließen die Aesthetik der ersten Präraphaeliten in sich. Diese [] hatten die Empfindung, daß Ruskin klar ausgesprochen | habe, was in ihnen dunkel gährte. Das war das Kunstideal, das sie ahnten: die Form gleichgiltig, der Gedanke Alles; je unbeholfener der Vortrag, desto tiefer die Wirkung; Glaubensandacht der einzig würdige Inhalt eines Kunstwerks. Sie musterten die Kunstgeschichte nach Erscheinungen durch, auf welche die von ihnen mit Begeisterung aufgenommenen Theorien Ruskins paßten, und sie fanden, was sie suchten, in den italienischen Primitiven, an denen die Londoner National-Galerie ungewöhnlich reich ist. Da hatten sie vollendete Vorbilder zur Nachahmung: an diese Fra Angelicos, Giottos, Cimabues, an diese Ghirlandajos und Pollajuolos mußten sie anknüpfen. Hier waren schlecht gezeichnete, schon ursprünglich schwach gemalte oder durch die Wirkung der Jahrhunderte entfärbte, entweder verblichene oder verschmauchte, Bilder, welche Vorgänge aus der Leidensgeschichte Christi, aus dem Leben der heiligen Jungfrau oder aus der goldenen Sage mit der Ungeschicklichkeit eines Schülers vortrugen oder kindliche Vorstellungen von Hölle und Paradies versinnlichten und aus denen inniger Glaube und gerührte Andacht sprachen. Sie waren leicht nachzuahmen, denn wenn man Bilder im Stil der Primitiven malte, wurden fehlerhafte Zeichnung, mangelnder Farbensinn, allgemeine künstlerische Unfähigkeit zu Vorzügen, und sie bildeten einen genug heftigen Gegensatz zu allen Ansprüchen des Kunstgeschmacks jenes Jahrzehnts, um den Hang zum Widerspruch, zum Paradoxalen, zur Verneinung, zur Absonderlichkeit zu befriedigen, den wir als Eigenheit der Schwachsinnigen kennen gelernt haben. Ruskins Theorie ist an sich eine delirirende. Sie verkennt die ursprünglichsten Grundsätze der Aesthetik und wirrt mit der Unbewußtheit eines übermüthig spielenden Kindes die Grenzen der verschiedenen Künste durcheinander. Er will in den Werken der bildenden Kunst blos den Gedanken gelten lassen. Das Gemälde [] soll blos den Werth eines Sinnbildes | haben, welches eine religiöse Vorstellung

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 ausdrückt. Ruskin erwägt nicht oder übersieht absichtlich, daß die Lustgefühle,

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welche bei der Betrachtung eines Gemäldes entstehen, unmittelbar nicht durch dessen Gedanken-Inhalt, sondern durch dessen sinnliche Erscheinung angeregt werden. Die Malerei erweckt mit ihren Mitteln: Farbe und Zeichnung (diese ist das genaue Erfassen und Wiedergeben von Unterschieden der Lichtstärke), erstens eine rein sinnlich angenehme Empfindung schöner Einzelfarben und glücklich zusammengestimmter Farben-Harmonien, sie gibt zweitens eine Illusion der Wirklichkeit und mit ihr zusammen das höhere, geistigere Vergnügen des Erkennens der dargestellten Erscheinungen und des Verstehens der Absicht des Künstlers, sie läßt drittens die Erscheinungen mit den Augen des Künstlers sehen und an ihnen Einzeloder Gesammtzüge erkennen, die der nicht künstlerisch begabte Beschauer bis dahin selbst nicht wahrzunehmen vermocht hat. Der Maler wirkt also nur insofern mit den Mitteln seiner eigenen Kunst, als er den Farbensinn angenehm erregt, dem Geiste die Illusion der Wirklichkeit und zugleich das Bewußtsein, daß es Illusion ist, gibt und durch sein tieferes und schärferes Sehen dem Beschauer verborgene Reichthümer der Erscheinung erschließt. Wenn außerdem auch der Vorwurf, die „Anekdote“ des Bildes auf den Beschauer eine Wirkung macht, so ist das nicht mehr das Verdienst des Malers als solchen, sondern des nicht ausschließlich malerischen Verstandes, der den Stoff gewählt und den eigentlich malerischen Fähigkeiten zur Darstellung überliefert hat. Die Wirkung der Anekdote ist nicht mit den Mitteln der Malerei hervorgebracht. Sie hat nicht die Freude des Beschauers an der Farbe, an der Wirklichkeits-Illusion, am bessern Erfassen der Erscheinung zur Grundlage, sondern irgend eine vorbestehende Neigung, eine Erinnerung, ein Vorurtheil. Ein malerisches Bild, die Mona Lisa des Lionardo, entzückt Jeden, dessen Auge genügend erzogen ist. Ein anekdotisches Bild, das nicht | zugleich durch rein [] malerische Eigenschaften ausgezeichnet ist, läßt Jeden kalt, dem die Anekdote an sich gleichgiltig ist, das heißt, dem sie auch dann gleichgiltig wäre, wenn sie ihm nicht mit den Mitteln der Malerei vorgetragen, sondern etwa einfach erzählt würde. Ein russisches Heiligenbild bewegt den Mushik und läßt den Kunstkenner des Westens kalt. Ein Bild, das einen französischen Sieg über preußische Truppen darstellt, würde französische Philister selbst dann rühren und erfreuen, wenn es im Stile von Neu-Ruppin gemalt wäre. Gewiß: es gibt eine Malerei, die nicht Eindrücke des Gesichtssinnes und die von ihnen unmittelbar erregten Emotionen festhalten und im Beschauer wachrufen, sondern Gedanken ausdrücken will und in der das Bild nicht durch sich selbst, durch seine eigene Kunstvollendung, sondern durch seinen geistigen Inhalt wirken soll; aber diese Malerei hat einen besondern Namen: sie heißt Schrift; die Zeichen, die keinen malerischen, sondern blos einen sinnbildlichen Werth haben sollen, bei denen wir von der Form absehen, um nur bei der Bedeutung zu verweilen, diese Zeichen nennen wir Buchstaben; und die Kunst, welche sich solcher Sinnbilder zum Ausdrucke geistiger Vorgänge bedient, ist nicht die Malerei, sondern die Dichtung. Ursprünglich war ja in der That das Bild ein Mittel der Gedanken-Ver-

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sinnlichung und sein Schönheitswerth kam erst in zweiter Reihe, nach seinem Ausdrucksfähigkeits-Werthe, in Betracht; andererseits spielen auch noch heute bei unserer Schrift ästhetische Eindrücke leise mit und eine schöne Handschrift wirkt, vom Inhalte ganz abgesehen, angenehmer als eine häßliche. Aber schon in den Anfängen ihrer Entwickelung schied sich die Malerei, die blos ästhetische Bedürfnisse befriedigen sollte, von der Schrift, welche der Gedanken-Versinnlichung dient, aus der Schilderei wurde die Hieroglyphe, die demotische Schrift, der Buchstabe, und erst Ruskin war es vorbehalten, eine Unterscheidung wieder aufheben [] zu wollen, die sechstausend Jahre | vor ihm die Schriftgelehrten von Theben bereits zu machen gewußt hatten. Die Präraphaeliten gingen weiter als Ruskin, bei dem sie sich alle ihre Leitgedanken geholt haben. Sie mißverstanden sein Mißverständniß. Er hatte blos gesagt, daß die Mangelhaftigkeit der Form durch die Andacht und das edle Gefühl des Künstlers aufgewogen werden könne. Sie aber erhoben es geradezu zum Grundsatze, daß der Künstler, um edles Gefühl und Andacht auszudrücken, in der Form mangelhaft sein müsse. Unfähig, zu beobachten und sich über Vorgänge klare Rechenschaft zu geben wie alle Geistesschwachen, unterschieden sie nicht die eigentlichen Ursachen der Wirkung, welche die Primitiven auf sie übten. Die Bilder rührten und bewegten sie; das, was die Bilder von anderen, welche sie gleichgiltig ließen, am auffallendsten unterschied, war ihre unbeholfene Steifheit; sie sahen also ohne Weiteres in dieser unbeholfenen Steifheit die Quelle ihrer Rührung und Bewegung und ahmten mit großer Mühe und Gewissenhaftigkeit die schlechte Zeichnung der Primitiven nach. Nun ist ja die Unbeholfenheit der Primitiven rührend. Aber weshalb? Weil diese Giottos und Cimabues aufrichtig waren. Sie wollten der Natur näher kommen und sich vom Zwang der gänzlich unwahr gewordenen byzantinischen Schulüberlieferung befreien. Sie rangen mit heftigster Anstrengung gegen die schlechten Gewohnheiten des Auges und der Hand, die ihnen die zünftigen Lehrmeister beigebracht hatten, und das Schauspiel eines solchen Kampfes, wie einer jeden heftigen Kraftanspannung der Persönlichkeit, welche Fesseln irgend einer Art zerreißen und ihr Selbst aus Unfreiheit retten will, ist das anziehendste, das ein Mensch beobachten kann. Der ganze Unterschied zwischen den Primitiven und den Präraphaeliten ist eben, daß jene das richtige Zeichnen und Malen erst erfinden mußten, während diese es vergessen wollten. Wo jene entzücken, müssen diese deshalb abstoßen. [] Es ist der Gegensatz zwischen | dem ersten Lallen eines blühenden Kindes und dem Stammeln eines gehirnerweichten Greises, zwischen kindlich und kindisch. Aber diese Rückkehr zu den Anfängen, diese Ziererei der Einfalt, dieses KindchenSpielen in Wort und Geberde, ist eine häufige Erscheinung bei Geistesschwachen und wir werden sie noch oft bei den mystischen Dichtern antreffen. Der Lehre ihres theoretischen Meisters Ruskin gemäß beginnt für die Präraphaeliten mit Rafael der Verfall der Kunst. Aus einleuchtenden Gründen. Giotto und Cimabue nachzuahmen ist verhältnißmäßig leicht. Um Rafael nachzuahmen,

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Die Präraphaeliten.

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muß man selbst vollendet zeichnen und malen können und das konnten die ersten  Mitglieder der Verbrüderung eben nicht. Ferner lebte Rafael im schönsten Augen-

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blicke der Renaissance. Das Morgenroth des neuen Denkens strahlt in sein Dasein und seine Werke. In seiner Geistesfreiheit eines aufgeklärten Cinquecentisten malte er nicht mehr blos religiöse, sondern auch mythologische und geschichtliche, die Mystiker sagen: weltliche Stoffe. Seine Gemälde rufen nicht mehr blos die Glaubensandacht, sondern auch den Schönheitssinn an. Sie sind nicht mehr ausschließlich Gottesdienst, folglich, sagt Ruskin und wiederholen seine Jünger, sind sie Teufelsdienst und darum verwerflich. Endlich entsprach es der das Denken der Schwachsinnigen beherrschenden Neigung zum Widerspruch, zur Leugnung des Offenkundigen, daß sie gerade den Satz der Kunstgeschichte für falsch erklärten, den man als ihren unanfechtbarsten ansah. Alle Welt sagte seit drei Jahrhunderten: „Rafael ist der Höhepunkt der Malerei.“ Darauf antworteten sie: „Rafael ist der Tiefstand der Malerei.“ Und so kam es, daß sie in die Bezeichnung, die sie sich beilegten, gerade die Anspielung auf Rafael und nicht auf einen andern Meister oder einen andern Abschnitt der Kunstgeschichte aufnahmen. Folgerichtigkeit, Einheitlichkeit ist vom mystischen Denken nicht zu erwarten. Es entspricht seiner Natur, sich in bestän-|digen Widersprüchen zu bewegen. An [] einer Stelle sagt Ruskin: „Das Schlimme ist, daß der Maler es auf sich nimmt, Gottes Werke nach seinem Gutdünken zu ändern, seinen eigenen Schatten auf Alles, was er sieht, zu werfen. Jede Änderung an den Zügen der Natur hat ihren Ursprung entweder in Unfähigkeit, in Trägheit oder in blinder Frechheit.“ Also: der Maler soll die Erscheinung genau wiedergeben, wie er sie sieht, und sich nicht die kleinste Aenderung an ihr gestatten. Und wenige Seiten später sagt derselbe Ruskin: „Es gibt eine ideale Form für jedes Kraut, jede Blume, jeden Baum. Diese Form ist es, zu der jedes Individuum der Gattung zu gelangen das Bestreben hat, wenn es vom Einflusse des Zufalls oder der Krankheit befreit ist.“ Und diese Idealform zu erkennen und wiederzugeben, fährt er fort, ist die eine große Aufgabe des Malers. Daß die eine Aufstellung die andere vollständig aufhebt, braucht kaum nachgewiesen zu werden. Die „Idealform“, der jede Erscheinung zustrebt, sieht der Maler nicht mit den Augen des Leibes vor sich. Er trägt sie nach einer vorgefaßten Meinung in die Erscheinung hinein. Er hat aber mit individuellen Formen zu thun, die von der Idealform „durch Zufall oder Krankheit“ abweichen. Um sie malend auf ihre Idealform zurückzuführen, muß er das von der Natur Gegebene ändern. Ruskin fordert, daß er es thue, sagt aber gleichzeitig, daß jede Aenderung „Unfähigkeit, Trägheit, oder blinde Frechheit“ ist! Natürlich kann nur eine der beiden einander ausschließenden Behauptungen wahr sein. Ohne Frage ist es die erste. Die „Idealform“ ist eine Annahme, keine Wahrnehmung. Die Scheidung des

 Ruskin, a. a. O. S. .  Ruskin, a. a. O. S. .

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Wesentlichen vom Zufälligen in der Erscheinung ist Abstraktion, ist Arbeit des Verstandes, nicht des Auges und des Kunstgefühls. Die Malerei hat aber ihrem [] Wesen nach das Sichtbare, | nicht das Vermuthete, das Wirkliche, nicht das Mögliche und Wahrscheinliche, das Konkrete, nicht das Abstrakte zum Gegenstande. Von der Erscheinung die einen Züge als unwesentlich und zufällig ausschließen und die anderen als wesentlich und nothwendig beibehalten heißt die Erscheinung auf ein Schema zurückführen. Die Aufgabe der Kunst ist aber nicht das Schematisiren, sondern das Individualisiren. Einmal, weil das Schema eine Vorstellung von dem Gesetze, welches die Erscheinung bestimmt, zur Voraussetzung hat, weil diese Vorstellung irrig sein kann, weil sie mit den herrschenden wissenschaftlichen Theorien wechselt, der Maler aber keine wechselnden wissenschaftlichen Theorien, sondern Sinneseindrücke wiedergibt, und zweitens, weil das Schema Gedankenarbeit und nicht Emotion erregt, die Aufgabe der Kunst aber das Erregen von Emotion ist. Die Präraphaeliten hatten jedoch keinen Sinn für diese Widersprüche und sie folgten blind allen Weisungen Ruskins. Sie schematisirten die Menschengestalt, aber sie gaben alles Nebenwerk treu wieder und hatten nicht die „Frechheit, Unfähigkeit oder Trägheit“, etwas daran zu ändern. Sie malten mit größter Genauigkeit die Landschaft, in der ihre Personen standen, und die Gegenstände, die sie umgaben. Der Pflanzenkundige kann jedes Gras, jede Blume bestimmen, der Tischler die Verzapfung oder Leimung jedes Fußschemels, die Holzart, die Firnissung der Möbel erkennen. Und zwar ist diese gewissenhafte Deutlichkeit ganz dieselbe im Vordergrunde wie im äußersten Hintergrunde, wo nach den Gesetzen der Optik die Dinge kaum mehr wahrnehmbar sein sollten. Diese gleichmäßig deutliche Wiedergabe aller Erscheinungen eines Sehfeldes ist der malerische Ausdruck der Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit. Im Denken unterdrückt die Aufmerksamkeit einen Theil der (durch Ideen-Assoziation oder [] Wahrnehmung) ins Bewußtsein gelangenden Vorstellungen und läßt nur | eine herrschende Gruppe der letzteren bestehen. Im Sehen unterdrückt die Aufmerksamkeit einen Theil der Erscheinungen des Sehfeldes, um blos den Theil, der eben ins Auge gefaßt wird, deutlich wahrzunehmen. Betrachten heißt, einen Gegenstand scharf sehen und die übrigen nicht beachten. Der Maler muß betrachten, wenn er uns deutlich machen will, welche Erscheinung ihn gefesselt hat und was sein Bild uns zeigen soll. Wenn er nicht bei einem bestimmten Punkte des Sehfeldes betrachtend verweilt, sondern das ganze Sehfeld gleichmäßig vorträgt, so können wir nicht errathen, was er uns eigentlich sagen wollte und worauf er unsere Aufmerksamkeit zu lenken wünschte. Eine solche Malerei ist der unzusammenhängenden Rede des Geistesschwachen gleichzustellen, der nach dem Gange der Ideen-Assoziation schwatzt, aus dem Zehnten ins Hundertste geräth und weder selbst weiß, wo er eigentlich hinauswill, noch es uns klar machen kann; sie ist gemalte Faselei, Echolalie mit dem Pinsel. Aber gerade diese Malweise hat auf die zeitgenössische Kunst Einfluß gewonnen. Sie ist der präraphaelitische Beitrag zu deren Entwickelung. Auch die nicht

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Die Präraphaeliten.

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mystischen Maler lernten das Beiwerk genau betrachten und ehrlich wiedergeben, wobei sie allerdings klüglich vermieden, in den Fehler ihrer Vorbilder zu verfallen und die Einheitlichkeit ihres Werkes aufzuheben, indem sie auch dessen fernste Hintergründe mit peinlich sauber gemalten Stillleben füllten. Die botanisch richtig vorgetragenen Rasenstücke, Blumen und Bäume, die geologisch wahren Felsen, Bodenflächen und Bergbildungen, die deutlichen Teppich- und Wandtapeten-Muster, die wir in den neuen Bildern finden, sind auf Ruskin und die Präraphaeliten zurückzuführen. Diese Mystiker glaubten Geistesverwandte der Primitiven zu sein, weil sie wie diese religiöse Bilder malten. Aber das war eine Selbsttäuschung. Giotto, Cimabue, Fra | Angelico waren keine Mystiker. Oder genauer: sie gehörten zur Gattung der [] Mystiker aus Unwissenheit, nicht aus organischer Geistesschwäche. Der mittelalterliche Maler, der einen religiösen Auftritt darstellte, war überzeugt, etwas vollkommen Wahres zu malen. Eine Verkündigung, Auferstehung, Himmelfahrt, eine Begebenheit aus der Heiligengeschichte, ein Auftritt aus dem Leben in Paradies oder Hölle besaß für ihn denselben unbezweifelten Charakter der Wirklichkeit wie etwa ein Trinkgelage in einer Soldatenschenke oder ein Prunkmahl in einem Herrnpalaste. Er war Realist, wenn er Uebersinnliches abbildete. Ihm wurde die Glaubenssage als eine Thatsache erzählt, er war von ihrer buchstäblichen Wirklichkeit durchdrungen und gab sie so wieder, wie er jede andere wahre Geschichte vorgetragen hätte. Der Beschauer trat an das Bild mit denselben Ueberzeugungen heran. Das religiöse Kunstwerk war die Armenbibel. Es hatte für den Menschen des Mittelalters dieselbe Bedeutung wie die Abbildungen in sittengeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Werken für unsere Zeitgenossen. Es sollte erzählen und belehren und mußte darum genau sein. Wir wissen aus der rührenden Strophe Villons, wie das lesensunkundige | Volk des Mittelalters Kirchengemälde ansah. Der lüderli- [] che Dichter läßt seine Mutter zur heiligen Jungfrau sprechen: „Ich bin ein armes und altes Weib, das nichts weiß und nie einen Buchstaben gelesen hat; im Kloster, wo ich Pfarrkind bin, sehe ich ein gemaltes Paradies, wo Harfen und Lauten sind,

 „Ballade que Villon feit à la requeste de sa mère pour prier Nostre Dame.“

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„Femme je suis povrette et ancienne Qui riens ne sçay, oncques lettres ne leuz, Au Moustier voy (dont suis parroissienne) Paradis painct, ou sont harpes et luz, Et ung enfer, ou damnez sont boulluz, L’ung me faict paour, l’autre joye et liesse, La joie avoir faictz moy (haulte deesse) A qui pecheurs doivent tous recourir Comblez de foy, sans faincte ne paresse, En ceste foy je vueil vivre et mourir.“ Es ist bezeichnend, daß der Präraphaelite Rossetti gerade dieses Gedicht Villons übersetzt hat. („His mothers service to our Lady.“ Poems. S. .)

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und eine Hölle, wo Verdammte gesotten werden; diese flößt mir Angst ein, jenes Freude und Fröhlichkeit. Laß mich die Freude haben, hohe Göttin, deren Hilfe alle Sünder anrufen müssen; fülle mich mit Glauben ohne Hehl und Unterlaß; in diesem Glauben will ich leben und sterben.“ Mit dieser schlichten Gläubigkeit wäre eine mystische Malweise unverträglich gewesen. Der Maler vermied denn auch alles Schwimmende, alles Geheimnißvolle; er malte nicht nebelhafte Träume und Stimmungen, sondern positive Urkunden. Er hatte zu überzeugen und konnte es, denn er war selbst überzeugt. Ganz anders die Präraphaeliten. Sie malten keine nüchternen Anschauungen, sondern Emotionen. Sie trugen deshalb in ihre Gemälde geheimnißvolle Anspielungen und dunkle Sinnbilder hinein, die mit der Wiedergabe sichtbarer Wirklichkeit nichts zu thun haben. Ich möchte nur ein Beispiel anführen: Holman Hunts „Todesschatten.“ Auf diesem Bilde steht Christus in morgenländischer Gebetstellung, mit ausgebreiteten Armen, und der auf den Boden fallende Schatten seines Körpers zeigt die Form eines Kreuzes. Hier haben wir ein lehrreiches Muster der mystischen Denkvorgänge. Holman Hunt stellt sich Christus im Gebet vor. Durch Ideen-Assoziation erwacht gleichzeitig die Vorstellung des spätern Kreuzestodes Christi in ihm. Er will mit den Mitteln der Malerei diese Ideen-Assoziation sichtbar machen. Und so läßt er den lebenden Christus einen Schatten werfen, der die Kreuzesform annimmt, also das Geschick des Heilands weissagt, wie wenn irgend eine geheimnißvolle unbegreifliche Gewalt seinen Leib zu den Sonnenstrahlen so [] gerichtet hätte, daß sich eine wunderbare | Verkündigung seiner Bestimmung auf den Boden schreiben mußte. Die Erfindung ist vollkommen unsinnig. Es wäre von Christus eine kindische Spielerei gewesen, seinen erhabenen Opfertod, sei es schelmisch, sei es prahlerisch, vorher mit seinem Schatten auf den Boden zu zeichnen. Das Schattenbild hätte auch keinen Zweck gehabt, denn kein Zeitgenosse Christi hätte die Bedeutung des Schattenkreuzes verstanden, ehe Christus den Kreuzestod erlitten hatte. Aber in Holman Hunts Bewußtsein ist durch die Emotion das Bild des betenden Christus und des Kreuzes gleichzeitig geweckt und er knüpft die beiden Vorstellungen ohne Rücksicht auf ihre vernünftige Zusammengehörigkeit irgendwie aneinander. Wenn ein Primitiver denselben Gedanken zu malen gehabt hätte, nämlich den betenden Christus, den die Ahnung seines nahen Opfertodes erfüllt, so hätte er uns im Bilde einen realistischen Christus im Gebete und in einer Ecke eine ebenso realistische Kreuzigung gezeigt, aber er hätte niemals versucht, diese beiden verschiedenen Auftritte durch eine schattenhafte Verknüpfung in einen einzigen zu verschmelzen. Dies ist der Unterschied zwischen der religiösen Malerei kräftiger, gesunder Gläubiger und emotiver Entarteter. Im Laufe der Zeit haben die Präraphaeliten viele ihrer anfänglichen Wunderlichkeiten abgelegt. Millais und Holman Hunt üben nicht mehr die Ziererei gewollt schlechten Zeichnens und kindlich thuenden Nachlallens der Sprache Giottos. Sie haben von den Leitgedanken der Schule nur die sorgfältige Wiedergabe des Unwesentlichen und die Gedankenmalerei beibehalten. Ein wohlwollender Kritiker,

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Die Präraphaeliten.

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Ed. Rod, sagt von ihnen: „Sie waren selbst Schriftsteller und ihre Malerei ist Schriftthum.“ Dieses Wort findet auf die Schule noch immer Anwendung. Einige der frühesten Präraphaeliten haben es begriffen. Sie haben rechtzeitig erkannt, daß sie sich im Berufe geirrt haben, | und sind von einer Malerei, die eigentlich [] Gedankenschrift war, zur wirklichen Schrift übergegangen. Der namhafteste unter ihnen ist Dante Gabriel Rossetti, dieser in England geborene Sohn eines italienschen Carbonaro und Dante-Gelehrten. Sein Vater gab ihm den Namen des großen Dichters ins Leben mit und dieser ausdrucksvolle Taufname wurde zu einer Dauer-Suggestion, die Rossetti auch gefühlt und, vielleicht nur halb bewußt, anerkannt hat. Er ist das lehrreichste Beispiel zur oft angeführten Behauptung Balzac’s vom bestimmenden Einfluß eines Namens auf die Entwickelung und Geschicke seines Trägers. Rossettis ganze dichterische Empfindung wurzelt in Dante. Seine Weltanschauung ist ein undeutlicher Abklatsch derjenigen des Florentiners. In alle seine Vorstellungen spielt eine leise oder laute Erinnerung an die Göttliche Komödie oder das Neue Leben herein. Die Zergliederung eines seiner berühmtesten Gedichte, „The blessed damozel“ („das gottselige Fräulein“), wird uns sowohl dieses Schmarotzen auf dem Leibe Dantes erkennen lassen als auch einige bezeichnende Eigenthümlichkeiten der Denkarbeit eines mystischen Gehirns enthüllen. Die erste Strophe lautet: „Das selige Fräulein lehnte sich über das goldene Geländer des Himmels heraus; ihre Augen waren tiefer als die Tiefe der Wasser, die der Abend glättet. Sie hatte drei Lilien in der Hand und der Sterne in ihrem Haare waren sieben.“ Dieses ganze Bild der verlorenen Geliebten, die aus dem palastähnlich gedachten Himmel im Paradieses-Schmucke auf ihn niederschaut, ist ein Widerschein aus Dantes „Paradies“, . Gesang, wo die selige Jungfrau aus dem Monde zum Dichter spricht. Sogar Einzelheiten finden wir wieder, z. B. die tiefen und stillen Wasser („… ver per aque nitide e tranquille Non sì profonde, che i fondi sien persi …“). Die „Lilien in der Hand“ hat er aus den Bildern der | Primitiven, doch klingt hier auch der Morgen- [] gruß aus dem „Purgatorio“ (. Gesang), „Manibus o date lilia plenis“, leise mit. Er bezeichnet die Geliebte mit dem anglonormännischen Worte „damozel.“ Dadurch macht er die scharfen Umrisse der Vorstellung eines Mädchens oder Fräuleins künstlich verschwommen und hüllt das klare Bild in Wolkenschleier. Bei dem Worte „Mädchen“ würde man eben nur an ein Mädchen denken und an sonst nichts. Bei „damozel“ erwachen im Bewußtsein des englischen Lesers dunkle Vorstellungen von schlanken Edelfräulein auf verschossenen alten Tapeten, von hochmüthigen normännischen Panzerrittern, von etwas Entferntem, Uraltem, Halbvergessenem; „damozel“ rückt die zeitgenössische Geliebte in die geheimnißvollen Tiefen des Mittelalters zurück und vergeistigt sie zu einer Zaubergestalt der Ballade. Dieses eine Wort erweckt alle die Dämmerstimmungen, welche die Gesammtheit

 Edouard Rod, Etudes sur le XIX. siècle. Paris et Lausanne, . S. .  Rossetti, Poems. S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

der romantischen Dichter und Schriftsteller in der Seele des zeitgenössischen Lesers als Niederschlag zurückgelassen haben. In die Hand der „damozel“ legt Rossetti drei Lilien, um das Haupt flicht er ihr sieben Sterne. Diese Zahlen sind natürlich nicht zufällig. Sie gelten seit den ältesten Zeiten für geheimnißvoll und heilig. Die „drei“ und die „sieben“ sind Hinweise auf etwas Unbekanntes und Tiefsinniges, das der ahnende Leser zu begreifen versuchen möge. Man sage nicht, daß meine Kritik der Mittel, mit welchen Rossetti seine eigenen traumhaften Geisteszustände auszudrücken und im Leser ähnliche hervorzurufen sucht, sich eigentlich gegen alle Lyrik und die Dichtung überhaupt wende und daß ich diese verurtheile, wenn ich jene als Ausfluß mystischer Geistesschwäche hinstelle. Gewiß ist es eine Besonderheit aller Dichtung, Worte zu gebrauchen, die neben den in ihnen enthaltenen bestimmten Vorstellungen auch Emotionen wecken und in das Bewußtsein hereinklingen machen sollen. Aber das Verfahren [] eines gesunden Dichters ist von dem eines mystisch Geistes-|schwachen doch gänzlich verschieden. Das beziehungsvolle Wort, das jener anwendet, hat an sich einen verständigen Sinn; es ist ferner geeignet, in jedem gesunden Menschen Emotionen zu erregen; die erregten Emotionen beziehen sich endlich auf den Gegenstand des Gedichtes. Ein Beispiel wird dies klar machen. Uhland singt das „Lob des Frühlings“ mit diesen Worten: „Saatengrün, Veilchenduft, Lerchenwirbel, Amselschlag, Sonnenregen, linde Luft. Wenn ich solche Worte singe, Braucht es dann noch große Dinge, Dich zu preisen, Frühlingstag?“

Jedes Wort der ersten drei Verszeilen schließt eine sachliche Vorstellung in sich. Jedes von ihnen erweckt in einem natürlich empfindenden Menschen Frohgefühle. Diese Gefühle zusammen geben die Stimmung, mit welcher das Erwachen des Frühlings die Seele erfüllt, und sie zu erwecken war gerade die Absicht des Dichters. Wenn dagegen Rossetti die mystischen Zahlen „drei“ und „sieben“ in die Schilderung seiner „damozel“ hineinflicht, so bedeuten diese Zahlen an sich gar nichts; sie werden ferner in einem geistig gesunden Leser, der an mystische Zahlen nicht glaubt, gar keine Emotion hervorrufen; aber selbst bei dem entarteten und hysterischen Leser, auf den die Kabbala Eindruck macht, werden die von den heiligen Zahlen erregten Emotionen sich nicht auf den Gegenstand des Gedichtes, nämlich die Erscheinung einer verstorbenen Geliebten, beziehen, sondern höchstens eine allgemeine Gemüthsbewegung hervorrufen, die vielleicht entfernt auch der „damozel“ zu Gute kommen mag. Doch fahren wir in der Zergliederung des Gedichtes fort. Dem seligen Fräulein scheint es, daß es erst einen Tag lang eine von Gottes Chorsängerinen sei; den Hinterbliebenen hat dieser eine Tag thatsächlich zehn Jahre bedeutet. „Einem war [] er zehn Jahre von Jahren.“ „To one, it is ten years of | years.“ Diese Zeitrechnung

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 ist echt mystisch. Sie bedeutet nämlich gar nichts. Vielleicht stellt sich Rossetti

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vor, daß es eine höhere Einheit gebe, zu welcher sich das einzelne Jahr so verhielte wie ein Tag zu einem Jahr, daß also  Jahre eine Art Jahr höherer Ordnung ausmachen würden. Mit einem „Jahr von Jahren“ wären also  Jahre gemeint. Da Rossetti diesen Gedanken aber nur unvollständig und verschwommen bildet, so drückt er ihn auch nicht entfernt so verständlich aus, wie er hier ausgesprochen ist. „Es war an der Ringmauer von Gottes Hause, daß sie stand; von Gott über die leere Tiefe gebaut, die nichts Anderes ist als der Anfang des Raumes; so hoch, daß sie, von dort niederschauend, kaum die Sonne erblicken konnte. Das Haus liegt im Himmel, jenseits der Aetherflut, als eine Brücke. Unterhalb kräuseln die Gezeiten von Tag und Nacht die Leere mit Flamme und Dunkelheit bis tief hinab, wo diese Erde wie eine grillenhafte Motte dahinfährt. Rings um sie sprachen Liebende, die inmitten der Zurufe unsterblicher Liebe eben wieder zusammengekommen waren, immer und immer untereinander ihre verzückten neuen Namen aus. Und die zu Gott emporsteigenden Seelen gingen wie dünne Flammen neben ihr vorbei … Von dem festen Himmelsorte aus sah sie die Zeit wie einen Puls wild durch alle Welten beben.“ Ich überlasse es dem Leser, sich alle Einzelheiten dieser Beschreibung vorzustellen und sie zu einem Gesammtbilde zu vereinigen. Wenn ihm dies trotz redlicher Anstrengung nicht gelingt, so sage er sich ruhig, daß es nicht seine, sondern Rossettis Schuld ist. Die damozel beginnt zu sprechen. Sie wünscht, der Geliebte wäre schon zu ihr gekommen. Denn kommen wird er ja. „Wenn um sein Haupt der Strahlenkranz befestigt ist“ (das gräßlich prosaische Wort „clings“ gestattet keine edlere Uebersetzung), „und er weiß gekleidet ist, will ich ihn bei der | Hand nehmen und mit ihm [] zu den tiefen Brunnen des Lichts gehen. Wir wollen hinuntersteigen wie zu einem Strom und dort im Angesichte Gottes zusammen baden.“ Man beachte, wie hier inmitten des Schwulstes übersinnlich sinnloser Redensarten die Vorstellung eines gemeinsamen Bades deutliche Gestalt annimmt. Eine Begleitung von Sinnlichkeit fehlt im mystischen Dusel nie. „Wir zwei werden die Haine suchen, wo die Herrin Maria ist, mit ihren fünf Hoffräulein, deren Namen fünf süße Symphonien sind, Cecily, Gertrude, Magdalen, Margaret und Rosalys.“ Diese Aufzählung von fünf Frauennamen bildet zwei Verszeilen. Derartige blos aus Namen bestehende Verse sind kennzeichnend für den Mystiker. Hier hört das Wort auf, das Sinnbild einer bestimmten Vorstellung oder eines Begriffs zu sein, und sinkt zum bedeutungslosen Ton hinab, der nur noch die Bestimmung hat, durch Ideen-Assoziation allerlei angenehme Emotionen zu erwecken. In diesem Falle erregen die fünf Frauennamen gleitende Schattenvorstellungen von schönen jungen Mädchen, „Rosalys“ außerdem noch die von Rosen und Lilien, und die beiden Verse geben zusammen die Märchenstimmung des Lustwandelns in einem

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blühenden Garten, wo zwischen Lilien und Rosen weiße und rosige schlanke Jungfrauen auf und niedergehen. Das selige Fräulein malt sich das Bild der Vereinigung mit dem Geliebten noch weiter aus und dann heißt es: „Sie legte ihre Arme auf das goldene Geländer und nahm ihr Antlitz zwischen die Hände und weinte. Ich hörte ihre Thränen.“ Diese Thränen sind unverständlich. Das selige Fräulein lebt nach seinem Tode in höchster Wonne, in einem goldenen Palaste, im Angesichte Gottes und der heiligen Jungfrau. Was schmerzt sie nun? Daß ihr Geliebter noch nicht bei ihr ist? Zehn Jahre der sterblichen Menschen sind ihr wie ein Tag. Wenn ihrem Geliebten selbst [] beschieden sein | sollte, ein sehr alter Mann zu werden, so wird sie höchstens fünf oder sechs ihrer Tage zu warten haben, bis er an ihrer Seite erscheint, und nach dieser winzigen Spanne Zeit blüht ihnen beiden die ewige Seligkeit. Es ist also nicht einzusehen, weshalb sie Kummer hat und Zähren vergießt. Dies erklärt sich nur aus dem verworrenen Denken des mystischen Dichters. Er stellt sich ein Freudenleben nach dem Tode vor, aber gleichzeitig dämmern in seinem Bewußtsein dunkle Bilder von Vernichtung der Persönlichkeit und endgiltiger Trennung durch den Tod und erregen die schmerzlichen Empfindungen, von denen die Vorstellungen des Sterbens, des Verwesens, des Scheidens von allen Lieben begleitet zu sein pflegen. So gelangt er dazu, eine verzückte Hymne der Unsterblichkeit mit Thränen zu schließen, die nur dann einen Sinn haben, wenn man an die Fortdauer nach dem Tode nicht glaubt. Auch sonst finden sich in dem Gedichte Widersprüche, welche erkennen lassen, wie Rossetti keine einzige seiner Vorstellungen so scharf gebildet hat, daß sie gegensätzliche, mit ihr unverträgliche ausschließt. So sind einmal die Verstorbenen in Weiß gekleidet und mit einem Strahlenkranz geschmückt, sie erscheinen in Paaren und nennen einander mit Kosenamen, sie müssen also als menschenähnliche Erscheinungen gedacht werden, ein andermal sind die Seelen wieder „dünne Flammen“, die an dem Edelfräulein vorbeihuschen. Jede einzelne Vorstellung in dem Gedichte, der wir nüchtern nachgehen wollen, verflüchtigt sich auf diese Weise unfehlbar in Finsterniß und Formlosigkeit. In der Göttlichen Komödie, deren summender Widerhall in Rossettis Seele tönt, finden wir nichts dergleichen. Das macht: Dante, wie die primitiven Maler, war ein Mystiker aus Unwissenheit, nicht aus Geistesschwäche der Entartung. Der Rohstoff seines Denkens, das Thatsachen-Material, womit er arbeitete, war falsch, aber dessen Benutzung durch seinen Geist war sicher und folgerichtig. Alle seine [] Vorstellungen sind klar, wohl- | gefügt, von inneren Widersprüchen frei. Seine Hölle, sein Fegefeuer, sein Paradies baute er aus der Wissenschaft seiner Zeit auf, die eben ihre Kenntniß von der Welt ausschließlich aus der dogmatischen Theologie schöpfte. Dante war mit dem System seines Zeitgenossen Thomas von Aquino vertraut (er war neun Jahre alt, als der doctor angelicus starb) und davon durchdrungen. Den ersten Lesern des Inferno mußte das Gedicht mindestens so thatsächlich begründet und überzeugend erscheinen wie etwa dem heutigen Publikum Häckels Natürliche Schöpfungsgeschichte. Spätere Jahrhunderte werden unsere

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Die Präraphaeliten.

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Vorstellungen von einem Atom, das blos „ein Kraftzentrum“ sein soll, von der  Lagerung der Atome im Molekel einer organischen Verbindung, vom Aether und

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seinen Schwingungen vielleicht, ja wahrscheinlich, ebenso als dichterische Träume erkennen wie wir die Vorstellungen des Mittelalters vom Aufenthaltsorte der Seelen verstorbener Menschen, aber man hat darum doch nicht das Recht, einen Helmholtz oder William Thompson als Mystiker zu bezeichnen, weil sie mit jenen Begriffen arbeiten, unter denen sie selbst sich doch schon heute nichts Bestimmtes vorstellen können. So darf man auch Dante keinen Mystiker nennen, wie es ein Rossetti ist, der sein „Seliges Fräulein“ nicht aus der wissenschaftlichen Erkenntniß seiner Zeit, sondern aus einem Nebel unausgebildeter und miteinander in stetem Hader liegender Vorstellungskeime heraus dichtet. Dante folgte mit tiefdringenden Beobachter-Augen der Weltwirklichkeit und trug ihr Abbild sogar in seine Hölle hinab, Rossetti ist nicht im Stande, die Wirklichkeit zu verstehen oder auch nur zu sehen, weil er der dazu nothwendigen Aufmerksamkeit unfähig ist, und da er diese Schwäche fühlt, so überredet er sich, menschlicher Gewohnheit entsprechend, daß er das nicht wolle, was er in Wirklichkeit nicht kann. „Was liegt mir daran,“ sagte Rossetti einmal, „ob die Erde sich um die | Sonne dreht oder die [] Sonne um die Erde.“ Ihm liegt nichts daran, weil er unfähig ist, es zu begreifen. Es ist natürlich nicht möglich, alle Gedichte Rossettis so eingehend zu untersuchen wie „The blessed damozel“, aber es ist auch nicht nöthig, da wir überall nur dasselbe Gemisch von Uebersinnlichkeit und Wollust, dasselbe schattenhafte Denken, dieselben unsinnigen Verknüpfungen einander ausschließender Vorstellungen antreffen würden. Auf einige Eigenthümlichkeiten des Dichters muß aber noch hingewiesen werden, weil sie die Hirnarbeit schwachsinniger Entarteter kennzeichnen. Zunächst fällt seine Vorliebe für Kehrreime auf. Der Kehrreim ist ein vortreffliches Kunstmittel, um einen Seelenzustand zu enthüllen, in welchem eine starke Emotion vorherrscht. Dem Liebenden, der sich nach der Geliebten sehnt, ist es natürlich, daß sich ihm zwischen allen anderen Gedanken, denen er zeitweise nachhängt, immer wieder die Vorstellung der Geliebten aufdrängt. Ebenso ist es verständlich, daß z. B. der Unglückliche, den Selbstmordgedanken quälen, die mit seinem Seelenzustande zusammenklingende Vorstellung der auf einem Nachtspaziergange erblickten Armensünderblume nicht loswerden kann. (Siehe Heines Gedicht „Am Kreuzweg wird begraben …“, in welchem der Vers „Die Armensünderblum’“ am Ende der beiden Strophen schauerlich bedeutungsvoll wiederkehrt.) Rossetti’s Kehrreime sind aber von diesem natürlichen und verständlichen Kehrreim verschieden. Sie haben nichts mit der im Gedichte ausgedrückten Emotion oder Handlung zu thun. Sie stehen fremd im Vorstellungskreise des Gedichtes. Mit einem Worte: sie haben den Charakter einer Zwangsvorstellung, die der Kranke nicht unterdrücken kann, obschon er erkennt, daß sie zu dem Gedankeninhalt

 Rod, a. a. O. S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

seines Bewußtseins in einem gegebenen Augenblicke keinerlei vernünftige Beziehung hat. In dem Gedichte „Troy town“ wird erzählt, wie Helena, lange ehe Paris [] sie entführt hat, in Sparta im Tempel der Venus | kniet und, trunken von der Ueppigkeit ihres eigenen Leibes, die Liebesgöttin brünstig anfleht, sie einem liebelechzenden Manne, wo und wer er auch sei, zum Geschenke zu machen. Auf die Albernheit dieses Grundgedankens sei nur im Vorübergehen aufmerksam gemacht. Die erste Strophe lautet: „Heavenborn Helen, Spartas queen, (O Troy town!) Had two breasts of heavenly sheen, The sun and the moon of the hearts desire: All Loves lordship lay between. (O Troy’s down, Tall Troy’s on fire.) Helen knelt at Venus shrine (O Troy town!) Saying: „A little gift is mine, A little gift for a hearts desire. Hear me speak and make me a sign! (O Troy’s down, Tall Troy’s on fire!)“

Und so kehrt durch vierzehn Strophen immer nach dem ersten Vers das „O Stadt Troja!“, im dritten Vers das Ende „Herzens Begierde“ und nach dem vierten Vers [] das „O Troja ist danieder, das hohe Troja steht in Feuer“ wieder. Was | Rossetti will, ist leicht zu erkennen. Bei ihm wiederholt sich der Denkvorgang, den wir in Holman Hunts Bilde: „Der Schatten des Todes“ kennen gelernt haben. Wie er selbst beim Gedanken an Helena in Sparta durch Ideen-Assoziation auf die Vorstellung der späteren Geschicke Trojas geräth, so soll der Leser, während er die junge, von ihrer Schönheit berauschte Königin noch in Sparta sieht, gleichzeitig das Bild der entfernten tragischen Folgen ihres Liebesverlangens gegenwärtig haben. Aber er versucht nicht, diese beiden Vorstellungskreise vernünftig zu verknüpfen, sondern spricht zwischendurch litaneiartig eintönig immer wieder dieselben geheimnißvollen Anrufungen Trojas vor sich hin, während er den Auftritt im Venustempel zu

 Poems. S. . Zu deutsch: „Die himmelgeborene Helene, Spartas Königin — O Stadt Troja! — hatte zwei Brüste von himmlischem Glanz, Sonne und Mond der Herzens-Begierde; alle Herrlichkeit der Liebe lag dazwischen. — O Troja ist danieder. Das hohe Troja steht in Feuer. — Helena kniete vor Venus’ Altar — O Stadt Troja! — und sprach: „Eine kleine Gabe ist mein, eine kleine Gabe für eine Herzens-Begierde. Höre mich sprechen und mache mir ein Zeichen!“ — O Troja ist danieder. Das hohe Troja steht in Feuer.“

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Sparta erzählt. Sollier verzeichnet diese Eigenthümlichkeit bei Schwachsinnigen. „Die Idioten“, sagt er, „schieben Worte ein, die gar keinen Zusammenhang mit dem Gegenstande haben.“ Und weiterhin: „Beim Idioten wird das Wiederholen“ (le rabâchage) „zu einem wahren Tic.“ In einem andern, sehr berühmten Gedichte, „Eden bower“, das von der Präadamitin Lilith, ihrem Geliebten, der Eden-Schlange, und ihrer Rache an Adam handelt, werden in  Strophen immer hinter den ersten Vers abwechselnd die LitaneiWorte „Eden bower’s in flower“ und „And o the bower and the hour“ eingeschoben. Wohlverstanden: zwischen diesem an sich völlig sinnlosen „Die Eden-Laube ist in Blüthe“, „Und | o die Laube und die Stunde“, und der Strophe, die es unterbricht, [] besteht nicht der entfernteste Zusammenhang. Die Worte „Eden bower’s in flower“ und „And o the bower and the hour“ sind ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung, blos nach ihrem Gleichklange, an einander gereiht. Es ist ein überraschendes Beispiel reiner Echolalie. Diese Spracheigenthümlichkeit der Geistesschwachen und Gestörten, die Echolalie, finden wir bei Rossetti häufig. Hier einige Proben: „So wet she comes to wed?“ „So naß kommt sie zur Hochzeit?“ („Stratton water.“) Hier hat der Laut „wed“ den Laut „wet“ gerufen. Im Gedichte „My sister’s sleep“, an einer Stelle, wo vom Mond die Rede ist, heißt es: „The hollow halo it was in — Was like an icy crystal cup—“ „Der hohle Ring, in welchem der Mond war, glich einem eisigen Kristallbecher.“ Es ist offenbar unsinnig, eine Flächenerscheinung, wie es ein Mondhof ist, mit dem Beiwort „hohl“ zu bezeichnen. Das Bei- und das Hauptwort schließen einander vernünftig aus. Aber der Gleichklang hat „hollow“ an „halo“ gefügt. Man vergleiche damit auch die Verse: „Yet both were ours, but hours will come and go“ („A new years burden“) und „Forgot it not, nay, but got it not …“ („Beauty“). Manche von Rossettis Gedichten sind Aneinanderreihungen gänzlich unzusammenhängender Worte und diese Faseleien scheinen den mystischen Lesern natürlich gerade die tiefsinnigsten. Ich möchte nur ein Beispiel hier anführen. Die zweite Strophe von „The song of the bower“ lautet: „… Mein Herz, wenn es zu deiner Laube flieht, was findet es dort, das es wieder erkennt? Dort muß es fallen wie eine regenschauergetroffene Blume, roth am zerrissenen Innern und dunkel vom Regen. Ah! und doch, welches Obdach ist noch darüber ergossen, welche Wasser spiegeln noch seine entzwei gerissenen Blätter wider? Deine Seele ist der Schatten,

 Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile. S. . Vergleiche auch Lombroso, Genie und Irrsinn, deutsche Ausgabe, S. : „Die Graphomanen haben mit den geradezu Wahnsinnigen noch eine andere Neigung gemein, sie lieben es, häufig dasselbe  Wort … zu wiederholen und mitunter mehr denn hundertmal auf demselben Blatt erscheinen zu lassen. In einem von Passanante geschriebenen Kapitel findet sich ungefähr mal das Wort riprovate, tadelt.“  Poems. S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

der rings um es haftet, | um es zu lieben, und Thränen sind sein Spiegel tief unten in deinem Herzen.“ Die Eigenthümlichkeit derartiger Wortreihen ist, daß jedes einzelne Wort für sich einen emotionellen Inhalt hat (wie „Herz“, „Laube“, „fliehen“, „fallen“, „Blume“, „zerrissen“, „dunkel“, „lieben“, „Thränen“ u. s. w.) und daß sie einander in einem wiegenden Rhythmus und mit ohrschmeichelndem Reimklange folgen. Sie erwecken also im emotiven und unaufmerksamen Leser leicht eine allgemeine Emotion, wie eine Reihe musikalischer Töne einer Molltonart auch, und der Leser bildet sich ein, die Strophe zu verstehen, während er thatsächlich nur seine eigene Emotion nach seinem Bildungsgrade, seinem Charakter und seinen Lese-Erinnerungen deutet. Außer Dante Gabriel Rossetti werden gewöhnlich auch Swinburne und Morris zu den präraphaelitischen Dichtern gerechnet. Die Aehnlichkeit dieser beiden mit dem Haupte der Schule ist aber nur eine entfernte. Swinburne ist ein „höherer Entarteter“ im Sinne Magnans, während Rossetti zu den Schwachsinnigen (Imbecillen) Solliers gerechnet werden muß. Swinburne ist nicht so emotiv wie Rossetti, aber er steht geistig sehr viel höher als dieser. Seine Gedanken sind falsch und häufig delirirend, aber er hat doch Gedanken und sie sind klar und zusammenhängend. Er ist mystisch, doch hat sein Mysticismus mehr den Charakter des Verderb[] ten und Verbrecherischen als | des Paradiesischen und Gottseligen. Er ist der erste Vertreter des „Diabolismus“ in der englischen Dichtung. Dies erklärt sich daraus, daß er neben dem Einflusse Rossettis ganz besonders den Baudelaires erlitten hat. Wie alle Entarteten ist er der Suggestion außerordentlich zugänglich und er hat der Reihe nach alle ausgeprägten Dichter-Erscheinungen, die ihm zu Gesichte gekommen sind, bewußt oder unbewußt nachgeahmt. Er war ein Widerhall, wie von Rossetti und Baudelaire, so von Gautier und Victor Hugo und man kann in seinen Gedichten dem Gange seiner Lektüre Schritt für Schritt folgen. Ganz Rossettisch ist z. B. „A Christmas carol“ „Three damsels in the Queens Chamber …“ „Drei Fräulein im Zimmer der Königin. Der Königin Mund war überaus schön. Sie sprach ein Wort von Gottes Mutter, als die Kämme in ihr Haar gingen. Maria, die du Macht hast, bringe uns ins Angesicht deines Sohnes — Mary that is of might, Bring us to thy sons sight.“ Hier finden wir die Mystik des Inhalts mit der

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 Poems. S. : „… My heart, when it flies to thy bower, What does it find there that knows it again? There it must droop like a shower-beaten flower, Red at the rent core and dark with the rain. Ah! yet what shelter is still shed above it, — What waters still image its leaves torn apart? Thy soul is the shade that clings round it to love it, And tears are its mirror deep down in thy heart.“  Algernon Charles Swinburne, Poems and Ballads. London, Chatto and Windus, . S. .

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alterthümelnden und kindlich thuenden Ausdrucksweise des richtigen Präraphaelismus vereinigt. Nach diesem Vorbild ist auch „The masque of queen Bersabe“ gearbeitet, das ein mittelalterliches Mirakel-Spiel mit seinen lateinischen BühnenAnweisungen und seinem Puppentheater-Stil nachahmt und seinerseits das Muster vieler französischer Gedichte geworden ist, in denen nur noch gelallt und gestammelt und wie im Kinderzimmer gleichsam auf allen Vieren gekrochen wird. In den Spuren Baudelaires wandelt Swinburne, wenn er (in „Anactoria“) sein Gesicht zur teuflischen Miene zu verzerren sucht und das Weib zum widernatürlich geliebten Weibe sagen läßt: „Ich wollte, meine Liebe könnte dich tödten. Ich bin es satt, dich leben zu sehen. Ich möchte dich gern todt haben. Ich wollte, die Erde hätte deinen Leib als eine | Frucht zu essen und kein Mund, sondern irgend ein [] Gewürm fände dich süß. Ich möchte grausame Mittel finden, um dich zu erschlagen, heftige Erfindungen und ein Uebermaß von Qual … O wagte ich doch, dich mit Liebe bis zur Vernichtung zu zermalmen und zu sterben, an deinem Schmerz und meiner Wonne zu sterben und mit deinem Blute vermengt und in dich geschmolzen zu sein.“ Oder wenn er flucht und schmäht („Before dawn“): „Von der Schamhaftigkeit möchte ich sagen: was ist das ? Von der Tugend: wir brauchen sie nicht. Von der Sünde: wir wollen sie küssen, sie ist nicht mehr Sünde.“ Eine eingehendere Analyse verdient ein Gedicht, weil es unverkennbar den spätern „Symbolismus“ im Keim enthält und ein lehrreiches Beispiel dieser Form des Mysticismus ist. Das Gedicht heißt „Des Königs Tochter“. Es ist eine Art Ballade, die in vierzehn vierzeiligen Strophen eine märchenhafte Geschichte von zehn Königstöchtern erzählt, von denen eine den übrigen neun vorgezogen, prächtig gekleidet, mit köstlichen Speisen genährt, weich gebettet und von einem schönen Prinzen ausgezeichnet wird, während ihre Schwestern vernachlässigt bleiben; statt aber an der Seite des Prinzen das Glück zu finden, wird sie tief unglücklich, so daß sie sich den Tod wünscht. Im ersten und dritten Vers jeder Strophe wird die Geschichte vorgetragen, der zweite Vers aber spricht von einem fabelhaften Mühlbach, der in die Ballade kommt, man weiß nicht wie, und der durch einen geheimnißvollen Einfluß immer den Fortgang der Balladen-Handlung in allerlei Veränderungen, die mit ihm vorgehen, sinnbildlich widerspiegelt, und der vierte Vers enthält eine litaneiartige Ausrufung, die sich ebenfalls gleichlaufend auf den jeweiligen Stand der Geschichte bezieht. „Wir waren zehn Mägdlein im grünen Korn,“ so beginnt das Gedicht; „kleine rothe Blätter im Mühlwasser. Schönere Mägdlein waren nie geboren; Goldäpfel für des Königs Tochter! Wir waren zehn Mägdlein beim springenden | Quell; kleine weiße Vögelchen im Mühlwasser. Süßere Mägd- [] lein waren nie gefreit; Ringe von Roth für des Königs Tochter.“ In den folgenden Strophen werden die trefflichen Eigenschaften jeder einzelnen der zehn Prinzessinen geschildert und die symbolischen Zwischenverse lauten: „Weizenkörner im Mühlwasser — Weißbrod und Braunbrod für des Königs Tochter. Schöne grüne Pflanzen im Mühlwasser — Weißwein und Rothwein für des Königs Tochter. Schönes dünnes Schilfrohr im Mühlwasser — Honig in Waben für des Königs Tochter.

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Abgefallene Blumen im Mühlwasser — Goldene Handschuhe für des Königs Tochter. Abgefallenes Obst im Mühlwasser — Goldene Aermel für des Königs Tochter.“ Jetzt kommt der junge Königssohn, wählt die eine Prinzessin und verschmäht die übrigen neun. Die symbolischen Verse zeigen den Gegensatz zwischen dem glänzenden Geschick der Auserwählten und dem trüben der Nichtbeachteten. „Ein kleiner Wind im Mühlwasser — Eine Krone von Roth für des Königs Tochter. Ein kleiner Regen im Mühlwasser — Ein Bett von gelbem Stroh für die übrigen, Ein Bett von Gold für des Königs Tochter. Regen regnet ins Mühlwasser — Einen Kamm von gelben Muschelschalen für die übrigen, Einen Kamm von Gold für des Königs Tochter. Wind und Hagel ins Mühlwasser — Einen Grasgürtel für alle übrigen. Einen Schmuckgürtel für des Königs Tochter. Schnee schneit ins Mühlwasser — Neun kleine Küsse für alle übrigen, Hundertmal so viel für des Königs Tochter.“ Des Königs Tochter scheint also sehr glücklich und vor ihren neun Schwestern beneidenswerth zu sein. Das ist aber nur Schein, denn mit plötzlicher Wendung fährt das Gedicht fort: „Zerbrochene Boote im Mühlwasser — Goldene Geschenke für alle übrigen, Herzensqual für des Königs Tochter. Grabt ein Grab für meinen schönen Leib. Rinnender Regen ins Mühlwasser — Und bettet meinen Bruder neben [] mir. Höllen- | pein für des Königs Tochter.“ Was diesen Schicksalswechsel herbeigeführt hat, läßt der Dichter absichtlich dunkel. Vielleicht will er uns zu verstehen geben, daß der Königssohn kein rechtmäßiger Freier, sondern der Bruder der Königstöchter ist und daß die auserwählte Prinzessin an der Schmach der blutschänderischen Beziehung zu Grunde geht. Das würde der Teufel-Spielerei Swinburnes entsprechen. Doch bei dieser Seite des Gedichtes will ich nicht verweilen, sondern bei dessen Symbolismus. Es ist psychologisch vollkommen begründet, zwischen unseren jeweiligen Seelenzuständen und den Erscheinungen eine subjektive Beziehung herzustellen, in der Außenwelt einen Widerschein unserer Stimmungen zu erblicken. Wenn die Außenwelt einen ausgeprägten Stimmungscharakter hat, so erweckt sie in uns die ihr entsprechende Stimmung, und umgekehrt, wenn wir von einer ausgeprägten Stimmung beherrscht werden, so bemerken wir, dem Mechanismus der Aufmerksamkeit gemäß, in der Außenwelt blos die Erscheinungen, welche mit unserer Stimmung zusammenklingen, sie unterhalten und steigern, und die ihr widersprechenden Erscheinungen beachten wir nicht und nehmen sie gar nicht wahr. Eine düstere Schlucht mit wolkenverhangenem Himmel über ihr macht uns traurig. Das ist eine Form der Verknüpfung der Außenwelt mit unserer Stimmung. Aber wenn wir aus irgend einem Grunde bereits traurig sind, so finden wir überall in unserm Gesichtskreis Bilder betrübender Art: in der Straße der Großstadt zerlumpte, verhungert aussehende Kinder, magere, zerschundene Droschkengäule, eine blinde Bettlerin; im Walde welkes, vermodertes Laub, Giftpilze, schleimige Nacktschnecken u. s. w. Sind wir lustig, so sehen wir ganz dieselben Bilder, bemerken sie aber nicht, sondern nehmen neben ihnen wahr: in der Straße einen Hochzeitszug, ein frisches junges Mädchen mit einem Kirschenkörbchen am Arm, lustig gefärbte

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 Maueranschläge, einen drolligen dicken Mann mit in den Nacken geschobenem

Hute; im Walde huschende | Vögelchen, gaukelnde Falter, kleine weiße Anemonen [] u. s. w. Dies ist die andere Form jener Verknüpfung. Die Dichter benutzen mit vollem Recht die eine und die andere Form. Wenn Heine singt:

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„Es ragt ins Meer der Runenstein, Da sitz’ ich mit meinen Träumen; Es pfeift der Wind, die Möwen schrein, Die Wellen, die wandern und schäumen. Ich habe geliebt manch schönes Kind Und manchen guten Gesellen — Wo sind sie hin? — Es pfeift der Wind, Es schäumen und wandern die Wellen, —“

so bringt er eine trübe, schwermüthig sinnende Stimmung mit. Er beklagt die Flüchtigkeit des Menschenlebens, die Unbeständigkeit der Gefühle, das schattenhafte Vorüberziehen der geliebten Menschen in unserm Gesichtskreise. Aus diesem Seelenzustande heraus blickt er auf das Meer, an dessen Strand er sitzt, und nun nimmt er nur die Erscheinungen wahr, die zu seiner Stimmung passen und sie verkörpern: das jagende Wehen des Windes, das Auftauchen und Verschwinden der hastenden Möwen, das Heranrollen und spurlose Verrinnen der Brandung. Diese Züge des Seebildes werden zu Symbolen der Vorgänge in des Dichters Seele und dieser Symbolismus ist gesund und in den Gesetzen unseres Denkens begründet. Ganz anderer Art ist Swinburnes Symbolismus. Er läßt die Außenwelt nicht eine Stimmung ausdrücken, sondern er läßt sie eine Geschichte erzählen; sie wechselt ihr Aussehen je nach dem Charakter der sich entrollenden Begebenheit; sie begleitet wie ein Orchester alle Vorgänge, die sich an einer Stelle abspielen. Hier ist die Natur nicht mehr die weiße Wand, auf die wie im Schattenspiel die bunten Bilder unserer Seele fallen, sondern sie ist ein lebendes, denkendes Wesen, das einem sündigen Liebesroman mit derselben gespannten Theilnahme | folgt wie der [] Dichter und mit seinen Mitteln, ebenso wie er, sein Behagen, sein Entzücken, seine Betrübniß über die einzelnen Kapitel der Geschichte ausdrückt. Das ist eine rein delirirende Vorstellung. Sie entspricht in Kunst und Dichtung der Halluzination in der Geisteskrankheit. Sie ist eine Form des Mysticismus, die wir bei allen Entarteten antreffen. Wie bei Swinburne das Mühlwasser „kleine rothe Blätter“ und sogar, was etwas seltsamer ist, „kleine weiße Vögel“ treibt, wenn Alles gut geht, dagegen von Schnee und Hagel gepeitscht wird und zerbrochene Boote schaukelt, wenn die Dinge eine üble Wendung nehmen, so fließt in Zolas „Assommoir“ in der Gosse aus einer Färberei rosenfarbenes oder goldgelbes Abwasser an Tagen der Freude und schwarzes oder graues, wenn die Geschicke von Gervaise und Lantier sich tragisch verdunkeln, und regnet es in Ibsens „Gespenstern“ in Strömen, wenn Frau Alving und ihr Sohn ihren schweren Kummer haben, und bricht die Sonne strahlend hervor, wenn die Katastrophe eintritt. Ibsen geht übrigens in dieser halluzina-

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torischen Sinnbildlichkeit weiter als die übrigen, denn bei ihm hat die handelnde Natur nicht nur Antheilnahme, sondern sogar boshaften Spott, sie begleitet die Ereignisse nicht blos ausdrucksvoll, sondern sie macht sich sogar über sie lustig. Geistig weit gesunder als Rossetti und Swinburne ist William Morris, dessen Herausschwanken aus dem Gleichgewichte sich nicht durch Mysticismus, sondern durch Mangel an Eigennatur und übermäßigen Nachahmungstrieb verräth. Seine Ziererei besteht in Mittelalterlichkeit. Er nennt sich selbst einen Schüler Chaucers. [] Er schreibt harmlos auch Dante ganze | Strophen nach, z. B. die bekannte Francesca und Paolo-Episode des . Gesanges der Hölle, wenn er in „Guenevere“ singt: „In diesen schönen Garten — Kam Launcelot, sich ergehend; das ist wahr; der Kuß — Mit welchem wir uns bei der Begegnung küßten, an diesem Frühlingstage — Ich wage kaum von der Seligkeit dieser Erinnerung zu sprechen.“ Morris überredet sich, daß er ein fahrender Sänger des dreizehnten oder vierzehnten Jahrhunderts sei, und er gibt sich Mühe, alle Dinge so anzusehen und in solcher Sprache auszudrücken, wie er es gethan hätte, wenn er wirklich ein Zeitgenosse Chaucers gewesen wäre. Außer dieser dichterischen Bauchrednerei, mit welcher er den Klang seiner Stimme so zu verändern sucht, daß sie scheinbar aus weiter Ferne an unser Ohr tönen soll, sind nicht viel Entartungszüge an ihm zu bemerken. Immerhin verfällt er manchmal in ausgesprochene Echolalie, z. B. in der Strophe des „Earthly Paradise“:

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„Of Margaret sitting glorious there In glory of gold and glory of hair And glory of glorious face most fair,“

wo „glory“ und „glorious“ in drei Versen fünfmal wiederholt werden. Seine Emoti-  vität hat ihn in jüngster Zeit zum Anhänger eines verschwommenen Sozialismus gemacht, der hauptsächlich aus Mitleid und Nächstenliebe besteht und wunderlich genug wirkt, wenn er kunstvoll in der Sprache der alten Balladen ausgedrückt wird. Die Präraphaeliten haben auf das seit zwanzig Jahren heraufgekommene  Geschlecht der englischen Dichter einen großen Einfluß geübt. Alle Hysteriker, alle Entarteten haben nach Rossetti die „damosel“ und die heilige Jungfrau besungen, nach Swinburne die Unzucht wider die Natur, das Verbrechen, die Hölle und den Teufel gepriesen, nach Morris im Skaldenton und in der Weise der „Canterbury tales“ geradebrecht, und wenn heute nicht die ganze englische Dichtung ungemil-  [] dert | präraphaelitisch ist, so verdankt sie dies blos dem glücklichen Zufall, daß mit den Präraphaeliten gleichzeitg ein so gesunder Dichter wie Tennyson lebte  William Morris, Poems (Tauchnitz edition). S. : „And if it hap that … My master Geoffroy Chaucer thou do meet, … Then … speak the words: „O Master, o thou great of heart and tongue“ u. s. w.

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und wirkte. Die amtlichen Ehren, die ihm als „poet laureate“ zutheil wurden, die beispiellosen Erfolge, die er bei den Lesern hatte, bezeichneten ihn wenigstens  einem Theil der kleinen Streber und Ehrgeizigen zur Nachahmung und so kommt es, daß neben dem Chor der lilientragenden Mystiker auch die Kurrende des Dichters der „Idylls of the kings“ gehört wird. In seiner weitern Entwickelung verkam der Präraphaelismus in England zum „Aesthetismus“ und in Frankreich zum „Symbolismus“. Mit beiden Richtungen  werden wir uns eingehender zu beschäftigen haben.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

III. Die Symbolisten.

Die Erscheinung, die wir bei den Präraphaeliten beobachtet haben, wiederholt sich bei den französischen Symbolisten. Wir sehen eine Anzahl junger Leute zusammentreten und mit Bewußtsein und Absicht eine Schule bilden, welche sich einen eigenen Namen beilegt, übrigens aber trotz allerlei dunkeln Geschwätzes und nachträglicher Täuschungs-Versuche keinerlei gemeinsame Kunst-Grundsätze, keinerlei klares ästhetisches Ziel hat, sondern blos den einen, uneingestandenen, doch deutlich erkannten Zweck verfolgt, Lärm in der Welt zu machen, durch Wunderlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und auf diese Weise zu Ruhm und Genuß, zur Befriedigung aller Begierden und aller Eitelkeiten zu gelangen, von denen die neidzerfressene Seele dieser Erfolg-Flibustier gerüttelt voll war. Anfang der Achtziger-Jahre gab es im Pariser Lateinischen Viertel eine Gruppe von Strebern ziemlich gleichen Alters, die sich im Keller-Saal eines Cafés des Quai St. Michel allabendlich versammelten und bis in die späte Nacht oder an den frühen Morgen biertrinkend, rauchend und wortwitzelnd auf die anerkannten und geldmachenden Schriftsteller greulich schimpften und mit ihren eigenen, der Welt noch unbekannten Fähigkeiten prahlten. Das große Wort unter ihnen führten Emile Goudeau, ein Schwätzer, von dem nichts als einige alberne Spottverse bekannt geworden sind, Maurice Rollinat, der Verfasser der „Névroses“, und Edmond Haraucourt, der jetzt in der Vorderreihe der französischen Mystiker steht. Sie | [] nannten sich selbst „die Hydropathen“, ein vollkommen sinnloses Wort, das offenbar aus einer unklaren Erinnerung an die beiden Worte „Hydrotherapie“ und „Nevropathen“ entstanden ist und mit der für das mystische Denken der Schwachsinnigen bezeichnenden Verschwommenheit wohl nur die allgemeine Vorstellung von Leuten ausdrücken sollte, deren Gesundheit nicht zufriedenstellend ist, die leiden und sich behandeln lassen. Jedenfalls klingt aus dem selbstgewählten Namen ein dunkles Bewußtsein und Eingeständniß zerrütteten Nervenlebens hervor. Die Gruppe besaß auch ein Wochenblättchen, „Lutèce“, das nach wenigen Nummern einging. Gegen  verließ die Gesellschaft ihre zeitherige Stammkneipe und schlug ihr Zelt im Café „François I.“, Boulevard St. Michel, auf. Dieses Café ist zu hohem Ruhm gelangt. Es war die Wiege des Symbolismus. Es ist noch immer der Tempel einiger ehrgeiziger Jünglinge, die durch Anschluß an die symbolistische Schule die Förderung zu erlangen hoffen, welche sie von ihrer eigenen Begabung nicht zu erwarten haben. Es ist auch die Kaaba, zu der alle ausländischen Schwachköpfe wallfahren, die von der neuen Pariser Richtung gehört haben und in ihre Lehren und Geheimnisse eingeweiht werden wollen. Einige der Hydropathen machten die Übersiedelung nicht mit. Ihren Platz nahmen frische Zuzügler ein: Jean Moreas,

 Eine Geschichte der Anfänge dieser Gruppe hat eins ihrer Mitglieder, Mathias Morhardt, geschrieben. Siehe: „Les Symboliques“, Nouvelle Revue vom . Februar . Seite .



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Laurent Tailhade, Charles Morice u. s. w. Sie legten auch den alten Namen ab und waren eine kurze Zeit unter der Bezeichnung „décadents“ bekannt. Diese war ihnen von einem Kritiker in der Absicht der Verhöhnung angehängt worden, aber wie die Gueusen der Niederlande den Namen, der sie beschimpfen und verspotten sollte, stolz und trotzig sich selbst beilegten, so steckten auch sie die Beleidigung, die ihnen ins | Gesicht geschleudert worden war, wie ein Abzeichen der Empörung [] gegen die Kritik an den Hut. Bald aber wurden die Stammgäste des „François I.“ ihres Namens müde und Moreas erfand für sie die Bezeichnung „Symbolisten“, unter der sie allgemein bekannt wurden, während eine besondere, kleinere Gruppe, die sich von den „Symbolisten“ abspaltete, die Benennung „Décadents“ weiter beibehielt. Die „Symbolisten“ sind ein ausgezeichnetes Beispiel jener Banden-Bildung, die wir als Eigenthümlichkeit der Entarteten kennen gelernt haben. Sie hatten alle Kennzeichen der Degenerirten und Schwachsinnigen mit einander gemein: die maßlose Eitelkeit und Selbstüberschätzung, die starke Emotivität, das verworrene, unzusammenhängende Denken, die Schwatzsucht („Logorrhöe“ der Irrenheilkunde), die vollkommene Unfähigkeit zu ernster, anhaltender Arbeit. Manche von ihnen hatten die Mittelschule erledigt, andere nicht einmal diese. Alle waren von tiefer Unwissenheit und da sie aus Willensschwäche, aus Unvermögen zur Aufmerksamkeit auch nicht im Stande waren, systematisch etwas zu lernen, so überredeten sie sich nach einem wohlbekannten psychologischen Gesetze, daß sie alles positive Wissen verachteten und nur das Träumen und das Errathen, die „Intuition“ für menschenwürdig hielten. Einige von ihnen, wie Moreas und Guaita, der später „Magier“ wurde, lasen ohne Methode allerlei Bücher, die ihnen bei den „Bouquinisten“ des Quais gerade in die Hand fielen, und trugen den Kameraden die aufgeschnappten Lesefrüchte mit großartigen und geheimnißvollen Redensarten vor. Die Hörer bildeten sich dann ein, daß sie sich einem angestrengten Studium hingaben, und auf diese Weise erlangten sie jenen Bildungströdel, den sie dann in ihren Artikeln und Broschüren auskramten und in welchem der geistig gesunde Leser mit heiterm Erstaunen die Namen Schopenhauer, Darwin, Taine, Renan, Shelley, Goethe antrifft, welche zur Bezeichnung formloser, unerkennbarer Abfälle, eines Kehrichts unverdauter Brocken | unverstandener und frech verstüm- [] melter Sätze und unehrlich eingesackter, herausgerissener Gedanken-Bruchstücke dienen. Diese Unwissenheit der Symbolisten und dieses kindische Flunkern mit angeblicher Bildung wird von einem der ihrigen offen eingestanden. „In der Lehre von dem Glauben und der Philosophie“, heißt es bei Charles Morice, „haben sehr wenige dieser jungen Leute genaues Wissen. Aber von den Ausdrücken der Kirche behalten sie schöne Worte, wie Monstranz, Ciborium u. s. w.; mehrere bewahren von Spencer, Mill, Schopenhauer“ (so), „Comte, Darwin einige Kunstausdrücke. Selten sind die, welche tief wissen, wovon sie reden, die, welche nicht versuchen,

 Charles Morice, La Littérature de tout-à-l’heure. Paris, . S. .

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mit einer Sprechweise Schau und Staat zu machen, die kein anderes Verdienst als eine Eitelkeit von Sylben hat.“ (Für die Sinnlosigkeit dieser letzten Wendung bin natürlich nicht ich verantwortlich, sondern Charles Morice.) Die Stammgäste des „François I.“ erschienen um ein Uhr Nachmittags in ihrem Café und blieben da bis zur Stunde des Abendessens. Gleich nach der Mahlzeit kehrten sie zurück und verließen ihr Hauptquartier erst lange nach Mitternacht. Eine bürgerliche Beschäftigung hatte natürlich keiner der Symbolisten. Wie zu methodischem Lernen, so waren und sind diese Entarteten auch zu gleichmäßiger Pflichterfüllung unfähig. Wenn diese organische Unzulänglichkeit bei einem Manne der niederen Volksschichten auftritt, so wird er Vagabund; bei einer Frau dieser Klasse führt sie zur Prostitution; bei den Angehörigen der höheren Klassen nimmt sie die Form der Kunst- und Literatur-Simpelei an. Der Volksgeist verräth eine tiefe Ahnung des wirklichen Zusammenhanges der Dinge, wenn er für derartige ästhetische Lungerer das Wort Tagedieb findet. Denn der berufsmäßige Diebstahl und der unüberwindliche Hang zum schwatzenden, geschäftigen und wich[] tigthuenden Müßig-|gange fließen aus derselben Quelle, aus der angeborenen Schwäche des Gehirnes. Freilich haben die Bierbrüder der Cafés nicht das Bewußtsein ihrer geistigen Krüppelhaftigkeit. Für ihr Unvermögen, sich irgend einer Zucht zu unterwerfen und irgend einer Arbeit dauernde Sammlung und Aufmerksamkeit zu widmen, finden sie Kosenamen und schmückende Bezeichnungen. Sie nennen das „Künstlernatur“, „frei schweifende Genialität“, „Aufschwung aus dem niedrigen Dunstkreise der Alltäglichkeit.“ Sie verspotten den flachen Philister, der wie der Gaul des Göpels mechanisch eine regelmäßige Thätigkeit verrichtet, und verachten die beschränkten Knoten, die fordern, daß ein Mann ein wohlumschriebenes bürgerliches Gewerbe betreibe oder einen anerkannten Titel aufweise, und die den brodlosen Künsten tiefes Mißtrauen entgegenbringen. Sie verherrlichen die fahrenden Leute, die lyrisch stromen und sorglos fechten, und stellen als ihr Ideal den Sonnenbruder hin, der sich im Morgenthau wäscht, unter Blumen schläft und sich bei derselben Firma kleidet wie die Lilien auf dem Felde, von denen das Evangelium spricht. Richepins Gedichte: „Chanson des Gueux“, sind der typischste Ausdruck dieser Lebensauffassung, dem wir auch in unserm Schriftthum ein allerdings minder scharf ausgeprägtes Beispiel in Baumbachs „Liedern eines fahrenden Gesellen“ und „Spielmannsliedern“ an die Seite stellen können. Auch Schillers „Pegasus im Joch“ scheint am Strange dieser Schmäher des von der Gesellschaft geforderten Tagwerks zu ziehen; doch thut er dies nur scheinbar; denn unser großer Dichter nimmt nicht für den ohnmächtigen Faulpelz Partei, sondern für die überschäumende Kraft, die mehr und größeres wirken möchte als der Amtsdiener und Nachtwächter. Der kunstheuchelnde Bummler kann sich übrigens trotz seiner Geistesschwäche und Selbstverliebtheit der Wahrnehmung nicht verschließen, daß sein Thun [] und Treiben den Gesetzen | zuwiderläuft, auf denen das Gefüge der Gesellschaft

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und die Gesittung beruhen, und er empfindet das Bedürfniß, sich in seinen eige nen Augen zu rechtfertigen. Er thut das, indem er seinem zeitvergeudenden Träu-

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men und Schwatzen eine hohe Bedeutung beilegt, die in ihm die Täuschung erwecken soll, daß es den ernstesten Thätigkeiten gleichwerthig, ja ihnen an Wichtigkeit überlegen sei. „Sehen Sie,“ sagt Stéphane Mallarmé, „die Welt ist gemacht, um schließlich zu einem schönen Buche zu führen.“ Morice klagt beweglich, daß der Schöngeist „verpflichtet sei, sich zwischen zwei Halbversen zu unterbrechen, um einen achtundzwanzigtägigen Heerdrill zu erleiden“; „die Aufregung der Straße,“ fährt er fort, „das Knarren der Regierungs-Maschine, die Zeitungen, die Wahlen, die Minister-Wechsel haben niemals so viel Lärm gemacht; die tobende und geräuschvolle Selbstherrlichkeit des Handels hat im Denken der Menge die Sorge um das Schöne unterdrückt und das Gewerbe hat das Schweigen getödtet, das die Politik etwa noch bestehen gelassen hätte.“ In der That, was sind alle diese Nichtigkeiten: Handel, Gewerbe, Politik, Verwaltung, gegen die ungeheure Wichtigkeit eines Halbverses gehalten? … Die Faseleien der Symbolisten verloren sich nicht vollständig in die Luft ihres Cafés wie der Rauch ihrer Zigarretten und Pfeifen. Ein Theil von ihnen wurde festgelegt und erschien in der „Revue indépendante“, der „Revue contemporaine“ und anderen hinfälligen Zeitschriften, die der Tafelrunde des „François I.“ als Organe dienten. Diese Blättchen und die Bücher, welche die Symbolisten veröffentlichten, wurden zuerst außerhalb des „François I.“ nicht beachtet. Dann geschah es, daß „Chroniqueurs“ von Boulevard-Zeitungen, denen jene Schriften zufällig in die Hand fielen, an | Tagen des Stoffmangels ihnen Artikel widmeten, doch nur, um sich [] über sie lustig zu machen. Das war Alles, was die Symbolisten brauchten. Spott oder Lob, wenn man sich nur mit ihnen beschäftigte. Nun waren sie im Sattel und zeigten sofort, daß sie unvergleichliche Zirkusreiter waren. Sie bemühten sich, selber in die größeren Zeitungen Eingang zu finden, und gelang es einem von ihnen, wie dem Schmied von Jüterbock in dem bekannten Märchen, seine Mütze durch die unvorsichtig geöffnete Thürspalte in eine Redaktion zu werfen, so folgte er mit Haut und Haaren nach, bemächtigte sich des Platzes und gestaltete ihn im Handumdrehen in eine Parteiveste der Symbolisten um. Alles kam ihnen bei dieser Taktik zustatten: die Zweifelsucht und Gleichgiltigkeit der vollständig ausgebrannten Pariser Redakteure, die gar nichts ernst nehmen, weder einer Begeisterung noch eines Widerwillens fähig sind und nur den einen Geschäftsgrundsatz kennen: Lärm machen, Neugierde erwecken, den Anderen mit etwas Neuem, Verblüffendem zuvorkommen; die Kritiklosigkeit und Mauläfferei des Publikums, das Alles gläubig nachbetet, was ihm seine Zeitung mit wichtiger Miene vorschwatzt; die Feigheit und Liebedienerei der Kritiker, die eine geschlossene, zahlreiche Gruppe von rücksichtslosen jungen Leuten vor sich fanden, vor ihren geballten Fäusten und dro-

 Jules Huret, Enquête sur l’évolution littéraire. Paris, . S. .  Charles Morice, a. a. O. S. .

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henden Augen Angst bekamen und sich nicht getrauten, mit ihnen anzubinden; die niedrige Schlauheit der Streber, die gute Geschäfte zu machen hofften, wenn sie auf das Steigen der Antheilscheine des Symbolismus spekulirten. So wirkten die schlechtesten und verächtlichsten Eigenschaften der Redakteure, der Kritiker, der erfolggierigen Schriftsteller und der Zeitungsleser zusammen, um die Namen der Stammgäste des „François I.“ bekannt, zum Theil sogar berühmt zu machen und in sehr vielen Schwachköpfen beider Welten die Ueberzeugung zu erwecken, [] daß ihre Richtung das Schriftthum der Gegenwart beherrscht und alle | Keime der Zukunft in sich schließt. Dieser Triumph des Symbolismus bedeutet den Sieg der Bande über den Einzelnen. Er beweist die Ueberlegenheit des Angriffs über die Abwehr und die Wirksamkeit der gegenseitigen Lobesversicherung auch bei bettelhaftester Unfähigkeit. Bei aller Verschiedenheit haben die Werke der Symbolisten zwei Eigenschaften mit einander gemein: sie sind dunkel, oft bis zur Unverständlichkeit, und sie sind fromm. Ihre Dunkelheit kann nach Allem, was hier über die Eigenthümlichkeiten des mystischen Denkens gesagt worden ist, nicht auffallen. Ihre Frömmigkeit ist zu einer Bedeutung gelangt, die es nöthig macht, sich mit ihr eingehender zu beschäftigen. Als in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Mysterien, Passionsspielen, Heiligenlegenden und Kantaten erschien, als nach einander ein Dutzend, zwei Dutzend neuer Dichter und Schriftsteller in ihren ersten Gedichten, Romanen und Abhandlungen heiße Glaubensbekenntnisse ablegten, die heilige Jungfrau anriefen, vom Meßopfer verzückt sprachen und zu brünstigen Gebeten niederknieten, da riefen Rückschrittler, die ein Partei-Interesse daran haben, an eine Umkehr der gebildeten Menschheit zur Geistesfinsterniß der Vergangenheit glauben zu machen: „Seht da! Die Jugend, die Hoffnung, die Zukunft des französischen Volkes wendet sich von der Wissenschaft ab, die Aufklärung ist bankbrüchig geworden, die Seelen öffnen sich wieder der Religion und die heilige katholische Kirche tritt von Neuem ihr hehres Amt einer Lehrerin, Trösterin und Führerin der gesitteten Menschheit an.“ Man bezeichnet die symbolistische Richtung absichtsvoll mit dem Namen der „neokatholischen“ und einzelne Kritiker deuten ihr Erscheinen und ihre Erfolge als einen Beweis, daß der freie Gedanke vom Glauben überwunden ist. „Selbst der oberflächlichste Blick auf den Zustand der Welt“, schreibt Eduard Rod, „zeigt [] uns, | daß wir auf allen Gebieten in voller Reaktion sind.“ Und weiterhin: „Ich glaube an die Reaktion, in allen Richtungen, welche dieses Wort in sich schließt. Freilich: bis wohin diese Reaktion gehen wird, das ist das Geheimniß von morgen.“ Die frohlockenden Verkünder der neuen Reaktion fragen nach der Ursache dieser Bewegung und finden eine merkwürdig übereinstimmende Antwort: die besseren und gebildeteren Geister kehren zum Glauben zurück, weil sie dahinter gekommen sind, daß die Wissenschaft sie betrogen, daß sie ihnen nicht gehalten,

 Huret, a. a. O. S. .

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was sie versprochen hat. „Der Mensch dieses Jahrhunderts“, sagt Melchior de Vogué, „gewann zu sich selbst ein sehr zu entschuldigendes Vertrauen … Der verständige Mechanismus der Welt offenbarte sich ihm … Bei der Erklärung der Dinge schloß man alles Göttliche aus … Wozu denn auch zweifelhaften Gründen nachgehen, da doch die Arbeit des Weltalls und des Menschen dem Physiker und Physiologen so klar wurde? … Das kleinste Unrecht Gottes war noch, unnöthig zu sein. Starke Geister versicherten es und alle Mittelmäßigen waren davon überzeugt. Das achtzehnte Jahrhundert hatte die Verehrung des Verstandes eingeweiht. Einen Augenblick lang lebte man in der Trunkenheit dieses Tausendjährigen Reiches. Dann kam die ewige Enttäuschung, die regelmäßig wiederkehrende Zerstörung all dessen, was der Mensch auf die Hohlheit seines Verstandes baut. Er mußte sich gestehen, daß … jenseits des Kreises der erworbenen Wahrheiten der Abgrund von Unwissenheit ebenso ungeheuer, ebenso beunruhigend wiedererschien.“ Charles Morice, der Theoretiker und Philosoph der Symbolisten, klagt fast auf jeder Seite seines Buches „La Litterature de tout-à l’heure“ die Wissenschaft wegen ihrer verschiedenen großen Sünden an. „Es ist bejammernswerth“, | sagt er in [] seiner apokalyptischen Redeweise, „daß unsere Gelehrten nicht begriffen haben, daß sie die Wissenschaft zersetzten (?), indem sie sie volksthümlich machten. Grundsätze untergeordneten Gedächtnissen anvertrauen heißt sie den Ungewißheiten von Auslegungen ohne Berechtigung, von irrigen Deutungen, von irrgläubigen Annahmen aussetzen. Denn das Wort, das in Bücher eingeschlossen, ist ein todter Buchstabe und die Bücher selbst können zu Grunde gehen; aber die Strömung, die sie veranlassen, der Hauch, der von ihnen ausgeht, überlebt sie. Und was thun, wenn sie Sturm geathmet und Finsternisse entfesselt (!) haben? Das aber ist das klarste Ergebniß all dieses Wustes von Vervolksthümlichung … Das ist die natürliche Folge eines Jahrhunderts der Forschung, die eine gute Schule des Verstandes war, aber deren sachliche und unmittelbare Ergebnisse nichts anderes sein konnten als Ermüdung, ja Ekel und Verzweifeln am Verstande … Die Wissenschaft hatte das Wort Geheimniß gestrichen. Mit dem gleichen Federzuge hatte sie die Worte Schönheit, Wahrheit, Freude, Menschlichkeit ausgelöscht … Jetzt nimmt das Geheimniß der Wissenschaft, die eingebrochen war und Alles an sich gerafft hatte, nicht nur Alles wieder ab, was sie ihm geraubt, sondern vielleicht auch etwas von ihrem eigenen Besitze. Die Auflehnung gegen die unverschämten und trostlosen Leugnungen der Wissenschaft … führt zur dichterischen Wiederherstellung des Katholizismus.“ Ein anderer Graphomane, der Verfasser des schwachsinnigen Buches „Rembrandt als Erzieher“, faselt ungefähr in derselben Weise. „Das Interesse an der Wissenschaft und insbesondere an der früher so populären Naturwissenschaft vermindert sich neuerdings in weiten Kreisen der deutschen Welt … Man ist einigerma-

  Vte E. M. de Vogué, a. a. O. S. XIX ff.  Morice, a. a. O. S. , , .

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ßen übersättigt von Induktion; man dürstet nach Synthese; die Tage der Objektivität neigen | sich wieder einmal zu Ende und die Subjektivität klopft dafür an die Thüre.“ Ed. Rod sagt: „Das Jahrhundert ist vorgeschritten, ohne alle seine Versprechen zu halten“, und weiterhin spricht er nochmals von „diesem alternden und getäuschten Jahrhundert.“ In einer kleinen Schrift, die eine Art Evangelium der Schwach- und Blödsinnigen geworden ist, „Le devoir présent“, macht der Verfasser, Paul Desjardins, fortwährende Ausfälle auf den „sogenannten wissenschaftlichen Empirismus“, spricht von den „Negativen, den Empiristen und Mechanisten, deren Aufmerksamkeit einzig von den physischen und unerbittlichen Kräften in Anspruch genommen ist“, und rühmt sich, daß er die Absicht verfolge, „den Werth der empirischen Methode zu zerstören.“ Selbst ein ernster Denker, F. Paulhan, gelangt in seiner Untersuchung der Gründe des französischen Neomysticismus zu dem Schlusse, daß die Naturwissenschaft sich ohnmächtig erwiesen habe, die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. „Wir fühlen uns von einem ungeheuern Unbekannten umgeben und verlangen, daß man uns wenigstens einen Zugang dazu offen lasse. Die Entwickelungslehre und der Positivismus haben den Weg versperrt … Aus diesem Grunde mußte die Entwickelungslehre, wenn sie auch große Gedanken zurückließ, sich unfähig zeigen, die Geister zu leiten.“ So überwältigend diese Uebereinstimmung von achtunggebietenden, starken [] Geistern und schwachsinnigen Graphomanen | auch scheinen mag, sie schließt dennoch nicht das leiseste Fünkchen Wahrheit in sich. Zu behaupten, daß die Welt sich von der Wissenschaft abwendet, weil die „empirische“, das heißt die wissenschaftliche Methode des Beobachtens und Verzeichnens Schiffbruch gelitten hat, ist entweder bewußte Lüge oder Unzurechnungsfähigkeit. Ein geistesgesunder und ehrlicher Mensch muß sich fast schämen, dies erst noch zu beweisen. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten mittels der Spektral-Analyse Aufschlüsse über die Beschaffenheit der fernsten Himmelskörper, ihre stoffliche Zusammensetzung, ihren Wärmegrad, die Schnelligkeit und Richtung ihrer Bewegungen gegeben; sie hat die einheitliche Natur aller Formen der Kraft sichergestellt und die Einheit des Stoffes höchst wahrscheinlich gemacht; sie ist der Bildung und Entwickelung der chemischen Elemente auf der Spur und sie hat den Aufbau der so überaus verwickelten organischen Verbindungen verstehen gelehrt; sie zeigt uns die Verhältnisse der Atome im Molekel und die Lagerung der Molekel im Raume; sie hat auf die Bedingungen des Wirkens der Elektrizität überraschendes

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 Rembrandt als Erzieher. Leipzig, . S. .  Edouard Rod, Les idées morales du temps présent. Paris, . S. .  Paul Desjardins, Le devoir présent. Paris, . S. , , .  F. Paulhan, Le nouveau mysticisme. Paris, . S. .

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Licht geworfen und diese Kraft in den Dienst des Menschen gestellt; sie hat die Geo- und Paläontologie erneuert und die Verkettung der thierischen und pflanzlichen Lebensformen entwirrt; sie hat die Bio- und Embryologie neu geschaffen und durch die Entdeckung und Erforschung der Kleinlebewesen einige der beunruhigendsten Geheimnisse der ewigen Veränderung, der Krankheit, des Todes überraschend aufgeklärt; sie hat Methoden gefunden oder vervollkommt, die, wie die Chronographie, die Augenblicks-Photographie u. s. w., eine Zerlegung und Verzeichnung der flüchtigsten, den menschlichen Sinnen unmittelbar gar nicht faßbaren Erscheinungen gestatten und für die Erkenntniß der Natur überaus fruchtbar zu werden versprechen. Und angesichts so herrlicher, so überwältigend großartiger Ergebnisse, deren Aufzählung sich leicht aufs Doppelte und Dreifache verlängern ließe, wagt man, von | einem Schiffbruche der Wissenschaft und von der Unfähig- [] keit der „empirischen“ Methode zu sprechen? Die Wissenschaft soll nicht gehalten haben, was sie versprach. Wann hat sie jemals etwas anderes versprochen, als die Erscheinungen ehrlich und aufmerksam zu beobachten und, wenn möglich, die Bedingungen festzustellen, unter denen sie vorkommen? Und hat sie dieses Versprechen nicht gehalten? Hält sie es nicht fortwährend? Wer von ihr erwartet hat, daß sie von einem Tag auf den andern den ganzen Weltmechanismus erkläre wie ein Taschenspieler seine scheinbare Zauberkunst, der hat eben keine Ahnung von den wirklichen Aufgaben der Wissenschaft. Sie versagt sich alle Sprünge und Flüge. Sie geht Schritt für Schritt vor. Sie baut langsam und geduldig eine feste Brücke ins Unbekannte hinaus und kann keinen neuen Bogen über den Abgrund werfen, ehe sie einen neuen Pfeiler in der Tiefe gegründet und bis zur richtigen Höhe gefördert hat. Nach der letzten Ursache der Erscheinungen fragt sie einstweilen noch gar nicht, so lange sie noch so viele nähere Ursachen zu erforschen hat. Manche der hervorragendsten Männer der Wissenschaft gehen sogar so weit, daß sie erklären, die letzte Ursache werde überhaupt niemals Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein, und nennen sie mit Herbert Spencer „das Unkennbare“ oder rufen mit Du Bois-Reymond das niedergeschlagene „Ignorabimus!“ Beide gehen dabei vollkommen unwissenschaftlich vor und beweisen nur, daß selbst klare Denker wie Spencer und nüchterne Forscher wie Du Bois-Reymond noch im Banne des theologischen Träumens stehen. Die Wissenschaft kann von keinem Unkennbaren reden, da dies voraussetzen würde, daß sie genau die Grenzen des Kennbaren zu bezeichnen vermag, was sie aber nicht kann, da jede neue Entdeckung diese Grenze hinausrückt; die Annahme eines Unkennbaren schließt ferner die Anerkennung in sich, daß es ein Etwas | gibt, was wir nicht kennen können; nun müssen [] wir entweder, um das Vorhandensein dieses Etwas ernstlich behaupten zu können, doch irgend eine, wenn auch noch so leise und unklare, Kenntniß davon erlangt haben, es wäre also bewiesen, daß es nicht unkennbar sein kann, da wir es ja thatsächlich kennen, und nichts würde dann berechtigen, von vornherein zu erklären, daß unsere heutige, wenn auch noch so schwache, Kenntniß davon sich nie

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erweitern und vertiefen wird; oder wir haben von dem Unkennbaren des Philosophen gar keine, auch nicht die leiseste Kenntniß, dann kann es für uns auch nicht vorhanden sein, dann beruht der ganze Begriff auf nichts und das Wort ist eine müßige Schöpfung der träumenden Einbildungskraft. Vom „ignorabimus“ kann man dasselbe sagen. Es ist das Gegentheil von Wissenschaft. Es ist nicht ein richtiger Schluß aus wohlbegründeten Vordersätzen, es ist nicht das Ergebniß der Beobachtung, sondern eine mystische Weissagung. Niemand hat das Recht, Mittheilungen aus der Zukunft für Thatsachen auszugeben. Die Wissenschaft kann angeben, was sie heute weiß. Sie kann auch genau bezeichnen, was sie nicht weiß. Aber zu sagen, was sie einst wissen oder nicht wissen wird, ist nicht ihres Amtes. Freilich, wer von der Wissenschaft fordert, daß sie auf alle Fragen müßiger oder unruhiger Geister mit unschütterlicher und verblüffender Sicherheit Antwort gebe, der muß von ihr enttäuscht sein, denn sie will und darf seine Forderung nicht erfüllen. Die Theologie, die Metaphysik haben es natürlich leichter; sie ersinnen irgend ein Märchen und tragen es mit überwältigendem Ernst vor; will man es ihnen nicht glauben, so schimpfen und bedrohen sie den unbändigen Kunden, aber sie können ihm nichts beweisen, sie können ihn nicht zwingen, ihre Hirngespinste für baare Münze zu nehmen. Theologie und Metaphysik können nie in [] Verlegenheit gebracht werden. Es kostet sie nichts, zu ihren Worten mehr | Worte zu fügen, an eine willkürliche Behauptung eine neue zu knüpfen, auf ein Dogma ein anderes Dogma zu schichten. Der ernste, gesunde Geist, der nach wirklicher Erkenntniß dürstet, wird nie auf den Einfall kommen, sie bei der Metaphysik oder Theologie zu suchen. An sie wendet sich nur der Kindskopf, dessen Wissensdrang oder vielmehr Neugierde schon vom einwiegenden Klang der Worte einer Märchentante voll befriedigt ist. Mit Theologie und Metaphysik tritt die Wissenschaft nicht in Wettbewerb. Wenn jene die Welterscheinung erklären zu können behaupten, so zeigt die Wissenschaft, daß diese angeblichen Erklärungen leeres Geschwätz sind. Sie selbst aber hütet sich natürlich, an die Stelle eines nachgewiesenen Unsinns einen andern Unsinn zu setzen. Sie sagt bescheiden: „Hier haben wir eine Thatsache, hier eine Annahme, hier eine Vermuthung. Ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat.“ Wenn dies den Neo-Katholiken nicht genügt, so sollen sie sich hinsetzen und selbst forschen, selbst neue Thatsachen finden und mit ihnen das unheimliche Dunkel der Welterscheinung aufhellen helfen. Das wäre ein Beweis wirklichen Wissensdranges. Am Tische der Wissenschaft ist Platz für Alle und zum Mitbeobachten ist Jeder willkommen. Aber das fällt den Armen im Geiste, die vom „Bankbruch der Wissenschaft“ faseln, nicht im Traum ein. Schwatzen ist so viel leichter und bequemer als forschen und finden! Es ist richtig: die Wissenschaft erzählt nichts von einem Leben nach dem Tode, von Harfenkonzerten im Paradiese und von der Umwandlung dummer Jungen und hysterischer Gänse in weißgekleidete Engel mit regenbogenfarbenen Flügeln. Sie begnügt sich, sehr viel platter und prosaischer, damit, das Erdendasein des Men-

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schen zu erleichtern. Sie vermindert die durchschnittliche Sterblichkeit und verlängert das Leben des Einzelnen durch Unterdrückung der erkannten Krankheitsursachen, sie schafft neue Bequemlichkeiten und erleichtert den Kampf gegen | die [] zerstörenden Gewalten der Natur. Der Symbolist, der nach einem wundärztlichen Eingriff durch Asepsie vor Eiterung, Brand und Tod bewahrt bleibt, der sich durch einen Chamberland’schen Filter vor dem Typhus schützt, der durch nachlässige Drehung eines Knopfs sein Zimmer mit elektrischem Licht erfüllt, der durch den Fernsprecher über Länder hinweg mit einem geliebten Wesen plaudert, verdankt dies der angeblich bankbrüchigen Wissenschaft, nicht der Theologie, zu der er zurückkehren zu wollen behauptet. Die Forderung, daß die Wissenschaft nicht blos wirkliche, wenn auch beschränkte, Aufschlüsse gebe und nicht blos greifbare Wohlthaten biete, sondern auch alle Räthsel heute, jetzt gleich, löse, den Menschen allwissend, glücklich, gut mache, ist eine unsinnige. Die Theologie, die Metaphysik haben diese Forderung nie erfüllt. Sie ist einfach die geistige Erscheinungsform derselben tollen Ueberhebung, die sich auf stofflichem Gebiete als Genußsucht und Arbeitsscheu geltend macht. Der Deklassirte, der nach Sekt und Weibern, nach Müßiggang und Ehren giert und die Gesellschaftsordnung anklagt, weil sie seinen Lüsten keine Befriedigung bietet, ist der leibliche Bruder des Symbolisten, der Wahrheit fordert und die Wissenschaft schmäht, weil sie sie ihm nicht auf goldenem Teller reicht. Beide verrathen die gleiche Unfähigkeit, die Weltwirklichkeit zu begreifen und einzusehen, daß es nicht möglich ist, ohne Leibesarbeit Güter und ohne Geistesmühe Wahrheit zu erlangen. Der tüchtige Mann, der der Natur ihre Gaben abringt, der emsige Forscher, der im Schweiße seines Angesichtes die Quellen der Erkenntniß erbohrt, flößen Achtung und herzenswarmes Mitgefühl ein. Dagegen kann man nur Geringschätzung für mißvergnügte Müßiggänger haben, die Reichthum von einem Loterie-Gewinnst oder einem Erbonkel und Erleuchtung von einer Offenbarung erwarten, welche ihnen mühelos bei lotterigem Biertrinken im Stamm-Café aufgehen soll. | Die Tröpfe, welche die Wissenschaft schmähen, werfen ihr auch vor, sie habe [] das Ideal zerstört und dem Leben seinen Werth geraubt. Dieser Vorwurf ist ebenso albern wie die Redensart vom Bankbruche der Wissenschaft. Ein höheres Ideal als die Vermehrung der Erkenntniß kann es überhaupt nicht geben. Welche Heiligensage ist so schön wie das Leben eines Forschers, der sein Dasein über ein Mikroskop gebeugt zubringt, fast ohne leibliche Bedürfnisse, von Wenigen gekannt und geehrt, blos für sein eigenes Gewissen arbeitend, ohne einen andern Ehrgeiz als den, vielleicht eine einzige, kleine neue Thatsache sicherzustellen, die ein glücklicherer Nachfolger zu einer glänzenden Synthese benützen, als Baustein in ein Denkmal der Natur-Erkenntniß einfügen wird? Welches Glaubensmärchen hat erhabenere Blutzeugen zu Todesverachtung begeistert als einen Gehlen, der bei der Bereitung des von ihm entdeckten Arsenwasserstoffs vergiftet hinsinkt, einen Croce und Spinelli, die im allzuraschen Aufstieg ihres Luftballons der Tod beim

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Beobachten des Luftdrucks ereilt, von einem Ehrenberg, der über seiner Lebensarbeit erblindet, einem Hyrtl, dem seine anatomischen Corrosiv-Präparate das Augenlicht fast ganz zerstören, von den Aerzten, die sich tödtliche Krankheiten einimpfen, von der fast unübersehbaren Schaar der Entdeckungsreisenden nach dem Nordpol und dem Innern dunkler Erdtheile nicht zu sprechen? Und hat ein Archimedes wirklich sein Leben als werthlos empfunden, wenn er die eindringenden Kriegsknechte des Marcellus beschwört: „Stört mir meine Kreise nicht“? Die echte, gesunde Dichtung hat das auch immer anerkannt und ihre idealsten Gestalten sind nicht ein Frommer, der mit sabberndem Munde Gebete murmelt und mit verdrehten Augen nach einer halluzinatorischen Vision starrt, sondern ein Prometheus und ein Faust, die nach Erkenntniß, das heißt nach bestimmtem Wissen von der Natur, ringen. [] Die Behauptung, daß die Wissenschaft nicht gehalten hat, | was sie versprochen, und daß das heraufkommende Geschlecht sich deshalb von ihr abwendet, widersteht der Kritik keinen Augenblick lang. Sie ist vollkommen aus der Luft gegriffen. Diese Begründung des Neo-Katholizismus ist unsinnig und wenn die Symbolisten selber hundertmal versichern, daß der Ekel vor der Wissenschaft sie zu Mystikern gemacht hat. Die Aufschlüsse, die selbst ein geistesgesunder Mensch über die wirklichen Beweggründe seines Handelns gibt, sind nur mit vorsichtigster Kritik zu benutzen; diejenigen, die ein Entarteter darbietet, sind völlig unbrauchbar. Denn die Antriebe zum Handeln und zum Denken stammen, namentlich beim Entarteten, aus dem Unbewußten und das Bewußtsein erfindet für die Gedanken und Thaten, deren wirkliche Herkunft ihm selbst unbekannt ist, nachträglich einigermaßen einleuchtende Scheingründe. In jedem Buche über Suggestion findet man Seitenstücke zu dem typischen Falle Charcots angeführt: eine Hysterikerin wird in hypnotischen Schlaf versenkt und ihr suggerirt, daß sie nach dem Erwachen einen der anwesenden Aerzte erstechen solle. Sie wird dann geweckt, greift nach dem Messer und geht auf das bezeichnete Opfer los. Man entringt ihr die Klinge und fragt sie, weshalb sie den Arzt ermorden wolle. Sie antwortet ohne Besinnen: „Weil er mir Uebles zugefügt hat.“ Wohlgemerkt: sie hatte ihn an diesem Tage zum erstenmal in ihrem Leben gesehen. Die Person empfand im wachen Zustand den Drang, den Arzt zu tödten. Ihr Bewußtsein hatte keine Ahnung davon, daß ihr dieser Drang im hypnotischen Zustande suggerirt worden war. Daß man niemals ohne Grund mordet, das ist dem Bewußtsein bekannt. Gezwungen, den Grund des Mordversuches zu finden, verfällt das Bewußtsein sofort auf den in der gegebenen Lage allein vernünftig möglichen und es stellt sich vor, daß es den Gedanken des Mordes gefaßt hat, um für erlittenes Unrecht Rache zu üben. | [] Eine Erklärung dieser Erscheinung des Seelenlebens bietet die Hypothese der Brüder Janet von der doppelten Persönlichkeit. „Jeder Mensch besteht aus zwei  Pierre Janet, Les actes inconscients et le dédoublement de le personnalité. Revue philosophique, Dezember . Jules Janet, L’Hystérie et l’Hypnotisme d’après la théorie de la double personnalité. Revue scientifique, , . Band S. .

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Die Symbolisten.

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Persönlichkeiten, einer bewußten und unbewußten. Beim gesunden Menschen sind beide gleich, beide vollständig und im Gleichgewicht. Beim Hysteriker sind sie ungleich, außer Gleichgewicht. Eine der beiden Persönlichkeiten, gewöhnlich die bewußte, ist unvollständig, die andere vollkommen.“ Die bewußte Persönlichkeit hat die undankbare Aufgabe, den Handlungen der unbewußten Gründe anzudichten. Es ist wie in dem bekannten Spiel, wo eine Person Bewegungen macht und eine andere die dazu passenden Worte spricht. Beim entarteten Menschen mit gestörtem Gleichgewicht fällt dem Bewußtsein die Rolle einer äffischen Mutter zu, welche für die dummen und schlechten Streiche eines ungerathenen Kindes entschuldigende Ausreden zu finden hat. Die unbewußte Persönlichkeit begeht Thorheiten und Uebelthaten und die bewußte, die ohnmächtig dabei steht und sie nicht verhindern kann, sucht sie durch allerlei vorgeschützte Begründungen zu beschönigen. Die Ursache der neokatholischen Bewegung ist also nicht darin zu suchen, daß die Jugend irgend etwas gegen die Wissenschaft einzuwenden oder sich irgendwie über sie zu beklagen hat. Ein Vogué, Rod, Desjardins, Paulhan, der dem Mysticismus der Symbolisten einen solchen Grund unterlegt, dichtet ihm willkürlich einen Ursprung an, den er nicht hat. Er ist einzig und allein auf Entartungszustände der Erfinder dieser Richtung zurückzuführen. Der Neokatholizismus wurzelt in | der Emotivität und dem Mysticismus, diesen beiden häufigsten und kennzeich- [] nendsten Stigmaten der Entarteten. Daß der Mysticismus der Degenerirten auch in Frankreich, dem Lande Voltaires, häufig die Form der Glaubensschwärmerei angenommen hat, kann im ersten Augenblicke befremden, wird aber durch eine Betrachtung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des französischen Volkes während der letzten Jahrzehnte verständlich. Die große Umwälzung verkündete drei Ideale: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit ist ein harmloses Wort, das keine wirkliche Bedeutung hat und darum Niemand stört. Die Freiheit ist den oberen Klassen zwar unangenehm und sie klagen viel über die Volkssouveränetät und das allgemeine Stimmrecht, aber sie ertragen doch ohne allzugroße Beschwerde einen Zustand, der schließlich durch eine topfguckerische Verwaltung, durch Polizeivormundschaft, Militarismus und Gendarmerie hinlänglich gemildert ist und in dem der Pöbel immer noch genügend an der Leine gehalten wird. Die Gleichheit aber ist den Besitzenden ein unleidlicher Greuel. Sie ist die einzige Errungenschaft der großen Umwälzung, die alle späteren Wandlungen der Staatsform überdauert hat und im französischen Volke lebendig geblieben ist. Denn von der Brüderlichkeit weiß der Franzose nicht viel, seine Freiheit hat vielfach den Maulkorb zum Sinnbilde, aber die Gleichheit besitzt er thatsächlich und an ihr hält er fest. Der letzte Landstreicher, der Zuhälter in der Großstadt, der Lumpensammler und Hausknecht glaubt, daß er ebenso gut sei wie der Bewohner des Schlosses, und er sagt es ihm, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt, unbedenklich ins Gesicht. Die Gründe des franzö-

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

sischen Gleichheitsfanatismus sind nicht besonders edel. Dieses Gefühl entspringt nicht einem stolzen Mannesbewußtsein und einer Erkenntniß eigenen Werthes, [] sondern niedrigem Neide und boshafter Unduldsamkeit. Es soll nichts | hervorragen! Es soll nichts besser, schöner oder auch nur auffallender sein als die Durchschnitts-Gemeinheit! Gegen diese Wuth der Gleichmacherei sträuben sich nun die oberen Klassen mit leidenschaftlicher Heftigkeit und am allermeisten gerade diejenigen, die durch die große Umwälzung in die Höhe gebracht worden sind. Die Enkel der dörflichen Leibeigenen, welche die Herrensitze plünderten und zerstörten, deren Bewohner feig ermordeten und sich ihrer Ländereien bemächtigten, die Nachkommen der städtischen Krämer und Flickschuster, die sich durch Straßen- und Klubpolitik, durch Spekulation in National-Gütern und Assignaten und durch gaunerische Heerlieferungen bereicherten, wollen nicht mit der Menge verwechselt werden. Sie wollen einen bevorrechteten Stand bilden. Sie wollen als vornehmere Kaste anerkannt sein. Sie suchten zu diesem Zwecke ein unterscheidendes Merkmal, das sie sofort als Mitglieder einer gesellschaftlichen Auslese kenntlich machte, und sie fanden es in der Kirchlichkeit. Die Wahl ist begreiflich. Die Menge, namentlich die städtische, ist in Frankreich vollkommen ungläubig und der alte geschichtliche Adel, der im achtzehnten Jahrhundert mit Freigeisterei prahlte, ist aus der Sintflut von  sehr fromm hervorgegangen, denn er begriff oder ahnte den innern Zusammenhang aller alten Vorstellungen und Sinnbilder, des Glaubens, des Königthums und des Briefadels. Durch ihre Kirchlichkeit stellten also die Emporkömmlinge zugleich eine Gegensätzlichkeit zwischen sich und der Menge her, von der sie sich absondern wollen, und eine Aehnlichkeit mit der Kaste, in die sie sich einschleichen oder eindrängen möchten. Die Erfahrung lehrt, daß der Erhaltungstrieb oft der schlechteste Rathgeber in gefährlichen Lagen ist. Der Nichtschwimmer, der ins Wasser fällt, streckt unwillkürlich die Arme empor und bewirkt dadurch unfehlbar, daß der Kopf unter-| [] taucht und er ertrinkt, während Mund und Nase über Wasser blieben, wenn er Arme und Hände ruhig unter dem Wasserspiegel hielte. Der schlechte Reiter, der sich unsicher fühlt, zieht gewöhnlich die Beine hoch und fällt dann gewiß, während er wahrscheinlich das Gleichgewicht bewahren würde, wenn er die Beine langgestreckt ließe. So hat auch die französische Bourgeoisie, die sich bewußt ist, daß sie die Früchte der großen Umwälzung an sich gerissen und den vierten Stand, der allein die Revolution gemacht, leer ausgehen gelassen hat, das schlechteste Mittel gewählt, um sich im Besitze der unrecht erworbenen Güter und Vorrechte zu erhalten und der widernatürlichen Gleichmacherei zu entgehen, als sie die Kirchlichkeit zu ihrem Gesellschaftsbrauche machte. Sie entfernte dadurch die klügsten, stärksten und gebildetsten Geister von sich und trieb viele junge Leute, die, im Denken radikal, doch wirthschaftlich konservativ und für die Gleichheit wenig eingenommen, eine Schutzkraft für ein freidenkerisches Bürgerthum geworden wären, zum Sozialismus hinüber, weil dieser neben seinen grundstürzenden

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Die Symbolisten.

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Wirthschaftslehren und seinen unmöglichen Gleichheitstheorien die Aufklärung vertritt. Doch ich habe hier nicht zu beurtheilen, ob die Glaubens-Mimicry der französischen Bourgeoisie, welche sie dem geschichtlichen Adel ähnlich machen soll, die erwartete Schutzwirkung üben wird oder nicht, ich stelle blos die Thatsache dieser Mimicry fest. Sie bringt es mit sich, daß alle reichen und vornehmthuenden Emporkömmlinge ihre Söhne in die Jesuiten-Mittel- und Hochschulen schicken. Von den Jesuiten erzogen worden zu sein gilt als ein Zeichen von Kaste, fast wie die Mitgliedschaft des Jockey-Klubs. Die ehemaligen Jesuitenzöglinge bilden eine schwarze Freimaurerei, die ihre Schutzbefohlenen in allen Laufbahnen eifrig fördert, sie mit reichen Erbinen verheiratet, ihnen in übeln Lagen zu Hilfe eilt, ihre Sünden vertuscht, Aergernisse erstickt u. s. w. Die Jesuiten nun sind | es, welche es sich in [] den letzten Jahrzehnten haben angelegen sein lassen, der ihnen anvertrauten reichen und vornehmen Jugend Frankreichs ihre eigenen Denkgewohnheiten beizubringen. Ein erblich mangelhaftes und darum zur Mystik neigendes Gehirn brachten die jungen Leute in die geistlichen Schulen mit und diese gaben dann dem mystischen Denken der entarteten Zöglinge den religiösen Inhalt. Das ist nicht etwa eine willkürliche Annahme, sondern eine wohlbegründete Thatsache. Charles Morice, der ästhetische Theoretiker und Philosoph der Symbolisten, hat nach dem Zeugnisse seiner Freunde die Erziehung von den Jesuiten erhalten. Ebenso Louis Le Cardonnel, Henri de Régnier und Andere. Die Jesuiten haben die Redensart vom Bankbruche der Wissenschaft erfunden und ihre Zöglinge schwatzen sie ihnen nach, weil sie eine einleuchtende Erklärung ihrer Glaubensduselei in sich schließt, deren wirkliche organische Gründe ihnen nicht bekannt sind und übrigens auch dann nicht würden eingestanden werden, wenn sie ihnen bekannt wären. „Ich kehre zum Glauben zurück, weil die Wissenschaft mich nicht befriedigt“, das kann man sagen. Es ist sogar vornehm, denn es setzt Wahrheitsdurst und edle Beschäftigung mit großen Fragen voraus. Dagegen wird man schwerlich bekennen wollen: „Ich schwärme für die Dreifaltigkeit und die heilige Jungfrau, weil ich ein Entarteter bin und mein Gehirn zur Aufmerksamkeit und zu klarem Denken unfähig ist.“ Daß das Jesuiten-Argument, wie es von Vogué, Rod u. s. w. vorgetragen wird, auch außerhalb der kirchlichen Kreise und der jungen Entarteten Glauben finden konnte, daß man heute von den Halbgebildeten wiederholen hört: „Die Wissenschaft ist besiegt, der Religion gehört die Zukunft,“ das hängt mit den geistigen Eigenthümlichkeiten der Menge zusammen. Diese geht nie auf die Thatsachen zurück, sondern wiederholt | die fertigen Sätze, die ihr vorgesprochen werden. [] Würde sie auf die Thatsachen achten, so wüßte sie, daß die Zahl der naturwissenschaftlichen Fakultäten, Lehrer und Schüler, der wissenschaftlichen Zeitschriften und Bücher, ihrer Abonnenten und Leser, der Laboratorien, wissenschaftlichen Vereine und Mittheilungen an Akademien von Jahr zu Jahr zunimmt. Man kann

 Morhardt, a. a. O. S. .

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mit Ziffern beweisen, daß die Wissenschaft fortwährend Boden gewinnt, nicht verliert. Aber um genaue Zahlenangaben kümmert sich die Menge nicht. Sie läßt sich in Frankreich widerstandlos von einigen hauptsächlich für Klubleute und vergoldete Dirnen geschriebenen Zeitungen, in welche die Zöglinge der geistlichen Schulen Eingang gefunden haben, die Vorstellung suggeriren, daß die Wissenschaft vor der Religion zurückweiche. Von der Wissenschaft selbst, ihren Voraussetzungen, Methoden und Ergebnissen hat sie nie etwas gewußt. Jene war zu einer gewissen Zeit Mode. Damals sagten die Zeitungen täglich: „Wir leben in einem wissenschaftlichen Zeitalter“, die Tagesneuigkeiten berichteten über die Reisen und Hochzeiten von Forschern, in den Feuilleton-Romanen kamen witzige Anspielungen auf Darwin vor, die Erfinder von eleganten Spazierstöcken und Düften nannten ihr Erzeugniß „Evolutions-Parfüm“ oder „Zuchtwahl-Stäbchen“ und der Bildungsheuchler hielt sich ganz im Ernst für einen Fortschritts- und Aufklärungs-Tausendsassa. Heute erlassen die Gesellschaftskreise, welche die Moden machen, und die Blätter, welche jenen Kreisen zu gefallen suchen, die Verordnung, daß nicht mehr die Wissenschaft, sondern der Glaube Chic sei, und nun erzählen die Tagesneuigkeiten der Boulevard-Blätter kleine Pikanterien von Predigern, in den Feuilleton-Romanen wird aus der „Nachfolge Christi“ angeführt, die Erfinder treten mit reich ausgestatteten Betstühlen und preiswürdigen Rosenkränzen hervor und der Philister fühlt [] mit tiefer Rührung die Wunderblume des Glaubens in seinem Herzen | sprießen und aufblühen. Von ihren wirklichen Jüngern hat die Wissenschaft schwerlich auch nur einen einzigen verloren. Dagegen ist es nur natürlich, daß der Salonpöbel, dem sie immer nur Modesache gewesen ist, ihr auf ein einfaches Losungswort eines Schneiders oder einer Modistin den Rücken wendet. So viel von dem Neo-Katholizismus, den man theils aus Partei-Gründen, theils aus Unwissenheit, theils aus Snobismus für eine ernste geistige Bewegung der Zeit ausgibt. Der Symbolismus will aber nicht blos eine Rückkehr zum Glauben, sondern auch eine neue Theorie der Kunst und Dichtung sein, wir haben also auch diese Seite seines Wesens zu prüfen. Wenn wir zunächst wissen wollen, was die Symbolisten sich unter einem Symbol und unter Symbolismus denken, so werden wir denselben Schwierigkeiten begegnen wie bei der Ergründung des eigentlichen Sinnes der Bezeichnung Präraphaelismus, und zwar aus derselben Ursache: weil die Erfinder dieser Benennungen sich dabei eben hundert verschiedene, einander widersprechende, undeutliche Dinge oder auch einfach gar nichts dachten. Ein kluger und gewandter Tagesschriftsteller, Jules Huret, hat eine Umfrage über die neue Literatur-Bewegung in Frankreich veranstaltet und von deren Häuptern Auskünfte erlangt, die uns eine zuverlässige Kenntniß des Sinnes verschaffen, den sie selbst mit den Ausdrücken und Redensarten ihres Schul-Programmes verbinden oder zu verbinden vorgeben.

 Jules Huret, Enquête sur l’evolution littéraire. Paris, .

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Die Symbolisten.

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Ich will hier einige dieser Äußerungen und Erklärungen anführen. Was Symbolismus ist, werden sie uns allerdings nicht lehren. Wohl aber werden sie uns einen Einblick in die Denkweise der Symbolisten gewähren. Stéphane Mallarmé, der von den Jüngern am wenigsten bestrittene Führer der symbolistischen Schaar, läßt sich folgender-|maßen aus: „Einen Gegenstand nen- [] nen heißt drei Viertel des Genusses an einem Gedichte unterdrücken, der aus dem Glücke besteht, nach und nach zu errathen. Den Gegenstand suggeriren, das ist der Traum. Die vollkommene Anwendung dieses Geheimmisses bildet das Symbol: allmälig einen Gegenstand heraufbeschwören, um einen Seelenzustand zu zeigen, oder, umgekehrt, einen Gegenstand wählen und aus ihm durch eine Reihe von Entzifferungen einen Seelenzustand herausschälen.“ Wenn der Leser diese Verknüpfung dunkler Worte nicht gleich versteht, so möge er sich bei ihrer Enträthselung nicht aufhalten. Ich werde weiterhin das Gestammel dieses Schwachsinnigen in die verständliche Sprache gesunder Menschen übersetzen. Verlaine, ein anderer Hoherpriester der Sekte, läßt sich so vernehmen: „Ich war es, der im Jahre  den Namen Symbolisten für uns in Anspruch nahm … Den Parnassiern und meisten Romantikern fehlte es in gewissem Sinn an Symbolen … Daher der Irrthum der örtlichen Farbe in der Geschichte, der Mythus durch eine falsche philologische Deutung verschrumpft, der Gedanke ohne die Wahrnehmung der Gleichnisse, das Gefühl aus der Anekdote geschöpft.“ Hören wir einige Dichter zweiten Ranges der Gruppe. „Ich erkläre die Kunst“, sagt Paul Adam, „als die Eintragung eines Dogmas in ein Symbol. Sie ist ein Mittel, um einem System zur Herrschaft zu verhelfen und Wahrheiten ans Tageslicht zu bringen.“ Remy de Gourmont bekennt ehrlich: „Ich kann Ihnen die geheime Bedeutung des Wortes Symbolismus nicht enthüllen, denn ich bin weder Theoretiker noch Zauberer“, und Saint-Pol-Roux warnt tiefsinnig: „Man nehme sich in Acht. Der übertriebene Symbolismus führt zum Nabelthum (nombrilisme) und zum seuchenhaften Mechanismus … Dieser Symbolismus ist einigermaßen eine Verzerrung des Mysticismus … Der ausschließliche Sym-|bolismus ist in unserm bemer- [] kenswerthen Jahrhundert der kampffreudigen Thätigkeit anormal. Betrachten wir diese Uebergangs-Kunst als einen dem Naturalismus angethanen geistreichen Schabernack und als einen Vorläufer der Dichtung von morgen.“ Von den Theoretikern und Philosophen der Gruppe dürfen wir erschöpfendere Auskunft über ihre Wege und Ziele erwarten. Charles Morice belehrt uns in der That: „Das Symbol ist die Mischung der Gegenstände, die unsere Gefühle erweckt haben, und unserer Seele in einer Erdichtung (fiction). Das Mittel ist die Suggestion; es handelt sich darum, den Leuten die Erinnerung an etwas zu geben, was sie nie gesehen haben.“ Und Gustav Kahn sagt: „Die symbolische Kunst besteht darin, in eine Folge von Werken möglichst vollständig alle geistigen Aenderungen und Wandlungen eines Dichters einzutragen, der von einem Ziel begeistert ist, das er zu bestimmen hat.“

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Es haben sich in Deutschland bereits einige Schwach- und Blödsinnige, einige Hysteriker und Graphomanen gefunden, die behaupten, daß sie dieses Gefasel verstehen, und es in Vorträgen, Zeitungs-Aufsätzen und Büchern weiter entwickeln. Der deutsche Bildungs-Philister, dem von jeher die Verachtung der „Plattheit“, das heißt des gesunden Menschenverstandes, und die Bewunderung des „Tiefsinns“, das heißt in der Regel des ohnmächtigen Brodelns denkunfähiger Schleim- und Gallert-Gehirne, gepredigt worden ist, wird sichtlich ängstlich und fängt an, sich zu fragen, ob hinter diesen gänzlich sinnlosen Wortfolgen nicht vielleicht doch etwas stecke. In Frankreich ist man den armen Thoren und kaltblütigen Schalken nicht auf den Leim gegangen, sondern hat den Symbolismus als das erkannt, was er ist, als Wahnsinn oder Schwindel. Wir werden diese Worte im Munde berufener Vertreter aller schriftstellerischen Richtungen antreffen. | [] „Die Symbolisten!“ ruft Jules Lemaître; „das gibt es ja gar nicht. Sie wissen selbst nicht, was sie sind und was sie wollen. Etwas ist da, unter der Erde, was sich bewegt, was wimmelt, aber nicht durchbrechen kann. Verstehen Sie? Wenn sie mühselig etwas hervorgebracht haben, so möchten sie Formeln und Theorien darum bauen, es gelingt ihnen aber nicht, da sie die dazu nöthige Geistesstärke nicht besitzen … Sie sind Spaßmacher, mit einem Theil Aufrichtigkeit, das gebe ich zu, aber Spaßmacher.“ Joséphin Péladan bezeichnet sie als „wunderliche Feuerwerker der Metrik und des Wörterbuchs, die sich zusammenthun, um durchzudringen, und sich seltsame Namen geben, um bekannt zu werden.“ Jules Bois ist viel kräftiger. „Unzusammenhängende Bewegungen, gestammeltes Gebrüll — das sind die Symbolisten. Katzenmusik von Wilden, die in einer englischen Grammatik und in einer Sammlung alter Wörter außer Gebrauch geblättert hätten. Wenn sie jemals etwas gewußt haben, so heucheln sie, es vergessen zu haben. Verschwommen, fehlerhaft, dunkel, sind sie dennoch ernst wie Auguren … Sie betrügen uns mit einer abrakadabrirenden und kindischen Syntaxis.“ Verlaine selbst, der MitErfinder des Symbolismus, nennt in einem Augenblicke der Aufrichtigkeit seine Nachbeter „Plattfüße, jeder mit seiner eigenen Fahne, auf der das Wort ‚Reklame‘ steht.“ Henri de Régnier meint entschuldigend: „Sie empfinden das Bedürfniß, sich um ein gemeinsames Banner zu schaaren, um zusammen wirksamer gegen die Zufriedenen kämpfen zu können.“ Zola spricht von ihnen als „von einer Bande Haifische, die, da sie uns nicht verschlingen können, sich untereinander auffressen.“ Joseph Caraguel bezeichnet das symbolistische Schriftthum als „ein Schriftthum des Kindergeplärrs, des Lallens, der Leere im Gehirn, ein Schriftthum von vor den sudanesischen Griots (Sängern).“ Edmund Haraucourt erkennt klar die [] Ziele der Symbolisten. „Sie sind Unzufriedene | und Leute, die es eilig haben. Sie sind die Boulangisten des Schriftthums. Man muß leben! Man will einen Platz einnehmen, bekannt, angesehen sein. Man schlägt auf die Tromnel los, die nicht einmal eine Pauke ist … Ihr wahres Symbol ist: Eilgut. Jeder nimmt den Schnellzug. Bestimmungsort: Ruhm.“ Pierre Quillard glaubt, daß man in die Benennung Symbolisten willkürlich „Dichter von wirklicher Begabung und reine Dummköpfe“ ein-

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geschlossen hat, und Gabriel Vicaire sieht in den Verkündigungen der Symbolisten „bloße Schuljungen-Späßchen.“ Laurent Tailhade endlich, ein Hauptsymbolist, plaudert das Geheimniß aus: „Ich habe diesem Spiele niemals einen andern Werth beigelegt als den einer flüchtigen Unterhaltung. Wir foppten den leichtgläubigen Verstand einiger schriftstellerischer Anfänger mit dem Scherz der farbigen Selbstlaute, der thebanischen Liebe, des Schopenhauerismus und anderen Schwänken, die seitdem ihren Weg in der Welt gemacht haben.“ Allerdings: wie gesagt, selbst in Deutschland. Schimpfen heißt indeß nicht erklären und wenn bewußten Schwindlern gegenüber, die nach Zahnbrecherart den wilden Mann spielen, um den Marktleuten Geld auszulocken, die schärfste Abfertigung angebracht ist, so ist aufrichtigen Schwachköpfen gegenüber Aerger und Spott nicht am Platze. Sie sind Kranke oder Krüppel und verdienen als solche nur Mitleid. Ihr Gebrechen muß man allerdings aufdecken, aber harte Behandlung ist seit Pinel auch in den Irrenhäusern aufgegeben. Die Symbolisten, so weit sie ehrliche Entartete und Schwachsinnige sind, können nur mystisch, das heißt verschwommen denken. Das Unbewußte ist in ihnen stärker als das Bewußte, die Thätigkeit der Organ-Nerven überwiegt die der grauen Hirnrinde, ihre Emotionen beherrschen ihre Vorstellungen. Wenn Menschen dieser Art dichterischen und künstlerischen Drang haben, so wollen sie naturgemäß ihren eigenen | Geisteszustand ausdrücken. Bestimmte Worte mit klarem Vorstellungs- [] Inhalte können sie nicht brauchen. Denn in ihrem eigenen Bewußtsein finden sie keine deutlich umrissenen, eindeutigen Vorstellungen, die in solche Worte gefaßt werden könnten. Sie wählen deshalb verschwommene, vieldeutige Worte, weil diese ihren vieldeutigen, verschwommenen Vorstellungen am besten entsprechen. Je undeutlicher, je dunkler ein Wort ist, umso besser eignet es sich zu den Zwecken des Schwachsinnigen und beim Wahnsinnigen geht dies bekanntlich so weit, daß er für seine gänzlich formlos gewordene Vorstellung neue Worte erfindet, die nicht mehr blos dunkel, sondern jedes Sinnes bar sind. Wir haben schon gesehen, daß für die typischen Entarteten die Wirklichkeit keine Bedeutung hat. Ich erinnere nur an die früher angeführten Aeußerungen D. G. Rossettis, Morices u. s. w. über diesen Punkt. Die klare Rede dient dem Zwecke der Mittheilung von Wirklichem. Sie hat deshalb für den Entarteten keinen Werth. Er schätzt nur die Rede, bei der er nicht dem Denken des Sprechenden aufmerksam folgen muß, sondern ohne Zwang seinem eigenen schweifenden Traum-Denken nachhängen kann, wie ja seine eigene Rede auch nicht den Zweck hat, bestimmtes Denken mitzutheilen, sondern nur der blasse Widerschein seines Gedanken-Dämmers sein soll. Das ist es, was Mallarmé meint, wenn er sagt: „Einen Gegenstand nennen heißt, drei Viertel des Genusses unterdrücken … Den Gegenstand suggeriren, das ist der Traum.“ Das Denken eines gesunden Gehirns hat ferner einen von den Gesetzen der Logik und der Ueberwachung der Aufmerksamkeit geregelten Verlauf. Es nimmt einen bestimmten Gegenstand zum Inhalt, verarbeitet und erschöpft ihn. Der gesunde Mensch kann erzählen, was er denkt, und seine Erzählung hat einen

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Anfang und ein Ende. Der mystische Schwachsinnige aber denkt blos nach den Gesetzen der Ideen-Assoziation, ohne Aufmerksamkeit auf einen rothen Faden. Er [] hat Ge-|dankenflucht. Er kann nie genau angeben, woran er denkt, er kann nur die Emotion bezeichnen, die eben sein Bewußtsein beherrscht. Er kann nur im Allgemeinen sagen: „Ich bin traurig“, „ich bin lustig“, „ich bin zärtlich“, „ich habe Angst“. Sein Denken ist von fliehenden und schwimmenden Wolken-Vorstellungen erfüllt, die von der herrschenden Emotion ihre Färbung erhalten, wie der über einem Krater stehende Qualm von der Glut am Grunde des vulkanischen Kessels roth angeflammt ist. Wenn er dichtet, wird er also niemals eine logische Gedankenfolge entwickeln, sondern mit dunkeln Worten von bestimmter emotioneller Färbung eine Emotion, eine „Stimmung“ darzustellen suchen. Er schätzt an Dichtwerken auch nicht eine deutliche Geschichte, den Vortrag eines bestimmten Gedankens, sondern nur das Spiegelbild einer Stimmung, die auch in ihm eine solche, und nicht einmal nothwendigerweise dieselbe, erweckt. Die Entarteten fühlen sehr gut diesen Unterschied zwischen einem Werke, das kräftige Denkarbeit ausdrückt, und einem solchen, in welchem blos emotionell gefärbte Gedankenflucht wallt und wogt, und sie suchen triebhaft nach einem unterscheidenden Ausdrucke für die Dichtungsart, für die allein sie Verständniß besitzen. Sie haben nun in Frankreich das Wort Symbolismus für sie gefunden. So unsinnig die Erklärungen scheinen, welche die Symbolisten selbst für ihr Schlagwort geben, der Psycholog hört doch aus ihrem Lallen und Stammeln deutlich heraus, daß sie unter einem „Symbol“ ein Wort oder eine Wortfolge verstehen, die nicht eine Thatsache der Außenwelt oder des bewußten Denkens, sondern eine vieldeutige Dämmer-Vorstellung ausdrückt, die den Leser nicht zum Denken zwingt, sondern ihm zu träumen gestattet, also keine Denkvorgänge, sondern Stimmungen vermittelt. Der große Dichter der Symbolisten, ihr bewundertes Vorbild, von dem sie nach ihrer einstimmigen Aussage die stärkste Anregung empfangen haben, ist Paul Ver[] laine. In diesem | Manne finden wir erstaunlich vollständig alle leiblichen und geistigen Brandmarken der Entartung vereinigt und auf keinen mir bekannten Schriftsteller passen die Beschreibungen, welche die Kliniker vom Degenerirten geben, Zug um Zug so genau wie auf ihn, seine körperliche Erscheinung, seine Lebensgeschichte, sein Denken, den Inhalt seiner Vorstellungswelt und seine Ausdrucksweise. Jules Huret gibt von seinem Aeußern folgende Beschreibung: „Sein Kopf eines gealterten bösen Engels mit dem ungepflegten dünnen Barte und der plötzlichen (?) Nase, seine buschigen und gesträubten, grannigen Aehren ähnlichen Augenbrauen, die einen grünen und tiefen Blick decken, sein ungeheurer und langer, gänzlich kahler, von räthselhaften Beulen mißhandelter Schädel geben dieser Miene den gegensätzlichen Anschein eines verstockten Aszetismus und zyklopischer Begierden.“ Wie selbst aus diesen lächerlich gesuchten und theilweise ganz unsinnigen Ausdrücken hervorgeht, ist auch dem völlig laienhaften Beobach-

 Huret, a. a. O. S. .

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Die Symbolisten.

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 ter die Unregelmäßigkeit der Schädelbildung Verlaines, das, was Huret die „räth-

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selhaften Beulen“ nennt, aufgefallen. Wenn man das Bildniß des Dichters von Eugène Carrière, von dem ein Lichtbild den „Ausgewählten Dichtungen“ Verlaines vorgeheftet ist, namentlich aber dasjenige von Aman-Jean, das  im Pariser Marsfeld-Salon ausgestellt war, betrachtet, so bemerkt man auf den ersten Blick die starke Unebenmäßigkeit des Schädels, die Lombroso bei den Entarteten nachgewiesen hat, und die durch hervorstehende Backenknochen, schief gestellte Augen und dünnen Bart gekennzeichnete mongolische Physiognomie, die derselbe Forscher als ein Degenerations-Merkmal anspricht. Verlaines Leben ist in Geheimniß gehüllt, doch weiß | man aus seinen eigenen [] Bekenntnissen, daß er zwei Jahre in einem Gefängnisse zugebracht hat. In dem Gedichte: „Ecrit en “ erzählt er ausführlich und nicht nur ohne jede Beschämung, sondern fröhlich unbefangen, ja sogar ruhmredig wie ein richtiger Berufsverbrecher: „Ich habe unlängst das beste Schloß bewohnt, in feinster Landschaft mit fließendem Wasser und Hügeln. Vier Thürme erhoben sich am Ende ebenso vieler Flügel und einen von ihnen habe ich lange, lange bewohnt … Ein sorgfältig verschlossenes Zimmer, ein Tisch, ein Stuhl, ein knappes Bett, wo man eben noch Raum zum Schlafen hatte, das war mein Los während der langen Monate, die ich da zugebracht habe … Ich war glücklich mit diesem Leben, dankbar für Güter, um die mich gewiß Niemand beneidet.“ Und in dem Gedichte „Un conte“ heißt es: „Dieser große Sünder hatte einen Lebenswandel, der so verrückt war, daß er zu ungeschickt wurde, so daß die Gerichte sich mit ihm zu beschäftigen hatten und was sonst noch die Folgen zu sein pflegen. Können Sie sich ihn nun im engsten aller Kasten denken? Zellen! Menschenfreundliche Gefängnisse! Man muß sein schales (fadasse!) Grauen und diesen Fortschritt der Heuchelei verschweigen.“ Es ist bekannt geworden, daß seine Verurtheilung wegen eines Sittlichkeits-Verbrechens erfolgte, und das kann nicht überraschen, denn der besondere Charakter seiner Entartung ist eine toll brünstige Erotik. Er denkt beständig an Unzucht und seinen Geist füllen fortwährend Bilder der Geilheit. Ich habe nicht den Wunsch, hier Stellen anzuführen, in denen der ekelhafte Seelenzustand dieses unglückseligen Sklaven seiner krankhaft erregten Sinne ausgedrückt ist, doch sei der Leser, der die Belegstellen kennen zu lernen wünscht, etwa auf die Gedichte „Les coquillages“, „Fille“ und „Auburn“ verwiesen. | Geschlechtliche Ausschweifung ist nicht sein einziges Laster. Er ist auch ein [] Säufer und zwar, wie bei einem Entarteten zu erwarten, ein paroxystischer Säufer, der, aus dem Rausche erwacht, von tiefem Abscheu vor dem alkoholischen Gifte

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Paul Verlaine, Choix de poësies, Paris. . Lombroso, L’Uomo delinquente. S. . Lombroso, a. a. O. S. . Verlaine, a. a. O. S. . Verlaine, a. a. O. S. , , .

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und vor sich selbst ergriffen ist, von „les breuvages exécrés“ spricht („La bonne chanson“), aber bei der nächsten Gelegenheit wieder der Versuchung erliegt. Moralischer Irrsinn ist bei Verlaine indeß nicht vorhanden. Er sündigt aus unwiderstehlichem Antriebe. Er ist ein „Impulsiver“. Was diese beiden Formen der Entartung unterscheidet, das ist, daß der moralisch Irrsinnige seine Verbrechen nicht für etwas Schlechtes hält, sie mit derselben Gemüthsruhe begeht, mit der ein gesunder Mensch gleichgiltige oder tugendhafte Handlungen vollbringt, und nach ihrer Verübung mit sich ganz zufrieden ist, während der Impulsive das volle Bewußtsein der Verworfenheit seines Thuns bewahrt, verzweifelt gegen seinen Trieb ankämpft, bis er nicht mehr widerstehen kann, und nach der That die schrecklichste Verzweiflung und Reue empfindet. Nur ein „Impulsiver“ spricht von sich selbst vorwurfsvoll als von dem „einen Verworfenen“ („un seul Pervers“; „Sagesse“) oder findet die zerknirschten Töne, die Verlaine in den ersten vier Sonnetten von „Sagesse“ anschlägt: „Harte Menschen! Scheußliches, häßliches Leben hienieden! Ach, wenn doch, fern von den Küssen und Kämpfen, noch etwas auf dem Berge übrig bliebe, etwas vom kindlichen, zarten Herzen, etwas Güte und Ehrerbietigkeit! Denn was begleitet uns und wahrlich, wenn der Tod kommt, was bleibt?“ „Schließe die Augen, meine arme Seele, gehe sofort nach Hause. Eine der schlimmsten Versuchungen naht. Fliehe die Niederträchtige … Wenn die alte Tollheit noch immer unterwegs wäre? Diese Erinnerungen! Wird man sie nochmals tödten müssen? Ein wüthender Ansturm, der äußerste ohne Zweifel! O geh beten [] gegen das Ungewitter, geh beten.“ | „Mein Herz in der Noth müßte nach dem ungeheuern und zarten Mittelalter segeln, fern von unseren Tagen der fleischlichen Gesinnung und des traurigen Fleisches … Dort möchte ich einen Antheil an der lebenswichtigen Sache haben, ein Heiliger sein, mit guten Handlungen und rechtschaffenem Denken, hoher Gottesgelahrtheit und fester Sittlichkeit, blos vom einzigen Wahnsinn des Kreuzes auf deinen steinernen Flügeln, o wahnsinnige Kathedrale, emporgetragen.“ Wie diese Probe zeigt, fehlt auch bei Verlaine die gewöhnliche Begleiterin der krankhaft gesteigerten Erotik, die Glaubensschwärmerei, nicht. Diese findet übrigens in manchen anderen Gedichten einen noch viel bestimmtern Ausdruck. Ich möchte nur aus zweien bezeichnende Strophen anführen: „O mein Gott!“ ruft der Dichter, „du hast mich mit Liebe verwundet und die Wunde ist noch bebend; o mein Gott, du hast mich mit Liebe verwundet. O mein Gott, deine Furcht hat mich getroffen und das Brandmal ist noch da und donnert“, (man beachte die Ausdrucksweise und die beständigen Wiederholungen) „o mein Gott, deine Furcht hat mich getroffen. O mein Gott, ich habe erkannt, daß Alles erbärmlich ist, und dein Ruhm hat sich in mir niedergelassen. O mein Gott, ich habe erkannt, daß Alles erbärmlich ist. Ersäufe meine Seele in der Flut deines Weines, schmilz mein Leben ins Brod deines Tisches, ersäufe meine Seele in der Flut deines Weines. Nimm hier

 Verlaine, a. a. O. S. , .

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Die Symbolisten.

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mein Blut, das ich nicht vergossen habe, nimm hier mein Fleisch, das unwürdig ist, zu leiden, nimm hier mein Blut das ich nicht vergossen habe.“ Folgt die verzückte Aufzählung aller Körpertheile, die er Gott als Opfer darbietet, dann schließt das Gedicht: „Du kennst das Alles, das Alles, und weißt, daß ich ärmer bin als irgend Jemand, du kennst das Alles, das Alles. Aber was ich habe, mein Gott, das gebe ich dir.“ An die heilige Jungfrau wendet er sich mit diesen | Anrufungen: „Ich will [] nur noch meine Mutter Maria lieben. Jede andere Liebe ist auf Befehl, nothwendig, wie sie ist, kann meine Mutter allein sie in den Herzen, die sie angebetet haben, entzünden. Für sie muß ich meine Feinde zärtlich lieben, durch sie habe ich dieses Opfer gelobt und die Milde des Herzens und den Eifer im Dienste. Da ich sie anflehte, hat sie es gestattet. Und da ich schwach war und noch sehr böse, mit feigen Händen und Augen von Landstraßen geblendet, senkte sie mir die Augen und faltete mir die Hände und lehrte mich die Worte, mit welchen man anbetet“ u. s. w. Die Töne, die hier angeschlagen werden, sind von der irrenärztlichen Klinik her wohlbekannt. Man vergleiche mit ihnen die Schilderung, die Legrain von einigen seiner Kranken gibt: „Es ist immer Gott und die Jungfrau, seine Base, die in seinen Reden wiederkehren.“ (Es handelt sich um einen entarteten PferdebahnSchaffner.) „Mystische Gedanken vervollständigen das Bild. Er spricht von Gott, vom Himmel, bekreuzigt sich, kniet nieder, sagt, daß er dem Gesetze Christi folgt.“ (Der Gegenstand der Beobachtung ist ein Tagelöhner.) „Der Teufel will mich versuchen, aber ich sehe Gott, der mich beschützt. Sie müssen für mich beten. Ich habe von Gott verlangt, daß alle Leute schön seien“ u. s. w. Der beständige Wechsel gegensätzlicher Stimmungen bei Verlaine, dieses geradezu regelmäßige Umschlagen von viehischer Brunst in gottseligen Ueberschwang und von Versündigung in Reue ist selbst Beobachtern aufgefallen, welche die Bedeutung dieser Erscheinung nicht kennen. „Er ist abwechselnd“, sagt Anatole France, „gläubig und atheistisch, orthodox und ruchlos.“ Gewiß ist er das. Aber warum? Einfach, weil er ein „Zirkulärer“ ist. Unter diesem von der französischen Psychiatrie erfundenen nicht sehr glücklichen Ausdrucke versteht | man Geistes- [] kranke, bei denen Erregungs- und Ermattungszustände einander in regelmäßigem Wechsel folgen. Dem Zeitabschnitte der Erregung entsprechen die unwiderstehlichen Antriebe zu Missethaten und die lästerlichen Reden, dem Zeitabschnitte der Niedergeschlagenheit die Anwandlungen von Zerknirschung und Frömmigkeit. Die „Zirkulären“ gehören zur schlimmsten Gattung der Entarteten. „Sie sind Trunkenbolde, schlüpfrig, bösartig und diebisch.“ Sie sind aber auch namentlich zu jeder dauernden, gleichmäßigen Beschäftigung unfähig, da es einleuchtet, daß sie im

 Legrain, Du délire chez les dégénérés, S. , , .   Huret, a. a. O. S. .  E. Marandon de Montyel, De la criminalité et de la dégénérescence. Archives de l’anthropologie criminelle. Mai . S. .

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Zustande der Niedergedrücktheit keine Arbeit leisten können, die Kraft und Aufmerksamkeit erfordert. Die „Zirkulären“ sind durch die Natur ihres Leidens dazu verurtheilt, Vagabunden oder Diebe zu sein, wenn sie nicht einer reichen Familie angehören. In der normalen Gesellschaft ist für sie kein Platz. Verlaine ist sein ganzes Leben lang Vagabund gewesen. Er hat sich in Frankreich auf allen Landstraßen herumgetrieben, aber auch Belgien und England durchstreift. Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnisse hält er sich meist in Paris auf, hat aber da keine Wohnung, sondern läßt sich unter dem Vorwande rheumatischer Schmerzen, die er sich als Landstreicher in den Nächten unter freiem Himmel übrigens leicht genug holen konnte, in den Krankenhäusern verpflegen. Die Verwaltung drückt ein Auge zu und gewährt ihm Freitisch und Obdach aus Rücksicht auf seine dichterische Thätigkeit. Entsprechend der beständigen Neigung des menschlichen Geistes, zu beschönigen, was man nicht ändern kann, überredet er sich, daß seine Landstreicherei, die ihm durch sein organisches Gebrechen aufgenöthigt ist, ein [] rühmlicher und beneidenswerther Zustand sei, er preist sie als | etwas Schönes, Künstlerisches und Erhabenes und sieht die Vagabunden mit überaus zärtlichen Augen an. „Ihre Beine,“ sagt er, („Grotesques“) „sind ihr einziger Gaul, ihr einziges Gut ist das Gold ihres Blickes, auf der Straße der Abenteuer ziehen sie in Lumpen und abgemagert dahin. Der Weise schreit sie unwillig an, der Dummkopf beklagt diese sorglosen Verrückten“ (man findet bei jedem Wahnsinnigen und Schwachgeistigen diese Ueberzeugung, daß die Verständigen, welche ihn erkennen und beurtheilen, „Dummköpfe“ sind), „die Kinder strecken vor ihnen die Zunge heraus, die Mädchen verhöhnen sie … Aber in ihren Augen lacht und weint empfindlich die Liebe der ewigen Dinge, der alten Todten und der verschollenen Götter. So geht, friedlose Vagabunden, schweift, unheilvoll und verwünscht, Abgründe und Küsten entlang unter dem geschlossenen Auge des Paradieses umher. Natur und Menschen verbünden sich, um die stolze Betrübniß, die euch mit erhobener Stirne dahinschreiten macht, nach Gebühr zu züchtigen“ u. s. w. Und in einem andern Gedichte („Autre“) ruft er seinen Lieblingen zu: „Nun, meine Brüder, gute alte Diebe, süße Vagabunden, Strolche in Blüthe, meine Theuern, meine Guten, rauchen wir philosophisch, ergehen wir uns gelassen, Nichtsthun ist köstlich!“ … Wie der Vagabund sich zu den Vagabunden hingezogen fühlt, so der Geistesgestörte zu den Geistesgestörten. Verlaine empfindet maßlose Bewunderung für König Ludwig II. von Bayern, diesen unglücklichen Irrsinnigen, dessen Bewußtsein schon lange vor seinem Tode völlig erloschen war, in welchem nur noch die scheußlichsten Triebe unsauberer Thiere von niedrigster Art die erstorbenen menschlichen Verrichtungen des zerstörten Gehirns überlebt hatten, und er singt ihm zu: „König, einzig wahrer König dieses Jahrhunderts, Heil, Majestät, die Sie sich an der Politik und der aufdringlichen Wissenschaft rächen wollten, an der Wissenschaft, die die Predigt, den Gesang, die Kunst, die ganze Lyra mordet — Heil, König, bravo, Majes[] tät! Sie waren | ein Dichter, ein Soldat, der einzige König dieses Jahrhunderts … ein Blutzeuge der Vernunft im Sinne des Glaubens …“

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Die Symbolisten.

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In der Ausdrucksweise Verlaines fällt zweierlei auf. Einmal die häufige Wiederkehr desselben Wortes, derselben Wendung, jenes „Wiederkäuen“, „rabâchage“, das wir als Merkmal schwachsinnigen Denkens kennen gelernt haben. Fast in jedem seiner Gedichte werden einzelne Verse und Halbverse einigemale ungeändert wiederholt und statt eines Reimwortes erscheint oft einfach das nämliche Wort wieder. Wollte ich alle derartigen Stellen anführen, so müßte ich ungefähr seine sämmtlichen Gedichte abschreiben. Ich will also nur einige Proben geben, darunter mehrere in der Ursprache, damit ihre Eigenthümlichteit dem Leser voll zum Bewußtsein gelange. In „Crépuscule du soir mystique“ erscheinen die Verse „Die Erinnerung sammt der Dämmerung“ und „Georgine, Lilie, Tulpe und Ranunkel“ ohne innere Nothwendigkeit je zweimal. Im Gedichte „Promenade sentimentale“ verfolgt das Beiwort „blême“, „fahl“, den Dichter nach Art einer Zwangsvorstellung oder „Onomatomanie“ und er wendet es auf Wasserrosen und Wogen (fahle Wogen!) an. „Nuit du Walpurgis classique“ beginnt: „… Ein rhythmischer Sabbat, rhythmisch, äußerst rhythmisch.“ In der „Serenade“ wiederholen sich die beiden ersten Strophen wörtlich als vierte und achte. Ähnlich in „Ariettes oubliées“: „In der endlosen Langweile der Ebene leuchtet der ungewisse Schnee wie Sand. Der Himmel ist aus Kupfer, ohne irgend ein Licht. Man möchte glauben, daß man den Mond leben und sterben sieht. Wie Dunst schweben grau die Eichen der nahen Wälder im Nebelhauch. Der Himmel ist aus Kupfer, ohne irgend ein Licht. Man möchte glauben, daß man den Mond leben und sterben sieht. Kurzathmige Krähe und ihr, magere Wölfe, was geht mit euch vor bei diesem schneidenden Winde? In der | endlosen Langweile der Ebene leuchtet der ungewisse Schnee wie Sand.“ [] „Chevaux de bois“ fängt so an: „Tournez, tournez, bons chevaux de bois, Tournez cent tours, tournez mille tours, Tournez souvent et tournez toujours, Tournez, tournez au son des hautbois.“

In einem wirklich reizvollen Gedichte von „Sagesse“ heißt es: „Der Himmel ist über dem Dache — So blau, so still. Ein Baum wiegt über dem Dache — Seine Palme.  Am Himmel, den man sieht, — Klingt leise die Glocke, Auf dem Baume, den man sieht, — Singt ein Vogel seine Klage.“ In „Amour“: „Les fleurs des champs, les fleurs innombrables des champs… les fleurs des gens.“ „Champs“ und „gens“ klingen ungefähr gleich. Hier gibt das schwachsinnige Wiederholen ähnlicher Laute dem Dichter ein sinnloses Wortspiel ein. Und nun  gar diese Strophe („Pierrot Gamin“):

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„Ce n’est pas Pierrot en herbe Non plus que Pierrot en gerbe, C’est Pierrot, Pierrot, Pierrot, Pierrot gamin, Pierrot gosse, Le cerneau hors de la cosse, C’est Pierrot, Pierrot, Pierrot.“

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Das ist die Rede von Ammen zu Säuglingen, bei denen es nicht auf einen Sinn, sondern blos darauf ankommt, dem Kinde Töne vorzuzwitschern, die ihm Vergnügen machen. Auf vollständigen Stillstand des Denkens, auf mechanisches Vorsichhinmurmeln deuten die Schlußverse des Gedichtes „Mains“ hin: „Ah! wenn dies Traumhände sind — umso besser — oder umso schlimmer — oder umso besser.“ Die zweite Eigenthümlichkeit der Redeweise Verlaines ist das andere Merkmal des Schwachsinns: das Verknüpfen gänzlich unzusammenhängender Haupt- und Beiwörter, die einander durch eine sinnlos schweifende Ideen-Assoziation oder [] durch eine Klang-|ähnlichkeit rufen. Einige Beispiele haben wir schon in den bisher mitgetheilten Proben gefunden. Es war in diesen vom „ungeheuern und zarten Mittelalter“ und vom „Brandmal, welches donnert“ die Rede. Verlaine spricht auch von Füßen, „die mit einer reinen und weiten Bewegung glitten“, von „einer engen und weitläufigen Zuneigung“, von „einer langsamen Landschaft“, einem „schlappen Saft“ („jus flasque“), einem „vergoldeten Duft“, einer „zusammengefaßten“ oder „gedrängten Umrißlinie“ („galbe succinet“) u. s. w. Die Symbolisten bewundern diese Erscheinungsform der Imbecillität als „das Suchen nach seltenen und köstlichen Beiwörtern“, „la recherche de l’épithète rare et précieuse.“ Verlaine hat das deutliche Bewußtsein der Verschwommenheit seines Denkens und in einem psychologisch höchst bemerkenswerthen Gedichte, „Art poëtique“, worin er eine Theorie seiner Lyrik zu geben sucht, erhebt er Nebelhaftigkeit zu einer grundsätzlichen Methode. „Vor allen Dingen: Musik!“ ruft er, „und zu diesem Zwecke ziehe die zerflossenere und in der Luft leichter lösliche Ungeschicklichkeit vor, in der nichts ist, was wiegt und was sich anstellt.“ („Sans rien en lui qui pèse ou qui pose;“ die beiden Zeitwörter sind blos durch den ähnlichen Klang zusammengeführt.) „Du darfst auch deine Worte nicht ohne einige Verachtung wählen. Nichts ist köstlicher als das graue Lied, wo das Unbestimmte sich an das Genaue fügt. Blaue Augen hinter Schleiern, voller Tag unter der Mittagssonne zitternd, in einem gewärmten Herbsthimmel der blaue Wust heller Sterne. Denn wir wollen immer noch mehr Abstufung; nicht die Farbe, blos die Abstufung. O! die Abstufung allein vermählt den Traum dem Traume und die Flöte dem Horn.“ (Diese Strophe ist rein delirirend; sie stellt die „Abstufung“ zur „Farbe“ in einen Gegensatz, als ob diese nicht in jener enthalten wäre. Was dem armen schwachen Gehirn [] Verlaines schwante, von ihm | aber nicht fertig gedacht werden konnte, das ist wahrscheinlich, daß er die gedämpften und gemischten Farben, die an der Grenze verschiedener Farben stehen, den starken Vollfarben vorzieht.) „Fliehe so weit wie du kannst den mörderischen Schlußgedanken“ (la Pointe assassine), „den grausamen Geist und das unreine Lachen, welche die Augen der Himmelsbläue weinen machen, und all diesen Knoblauch niedriger Kochkunst …“ Es sei nicht geleugnet, daß diese dichterische Methode in der Hand Verlaines manchmal außerordentlich schöne Ergebnisse liefert. Es gibt im französischen Schriftthum wenige Gedichte, welche der „Chanson d’automne“ an die Seite gestellt werden können: „Das langgezogene Schluchzen der Geigen des Herbstes verwun-

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Die Symbolisten.

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det mein Herz mit einer eintönigen Sehnsucht. Erstickend und fahl erinnere ich  mich, wenn die Stunde schlägt, der alten Tage und weine. Und ich gehe weiter im

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bösen Winde, der mich dahin und dorthin wirbelt wie ein welkes Blatt.“ Selbst in der absichtlich trockenen Uebersetzung, die jedem verschwommenen Worte des Urtextes einen vom Dichter nicht gewollten scharfen Umriß gibt, bleibt noch etwas von dem schwermüthigen Zauber dieser im Französischen reich gereimten, von Musik erfüllten Verse. Auch „Avant que tu ne t’en ailles“ (S. .) und „Il pleure dans mon coeur“ (S. .) sind als Perlen französischer Lyrik zu bezeichnen. Das macht: zur reinen Stimmungsdichtung reichen die Mittel eines stark emotiven denkunfähigen Träumers aus, aber hier ist auch die Grenze, die ihm unerbittlich gezogen ist. Halten wir uns immer gegenwärtig, was Stimmung ist. Dieses Wort bezeichnet einen Seelenzustand, in welchem durch organische Erregungen, die das Bewußtsein nicht unmittelbar wahrnehmen kann, dieses mit gleichmäßigen Vorstellungen erfüllt ist, die deutlicher oder minder deutlich ausgearbeitet sind und sich sammt und sonders | auf jene dem Bewußtsein unzugänglichen organischen Erregungen [] beziehen. Die bloße Aneinanderreihung von Worten, welche diese im Unbewußten wurzelnden assoziirten Vorstellungen nennen, drückt die Stimmung aus und kann sie bei einem Andern erwecken. Eines Grundgedankens, eines fortschreitenden Vortrags, der ihn entwickelt, bedarf es nicht. Solche Stimmungsgedichte gelingen Verlaine denn auch manchmal überraschend. Wo aber eine bestimmte Anschauung, ein Gefühl, dessen Anlaß dem Bewußtsein deutlich ist, ein in Zeit und Raum wohlbegrenzt ablaufender Vorgang dichterisch vermittelt werden soll, da versagt die Poetik des emotiven Schwachsinnigen vollständig. Beim gesunden und geistesstarken Dichter ist selbst die reine Stimmung an deutliche Bilder geknüpft, nicht ein bloßes Wallen von Duft und Rosanebel. Gedichte wie „Ueber allen Gipfeln ist Ruh,“ „Der Fischer“ oder „Freudvoll und leidvoll“ kann der emotive Entartete nie schaffen, aber andererseits sind auch die wunderbarsten Goetheschen Stimmungsgedichte nicht so völlig körperlos, nicht so gehaucht wie drei oder vier der allerbesten Gedichte eines Verlaine. So steht nun das Bild dieses gerühmtesten Führers der Symbolisten deutlich vor uns. Wir sehen einen abschreckenden Entarteten mit asymmetrischem Schädel und mongolischem Gesicht, einen impulsiven Landstreicher und Säufer, der wegen eines Sittlichkeitsverbrechens im Zuchthause gesessen hat, einen schwachsinnigen emotiven Träumer, der schmerzlich gegen seine bösen Triebe ankämpft und in seiner Noth manchmal rührende Klagetöne findet, einen Mystiker, dessen qualmiges Bewußtsein Vorstellungen von Gott und Heiligen durchfluten, und einen Faselhans, der durch unzusammenhängende Sprache, Ausdrücke ohne Bedeutung und krause Bilder die Abwesenheit jedes bestimmten Gedankens in seinem Geiste bekundet. Es gibt in Irrenanstalten viele Kranke, deren geistiger Verfall nicht so tief und unheilbar ist wie der dieses zu seinem eigenen Scha-|den frei umhergehenden [] „zirkulären“ Unzurechnungsfähigen, den nur unwissende Richter wegen seiner epileptoiden Verbrechen haben verurtheilen können.

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Ein zweiter Führer der Symbolisten, dessen Ansehen von keiner Seite angefochten wird, ist Stéphane Mallarmé. Er ist die merkwürdigste Erscheinung im Geistesleben des zeitgenössischen Frankreichs. Er hat nämlich, obwohl er jetzt ein hoher Fünfziger ist, fast gar nichts geschrieben, das Wenige, was man von ihm kennt, ist auch nach der Empfindung seiner vorbehaltlosesten Bewunderer gleichgiltig und dennoch gilt er für einen sehr großen Dichter und seine gänzliche Unfruchtbarkeit, das vollständige Fehlen irgend eines Werkes, das er aufweisen könnte und das für seine dichterischen Fähigkeiten Zeugniß ablegen würde, wird gerade als sein größtes Verdienst und als schlagendster Beweis seiner geistigen Bedeutung gepriesen. Das muß dem nicht geistesgestörten Leser so fabelhaft scheinen, daß er mit Recht Zeugnisse für diese Angaben verlangt. Charles Morice sagt von Mallarmé: „Ich habe nicht die Geheimnisse der Werke eines Dichters zu enthüllen, der, wie er selbst bemerkt hat, von jeder Theilnahme an den Entfaltungen amtlicher Schönheiten ausgeschlossen ist. Die Thatsache selbst, daß diese Werke noch unbekannt sind, … scheint uns zu verbieten, den Namen des Hrn. Mallarmé den Namen Jener hinzuzufügen, die uns Bücher gegeben haben. Ich lasse, ohne ihr zu antworten, die gemeine Kritik summen und bemerke, daß Hr. Mallarmé, ohne uns Bücher gegeben zu haben, … berühmt ist. Eine Berühmtheit, die natürlich in den kleinen und großen Zeitungen das Gelächter der Dummheit erregt, die aber der öffentlichen und privaten Dummheit nicht die Gelegenheit bietet, ihre Schändlichkeiten zu entfalten, welche die Annäherung eines neuen Wunders [] ärgert … Die Leute haben trotz ihres Abscheus | vor der Schönheit, und namentlich der Neuheit in der Schönheit, ihnen selbst zum Trotze allmälig den Zauber eines gerechtfertigten Ansehens begriffen. Sie selbst, und selbst sie, schämen sich ihres albernen Lachens und vor diesem Manne, den das Gelächter nicht aus dem Gleichmuth seines nachdenklichen Schweigens riß, ist es verstummt und hat selbst die göttliche Ansteckung des Schweigens erlitten. Selbst für die Leute wurde dieser Mann, der keine Bücher druckte und den dennoch Alle als ‚einen Dichter‘ bezeichneten, zu einer wie symbolischen Gestalt des Dichters, in der That, der sich nach Möglichkeit dem Absoluten zu nähern sucht … Durch sein Schweigen kündigt er an, daß er … noch nicht das unerhörte Kunstwert verwirklichen kann, das er schaffen will. Auf die so begründete Enthaltung, sollte auch das grausame Leben ihm die Unterstützung seiner Anstrengung versagen, kann unsere Achtung, mehr, unsere Verehrung allein die würdige Antwort geben.“ Der Graphomane Morice, von dessen schwachsinniger und verdrehter Ausdrucksweise diese sehr treu übersetzte Probe einen guten Begriff gibt, nimmt an, daß Mallarmé vielleicht doch noch sein „unerhörtes Kunstwerk“ schaffen werde. Mallarmé selbst spricht aber einer solchen Hoffnung jede Berechtigung ab. „Der köstliche Mallarmé“, erzählt Paul Hervieu, „sagte mir eines Tages, … er begreife

 Charles Morice, la littérature de tout-à l’heure. S. .  Huret, a. a. O. S. .

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Die Symbolisten.

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nicht, daß man sich drucken lasse. Eine solche Handlung mache ihm den Eindruck einer Unzüchtigkeit, einer Verirrung, ähnlich der Geisteskrankheit, die man ‚Exhibitionismus‘ nenne. Uebrigens hat Niemand seine Seele vollkommener verschwiegen als dieser unvergleichliche Denker.“ Also: dieser „unvergleichliche Denker“ „verschweigt seine Seele vollkommen.“ Einmal begründet er sein Schweigen mit einer Art geschämiger Scheu vor der Oeffentlichkeit, ein andermal damit, daß er „das unerhörte Kunstwerk, das er schaffen will, noch nicht verwirklichen kann“, zwei Begründungen | übrigens, die einander [] ausschließen. Er nähert sich dem Abende seines Lebens und hat außer einigen Broschüren wie „Les dieux de Ia Grèce“ und „L’après-midi d’un Faune“, und einigen in Zeitschriften verstreuten Verschen, Bücher- und Theaterkritiken, zusammen keinem mäßigen Bande, nichts veröffentlicht als einige Uebersetzungen aus dem Englischen und einige Schulbücher (Mallarmé ist Lehrer des Englischen an einem Pariser Gymnasium), und man bewundert ihn als einen großen Dichter, als den Dichter, den einen, den ausschließlichen, und überschüttet die „Dummen“, die „Albernen“, die über ihn lachen, mit allen Ausdrücken der Verachtung, die sich der Einbildungskraft eines zornig erregten Geistesgestörten darbieten! Ist dies nicht eins der Wunder unserer Tage? Lessing läßt Conti in Emilia Galotti sagen, daß „Raphael das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden.“ In Mallarmé haben wir einen Mann, der als großer Dichter verehrt wird, obwohl er „unglücklicherweise ohne Hände geboren ist“, obwohl er nicht schafft, obwohl er seine angebliche Kunst nicht übt. In einer Zeit überschäumenden Gründungsschwindels in London, als alle Welt wie toll sich um den Besitz jedes Stückchens Börsenpapier drängte, geschah es, daß ein paar kluge Leute in den Blättern zu Zeichnungen auf Antheilscheine einer Gesellschaft aufforderten, deren Zweck geheim gehalten werden müsse. Es fanden sich thatsächlich Menschen, die jenen lustigen Gründern ihr Geld zutrugen, und die Geschichtschreiber der City-Krisen finden dies unfaßbar. Das Unfaßbare wiederholt sich in Paris: einige Leute fordern unbegrenzte Bewunderung für einen Dichter, dessen Werke sein Geheimniß sind und wohl auch bleiben werden, und andere tragen treulich und demuthsvoll die verlangte Bewunderung herbei. Die Zauberer der Senegal-Neger bieten ihrer Gemeinde Körbe oder Flaschenkürbisse zur Verehrung dar, in welchen nach ihrer Versicherung ein mächtiger Fetisch eingeschlossen ist. | Thatsächlich enthalten sie gar nichts, aber die Neger betrachten die leeren [] Gefäße mit heiliger Scheu und erweisen ihnen und ihren Besitzern göttliche Ehre. Ganz so ist der leere Mallarmé der Fetisch der Symbolisten, die geistig allerdings tief unter den Senegalnegern stehen. Zu seiner Stellung einer knieend angebeteten Kalebasse ist er durch seine mündliche Unterhaltung gelangt. Er versammelt einmal in der Woche angehende Dichter und Schriftsteller um sich und entwickelt vor ihnen Kunsttheorien. Er redet, wie Morice und Kahn schreiben. Er reiht dunkle und wundervolle Worte aneinander, bei denen es den Schülern so dumm wird, „als ging’ ihnen ein Mühl-

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

rad im Kopfe herum“, so daß sie ihn wie berauscht und mit dem Eindrucke verlassen, unverstandene, doch übermenschliche Offenbarungen empfangen zu haben. Wenn in dem unzusammenhängenden Wortflusse Mallarmés etwas Verständliches enthalten ist, so wäre es etwa seine Bewunderung für die Präraphaeliten. Er war es, der die Symbolisten auf diese Schule aufmerksam gemacht und zu ihrer Nachahmung angehalten hat. Durch Mallarmé haben die französischen Mystiker die Mittelalterlichkeit und den Neokatholizismus ihrer englischen Vorbilder empfangen. Der Vollständigkeit halber sei noch angeführt, daß an der körperlichen Erscheinung Mallarmés „lange und zugespitzte Satyr-Ohren“ auffallen. Hartmann, Frigerio und Lombroso haben nach Darwin, der zuerst auf den äffischen Charakter dieser Eigenthümlichkeit hinwies, die atavistische und degenerative Bedeutung übermäßig langer und zugespitzter Ohrmuscheln sichergestellt und gezeigt, daß sie bei Verbrechern und Wahnsinnigen besonders häufig vorkommen. | [] Der dritte unter den führenden Geistern der Symbolisten ist Jean Moréas, ein französisch dichtender Grieche, der mit vollendeten sechsunddreißig Jahren (seine Freunde behaupten, doch wohl nur aus kameradschaftlicher Bosheit, daß er sich erheblich verjünge) Alles in Allem drei sehr dünnleibige, kaum je  bis  Seiten starke, Sammlungen von Versen hervorgebracht hat, welche die Titel „Les Syrtes“ („Die Syrten“!), „Les Cantilènes“ und „Le Pélerin passionné“ tragen. Natürlich kommt es nicht auf den Umfang der Leistung an, wenn diese außergewöhnlich bedeutend ist. Wenn aber ein Mann jahrelang in endlosen Kaffeehaus-Sitzungen von Erneuerung der Dichtung und Offenbarung einer Zukunftskunst schwatzt und schließlich als Ergebniß seiner weltbewegenden Anstrengung drei Broschürchen mit läppischen Versen vorzeigt, dann wird auch die stoffliche Unansehnlichkeit der Leistung zu einem Zuge der Lächerlichkeit. Moréas ist einer von denen, die das Wort „Symbolismus“ erfunden haben. Einige Jahre lang war er der Hohepriester dieser Geheimlehre und versah ihren Altardienst mit dem erforderlichen Ernste. Dann schwor er plötzlich eines Tages seine[m] selbstgestifteten Glauben ab, erklärte, der „Symbolismus“ sei immer nur als Scherz gemeint und bestimmt gewesen, die Dummköpfe an der Nase herumzuführen, und das wirkliche Heil der Dichtung sei im „Romanismus“ zu finden. Unter diesem neuen Worte behauptet er die Rückkehr zur Sprache, Versform und Empfindungsweise der französischen Dichter am Ausgange des Mittelalters und in der Zeit der Renaissance zu verstehen, doch wird man gut thun, seinen Ausführungen nur mit Vorsicht zu folgen, da er in zwei oder drei Jahren vielleicht auch seinen „Romanismus“ ebenso als einen Bierhaus-Ulk enthüllen wird wie den „Symbolismus“.

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Huret, a. a. O. S. . Hartmann, Der Gorilla. Leipzig, . S. . Dr. L. Frigerio, L’oreille externe. Etude d’anthropologie criminelle. Lyon, . S.  und . Lombroso, L’Uomo delinquente. S. .

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Die Symbolisten.

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Das Erscheinen des „Pélerin passionné“ im Jahre  wurde von den Symbolisten als ein Ereigniß gefeiert, mit dem | für die Dichtung eine neue Zeitrechnung [] beginnt. Sie veranstalteten ein Festmahl für Moréas, bei welchem er in den Tischreden als der Erlöser aus den Banden der alten Formen und Gedanken und als der Heiland, der das Gottesreich der wahren Dichtung bringe, angeschwärmt wurde. Und dieselben Dichter, die mit Moréas an der Festtafel gesessen, die verzückten Ansprachen an ihn gehalten oder ihnen Beifall geklatscht hatten, überschütteten ihn wenige Wochen nach diesem Ereignisse mit Hohn und Verachtung. „Moréas Symbolist?“ ruft Charles Vignier. „Ist er es etwa durch seine Gedanken? Er lacht ja selbst über sie! Seine Gedanken! Sie wiegen nicht schwer, die Gedanken von Jean Moréas.“ „Moréas?“ fragt Adrien Remacle, „wir Alle haben immer über ihn gelacht. Das ist es, was ihn berühmt gemacht hat.“ René Ghil nennt seinen „Pélerin passionné“ „Leberreime, von einem Schulfuchs geschrieben“, und Gustav Kahn urtheilt: „Moréas hat kein Talent … Er hat nie etwas Ordentliches gemacht. Er hat sein eigenes Kauderwälsch.“ Diese Aeußerungen lassen die ganze innere Hohlheit und Verlogenheit der symbolistischen Bewegung erkennen, die außerhalb Frankreichs von Schwachköpfen und Spekulanten des Aufsehens hartnäckig für eine ernste ausgegeben wird, obgleich ihre französischen Erfinder sich heiser reden, um die Welt zu überzeugen, daß sie blos die Philister mit einem Bierwitz foppen und nebenbei für sich Reklame machen gewollt. Nach den Urtheilen seiner Brüder im symbolistischen Parnaß könnte ich mir es eigentlich ersparen, bei Moréas noch länger zu verweilen, ich will aber doch einige Proben aus seinem „Pélerin passionné“ anführen, damit der Leser sich von dem Grad der Gehirnerweichtheit, die sich in diesen Versen kundgibt, eine Vorstellung machen könne. | „Es gab Bogen“, so beginnt das Gedicht „Agnes“, „unter denen Gefolge mit [] Trauerbannern und geschnürtem (?) Eisen, Machthaber aller Art durchzogen, — es gab — in der Stadt an der Meeresküste. Die Plätze waren schwarz und wohlgepflastert und die Thore, an der Ost- und Westseite, hoch; und wie im Winter der Wald, verfielen die Säle des Palastes und die Vorhallen und die Säulengänge des Lugaus. Es war (du mußt dich noch gut daran erinnern), es war in den schönsten Tagen deines Jünglingsalters. — In der Stadt an der Meeresküste, Mantel und Dolch von gelben Steinen schwer und auf deinem Hute Papagei-Federn, kamst du, allerlei Unsinn redend, kamst du heran zwischen zwei so aufgedunsenen und so viel thörichten Dienern, — in Wahrheit: Gliederpuppen! — in der Stadt an der Meeresküste kamst du heran und schweiftest zwischen den großen Greisen umher, die an den Felukken die Staden und Landungstreppen entlang arbeiteten. Es war (du mußt

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Huret, a. a. O. S. . Huret, S. . Huret, S. . Jean Moréas, Le pélerin passionné. Paris, . S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

dich noch gut daran erinnern), es war in den schönsten Tagen deines Jünglingsalters.“ Und so geht dieses Gefasel noch acht Strophen lang weiter und in jeder Zeile finden wir die von Sollier („Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile“) hervorgehobenen Kennzeichen der Rede Schwachsinniger: das Wiederkäuen derselben Ausdrücke, das traumhaft Unzusammenhängende der Rede und das Einschieben von Worten, die zum Gegenstande gar keine Beziehung haben. Zwei „Lieder“ lauten in peinlich getreuer Uebersetzung: „Die Brachvögel im Schilf! (Soll ich Ihnen von ihnen sprechen, von den Brachvögeln im Schilf?) O Sie hübsche Wasserfee! Der Schweinehirt und die Schweine! [] (Soll ich Ihnen von ihnen sprechen, vom Schweinehirt und den | Schweinen?) O Sie hübsche Wasserfee! Mein Herz in Ihrem Netze gefangen! (Soll ich Ihnen davon sprechen, von meinem Herzen in Ihrem Netz?) O Sie hübsche Wasserfee!“ „Man ist auf die Blumen am Rande des Weges getreten und der Herbstwind zaust sie so stark, überdies. Der Postwagen hat das alte Kreuz am Rande des Weges umgeworfen; es war wirklich so vermorscht, überdies. Der Idiot (du weißt!) ist am Rande des Weges gestorben und Niemand wird um ihn weinen, überdies.“ Die Dummschlauheit, mit der Moréas hier durch die Heraufbeschwörung der drei assoziirten Bilder von zertretenen und windgezausten Blumen, einem umgestürzten und morschen Kreuz und einem gestorbenen, unbeweinten Idioten Trostlosigkeits-Stimmung erzeugen will, macht dieses Gedicht zu einem Muster tiefsinnig-absichtsvoller Irrenhaus-Dichtung. Wo Moréas nicht gehirnerweicht ist, da entwickelt er einen rednerischen Schwulst, der an die untergeordnetsten Erzeugnisse unseres Hofmann von Hofmannswaldau erinnert. Nur ein Beispiel auch dieser Gattung und wir sind mit Moréas fertig: „Ich habe, o meine Geliebte, solchen Durst nach deinem Munde, daß ich aus ihm in Küssen den abgelenkten Lauf des Strymon, des Araxes und des wilden Tanais trinken möchte, und die hundert Schlängelungen, die Pitane bewässern, und den Hermus, dessen Quelle dort entspringt, wo die Sonne untergeht, und alle klaren Brunnen, die in Gaza so zahlreich sind, und mein Durst wäre davon nicht gestillt.“ Hinter den Führern Verlaine, Mallarme und Moréas drängt sich der Haufe der kleineren Symbolisten, von denen zwar jeder sich selbst für den einzigen großen Dichter der Bande hält, denen aber ihr Größenwahn noch keinen genügenden Anspruch auf besondere Beachtung gibt. Man wird ihnen hinreichend gerecht, [] wenn man ihre Geistesart durch | die Anführung einzelner Verse kennzeichnet. Jules Laforgue, „der Einzige, nicht blos seines Zeitalters, sondern des ganzen Schriftthums“, ruft: „Ach! wie das Leben doch täglich (quotidienne) ist!“ und in seinem Gedichte: „Pan et la Syrinx“ stoßen wir auf folgende Zeilen: „O Syrinx!

 Moréas, a. a. O. S.  und .  Moréas, a. a. O. S. .  Morice, a. a. O. S. .

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Sehen und verstehen Sie die Erde und das Wunder dieses Morgens und den Kreislauf des Lebens! O, Sie dort! und ich, hier! O Sie! O ich! Alles ist in Allem!“ Gustav Kahn, einer der Aesthetiker und Philosophen des Symbolismus, singt in seiner „Nacht auf der Heide“: „Von deinen schönen Augen steigt der Friede wie ein großer Abend herab und Zipfel langsamer Zelte steigen herab, besetzt mit Edelsteinen, gewoben aus entfernten Strahlen, und unbekannte Monde von Zaubergärten blühen an meiner Brust.“ Auf Deutsch sind die „Zipfel langsamer Zelte“, die „herabsteigen“, völlig unverständlicher Wahnsinn. Unverständlich bleiben sie auch auf Französisch, aber in der Ursprache wird ihre Entstehungsweise erklärlich. „Et des pans de tentes lentes descendent“ lautet da der Vers und verräth sich als reine Echolalie, als eine Aneinanderreihung ähnlicher Töne, die einander wie einen Widerhall rufen. Charles Vignier, der „Lieblings-Jünger Verlaines“, sagt zur Geliebten: „Dort unten, das ist zu weit, armes Wasserjüngferlein; bleibe in deiner Ecke und nimm Pillen ein. Sei Edmond About und von gefälliger Gemüthsverfassung, sei ein Marabut des Pflanzengartens …“ Ein Gedicht „Der Becher von Thule“ lautet: „In einem Becher von Thule, wo die Anziehung der Stunde erbleicht, schläft der greisenhafte und leidende Köder des letzten verhätschelten Traumes. Aber Haare aus gesponnenem Silber machen der Weinenden einen Schleier, in einem Becher von Thule, wo die Anziehung der Stunde erloschen ist. Und ein, ich weiß nicht welches, Jubiläum feiert eine Moll-Harfe, welche das hochmüthige Gespenst | mit einem lichten [] gespitzten Finger streift! … In einem Becher von Thule.“ Diese Gedichte erinnern so vollständig an die Gattung, in der sich bei uns manchmal fröhliche Studenten versuchen und die wir als „blühenden Unsinn“ kennen, daß ich, trotz heiliger Betheuerungen französischer Kritiker, fest überzeugt bin, sie seien scherzhaft gemeint. Wenn meine Annahme zutrifft, so wären sie natürlich nicht für den Geisteszustand Vigniers, sondern seiner Leser, Bewunderer und Kritiker kennzeichnend. Louis Dumur redet die Newa folgendermaßen an: „Mächtige, großartige, ruhmreiche, ernste, edle Königin! O Tsaristsa“ (so!) „des Eises und der Pracht! Herrscherin! Hieratische und feierliche und verehrte Matrone … Du, die mich zu träumen zwingt, die mich aus dem Gleichgewichte bringt, du besonders, die ich liebe, Schmelz, Schönheit, Gedicht, Weib! Newa! Ich beschwöre dein Schauspiel herauf und die Hymne deiner Seele.“ Und René Ghil, einer der meistgenannten Symbolisten (er selbst nennt sich einen „Instrumentisten“), entlockt seiner Leier diese Töne, die ich französisch anführen muß, erstens weil ihr Klang in der Uebersetzung verloren ginge, und dann weil ich nicht hoffen kann, daß der Leser bei einer ehrlichen Uebertragung ins Deutsche noch an meinen Ernst glauben würde: „Ouïs! ouïs aux nues haut et nues où Tirent-ils d’aile immense qui vire … et quand vide

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

et vers les grands pétales dans l’air plus aride — (Et en le lourd venir grandi lent stridule, et Titille qui n’alentisse d’air qui dure, et! Grandie, erratile et multiple d’éveils, stride Mixte, plainte et splendeur! la plénitude aride) et vers les grands pétales d’agitations Lors évanouissait un vol ardent qui stride … (des saltigrades doux n’iront plus vers les mers …) |

Eins muß man anerkennen: alle Symbolisten haben eine erstaunliche Begabung für das Erfinden von Titeln. Das Buch selbst mag reine Irrenhaus-Literatur sein, der Titel ist immer merkwürdig. Wir haben schon gesehen, daß Moréas eine seiner Gedichte-Broschüren „Les Syrtes“ nennt. Er könnte freilich ebenso gut sagen: „Der Nordpol“ oder „Das Murmelthier“ oder „Abd-el-Kader“, denn zu den im Heftchen enthaltenen Gedichten haben diese Worte ebenso viel Beziehung wie „Die Syrten“, aber unleugbar ruht auf diesem geographischen Namen ein Glanz afrikanischer Sonne und ein blasserer Widerschein des klassischen Alterthums, der dem Auge des hysterischen Lesers wohl gefallen kann. Eduard Dubus betitelt seine Gedichte: „Als die Fiedeln abgezogen waren“, Louis Dumur: „Müdigkeiten“, Gustav Kahn: „Die nomadischen Paläste“, Maurice du Plessis: „Die Haut des Marsyas“, Ernest Raynaud: „Weltliches Fleisch“ und „Das Zeichen“, Henri de Régnier: „Stellen“ und „Episoden“, Arthur Rimbaud: „Die Beleuchtungen“, Albert Saint Paul: „Die Schärpe der Iris“, Vielé-Griffin: „Ancäus“ und Charles Vignier: „Centon“. Von der Prosa der Symbolisten sind hier schon einige Proben mitgetheilt worden. Ich möchte nur noch ein paar Stellen aus einem Buche anführen, das die Symbolisten als eine ihrer stärksten Geisteskundgebungen bezeichnen, „La Littérature de tout-à l’heure“ von Charles Morice. Es ist eine Art Uebersicht über die ganze bisherige Entwickelung des Schriftthums, eine rasche Kritik der neueren und neuesten Bücher und Verfasser und eine Art Programm des Schriftthums der Zukunft. Dieses Buch ist eines der erstaunlichsten, die es in irgend einer Sprache gibt. Es hat viel Aehnlichkeit mit „Rembrandt als Erzieher“, steht aber in der völligen Sinnlosigkeit seiner Aneinanderreihung von Worten noch über diesem. Es ist ein Denkmal des reinen Schreib-Wahnsinns, der „Graphomanie“, und weder Delepierre in [] seiner „Littérature des fous“ | noch Philomnestes in seinem „Les fous littéraires“ führt Beispiele vollständigerer Verdrehtheit an, als man sie in diesem Buche auf jeder Seite findet. Man würdige etwa folgendes Glaubensbekenntniß von Morice: „Obwohl man in diesem Buche bloßer Aesthetik — dennoch einer auf Metaphysik gegründeten Aesthetik — sich möglichst des reinen Philosophirens zu enthalten gedenkt, muß man doch eine annähernde Umschreibung eines Wortes geben, das man mehr als einmal anwenden wird und das in dem Hauptsinn, in welchem es hier genommen wird, nicht unumschreibbar ist. — Gott ist die erste und allgemeine

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 Morice, a. a. O. S. .

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Die Symbolisten.

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 Ursache, das endliche und allgemeine Ende, das Band der Geister, der Schneide-

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punkt, wo zwei Gleichlaufende sich begegnen würden, die Erfüllung unserer Neigungen, die Vollendung, die den Herrlichkeiten unserer Träume entspricht, die Abstraktion selbst des Konkreten, das ungesehene und ungehörte und dennoch gewisse Ideal unserer Forderungen der Schönheit in der Wahrheit. Gott ist par excellence das eigentliche Wort, — das eigentliche Wort, das heißt jenes unbekannte und gewisse Wort, von dem jeder Schriftsteller die unbestreitbare, aber ununterscheidbare Vorstellung hat, das selbstersichtliche und verborgene Ziel, das er niemals erreichen wird und dem er sich möglichst nähert. In so zu sagen praktischer Aesthetik ist er der Luftkreis von Freude, wo sich der Geist tummelt, der Sieger ist, weil er das unüberwindliche Mysterium zu den unvergänglichen Symbolen überwunden hat.“ Daß Theologen diesen unvergleichlichen Galimathias ganz verständlich finden werden, bezweifle ich keinen Augenblick lang. Wie alle Mystiker entdecken sie in jedem Laut einen Sinn, das heißt sie überreden sich und Andere, daß die Nebelvorstellungen, welche der Laut durch Ideen-Assoziation in ihrem Gehirn erweckt, der Sinn dieses Lautes sei. Wer aber von Worten fordert, daß sie die Vermittler bestimmter Gedanken seien, der wird | angesichts dieses [] Gefasels erkennen, daß der Verfasser sich gar nichts dachte, obwohl er von vielen Dingen träumte, als er es schrieb. „Der Glaube ist“ für Morice (S. .) „die Quelle der Kunst und die Kunst ist ihrem Wesen nach religiös“, — eine Behauptung, die er aus Ruskin geschöpft hat, doch ohne ihn anzuführen. „Die lichten Häupter des neunzehnten Jahrhunderts, die Gelehrten und Denker“ sind (S. .) „Edgar Poe, Carlyle, Herbert Spencer, Darwin, Auguste Comte, Claude Bernard, Berthelot.“ Edgar Poe neben Spencer, Darwin und Cl. Bernard — eine tollere Narren-Quadrille haben Vorstellungen noch nie in einem zerrütteten Gehirn getanzt. Und dieses Buch, das die angeführten Stellen genügend kennzeichnen, wurde in Frankreich, ganz wie „Rembrandt als Erzieher“ in Deutschland, von durchaus zurechnungsfähigen Kritikern für „sonderbar, aber interessant und anregend“ erklärt. Ein armer Teufel von Entartetem, der ein solches Geschreibsel unter sich macht, und ein schwachsinniger Leser, der seinem Gefasel wie dem Wolkenzuge folgt, ist blos zu bemitleiden. Aber welches Wort der Verachtung wäre stark genug für die gesunden Geisteslumpen, die, um es mit Niemand zu verderben, oder um sich den Anschein besonderer Verständnißfähigkeit zu geben, oder um Gerechtigkeit und Wohlwollen auch gegen den, dessen alle Ansichten sie nicht theilen, zu heucheln, in Büchern dieser Art, „manche Wahrheit, viel Geist neben eigenartigen Schrullen, eine ideale Wärme und häufige Gedankenblitze“ zu entdecken versichern? — Die Erfinder des Symbolismus denken sich, wie wir gesehen haben, nichts bei diesem Worte. Da sie nicht mit Bewußtsein eine bestimmte künstlerische Richtung verfolgen, ist es auch nicht möglich, ihnen zu zeigen, daß diese eine falsche ist. Anders liegt der Fall bei einigen ihrer Jünger, die sich ihnen theils aus Reklamesucht, theils weil sie glaubten, sich im Kampfe | der schriftstellerischen Parteien []

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auf die Seite der Stärkeren und Siegesgewisseren zu schlagen, theils auch blos aus Modethorheit und in Folge der Wirkung des geräuschvoll auftretenden Neuen auf unkritische Geister angeschlossen haben. Nicht so schwachsinnig wie die Führer, empfanden sie das Bedürfniß, dem Worte „Symbolismus“ einen gewissen Inhalt zu geben, und stellten thatsächlich eine Anzahl Sätze auf, von denen sie sich bei ihrem Schaffen leiten zu lassen vorgeben. Diese Sätze sind deutlich genug, daß man sich auf ihre Erörterung einlassen kann. Die Symbolisten fordern größere Freiheit in der Behandlung des französischen Verses. Sie lehnen sich gegen den alten Alexandriner mit der Cäsur in der Mitte und dem nothwendigen Schlusse des Satzes am Ende, gegen das Verbot des Hiatus, gegen das Gesetz des regelmäßigen Wechsels männlicher und weiblicher Reime stürmisch auf. Sie wenden voll Trotz den „freien Vers“ von willkürlicher Länge und beliebigem Rhythmus und den unreinen Reim an. Der Fremde kann über die wilden Geberden, mit denen dieser Kampf geführt wird, nur lächeln. Es ist ein Krieg von Schulkindern gegen ein gehaßtes Buch, das feierlich in Stücke zerfetzt, mit Füßen getreten und verbrannt wird. Der ganze Streit um die Prosodie und Reimregeln ist so zu sagen eine innerfranzösische Angelegenheit und ohne jede Bedeutung für die Weltliteratur. Wir haben schon längst Alles, was die französischen Dichter erst mit Barrikaden und Straßengemetzel erringen wollen. Wir besitzen in Goethes „Prometheus“, „Mahomets Gesang“, „Harzreise im Winter“, in Heines „Nordsee-Cyklus“ u. s. w. vollendete Muster des freien Verses, wir verschränken die Reime, wie wir wollen, wir lassen männliche und weibliche einander folgen, wie es uns gut dünkt, wir binden uns nicht an das strenge Gesetz altklassischer Maße, [] sondern lassen im wiegenden Gang unseres Verses | nach unserm Gefühle für Wohlklang Anapästen mit Jamben oder Spondäen wechseln. Die englische, die italienische, die slavische Dichtung sind ebenso weit und wenn die Franzosen allein zurückgeblieben sind und endlich das Bedürfniß empfinden, ihre alte, verzottelte und mottenzerfressene Perrücke abzuwerfen, so ist das zwar ganz vernünftig, doch machen sie sich bei jedem Nichtfranzosen blos lächerlich, wenn sie ihr mühseliges Nachhumpeln hinter den weit vorausgelangten anderen Völkern als ein unerhörtes Pfadfinden und Bahnbrechen und als ein idealtrunkenes Vordringen ins Morgenroth der Zukunft ausposaunen. Eine andere ästhetische Forderung der Symbolisten ist die, daß der Vers, ganz abgesehen von seinem Sinne, durch den bloßen Klang eine beabsichtigte Emotion hervorrufe. Das Wort soll nicht durch seinen Vorstellungsinhalt, sondern als Ton wirken, die Sprache zur Musik werden. Es ist bezeichnend, daß viele Symbolisten ihren Büchern Titel gegeben haben, welche musikalische Vorstellungen erwecken sollen. Wir finden „Les Gammes“, „die Skalen“, von Stuart Merrill, „Les Cantilènes“ von Jean Moréas, „Glocken in der Nacht“ von Adolphe Retté, „Romanzen ohne Worte“ von Paul Verlaine u. s. w. Dieser Gedanke der Verwendung der Sprache als Tonwerkzeug zur Erzielung rein musikalischer Wirkungen nun ist ein mystischdelirirender. Wir haben gesehen, daß die Präraphaeliten von den bildenden Küns-

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Die Symbolisten.

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ten verlangen, daß sie nicht das Konkrete plastisch oder optisch darstellen, son dern das Abstrakte ausdrücken, also einfach die Rolle der Buchstabenschrift über-

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nehmen sollen. Aehnlich verrücken die Symbolisten alle natürlichen Grenzen der Künste und weisen dem Worte eine Aufgabe zu, die allein dem musikalischen Tonzeichen zukommt. Aber während jene die bildenden Künste zu einem höhern als dem ihnen angemessenen Range befördern wollen, setzen diese das Wort weit zurück. In seinen Anfängen ist der Laut musikalisch. Er | drückt nicht eine [] bestimmte Vorstellung, sondern eine allgemeine Emotion des Thieres aus. Die Grille geigt, die Nachtigall trillert, wenn sie geschlechtlich erregt sind, der Bär brummt, wenn ihn Kampfwuth bewegt, der Löwe brüllt im Lustgefühl beim Zerreißen einer lebenden Beute u. s. w. In dem Maße, in welchem das Gehirn in der Thierreihe sich entwickelt und das Geistesleben reicher wird, entfalten und differenziren sich auch die stimmlichen Ausdrucksmittel und werden fähig, nicht nur allgemeine, einfache Emotionen, sondern enger und bestimmter abgegrenzte Vorstellungskomplexe, ja sogar, wenn Professor Garners Beobachtungen über die Affensprache richtig sind, ziemlich ausschließliche Einzelvorstellungen zu versinnlichen. Die höchste Vollkommenheit endlich erreicht der Ton als Ausdrucksmittel seelischer Vorgänge in der gebildeten, grammatikalisch gegliederten Sprache, da er dann der Gedankenarbeit des Gehirns genau folgen und sie in allen feinsten Einzelheiten objektiv wahrnehmbar machen kann. Das gedankenschwere Wort zum emotionellen Laute zurückführen heißt auf alle Ergebnisse der organischen Entwickelung verzichten und den redefrohen Menschen zur schwirrenden Grille oder zum quakenden Frosche herabsetzen wollen. Die Anstrengungen der Symbolisten führen denn auch wohl zu sinnlosem Gefasel, doch nicht zu der beabsichtigten Wortmusik, denn diese gibt es einfach nicht. Kein Menschenwort irgend einer Sprache ist an sich musikalisch. Manche Sprachen häufen die Mitlaute mehr an, in anderen herrschen die Selbstlaute vor. Jene erfordern eine höhere Fertigkeit aller beim Sprechen thätigen Muskeln, ihre Aussprache gilt daher für schwieriger und sie scheinen dem Ohre des Fremden minder angenehm als die Sprachen, die an Selbstlauten reich sind. Aber mit dem Musikalischen hat das nichts zu thun. Wo bleibt die Klangwirkung des Wortes, wenn es tonlos geflüstert oder gar nur als Schriftbild sichtbar wird? Und doch kann es in beiden Fällen ganz | dieselben [] Emotionen erwecken, wie wenn es volltönend durch das Gehör zum Bewußtsein dringen würde. Man versuche doch, Jemand eine noch so geschickt gewählte Reihe von Worten in einer ihm gänzlich unbekannten Sprache laut lesen zu lassen und ihm durch die bloße Klangwirkung eine bestimmte Emotion zu geben! Man wird in jedem Falle finden, daß dies unmöglich ist. Den Werth des Wortes bestimmt sein Sinn, nicht sein Ton. Dieser ist an sich weder schön noch unschön. Er wird es erst durch die Stimme, die ihm Leben gibt. Aus einer Schnapskehle dringend ist selbst das erste Selbstgespräch in Goethes „Iphigenie“ häßlich. Von einer warmgetönten, angenehmen Altstimme gesprochen klingt, wie ich mich überzeugen konnte, selbst Hottentottisch sehr hübsch.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Noch toller ist das Delirium einer Unterabtheilung der Symbolisten, der „Instrumentisten“, deren Wortführer René Ghil ist. Sie knüpfen an den Laut eine bestimmte Farben-Empfindung und fordern, daß das Wort nicht nur eine musikalische Emotion erwecke, sondern gleichzeitig als Farben-Harmonie ästhetisch wirke. Seinen Ursprung hat dieser Wahnsinn in einem viel angeführten Sonnette von Arthur Rimbaud, „Les voyelles“ (die Vokale), dessen erster Vers lautet: „A schwarz, e weiß, i roth, u grün, o blau.“ Morice bezeugt ausdrücklich, woran ein Mensch mit gesundem Verstande ohnehin nicht zweifeln wird, daß Rimbaud sich einen jener albernen Scherze machen wollte, auf die der Schwach- und Blödsinnige häufig zu verfallen pflegt. Einige seiner Kameraden nahmen das Sonnett aber grimmig ernst und leiteten eine Kunsttheorie daraus ab. René Ghil gibt in seinem Buche „Traité du verbe“ („Abhandlung vom Worte“) die Farbenwerthe, nicht blos der einzelnen Selbstlaute, sondern auch der Tonwerkzeuge an. „Ihre Herrschaftlichkeit feststellend, sind die Harfen weiß. Und blau sind die Geigen, häufig von einem | [] Lichtschimmer erweicht, um die Paroxysmen zu überwinden.“ (Der Leser würdigt hoffentlich diese Wortverbindungen.) „In der Fülle der Ovationen sind die Blechinstrumente roth, die Flöten gelb, die das Kindliche laut werden lassen und über das Leuchten der Lippen erstaunt sind. Und, Taubheit der Erde und des Fleisches, einfache Zusammenfassung der einzig einfachen Tonwerkzeuge, die ganz schwarzen Orgeln jammern …“ Ein anderer Symbolist, der zahlreiche Bewunderer zählt, Francis Poictevin, lehrt uns in „Derniers Songes“ die Gefühle kennen, die den Farben entsprechen: „Das Blau geht, ohne besondere Leidenschaft, von der Liebe bis zum Tode, oder richtiger, es ist ein verlorenes Aeußerstes. Von Türkisen-Blau zu Indigo, geht man von schamhaften Ausströmungen zu den letzten Verheerungen.“ Die „Verständnißvollen“ waren natürlich sofort zur Hand und stellten eine wissenschaftlich sein sollende Theorie des „Farbenhörens“ auf. Bei manchen Personen sollen Töne Farben-Empfindungen erwecken. Nach den einen wäre dies ein Vorzug, der besonders fein organisirten, nervösen Naturen zukäme, nach anderen würde es auf einer zufälligen, nicht normalen Verbindung des optischen und des akustischen Zentrums im Gehirn durch Nervenfasern beruhen. Diese anatomische Erklärung ist völlig willkürlich und durch keine Thatsache bewiesen. Aber das Farbenhören selbst steht keineswegs fest. Das bisher vollständigste Buch über diesen Gegenstand, dessen Verfasser der französische Augenarzt Suarez de Mendoza ist, faßt alle vorliegenden Beobachtungen über diese angebliche Erscheinung zusammen und glaubt, sie folgendermaßen umschreiben zu können: „Sie ist die Fähigkeit der Gesellung von Tönen und Farben, durch welche jede objektive Gehörswahrnehmung von genügender Stärke, ja selbst deren Erinnerungsvorstel[] lung, | bei gewissen Personen ein lichtes oder nicht lichtes Bild wachrufen kann,

 Morice, a. a. O. S. .  Dr. F. Suarez de Mendoza, L’audition colorée; étude sur les fausses sensations secondaires physiologiques. Paris, .

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Die Symbolisten.

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das für denselben Buchstaben, dieselbe Klangfarbe der Stimme oder des Tonwerkzeuges, dieselbe Stärke oder Höhe des Tones immer dasselbe ist.“ Suarez trifft wohl das Richtige, wenn er sagt: „Das Farbenhören“ (er nennt es „pseudo-photesthésie“) „ist manchmal eine Folge von Ideen-Assoziation, die in der Jugend entstanden ist, … manchmal die einer besondern Hirnarbeit, deren eigentliche Natur uns unbekannt ist und die eine gewisse Aehnlichkeit mit der Sinnestäuschung oder der Halluzination haben dürfte.“ Mir ist es nicht zweifelhaft, daß das Farbenhören immer eine Folge von Ideen-Assoziation ist, deren Ursprünge dunkel bleiben müssen, weil die Verknüpfung gewisser Farben-Vorstellungen mit gewissen Tonempfindungen möglicherweise auf ganz flüchtigen Wahrnehmungen im frühen Kindesalter beruht, die nicht stark genug waren, um die Aufmerksamkeit zu wecken, und deshalb dem Bewußtsein unbekannt geblieben sind. Daß es sich um rein individuelle, vom Zufall der Ideen-Assoziation herbeigeführte, und nicht um organische, auf bestimmten anormalen Nerven-Verbindungen beruhende Gesellungen handelt, wird schon dadurch sehr wahrscheinlich gemacht, daß jeder Farbenhörer den Selbstlauten und Tonwerkzeugen eine andere Farbe zuschreibt. Wir haben gesehen, daß für Ghil die Flöte gelb ist. Für L. Hoffmann, den Goethe in seiner „Farbenlehre“ anführt, ist sie kermesroth. Rimbaud nennt A schwarz. Personen, die Suarez erwähnt, hörten diesen Selbstlaut blau u. s. w. Das Verhältniß zwischen der Außenwelt und dem Lebewesen ist ursprünglich ein sehr einfaches. In der Natur finden fortwährend Bewegungen statt und das Protoplasma der lebenden Zelle nimmt diese Bewegungen wahr. Der Einheit der Ursache steht eine Einheit der Wirkung gegenüber. Die niedrigen Thiere erfahren von der Außenwelt nichts, als daß sich in ihr etwas verändert, vielleicht auch, ob diese Veränderung | stark oder schwach, jäh oder langsam ist. Sie empfangen [] quantitativ, doch nicht qualitativ verschiedene Eindrücke. Wir wissen z. B., daß der Rüssel oder Siphon der Bohrmuschel (Pholas dactylus), der sich bei jeder Erregung mehr oder minder kräftig und rasch zusammenzieht, für alle äußeren Eindrücke, für Licht, Geräusch, Berührung, Düfte u. s. w. empfindlich ist. Dieses Weichthier sieht, hört, fühlt, riecht also mit dem einen Körpertheile, sein Rüssel ist ihm zugleich Auge, Ohr, Nase, Finger u. s. w. Bei den höheren Thieren differenzirt sich das Protoplasma. Es bilden sich Nerven, Ganglien, ein Gehirn, Sinneswerkzeuge. Jetzt werden die Bewegungen in der Natur verschiedenartig wahrgenommen. Die differenzirten Sinne setzen die Einheit der Erscheinung in die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung um. Aber selbst dem höchst differenzirten Gehirn bleibt noch etwas wie eine sehr ferne und sehr dunkle Erinnerung, daß die Ursache, welche die verschiedenen Sinne erregt, eine und dieselbe Bewegung ist, und es bildet Vorstellungen und Begriffe, die unverständlich wären, wenn wir nicht die Ahnung der ursprünglichen Einheit des Wesens aller Wahrnehmungen zugeben könnten. Wir sprechen von „hohen“ und „tiefen“ Tönen und schreiben damit den Schallwellen Beziehungen im Raume zu, die sie nicht haben können. Ebenso reden wir von Tonfärbung und umgekehrt von Farbentönen, verwechseln also die akustischen

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

und optischen Eigenschaften der Erscheinungen. „Harte“ und „weiche“ Linien oder Töne, „süße“ Stimmen sind eine häufige Ausdrucksweise, die auf einer Uebertragung der Wahrnehmungen eines Sinnes auf die Eindrücke eines andern Sinnes beruht. In vielen Fällen kann diese Redeweise ohne Zweifel auf eine Trägheit des Geistes zurückgeführt werden, der es bequemer findet, die Wahrnehmung eines Sinnes mit einem geläufigen, wenn auch aus dem Bereich eines andern Sinnes geholten Worte zu bezeichnen, als ein eigenes Wort für die besondere Wahrneh[] mung zu | schaffen. Aber selbst diese Anleihe aus Bequemlichkeit ist nur möglich und verständlich, wenn man zugibt, daß der Geist zwischen den Eindrücken der verschiedenen Sinne gewisse Aehnlichkeiten wahrnimmt, die manchmal durch bewußte oder unbewußte Ideen-Assoziation, häufiger aber objektiv gar nicht zu erklären sind. Hier bleibt uns nur die Annahme übrig, daß das Bewußtsein in seinen tiefsten Untergründen von der Differenzirung der Erscheinungen durch die verschiedenartigen Sinne, dieser in der organischen Entwickelung sehr spät erlangten Vervollkommnung, wieder absieht und die Eindrücke ohne Rücksicht auf ihre Herkunft aus diesem oder jenem Sinne nur noch als undifferenzirtes Material zur Kenntniß der Außenwelt behandelt. So wird es verständlich, daß der Geist die Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne durch einander wirft und die eine in die andere umsetzt. Binet hat in vortrefflichen Versuchen diese „Umsetzung der Sinne“ bei hysterischen Personen festgestellt. Eine Kranke, deren Haut an einer Körperhälfte vollkommen unempfindlich war, bemerkte es nicht, wenn man sie von ihr ungesehen mit einer Nadel stach. Aber in dem Augenblicke des Stiches tauchte in ihrem Bewußtsein das Bild eines schwarzen (bei anderen Kranken eines hellen) Punktes auf. Das Bewußtsein setzte also einen Eindruck der Hautnerven, der als solcher nicht wahrgenommen wurde, in einen Eindruck der Netzhaut, des Sehnerven um. Jedenfalls ist es ein Beweis krankhafter und geschwächter Hirnthätigkeit, wenn das Bewußtsein auf die Vortheile der differenzirten Wahrnehmungen der Erscheinung verzichtet und die Meldungen der einzelnen Sinne nachlässig verwechselt. Es ist ein Rückschritt in der organischen Entwickelung bis zu deren Anfängen. Es [] ist ein Hinabsteigen von der Höhe mensch-|licher Vollkommenheit zur tiefen Stufe der Bohrmuschel. Die Verknüpfung, die Umsetzung, die Verwechselung der Gehörs- und Gesichtswahrnehmungen zu einem Kunst-Grundsatze erheben, in ihm Zukunft sehen wollen heißt die Umkehr vom Menschen- zum Austern-Bewußtsein als Fortschritt bezeichnen. Uebrigens ist es eine alte klinische Beobachtung, daß geistiger Verfall von Farben-Mystik begleitet ist. Ein Geisteskranker Legrains „bemühte sich, das Gute und Schlechte durch die Unterscheidung der Farben zu erkennen, wobei er von

 Alfred Binet, Recherches sur les alte ´rations de la conscience chez les hyste ´riques. Revue philosophique. . Band XXVII. S. .  Legrain, a. a. O. S. .

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Die Symbolisten.

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 Weiß zu Schwarz hinaufging; wenn er las, hatten die Worte (nach ihrer Farbe)

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einen verborgenen Sinn, den er verstand.“ Lombroso führt „Sonderlinge“ an, die „wie Wigman zum Druck ihrer Werke eigens das Papier mit mehreren Farben auf derselben Seite geschmückt anfertigen ließen … Filon bestrich jede Seite des von ihm verfaßten Buches mit einer verschiedenen Farbe.“ Barbey d’Aurevilly, den die Symbolisten als einen Vorläufer verehren, pflegte Briefe zu schreiben, in denen jeder Buchstabe eines Wortes mit andersfarbiger Tinte gemalt war. Die meisten Irrenärzte kennen ähnliche Fälle aus ihrer Erfahrung. Die zurechnungsfähigsten Symbolisten erklären ihre Bewegung als eine „Gegenwirkung gegen den Naturalismus“. Eine solche war gewiß berechtigt und nothwendig. Denn der Naturalismus war in seinen Anfängen, so lange er in Goncourt und Zola verkörpert war, krankhaft, und in seiner spätern Entwickelung, unter den Händen der Nachahmer, gemein und geradezu verbrecherisch, wie dies weiterhin bewiesen werden soll. Doch ist der Symbolismus am wenigsten geeignet, den Naturalismus zu besiegen, weil er noch krankhafter ist als dieser und in der Kunst der Teufel nicht durch Beelzebub ausgetrieben werden kann. Endlich wird noch behauptet, daß der Symbolismus „die | Einschreibung eines [] Sinnbildes in eine Menschengestalt“ bedeute. Unmystisch ausgedrückt heißt das, daß in den Dichtungen der Symbolisten die einzelne Menschengestalt nicht blos ihre Sonderart und ihr zufälliges Schicksal bedeuten, sondern einen verbreiteten Menschentypus darstellen und ein allgemeines Lebensgesetz verkörpern soll. Diese Eigenschaft kommt indeß nicht blos den symbolistischen, sondern allen Dichtungen zu. Kein wirklicher Dichter hat noch den Drang empfunden, eine gänzlich beispiellose, nur einmal vorkommende Anekdote oder ein ungeheuerliches, in der Menschheit seines Gleichen nicht findendes Wesen zu behandeln. Was ihn an den Menschen und an den Schicksalen fesselt, das ist gerade ihr Zusammenhang mit der ganzen Menschheit und mit den allgemeinen Gesetzen des Menschenlebens. Je deutlicher im Einzelgeschick das Walten der allgemeinen Gesetze sichtbar wird, je mehr von dem, was in allen Menschen lebt, im Einzelmenschen verkörpert ist, umso anziehender werden dieser und jenes für den Dichter. Es gibt im ganzen Schriftthum der Menschheit kein einziges anerkannt bedeutendes Werk, das nicht in diesem Sinne symbolisch wäre, in welchem nicht die Menschen, ihre Leidenschaften und Geschicke eine über ihren Einzelfall weit hinausgehende typische Bedeutung hätten. Es ist also eine thörichte Anmaßung der Symbolisten, diese Eigenschaft blos für die Werke ihrer Richtung in Anspruch zu nehmen. Sie beweisen übrigens, daß sie ihre eigene Formel gar nicht verstehen, denn dieselben Theoretiker der Schule, die von der Dichtung fordern, daß sie „ein in eine Menschengestalt eingeschriebenes Sinnbild“ sei, erklären zugleich, daß nur „der seltene, einzige Fall“, „le cas rare, unique“, den Dichter zu beschäftigen verdiene, also

 Lombroso, Genie und Irrsinn (deutsche Ausgabe) S. .

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gerade der Fall, der nichts als sich selbst bedeutet, folglich das Gegentheil eines Sinnbildes ist. | [] Wir haben nun gesehen, daß der Symbolismus, ebenso wie der englische Präraphaelismus, dem er einige seiner Schlagworte und Gesinnungen entlehnt hat, nichts Anderes ist als eine Form der Mystik geistesschwacher und emotiver Entarteter. Die Versuche einiger Mitläufer der Bewegung, in das Gestammel ihrer Führer einen Sinn hineinzudeuten und ihr eine Art Programm anzudichten, widerstehen der Kritik keinen Augenblick lang, sondern erweisen sich als graphomanisch delirirendes Gefasel ohne den kleinsten Kern von Wahrheit und gesunder Vernunft. Ein verständiger Neuerung gewiß nicht abgeneigter junger Franzose, Hugues Le Roux, kennzeichnet die Gruppe der Symbolisten ganz richtig, wenn er von diesen sagt: „Sie sind lächerliche Krüppel; einer dem andern unausstehlich, leben sie unverstanden vom Publikum, mehrere auch von ihren Freunden, einige von ihnen selbst. Dichter oder Prosa-Schriftsteller, üben sie das nämliche Verfahren: kein Stoff, kein Sinn, nur noch Nebeneinanderstellung knallender musikalischer“ (?) „Worte, Vorspann von wunderbaren Reimen, Zusammenfassungen unvermutheter Farben und Töne, ein Wiegen, ein Aneinanderprallen, Wahngesichte und hervorgerufene Suggestionen.“

 Es sei mir gestattet, hier daran zu erinnern, daß ich schon im Jahre , also vor der Verkündigung des angeblichen symbolistischen Programms, in meinen „Paradoxen“ (Volksausgabe, . Hälfte, S. .) die Forderung aufstellte, der Dichter müsse, „zur Mehrheit seiner Leser … das tiefsinnige Tat twam asi! — das bist du! des indischen Weisen sagen“ und „dem gesunden, normal entwickelten Menschen gegenüber mit dem alten Römer wiederholen können: von dir wird die Fabel erzählt;“ mit anderen Worten: die Dichtung müsse „symbolisch“ sein in dem Sinne, daß sie allgemeine Menschen, Schicksale, Gefühle und Lebensgesetze zeige.  Hugues Le Roux, Portraits de cire. Paris, . S. .

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IV. Der Tolstoismus.



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Graf Leo Tolstoi ist in den letzten Jahren einer der meistgenannten, wahrscheinlich auch meistgelesenen Schriftsteller der Welt geworden. Jedes seiner Worte erweckt bei allen gesitteten Völkern des Erdballs einen Widerhall. Seine starke Wirkung auf die Zeitgenossen ist unverkennbar. Es ist aber keine künstlerische Wirkung. Man ahmt ihn, wenigstens einstweilen, noch nicht nach. Es hat sich um ihn keine Schule gebildet nach Art der präraphaelitischen und symbolistischen. Die schon sehr zahlreichen Schriften, zu denen er Anlaß gegeben hat, sind auslegende oder kritische. Es sind keine dichterischen Schöpfungen nach dem Muster der seinigen. Der Einfluß, den er auf das zeitgenössische Denken und Fühlen übt, ist ein sittlicher und wendet sich weit mehr an die große Menge der Leser als an den kleinern Kreis der schriftstellerischen Streber, die nach einem Führer ausschauen. So gibt es zwar keine ästhetische Theorie, wohl aber eine Weltanschauung, die man mit dem Namen Tolstoismus bezeichnen kann. Um den Nachweis zu führen, daß der Tolstoismus eine geistige Verirrung, daß er eine Erscheinungsform der Entartung ist, wird es nöthig sein, zuerst Tolstoi selbst und dann das Publikum, das sich für seine Gedanken begeistert, kritisch zu betrachten. Tolstoi ist zugleich Dichter und Philosoph, letzteres im weitesten Sinne: also auch Theologe, Moralist und Sozialtheoretiker. Als Schöpfer von Werken der Einbildungskraft | steht er sehr hoch, wenn er auch seinen Landsmann Turgenjew nicht [] erreicht, den er gegenwärtig in der Schätzung der Menge in den Schatten gestellt zu haben scheint. Tolstoi besitzt nicht das herrliche künstlerische Ebenmaß Turgenjews, bei dem nie ein Wort zu viel ist, bei dem es keine Längen und keine Abschweifungen gibt und der, ein echter, hoher Menschenformer, prometheisch über seinen Gestalten steht, denen er Leben einhaucht. Selbst die größten Bewunderer Tolstois geben zu, daß er weitschweifig ist, sich in Einzelheiten verliert und von ihrer Fülle nicht immer mit sicherm Geschmack das Nothwendige herauszuheben, das Entbehrliche zu opfern weiß. Von dem Roman „Krieg und Friede“ sprechend sagt de Vogué: „Paßt die Bezeichnung Roman auf dieses verwickelte Werk? … Der sehr einfache und sehr lose Faden der Romanhandlung dient zur Verknüpfung von Hauptstücken der Geschichte, der Staatskunst, der Philosophie, die kunterbunt durch einander in diese Polygraphie der russischen Welt hineingestopft sind … Das Vergnügen will da erkauft sein wie bei einer Bergbesteigung. Der Weg ist manchmal mühselig und hart; man verirrt sich; man muß sich anstrengen und plagen … Diejenigen, die in der Romandichtung blos eine Zerstreuung suchen, reißt Tolstoi aus allen ihren Gewohnheiten. Dieser genaue Zergliederer kennt nicht oder verschmäht die erste Handlung des Zergliederers, die dem französischen Genie so natürlich ist; wir wollen, daß der Romandichter wähle, daß er eine Per-

  Vte E. M. de Vogué, Le Roman russe. Paris, . S.  ff.

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son, eine Thatsache aus dem Wuste der Wesen und Dinge wähle und loslöse, um den Gegenstand seiner Wahl gesondert zu beobachten. Der Russe, beherrscht vom Gefühle des allgemeinen Zusammenhanges, entscheidet sich nicht, die tausend Bande zu zerschneiden, die einen Menschen, eine That, einen Gedanken an den ganzen Weltgang knüpfen.“ [] Vogué sieht die Thatsachen bemerkenswerth richtig, er | weiß sie aber nicht zu deuten. Unbewußt hat er die Methode scharf gekennzeichnet, mit der ein mystischer Entarteter die Welt ansieht und ihre Erscheinung schildert. Wir wissen, daß das, was die Eigenthümlichkeit des mystischen Denkens ausmacht, der Mangel an Aufmerksamkeit ist. Diese ist es, welche im Wuste der Erscheinungen die Auswahl trifft und sie so gruppirt, daß sie einen im Geiste des Betrachters vorherrschenden Gedanken verdeutlichen. Wenn sie fehlt, so erscheint das Weltbild dem Betrachter als ein gleichmäßiges Fließen räthselhafter Zustände, die ohne Zusammenhang auftauchen und verschwinden und für das Bewußtsein völlig ausdruckslos bleiben. Diese ursprünglichste Thatsache des Seelenlebens muß der Leser sich stets gegenwärtig halten. Der Aufmerksame steht der Welterscheinung aktiv, der Unaufmerksame passiv gegenüber; jener ordnet sie nach einem Plane, den er in seinem Geist ausgearbeitet hat, dieser empfängt den Tumult ihrer Eindrücke ohne den Versuch einer Gliederung, Scheidung und Fügung. Es ist derselbe Unterschied wie in der Wiedergabe des Weltbildes durch einen guten Maler oder durch eine photographische Platte. Das Gemälde unterdrückt einzelne Züge der Welterscheinung und hebt andere hervor, so daß es sofort einen bestimmten äußern Vorgang oder eine bestimmte innere Emotion des Malers erkennen läßt. Das Lichtbild spiegelt die ganze Erscheinung mit allen Einzelheiten wahllos wieder, so daß sie erst dann einen Sinn erhält, wenn der Betrachter die Aufmerksamkeit anwendet, welche die empfindliche Platte nicht üben konnte. Dabei ist zu bemerken, daß auch das Lichtbild nicht ein treuer Abdruck der Wirklichkeit ist, denn die empfindliche Platte ist nur für gewisse Farben empfindlich; sie verzeichnet das Blaue und Violette und empfängt vom Gelben und Rothen einen schwachen oder gar keinen Eindruck. Der Empfindlichkeit der chemischen Platte entspricht die Emotivität des Entarteten. [] Auch dieser trifft eine Auswahl in der Erscheinung, aber nicht nach | dem Gesetze der bewußten Aufmerksamkeit, sondern nach dem Triebe der unbewußten Emotivität. Er nimmt wahr, was zu seinen Emotionen stimmt; das, was nicht mit ihnen zusammenklingt, ist für ihn nicht vorhanden. So entsteht die Arbeitsmethode, die Vogué in den Romanen Tolstois nachweist. Die Einzelheiten werden gleichmäßig wahrgenommen und neben einander gestellt, nicht nach ihrer Wichtigkeit für den Grundgedanken, sondern nach ihrer Beziehung zur Emotion des Dichters. Einen Grundgedanken gibt es überhaupt kaum oder gar nicht. Der Leser muß ihn erst in den Roman hineintragen, wie er ihn in die Natur selbst, in eine Landschaft, in ein Volksgewühl, in den Zug der Weltereignisse hineintragen würde. Der Roman ist nur geschrieben, weil der Dichter starke Emotionen empfand und gewisse Züge des vor seinen Augen sich entrollenden Weltbildes diese Emotionen steigerten. So

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Der Tolstoismus.

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gleicht der Roman Tolstois dem Bilde der Präraphaeliten: eine Fülle wunderbar genauer Einzelheiten, ein mystisch verschwommener, kaum erkennbarer Grundgedanke, eine tiefe und starke Emotion. Auch dies empfindet Vogué deutlich, aber wieder, ohne es sich erklären zu können. „Durch einen eigenthümlichen und häufigen Widerspruch“, sagt er, „ist dieser getrübte, schwankende Geist, der in den Nebeln des Nihilismus badet, mit einer unvergleichlichen Helle und durchdringenden Kraft für das wissenschaftliche“ (?) „Studium der Lebenserscheinungen begabt. Er sieht deutlich, rasch, analytisch Alles, was auf Erden ist … Man möchte sagen: der Geist eines englischen Chemikers in der Seele eines indischen Buddhisten. Diese seltsame Verknüpfung möge erklären, wer da kann; wem es gelingen würde, der würde ganz Rußland erklären … Die Erscheinungen bieten ihm einen sichern Boden, wenn er sie einzeln beobachtet; wenn er aber ihre allgemeinen Beziehungen kennen, zu den diese Beziehungen bestimmenden Gesetzen, zu den unzugänglichen Ursachen | gelangen will, dann verdunkelt sich dieser klare Blick, [] der unerschrockene Forscher verliert den Grund unter den Füßen, er fällt in den Abgrund der philosophischen Widersprüche, in ihm, um ihn fühlt er nur noch das Nichts und die Nacht.“ Vogué wünscht eine Erklärung dieser „seltsamen Verknüpfung“ von größter Klarheit im Erfassen von Einzelheiten und völliger Unfähigkeit, ihre Beziehungen zu einander zu verstehen. Die Erklärung ist meinem Leser nun schon geläufig. Das mystische Denken, das Denken ohne Aufmerksamkeit des Emotiven führt seinem Bewußtsein Einzelbilder zu, die sehr scharf sein können, wenn sie sich auf seine Emotion beziehen, aber es ist nicht im Stande, diese Einzelbilder verständig zu verknüpfen, weil es eben der hierzu nöthigen Aufmerksamkeit ermangelt. So großartige Eigenschaften nun auch Tolstois Werke der Einbildungskraft besitzen, so hat er doch seinen Weltruf und seine Wirkung auf die Zeitgenossen nicht ihnen zu verdanken. Seine Romane wurden als hervorragende Werke anerkannt, aber Jahrzehnte lang hatten weder „Krieg und Friede“ und „Anna Karenina“ noch die kleineren Erzählungen außerhalb Rußlands sehr viele Leser und ihrem Verfasser zollte die Kritik nur eine Bewunderung mit Vorbehalten. In Deutschland sagte noch  Franz Bornmüller in seinem „Biographischen Schriftsteller-Lexikon der Gegenwart“ von Tolstoi: „Er besitzt ein nicht gewöhnliches belletristisches Talent, das aber künstlerisch nicht gehörig durchgebildet ist und durch eine gewisse Einseitigkeit der Anschauungen über das Leben und über den Geist der Geschichte beeinflußt wird.“ Das war bis vor wenigen Jahren die Meinung der nicht sehr zahlreichen Nichtrussen, die ihn überhaupt kannten. Erst die „KreutzerSonate“, die  erschien, trug seinen Namen bis an die Grenzen der Gesittung; erst diese kleine Erzählung wurde in alle gebildeten Sprachen übersetzt, in Hunderttausenden von Abzügen verbreitet und von Millionen mit heftiger Gemüths- | bewegung gelesen. Von da an setzte ihn die öffentliche Meinung der Völker des []

 Vogué, a. a. O. S. .

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Westens in die erste Reihe der lebenden Schriftsteller, sein Name lebte in Aller Munde, die allgemeine Theilname wandte sich nicht nur seinen früheren, Jahrzehnte lang unbeachtet gebliebenen Schriften, sondern auch seiner Person und seinen Schicksalen zu und er wurde am Abende seines Lebens so zu sagen über Nacht zu dem, was er jetzt unbestreitbar ist: zu einer der Haupt-RepräsentativGestalten des ausgehenden Jahrhunderts. Die „Kreutzer-Sonate“ steht aber dichterisch nicht so hoch wie die meisten seiner älteren Werke; ein Ruhm, der nicht durch „Krieg und Friede“, „Die Kosaken“, „Anna Karenina“ u. s. w., sondern lange nach dem Erscheinen dieser reichen Dichtungen durch die „Kreutzer-Sonate“ mit einem Schlag erworben wurde, kann also nicht auf ästhetischen Vorzügen allein oder hauptsächlich beruhen. Die Geschichte dieses Ruhmes beweist somit, daß nicht der Dichter Tolstoi die Ursache des Tolstoismus ist. In der That, diese Geistesrichtung ist weit mehr, vielleicht ganz und gar, auf den Philosophen Tolstoi zurückzuführen. Der Philosoph ist also für unsere Untersuchung unvergleichlich wichtiger als der Dichter. Tolstoi hat sich eine Anschauung von der Stellung des Menschen in der Welt, von seinem Verhältnisse zur Gesammt-Menschheit und vom Zwecke seines Lebens gebildet, die aus allen seinen Dichtungen hervorgeht, aber von ihm auch zusammenhängend in mehreren theoretischen Schriften, namentlich in „Meine Beichte“, „Mein Glaube“, „Kurze Darlegung des Evangeliums“ und „Vom Leben“ dargestellt worden ist. Sie ist wenig verwickelt und läßt sich in einige Worte zusammenfassen: der einzelne Mensch ist nichts, die Gattung ist alles; das Individuum lebt, um seinen Mitmenschen Gutes zu erweisen; Denken und Forschen sind das große Uebel; die Wissenschaft ist das Verderben; der Glaube ist das Heil. | [] Wie er zu diesem Ergebnisse gelangt ist, das erzählt er in „Meine Beichte.“ „Ich verlor früh den Glauben. Ich lebte eine Zeit lang wie alle Uebrigen, von den Eitelkeiten des Lebens. Ich schrieb Bücher und lehrte, wie die Anderen, was ich nicht wußte. Dann fing die Sphinx an, mich immer grausamer zu verfolgen: errathe mein Räthsel oder ich zerreiße dich. Die Wissenschaft hat mir gar nichts erklärt. Auf meine ewige Frage, die einzige, die etwas bedeutet: wozu lebe ich? — gab mir die Wissenschaft Antworten, welche mich Anderes lehrten, was mir gleichgiltig war. Die Wissenschaft sagte mir blos …: das Leben ist ein sinnloses Übel. Ich wollte mich tödten. Endlich hatte ich den Einfall, zuzusehen, wie die ungeheure Mehrheit der Menschen lebt, die, welche sich nicht wie wir, die sogenannten höheren Klassen, dem Grübeln und Forschen hingibt, sondern arbeitet und leidet und dennoch ruhig und über den Zweck des Lebens im Klaren ist. Ich begriff, daß man wie diese Menge leben, zu ihrem einfachen Glauben zurückkehren müsse.“ Wenn man sich mit diesem Gedankengang ernsthaft beschäftigen will, so erkennt man sofort, daß er unsinnig ist. Die Fragestellung: „Wozu lebe ich?“ ist eine fehlerhafte und oberflächliche. Sie setzt den Zweckbegriff in der Natur stillschweigend voraus und gerade an dieser Voraussetzung hat der wirklich nach Wahrheit und Erkenntniß dürstende Geist seine Kritik zu üben.

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Um zu fragen: „Was ist der Zweck unseres Lebens?“ müssen wir doch vor Allem annehmen, daß unser Leben einen bestimmten Zweck hat, und da unser Leben nur eine Einzelerscheinung im Gesammtleben der Natur, in der Entwickelung unserer Erde, unseres Sonnensystems, aller Sonnensysteme ist, so schließt diese Annahme die weitere in sich, daß das Gesammtleben der Natur einen bestimmten Zweck hat. Diese Annahme setzt wieder nothwendig das Walten eines bewußten, vorausden-|kenden und leitenden Geistes im Weltall voraus. Denn was ist Zweck? [] Die in der Zukunft liegende beabsichtigte Wirkung der in der Gegenwart thätigen Kräfte. Der Zweck übt auf diese Kräfte einen Einfluß, indem er ihnen eine Richtung vorzeichnet, er ist also selbst eine Kraft. Er kann aber nicht gegenständlich, in Zeit und Raum vorhanden sein, denn sonst würde er aufhören, ein Zweck zu sein, er würde zu einer Ursache werden, das heißt zu einer Kraft, die sich in den allgemeinen Mechanismus der Naturkräfte einfügen würde, und der ganzen Spekulation um den Zweck wäre der Boden entzogen. Ist er aber nicht gegenständlich, liegt er nicht in der Zeit und im Raume, so muß er, soll man sich ihn überhaupt noch vorstellen können, irgendwo virtuell, als Gedanke, als Plan und Absicht vorhanden sein, dasjenige aber, was eine Absicht, einen Gedanken, einen Plan in sich schließt, nennen wir Bewußtsein und ein Bewußtsein, das einen Weltplan ersinnt und zu seiner Verwirklichung die Naturkräfte mit Absicht verwendet, ist gleichbedeutend mit Gott. Glaubt man aber an einen Gott, so verliert man sofort das Recht, die Frage aufzuwerfen: „Wozu lebe ich?“ Denn sie ist dann eine freche Anmaßung, ein Versuch des kleinen, schwachen Menschen, Gott über die Schulter zu blicken, Gottes Plan auszukundschaften, sich zur Höhe der All-Erkenntniß emporzuschwingen. Aber sie ist dann auch unnöthig, denn ein Gott kann nicht ohne höchste Weisheit gedacht werden und wenn er einen Weltplan ersonnen hat, so ist dieser gewiß vollkommen, alle seine Theile sind harmonisch, der Zweck, zu dem jeder Mitarbeiter, der kleinste wie der größte, verwendet wird, ist der denkbar beste und der Mensch kann mit voller Ruhe und Zuversicht seinen von Gott in ihn gelegten Trieben und Kräften entsprechend leben, da er auf alle Fälle eine hohe und würdige Bestimmung erfüllt, indem er an dem ihm unbekannten göttlichen Weltplan mitwirkt. Glaubt man dagegen nicht an einen Gott, so kann man | auch den Zweckbegriff [] nicht bilden, denn dann hat der Zweck, der nur in einem Bewußtsein als Gedanke vorhanden sein kann, in Ermangelung eines Weltbewußtseins keine Daseinsstätte, dann ist für ihn kein Platz in der Natur. Gibt es aber keinen Zweck, dann kann man auch nicht fragen: „Wozu lebe ich?“ Dann hat das Leben nicht einen vorausbestimmten Zweck, sondern nur noch Ursachen. Wir haben uns dann nur noch um diese zu kümmern, wenigstens um die näheren, unserer Betrachtung zugänglichen, denn die entfernten und namentlich die letzten entziehen sich vorerst vollständig unserer Erkenntniß. Unsere Frage muß dann lauten: „Warum leben wir?“ und wir finden unschwer die Antwort auf sie. Wir leben, weil wir wie die ganze erkennbare Natur unter dem Allgesetze der Ursächlichkeit stehen. Diese ist ein

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mechanisches Gesetz, das keinen vorbestimmten Plan und keine Absicht, folglich auch kein Weltbewußtsein erfordert. Nach diesem Gesetze wurzeln die Erscheinungen der Gegenwart in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Wir leben, weil wir von unseren Eltern gezeugt sind, weil wir von ihnen eine bestimmte Menge Kraft mitbekommen haben, die uns ermöglicht, den auf uns einwirkenden Auflösungskräften der Natur eine gemessene Weile zu widerstehen. Wie sich unser Leben gestaltet, das ergibt sich aus dem beständigen Gegenspiel unserer ererbten organischen Kräfte und der äußeren Einwirkungen. Objektiv betrachtet ist also unser Leben das nothwendige Ergebniß der gesetzmäßigen Thätigkeit mechanischer Naturkräfte. Subjektiv schließt es eine gewisse Menge Wonnen und Schmerzen in sich. Als Wonnen empfinden wie die Befriedigung unserer organischen Triebe, als Schmerzen deren vergebliches Streben nach Befriedigung. Im gesunden Organismus, der eine hohe Anpassungsfähigkeit besitzt, gelangen nur solche Triebe zur Entwickelung, deren Befriedigung, mindestens bis zu einem gewissen Grade, möglich und für das Individuum von keinen schlimmen Folgen begleitet ist; in seinem [] Leben herrschen also die | Wonnen entschieden über die Schmerzen vor und er empfindet das Leben nicht als ein Uebel, sondern als ein hohes Gut. Im krankhaft gestörten Organismus bestehen entartete Triebe, die nicht befriedigt werden können oder deren Befriedigung das Individuum schädigt oder zerstört, oder der entartete Organismus ist zu schwach oder ungeschickt, um selbst die berechtigten Triebe zu befriedigen; in seinem Leben herrschen nothwendig die Schmerzen vor und er empfindet das Dasein als ein Uebel. Meine Deutung des Lebensräthsels ist mit der wohlbekannten eudämonistischen nahe verwandt, aber sie ist auf biologische, nicht metaphysische Grundlage gestellt. Sie erklärt Optimismus und Pessimismus schlicht als ausreichende und unzulängliche Lebenskraft, als vorhandenes und fehlendes Anpassungsvermögen, als Gesundheit und Krankheit. Die unbefangene Beobachtung des Lebens zeigt, daß die ganze Menschheit bewußt oder unbewußt auf demselben philosophischen Standpunkte steht. Die Menschen leben gern, und eher stillvergnügt als traurig, so lange das Dasein ihnen Befriedigungen gewährt. Sind die Leiden stärker als das Lustgefühl, das die Befriedigung des ersten und wichtigsten aller organischen Triebe, des Lebens- oder Selbsterhaltungs-Triebes, gewährt, so zögern sie nicht, sich zu tödten. Wenn Fürst Bismarck einmal sagte: „Ich weiß nicht, weshalb ich alles Ungemach des Lebens tragen sollte, wenn ich nicht an Gott und Jenseits glauben würde“, — so zeigte er blos, daß er von den Fortschritten des menschlichen Denkens seit Hamlet, der ungefähr dieselbe Frage stellte, nur ungenügende Kenntniß genommen hat. Er trägt das Ungemach des Lebens, weil und so lange er es tragen kann, und er wirft es unfehlbar in dem Augenblick ab, in welchem seine Kraft nicht mehr ausreicht, es zu tragen. Darum lebt der Ungläubige und ist fröhlich, so lange die Süßigkeiten im Leben vorwiegen, und darum wird auch der Gläubige, wie die Erfahrung täglich lehrt, zum Selbst[] mörder, wenn er seine Lebensrechnung | mit einem Fehlbetrag von Befriedigungen schließen sieht. Das Glaubensargument hat unzweifelhaft im Geiste des Gläubi-

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 gen — wie übrigens das Pflicht- und Ehrargument im Geiste des Ungläubigen —

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eine überredende Kraft und muß selbst als aktiver Posten in Rechnung gestellt werden. Aber es hat eben auch nur einen endlichen Werth und kann nur seinen eigenen Betrag an Leiden, nicht aber mehr, aufwiegen. Aus diesen Betrachtungen ergibt sich, daß die furchtbare Frage: „Wozu lebe ich?“ die Tolstoi beinahe zum Selbstmorde getrieben hat, ohne Schwierigkeit befriedigend zu beantworten ist. Der Gläubige, der annimmt, daß sein Leben einen Zweck haben müsse, wird nach seinen Neigungen und Kräften leben und sich sagen, daß er auf diese Weise das ihm zugetheilte Stück Weltarbeit richtig leistet, auch ohne dessen letzte Ziele zu kennen, wie ja auch ein Soldat an dem Punkte der Walstatt, auf den er gestellt ist, willig seine Schuldigkeit thut, ohne von dem allgemeinen Gange der Schlacht und ihrer Bedeutung für den ganzen Feldzug auch nur eine Ahnung zu haben. Der Ungläubige, der überzeugt ist, daß sein Leben ein Einzelfall des All-Lebens der Natur, daß seine Persönlichkeit als nothwendige, gesetzmäßige Wirkung der ewigen organischen Kräfte ins Dasein erblüht ist, weiß auch sehr genau, nicht nur, weshalb, sondern auch, wozu er lebt: er lebt, weil und so lang ihm das Leben eine Quelle von Befriedigungen, das heißt von Freude und Glück ist. Hat Tolstoi bei seinem verzweifelten Suchen eine andere Antwort gefunden? Nein. Den Aufschluß, den ihm sein Grübeln und Forschen nicht bot, gab ihm, wie wir in der oben angeführten Stelle der „Beichte“ gesehen haben, „die ungeheure Mehrheit der Menschen, die … arbeitet und leidet und dennoch ruhig und über den Zweck des Lebens im Klaren ist.“ „Ich begriff,“ fügt er hinzu, „daß man wie diese Menge leben, zu ihrem einfachen Glauben zurückkehren müsse.“ Der Schluß-|satz ist Willkür und mystischer Gedankensprung. „Die Menge lebt ruhig [] und über ihren Zweck im Klaren“ nicht, weil sie einen „einfachen Glauben“ hat, sondern weil sie gesund ist, weil sie sich gern leben fühlt, weil das Leben ihr bei jeder organischen Verrichtung, bei jeder Bethätigung ihrer Kräfte, in jedem Augenblicke Befriedigungen gibt. Der „einfache Glaube“ ist die zufällige Begleiterscheinung dieses natürlichen Optimismus. Die Mehrheit der Ungebildeten im Volke, die den gesunden Theil der Menschheit darstellt und darum lebensfroh ist, erhält allerdings in der Kindheit Unterricht im Glauben und berichtigt später nur selten durch eigenes Denken die Irrthümer, die ihr von Staatswegen beigebracht worden sind; aber ihre gedankenlose Gläubigkeit ist eine Folge ihrer Armuth und Unwissenheit wie ihre schlechte Kleidung, ungenügende Nahrung und ungesunde Wohnung. Zu sagen, daß die Mehrheit „ruhig lebt und über ihren Zweck im Klaren ist“, weil sie „den einfachen Glauben hat“, ist ganz so folgerichtig, wie etwa die Behauptung, daß diese Mehrheit „ruhig lebt und über ihren Zweck im Klaren ist“, weil sie hauptsächlich Kartoffeln ißt, oder weil sie in Kellern wohnt, oder weil sie selten Bäder nimmt. Die Thatsache, daß die Mehrheit seinen Pessimismus nicht theilt, sondern sich des Lebens freut, hat Tolstoi richtig gesehen, aber er hat sie mystisch gedeutet.

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Statt zu erkennen, daß der Optimismus der Menge einfach ein Zeichen ihrer Lebenskraft ist, führt er ihn auf ihren Glauben zurück und sucht nun selbst im Glauben die Aufschlüsse über den Zweck seines Daseins. „Ich wurde“, erzählt er in einer andern Schrift, „dem Christenthum weder durch theologische noch durch historische Forschungen zugeführt, sondern durch den Umstand, daß ich, als ich im Alter von  Jahren mich und die Weisen meiner Kreise danach gefragt, was es [] mit mir auf sich und | mein Leben zu bedeuten habe, und die Antwort erhalten: „„Du bist eine zufällige Verkettung von Theilchen, dem Leben wohnt keine Bedeutung inne, das Leben ist an sich ein Uebel,““ — daß ich damals zur Verzweiflung gebracht ward und mich tödten wollte; eingedenk dessen aber, daß es früher, in der Kindheit, als ich glaubte, für mich im Leben einen Sinn gegeben hatte, und dessen, daß die Menschen um mich herum, die da glauben, — zum größern Theile nicht durch Reichthum verderbte Menschen, — glauben und ein wirkliches Leben führen, an der Richtigkeit der Antwort, die mir die Weisheit meiner Kreise gegeben hatte, zweifelte und mich bemühte, jene Antwort zu verstehen, die das Christenthum den Menschen gibt, die ein wirkliches Leben führen.“ Er fand diese Antwort „in den Evangelien, dieser Quelle von Licht.“ „Es war mir,“ fährt er fort, „völlig einerlei: war Jesus Christus nun Gott oder nicht Gott, ging der heilige Geist von dem oder jenem aus; es war ebenfalls weder nöthig noch wichtig für mich, zu wissen, wann oder von wem das Evangelium oder irgend eine Parabel abgefaßt sei und ob man sie Christo zuschreiben könne oder nicht. Mir war jenes Licht wichtig, das  Jahre lang die Welt erleuchtete und erleuchtet; welcher Name aber der Quelle dieses Lichtes zu geben sei, oder welches seine Bestandtheile seien und von wem es angezündet sei, das war mir ganz einerlei.“ Man würdige diesen Gedankengang eines mystischen Geistes: das Evangelium ist die Quelle der Wahrheit, es ist aber ganz einerlei, ob das Evangelium Offenbarung Gottes oder Menschenwerk ist, ob es die unverfälschte Ueberlieferung der Schicksale Christi enthält oder Jahrhunderte nach dessen Tode auf Grund verdunkelter und entstellter Sagen niedergeschrieben wurde! Tolstoi empfindet selbst, daß er hier einen schweren Denkfehler begeht, aber er täuscht sich nach echter [] Mystiker-Gewohnheit hierüber hinweg, indem er ein Gleichniß | gebraucht und sich vormacht, daß sein Bild die sachliche Wirklichkeit sei; er nennt nämlich das Evangelium ein Licht und ruft, es sei gleichgiltig, wie das Licht heiße und woraus es bestehe. Das ist richtig, wenn es sich um ein wirkliches, stoffliches Licht handelt; aber das Evangelium ist nur bildlich ein Licht, es kann offenbar nur dann mit einem Lichte verglichen werden, wenn es die Wahrheit enthält, ob es die Wahrheit enthält, das ist erst aus der Untersuchung zu erkennen, würde die Untersuchung ergeben, daß es Menschenwerk ist und nur aus unbeglaubigten Sagen besteht, so wäre es selbstverständlich kein Gefäß der Wahrheit, man könnte es auch nicht

 Graf Leo Tolstoi, Kurze Darlegung des Evangelium. Aus dem Russischen von Paul Lauterbach. Leipzig, Reclams Universal-Bibliothek. S. .

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mehr mit dem Lichte vergleichen und das stolze Bild, womit Tolstoi die Frage nach der Quelle des Lichtes abfertigt, ginge in Luft auf. Indem also Tolstoi das Evangelium ein Licht nennt und die Nothwendigkeit leugnet, seinen Quellen nachzugehen, nimmt er gerade das, was zu beweisen ist, nämlich daß das Evangelium ein Licht sei, ohne Weiteres als bewiesen an. Wir kennen aber bereits diese Eigenthümlichkeit der Mystiker, alle ihre Schlüsse auf die unsinnigsten Voraussetzungen zu bauen, Verachtung der Wirklichkeit vorzuschützen und sich gegen die vernünftige Prüfung ihres Ausgangspunktes zu wehren. Ich erinnere nur an das Wort Rossettis: „Was liegt mir daran, ob die Sonne sich um die Erde dreht oder die Erde um die Sonne“, und an die Aeußerung Mallarmés: „Die Welt ist gemacht, um zu einem schönen Buche zu führen.“ Wie Tolstoi das Evangelium behandelt, damit es ihm die verlangten Aufschlüsse gebe, das lese man in seiner „Kurzen Darlegung“ selbst nach. Er kümmert sich nicht im geringsten um den Wortlaut der Schrift, sondern legt in sie hinein, was ihm durch den Kopf geht. Das so von ihm umgedichtete Evangelium, das mit den kanonischen Schriften ungefähr so viel Aehnlichkeit hat wie die „Physiognomischen Fragmente“, die Jean Pauls „vergnügtes Schulmeisterlein Maria Wuz in Auen-|thal“ „aus seinem eigenem Kopfe zog“, mit dem ebenso betitelten Werke [] Lavaters, lehrt ihn nun über die Bedeutung des Lebens folgendes: „Die Menschen stellen sich vor, sie seien Einzel-Wesen, ein jedes mit seinem Lebenswillen für sich, das aber ist Trug. Das alleinige wahre Leben ist das, das den Willen des Vaters als Ursprung des Lebens anerkennt. Diese Einheit des Lebens offenbart meine Lehre und stellt das Leben dar, nicht wie einzelne Schößlinge, sondern wie einen einzigen Baum, an dem alle Schößlinge wachsen. Der nur, der im Willen des Vaters lebt wie ein Schößling am Baume, nur der lebt, wer aber leben will nach seinem Willen, wie ein losgerissener Schößling, der stirbt.“ Schon früher hat er gesagt, daß der Vater Gott, daß Gott der „unendliche Allursprung“ und gleichbedeutend mit „Geist“ sei. Wenn also diese Stelle überhaupt einen Sinn hat, so kann es nur der sein, daß die ganze Natur ein einziges lebendes Wesen, jedes einzelne Lebende, also auch jeder Mensch, ein Theil des All-Lebens und daß dieses All-Leben Gott sei. Diese Lehre ist aber nicht von Tolstoi erfunden. Sie hat einen Namen in der Geschichte der Philosophie. Sie heißt Pantheismus. Sie ist vorgeahnt vom Buddhismus und von Spinoza ausgebaut. Aber im Evangelium ist sie sicher nicht enthalten und sie ist die bestimmte Leugnung des Christenthums, das, man mag seine Glaubensschriften rationalistisch deuten und quälen so viel man will, niemals die Lehre vom persönlichen Gott und der göttlichen Natur Christi aufgeben kann, ohne sich von seinem ganzen religiösen Inhalt, von allen seinen lebenswichtigen Organen zu leeren und aufzuhören, ein Glaube zu sein. So sehen wir, daß Tolstoi auf der Suche nach der Erklärung des Lebensräthsels beim christlichen Glauben der Menge angekommen zu sein meint und thatsächlich

 Tolstoi, Kurze Darlegung u. s. w. S. .

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beim Gegen-|satze des christlichen Glaubens der Menge, nämlich beim Pantheismus, eingekehrt ist. Die Antwort der „Weisen“, daß er „eine zufällige Verkettung von Theilchen sei und dem Leben keine Bedeutung innewohne“, hat ihn „fast zum Selbstmorde getrieben“, dagegen ist er vollkommen ruhig in der Erkenntniß, daß „das wahre Leben … nicht das Leben, das vergangen ist oder sein wird, sondern das Leben im Jetzt ist, das was an Jeden in der gegenwärtigen Minute herantritt“, — leugnet in „Meine Religion“ ausdrücklich die Auferstehung des Leibes und die Individualität der Seele und merkt nicht, daß seine ihn voll befriedigende Lehre ganz dieselbe ist wie die der „Weisen“, die ihn „fast zum Selbstmorde getrieben.“ Denn wenn das Leben blos Gegenwart ist, so kann es keinen Zweck haben, da dieser in die Zukunft hinausweist, und wenn der Leib nicht aufersteht und die Seele kein individuelles Dasein hat, so haben die „Weisen“ ganz Recht, den Menschen eine (allerdings nicht zufällige, sondern nothwendige, weil ursächlich bedingte) „Verkettung von Theilchen“ zu nennen. Tolstois Weltanschauung, die Frucht der verzweiflungsvollen Denkarbeit seines ganzen Lebens, ist also nichts als Nebel, Unverständniß seiner eigenen Fragen und Antworten und hohler Wortschwall. Mit seiner Moral, auf die er selbst ein weit größeres Gewicht legt als auf seine Philosophie, ist es nicht viel besser bestellt als mit dieser. Er faßt sie in fünf Gebote zusammen, von denen das wichtigste das vierte ist: „Sich dem Bösen nicht widersetzen, Unrecht leiden und mehr thun, als die Menschen fordern, also nicht richten und nicht richten lassen … Sich rächen lehrt nur sich rächen.“ Sein Bewunderer Vogué drückt die Sittenlehre Tolstois in [] dieser Form aus: „Widersteht nicht dem Bösen — richtet | nicht — tödtet nicht. Also keine Gerichte, keine Heere, keine Gefängnisse, keine öffentliche oder private Heimzahlung. Keine Kriege noch Urtheile. Das Weltgesetz ist der Kampf ums Dasein, das Gesetz Christi ist die Aufopferung des eigenen Daseins für die Anderen.“ Ist es erst noch nöthig, die gänzliche Unvernünftigkeit dieser Sittenlehre zu beweisen? Sie leuchtet dem gesunden Menschenverstand ohne Weiteres ein. Wenn der Mörder nicht mehr den Galgen und der Dieb das Gefängniß zu fürchten hätte, so wäre bald das Gurgelabschneiden und Stehlen das weitaus verbreitetste Gewerbe, da es so viel bequemer ist, das gebackene Brod und die fertigen Stiefel zu mausen, als sich auf dem Acker und in der Werkstatt zu rackern. Was sollte wohl, wenn die Gesellschaft aufhören würde, dafür zu sorgen, daß das Verbrechen ein gefährliches Wagniß sei, die bösen Menschen, die es auch nach Tolstois Annahme gibt, davon abhalten, sich ihren schlimmsten Trieben hinzugeben, und was sollte die große Menge der Gleichgiltigen, die einen ausgesprochenen Drang weder zum Guten noch zum Bösen hat, davon abhalten, das Beispiel der Verbre-

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 Tolstoi, Kurze Darlegung u. s. w. S. .  Kurze Darlegung, S. .  de Vogué, a. a. O. S. .

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 cher nachzuahmen? Sicher nicht Tolstois eigene Lehre, daß „das wahre Leben das

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Leben im Jetzt ist.“ Die erste Thätigkeit der Gesellschaft, die, um derentwillen die Einzelmenschen sich ursprünglich erst zu einer Gesellschaft zusammengethan haben, ist die Vertheidigung ihrer Mitglieder gegen die Kranken, die an Mordsucht leiden, und gegen die Schmarotzer, die, ebenfalls ungesunde Abweichungen vom normalen Menschentypus, nur von der Arbeit der Anderen leben können und zur Stillung aller ihrer Lüste unbedenklich jedes ihnen in den Weg kommende Menschenwesen vergewaltigen. Die Individuen mit gesellschaftfeindlichen Trieben würden bald die Mehrheit sein, wenn die Gesunden sie nicht bekämpfen und ihr Fortkommen erschweren würden, wären sie aber erst | die Stärkeren, so wäre die [] Gesellschaft und bald die Menschheit selbst nothwendigerweise dem Untergange geweiht. Außer dem negativen Lehrsatze, daß man sich dem Bösen nicht widersetzen solle, hat Tolstois Moral auch einen positiven: man soll alle Menschen lieben, ihnen Alles, auch das eigene Leben, opfern, ihnen Gutes thun, wo man kann. „Es ist nöthig, zu verstehen, daß der Mensch, wenn er das Gute thut, nur das thut, wozu er verbunden ist, was er nicht ungethan lassen kann … Wenn er sein fleischliches Leben hingibt für das Gute, so thut er nichts derart, dafür er bedankt und belohnt sein müßte … Nur die leben, die das Gute thun.“ („Kurze Darlegung des Evangelium.“) „Nicht das Almosen ist wirksam, sondern die brüderliche Theilung. Wer zwei Mäntel hat, soll einen dem geben, der keinen hat.“ („Was soll man thun?“) Diese Unterscheidung zwischen Almosen und Theilung kann nicht ernstlich aufrecht erhalten werden. Jede Gabe, die ein Mensch von einem andern Menschen ohne Arbeit, ohne Gegenleistung erlangt, ist ein Almosen und ein solches ist tief unsittlich. Den Kranken, den Alten, den Schwachen, der nicht arbeiten kann, müssen die Mitmenschen nähren und pflegen, das ist ihre Pflicht, aber auch ihr natürlicher Drang. Allein den arbeitsfähigen Menschen zu beschenken ist unter allen Umständen eine Sünde und ein Selbstbetrug. Findet der Arbeitsfähige keine Arbeit, so liegt dies offenbar an einem Mangel in den wirthschaftlichen Einrichtungen der Gesellschaft und jeder Einzelne hat die Pflicht, ernst an der Beseitigung dieses Mangels mitzuarbeiten, nicht aber, dessen Fortbestehen zu erleichtern, indem er das Opfer der fehlerhaften Verhältnisse durch eine Gabe noch eine Weile begütigt; das Almosen hat in diesem Falle nur den Zweck, das Gewissen des Gebers zu betäuben und ihm eine Ausrede zu liefern, weshalb er sich seiner Pflicht entzieht, erkannte Schäden der Gesellschaftsordnung zu heilen. Ist aber der Arbeitsfähige arbeitsscheu, | dann verdirbt ihn das Almosen vollends und ertödtet in ihm [] gänzlich die Neigung zu jener Bethätigung seiner Kräfte, die allein den Organismus gesund und sittlich erhält. So entwürdigt das Almosen, das einem arbeitsfähigen Menschen gereicht wird, sowohl den Empfänger wie den Geber und wirkt vergiftend auf das Pflichtgefühl und die Sittlichkeit beider. Aber die Nächstenliebe, die sich im Almosengeben oder selbst im brüderlichen Theilen kundgibt, ist eigentlich gar keine, wenn man näher zusieht. Liebe in ihrer

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einfachsten und ursprünglichsten Form (ich spreche hier nicht von Geschlechtsliebe, sondern von der allgemeinen Zuneigung zu einem andern lebenden Wesen, das nicht einmal ein Mensch sein muß) ist ein selbstischer Drang, der blos seine eigene Befriedigung, nicht die des geliebten Wesens sucht; in ihrer höhern Entwickelung dagegen ist sie hauptsächlich oder ganz und gar auf das Glück des geliebten Wesens bedacht und vergißt sich selbst. Der gesunde Mensch, der keine gesellschaftswidrigen Triebe hat, freut sich der Gesellschaft anderer Menschen, er vermeidet also fast unbewußt die Handlungen, die seine Mitmenschen von ihm entfernen würden, und er thut das, was, ohne ihn selbst zu große Anstrengungen zu kosten, seinen Mitmenschen angenehm genug ist, um sie zu ihm hinzuziehen. Demselben gesunden Menschen bereitet die Vorstellung von Leiden, auch wenn sie nicht seine eigenen Leiden sind, einen je nach dem Grade der Erregbarkeit seines Gehirns größern oder geringern Schmerz; je lebhafter die Leid-Vorstellung ist, umso heftiger ist das sie begleitende Schmerzgefühl; da die von unmittelbaren Sinneseindrücken erregten Vorstellungen die lebhaftesten sind, so bereiten ihm die Leiden, die er mit seinen eigenen Augen sieht, den schärfsten Schmerz und um diesem zu entgehen, macht er angemessene Anstrengungen, damit das fremde Leid aufhöre, freilich manchmal auch nur, damit er es nicht sehe. Dieser Grad der [] Nächstenliebe ist, wie gesagt, reine Selbstliebe, denn sie bezweckt | blos die Abwendung des Schmerzes von sich und die Steigerung der eigenen Lustgefühle. Die Nächstenliebe dagegen, die Tolstoi offenbar predigen will, gibt vor, selbstlos zu sein; sie beabsichtigt die Verminderung des Leides und die Vermehrung des Glückes Anderer, sie kann also nicht mehr triebhaft geübt werden, denn sie erfordert eine genaue Kenntniß der Lebensbedingungen, der Empfindungen und Wünsche der Anderen und die Erlangung dieser Kenntniß setzt Beobachtung, Nachdenken und Urtheil voraus. Man muß ernst erwägen, was dem Nebenmenschen wirklich noth und wohl thut. Man muß aus sich, den eigenen Gewohnheiten und Vorstellungen vollkommen heraustreten und sich anstrengen, in die Haut des Menschen zu schlüpfen, dem man Liebes erweisen will. Man muß die beabsichtigte Wohlthat mit seinem Auge ansehen und mit seinem Gemüth empfinden, nicht mit dem eigenen. Thut Tolstoi das? Seine Dichtungen, in denen er seine angebliche Nächstenliebe in lebendiger Thätigkeit zeigt, beweisen das genaue Gegentheil. In der Erzählung „Albert“ nimmt Delessow einen verbummelten kranken Geigenspieler aus Bewunderung für seine hohe Begabung und aus Mitleid mit seiner Armuth und Hilflosigkeit bei sich auf. Da der unglückliche Künstler ein Trinker ist, sperrt Delessow ihn gleichsam bei sich ein, stellt ihn unter die Bewachung seines Dieners Sachar und enthält ihm geistige Getränke vor. Am ersten Tage fügt sich Albert, der Künstler, ist aber sehr gedrückt und verstimmt. Am zweiten Tage wirft er seinem Wohlthäter bereits „boshafte Blicke“ zu. „Er schien Delessow zu fürch-

 Leo N. Tolstojs Gesammelte Werke. Vom Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. Berlin, . Band II: Novellen und kleine Romane. . Th.

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ten, ein heftiger Schrecken malte sich jedesmal, wenn ihre Blicke sich begegneten, in seinem Gesichte … Er antwortete nicht auf die Fragen, welche ihm | gestellt wur- [] den.“ Am dritten Tage endlich empört Albert sich gegen den Zwang, dem er sich unterworfen glaubt. „Sie dürfen mich hier nicht festhalten!“ schreit er. „Mein Paß ist in Ordnung, ich habe Ihnen nichts gestohlen, Sie können mich untersuchen, zum Polizeimeister werde ich gehen.“ Der Diener Sachar sucht ihn zu begütigen. Albert wird immer wüthender und „schreit plötzlich aus vollem Halse: Wache!“ Delessow läßt ihn laufen und Albert „geht, ohne Abschied zu nehmen und indem er beständig unverständliches Zeug vor sich hinmurmelte, zur Thür hinaus.“ Delessow hat Albert zu sich genommen, weil ihm der Anblick des in der russischen Winterkälte zitternden, mangelhaft bekleideten, krankhaft blassen Künstlers schmerzlich war. Als er ihn in seiner warmen Wohnung, vor einem reich gedeckten Tische, in seinem eigenen, schönen Schlafrock sah, war Delessow mit sich zufrieden und froh. War aber auch Albert es? Tolstoi bezeugt uns, daß Albert sich in der neuen Lage viel unglücklicher fühlte als früher, so unglücklich, daß er sie bald nicht ertragen konnte und sich mit einem Wuthausbruche aus ihr befreite. Wem hat nun Delessow wohlgethan? Sich oder Albert? In dieser Erzählung handelt es sich um einen geistesgestörten Menschen und einem solchen muß man allerdings manchmal eine Wohlthat, die er als das nicht begreifen und empfinden kann, gewaltsam aufnöthigen, freilich folgerichtiger, ausdauernder und vorsichtiger als Delessow. In einer andern Geschichte desselben Bandes aber, „Aus dem Tagebuche des Fürsten Nechljudow, Luzern“, tritt das Unsinnige einer Nächstenliebe, die sich um die wirklichen Bedürfnisse des Nächsten nicht kümmert, noch viel schärfer und ohne jede Entschuldigung hervor. Fürst Nechljudow hat an einem herrlichen Juli-Abende vor dem „Schweizer Hof“ in Luzern einen Straßensänger | gehört, dessen Lieder ihn tief gerührt und [] entzückt haben. Der Sänger ist ein armer, kleiner, buckeliger Mann, dürftig gekleidet und halb verhungert aussehend. Auf allen Balkonen des vornehmen Gasthofs haben reiche Engländer und ihre Frauen gestanden, alle haben sich an dem herrlichen Gesang des armen Krüppels erfreut, als er aber den Hut abnahm und um einen kleinen Lohn für seine Kunstleistung bat, hat ihm Niemand auch nur die kleinste Münze hinabgeworfen. Nechljudow geräth in die heftigste Aufregung. Er ist außer sich darüber, daß „der Sänger dreimal um eine Gabe bitten konnte und nicht Einer ihm das Geringste gab und die meisten ihn verlachten.“ Das scheint ihm „ein Ereigniß, welches die Geschichtschreiber unserer Zeit mit unauslöschlicher Flammenschrift in das Buch der Geschichte einschreiben sollten.“ Er für seinen Theil will an dieser unerhörten Sünde nicht mitschuldig sein. Er eilt dem armen Teufel nach, holt ihn ein und schlägt ihm vor, mit ihm eine Flasche Wein zu trinken. Der Sänger nimmt an. „Gleich hier ist ein kleines Kaffeehaus“, sagt er, „hier kann man hinein, — ein einfaches,“ fügt er hinzu. „Das Wort ‚ein einfaches‘ brachte mich unwillkürlich auf den Gedanken,“ erzählt Nechljudow in seinem Tagebuche, „nicht in ein einfaches Kaffeehaus zu gehen, sondern in den Schweizer

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Hof, wo die Menschen waren, welche seinem Gesange zugehört hatten. Obgleich er in scheuer Erregung einigemale den Schweizerhof abgelehnt hatte, indem er meinte, es sei dort viel zu fein, bestand ich doch darauf.“ Er führt den Sänger in den vornehmen Gasthof. Die Dienerschaft sieht den schlecht gekleideten Vagabunden, trotzdem er in Begleitung des fürstlichen Wohngastes erscheint, mit feindseligen und verächtlichen Blicken an. Sie weist die Beiden in den „Saal zur Linken, die Trinkstube für das Volk.“ Der Sänger ist sehr [] verlegen und wünscht sich weit weg, läßt aber | nichts merken. Der Fürst bestellt Champagner. Der Sänger trinkt ohne rechte Lust und ohne Vertrauen. Er plaudert von seinem Leben und sagt plötzlich: „Ich weiß, was Sie wollen, Sie wollen mir einen Rausch beibringen und dann sehen, was aus mir wird.“ Nechljudow ärgern die spöttischen und frechen Mienen der Diener, er springt auf und geht mit seinem Gast in den feinen Speisesaal zur Rechten, der für die vornehmen Leute bestimmt ist. Er will hier und nirgends anders bedient werden. Die anwesenden Engländer verlassen entrüstet den Raum, die Kellner sind bestürzt, wagen aber nicht, dem zornigen russischen Fürsten entgegenzutreten, „der Sänger machte ein ganz jämmerliches, erschrecktes Gesicht und bat mich, weil er offenbar nicht verstand, warum ich im Zorne sei und was ich wollte, sobald als möglich fortzugehen.“ Das kleine Männlein „saß halb todt, halb lebendig“ neben dem Fürsten und war sehr glücklich, als Nechljudow es endlich entließ. Man beachte, wie unerhört absurd Fürst Nechljudow sich vom Anfang bis zum Ende benimmt. Er ladet den Sänger zu einer Flasche Wein ein, obschon er sich, wenn er den schwächsten Schimmer von gesundem Menschenverstande besäße, sagen müßte, daß dem armen Teufel ein warmes Abendbrod oder noch besser ein Fünffrankenstück sehr viel nöthiger und nützlicher wäre als eine Flasche Wein. Der Sänger schlägt vor, in eine bescheidene Kneipe zu gehen, wo er sich wohl fühlen würde. Der Fürst schenkt diesem natürlichen, verständigen Wunsche nicht die geringste Beachtung, sondern schleppt den armen Teufel in einen vornehmen Gasthof, wo er sich mit seiner schlechten Kleidung unter dem Kreuzfeuer frecher und höhnischer Kellnerblicke äußerst unbehaglich fühlt. Daran kehrt sich der Fürst nicht, sondern bestellt Sekt, an den der Sänger nicht gewöhnt ist und der ihm so wenig Freude macht, daß er auf den Gedanken kommt, der vornehme Wirth [] wolle sich einen Spaß mit ihm machen, ihn betrunken sehen. Nechljudow | fängt mit den Kellnern Krakehl an, dringt in den reichsten Saal des Gasthofs ein, verscheucht die übrigen Gäste, die nicht mit dem Straßensänger zusammen soupiren wollen, und kümmert sich während dieser ganzen Zeit nicht um die Empfindungen seines Gastes, der auf glühenden Kohlen sitzt, am liebsten in den Boden versinken möchte und erst wieder aufathmet, als ihn der fürchterliche Wohlthäter aus seinen Fängen entwischen läßt. Hat Nechljudow Nächstenliebe geübt? Nein. Er hat dem Sänger nichts Angenehmes erwiesen. Er hat ihn gequält. Er hat sich allein befriedigt. Er hat sich an den hartherzigen Engländern, auf die er wüthend war, rächen gewollt und er hat

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es auf Kosten des armen Teufels gethan. Nechljudow nennt es ein unerhörtes Ereigniß, daß die reichen Engländer dem Sänger nichts schenkten, aber was er diesem anthut, ist schlimmer. Die abscheuliche Knickerei der Engländer hat den Sänger vielleicht eine Viertelstunde lang verdrossen, Nechljudows thörichte Bewirthung hat ihn eine Stunde lang gefoltert. Der Fürst hat sich nie die Mühe genommen, auch nur einen Augenblick lang zu prüfen, was dem Sänger angenehm und nützlich wäre, er hat immer nur an sich, an seine eigenen Emotionen, seinen Zorn, seine Entrüstung gedacht. Dieser weichherzige Menschenfreund ist ein gefährlicher, ruchloser Selbstling. Die urtheilsbare Nächstenliebe des emotiven Mystikers verfehlt nothwendig ihren angeblichen Zweck, weil sie nicht von der Erkenntniß der wirklichen Bedürfnisse des Nächsten ausgeht. Der Mystiker übt empfindsamen Anthropomorphismus. Er überträgt seine eigene Gefühlsweise ohne Weiteres auf andere Wesen, die von ihm ganz verschieden empfinden. Er ist im Stande, die Maulwürfe bitter zu beklagen, weil sie verurtheilt sind, in ihren unterirdischen Gängen in ewiger Finsterniß zu brüten, und träumt vielleicht mit Thränen im Auge die elektrische Beleuchtung ihres Baues. Da er, der Sehende, unter | den Lebensbedingungen eines [] Maulwurfs hart leiden würde, so muß natürlich auch dieses Thier zu bedauern sein, obwohl es blind ist, also das Licht nicht vermißt. Eine Anekdote erzählt, daß ein Kind an einem Wintertage heißes Wasser in das Salon-Aquarium goß, weil es den Goldfischen sonst zu unleidlich kalt sein müsse, und in Witzblättern ist häufig von Wohlthätigkeits-Vereinen die Rede, welche den Aequator-Negern warme Winterkleider bescheren. Das ist die Tolstoische Nächstenliebe in Thätigkeit. Ein besonderer Punkt seiner Sittenlehre ist die Abtödtung des Fleisches. Jeder Verkehr mit dem Weib ist ihm Unzucht, die Ehe ebenso unrein wie das loseste Verhältniß. „Die Kreutzer-Sonate“ ist die vollständigste und zugleich berühmteste Verkörperung dieser Sätze. Der Mörder aus Eifersucht Pozdnyscheff sagt: „Am Honigmond ist nichts Angenehmes; im Gegentheil. Es ist eine fortwährende Belästigung, eine Schande, eine tiefe Verstimmung und vor Allem eine Langeweile, eine furchtbare Langeweile. Ich kann die Lage nur mit der eines jungen Menschen vergleichen, der sich das Rauchen angewöhnen will. Es ist ihm übel, er verschluckt seinen Speichel und heuchelt trotzdem, großes Vergnügen zu empfinden. Wenn die Zigarre ihm Genuß bereiten soll, so kann das nur später sein. Ganz wie mit der Ehe. Um sie zu genießen müssen die Gatten sich zuerst ans Laster gewöhnen.“ „Wieso ans Laster? Sie sprechen doch von etwas Natürlichem, einem Triebe.“ „Etwas Natürliches? Ein Trieb? Nicht im Entferntesten. Ich bin, erlauben Sie mir, es Ihnen zu sagen, zur entgegengesetzten Ueberzeugung gelangt und behaupte, ich Verdorbener und Ausschweifender, daß es etwas Unnatürliches ist … Es | ist eine durchaus widernatürliche Handlung für ein reines Mädchen wie für [] ein Kind.“  Léon Tolstoi, La Sonate à Kreutzer. Traduit de russe par E. Halpérine-Kaminsky. Paris. Collection des Auteurs célèbres. S. .

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Weiterhin entwickelt Pozdnyscheff folgende delirirende Theorie vom Lebensgesetz: „Der Zweck des Menschen wie der ganzen Menschheit ist das Glück. Um es zu erreichen, ist ihm ein Gesetz gegeben, das er zu befolgen hat. Dieses Gesetz besteht in der Vereinigung der Einzelwesen, welche die Menschheit bilden. Die Leidenschaften allein verhindern diese Vereinigung, namentlich die stärkste und schlimmste von allen, die sinnliche Liebe, die Wollust. Wenn man die Leidenschaften, besonders die heftigste, die sinnliche Liebe, unterdrückt haben wird, dann wird die Vereinigung eine Wirklichkeit sein und die Menschheit, die ihr Ziel erreicht haben wird, hat dann keinen Grund mehr, zu bestehen.“ Und seine letzten Worte sind: „Man muß verstehen, daß der Vers Matthäi: Wer ein Weib anflehet, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen, sich ebenso auf die Schwester und nicht blos auf das fremde Weib, sondern auch und ganz besonders auf die eigene Gattin bezieht.“ Tolstoi, in dem, wie in jedem höhern Entarteten, zwei Menschen leben, von denen der eine die Tollheiten des andern bemerkt und beurtheilt, hat in der „Kreutzersonate“ noch die deutliche Empfindung des Unsinnigen seiner Theorie und er läßt deren Verkünder Pozdnyscheff andeuten, daß er „für verrückt gelte.“ Aber in seiner „Kurzen Darlegung“, wo Tolstoi in seinem eigenen Namen spricht, entwickelt er, wenn auch mit etwas mehr Vorbehalten, dieselbe Lehre: „Die Verlockung wider das zweite Gebot kommt aus dem, daß wir glauben, das Weib sei geschaffen für die fleischliche Lust und daß, so man eine Frau lasse und die andere nehme, man mehr Lust habe. Nicht in diese Versuchung zu fallen, muß man einge[] denk sein, daß nicht das der Wille des Vaters ist, daß | der Mann Lust habe durch den weiblichen Reiz …“ Und in der Erzählung „Eheglück“ setzt er ebenfalls auseinander, daß Mann und Frau, auch wenn sie einander aus Liebe heiraten, in der Ehe Feinde werden müssen und es ganz zwecklos sei, eine dauernde Pflege der ursprünglichen Gefühle zu versuchen. Zu widerlegen braucht man wohl eine Theorie nicht, die allen Erfahrungen, allen Beobachtungen der Natur, allen geschichtlich gewordenen Einrichtungen und Gesetzen Hohn spricht und bewußt den Zweck hat, die Menschheit zu vernichten. Der Gedanke, gegen sie mit Eifer anzukämpfen, konnte nur Menschen kommen, die selbst mehr oder weniger gestört sind. Für den Geistesgesunden genügt es, sie in deutliche Worte zu fassen. Sie ist dann sofort als das erkennbar, was sie ist: als Wahnsinn. Der große Feind ist für Tolstoi die Wissenschaft. In „Meine Beichte“ wird er nicht müde, sie anzuklagen und zu verspotten. Sie dient nicht dem Volke, sondern den Regierungen und den Kapitalisten. Sie beschäftigt sich mit so müßigen und

 La Sonate à Kreutzer, S. .  Kurze Darlegung des Evangelium, S. .  Comte Léon Tolstoi, Le Roman du Mariage. Traduit du russe par Michel Delines. Paris, „Auteurs célèbres.“

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 eiteln Dingen wie Untersuchung des Protoplasmas und Spektralanalyse, hat aber

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noch nie an etwas Nützliches gedacht, z. B. „wie Beil und Beilstiel am Besten anzufertigen sind, wie eine gute Säge beschaffen sein muß, wie man gutes Brod backen kann, welche Mehlgattung sich dazu am besten eignet, wie der Sauerteig zu behandeln, der Backofen zu bauen und zu heizen ist, welche Speisen und Getränke die gesundesten, welche Pilze genießbar sind u. s. w.“ Er hat mit diesen Beispielen, nebenbei bemerkt, besonderes Unglück, denn mit allen Gegenständen, die er aufzählt, beschäftigt sich thatsächlich jeder Anfänger in den Wissenschaften der Hygiene und der Mechanik. Wie es seiner Dichternatur entspricht, hat er den Drang gehabt, auch seine | Ansichten über die Wissenschaft künstlerisch zu verkör- [] pern. Er that dies in dem Lustspiel „Die Früchte der Bildung.“ Worüber spottet er nun da? Ueber armselige Dummköpfe, die an Geister glauben und voll Todesangst den Bakterien nachspüren. Spiritismus und die aus schlecht verstandenen Tagesneuigkeiten politischer Zeitungen geschöpften Anschauungen ungebildeter Weltleute von den krankheiterregenden Kleinlebewesen sind ihm die Wissenschaft und gegen sie richtet er die Pfeile seiner Satire! Die wirkliche Wissenschaft braucht gegen Angriffe dieser Art nicht vertheidigt zu werden. Ich habe bereits bei der Würdigung der Vorwürfe, welche die neokatholischen Symbolisten und ihre kritischen Gönner gegen die Naturforschung erheben, den Nachweis geführt, daß alle diese Redensarten entweder kindisch oder unehrlich sind. Die Beschuldigung der Unehrlichkeit ist Tolstoi gegenüber nicht am Platze. Er glaubt, was er sagt. Kindisch sind seine Beschwerden und Spöttereien aber allerdings. Er spricht von der Wissenschaft wie der Blinde von den Farben. Er hat sichtlich keine Ahnung von ihrem Wesen, ihren Aufgaben, ihren Methoden und den Gegenständen, mit denen sie sich beschäftigt. Er gleicht Bouvard und Pécuchet, den beiden Idioten Flauberts, die, gänzlich unwissend, ohne Lehrer und Führer, wahllos eine Anzahl Bücher durchblättern, sich einbilden, auf diese spielende Weise positives Wissen erworben zu haben, dieses mit der Ahnungslosigkeit eines abgerichteten Kruboys anzuwenden suchen, selbstverständlich eine haarsträubende Dummheit nach der andern begehen und sich dann berechtigt glauben, auf die Wissenschaft zu schimpfen und sie für eitel Thorheit und Betrug zu erklären. Flaubert rächte sich für die Albernheit seiner eigenen Versuche, die Wissenschaft zu erobern, wie ein Lieutenant eine Tingel-tangel-Sängerin erobert, indem er Bouvard und Pécuchet theerte und federte; Tolstoi kühlte sein Müthchen an der Wis-|senschaft, dieser stolzen und spröden Schönheit, die man nur durch ernsten, [] langen, selbstlosen Dienst gewinnen kann, indem er die Dummköpfe seiner „Früchte der Bildung“ an die Wand malte. Der Entartete Flaubert und der Entartete Tolstoi begegnen sich hier in demselben Delirium. Der Weg zum Glück ist für Tolstoi die Abkehr von der Wissenschaft, der Verzicht auf die Vernunft und die Rückkehr zum natürlichen Leben, das heißt zum Ackerbau. „Man muß die Stadt verlassen, das Volk aus den Fabriken wegschicken, aufs Land ziehen, mit den Händen arbeiten; das Ziel eines jeden Menschen muß sein, allein alle seine Bedürfnisse zu befriedigen.“ („Was soll man thun?“)

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Wie seltsam ist auch in diesen wirthschaftlichen Forderungen Vernunft mit Unsinn gemischt! Die Uebel, welche die Entwurzelung des Volkes von der mütterlich nährenden Erde und die Erbrütung eines tagelöhnernden großstädtischen Gewerbe-Proletariats nach sich ziehen, hat Tolstoi richtig erkannt. Wahr ist auch, daß der Ackerbau sehr viel mehr Menschen gesund und nützlich beschäftigen könnte als gegenwärtig, wenn der Boden Eigenthum der Gesammtheit würde und Jeder nur so viel Antheil an ihm, und zwar blos auf Lebenszeit, bekäme, als er selbst erschöpfend bewirthschaften kann. Aber muß darum das Gewerbe zerstört werden? Heißt das nicht die Gesittung selbst zerstören? Hat nicht verständige Menschenliebe und Gerechtigkeit vielmehr die Aufgabe, die Theilung der Arbeit, dieses nothwendige und vortheilhafte Ergebniß einer langen Entwickelung, sorgsam zu erhalten, aber durch eine bessere Wirthschafts-Ordnung den Gewerbe-Arbeiter von einem zu Noth und Siechthum verurtheilten Fabrik-Sträfling in einen freien GüterErzeuger zu verwandeln, der die Früchte seiner Arbeit selbst genießt und nicht mehr schuftet, als mit seiner Gesundheit und seinen Ansprüchen an das Leben voll verträglich ist? [] Auch nur die leiseste Andeutung einer derartigen Lösung | sucht man bei Tolstoi vergebens. Er begnügt sich mit der unfruchtbaren Schwärmerei für das Landleben, die bei Horaz noch schön, aber schon bei Rousseau lächerlich und ärgernd ist, und er schwatzt dem schönrednerischen, verfolgungswahnsinnigen Genfer, der nur sein rührseliges Jahrhundert am Narrenseile führen konnte, die hohlen Phrasen von der Werthlosigkeit der Gesittung nach. Rückkehr zur Natur! Es ist nicht möglich, in weniger Worte mehr Albernheit zusammenzudrängen. Auf unserer Erde ist die Natur unser Feind, den wir bekämpfen müssen, vor dem wir nicht die Waffen strecken dürfen. Um unser Leben zu fristen, müssen wir endlos verwickelte künstliche Bedingungen schaffen, wir müssen unsern Leib bedecken, ein Obdach über unser Haupt bauen, für viele Monate, während welcher die Natur uns jede Nahrung versagt, Vorräthe aufspeichern. Es gibt nur einen ganz schmalen Strich unseres Planeten, wo der Mensch ohne Anstrengungen, ohne Erfindungen und Künste leben kann wie das Thier im Walde und der Fisch im Wasser: das sind einige Südseeinseln. Dort allerdings bedarf er in einem ewigen Frühling keiner Kleider und keiner Wohnung oder nur einiger Palmblätter zum Schutze gegen zeitweiligen Regen. Dort findet er zu allen Jahreszeiten die stets bereite Nahrung in der Kokospalme, dem Brodbaum, der Banane, in einigen Hausthieren, Fischen und Muscheln. Kein Raubthier bedroht seine Sicherheit und zwingt ihn zur Entfaltung von Kraft und Todesverachtung. Aber wie viele Menschen kann dieses irdische Paradies ernähren? Vielleicht ein Hundertstel der heutigen Menschheit. Die übrigen  Hundertstel haben nur die Wahl, entweder unterzugehen oder solche Gegenden unseres Planeten zu besiedeln, wo der Tisch nicht gedeckt und der Wonnepfuhl nicht gebettet ist, sondern wo Alles, was das Leben zu seiner Erhaltung fordert, künstlich und mühselig geschaffen werden muß. Die „Rückkehr zur Natur“ heißt in unseren Breitegraden die Rückkehr zum Verhungern, zum Erfrieren, zum

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 Gefressenwerden | von Wölfen und Bären. Nicht in der unmöglichen „Rückkehr zur

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Natur“ ist die Heilung des Menschenelends zu finden, sondern in der vernünftigen Organisation unseres Kampfes gegen die Natur, ich möchte sagen in der allgemeinen Wehrpflicht gegen sie, von der nur Krüppel sollen befreit werden dürfen. Wir haben nun die einzelnen Gedanken kennen gelernt, die zusammen den Tolstoismus ausmachen. Als Philosophie gibt er über Welt und Leben mit einigen sinnlosen oder widerspruchsvollen Umschreibungen absichtlich mißverstandener Bibelverse Aufschluß. Als Sittenlehre schreibt er den Verzicht auf den Widerstand gegen Laster und Verbrechen, die Theilung der Güter und die Vernichtung der Menschheit durch völlige Enthaltung vor. Als Gesellschafts- und Wirthschaftslehre predigt er die Nutzlosigkeit der Wissenschaft, das Heil in der Verdummung, den Verzicht auf Gewerbe-Erzeugnisse und den pflichtmäßigen Ackerbau, doch ohne zu verrathen, woher der Bauer den nöthigen Acker nehmen soll. Das Merkwürdige an diesem System ist, daß es seine eigene Ueberflüssigkeit nicht merkt. Verstände es sich selbst, so würde es sich auf einen einzigen Punkt beschränken: die Enthaltung. Denn es leuchtet ein, daß es unnöthig ist, sich den Kopf über Zweck und Inhalt des Menschenlebens, über Verbrechen und Nächstenliebe und namentlich über Land- oder Stadtleben zu zerbrechen, wenn die Menschheit doch durch Enthaltung mit dem gegenwärtigen Geschlecht aussterben soll. Rod leugnet, daß Tolstoi ein Mystiker sei. „Der Mysticismus war immer, wie das Wort besagt,“ (?) „eine transzendentale Lehre. Die Mystiker, besonders die christlichen Mystiker, haben immer das gegenwärtige dem künftigen Leben geopfert … Was dagegen einem nicht voreingenommenen Geist in den Büchern Tolstois auffällt, das ist | die beinahe vollständige Abwesenheit aller Metaphysik, seine [] Gleichgiltigkeit gegen die sogenannten Jenseits-Fragen.“ Rod weiß eben nicht, was Mysticismus ist. Er schränkt den Sinn dieses Wortes unzulässig ein, wenn er es nur zur Bezeichnung der Beschäftigung mit „JenseitsFragen“ gebraucht. Wäre er weniger oberflächlich, so würde er erkennen, daß Glaubensschwärmerei nur ein besonderer Fall eines allgemeinen Geisteszustandes und Mysticismus jede von Emotivität begleitete krankhafte Dunkelheit und Zusammenhanglosigkeit des Denkens ist, also auch die, deren Frucht das zugleich materialistische, pantheistische, christliche, aszetische, rousseausche und kommunistische System Tolstois ist. Raphael Löwenfeld, dem wir die erste vollständige deutsche Ausgabe der Werke Tolstois verdanken, hat auch eine sehr verdienstvolle Lebensgeschichte des russischen Dichters geschrieben, in der er sich aber verpflichtet glaubt, nicht nur für seinen Helden leidenschaftlich Partei zu nehmen, sondern auch dessen mögliche Kritiker im Voraus seiner tiefen Verachtung zu versichern. „Der Unverstand“, sagt er, „nennt sie“ (die „selbstständigen Erscheinungen“ von der Art Tolstois)

 Ed. Rod, Les idées morales du temps présent. Paris, . S. .   Raphael Löwenfeld, Leo N. Tolstoj, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung. Erster Theil. Berlin, . Vorwort. S. .

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„Sonderlinge, er mags nicht leiden, daß einer um einen Kopf größer sei als alle. Der Vorurtheilsfreie, dem die Fähigkeit ward, Großes zu bewundern, sieht in ihrer Selbstständigkeit die Aeußerung einer ungewöhnlichen Kraft, die über das Können der Zeit hinausgewachsen ist und den Kommenden führend die Wege weist.“ Es ist wohl gewagt, ohne Weiteres Alle, die nicht seiner Meinung sind, des „Unverstandes“ zu bezichtigen. Wer so selbstherrlich richtet, der wird es sich gefallen lassen müssen, daß man ihm antwortet, des Unverstandes mache sich derjenige schuldig, der ohne die nöthigste Vorbildung an die Beurtheilung einer Erscheinung [] herantritt, zu deren Verständniß etwas ästhetisch-lite-|rarisches sogenanntes „Wissen“ und persönliche Empfindungen nicht entfernt ausreichen. Löwenfeld rühmt sich seiner Fähigkeit, Großes zu bewundern. Er hat vielleicht Unrecht, diese Fähigkeit nicht auch bei Anderen vorauszusetzen. Was gerade zu beweisen wäre, das ist, daß das, was er bewundert, auch wirklich die Bezeichnung Großes verdient. Seine Versicherung ist aber der einzige Beweis, den er für diesen wichtigsten Punkt erbringt. Er nennt sich vorurtheilsfrei. Man kann ihm zugeben, daß er frei von Vorurtheilen ist, aber er ist leider auch frei von den Vorkenntnissen, die allein berechtigen, über psychologische Erscheinungen, die selbst dem Laien als ungewöhnlich auffallen, sich eine Meinung zu bilden und diese mit Selbstbewußtsein vorzutragen. Besäße er diese Vorkenntnisse, so wüßte er z. B., daß Tolstoi, der „den Kommenden führend die Wege weisen“ soll, der bloße Abklatsch einer Menschengattung ist, die in jedem Zeitalter Vertreter gehabt hat. Lombroso führt beispielsweise einen gewissen Knudsen an, einen Verrückten, der um  in Schleswig lebte und „behauptete, daß es weder Gott noch Hölle gebe; daß Priester und Richter unnütz und schädlich seien und die Ehe eine Unsittlichkeit sei; daß der Mensch mit dem Tode aufhöre; daß Jeder sich von seiner innern Einsicht müsse leiten lassen u. s. w.“ Hier haben wir die Hauptbestandtheile der Tolstoischen Weltanschauung und Sittenlehre. Knudsen hat aber „den Kommenden“ so wenig „führend den Weg gewiesen“, daß er nur noch als ein lehrreicher Fall von Seelenstörung in Büchern über Geisteskrankheiten lebt. Die Wahrheit ist, daß alle geistigen Eigenthümlichkeiten Tolstois auf die bestbekannten und meistbeobachteten Stigmate der höhern Entartung zurückgeführt werden können. Er erzählt von sich selbst: „Der Skeptizismus brachte mich zu [] einer Zeit einem Zustande nahe, der an Wahnsinn grenzte. | Ich hatte die Vorstellung, daß außer mir Niemand und nichts in der ganzen Welt vorhanden ist, daß die Dinge nicht Dinge, sondern Vorstellungen sind, die nur dann in die Erscheinung treten, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf sie richte, und daß diese Vorstellungen sofort schwinden, wenn ich aufhöre, an sie zu denken … Es gab Stunden, wo ich unter dem Einflusse dieser fixen Idee zu einem solchen Grade geistiger Verwirrung kam, daß ich mich bisweilen schnell nach der entgegengesetzten Seite

 Lombroso, Genie und Irrsinn. S. . Fußnote.  Löwenfeld, a. a. O. S. .

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umsah, in der Hoffnung, dort, wo ich nicht war, von einem Nichts überrascht zu werden.“ Und in seiner „Beichte“ sagt er ausdrücklich: „Ich fühlte, daß ich nicht völlig geistig gesund war.“ Sein Gefühl war richtig. Er litt an der Grübel- und Zweifelsucht, die bei vielen höheren Entarteten beobachtet wird. Kowalewski erklärt die Zweifelsucht geradezu als eine ausschließliche Entartungs-Psychose. Griesinger erzählt den Fall eines Kranken, der fortwährend über die Begriffe des Schönen, des Daseins u. s. w. grübelte und endlose Fragen über sie stellte. Nur war Griesinger mit den Entartungs-Erscheinungen wenig vertraut und hielt deshalb seinen Fall für „einen wenig bekannten.“ Lombroso erwähnt bei der Aufzählung der Kennzeichen seiner genialen Wahnsinnigen: „Fast alle sind in schmerzlicher Weise durch Religionszweifel in Anspruch genommen, die den Geist aufregen und wie ein Verbrechen das furchtsame Gewissen und das kranke Herz bedrängen.“ Es ist also nicht der edle Drang nach Erkenntniß, der Tolstoi zur unablässigen Beschäftigung mit den Fragen nach Zweck und Bedeutung des Lebens nöthigt, sondern die Entartungs-Krankheit der Zweifel- und Grübelsucht, die unfrucht-|bar [] ist, weil keine Antwort, kein Aufschluß sie befriedigen kann. Denn es leuchtet ein, daß auch ein noch so klares, noch so erschöpfendes „Darum“ ein aus dem Unbewußten stammendes mechanisch-impulsives „Warum“ nie verstummen machen kann. Eine besondere Erscheinungsform der Zweifel- und Grübel-Sucht ist die Widerspruchswuth und die Neigung zu absonderlichen Behauptungen, die von manchen Klinikern, z. B. Sollier, als ein eigenes Stigma der Entartung verzeichnet wird. Sie ist bei Tolstoi zu gewissen Zeiten stark aufgetreten. „In dem Streben nach Selbstständigkeit“, berichtet Löwenfeld, „ging Tolstoi manchmal über die Grenzen des Geschmacks hinaus, indem er das Hergebrachte bekämpfte, blos weil es hergebracht war. So nannte er … Shakespeare einen Dutzend-Skribenten und behauptete, die Bewunderung … für den großen Briten … habe eigentlich keine andere Ursache als die Gewohnheit, fremde Meinungen gedankenlos nachzubeten.“ Was man an Tolstoi mit am rührendsten und bewundernswerthesten findet, das ist seine grenzenlose Nächstenliebe. Daß sie in ihren Voraussetzungen und Kundgebungen unsinnig ist, habe ich schon oben gezeigt. Hier aber habe ich nachzuweisen, daß sie ebenfalls ein Entartungs-Stigma ist. Der geistesklare, gesunde Turgenjeff hat, ohne die Erfahrungen der Irrenärzte zu kennen, aus seiner natürlichen Empfindung heraus „die innige Liebe Tolstois zu dem bedrückten Volke“, wie Löwenfeld sagt, „spöttisch“ „eine hysterische genannt.“ Wir werden sie bei vielen

 Löwenfeld, a. a. O. S. .  Prof. Kowalewski in The Journal of Mental Science, Januar .   Griesinger, Ueber einen wenig bekannten psychopathischen Zustand. Archiv für Psychiatrie, Band I.  Lombroso, Genie und Irrsinn. S. .  Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile.  Löwenfeld, a. a. O. S. .   Löwenfeld, a. a. O. S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Entarteten wiederfinden. „Im Gegensatze zum selbstsüchtigen Geistesschwachen“, lehrt Legrain, „haben wir den Geistesschwachen, der gut bis zur Uebertreibung, [] der menschenliebend ist, der tausend absurde Systeme aufbaut, | um das Glück der Menschheit herbeizuführen.“ Und weiterhin: „Voll von seiner Liebe für die Menschheit erfaßt der geistesschwache Kranke ohne Bedenken die soziale Frage bei ihren schwierigsten Seiten und löst sie zuversichtlich durch eine Reihe grotesker Erfindungen.“ Diese unverständige, nicht vom Urtheil geleitete Nächstenliebe, die Turgenjeff mit richtiger Ahnung, wenn auch unrichtiger Bezeichnung, „hysterisch“ nannte, ist nichts Anderes als eine Erscheinungsform jener Emotivität, die für Morel den Grundcharakter der Entartung bildet. An dieser Diagnose kann die Thatsache nichts ändern, daß Tolstoi das Glück gehabt hat, während der letzten Hungersnoth eine höchst wirksame und aufopferungsvolle Hilfsthätigkeit zur Linderung des Elends seiner Landsleute entfalten zu können. Der Fall lag einfach. Die Noth der Mitmenschen hatte die ursprünglichste Form: die des Mangels an Leibesnahrung. Die Nächstenliebe konnte sich ebenfalls in ihrer ursprünglichsten Form bethätigen: in der der Vertheilung von Speise und Kleidung. Eine besondere Urtheilskraft, ein tieferes Verständniß des Bedürfnisses der Mitmenschen war da nicht nöthig. Und daß Tolstois Veranstaltungen zur Unterstützung der Leidenden wirksamer waren als die der Behörden, beweist nur die Stumpfheit und Unfähigkeit dieser letzteren. Auch die Stellung Tolstois zum Weibe, die dem gesunden Menschenverstande unbegreiflich bleiben muß, wird im Lichte der klinischen Erfahrung ohne Weiteres verständlich. Es ist hier bereits wiederholt darauf hingewiesen worden, daß die Emotivität der Entarteten in der Regel eine erotische Färbung hat, weil die Geschlechtszentren bei ihnen krankhaft verändert sind. Die anormale Erregbarkeit dieser Theile des Nervensystems kann sowohl eine besondere Hinneigung zum Weibe als auch eine besondere Abneigung gegen das Weib zur Folge haben. Das Gemeinsame, das diese entgegengesetzten Wirkungen eines und desselben organi[] schen Zustandes verknüpft, ist die bestän-|dige Beschäftigung mit dem Weibe, das beständige Erfülltsein des Bewußtseins mit Vorstellungen aus dem Gebiete der Geschlechtlichkeit. Im Geistesleben des gesunden Menschen spielt das Weib nicht entfernt die Rolle wie in dem des Entarteten. Das physiologische Verhältniß des Mannes zum Weibe ist das des zeitweiligen Verlangens nach diesem und der Gleichgiltigkeit, wenn der Zustand des Verlangens nicht vorhanden ist. Abneigung oder gar heftige

 Legrain, Du délire chez les dégénérés. S. , .  Ich habe nicht die Absicht, in einem zunächst für den allgemein gebildeten Leser bestimmten Buche bei diesem heikeln Punkte zu verweilen. Wer sich über den krankhaften Erotismus der Entarteten näher unterrichten will, der mag die Bücher von Paul Moreau (de Tours), Des abberrations du sens génésique, ème édition, Paris, , und Krafft-Ebing, Psychopothia sexualis, Stuttgart, , lesen. Einschlägige Arbeiten von Westphal (Archiv für Psychiatrie  und ), von Charcot und Magnan (Archives de neurologie ) u. s. w. sind dem Laien kaum zugänglich.

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Feindschaft empfindet der normale Mann niemals gegen das Weib. Wenn ihn nach dem Weibe verlangt, so liebt er es, wenn seine erotische Erregung beruhigt ist, so steht er ihm blos kühl und fremd, doch ohne Abscheu und Furcht gegenüber. Aus seinen rein subjektiven, physiologischen Bedürfnissen und Neigungen heraus hätte der Mann allerdings niemals die Ehe, die dauernde Verbindung mit dem Weibe, erfunden. Diese ist keine geschlechtliche, sondern eine gesellschaftliche Einrichtung. Sie beruht nicht auf den organischen Trieben des einzelnen Mannes, sondern auf den Bedürfnissen der Gesammtheit. Sie hängt mit der bestehenden Wirthschaftsordnung und den herrschenden Anschauungen vom Staate, seinen Aufgaben und seinem Verhältnisse zum Individuum zusammen und ändert ihre Form mit diesen. Der Mann mag — oder sollte doch — ein bestimmtes Weib aus Liebe zur Ehegenossin wählen, was ihn aber nach getroffener Wahl und erfolgreicher | Werbung in der Ehe festhält, das ist nicht mehr physiologische Liebe, sondern ein [] verwickeltes Gemisch von Gewohnheit, Dankbarkeit, ungeschlechtlicher Freundschaft, Bequemlichkeit, der Wunsch, sich wirthschaftliche Vortheile zu verschaffen, (zu diesen muß natürlich auch eine geordnete Häuslichkeit, gesellschaftliche Repräsentation u. s. w. gerechnet werden) der Gedanke der Pflicht gegen die Kinder und den Staat, mehr oder weniger auch die gedankenlose Nachahmung eines allgemeinen Brauchs. Gefühle, wie sie in der „Kreutzersonate“ und im „Roman der Ehe“ geschildert sind, empfindet der normale Mann aber niemals gegen sein Weib, auch wenn er aufgehört hat, es im natürlichen Sinne des Wortes zu lieben. Ganz anders liegen alle diese Verhältnisse beim Entarteten. Ihn beherrscht die krankhafte Thätigkeit seiner Geschlechtszentren vollständig. Bei ihm hat der Gedanke an das Weib die Gewalt einer Zwangsvorstellung. Er fühlt, daß er den Erregungen, die vom Weib ausgehen, nicht widerstehen kann, daß er der ohnmächtige Sklave des Weibes ist und auf dessen Blick und Wink jede Thorheit, jeden Wahnsinn, jedes Verbrechen begehen würde. Er sieht also nothwendig in dem Weib eine unheimliche, übermächtige, zugleich höchsten Genuß gewährende und zerstörende Naturgewalt und er zittert vor dieser Kraft, der er wehrlos ausgeliefert ist. Wenn dann noch die fast nie fehlenden Verirrungen hinzutreten, wenn er für das Weib thatsächlich Dinge begeht, für die er sich verurtheilen und verachten muß, oder wenn das Weib, ohne daß es bis zu wirklichen Handlungen kommt, in ihm Regungen und Gedanken erweckt, vor deren Niedrigkeit oder Verruchtheit er sich entsetzt, so wird das Grauen, das das Weib ihm einflößt, in den Augenblicken der Erschöpfung, in welchen das Urtheil stärker ist als der Trieb, in Abscheu und wilden Haß umschlagen. Der erotomanische Entartete steht dem Weibe so gegenüber wie der dipsomanische dem berauschenden Getränke. | Magnan hat ein erschüt- [] terndes Bild von den Kämpfen gegeben, welche die leidenschaftliche Begierde nach der Flasche und der Ekel, das Entsetzen vor ihr im Geiste des an Trunksucht

 V. Magnan, Leçons cliniques sur la Dipsomanie, faites à l’Asile Sainte-Anne. Recueillies et publiées par M. le Dr. Marcel Briand. Paris, .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Leidenden einander liefern. Der Geist des Erotomanen ist der Schauplatz ähnlicher, nur wahrscheinlich noch stärkerer Kämpfe. Diese führen manchmal den Unglückli-  chen, der kein anderes Mittel sieht, seinen geschlechtlichen Zwangsvorstellungen zu entgehen, bis zur Selbstverstümmelung. Es gibt bekanntlich in Rußland eine ganze Sekte von Entarteten, die Skoptzi, bei denen diese systematisch geübt wird, als das einzige wirksame Verfahren, dem Teufel zu entgehen und selig zu werden. Pozdnischeff in der „Kreutzer-Sonate“ ist ein Skopetz, ohne es zu wissen, und die  Geschlechtsmoral, die Tolstoi in dieser Erzählung und in den theoretischen Schriften lehrt, ist der schriftstellerische Ausdruck der Sexual-Psychopathie der Skoptzen. An dem Welterfolge der Schriften Tolstois hat dessen hohe Dichterbegabung ohne Zweifel einen Antheil. Aber nicht den größten. Denn wie wir zu Anfang dieses  Kapitels gesehen haben, waren es nicht seine künstlerisch bedeutendsten Schöpfungen, die Werke seiner besten Jahre, sondern seine späteren mystischen Arbeiten, die ihm seine Gemeinde geworben haben. Diese Wirkung erklärt sich nicht aus ästhetischen, sondern aus pathologischen Gründen. Tolstoi wäre unbeachtet geblieben wie irgend ein Knudsen des siebzehnten Jahrhunderts, wenn seine  Schwärmereien eines entarteten Mystikers nicht die Zeitgenossen zu ihrer Aufnahme vorbereitet gefunden hätten. Die weit verbreitete Erschöpfungs-Hysterie war der nothwendige Boden, auf dem allein der Tolstoismus gedeihen konnte. Daß die Entstehung und Ausbreitung des Tolstoismus nicht auf den innern [] Gehalt der Schriften Tolstois, sondern | auf den Geisteszustand seiner Leser zurück zuführen ist, erhellt am deutlichsten aus der Verschiedenheit der Theile seines Systems, die in den verschiedenen Ländern Eindruck machten. In jedem Volke erweckten eben nur die Töne einen Widerhall, auf die sein eigenes Nervensystem gestimmt war. In England fand die Geschlechtsmoral Tolstois den größten Anklang, denn dort  verurtheilen die Wirthschaftsverhältnisse eine entsetzlich große Anzahl Mädchen gerade der gebildeten Klassen zur Ehelosigkeit und diese bedauernswerthen Geschöpfe müssen natürlich aus einer Lehre, welche die Keuschheit als höchste Würde und erhabenste Menschenbestimmung feiert und die Ehe mit düsterem Grimm als scheußliche Verworfenheit brandmarkt, reichen Trost für ihr vereinsam-  tes, inhaltloses Leben und ihre grausame Ausschließung aus der Möglichkeit der Erfüllung ihres natürlichen Berufs schöpfen. Die „Kreutzer-Sonate“ ist deshalb das Erbauungsbuch aller alten Jungfern Englands geworden. In Frankreich schätzt man am Tolstoismus hauptsächlich, daß er die Wissenschaft zur Thüre hinauswirft, den Verstand aller Aemter und Würden entsetzt, die  Rückkehr zum Köhlerglauben predigt und die Armen im Geist allein glücklich preist. Dies ist Wasser auf die Mühle der Neokatholiken und dieselben Mystiker aus politischer Absicht oder Entartung, die dem frommen Symbolismus eine Kathedrale erbauen, richten auch Tolstoi einen der Hauptaltäre in ihrer Kirche auf. In Deutschland ist im Ganzen für die Enthaltungs-Moral der „Kreutzer-Sonate“  und die geistige Umkehr von „Meine Beichte“, „Meine Religion“ und „Früchte der

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Bildung“ wenig Begeisterung zu spüren, dagegen erhebt seine deutsche Gemeinde Tolstois verschwommenen Sozialismus und seine kranke Nächstenliebe zu ihrem Dogma. Alle unklaren Köpfe in unserm Volke, die nicht aus nüchterner wissenschaftlicher Ueberzeugung, sondern aus hysterischer Emotivität eine Hin-|neigung [] zu einem süßlichen, kraftlosen Sozialismus empfinden, welcher hauptsächlich auf das Verabreichen von Bettelsuppen an Proletarier und auf das Schwelgen in empfindsamen Romanen und Melodramen aus dem angeblichen Leben des GroßstadtArbeiters hinausläuft, erblicken naturgemäß in Tolstois allen wirthschaftlichen und sittlichen Gesetzen hohnsprechendem Schenk-mir-was-Kommunismus den Ausdruck ihrer — sehr platonischen! — Liebe zu den Enterbten und in den Kreisen, in welchen Herrn von Egidys schwabbeliger, um wenigstens hundert Jahre verspäteter Nationalismus Aufsehen erregen und seine erste Schrift gegen hundert Erwiderungen, Zustimmungen und Erläuterungen hervorrufen konnte, mußte Tolstois „Kurze Darlegung des Evangelium“ mit ihrer Leugnung der göttlichen Natur Christi und einer Fortdauer nach dem Tode, mit ihren Ergüssen eines Ueberschwanges von Gefühlen gegenstandloser Liebe, unverständlicher Selbstheiligung und schönredender Sittlichkeit und namentlich mit ihrer erstaunlichen Umdeutung der klarsten Schriftstellen ein Ereigniß sein. Alle Anhänger des Herrn von Egidy sind vorbestimmte Gefolgsleute Tolstois und alle Tolstoi-Verehrer begehen eine Folgewidrigkeit, wenn sie nicht in die neue Heilsarmee des Herrn von Egidy eintreten. Durch die besondere Klangfarbe des Widerhalls, den der Tolstoismus in den einzelnen Ländern hervorrief, ist er zu einem Werkzeuge geworden, das besser als irgend eine andere Entartungs-Richtung im zeitgenössischen Schriftthum zum Bestimmen, zum Messen und Vergleichen von Art und Stärke der Degeneration und Hysterie unter den gesitteten Nationen geeignet ist, bei denen die Erscheinung der Völkerdämmerung beobachtet wird.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

V. Der Richard-Wagner-Dienst.

Wir haben in einem frühern Kapitel gesehen, daß die ganze mystische Zeitbewegung in der Romantik wurzelt, also ursprünglich von Deutschland ausgeht. Die deutsche Romantik erfuhr in England die Umgestaltung in den Präraphaelismus, dieser zeugte mit den letzten Ueberbleibseln seiner Befruchtungskraft in Frankreich die Mißgeburten des Symbolismus und Neokatholizismus und dieses zusammengewachsene Zwillingspaar schloß mit dem Tolstoismus eine Bankisten-Ehe nach Art derjenigen zwischen einem Jahrmarkt-Krüppel und einem SchaubudenWunder. Während die fast bis zur Unkenntlichkeit veränderten Abkömmlinge des Auswanderers, der schon bei seinem Wegzug aus der deutschen Heimat alle Keime der späteren Geschwülste und Entstellungen in sich trug, in den verschiedenen Ländern heranwuchsen und sich anschickten, in das alte Stammland zurückzukehren, um die Wiederanknüpfung der Familien-Beziehungen zu den daheim gebliebenen Verwandten zu versuchen, gebar Deutschland ein neues Phänomen, das zwar nur sehr mühselig großgezogen werden konnte und lange Jahre wenig Beachtung und Schätzung fand, schließlich aber auf der großen Narren-Kirmeß der Gegenwart eine unvergleichlich mächtigere Zugkraft bewährte als alle seine Wettbewerber. Dieses Phänomen ist die Richard Wagnerei. Es ist der deutsche Beitrag zum modernen Mysticimus und er wiegt weitaus Alles auf, was die übrigen Völker zu diesem geliefert haben. Denn Deutschland ist gewaltig in Allem, im Schlimmen wie im [] Guten, und das | Ungeheure seiner Urkraft gibt sich in seinen Entartungs- wie in seinen Veredelungs-Bestrebungen überwältigend kund. Der eine Richard Wagner ist allein mit einer größern Menge Degeneration vollgeladen als alle anderen Entarteten zusammengenommen, die wir bisher kennen gelernt haben. Die Stigmate dieses Krankheitszustandes finden sich bei ihm mit unheimlicher Vollständigkeit und in üppigster Entfaltung vereinigt. Er zeigt in seiner allgemeinen Geistesverfassung Verfolgungswahnsinn, Größenwahn und Mysticismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe, Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchssucht, in seinen Schriften alle Merkmale der Graphomanie, nämlich Zusammenhanglosigkeit, Gedankenflucht und Neigung zu blödsinnigem Kalauern, und als Grundlage seines Wesens die kennzeichnende Emotivität von gleichzeitig erotomanischer und glaubensschwärmerischer Färbung. Für Wagners Verfolgungswahnsinn haben wir das Zeugniß seines jüngsten Biographen und Freundes Ferdinand Praeger, der erzählt, daß er Jahrzehnte lang fest überzeugt war, die Juden hätten sich zusammengethan, um die Aufführung seiner Opern zu verhindern, eine Wahnvorstellung, die ihm seinen grimmigen Antisemitismus eingab. Sein Größenwahn ist von seinen Schriften, seinen mündlichen Aeußerungen, seiner ganzen Lebensführung her so bekannt, daß der einfache Hinweis auf ihn genügt. Zuzugeben ist übrigens, daß er durch das tolle Treiben der Umgebung Wagners wesentlich gesteigert wurde. Auch ein sehr viel sichereres Gleichgewicht als das, welches im Geiste Wagners herrschte, wäre durch den ekelhaften



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Götzendienst, der in Bayreuth seine Stätte hatte, unfehlbar gestört worden. Die „Bayreuther Blätter“ sind eine einzige Erscheinung. Mir wenigstens ist kein zweites Beispiel einer Zeitung bekannt, die ausschließlich zur Vergötterung eines lebenden Menschen gegründet worden wäre und in deren jeder Nummer lange Jahre hindurch die bestell-|ten Tempelpriester ihrem Hausgotte mit dem wilden Glaubens- [] Fanatismus heulender und tanzender Derwische Weihrauch verbrannt, Kniebeugungen und Niederwerfungen dargeboten und Gegner als Opfer geschlachtet hätten. Den Graphomanen Wagner wollen wir uns näher ansehen. Seine „Gesammelten Schriften und Dichtungen“ bilden zehn große, dicke Bände und unter den ungefähr  Seiten, die sie enthalten, ist schwerlich eine einzige, die den unvoreingenommenen Leser nicht durch irgend einen unsinnigen Gedanken oder eine unmögliche Ausdrucksweise verblüffen würde. Unter seinen Prosawerken — die poetischen sollen später an die Reihe kommen — ist wohl das hauptsächlichste „Das Kunstwerk der Zukunft.“ Die darin ausgesprochenen Gedanken — so weit man die schwankenden Schatten-Vorstellungen eines mystisch-emotiven Entarteten so nennen kann — haben Wagner sein ganzes Leben lang beschäftigt und sind von ihm wieder und wieder in immer neuen Wendungen und Einkleidungen vorgetragen worden. „Oper und Drama“, „Das Judenthum in der Musik“, „Ueber Staat und Religion“, „Ueber die Bestimmung der Oper“, „Religion und Kunst“, sind nichts Anderes als Umschreibungen und weitläufigere Ausführungen einzelner Stellen des „Kunstwerks der Zukunft.“ Schon dieses rastlose Wiederholen einer und derselben Gedankenfolge ist in hohem Grade bezeichnend. Der klare, geistig gesunde Schriftsteller, der sich gedrängt fühlt, etwas zu sagen, wird sich einmal so deutlich und eindringlich, wie es ihm möglich ist, aussprechen und sich damit genug gethan haben. Er mag vielleicht auf den Gegenstand zurückkommen, um Mißverständnisse aufzuklären, Angriffe zurückzuweisen und Lücken zu ergänzen, aber er wird niemals sein | Buch ganz oder theilweise mit wenig verschiedenen [] Worten ein zweites und drittes Mal schreiben wollen, selbst dann nicht, wenn er in späteren Jahren zur Einsicht gelangt, daß es ihm nicht geglückt ist, dafür die zulängliche Form zu finden. Der verworrene Graphomane dagegen kann in seinem Buche, wenn es fertig vor ihm liegt, nicht den befriedigenden Ausdruck seiner Gedanken erkennen und er wird immer wieder versucht sein, eine Arbeit von vorn anzufangen, die aussichtlos ist, weil sie darin bestehen soll, formlosen Vorstellungen eine feste sprachliche Form zu geben. Der Grundgedanke des „Kunstwerks der Zukunft“ ist dieser: Die erste und ursprünglichste Kunst war die Tanzkunst; ihr eigentliches Wesen ist der Rhythmus und dieser hat sich zur Musik entwickelt; die Musik, aus Rhythmus und Ton bestehend, hat ihr Lautelement zur Sprache gesteigert (Wagner sagt: „verdichtet“) und

 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. Leizig, . (Die Seitenzahlen, die bei den Anführungen aus dieser Schrift angegeben sind, beziehen sich auf die hier bezeichnete Ausgabe.)

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

die Dichtkunst erzeugt; die höchste Form der Dichtkunst ist das Drama, das sich zum Zwecke des Bühnenbaues die Architektur und zur Nachahmung des Schauplatzes menschlicher Handlungen, der Landschaft, die Malerei zugesellt hat; die Bildhauerei endlich ist nichts als das Festhalten der Erscheinung des Schauspielers in todter, starrer Form und die Schauspielerei die eigentliche, lebendig bewegte und fließende Bildhauerei. So gruppiren sich alle Künste um das Drama und dieses sollte sie naturgemäß vereinigen. Sie treten indeß gegenwärtig gesondert auf, zum großen Schaden für jede von ihnen und für die Kunst im Allgemeinen. Diese gegenseitige Entfremdung und Vereinzelung der verschiedenen Künste ist ein Zustand der Unnatur und des Verfalls und das Bestreben der echten Künstler muß sein, wieder den natürlichen und nothwendigen Anschluß an einander zu gewinnen. Die wechselseitige Durchdringung und Verschmelzung aller Künste zu einer einzigen Kunst wird das echte Kunstwerk geben. Das Kunstwerk der Zukunft ist also ein [] Drama mit Musik | und Tanz, das sich in einem Landschaftsgemälde abspielt, eine Meisterschöpfung der auf den dichterisch-musikalischen Zweck gerichteten Baukunst zum Rahmen hat und von Mimen dargestellt wird, die eigentlich Bildhauer sind, ihre plastischen Eingebungen aber durch ihre eigene körperliche Erscheinung verwirklichen. So hat Wagner sich die Entwickelung der Kunst zurechtgelegt. Sein System fordert in allen Theilen die Kritik heraus. Die versuchte geschichtliche Ableitung der Künste aus einander ist unrichtig. Wenn man die ursprünglichen Wechselbeziehungen von Gesang, Tanz und Dichtung zugeben kann, so ist doch die Ausbildung der Baukunst, Malerei und Bildhauerei von der Dichtung in ihrer dramatischen Form sicher unabhängig. Daß das Theater für alle Künste Verwendung hat, ist wahr, aber es ist eine von jenen Wahrheiten, die so selbstverständlich sind, daß man sie überhaupt nicht auszusprechen braucht und am allerwenigsten mit tiefsinniger Prophetenmiene und den großen Priestergeberden eines Verkünders überraschender Offenbarungen. Jeder weiß aus Erfahrung, daß die Bühne in einem Theatergebäude ist, daß sie gemalte Dekorationen zeigt, die Landschaften oder Bauwerke darstellen, und daß auf ihr gesprochen, gesungen, getanzt und gemimt wird. Wagner fühlt im Geheimen selbst, daß er sich lächerlich macht, wenn er sich anstrengt, diese platte Erfahrungs-Thatsache mit einem ungeheuern Aufwand an Schwulst und Uebergeschnapptheit pythisch vorzutragen, er übertreibt sie also, bis sie in Unsinn überschlägt. Er stellt nicht etwa blos fest, daß im Drama, genauer in der Oper oder im Musikdrama, wie Wagner sie lieber nennt, verschiedene Künste zusammenwirken, sondern er behauptet, daß jede einzelne Kunst erst durch dieses Zusammenwirken zu ihrer höchsten Ausdrucksfähigkeit gesteigert wird und daß die einzelnen Künste ihre Selbstständigkeit als eine unnatürliche Verirrung aufge[] ben müssen und | werden, um nur noch als Mitarbeiter des Musikdramas weiterzuleben. Die erste Behauptung ist mindestens zweifelhaft. Im Kölner Dom wirkt die Baukunst, auch ohne daß ein Drama in ihm dargestellt wird, der Schönheit und

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 Tiefe Fausts und Hamlets würde Musikbegleitung gar nichts hinzufügen, Goethes

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Lyrik und die Göttliche Komödie bedürfen keiner Landschaftsmalerei als Rahmen und Hintergrund, der Moses von Michel Angelo macht schwerlich einen tiefern Eindruck, wenn um ihn getanzt oder gesungen wird, und damit die Pastoralsymphonie ihren vollen Zauber übe, bedarf es nicht der Begleitung des Wortes. Schopenhauer, den Wagner doch als den größten Denker aller Zeiten bewundert hat, drückt sich über diesen Punkt sehr bestimmt aus. „Die große Oper“, sagt er „ist eigentlich kein Erzeugniß des reinen Kunstsinnes, vielmehr des etwas barbarischen Begriffs von Erhöhung des ästhetischen Genusses mittelst Anhäufung der Mittel, Gleichzeitigkeit ganz verschiedenartiger Eindrücke und Verstärkung der Wirkung durch Vermehrung der wirkenden Masse und Kräfte; während doch die Musik, als die mächtigste aller Künste, für sich allein, den für sie empfänglichen Geist vollkommen auszufüllen vermag; ja ihre höchsten Produktionen, um gehörig aufgefaßt und genossen zu werden, den ganzen ungetheilten und unzerstreuten Geist verlangen, damit er sich ihnen hingebe und sich in sie versenke, um ihre so unglaublich innige Sprache ganz zu verstehen. Statt dessen dringt man während einer so höchst komplicirten Opern-Musik zugleich durch das Auge auf den Geist ein, mittelst des buntesten Gepränges, der phantastischesten Bilder und der lebhaftesten Licht- und Farbeneindrücke; wobei noch außerdem die Fabel des Stückes ihn beschäftigt … Strenge genommen also könnte man die Oper eine unmusikalische Erfindung zu | Gunsten unmusikalischer Geister nennen, als bei welchen die [] Musik erst eingeschwärzt werden muß durch ein ihr fremdes Medium, also etwan als Begleitung einer breit ausgesponnenen, faden Liebesgeschichte und ihrer poetischen Wassersuppen: denn eine gedrängte, geist- und gedankenvolle Poesie verträgt der Operntext gar nicht.“ Das ist eine vollständige Verurtheilung der Wagnerschen Vorstellung vom Musikdrama als dem Gesammt-Kunstwerke der Zukunft. Zwar hat es den Anschein, als kämen gewisse neuere Versuche der Psychophysik der Theorie Wagners von der gegenseitigen Steigerung gleichzeitiger Wirkungen verschiedener Künste zu Hilfe. Charles Féré hat in der That gezeigt, daß das Ohr schärfer hört, wenn das Auge gleichzeitig durch eine angenehme (dynamogene) Farbe erregt wird, aber einmal kann diese Erscheinung auch so gedeutet werden, daß der Gesichtseindruck nicht als solcher, als Sinneserregung schlechtweg, sondern nur durch seine dynamogene Beschaffenheit die Hörschärfe steigert und überhaupt das ganze Nervensystem zu lebhafterer Thätigkeit anregt, und dann handelt es sich bei Férés Versuchen blos um einfache Sinneswahrnehmungen, während das Musikdrama höhere Hirnthätigkeit wachrufen, Vorstellungen und Gedanken neben unmittelbaren Emotionen erzeugen soll, wobei jede einzelne der zusammenwirkenden Künste, wegen der nothwendigen Zersplitterung der Aufmerksamkeit an sie, schwächer empfunden wird, als wenn sie allein zu Sinn und Geist spräche.

 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Leipzig,  . . Band, S. .  Charles Féré, Sensation et mouvement. Paris, .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Die zweite Behauptung Wagners, daß die natürliche Entwickelung der einzelnen Künste sie nothwendig zum Aufgeben ihrer Selbstständigkeit und zu ihrer Verschmelzung mit einander führe, widerspricht so sehr allen Erfahrungen und [] Ent-|wickelungsgesetzen, daß man sie ohne Weiteres als delirirend bezeichnen kann. Die natürliche Entwickelung geht immer von der Einheit zur Vielheit, nicht umgekehrt; der Fortschritt besteht in der Differenzirung, das heißt in der Ausgestaltung ursprünglich gleicher Theile zu besonderen Organen von verschiedener Beschaffenheit und selbstständigen Verrichtungen, nicht aber in der Zurückführung der Sonderwesen von reicher Eigenart zu einer Ur-Gallerte ohne Physiognomie. Die Künste sind nicht zufällig geworden; ihre Differenzirung ist die Folge organischer Nothwendigkeit; haben sie einmal die Selbstständigkeit erreicht, so geben sie sie nie wieder auf. Sie können entarten, sie können sogar absterben, aber sie können nicht mehr zu dem Keime zurückschrumpfen, von dem sie ausgegangen sind. Das Zurückstreben zu den Anfängen ist jedoch eine Eigenthümlichkeit der Entartung und in ihrem tiefsten Wesen begründet. Der Degenerirte befindet sich selbst auf dem Abstiege von der Höhe organischer Entwickelung, welche unsere Gattung erreicht hat; sein mangelhaftes Gehirn ist zur letzten und feinsten Denkarbeit unfähig; er hat darum den Trieb, sich diese zu erleichtern, die Mannig[] faltigkeit der Erscheinungen | zu vereinfachen und so übersichtlicher zu machen, alles Lebende und Todte auf tiefere und ältere Daseinsstufen herabzuholen, damit es seinem Verständniß bequemer zugänglich sei. Wir haben gesehen, daß die französischen Symbolisten mit ihrem Farbenhören den Menschen bis zur undifferenzirten Sinneswahrnehmung der Bohrmuschel oder Auster herabwürdigen wollen. Wagners Verschmelzung der Künste ist ein Seitenstück zu diesem Einfall. Sein „Kunstwerk der Zukunft“ ist das Kunstwerk der Längstvergangenheit. Was er für Entwickelung hält, ist Rückbildung, ist Umkehr zu urmenschlichen, ja vormenschlichen Zuständen. Noch viel außerordentlicher als der Grundgedanke des Buches ist dessen sprachliche Form. Man würdige beispielsweise folgende Bemerkungen über die

 Das Kunstwerk der Zukunft: „Erst wenn der Drang des künstlerischen Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimischen Darstellers, des singenden und sprechenden, übergegangen ist, kann dieser Drang als wirklich gestillt gedacht werden. Erst wenn die Bildhauerkunst nicht mehr existirt, oder nach einer andern, als der menschlich leiblichen Richtung hin — als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn die starre Einsamkeit dieses einen in Stein gehauenen Menschen in die unendlich strömende Vielheit der lebendigen wirklichen Menschen sich aufgelöst haben wird … dann erst wird die wahre Plastik auch vorhanden sein.“ (S. .) Und: „Was sie“ (die Malerei) „bei redlichem Bemühen zu erreichen strebt, erreicht sie am vollkommensten, … wenn von Leinwand und Kalk herab sie auf die tragische Bühne steigt … Die Landschaftsmalerei aber wird als letzter und vollendeter Abschluß aller bildenden Kunst, die eigentliche, lebengebende Seele der Achitektur werden; sie wird uns so lehren, die Bühne für das dramatische Kunstwerk der Zukunft zu errichten, in welchem sie, selbst lebendig, den warmen Hintergrund der Natur für den lebendigen, nicht mehr nachgebildeten, Menschen darstellen wird.“ (S. .)

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Tonkunst: (S. .) „Das Meer trennt und verbindet die Länder; so trennt und verbin det die Tonkunst die zwei äußersten Gegensätze menschlicher Kunst, die Tanz-

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und Dichtkunst. Sie ist das Herz des Menschen; das Blut, das von ihm aus seinen Umlauf nimmt, gibt dem nach außen gewandten Fleische seine warme, lebenvolle Farbe, — die nach innen strebenden Nerven des Gehirnes nährt es aber mit wellender Schwungkraft.“ (!!) „Ohne die Thätigkeit des Herzens bliebe die Thätigkeit des Gehirnes nur ein mechanisches Kunststück“, (!) „die Thätigkeit der äußeren Leibesglieder ein ebenso mechanisches, gefühlloses Gebahren. Durch das Herz fühlt der Verstand sich dem ganzen Leibe verwandt“, (!!) „schwingt der bloße Sinnenmensch sich zur Verstandesthätigkeit empor.“ (!) „Das Organ des Herzens“ (!) „aber ist der Ton, seine künstlerisch bewußte Sprache: die Tonkunst.“ Was hier Wagner vorschwebte, das war ein schon an sich gänzlich unsinniger Vergleich zwischen der Rolle der Musik als Ausdrucksmittel der Gefühle und der Rolle des Blutes als Träger der Nährstoffe des Organismus. Da sein mystisch denkendes Gehirn aber nicht im Stande war, die einzelnen Bestandtheile dieser krausen Vorstellung scharf zu erfassen und sie gleichlaufend zu ordnen, | so verwickelte er sich in den Unsinn, [] von einer „Thätigkeit des Gehirns ohne Herzthätigkeit,“ von einer „Verwandtschaft des Verstandes mit dem ganzen Leibe durch das Herz“ u. s. w. zu sprechen, und gelangte schließlich zu der reinen Faselei, den „Ton“ „das Organ des Herzens“ zu nennen. Er will den recht einfachen Gedanken ausdrücken, daß die Musik nicht bestimmte Vorstellungen und Urtheile, sondern nur Gefühle allgemeiner Art vermitteln könne, und spinnt zu diesem Zwecke folgenden Galimathias aus: (S. .) „Sie vermag … nun und nimmermehr den sinnlich und sittlich bestimmten Menschen aus sich allein zur genau wahrnehmbaren unterscheidenden Darstellung zu bringen; sie ist, in ihrer unendlichen Steigerung, doch immer nur Gefühl; sie tritt im Geleite der sittlichen That, nicht aber als That selbst ein; sie kann Gefühle und Stimmungen neben einander stellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moralische Wille.“ (!) Man versenke sich auch noch etwa in diese Stelle: (S. .) „Genau nur in dem Grade als das Weib bei vollendeter Weiblichkeit, in seiner Liebe zu dem Mann und durch sein Versenken in sein Wesen, auch das männliche Element dieser Weiblichkeit entwickelt und mit dem rein weiblichen in sich zum vollkommenen Abschlusse gebracht hat, somit in dem Grade als sie dem Manne nicht nur Geliebte sondern auch Freund ist, vermag der Mann schon in der Weibesliebe volle Befriedigung zu finden.“ Wagners Bewunderer versichern, daß sie diese Aneinanderreihung aufs Gerathewohl zusammengeschobener Worte verstehen. Sie finden sie sogar bemerkenswerth klar! Das soll uns aber nicht Wunder nehmen. Leser, die aus Schwachsinn oder Flüchtigkeit unfähig sind, aufmerksam zu sein, verstehen immer Alles. Für sie gibt es weder Dunkelheit noch Unsinn. Sie suchen eben in den Worten, über die ihr zerstreuter Blick | oberflächlich hinhuscht, nicht den Gedanken des Verfassers, []

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sondern eine Spiegelung ihrer eigenen schweifenden Träumereien. Wer liebevoll beobachtend in Kinderstuben gelebt hat, der muß häufig das Spiel gesehen haben, das darin besteht, daß ein Kind ein Buch oder ein Stück bedrucktes Papier nimmt, es sich, meist verkehrt, vors Gesicht hält und ernsthaft daraus vorzulesen beginnt, manchmal die Geschichte, die ihm seine Mama gestern vor dem Einschlafen erzählt hat, häufiger die Einfälle, die ihm eben durchs Köpfchen schwirren. Das ist ungefähr das Verfahren jener gesegneten Leser, die Alles verstehen. Sie lesen nicht aus den Büchern heraus, sondern in die Bücher hinein und für den Verlauf und das Ergebniß dieser Geistesthätigkeit ist es allerdings ungefähr gleichgiltig, was der Verfasser thatsächlich gedacht und gesagt hat. Das Unzusammenhängende des von augenblicklichen Erregungen bestimmten Denkens Wagners gibt sich durch seine beständigen Widersprüche kund. Einmal (S. .) erklärt er: „Der höchste Zweck des Menschen ist der künstlerische, der höchste künstlerische das Drama“, und in einer Fußnote (S. .) bricht er in den Ruf aus: „Alles hören und sehen diese Gemüthlichen gern, nur nicht den wirklichen, unentstellten Menschen, der mahnend am Ausgange ihrer Träume steht. Gerade diesen müssen wir nun aber in den Vordergrund stellen.“ Es leuchtet ein, daß die eine Behauptung der andern schnurstracks entgegentritt. Der „künstlerische“, „dramatische“ Mensch ist nicht der „wirkliche“ und wer es als seine Aufgabe erkennt, sich mit dem wirklichen Menschen zu beschäftigen, der wird unmöglich die Kunst als „den höchsten Zweck des Menschen“ anerkennen und seine „Träume“ als seine vornehmste Thätigkeit achten. An einer Stelle (S. .) sagt er: „Wer also wird der Künstler der Zukunft sein? Ohne Zweifel der Dichter. Wer aber wird der Dichter sein? Unstreitig der Darstel[] ler. | Wer wird jedoch wiederum der Darsteller sein? Nothwendig die Genossenschaft aller Künstler.“ Wenn das überhaupt einen Sinn hat, so kann es nur der sein, daß künftig das Volk gemeinsam seine Dramen dichten und darstellen wird, und daß Wagner wirklich dies gemeint hat, beweist er, indem er (S. .) dem von ihm vorausgesetzten Einwande, daß also der Pöbel der Schöpfer des Kunstwerks der Zukunft sein solle, mit den Worten entgegentritt: „Bedenkt, daß dieser Pöbel keineswegs ein normales Produkt der wirklichen menschlichen Natur ist, sondern vielmehr das künstliche Erzeugniß eurer unnatürlichen Kultur — daß alle die Laster und Scheußlichkeiten, die euch an diesem Pöbel anwidern, nur die verzweiflungsvollen Gebärden des Kampfes sind, den die wirkliche menschliche Natur gegen ihre grausame Unterdrückerin, die moderne Civilisation, führt.“ Man halte nun gegen diese Ausführungen folgende Stelle aus dem Aufsatze: „Was ist deutsch?“: „Daß aus dem Schoße des deutschen Volkes Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven erstanden, verführt die große Zahl der mittelmäßig Begabten gar zu leicht, diese großen Geister als von Rechts wegen zu sich gehörig zu betrachten, und der Masse des Volkes mit demagogischem Behagen vorzureden,

 Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. Leipzig, . Band . S. .

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sie selbst sei Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven.“ Aber wer anders hat ihr dies denn vorgeredet als Wagner selbst, der sie, die Masse des Volks, für „den Künstler der Zukunft“ erklärt? Und gerade dieser Wahnsinn, den er in der angeführten Bemerkung selbst als solchen erkennt, hat einen großen Eindruck auf die Menge gemacht. Sie hat das buchstäblich genommen, was Wagner ihr „mit demagogischem Behagen vorgeredet“ hat. Sie hat sich wirklich eingebildet, der „Künstler der Zukunft“ zu sein, und wir haben es erlebt, daß sich an manchen Orten Deutschlands Vereine bilde-|ten, die ein Zukunftstheater bauen und selbst darin [] Zukunftswerke spielen wollten! Und an diesen Vereinen betheiligten sich nicht etwa blos Studenten oder junge Handelsbeflissene, bei denen ein gewisser Hang zum Komödiespielen eine Wachsthums-Krankheit ist und die sich gern überreden, daß sie dem „Ideal“ dienen, wenn sie mit kindischer Eitelkeit in grotesken Theatertrachten vor den gerührten und bewundernden Verwandten und Bekannten gestikuliren und deklamiren, nein, alte Pfahlbürger mit Glatze und Schmeerbauch verließen ihren geheiligten Skat und selbst den unantastbaren Frühschoppen und bereiteten sich weihevoll zu dramatischen Großthaten vor! Seit der denkwürdigen Gelegenheit, da Squenz, Schnock, Zettel, Flaut, Schnauz und Schmächtig zusammen das schöne Stück „Pyramus und Thisbe“ einstudirten, hatte die Welt kein ähnliches Schauspiel gesehen. Gefühlsamen Spießern und schwärmenden Ladenschwengeln waren Wagners Faseleien zu Kopfe gestiegen und die Knoten und Philister, zu denen seine frohe Botschaft gedrungen war, schickten sich thatsächlich an, Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven mit vereinten Kräften fortzusetzen. In der angeführten Stelle, an der er in der abgestandensten Rousseau’schen Manier den Pöbel verherrlicht, von der „unnatürlichen Kultur“ spricht und die „moderne Civilisation“ „die grausame Unterdrückerin der menschlichen Natur“ nennt, verräth Wagner jenen Geisteszustand, den die Entarteten mit den erleuchteten Reformatoren, die geborenen Verbrecher mit den Blutzeugen des MenschheitFortschrittes theilen, nämlich die tiefe, wurmende Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Diese ist freilich bei dem Entarteten anders beschaffen wie bei dem Reformator. Der letztere entrüstet sich nur über wirkliche Uebelstände und macht verständige Vorschläge zur Abhilfe, die der Zeit vorauseilen, eine bessere und weisere als die wirkliche Menschheit voraussetzen mögen, aber sich immer mit Vernunftgründen vertheidigen lassen. Der Entartete dagegen wählt | unter den Einrichtun- [] gen der Gesittung entweder unwesentliche oder geradezu zweckmäßige, um sich gegen sie zu empören. Sein Grimm hat lächerlich unbedeutende Ziele oder tobt ins Blaue. An eine Besserung denkt er überhaupt nicht ernstlich oder er heckt Weltbeglückungspläne aus, deren Verrücktheit verblüffend ist. Seine Grundstimmung ist dauernde Wuth gegen Alles und Jeden, die sich in giftigen Redensarten, wilden Drohungen und der Zerstörungssucht rasender Thiere kundgibt. Wagner ist ein gutes Beispiel dieser Gattung. Er möchte die „Staats- und Kriminalkultur“, wie er sich ausdrückt, zermalmen. Worin offenbart sich ihm aber die Verderbtheit der Gesellschaft und die Unhaltbarkeit aller Zustände? Darin, daß Opern mit hüpfen-

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den Arien gespielt und Ballet[t]e aufgeführt werden! Und wie soll die Menschheit zu ihrem Heil gelangen? Indem sie das Musikdrama der Zukunft aufführt! Eine Kritik dieses Allheil-Planes verlangt man hoffentlich nicht von mir. Wagner ist erklärter Anarchist. Er entwickelt die Lehre dieser Sekte deutlich im „Kunstwerk der Zukunft“: (S. .) „Alle Menschen haben nur ein gemeinschaftliches Bedürfniß, … das ist das Bedürfniß zu leben und glücklich zu sein. Hierin liegt das natürliche Band aller Menschen … Die besonderen Bedürfnisse, wie sie nach Zeit, Ort und Individualität sich kundgeben und steigern, können in dem vernünftigen Zustande der zukünftigen Menschheit allein die Grundlage der besonderen Vereinigungen abgeben … Diese Vereinigungen werden gerade so wechseln, neu sich gestalten, sich lösen und wiederum knüpfen, als die Bedürfnisse wech[] seln und wiederkehren.“ Er verhehlt nicht, daß dieser „vernünftige | Zustand der zukünftigen Menschheit“ nur mit Gewalt herbeigeführt werden könne. (S. .) „Durch das rothe Meer muß auch uns die Noth treiben, sollen wir, von unserer Schmach gereinigt, nach dem gelobten Lande gelangen. Wir werden in ihm nicht ertrinken, es ist nur den Pharaonen dieser Welt verderblich, die schon einst mit Mann und Maus … drin verschlungen wurden, — die übermüthigen, stolzen Pharaonen, die da vergessen hatten, daß einst ein armer Hirtensohn durch seinen klugen Rath sie und ihr Land vor dem Hungertode bewahrte.“ Neben der anarchistischen Verbitterung beherrscht eine andere Emotion das ganze bewußte und unbewußte Geistesleben Wagners: die geschlechtliche. Er ist sein Leben lang ein Erotiker (im Sinne der Irrenheilkunde) gewesen und alle seine Vorstellungen drehen sich um das Weib. Die gewöhnlichsten und vom geschlechtlichen Gebiet am fernsten abliegenden Anregungen erwecken in seinem Bewußtsein unfehlbar üppige Bilder erotischen Charakters und der Zug der automatischen Ideen-Assoziation ist bei ihm immer nach diesem Pole seines Denkens gerichtet. Man lese darauf hin diese Stelle aus dem „Kunstwerk der Zukunft“ (S. .), wo er die Beziehungen der Tanz-, Ton- und Dichtkunst zu einander darzulegen sucht: „Beim Anschauen dieses entzückenden Reigens der ächtesten, adeligsten Musen, des künstlerischen Menschen“ (?), „gewahren wir jetzt die drei, eine mit der andern liebevoll Arm in Arm bis an den Nacken verschlungen; dann bald diese, bald jene einzeln, wie um der andern ihre schöne Gestalt in voller Selbstständigkeit zu zeigen, sich aus der Verschlingung lösend, nur noch mit der äußersten Handspitze die Hände der anderen berührend; jetzt die eine, vom Hinblick auf die Doppelgestalt ihrer festumschlungenen beiden Schwestern entzückt, ihr sich neigend; dann zwei, vom Reize der einen gerissen“, (!) „huldigungsvoll sie grüßend, — um endlich [] Alle, fest umschlungen, | Brust an Brust, Glied an Glied, in brünstigem Liebeskusse zu einer einzigen, wonnig lebenden Gestalt zu verwachsen. — Das ist das Lieben

 Vergleiche auch in „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth “ („Gesammelte Schriften“, Band , S. .): „Dies“ (die „sichere Ausführung aller Vorgänge auf, über, unter, hinter und vor der Bühne“) „leistet die Anarchie, indem ein Jeder thut, was er will, nämlich“ (!) „das Richtige.“

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 und Leben, Freuen und Freien“ (man beachte die Wortspiele!) „der Kunst u. s. w.“

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Hier verliert Wagner sichtlich den Faden der Beweisführung, er vernachlässigt, was er eigentlich sagen wollte, und verweilt schwelgend bei dem Bilde der drei tanzenden Mädchen, die vor seinem innern Auge aufgetaucht sind, den Umrissen ihrer Gestalt und ihren aufregenden Bewegungen mit geilem Lüsteln folgend. Die schamlose Sinnlichkeit, die in seinen Bühnendichtungen herrscht, ist allen seinen Kritikern aufgefallen. Hanslick spricht von der „thierischen Sinnlichkeit“ in „Rheingold“ und über „Siegfried“ sagt er: „Widerlich berühren die bei Wagner so beliebten exaltirten Accente einer bis an die äußersten Grenzen lodernden, unersättlichen Sinnlichkeit, dieses brünstige Stöhnen, Aechzen, Aufschreien und Zusammensinken. Der Text dieser Liebesszene wird in seiner Ueberschwenglichkeit mitunter zu barem Unsinn.“ Man lese im ersten Aufzuge der „Walküre“ im Auftritte zwischen Siegmund und Sieglinde die Spiel-Angaben: „Hitzig unterbrechend“, „umfaßt sie mit feuriger Glut“, „in leiser Entzückung“, „sie hängt sich entzückt an seinen Hals“, „dicht an seinen Augen“, „außer sich“, „in höchster Trunkenheit“ u. s. w. Am Schlusse heißt es: „Der Vorhang fällt schnell“, und leichtfertige Kritiker haben sich den billigen Witz nicht entgehen lassen: „Das ist sehr nothwendig.“ Das verliebte Wimmern, Winseln und Toben von Tristan und Isolde, der ganze zweite Aufzug des „Parsifal“ mit den Auftritten zwischen dem Helden und den Blumenmädchen und dann zwischen ihm und Kundry in Klingsors Zaubergarten reihen sich würdig jenen Stellen an. Es gereicht der Sittlichkeit des deutschen Publikums wirklich zu hoher Ehre, daß Wagners | Opern öffentlich aufge- [] führt werden können, ohne das tiefste Aergerniß zu erregen. Wie unverdorben müssen Frauen und Mädchen sein, wenn sie im Stande sind, diese Stücke anzusehen, ohne feuerroth zu werden und vor Scham in die Erde zu sinken! Wie unschuldig sind selbst die Gatten und Väter, welche ihren weiblichen Angehörigen gestatten, zu diesen Darstellungen von Lupanar-Vorgängen zu gehen! Offenbar denken sich die deutschen Zuschauer nichts Arges bei dem Thun und Gehaben der Wagner’schen Gestalten, sie scheinen nicht zu ahnen, von welchen Gefühlen diese erregt sind und welche Absichten ihre Worte, Geberden und Handlungen bestimmen, und das erklärt die friedsame Harmlosigkeit, mit der sie Bühnen-Auftritten folgen, bei denen in einem minder kindlichen Publikum Niemand das Auge zum Nachbar zu erheben wagen würde und seinen Blick ertragen könnte. Verliebte Erregung nimmt in Wagners Darstellung immer die Form einer verrückten Raserei an. Die Liebenden benehmen sich in seinen Stücken wie toll gewordene Kater, die sich über eine Baldrian-Wurzel in Verzückung und Krämpfen wälzen. Sie spiegeln den Geisteszustand des Dichters wider, der dem Fachmann wohlbekannt ist. Es ist eine Form des Sadismus. Es ist die Liebe der Entarteten,

 Eduard Hanslick, Musikalische Stationen. Berlin, , S. , .  Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen. Band , S.  ff.

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die in der geschlechtlichen Aufwallung zu wilden Thieren werden. Wagner | leidet an dem „erotischen Wahnsinn“, der rohe Naturen zu Lustmördern macht und höheren Entarteten Werke wie „Die Walküre“, „Siegfried“ und „Tristan und Isolde“ eingibt. Nicht blos der Inhalt seiner Schriften, sondern schon deren äußere Form kennzeichnet Wagner als Graphomanen. Der Leser hat an den Anführungen bemerken können, welchen Mißbrauch Wagner mit dem Unterstreichen von Worten treibt. Manchmal läßt er halbe Seiten mit gesperrter Schrift setzen. Diese Erscheinung wird von Lombroso bei Graphomanen ausdrücklich festgestellt. Sie erklärt sich zur Genüge aus der hier oft auseinandergesetzten Eigenthümlichkeit des mystischen Denkens. Keine sprachliche Form, die der mystische Entartete seinen Gedankenschemen geben kann, vermag ihn zu befriedigen, er hat immer das Bewußtsein, daß die Sätze, die er niederschreibt, die wirren Vorgänge in seinem Gehirn nicht ausdrücken, und da er es aufgeben muß, diese in Worte zu fassen, so sucht er durch Ausrufungszeichen, Gedankenstriche, Punkte und Durchschuß-Linien in seine Schrift mehr hineinzugeheimnissen, als deren Worte sagen können. Eine andere Besonderheit der Graphomanen (und Schwachsinnigen), die unwiderstehliche Neigung zu Wortspielen, ist bei Wagner in hohem Grade ausgebildet. Hier nur einige Proben aus dem „Kunstwerk der Zukunft:“ (S. .) „Somit gewinnt sie“ (die Tonkunst) „durch den zur Sprache gewordenen Ton … ihre höchste Befrie[] digung zugleich mit ihrer be-|friedigendsten Erhöhung.“ (S. .) „Wie ein zweiter Prometheus, der aus Thon Menschen bildete, hatte Beethoven aus Ton sie zu bilden gesucht. Nicht aus Thon oder Ton, sondern aus beiden Massen zugleich sollte aber der Mensch, das Ebenbild des Lebensspenders Zeus erschaffen sein.“ Besonders aber sei auf diese erstaunliche Stelle hingewiesen: (S. .) „Gestattete es uns die Mode oder der Gebrauch, die ächte und wahre Schreib- und Sprechart tichten für dichten wieder aufzunehmen, so gewännen wir in den zusammengestellten Namen der drei urmenschlichen Künste Tanz-, Ton- und Tichtkunst, ein schön bezeichnendes sinnliches Bild von dem Wesen dieser dreieinigen Schwestern, nämlich einen []

 In einem Buch über Entartung ist es nicht möglich, das Gebiet der Erotik, das gerade die bezeichnendsten und auffallendsten Entartungs-Erscheinungen in sich schließt, ganz zu umgehen. Ich verweile aber grundsätzlich möglichst wenig darin und will deshalb zur Kennzeichnung des erotischen Wahnsinns Wagners nur eine klinische Arbeit anführen: Dr. Paul Aubry, Observation d’Uxoricide et de libéricide suivis du suicide du meurtrier. Archives de l’anthropologie criminelle. Tome VII, S. : „Diese Störung“ (der erotische Wahnsinn) „ist durch eine unfaßbare Wuth der Begierde im Augenblicke der Annäherung charakterisirt.“ Und in einer Anmerkung zum Bericht über den Mord, den der von Aubry beobachtete erotische Wahnsinnige, ein Professor der Mathematik an einem Gymnasium, an seiner Frau und seinen Kindern begangen, heißt es: „Sa femme qui parlait facilement et à tous des choses que l’on tient ordinairement les plus secrètes, disait que son mari était comme un furieux pendant l’acte sexuel.“ Siehe auch Ball, La folie érotique, Paris, . S. .  Lombroso, Genie und Irrsinn. S. : „Wo die Gedanken, der Ausdruck sie im Stich lassen … da helfen sie sich … mit fortwährendem Unterstreichen von Worten und Sätzen“ u. s. w.

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vollkommenen Stabreim … Bezeichnend wäre dieser Stabreim besonders aber auch wegen der Stellung, welche die „Tichtkunst“ in ihm einnähme: als letztes Glied des Reimes schlösse sie nämlich diesen erst wirklich zum Reime ab u. s. w.“ Wir gelangen jetzt zu dem Mysticismus Wagners, der alle seine Werke durchdringt und eine der Hauptursachen seiner Wirkung auf die Zeitgenossen, wenigstens außerhalb Deutschlands, geworden ist. Obschon er durch und durch ungläubig ist und häufige Ausfälle auf die positiven Religionen, ihre Lehren und ihre Priester macht, sind ihm doch aus einer Kindheit, die er in einem Luftkreise christlich-protestantischer Gesinnungen und Glaubensübungen verlebte, Vorstellungen und Gefühle lebendig geblieben, die er in seinem entarteten Geiste später wunderlich umarbeitete. Diese Erscheinung, daß inmitten der späteren Zweifel und Verneinungen die früh erworbenen christlichen Anschauungen fortdauern, als ein immer thätiger Gährstoff wirken, das ganze Denken eigenthümlich verändern und dabei selbst mannigfache Zersetzungen und Mißgestaltungen erleiden, können wir in verworrenen Köpfen häufig beobachten. Wir werden sie zum Beispiel auch bei Ibsen antreffen. Am Grunde aller Dichtungen und theoretischen Schriften Wagners | findet sich ein mehr oder weniger mächtiger Bodensatz von entstellten Leh- [] ren des Katechismus und auf seinen üppigsten Gemälden schimmern zwischen den dicken, grellen Farben seltsame, kaum kenntliche Züge hervor, welche verrathen, daß sie auf einen blassen Untergrund von Evangelien-Erinnerungen brutal gepinselt sind. Ein Gedanke, oder richtiger ein Wort, ist ihm besonders tief im Geiste haften geblieben und verfolgt ihn sein ganzes Leben lang als eine förmliche Zwangsvorstellung: nämlich das Wort „Erlösung.“ Freilich hat es bei ihm nicht den Werth, den es in der Sprache der Theologie besitzt. Dem Gottesgelehrten bedeutet die „Erlösung“, diese Mittelpunkts-Vorstellung der ganzen christlichen Lehre, die Großthat übermenschlich gesteigerter Liebe, die freiwillig höchstes Leid auf sich nimmt und freudig erduldet, um die Menschen, deren eigene Kraft dazu nicht ausreicht, aus der Gewalt des Bösen zu befreien. So verstanden, hat die Erlösung drei Voraussetzungen. Man muß erstens den in der Zend-Religion am deutlichsten entwickelten Dualismus in der Natur, den Bestand eines bösen und eines guten Ur-Prinzips annehmen, zwischen welche die Menschheit gestellt ist und welche diese einander streitig machen; zweitens muß der zu Erlösende von bewußter und gewollter Schuld frei, er muß ein Opfer übermächtiger Gewalten sein, die abzuwehren er selbst unfähig ist; drittens muß der Erlösende, damit seine That eine wirkliche Heilsthat sei und befreiende Kraft erlange, sich in der Erfüllung einer klar ererkannten und gewollten Sendung selbst opfern. Zwar hat sich manchmal eine Neigung geltend gemacht, die Erlösung sich als eine Gnade zu denken, die auch Sündern, nicht blos Opfern, zutheil werden kann, doch hat die Kirche immer die Unsittlichkeit einer solchen Auffassung erkannt und ausdrücklich gelehrt, daß der Schuldige, wenn ihm Erlösung werden soll, sich selbstthätig — durch Reue und Buße — um sie bemühen | muß und sie nicht leidend als ein gänzlich unverdientes [] Geschenk erwarten darf.

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Diese theologische Erlösung ist nicht die Erlösung im Sinne Wagners. Sie hat bei ihm überhaupt keinen deutlich erkennbaren Inhalt und dient nur zur Bezeichnung von etwas Schönem und Großem, das er nicht näher angibt. Das Wort hat offenbar ursprünglich einen tiefen Eindruck auf seine Einbildungskraft gemacht und er bediente sich seiner in der Folge wie etwa eines Mollakords, sagen wir a c e, der ebenfalls nichts Bestimmtes bedeutet, aber dennoch Emotion erweckt und das Bewußtsein mit schwimmenden Vorstellungen bevölkert. Bei Wagner wird fortwährend „erlöst.“ Wenn (im „Kunstwerk der Zukunft“) die Malerei aufhört, Bilder zu malen, und nur noch Theaterdekorationen schafft, so ist dies ihre „Erlösung.“ Ebenso ist die Musik, welche die Worte einer Dichtung begleitet, eine „erlöste“ Musik. Der Mann ist „erlöst“, wenn er ein Weib liebt, und das Volk ist „erlöst“, wenn es Theater spielt. Auch seine Stücke drehen sich allesammt um Erlösung. Dies hat schon Nietzsche bemerkt und er macht sich darüber, freilich mit widerwärtig oberflächlicher Witzelei, lustig. „Wagner“, sagt er, „hat über nichts so viel wie über die Erlösung nachgedacht:“ (eine ganz falsche Behauptung, da Wagners Erlösungs-Faselei sicher nicht Ergebniß des Nachdenkens, sondern mystischer Nachklang von Kindes-Emotionen ist) „seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein … Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorliebe interessante Sünder erlöst? (Der Fall Tannhäuser.) Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (Der Fall im Fliegenden Holländer.) Oder daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehen, von keuschen Jünglingen erlöst [] zu werden? (Der Fall Kundry.) | Oder daß schöne Mädchen am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (Der Fall in den Meistersingern.) Oder daß auch verheiratete Frauen gern durch einen Ritter erlöst werden? (Der Fall Isoldens.) Oder daß der alte Gott, nachdem er sich moralisch und in jedem Betracht kompromittirt hat, durch einen Freigeist und einen Immoralisten erlöst wird? (Der Fall in den Nibelungen.) Bewundern Sie insonderheit den letzten Tiefsinn! Verstehen Sie ihn? Ich — hüte mich, ihn zu verstehen.“ Das Werk Wagners, das man in der That „die Oper der Erlösung“ nennen kann, ist „Parsifal.“ Hier können wir Wagners Denken bei seinem sinnlosesten Umherschweifen ertappen. Zwei Personen werden in „Parsifal“ erlöst: König Amfortas und Kundry. Der König hat sich von den Reizen Kundrys bethören lassen und in ihren Armen gesündigt. Zur Strafe wurde ihm der zauberkräftige Speer, der ihm anvertraut war, entwunden und er mit dieser heiligen Waffe verwundet. Die Wunde klafft und blutet immer und bereitet ihm furchtbare Qual. Nichts kann sie heilen als der Speer selbst, der sie geschlagen. Aber diesen Speer kann nur „durch Mitleid wissend der reine Thor“ dem bösen Zauberer Klingsor entreißen. Kundry hat einst als junges Mädchen den Heiland auf seinem Leidensgange gesehen und gelacht. Zur Strafe muß sie ewig leben, sich vergebens nach dem Tode sehnen, alle Männer,

 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Leipzig, .

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die ihr nahen, zur Sünde verführen. Erlösung vom Fluche kann ihr nur werden, wenn ein Mann ihrer Lockung widersteht. (Einer hat ihr thatsächlich widerstanden, der Zauberer Klingsor. Dennoch hat sein siegreicher Widerstand sie nicht erlöst, wie er doch sollte. Warum? Das verräth Wagner mit keiner Silbe.) Derjenige, der beiden Verfluchten die Erlösung bringt, ist Parsifal. Der „reine Thor“ hat keine Ahnung davon, daß er bestimmt ist, Amfortas und Kundry zu erlösen, und er duldet bei der Heilsthat weder besonderes Leid noch setzt er sich ir-|gend einer ernst- [] lichen Gefahr aus. Er muß sich zwar, als er in Klingsors Zaubergarten eindringt, mit dessen Rittern ein wenig herumschlagen, aber die Balgerei ist ihm eher ein Vergnügen als eine Anstrengung, denn er ist sehr viel stärker als seine Gegner und jagt sie nach spielendem Fechtgange blutig geschlagen in die Flucht. Der Schönheit Kundrys widersteht er allerdings und das ist verdienstlich, aber eine Handlung zerstörender Selbstaufopferung ist es doch wohl kaum. Den wunderthätigen Speer erlangt er überhaupt ohne jede Anstregung. Klingsor schleudert ihn nach ihm, um ihn zu tödten, aber die Waffe „bleibt über seinem Haupte schweben“ und Parsifal hat nur die Hand auszustrecken, um sie gemächlich an sich zu nehmen und dann seine Sendung zu erfüllen. Jeder einzelne Zug in diesem mystischen Stücke steht in geradem Gegensatze zum christlichen Erlösungsgedanken, der es doch angeregt hat. Amfortas ist durch eigene Schwäche und Schuld, nicht durch ein unüberwindliches Verhängniß erlösungsbedürftig geworden und er wird erlöst, ohne daß er etwas anderes dazu thut als winseln und stöhnen. Das Heil, das er erwartet und das ihm schließlich wird, wurzelt gänzlich außerhalb seines Willens und Bewußtseins. Er hat keinen Antheil an seiner Erlangung. Ein Anderer erwirkt es ihm und reicht es ihm als Geschenk. Die Erlösung ist etwas rein Äußerliches, ein zufälliger Glücksfund, nicht ein Preis innern sittlichen Ringens. Noch ungeheuerlicher sind die Bedingungen der Erlösung Kundrys. Ihr ist es nicht nur nicht gegeben, selbst an ihrem Heile zu arbeiten, sie muß sogar ihre ganze Willenskraft dazu verwenden, um ihr eigenes Heil zu vereiteln. Denn ihre Erlösung hängt davon ab, daß ein Mann sie verschmäht, und ihre Aufgabe, zu der sie verflucht wurde, ist gerade, alle Verführungsgewalt der Schönheit und leidenschaftlichen Liebeswerbung aufzuwenden, um den Mann zu gewinnen. Sie muß den Mann, der ihr Erlöser werden | soll, mit allen Mitteln [] verhindern, ihr Erlöser zu werden. Erliegt der Mann ihrem Zauber, so ist die Erlösung ohne ihre Schuld, obgleich durch ihre Thätigkeit, vereitelt; widersteht der Mann der Versuchung, so erlangt sie die Erlösung ohne ihr Verdienst, weil trotz ihrer entgegengesetzten Anstrengung. Es ist unmöglich, ein zugleich unsinnigeres und unsittlicheres Verhältniß auszuhecken. Der Erlöser Parsifal endlich ist vom Anfang bis zum Schluß eine mystische Neuverkörperung vom „Hans im Glück“ des deutschen Märchens. Alles gelingt ihm ohne sein Dazuthun. Er zieht aus, einen Schwan zu tödten, und findet den Gral und die Königskrone. Sein Erlöserthum ist kein Selbstopfer, sondern eine Pfründe. Es ist ein beneidenswerthes Ehrenamt, zu dem ihn die Gunst des Himmels berufen hat — auf welche mächtige Empfehlung

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hin, das verräth Wagner nicht. Aber wenn man näher zusieht, so entdeckt man noch Schlimmeres. Parsifal, der „reine Thor“, ist einfach ein Niederschlag verworrener Erinnerungen an die Christologie. Wagner, von den dichterischen Elementen der Lebens- und Leidensgeschichte des Heilands gewaltig ergriffen, hat den Drang empfunden, seine Eindrücke und Emotionen zu veräußerlichen, und er gestaltete den Parsifal, den er einige der ergreifendsten Auftritte des Evangeliums erleben läßt und der ihm unter der Hand, theilweise vielleicht ihm selbst unbewußt, zu einer zugleich albernen und frivolen Karikatur Jesu Christi wurde. Die Versuchung des Heilands in der Wüste wird in dem mystischen Stücke zur Versuchung Parsifals durch Kundry. Der Auftritt im Hause des Pharisäers, wo die Sünderin dem Heilande die Füße salbt, ist vollständig wiederholt: Kundry badet und salbt Parsifal die Füße und trocknet sie ihm mit dem aufgelösten Haar und der „reine Thor“ äfft die Worte Christi: „Dir sind deine Sünden vergeben“ in dem Ausrufe nach: „Mein erstes Amt verricht ich so: — die Taufe nimm und glaub’ an den Erlöser.“ Daß der gewöhnliche [] Theater-|gänger an dieser mißbräuchlichen Verwendung der Christus-Sage keinen Anstoß nimmt, ja bei den verzerrten Bruchstücken des Evangeliums einige der Emotionen wiederfindet, welche dieses selbst einst in ihm erregt haben mag, ist begreiflich. Unverständlich aber ist es, daß die ernsten Gläubigen und namentlich die eifernden Zionswächter nie empfunden haben, welche Entweihung ihrer heiligsten Vorstellungen Wagner begeht, indem er seinen Parsifal mit Zügen Christi ausstattet. Von den sonstigen absurden Einzelheiten des „Parsifal“ sei nur noch eine erwähnt. Der greise Titurel ist dem Erdenlose des Todes verfallen, er lebt aber im Grabe durch die Gnade des Heilands weiter. Der Anblick des Grals erneuert immer wieder auf einige Zeit seine schwindende Lebenskraft. Titurel scheint auf dieses trostlose Dasein eines lebendigen Todten einen großen Werth zu legen. „Im Grabe leb’ ich durch des Heilands Huld“, ruft er froh aus seinem Sarge heraus und er fordert mit drängendem Ungestüm, daß ihm der Gral gezeigt, sein Leben dadurch gefristet werde. „Soll ich den Gral heut’ noch erschaun und leben?“ fragt er ängstlich und da er nicht gleich Antwort bekommt, jammert er: „Muß ich sterben, vom Retter ungeleitet?“ Sein Sohn Amfortas zögert, da ertheilt der alte Herr seine Befehle: „Enthüllet den Gral!“ „Der Segen!“ Und als ihm willfahrt ist, jubelt er: „Oh! heilige Wonne! Wie hell grüßt uns heute der Herr!“ Später hat Amfortas eine Zeit lang vernachlässigt, den Gral zu enthüllen, und so mußte Titurel sterben. Amfortas ist darüber verzweifelt: „Mein Vater! Hochgesegneter der Helden! … Der einzig ich sterben wollt’, dir — gab ich den Tod!“ Aus alledem geht unzweifelhaft hervor, daß alle Betheiligten das Leben, und wäre es selbst das schattenhafte, inhaltlose eines bereits im Sarge Gebetteten, als ein überaus köstliches Gut, den Tod als ein bitteres Unglück empfinden. Und dies geschieht in demselben Stücke, [] in welchem Kundry das ewige | Leben als einen entsetzlichen Fluch erleidet und den Tod als das köstlichste Heil leidenschaftlich ersehnt! Ist ein lächerlicherer Widerspruch überhaupt denkbar? Die Titurel-Episode ist überdies eine Leugnung

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aller Voraussetzungen des „Parsifal“, der auf dem Boden der religiösen Anschauung von der persönlichen Fortdauer nach dem Tode aufgebaut ist. Wie kann der Tod den Menschen schrecken, der überzeugt ist, daß seiner die Wonne des Paradieses harrt? Wir stehen da vor demselben Nichtbegreifen der eigenen Annahmen, das uns schon bei Dante Gabriel Rossetti und Tolstoi aufgefallen ist. Das ist aber eben die Besonderheit des krankhaft mystischen Denkens. Es vereinigt Vorstellungen, die einander ausschließen, es entzieht sich dem Gesetze der Folgerichtigkeit und fügt unbekümmert Einzelheiten zusammen, die verblüfft sind, sich nebeneinander zu sehen. Beim Mystiker aus Unwissenheit, aus Denkfaulheit, aus Nachahmung beobachten wir diese Erscheinung nicht. Er mag eine unsinnige Vorstellung zum Ausgangspunkte einer Gedankenreihe nehmen, diese selbst entrollt sich aber vernünftig und folgerichtig und duldet keinen groben Widerstreit ihrer einzelnen Glieder. Wie die Christologie Wagner die Gestalt des Parsifal eingegeben hat, so die Eucharistie den wirksamsten Auftritt des Stückes, das Liebesmahl der Gralsritter. Es ist die Inszenesetzung der katholischen Messe unter ketzerischer Hinzufügung eines protestantischen Zuges, der Theilnahme der Gemeinde am Abendmahl in beiderlei Gestalt. Die Enthüllung des Grals entspricht dem Erheben der Monstranz. Die Ministranten sind zu den Chören der Knaben und Jünglinge ausgestaltet. In den Wechselgesängen und in den Handlungen Amfortas finden sich Annäherungen an alle vier Theile der Messe. Die Gralsritter psalmodiren eine Art verkümmerten Introitus, Amfortas lange Klage: „Nein! Laßt ihn unenthüllt! — Oh! — Daß Keiner, Keiner diese Qual ermißt“ u. s. w. kann als | Confiteor angesehen werden, das Offer- [] torium singen die Knaben („Nehmet hin mein Blut um unsrer Liebe Willen!“ u. s. w.), die Konsekration nimmt Amfortas vor, an der Kommunion betheiligen sich Alle und selbst an das „Ite, missa est“ klingt Gurnemanz’: „Dort hinaus, deinem Wege zu!“ parodistisch an. Was seit Konstantin dem Großen, was seit der Erhebung des Christenthums zur Staatsreligion, nie ein Dichter gewagt hat, das hat Wagner gethan: er hat aus dem unvergleichlich reichen emotionellen Inhalte der Meßhandlung Bühnenwirkungen gezogen. Er hat die Abendmahlsymbolik tief empfunden, sie hat in ihm starke mystische Erregung hervorgerufen und es war ihm ein Bedürfniß, dem sinnbildlichen Vorgange dramatische Gestalt zu geben, das, was im Meßopfer nur angedeutet, kurz zusammengefaßt und vergeistigt ist, in aller Ausführlichkeit und Vollständigkeit sinnlich zu erleben. Er wollte leibhaftig sehen und fühlen, wie die Auserwählten unter heftigen Emotionen den Leib Christi und sein erlösendes Blut genießen und wie überirdische Erscheinungen, das purpurne Aufleuchten des Grals, das Herabschweben einer Taube (im Schlußauftritt) u. s. w., die wirkliche Anwesenheit Christi und die göttliche Beschaffenheit des Mahles gleichsam greifbar machen. Wie Wagner sich aus der Kirche seine Eingebung für die Grals-Auftritte geholt und in diesen die Liturgie zu seinem eigenen Gebrauche in der Weise der Biblia pauperum vervolksthümlicht hat, so finden die Zuschauer auf seiner Bühne die Kathedrale und das Hochamt wieder und bringen in das Stück

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alle Emotionen mit, welche die Kirchenbräuche in ihrer Seele zurückgelassen haben. Der wirkliche Priester im Meßgewande, die Erinnerung an seine Geberden, an das Glöcklein und die Kniebeugungen der Ministranten, an den blauen Qualm und Duft des Weihrauchs, an das Brausen der Orgel und an das Spiel des bunten Sonnenlichts durch die farbigen Fenster der Kirche, sind im Gemüthe des Publi[] kums | die Mitarbeiter Wagners und nicht seine Kunst ist es, die dieses in mystische Verzückung wiegt, sondern die Grundstimmung, zu der zwei Jahrtausende christlichen Fühlens die ungeheure Mehrheit der weißen Menschen erzogen haben. Mystik und Erotik gehen, wie wir wissen, immer zusammen, namentlich bei Entarteten, deren Emotivität hauptsächlich in krankhaften Reizzuständen der Geschlechtszentren wurzelt. Wagners Einbildungskraft beschäftigt sich unausgesetzt mit dem Weibe. Aber er sieht dessen Verhältniß zum Manne nie in der Gestalt gesunder, natürlicher Liebe, die eine Wohlthat und Befriedigung für beide Liebende ist. Wie allen krankhaften Erotikern — wir haben dies schon bei Verlaine und Tolstoi bemerkt — stellt sich ihm das Weib als eine furchtbare Naturgewalt dar, deren zitterndes, ohnmächtiges Opfer der Mann ist. Das Weib, das er kennt, ist die greuliche Astarte der Semiten, die furchtbare menschenfressende Kali Bhagawati der Inder, eine apokalyptische Vision von lachender Mordlust, von ewiger Verderbniß und Höllenqual in dämonisch schöner Verkörperung. Kein dichterisches Problem hat ihn tiefer erregt als das der Beziehungen, die sich zwischen dem Manne und der berückenden Zerstörerin ergeben. Er ist an dieses Problem von allen Seiten herangetreten und hat ihm die verschiedenen Lösungen gegeben, die seinen Trieben und seinen Anschauungen von Sittlichkeit entsprechen. Häufig unterliegt der Mann der Verführerin, aber Wagner empört sich gegen diese Schwäche, deren er sich selbst nur zu tief bewußt ist, und er läßt in seinen Hauptwerken den Mann verzweifelten und schließlich siegreichen Widerstand leisten. Aus eigener Kraft entringt der Mann jedoch sich nicht dem lähmenden Zauber des Weibes. Ihm muß eine übernatürliche Hilfe werden. Sie geht meist von einer reinen, selbstlosen Jungfrau aus, die das Gegenstück der Sphinx mit dem weichen Frauenleib und den Löwentatzen bildet. Nach dem psychologischen Gesetze des Kontrastes [] erfindet er sich zu | dem schrecklichen Weibe, das er in seinem innersten Wesen fühlt, als Widerspiel ein engelhaftes Weib, das ganz Liebe, ganz Hingebung, ganz Himmelsmilde ist, ein Weib, das nichts fordert und Alles gibt, ein Weib, das wiegt und streichelt und heilt, ein Weib mit einem Worte, wonach ein Unglücklicher lechzt, der sich flammenverzehrt in den weißglühenden Armen Belits windet. Wagners Elisabeth, Elsa, Senta, Gutrune sind überaus lehrreiche Offenbarungen der erotischen Mystik, in denen die halb unbewußte Vorstellung nach Form ringt, daß die Rettung des geschlechtstollen Entarteten in der Reinheit, in der Enthaltung oder im Besitze eines Weibes läge, welches keinerlei Individualität, keinen Wunsch und keine Rechte hätte und darum dem Manne nie gefährlich werden könnte. In einer seiner ersten Dichtungen wie in seiner letzten, im „Tannhäuser“ wie im „Parsifal“, behandelt er den Vorwurf vom Kampfe des Mannes gegen die Verder-

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 berin, der Fliege gegen die Spinne, und legt auf diese Weise Zeugniß dafür ab, daß

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der Gegenstand durch dreiunddreißig Jahre, von seinem Jünglings- bis zu seinem Greisenalter, nicht aufgehört hat, seinem Geiste gegenwärtig zu sein. Im „Tannhäuser“ ist es die schöne Teufelin Venus selbst, die den Helden bestrickt und mit der er um seiner Seelen Seligkeit verzweifelt zu ringen hat. Die fromme und keusche Elisabeth, dieses aus Mondschein, Gebet und Lied gewobene Traumwesen, wird seine „Erlöserin.“ Im „Parsifal“ heißt die schöne Teufelin Kundry und der Noth, in die sie die Seele des Helden bringt, entgeht er nur dadurch, daß er „der reine Thor“ ist und daß er sich im Stande der Gnade befindet. In der „Walküre“ gibt Wagners Einbildungskraft sich ungezügelt der Leidenschaft hin. Hier vergegenwärtigt er sich den brünstigen Mann, der sich wild und toll seiner Begierde überläßt, ohne Rücksicht auf Satzungen der Gesellschaft und ohne den Versuch, sich gegen den wüthenden Ungestüm seines Triebes | zu stem- [] men. Siegmund sieht Sieglinde und hat nur noch einen Gedanken: sie zu besitzen. Daß sie die Frau eines Andern ist, ja daß er sie als seine eigene Schwester erkennt, hält ihn keinen Augenblick lang auf. Diese Bedenken sind wie Flaum vor dem Sturme. Er bezahlt seine Wonnenacht am nächsten Morgen mit dem Tode. Denn ein Verhängniß ist bei Wagner die Liebe stets und um ihren Pfuhl lohen immer die Flammen der Hölle. Und da er die Bilder von Zerfleischung und Vernichtung, welche die Vorstellung des Weibes in ihm heraufbeschwört, nicht in Sieglinde selbst zur Erscheinung gebracht hat, so verkörpert er sie besonders als die Walküren. Ihr Auftreten in dem Drama ist ihm psychologisches Bedürfniß. Die Züge, die in seinem Geiste nun einmal vom Begriffe Weib untrennbar sind und die er sonst in einer einzigen Gestalt vereinigt, sind hier getrennt und zu selbstständigen Typen gesteigert. Venus, Kundry, sind Verführerin und Zerstörerin in einer Person. In der „Walküre“ ist Sieglinde blos die Verführerin, die Zerstörerin aber wächst zu einer ganzen Horde von grauenhaften Reiterinen an, die das Blut der kämpfenden Männer trinken, beim Anblick der mörderischen Streiche schwelgen und wild jauchzend über das leichenbedeckte Blachfeld hinjagen. „Siegfried“, „Götterdämmerung“, „Tristan und Isolde“ sind genaue Wiederholungen des wesentlichen Inhalts der „Walküre“. Es ist immer wieder die dramatische Verkörperung derselben Zwangsvorstellung von den Schrecken der Liebe. Siegfried sieht Brunhilde in ihrer Waberlohe und beide taumeln mit Liebeswuth einander sofort in die Arme, aber er hat seine Befriedigung mit dem Leben zu büßen und fällt unter dem Stahle Hagens. Der einfache Tod Siegfrieds genügt der Einbildungskraft Wagners nicht als die unvermeidliche Folge der Liebe, das Verhängniß muß furchtbarer auftreten. Die Asenburg selbst flammt auf und der verderbende Sklave | der Liebe reißt alle Götter des Himmels in seinen eigenen Unter- [] gang mit. „Tristan und Isolde“ ist der Nachklang dieser Tragödie der Leidenschaft. Auch hier die völlige Vernichtung des Pflichtgefühls und der Selbstbeherrschung durch das Aufschäumen der Liebe bei Tristan wie bei Isolde und auch hier der Tod als das natürliche Ziel, dem die Liebe zutreiben muß. Um seinen mystischen

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Grundgedanken auszudrücken, daß die Liebe ein schauerliches Verhängniß ist, womit unnahbare Schicksalsmächte den armen, widerstandsunfähigen Sterblichen heimsuchen, bedient er sich eines kindlich unbeholfenen Mittels: er führt zaubergewaltige Liebestränke in seine Dichtungen ein, bald um das Entstehen der Leidenschaft selbst zu erklären und deren übermenschliche Natur zu kennzeichnen wie in „Tristan und Isolde,“ bald um das ganze Gemüthsleben des Helden der Leitung seines Willens zu entziehen und ihn als Spielball außerirdischer Kräfte zu zeigen wie in der „Götterdämmerung.“ So gestatten uns Wagners Dichtungen einen tiefen Blick in die Vorstellungswelt eines erotisch emotiven Entarteten. Sie verrathen die wechselnden Seelenzustände der rücksichtslosesten Sinnlichkeit, der Auflehnung des Sittlichkeitsgefühls gegen die Tyrannei der Begierde, der Niederlage des höhern Menschen und seiner verzweiflungsvollen Reue. Wagner war, wie bereits erwähnt, ein Bewunderer Schopenhauers und seiner Philosophie. Er überredete sich mit seinem Meister, daß das Leben ein Unglück, das Nichtsein Heil und Glück sei. Die Liebe als der immer wirkende Anreiz zur Erhaltung der Art und zur Weiterführung des Lebens mit allen es begleitenden Schmerzen mußte ihm die Quelle aller Uebel, die höchste Weisheit und Sittlichkeit aber der siegreiche Widerstand gegen jenen Anreiz, die Jungfräulichkeit, die Unfruchtbarkeit, die Verneinung des Willens zum Gattungsdasein scheinen. Und während sein Verstand an diesen Anschauungen festhielt, zogen [] ihn seine | Triebe unwiderstehlich zum Weibe und zwangen ihn sein Leben lang, Alles zu thun, was seinen Ueberzeugungen ins Gesicht schlug und was seine Lehre verdammte. Dieser Zwiespalt zwischen seiner Philosophie und seinen organischen Neigungen ist die intime Tragödie seines Geisteslebens und alle seine Dichtungen bilden ein einziges Ganzes, das den Verlauf des innern Kampfes erzählt. Er sieht das Weib, er verliert sich sofort und geht ganz in dessen Zauber auf. (Siegmund und Sieglinde, Siegfried und Brunhilde, Tristan und Isolde.) Das ist eine schwere Sünde und sie muß gebüßt werden. Der Tod allein ist eine genügende Strafe. (Schlußauftritte von „Walküre“, „Götterdämmerung“, „Tristan und Isolde.“) Aber der Sünder hat eine kleinlaute, schwächliche Ausrede. „Ich konnte nicht widerstehen. Ich war ein Opfer übermächtiger Gewalten. Meine Verführerin war aus dem Göttergeschlecht“, (Sieglinde, Brunhilde.) „ich war durch Zaubertränke meiner Sinne beraubt.“ (Tristan, Siegfried im Verhältnisse zu Gutrune.) Wie herrlich wäre es, wenn man stark genug sein könnte, das fressende Unthier der Begierde in sich zu überwältigen! Welche hohe Lichtgestalt wäre der Mann, der dem Dämon Weib den Fuß auf den Kopf setzen könnte! (Tannhäuser, Parsifal.) Und wie schön, wie anbetungswürdig wäre andererseits ein Weib, das im Manne nicht das Höllenfeuer der Leidenschaft entzünden, sondern ihm behilflich sein würde, es zu unterdrücken, das vom Manne nicht die Auflehnung gegen Verstand, Pflicht und Ehre verlangen, sondern ihm ein Beispiel des Verzichts und der Selbstbekämpfung sein würde, das den Mann nicht knechten, sondern als liebende Magd sich eines Eigenwesens ganz entäußern und in ihm aufgehen wollte, mit einem Worte, ein Weib,

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das die Wehrlosigkeit des Mannes für ihn ungefährlich sein ließe, weil es selbst  völlig unbewaffnet wäre! (Elisabeth, Elsa, Senta, Gutrune.) Die Erfindung dieser

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Frauengestalten ist eine Art de profundis des | bangen Lüstlings, der den Stachel [] des Fleisches fühlt und um eine Hilfe fleht, die ihn vor sich selbst schützen soll. Wie alle Entarteten ist Wagner als Dichter völlig unfruchtbar, wenn er auch eine lange Reihe von Bühnenwerken geschrieben hat. Die schöpferische Kraft, welche das Schauspiel des allgemeinen, normalen Menschenlebens nachzubilden vermag, ist ihm versagt. Den emotionellen Inhalt seiner Stücke holt er sich aus seinen eigenen krankhaften mystisch-erotischen Emotionen und die äußeren Vorgänge, die ihr Knochengerüst bilden, sind reine Lesefrüchte, die Erinnerung an Bücher, die auf ihn Eindruck gemacht haben. Das ist der große Unterschied zwischen dem gesunden Dichter und dem entarteten Nachempfinder. Jener ist im Stande, „ins volle Menschenleben“ hineinzugreifen, es zu packen und entweder athmend und zuckend in eine Dichtung einzutragen, die dadurch selbst zu einem Stück naiven Lebens wird, oder es mit idealisirender Kunst abzuformen, seine zufälligen Nebenzüge zu unterdrücken, das Wesentliche hervorzuheben und auf diese Weise hinter der räthselhaft verwirrenden Erscheinung das Gesetz überzeugend nachzuweisen. Der Entartete dagegen kann mit dem Leben nichts anfangen. Er steht ihm blind und taub gegenüber. Er ist ein Fremder inmitten der gesunden Menschen. Es fehlt ihm an Organen, sie zu begreifen, ja sie auch nur wahrzunehmen. Nach dem Modell zu arbeiten liegt nicht in seinen Kräften. Er kann nur Vorlagen nachzeichnen und sie dann subjektiv mit seinen eigenen Emotionen koloriren. Er sieht das Leben erst, wenn es papieren, wenn es schwarz auf weiß vor ihm liegt. Während der gesunde Dichter der chlorophyllhaltigen Pflanze gleicht, die in den Erdboden taucht und mit ehrlicher Wurzelarbeit sich die Nährstoffe verschafft, aus denen sie sich und ihre Blüthe und Frucht aufbaut, hat der Entartete die Beschaffenheit der Schmarotzerpflanze, die nur auf einem Wirth fortkommt und sich ausschließlich von dessen fertig ausge-|arbeiteten Säften nährt. Es gibt bescheidene und präch- [] tige Schmarotzer. Ihre Reihe geht von der unscheinbaren Flechte bis zur wunderbaren Rafflesia, deren meterbreite Blüthe in wilder blutrother Farbenherrlichkeit die dunkeln Wälder von Sumatra durchglüht. Die Dichtungen Wagners haben etwas von dem Aasgeruch und der unheimlichen Schönheit dieser Raub- und Verwesungs-Pflanze an sich. Sie sind mit der einzigen Ausnahme der Meistersinger auf den isländischen Sögur, auf den Heldengedichten Gottfrieds von Straßburg, Wolframs von Eschenbach und des Wartburgkrieg-Sängers der manessischen Handschrift wie auf ebenso vielen halb abgestorbenen Baumstämmen angesiedelt und ziehen aus ihnen ihre Kraft. „Tannhäuser“, die „Nibelungen-Tetralogie“, „Tristan und Isolde“, „Parsifal“ und „Lohengrin“ sind ganz und gar aus den Stoffen gebildet, die das alte Schriftthum ihm geliefert hat. „Rienzi“ schöpft er aus der papierenen Geschichte und den „Fliegenden Holländer“ aus der hundertmal bearbeiteten Ueberlieferung. Von den Volkssagen hat die des ewigen Juden wegen ihrer Mystik den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht. Einmal hat er sie im „Fliegenden Hollän-

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der“ verarbeitet, ein zweitesmal sie in der Gestalt Kundrys Zug für Zug ins Weibliche übersetzt, nicht ohne in diese Umkehrung auch Anklänge an die HerodiasSage hineinspielen zu lassen. All das ist Flickwerk und Dilettantismus. Ueber seine Unfähigkeit, Menschen zu bilden, täuscht Wagner sich, wahrscheinlich unbewußt, dadurch hinweg, daß er eben keine Menschen, sondern Götter und Halbgötter, Dämonen und Gespenster darstellt, deren Handlungen sich nicht aus menschlichen Beweggründen, sondern aus geheimnißvollen Verhängnissen, Flüchen und Weissagungen, aus Schicksals- und Zaubergewalten erklären. Was in den Stücken Wagners vorgeht, das ist nicht Leben, sondern Spuk, Hexensabbath oder Traum. [] Er ist ein Trödler, der aus zweiter Hand die abgelegten Märchengewänder er-|standen hat und sie mit manchmal nicht ungeschickter Flickschneiderei zu neuen Trachten zusammenstellt, in denen man die Lappen der alten Prachtstoffe und die Stücke der damaszirten Rüstungen wunderlich durcheinander gewürfelt und an einander geheftet wiedererkennt. Diese Maskenanzüge dienen aber keinen Wesen aus Fleisch und Blut zur Kleidung. Ihre Scheinbewegungen sind einzig von der Hand Wagners ausgeführt, die in die leeren Wämmser und Aermel, hinter die wallenden Schleppen und schlotternden Schauben gefahren ist und in ihnen epileptisch herumzappelt, um beim Zuschauer den Eindruck gespenstischer Belebtheit dieser verschollenen Garderobe zu erwecken. Wohl haben auch gesunde Genies an die Volksüberlieferung oder an die Geschichte angeknüpft, wie Goethe mit dem „Faust“ und dem „Tasso.“ Aber welch ein Unterschied zwischen der Art, wie der geistesgesunde und wie der entartete Dichter das Vorgefundene, das Gegebene verwendet! Jenem ist es ein Gefäß, das er mit frischem, echtem Leben erfüllt, so daß der neue Inhalt das Wesentliche wird; diesem dagegen ist und bleibt die Schale die Hauptsache und seine eigene Thätigkeit besteht höchstens darin, daß er sie mit dem Häckerling unsinniger Redensarten vollstopft. Auch die großen Dichter nehmen das Kukuksvorrecht für sich in Anspruch, ihr Ei in ein fremdes Nest zu legen. Aber der Vogel, der aus diesem Ei ausschlüpft, ist so viel größer, schöner und stärker als die ursprünglichen Insassen des Nestes, daß diese rettungslos verdrängt werden und jener der Alleinbesitzer bleibt. Immerhin ist etwas Bequemlichkeit, etwas Erfindungsarmuth, etwas nicht ganz vornehmes Rechnen auf vorbestehende Emotionen beim Leser mit dabei, wenn der große Dichter seinen neuen Wein in alte Schläuche füllt. Man kann ihm indeß die kleine Knickerei nicht hoch anrechnen, weil er doch so viel Eigenes gibt. Man denke sich vom „Faust“ alle Bestandtheile des alten Volksbuches weg und es bleibt ungefähr Alles, es bleibt der ganze suchende, erkennt[] nißdurstige Mensch, | der ganze Kampf zwischen den genußgierigen niederen Trieben und der höheren enthaltungsfrohen Sittlichkeit, kurz gerade das, was das Werk zu einer der stolzesten Dichtungen der Menschheit macht. Wenn man dagegen den Wagnerschen Ahnen-Marionetten ihre Harnische und Brokate abstreift, so bleibt nichts oder höchstens Luft- und Modergeruch. Hundertmal haben Anempfinder die Versuchung gespürt, den „Faust“ ins Moderne zu übersetzen. Das Unter-

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nehmen ist des Gelingens so sicher, daß es überflüssig ist — Faust im Fracke wäre nichts anderes als der leibhaftige, unveränderte Faust Goethes selbst. Man denke sich aber einmal Lohengrin, Siegmund, Tristan, Parsifal als Zeitgenossen! Nicht einmal parodistisch wären sie zu gebrauchen, trotz der Tannhäuser-Nachspottung des alten Nestroy. Wagner schwadronirte vom Kunstwerke der Zukunft und seine Anhänger jauchzten ihm als dem Künstler der Zukunft zu. Er der Künstler der Zukunft! Er ist ein meckernder Widerhall der fernsten Vergangenheit. Sein Weg führt in Wüsteneien zurück, die längst alles Leben verlassen hat. Wagner ist der letzte Pilzling auf dem Dünger der Romantik. Dieser „Moderne“ ist der heruntergekommene Erbe eines Tieck, eines La Motte Fouqué, ja, traurig zu sagen, eines Johann Friedrich Kind. Seine geistige Heimat ist die Dresdener Abendzeitung. Er bezieht seinen Lebensunterhalt aus dem Vermächtniß der mittelalterlichen Dichtungen und verhungert, wenn der Wechsel aus dem dreizehnten Jahrhundert ausbleibt. Blos die Stoffe der Wagnerschen Dichtungen können den Anspruch auf ernste Betrachtung erheben. Ihre Form ist unter aller Kritik. Die Lächerlichkeit seiner Ausdrucksweise, seine Plattheit, die Unbeholfenheit seiner Verse, sein vollständiges Unvermögen, seine Empfindungen und Gedanken in einigermaßen zureichende Worte zu kleiden, sind so oft hervorgehoben und bis ins Einzelne nachgewiesen worden, daß ich es mir ersparen | kann, bei diesen Punkten zu verweilen. Aber [] eine Fähigkeit, die zu den nothwendigen Bestandtheilen der bühnendichterischen Begabung gehört, läßt sich ihm nicht absprechen: die der malerischen Einbildungskraft. Sie ist bei ihm bis zur Genialität gesteigert. Der Dramatiker Wagner ist eigentlich ein Historienmaler allerersten Ranges. Nietzsche (im „Fall Wagner“) meint vielleicht dasselbe, wenn er ihn, ohne sich bei dieser wichtigen Feststellung aufzuhalten, zwischen „Magnetiseur“ und „Sammler kleiner Nippsachen“ obenhin einen „Freskenmaler“ nennt. Das ist er in einem Maße wie kein anderer Bühnendichter des ganzen Weltschriftthums. Jede Handlung verkörpert sich ihm in einer Folge großartigster Bilder, die, wenn sie so gestellt sind, wie Wagner sie mit dem innern Auge gesehen hat, den Zuschauer überwältigen und hinreißen müssen. Der Empfang der Gäste im Wartburgsaal, das Auftreten und Wegziehen Lohengrins im schwangezogenen Kahne, das Spielen der drei Rhein-Töchter im Strome, der Zug der Götter über die Regenbogen-Brücke nach der Asenburg, das Einbrechen des Mondlichts in Hundings Hütte, der Ritt der neun Walküren über das Schlachtfeld, Brunhilde in der Waberlohe, der Schlußauftritt der „Götterdämmerung“, wo Brunhilde sich aufs Roß schwingt und in den Scheiterhaufen sprengt, während Hagen sich in den hochangeschwollenen Rhein stürzt und am Himmel der Widerschein des Brandes der Götterburg aufflammt, das Liebesmahl in der Gralsburg, Titurels Leichenfeier und Amfortas Heilung sind Anblicke, denen nichts nahekommt, was die Kunst bisher geschaffen hat. Nietzsche nennt Wagner wegen dieser Begabung für das Erfinden unvergleichlich großartiger Schauspiele einen „Komödianten.“ Das Wort ist nichtssagend und, insofern es immerhin einen Beigeschmack von

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Geringschätzung hat, ungerecht. Wagner ist kein Komödiant, sondern ein geborener Maler. Wäre er ein gesundes Genie mit geistigem Gleichgewichte gewesen, er [] wäre | unzweifelhaft ein solcher geworden. Seine innere Anschauung hätte ihm den Pinsel in die Hand gedrückt und ihn zu ihrer Versinnlichung durch Farbe auf Leinwand genöthigt. Lionardo hatte dieselbe Begabung. Sie machte ihn zum größten Maler, den die Welt bisher gekannt hat, und zugleich zum unerreichten Ersinner und Ordner von Festen, Aufzügen, Triumphen und allegorischen Schauspielen, der als solcher fast mehr noch denn als Maler die Bewunderung seiner fürstlichen Gönner, des Ludovico Moro, der Isabella von Aragon, des Cäsar Borgia, Karls VIII., Ludwigs XII., Franz des Ersten errang. Wagner aber, wie dies bei allen Entarteten beobachtet wird, sah nicht klar in seinem eigenen Wesen. Er verstand seinen natürlichen Drang nicht. Vielleicht scheute er auch im Gefühl einer tiefen organischen Schwäche die schwere Arbeit des Zeichnens und Malens und sein Trieb machte sich, dem Gesetze des geringsten Kraftaufwandes entsprechend, nach dem Theater hin Luft, wo seine inneren Gesichte von Anderen, den Dekorations-Malern, den Maschinisten, den Darstellern verkörpert wurden, ohne daß er sich anzustrengen brauchte. Seine Bilder haben unzweifelhaft einen sehr großen Antheil an der Wirkung seiner Stücke. Man bewundert sie, ohne danach zu fragen, ob ihr Erscheinen durch den vernünftigen Gang des Dramas begründet ist. Sie mögen als Theile einer Handlung noch so unsinnig sein, sie rechtfertigen sich künstlerisch durch ihre eigene Schönheit, die sie zu selbstständigen ästhetischen Erscheinungen macht. In der ungeheuern Vergrößerung durch die Mittel der Bühne werden die malerischen Reize auch dem Auge der gröbsten Philister wahrnehmbar, deren Sinn sonst für sie verschlossen ist. Vom Musiker Wagner, der scheinbar von größerer Bedeutung ist als der Schriftsteller, Bühnendichter und Freskenmaler, spreche ich zuletzt, weil diese Arbeit ja [] den Nachweis der Entartung Wagners führen soll, diese aber an den Schrif-|ten sehr viel deutlicher wahrzunehmen ist als an der Musik, in welcher einige geistige Stigmate der Entartung nicht auffallen und andere geradezu als Vorzug erscheinen. Das Unzusammenhängende, das der Aufmerksame dem Worte sofort anmerkt, wird in der Musik nur offenkundig, wenn es außerordentlich stark ausgesprochen ist, Sinnlosigkeit, Widersprüche, Faselei können in der Tonsprache kaum vorkommen, weil sie keinen bestimmten Sinn auszudrücken hat, und Emotivität ist bei ihr nichts Krankhaftes, da die Emotion das eigentliche Wesen der Musik ist. Wir wissen überdies, daß hohe musikalische Begabung mit Zuständen weit vorgeschrittener Entartung, ja mit ausgesprochenem Wahn-, Irr- und Blödsinn verträglich ist. Sollier sagt: „Wir haben von gewissen Fähigkeiten zu sprechen, die sich recht oft bei den Idioten und Imbecillen mit großer Heftigkeit kundgeben … Besonders die für Musik wird sehr häufig angetroffen … Obschon dies den Musikern unangenehm scheinen mag, beweist dies doch, daß die Musik die wenigst

 Sollier, a. a. O. S. .

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verstandesmäßige (intellectuel) aller Künste ist.“ Lombroso bemerkt, daß man „beobachtete, wie die musikalische Befähigung fast unwillkürlich und unerwartet in vielen an Trübsinn und Manie und sogar in einigen an wirklichem Wahnsinn Leidenden sich äußerte.“ Er führt neben manchen anderen Fällen an: einen dem Trübsinn verfallenen Mathematiker, der auf dem Klavier improvisirte; ein an Größenwahnsinn leidendes Weib, „das sehr schöne Arien sang, während sie zugleich auf dem Klavier zwei verschiedene Motive improvisirte“; einen Kranken, der „sehr schöne neue und melodische Weisen erfand,“ u. s. w., und er fügt erklärend hinzu, daß die an Größenwahn und allgemeiner Lähmung Leidenden die anderen Geisteskranken an musikalischer Begabung übertreffen, „und zwar aus derselben Ursache, welcher ihre | besondere Befähigung zur Malerei entspringt“, wegen ihrer hef- [] tigen geistigen Erregung. Wagner als Musiker ist gerade von Musikern sehr stark angefochten worden. Er legt hierfür selbst Zeugniß ab. „Daß ich kein besonderer Musiker sei, glaubten beide Freunde“ (Ferd. Hiller und R. Schumann) „bald herausbekommen zu haben. Somit schien ihnen mein Erfolg in den von mir selbst verfaßten Texten begründet zu sein.“ Mit anderen Worten: die alte Geschichte; die Musiker hielten ihn für einen Dichter und die Dichter für einen Musiker. Es ist natürlich bequem, nachträglich, da Wagner den Erfolg für sich hatte, die absprechenden Urtheile von Männern, die zugleich hervorragende Fachleute und Wagners aufrichtige Freunde waren, damit zu erklären, daß Wagners Richtung zu neu gewesen sei, um von ihnen sofort gewürdigt oder auch nur begriffen werden zu können. Diese Deutung trifft aber gerade bei Schumann schwerlich zu, denn er war ein Freund aller Neuerungen, und Kühnheiten, auch von seinen eigenen verschiedene, gefielen ihm eher als sie ihn abstießen. Rubinstein macht noch heute gegen Wagners Musik starke Vorbehalte und unter den ernst zu nehmenden zeitgenössischen Musikkritikern, die das Entstehen, Wachsen und Triumphiren des Wagner-Dienstes als Zeugen miterlebt haben, blieb Hanslick sehr lange absprechend, bis er schließlich, nicht eben sehr tapfer, vor dem übermächtigen Fanatismus der wagnertollen Hysteriker die Flagge strich. Was Nietzsche (im „Fall Wagner“) gegen Wagner als Musiker sagt, ist belanglos, da die Verleugnungs-Broschüre ganz so wahnwitzig delirirend ist wie die Verhimmelungs-Broschüre („Wagner in Bayreuth“), die ihr zwölf Jahre früher voraufgegangen war. | Wagner ist, trotz ablehnender Urtheile mancher seiner Fachgenossen, unzwei- [] felhaft ein hervorragend befähigter Musiker. Diese kühl ausgedrückte Anerkennung wird den Wagner-Fanatikern, die ihn über Beethoven stellen, sicherlich grotesk scheinen. Doch um die Eindrücke, die er bei dieser Gesellschaft hervorbringt, hat sich ein ernster Wahrheitsucher nicht zu kümmern. Wagner sind, allerdings in der

 Lombroso, Genie und Irrsinn. S.  ff.   Wagner, Ges. Schriften. . Band S. .  Rubinstein, Musiciens modernes. Traduit du russe par M. Delines. Paris, .

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ersten Zeit seines Schaffens viel häufiger als später, sehr schöne Stücke gelungen, von denen manche als Perlen des Musik-Schriftthums zu bezeichnen sind und sich wahrscheinlich lange der Schätzung auch der gesunden und vernünftigen Leute erfreuen werden. Aber dem Tondichter Wagner stand sein Leben lang ein großer Feind gegenüber, der ihn an der vollen Entfaltung seiner Gaben gewaltsam hinderte, und dieser Feind war der Musiktheoretiker Wagner. In seinem graphomanischen Dusel hat er einige Lehren ausgeheckt, die sich als ebenso viele ästhetische Delirien darstellen. Die wichtigsten sind seine Dogmen vom Leitmotiv und von der unendlichen Melodie. Heute dürfte wohl Jeder wissen, was Wagner unter jenem versteht. Der Ausdruck ist als Fremdwort in alle gesitteten Sprachen übergegangen. Das Leitmotiv, in welchem die endgiltig abgethane „Programm-Musik“ folgerichtig gipfeln mußte, ist eine Tonfolge, die einen bestimmten Begriff ausdrücken soll und im Orchester auftritt, wenn der Tonsetzer beabsichtigt, dem Zuhörer den entsprechenden Begriff in Erinnerung zu bringen. Durch das Leitmotiv verwandelt Wagner die Musik in eine nüchterne Sprache. Das Orchester, das sich von Leitmotiv zu Leitmotiv schwingt, versinnlicht nicht mehr allgemeine Emotionen, sondern erhebt den Anspruch, sich an das Gedächtniß, an den Verstand zu wenden und ihm scharf umrissene Vorstellungen zu übermitteln. Wagner verknüpft einige Noten zu einer in der Regel nicht einmal sehr deutlichen und [] eigenartigen Tonfigur und macht mit dem | Zuhörer aus: „Diese Figur bedeutet Kampf, jene einen Drachen, die dritte Schwert“ u. s. w. Wenn der Zuhörer auf die Uebereinkunft nicht eingeht, so verlieren die Leitmotive jede Bedeutung, denn in sich haben sie nichts, was zum Erfassen des ihnen willkürlich beigelegten Sinnes zwingt, und sie können gar nicht derartiges in sich haben, weil die Nachahmungsfähigkeit der Musik sich naturgemäß auf rein akustische Erscheinungen und allenfalls noch auf jene optischen beschränkt, die in der Regel von akustischen begleitet sind. Die Musik kann durch Nachahmung des Donners den Begriff Gewitter, durch Nachahmung der Trompetensignale den Begriff Heer so ausdrücken, daß der Hörer über die Bedeutung der entsprechenden Tonfolgen kaum einen Zweifel hegen kann. Dagegen ist es der Musik gänzlich versagt, die Welt des Sicht- oder Fühlbaren und nun gar die des abgezogenen Denkens mit ihren Mitteln unzweideutig zu versinnlichen. Die Leitmotive sind deshalb höchstens kalte Sinnbilder wie die Buchstaben der Schrift, die an sich gar nichts sagen und nur für den Eingeweihten, den Schriftgelehrten zu Trägern eines gegebenen Vorstellungs-Inhalts werden. Hier finden wir wieder dieselbe Erscheinung, die wir bereits wiederholt als kennzeichnend für die Denkweise der Entarteten festgestellt haben: die unbewußte, mondsüchtig nachtwandelnde Art, mit der sie über die sichersten Grenzen der einzelnen Kunstgebiete hinwegsteigen, die durch eine lange geschichtliche Entwickelung erreichte Differenzirung der Künste aufheben und diese auf den Stand zurückführen, den sie zur Zeit der Pfahlbauten, ja der ältesten Höhlenbewohner eingenommen haben mögen. Wir haben gesehen, daß die Präraphaeliten das Bild zu einer Schrift herabdrücken, die nicht mehr durch ihre malerischen Eigenschaf-

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ten wirken, sondern einen abgezogenen Gedanken aussprechen soll, und daß die  Symbolisten aus dem Worte, dem konventionellen Träger eines Begriffs, eine

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mu-|sikalische Harmonie machen, mit der nicht eine Gedanken-Erweckung, son- [] dern eine Klangwirkung beabsichtigt ist. Ganz ähnlich will Wagner die Musik ihres eigentlichen Wesens entkleiden und sie von einer Trägerin der Emotion zu einer solchen des verständigen Denkens machen. Das Schönbartspiel des wechselseitigen Kleidertausches ist auf diese Weise vollständig. Die Maler geben sich für Schriftsteller aus, die Dichter geberden sich als Symphonisten, der Musiker spielt den Wortdichter. Die Präraphaeliten, die einen Glaubens-Kernspruch niederschreiben wollen, bedienen sich hierzu nicht der Buchstabenschrift, die an Bequemlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt und in der sie sicher verstanden werden, sondern stürzen sich in die Mühsal einer umständlichen, höchst zeitraubenden Malerei, die mit allem Aufwande von Figuren nicht entfernt so deutlich zum Verstande redet wie eine einzige Zeile vernünftiger Schrift. Die Symbolisten, die eine musikalische Emotion erwecken wollen, komponiren nicht eine Melodie, sondern fügen sinnlose, doch angeblich musikalische Worte aneinander, die vielleicht Heiterkeit oder Aerger, aber nicht die beabsichtigte Emotion erregen können. Wagner, wenn er den Begriff „Riese“, „Zwerg“, „Tarnkappe“ ausdrücken will, sagt nicht etwa in gutem, gemeinverständlichem Deutsch „Zwerg“, „Riese“, „Tarnkappe“, sondern ersetzt diese vortrefflichen Worte durch eine Reihe Noten, deren Bedeutung ohne Schlüssel kein Mensch errathen wird. Bedarf es noch eines Wortes, um den vollständigen Wahnsinn dieser Verwechselung aller Ausdrucksmittel, dieses Verkennens dessen, was jeder Kunst möglich ist, ins Licht zu stellen? Wagner hat den Ehrgeiz, es den Corpsstudenten gleichzuthun, die den Renommirköter „Papa“ sagen lehren. Er will das Kunststück fertig bringen, die Musik „Schulze“ und „Müller“ sagen zu lassen. Die Partitur soll nöthigenfalls im Stande sein, das Adreßbuch zu ersetzen. Die Sprache genügt ihm | nicht. Er erfindet sich [] ein eigenes Volapük und verlangt, daß seine Zuhörer es erlernen. Ohne Büffeln kein Zutritt! Wer sich vom Wortschatz des Wagnerschen Volapüks nichts angeeignet hat, für den bleiben seine Opern unverständlich. Unnöthig, sich nach Bayreuth zu bemühen, wenn man nicht geläufig Leitmotivisch plaudern kann. Und wie kläglich ist doch das Ergebniß dieser delirirenden Anstrengung. H. v. Wolzogen, der den „Thematischen Leitfaden“ zur Nibelungen-Tetralogie geschrieben hat, findet im Ganzen doch blos neunzig Leitmotive in diesen vier ungeheuern Werken. Eine Sprache mit neunzig Worten, wenn diese auch so geschwollen sein mögen wie „Motiv des matten Siegmund“, „Rachewahnmotiv“, „Motiv der Knechtung“ u. s. w.! Mit diesem Wortschatz könnte man nicht einmal mit einem Feuerländer Gedanken über das Wetter austauschen. Eine Seite von Sanders enthält mehr Ausdrucksmittel als das ganze Wolzogen’sche Wörterbuch der Wagner’schen Leitmotiv-Sprache. Die Geschichte der Kunst kennt keine erstaunlichere Verirrung als diesen LeitmotivWahnwitz. Das Ausdrücken von Begriffen ist nicht Aufgabe der Musik; das besorgt die Sprache so vollständig, wie man es nur irgend wünschen kann. Wenn das Wort

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mit Gesang oder orchestral begleitet wird, so geschieht dies nicht zum Zwecke seiner Verdeutlichung, sondern seiner Verstärkung durch das Hinzutreten der Emotion. Die Musik ist eine Art Resonanzboden, in welchem das Wort etwas wie einen Widerhall aus der Unendlichkeit erwecken soll. Ein solches Echo der Ahnung und des Geheimnisses klingt aber nicht aus kaltblütig zusammengekleisterten Leitmotiven heraus, die nach einem mechanischen Schema wie durch die Arbeit eines gewissenhaften Kanzlei-Registrators wiederkehren. Mit der „unendlichen Melodie,“ dem zweiten Lehrbegriffe, den Wagner erfunden, verhält es sich ähnlich wie mit dem Leitmotiv. Sie ist eine Ausgeburt des Entartungs-Denkens. Sie ist musikalische Mystik. Sie ist die Form, in welcher die | [] Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit sich in der Musik äußert. In der Malerei führt Aufmerksamkeit zur Komposition, ihr Fehlen zur photographisch gleichmäßigen Behandlung des ganzen Sehfeldes wie bei den Präraphaeliten; in der Dichtung ergibt Aufmerksamkeit Klarheit der Gedanken, Folgerichtigkeit des Vortrags, Unterdrückung des Unwichtigen und Hervorhebung des Wesentlichen, ihr Fehlen Faselei wie bei den Graphomanen und eine peinliche Breite wegen wahllosen Eintragens aller Wahrnehmungen wie bei Tolstoi; in der Musik endlich drückt sich Aufmerksamkeit durch geschlossene Formen, das heißt durch begrenzte Melodien, ihr Fehlen aber durch die Auflösung der Form, durch das Verwischen ihrer Grenzen, also durch die unendliche Melodie aus wie bei Wagner. Dieser Parallelismus ist kein willkürliches Spiel des Geistes, sondern das thatsächliche Bild der gleichlaufenden Gedankenvorgänge im Bewußtsein der verschiedenen Gruppen von Entarteten, die in den verschiedenen Künsten, ihren besonderen Mitteln und Zielen entsprechend, verschiedene Erscheinungen hervorbringen. Man halte sich gegenwärtig, was Melodie ist. Sie ist eine regelmäßige Fügung von Tönen zu einer in erhöhtem Maße ausdrucksvollen Tonfolge. Die Melodie entspricht in der Musik dem folgerichtig gebauten, einen Gedanken klar vortragenden, deutlich begrenzt anfangenden und endenden Satz in der Sprache. So wenig das träumerische Schweifen halb ausgebildeter, schattenhafter Gedanken die Prägung derartiger Sätze gestattet, ebenso wenig führt die fließende Bewegung dumpf verworrener Emotionen zur Bildung einer Melodie. Auch Emotionen können deutlicher und weniger deutlich sein. Auch sie können einen chaotischen und einen geordneten Zustand zeigen. In dem einen Falle ragen sie als erkennbare, von der Aufmerksamkeit kräftig beleuchtete Figuren ins Bewußtsein, das ihre Beschaffenheit und ihre Absicht begreift, in dem andern sind sie dem Bewußtsein ein beunru[] higendes Räthsel | und es nimmt sie blos als allgemeine Aufregung, als eine Art unterirdischen Bebens und Grollens von unbekannter Veranlassung und Richtung wahr. Sind die Emotionen verständlich, so werden sie sich in einer möglichst eindrucksvollen und faßlichen Form äußern wollen. Sind sie dagegen ein allgemeiner Dauerzustand ohne bestimmte Veranlassung und kenntlichen Zweck, so wird ihre Versinnlichung durch Töne ebenso verschwommen und nebelig wogend sein wie sie selbst. Man kann sagen: die Melodie ist eine Anstrengung der Musik, etwas

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Bestimmtes zu sagen. Es leuchtet ein, daß eine ihrer Gründe und Ziele sich nicht bewußte, nicht von der Aufmerksamkeit aufgehellte Emotion ihren musikalischen Ausdruck nicht bis zur Melodie steigern wird, weil sie eben nichts Bestimmtes zu sagen hat. Die geschlossene Melodie ist eine späte Errungenschaft der Musik, die sie erst nach einer langen Entwickelung erreicht hat. In ihren geschichtlichen — und nun gar in ihren vorgeschichtlichen — Anfängen kennt die Tonkunst sie nicht. Ursprünglich geht die Musik aus Gesang und dem rhythmischen (d. h. in gleichen oder regelmäßigen Zeitabständen wiederholten) Geräusch begleitenden Stampfens, Pochens oder Händeklatschens hervor und Gesang ist nichts anderes als die durch Gemüthserregung lauter werdende und in weiter auseinander liegenden Intervallen sich bewegende Rede. Aus dem fast unübersehbaren Schriftthum über diesen bis zur Abgedroschenheit bearbeiteten Gegenstand möchte ich nur eine Belegstelle anführen. Herbert Spencer sagt in seinem wohlbekannten Aufsatz über den „Ursprung und die Aufgabe der Musik“: „Alle Musik ist ursprünglich stimmlich (vocal)… Die Tanzgesänge der Wilden sind sehr eintönig und in Folge dieser Eintönigkeit sind sie gewöhnlicher | Rede viel näher verwandt als die Gesänge gesitteter [] Menschen … Die frühen Dichtungen der Griechen, welche, man vergesse das nicht, heilige Sagen waren, verkörpert in der rhythmischen Bildersprache, die starke Gefühle hervorrufen, wurden nicht gesprochen, sondern psalmodirt (chanted); Töne und Tonfall wurden durch dieselben Einflüsse, welche die Rede dichterisch machen, musikalisch gemacht … Dieses Psalmodiren war nicht, was wir singen nennen, sondern nahe verwandt mit unserm Rezitativ, ja noch viel einfacher als dieses, wenn wir aus der Thatsache Schlüsse ziehen sollen, daß die alte griechische Lyra, die blos vier Saiten hatte, unisono mit der Stimme gespielt wurde, die also auf blos vier Noten beschränkt war … Daß das Rezitativ, über welches nebenbei bemerkt Chinesen und Hindus niemals hinausgelangt zu sein scheinen, natürlich aus den Modulationen und Kadenzen starken Gefühls herauswuchs, dafür haben wir noch heute lebendige Beweise. Gelegentlich macht sich starkes Fühlen auch jetzt in dieser Weise Luft. Wer jemals anwesend war, wenn in einer QuäkerVersammlung einer ihrer Prediger sprach (sie pflegen nur unter dem Einflusse religiöser Emotion das Wort zu nehmen), dem müssen die ganz ungewöhnlichen, einem gedämpften Psalmodiren ähnlichen Töne aufgefallen sein, in welchen die Ansprache gehalten wurde.“ Das Rezitativ, das nichts ist als eine gesteigerte Rede und das keine geschlossenen melodischen Formen erkennen läßt, ist also die älteste Form der Musik; sie ist der Entwickelungsgrad, bis zu welchem die Tonkunst bei den Wilden, den alten Griechen, den heutigen ostasiatischen Völkern gelangt ist. Wagners „unendliche Melodie“ ist nichts Anderes als ein reich harmonisirtes und bewegtes Rezitativ,

 Herbert Spencer, The Origin and Function of Music. The Humboldt Library of Popular Science Literature. New-York, J. Fitzgerald and Co. Vol. I. p. , .

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aber ein Rezitativ. Der Name, den er seiner angeblichen Erfindung beigelegt hat, darf uns nicht irre machen. Im Munde des Entarteten hat das Wort nie den Sinn, [] den ihm der allgemeine Sprachgebrauch beilegt. | So nennt Wagner ruhig „Melodie“ mit einem unterscheidenden Beiwort eine Form, welche thatsächlich die Leugnung und Aufhebung der Melodie ist. Er bezeichnet die unendliche Melodie als einen Fortschritt der Musik und sie ist deren Zurückführung auf ihre uralten Ausgangspunkte. Es wiederholt sich bei Wagner wieder einmal die in den früheren Kapiteln so oft hervorgehobene Thatsache, daß die Entarteten ihren Atavismus, ihren krankhaften Rückschlag auf weit zurückliegende niedere und niederste Entwickelungsstufen mit einer seltsamen Sehtäuschung für einen Aufstieg in die Zukunft halten. Wagner gelangte zu seiner Theorie der unendlichen Melodie durch seine geringe Fähigkeit zur Erfindung endlicher, das heißt wirklicher Melodien. Seine schwache Kraft zu melodischer Schöpfung ist allen unbefangenen Musikern aufgefallen. In der Jugend war sie reicher und da sind ihm (im „Tannhäuser“, „Lohengrin“, „Fliegenden Holländer“) einige prachtvolle Melodien gelungen. Mit zunehmendem Alter verarmte sie immer mehr und in dem Maße, in welchem der Strom melodischer Erfindung in ihm versiegte, betonte er seine Theorie von der unendlichen Melodie eigensinniger und schroffer. Immer wieder die bekannte Methode des nachträglichen Ausheckens einer Theorie zur scheinbar verständigen Begründung und Beschönigung dessen, was man aus unbewußter organischer Nothwendigkeit thut. Da Wagner nicht im Stande war, die einzelnen Personen seiner Tondichtungen durch rein musikalische Kennzeichnung auseinander zu halten, so [] erfand er das Leitmotiv. | Da er, namentlich mit vorschreitendem Alter, große Schwierigkeit empfand, richtige Melodien zu schaffen, so stellte er die Forderung der unendlichen Melodie auf. Auch alle seine anderen musiktheoretischen Schrullen erklären sich aus einem deutlichen Gefühle bestimmter Unzulänglichkeiten. Im „Kunstwerk der Zukunft“ überhäuft er den Kontrapunkt und die Kontrapunktisten, diese ledernen Schulfüchse, welche die lebendigste Kunst zu einer ausgedorrten, todten Mathematik herabwürdigen, mit beißend sein wollendem Spott, der wie ein Abklatsch der Schmähungen seines Meisters Schopenhauer gegen die deutschen Professoren der Philosophie wirkt. Warum? Weil er als unaufmerksamer Mystiker, der dem formlosen Träumen ergeben ist, durch die strenge Zucht und sicheren Regeln der Kompositionslehre, welche der lallenden Ton-Ursprache erst eine Grammatik gegeben und sie zu einem würdigen Ausdrucksmittel der Gemüthserregungen gesitteter Menschen gemacht hat, sich unleidlich beengt fühlen mußte. Er erklärt die reine  E. Hanslick, a. a. O. S. : „Nachdem im ‚Musikdrama‘ die handelnden Personen nicht durch den Charakter ihrer Gesangmelodien unterschieden werden wie in der alten ‚Oper‘ (Don Juan und Leporello, Donna Anna und Zerline, Max und Caspar), sondern in dem physiognomischen Pathos ihres Sprechtons einander sämmtlich gleichen, so trachtet Wagner, diese Charakteristik durch sogenannte Leitmotive im Orchester zu ersetzen.“

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Instrumental-Musik mit Beethoven für abgeschlossen, nach ihm keinen Fortschritt für möglich, die „musikalische Deklamation“ für die einzige Bahn, auf der die Tonkunst sich noch weiter entwickeln könne. Es mag sein, daß nach Beethoven die Instrumental-Musik Jahrzehnte oder Jahrhunderte lang nicht fortschreiten wird. Er war ein so ungeheures Musikgenie, daß wir uns in der That schwer vorstellen können, wie er übertroffen oder auch nur erreicht werden soll. Man hat von Lionardo, von Shakespeare, von Cervantes, von Goethe einen ähnlichen Eindruck. Diese Genies sind ja auch wirklich bisher nicht überflügelt worden. Es ist auch denkbar, daß es Grenzen gibt, über die eine gegebene Kunst überhaupt nicht hinaus kann, so daß ein sehr großes Genie ihr letztes Wort sagt und über es hinaus ein Fortschritt nicht möglich ist. Dann aber muß der Strebende demüthig sagen: „Besser als der höchste Meister meiner Kunst kann ich es doch nicht machen | und ich bescheide mich darum, als Epigone im Schatten seiner Größe zu wirken, [] zufrieden, wenn mein Werk einige Besonderheiten meiner Persönlichkeit ausdrückt.“ Er darf jedoch nicht in dreister Selbstüberhebung behaupten: „Mit dem Adlerfluge des Gewaltigen zu wetteifern hat keinen Sinn; der Fortschritt liegt jetzt nur noch in meinem Fledermaus-Geflatter.“ Das ist aber gerade das, was Wagner thut. Da er selbst, wie seine wenigen symphonischen Arbeiten zur Genüge darthun, für die reine Instrumental-Musik keine große Begabung hat, so verordnet er im Tone der Unfehlbarkeit: „Die Instrumental-Musik ist mit Beethoven abgethan. Auf diesem abgeweideten Felde noch etwas suchen zu wollen ist Verirrung. Die Zukunft der Musik liegt in der Begleitung des Wortes und den Weg in diese Zukunft weise ich euch.“ Da macht Wagner einfach aus seiner Noth eine Tugend und aus seiner Schwäche einen Ruhmestitel. Die Symphonie ist die höchste Differenzirung der Tonkunst. In ihr hat diese ihre ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Worte am vollkommensten abgestreift und ist zur größten Selbstständigkeit gelangt. Die Symphonie ist also das Musikalischste, was die Musik hervorbringen kann. Sie verleugnen heißt die Musik als besondere, differenzirte Kunst verleugnen. Die Musik als Begleiterin des Wortes über sie stellen heißt der dienenden Magd einen höhern Rang als der freien Herrin einräumen. Kein in seinem innersten Wesen musikalisch fühlender und denkender Tonkünstler wird auf den Einfall kommen, für das, was in ihm nach Gestaltung drängt, Worte statt musikalischer Themen zu suchen. Denn wenn er auf diesen Einfall kommt, dann ist eben bewiesen, daß er im innersten Wesen Dichter oder Schriftsteller, nicht Musiker ist. Die Chöre der Neunten Symphonie sind nicht als Beweis gegen die Richtigkeit dieser Aufstellung anzuführen. In diesem Falle wurde Beethoven von einer so starken, so eindeutigen Emotion beherrscht, daß ihm der allgemeinere und viel-|deutigere Charakter des rein musi- [] kalischen Ausdruckes nicht mehr genügen konnte und er unbedingt das Wort zu Hilfe rufen mußte. In der tiefsinnigen biblischen Sage wird selbst Bileams Esel des Wortes mächtig, wenn er etwas Bestimmtes zu sagen hat. Die Emotion, die sich ihres Inhaltes und Zieles ganz klar bewußt wird, hört auf, bloße Emotion zu sein,

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und verwandelt sich in Vorstellung, Gedanken und Urtheil, diese aber äußern sich nicht in Musik, sondern in gegliederter Sprache. Wenn nun Wagner grundsätzlich die das Wort begleitende Musik über die reine Instrumentalmusik stellte, und zwar nicht etwa als Mittel des Gedankenausdrucks, denn darüber kann es keine Meinungs-Verschiedenheit geben, sondern als eigentlich musikalische Form, so beweist das nur, daß er im tiefsten Grunde seiner Natur, nach seiner organischen Anlage, nicht Musiker gewesen ist, sondern ein wirres Gemisch von ausdrucksschwachem Dichter und pinselfaulem Maler mit dareinschwirrender javanesischer Gamelang-Begleitung. Das ist der Fall der meisten höheren Entarteten, nur daß die einzelnen Bruchstücke ihrer seltsam in einander gewachsenen Zwitter-Begabung nicht so stark und groß sind wie bei ihm. Die Tonstücke, die Wagner am Besten gelungen sind, die Venusbergmusik, das mal wiederholte Wigala-Weia-Es-g-b der Rheintöchter, der Walkürenritt, der Feuerzauber, das Waldweben, das Siegfried-Idyll, der Charfreitag-Zauber, Prachtstücke, die mit Recht hochgefeiert werden, zeigen gerade das eigentlich Unmusikalische des Wagnerschen Musikgenies. Alle diese Stücke haben das eine mit einander gemein, daß sie schildern. Sie sind nicht eine aus der Seele in Tönen herausgeschrieene innere Emotion, sondern die seelische Anschauung eines genialen Malerauges, die Wagner mit Gigantenkraft, doch gigantischer Verirrung, in Töne statt in Linien und Farben zu fassen ringt. Er knüpft an Naturlaute oder -Geräusche an, entweder unmittelbar nachahmend oder durch Ideenassoziation | [] ihre Vorstellung erweckend, und gibt das an sich akustische Rauschen der Stromwellen, das Säuseln der Baumkronen und Singen der Waldvögel oder durch einen akustischen Parallelismus die optischen Bewegungserscheinungen des Tanzens üppiger Frauengestalten, des Hinjagens wild schnaubender Rosse, des Loderns und Flackerns von Flammen u. s. w. wieder. Diese Schöpfungen sind nicht aus der Gemüthserregung hervorgewachsen, sondern durch äußere Eindrücke, durch die Sinne eingegeben, kein Lautwerden einer Empfindung, sondern eine Widerspiegelung, das heißt also etwas wesentlich Optisches. Wagners Musik, gerade wo sie am Besten ist, möchte ich mit dem Fluge der fliegenden Fische vergleichen. Ein erstaunlicher und blendender Anblick, und doch etwas Unnatürliches, und doch eine Verirrung aus dem eigentlichen in das uneigentliche Element, und namentlich etwas gänzlich Unfruchtbares, was weder den normalen Fischen noch den normalen Vögeln als Lehre dienen kann. Wagner hat das selbst recht deutlich empfunden, er war mit sich darüber im Klaren, daß man auf der Grundlage seiner Tonmalereien nicht weiter bauen kann. Denn angesichts der Bestrebungen von Musikern, die gern eine Wagner-Schule gebildet hätten, klagt er, „daß jüngere Komponisten in unverständiger Weise es ihm nachzumachen sich angelegen sein lassen.“ Dieser angebliche Musiker der Zukunft ist also, wie uns eine eingehende Betrachtung gezeigt hat, durch und durch ein Musiker der Längstvergangenheit.  Wagner, „Ueber die Anwendung der Musik auf das Drama.“ Ges. Schriften. Band , S. .

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 Alle Züge seiner Begabung weisen nicht voraus, sondern weit hinter uns zurück.

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Atavismus ist sein Leitmotiv, das die Musik zu einem konventionellen Lautsinnbilde hinabdrückt, Atavismus seine unendliche Melodie, welche die geschlossene Form zum verschwommenen Rezitativ | der Wilden zurückführt, Atavismus seine [] Unterordnung der hoch differenzirten Instrumentalmusik unter das Musikdrama, das noch Musik und Dichtung mischt und keine der beiden Kunstformen zur vollen Selbstständigkeit gelangen läßt, Atavismus sogar seine Eigenheit, fast immer nur eine Person auf der Bühne singen zu lassen und mehrstimmige harmonisirte Stücke zu vermeiden. Als individuelle Erscheinung wird er in der Musikgeschichte einen bedeutenden Platz einnehmen, als Förderer oder Weiterentwickler seiner Kunst gar keinen oder einen sehr schmalen. Denn das einzige, was gesunde musikalische Fähigkeiten von ihm lernen können, ist, in der Oper sich mit Gesang und Begleitung eng an das Wort zu halten, wahr und charakteristisch zu deklamiren und durch orchestrale Wirkung der Einbildungskraft bildliche Vorstellungen einzugeben. Doch wage ich nicht zu entscheiden, ob dieses letztere noch als eine Erweiterung oder schon als eine Sprengung der natürlichen Grenzen der Tonkunst zu bezeichnen ist, und jedenfalls werden Wagners Jünger seine reichen musikalischen Malfarben nur mit großer Vorsicht benützen dürfen, wenn sie nicht auf Abwege gerathen sollen. Wagners mächtige Wirkung auf die Zeitgenossen erklärt sich weder aus seinen Schriftsteller- und Musiker-Fähigkeiten noch aus irgend einer persönlichen Eigenschaft, etwa mit Ausnahme jener „hartnäckigen Ausdauer bei einem und demselben Grundgedanken“, die Lombroso als ein Kennzeichen der Graphomanen anführt, wohl aber aus den Besonderheiten des Nervenlebens der Gegenwart. Seine Erdengeschicke gleichen denen jener seltsamen, als „Jerichorosen“ bekannten Pflanzen des Morgenlandes (Anastatica, Asteriscus), die unscheinbar braun, ledern und verdorrt, von allen Winden umgetrieben umherrollen, bis sie auf günstigen Boden gelangen, Wurzel schlagen und sich zu glücklich blühenden Blumen entfalten. | Bis zu seinem Lebensabende war Wagners Dasein Kampf und Bitterniß und [] der einzige Widerhall seiner Großsprechereien Gelächter, leider nicht blos der Verständigen, sondern auch der Thoren. Erst als hoher Fünfziger fing er an, die Trunkenheit des Weltruhms zu kennen, und im letzten Jahrzehnte seines Lebens war er unter die Halbgötter versetzt. Das macht: die Welt war mittlerweile für ihn — und für das Narrenhaus — reif geworden. Er hatte das Glück gehabt, so lange zu dauern, bis die allgemeine Entartung und Hysterie genügend vorgeschritten war, um für seine Theorien und seine Kunst einen reichen Nährboden abzugeben. Die hier wiederholt festgestellte und erklärte Erscheinung, daß Gestörte einander zufliegen wie Magnet und Eisenfeilspäne, ist in Wagners Leben besonders auffallend zu beobachten. Seine erste große Gönnerin war die Fürstin Metternich, deren Vater der bekannte Sonderling Graf Sandor war und deren eigene Exzentrizi-

  Lombroso, Genie und Irrsinn. S. .

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täten die Chronik des napoleonischen Hofes nährten. Sein nächster Anhänger, der sich für ihn begeisterte und ihn förderte, war Franz Liszt, den ich an anderer Stelle gekennzeichnet habe, (siehe meine „Ausgewählten Pariser Briefe“, . Auflage, Leipzig, , S. .) von dem ich deshalb hier nur kurz bemerken möchte, daß er in seinem Wesen die größte Aehnlichkeit mit Wagner hatte: er war Schriftsteller (seine Werke, die sechs dicke Bände umfassen, nehmen einen Ehrenplatz im Schriftthum der Graphomanen ein), Tonsetzer, Erotomane und Mystiker, all das freilich in unvergleichlich unbedeutenderer Weise als Wagner, den er nur in der einen gewaltig gesteigerten Fähigkeit des Klavierspielens übertraf. Wagner schwärmte für alle Graphomanen, die ihm in den Wurf kamen, beispielsweise für jenen A. Gleizès, den Lombroso ausdrücklich unter den Verrückten anführt, über [] den sich aber Wagner in überschweng-|licher Weise äußert, und er selbst sammelte einen Hof von auserlesenen Graphomanen um sich, unter denen angeführt seien: Nietzsche, dessen Irrsinn seine Einschließung in eine Anstalt nöthig machte, H. v. Wolzogen, dessen „Poetische Laut-Symbolik“ von den ausbündigsten französischen „Symbolisten“ oder „Instrumentisten“ geschrieben sein könnte, Heinrich Porges, E. von Hagen u. s. w. Die wichtigste Beziehung dieser Art aber war die zum unglücklichen König Ludwig II. Hier fand Wagner die Seele, die er brauchte. Hier traf er auf das volle Verständniß aller seiner Lehren und Schöpfungen. Man kann ruhig behaupten, daß Ludwig von Bayern der Schöpfer des Wagner-Dienstes geworden ist. Erst als der König Wagners erklärter Beschützer wurde, erlangten er und seine Bestrebungen sittengeschichtliche Bedeutung. Nicht etwa blos, weil Ludwig II. Wagner die Mittel zur Verwirklichung seiner üppigsten und kühnsten Kunstträume bot, sondern namentlich, weil er das Ansehen seiner Krone in den Dienst [] der Wagnerschen Richtung stellte. Man halte sich gegenwärtig, wie tief | monarchisch die ungeheure Mehrheit des deutschen Volkes gesinnt ist, mit welcher knieschlotternden Ehrfurcht der Bierphilister selbst die leere Hofkutsche grüßt und welches Herzklopfen der wonnigsten Begeisterung der Anblick eines Prinzen bei der höhern Tochter erregt. Und hier trug ein wirklicher König, noch dazu ein bild-

 Lombroso, a. a. O. S. .  Wagner, Religion und Kunst, Ges. Schr. Band , S. , Anmerkung: „Der Verfasser verweist hier ausdrücklich auf das Buch „Thalysia oder das Heil der Menschheit“ von A. Gleizès … Ohne genaue Kenntnißnahme von den in diesem Buche niedergelegten Ergebnissen sorgfältigster Forschungen, welche das ganze Leben eines der liebenswerthesten und tiefsinnigsten Franzosen eingenommen zu haben scheinen, dürfte es schwer werden für die … Regeneration des menschlichen Geschlechtes … Aufmerksamkeit zu gewinnen.“  „Alberich’s lockender Ruf an die Nixen trägt den harten, bissigen N-Laut zur Schau, der seiner ganzen Art als der negativen Macht im Drama so trefflich entspricht, wie er den schärfsten Gegensatz bildet zum weichen W der Wassergeister. Als er dann den Mädchen nachzuklettern sich anschickt, da bezeichnen drastisch die Stäbe Gl und Schl, im Bunde mit dem leichten, schlüpfenden F das Abgleiten am schlüpferigen Gestein. Woglinde ruft ihm gewissermaßen ein Prosit auf sein Prusten und Niesen mit dem passendsten Stabe Pr (Fr) zu.“ Angeführt von Hanslick, Musikalische Stationen, S. .

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schöner, junger, sagenumwobener, dessen Geisteskrankheit damals bei allen emp findsamen Gemüthern für erhabenen „Idealismus“ galt, eine unbegrenzte Begeiste-

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rung für einen Künstler zur Schau und wiederholte in weit größerm Maße das Verhältniß Karl Augusts zu Goethe! Natürlich mußte Wagner von da an der Abgott aller loyalen Gemüther werden. Man war stolz darauf, den Geschmack des „idealen“ Königs zu theilen. Wagners Musik wurde einstweilen eine kronen- und wappengeschmückte königlich bayrische Musik, um später eine kaiserlich deutsche zu werden. An der Spitze der Wagner-Bewegung schreitet, wie sichs gebührt, ein wahnsinniger König einher. Ludwig II. konnte Wagner beim ganzen deutschen Volke (mit Ausnahme allerdings der über die Geldverschwendung des Königs empörten Bayern) in Mode bringen, aber die ersterbende Unterthänigkeit allein hätte noch keinen Wagner-Fanatismus erzeugt. Damit die bloße Wagner-Mode sich zu diesem auswachse, mußte noch etwas hinzutreten: die Zeithysterie. Diese ist in Deutschland noch nicht in dem Maße verbreitet wie in Frankreich und England, aber sie fehlt auch bei uns nicht und sie gewinnt seit einem Vierteljahrhundert immer mehr an Ausdehnung. Länger als die gesitteten Völker des Westens schützte uns die geringere Entwickelung des Großgewerbes und das Fehlen eigentlicher Großstädte. Im letzten Menschenalter aber sind uns beide Bescherungen reichlich geworden und zwei große Kriege thaten ein Uebriges, um das Nervensystem des Volkes für die Schäden der Großstadt und des Fabrikwesens empfänglich zu machen. | Die Wirkungen des Krieges auf die Nerven der Theilnehmer sind noch nie sys- [] tematisch erforscht worden und doch wäre dies eine so wichtige und nöthige Arbeit! Die Wissenschaft weiß, welche Zerrüttungen eine einzige starke Gemüthsbewegung, etwa eine plötzliche Todesgefahr, auf den Menschen hervorbringt; sie hat Hunderte, Tausende von Fällen verzeichnet, in denen Personen, die vom Ertrinken gerettet wurden, die bei einem Schiffbrande, einem Eisenbahnunfalle anwesend waren, die ein Mörder bedroht hatte u. s. w., entweder den Verstand verloren oder schwere und langwierige, oft unheilbare, Nervenkrankheiten bekamen. Im Kriege sind viele Hunderttausende Menschen allen diesen furchtbaren Eindrücken zugleich ausgesetzt. Monatelang droht ihnen auf Schritt und Tritt schwere Verstümmelung oder jäher Tod. Häufig umgibt sie das Schauspiel der Verheerung, des Brandes, der grauenhaftesten Verwundungen und schrecklich anzusehender Leichenhaufen. Dabei wird an ihre Kraft die höchste Anforderung gestellt, sie müssen bis zum Zusammenbrechen marschiren und können weder auf ausreichende Nahrung noch auf genügenden Schlaf rechnen. Und da soll bei den Hunderttausenden nicht die Wirkung eintreten, welche erwiesener Maßen ein einziges jener Erlebnisse, deren der Krieg Tausende mit sich bringt, hervorrufen kann? Man sage nicht, daß der Soldat im Feldzuge gegen die ihn umgebenden Greuel abgestumpft wird. Das bedeutet blos, daß sie aufhören, die Aufmerksamkeit seines Bewußtseins zu erregen. Aber von den Sinnen und deren Hirnzentren werden sie darum doch wahr-

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

genommen und ihre Spuren lassen sie im Nervensystem darum doch zurück. Daß der Soldat die tiefe Erschütterung, ja Zerrüttung, die er erfährt, nicht gleich merkt, beweist ebenfalls nichts. Auch die „traumatische Hysterie“, auch das „EisenbahnRückenmark“ („railway-spine“), auch die Folge-Nervenkrankheiten nach moralischem „shock“ kommen manchmal erst Monate nach dem sie veranlassenden Ereignisse zur Beobachtung. | [] Ich glaube, es darf kaum bezweifelt werden, daß jeder große Krieg eine Ursache von Massen-Hysterie ist und weitaus die meisten Soldaten aus dem Feldzuge, wenn auch ihnen selbst gänzlich unbewußt, ein etwas gestörtes Nervenleben heimbringen. Gewiß gilt dies für den Sieger weit weniger als für den Besiegten, denn der Triumph ist eins der höchsten Lustgefühle, die ein Menschenhirn empfinden kann, und die krafterzeugende („dynamogene“) Wirkung dieses Lustgefühls ist wohl geeignet, den zerstörenden Einflüssen der Kriegs-Eindrücke entgegenzuarbeiten. Ganz wird sie diese aber doch schwerlich aufheben können und der Sieger läßt wohl auch ein gut Theil Nervenkraft und sittlicher Gesundheit auf dem Schlachtfelde und im Biwack. Das Wort von der Massen-Verrohung nach jedem Kriege ist zum Gemeinplatze geworden. Es geht aus der Wahrnehmung hervor, daß nach dem Feldzuge der Ton im Volke heftiger und gröber wird und die Statistik mehr Gewaltthätigkeiten verzeichnet. Die Thatsache ist richtig, ihre Deutung oberflächlich. Wenn der heimgekehrte Krieger leichter aufbraust und selbst zum Messer greift, so ist dies nicht, weil ihn der Krieg roher, sondern weil er ihn reizbarer gemacht hat. Diese erhöhte Reizbarkeit aber ist nur eine Erscheinungsform der Nerven-Schwäche. Unter der Wirkung der beiden großen Kriege, im Zusammenhange mit der Entwickelung des Großgewerbes und dem Anwachsen der Großstädte, hat also im deutschen Volke seit  die Hysterie außerordentlich zugenommen und wir sind recht nahe daran, den wenig beneidenswerthen Vorsprung, den Engländer und Franzosen in dieser Richtung vor uns hatten, einzuholen. Nun erhält aber jede Hysterie, wie jeder Wahnsinn, wie jede Krankheit überhaupt, von der Eigenart des Kranken ihre besondere Gestalt. Der Bildungsgrad, der Charakter, die Neigungen [] und Gewohnheiten des Gestörten geben der Stö-|rung ihre eigenthümliche Färbung. Bei den von jeher zur Frömmigkeit neigenden Engländern mußte die Entartung und Hysterie eine mystisch-religiöse werden. Bei den Franzosen mit ihrem hochentwickelten Geschmack und der unter ihnen weit verbreiteten Liebhaberei für alle Kunstübungen war es natürlich, daß die Hysterie eine künstlerische Richtung einschlug und zu den bekannten Ausartungen in der Malerei, im Schriftthum und in der Musik führte. Wir Deutsche sind im Allgemeinen weder sehr fromm noch sehr ästhetisch gebildet. Unser Verständniß für das Schöne in der Kunst äußert sich meist nur in dem blödsinnigen „reizend!“ und „entzückend!“ das die höhere Tochter mit spitzem Kopfton und verdrehten Augen wahllos beim Anblick eines putzig geschorenen Pudels und vor der Holbeinschen Mutter Gottes in Darmstadt quiekt, und dem behaglichen Grunzen, womit der Spießbürger beim Vortrag

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einer Liedertafel sein Bier einpumpt. Nicht als ob uns von Natur der Sinn für das Schöne fehlte; ich glaube im Gegentheile, daß wir im tiefsten Wesen mehr davon haben als die meisten anderen Völker; aber weil dieser Sinn wegen der Ungunst der Verhältnisse nicht zur Entwickelung kommen konnte. Wir waren seit dem dreißigjährigen Kriege zu arm, wir hatten zu hart mit der Noth des Lebens zu kämpfen, um für irgend einen Luxus etwas übrig zu haben, und die herrschenden Klassen unseres Volkes, tief verwälscht, Sklaven französischer Mode, hatten sich den breiten Massen so entfremdet, daß diese zwei Jahrhunderte lang keinen Antheil an der Bildung, dem Geschmacke, den ästhetischen Befriedigungen der von ihnen durch eine unüberbrückbare Kluft getrennten oberen Schichten gewinnen konnten. Da nun das deutsche Volk in seiner großen Mehrheit keine Kunstinteressen hatte und sich wenig um sie kümmerte, so konnte auch die deutsche Hysterie keine künstlerisch-ästhetische sein. Sie nahm andere Formen an, theils abscheuliche, theils | niedrige, theils [] lächerliche. Die deutsche Hysterie gibt sich im Antisemitismus kund, dieser gefährlichsten Form des Verfolgungswahnsinns, in welcher der sich für verfolgt Haltende zum wilden, jedes Verbrechens fähigen Verfolger wird („persécuté persécuteur“ der französischen Irrenheilkunde). Der deutsche Hysteriker beschäftigt sich nach Art der Hypochonder und Staatshämorrhoidarier ängstlich mit seiner theuern Gesundheit. Seine Delirien drehen sich um seine Hautausdünstungen und die Verrichtungen seines Bauches. Er fanatisirt sich für Jägers Flanell-Leibchen und das selbstgemahlene Schrotmehl der Vegetarier. Er geräth in heftige Emotion bei Kneipps Wasserbegießungen und barfüßigem Herumlaufen auf nassem Grase. Zwischendurch regt er sich in krankhafter Thierfreundlichkeit („Zoophilie“ von Magnan) wegen der Leiden des bei physiologischen Versuchen benutzten Frosches auf und als Grundton klingt in all diesen antisemitischen, kneipp’schen, jäger’schen, vegetarischen und anti-vivisektionistischen Wahnsinn ein größenwahnsinniger, teutschthümelnder Chauvinismus, vor dem der edle Kaiser Friedrich vergebens gewarnt hat. Alle diese verschiedenen Störungen treten in der Regel zusammen auf und man wird in zehn Fällen neunmal nicht fehl gehen, wenn man den in Jägertracht Einherstolzirenden für einen Chauvinisten, den Kneipp-Schwärmer für einen Schrotbrod-Wütherich und den nach Professorenblut lechzenden FroschAnwalt für einen Antisemiten hält. Wagners Hysterie nun nahm sämmtliche Formen der deutschen Hysterie an. Mit einer leichten Aenderung des Terenzschen „Homo sum“ konnte er von sich sagen: „Ich bin ein Gestörter und keinerlei Störung ist mir fremd.“ Er konnte | als [] Antisemit Stöcker Punkte vorgeben. Er handhabte die chauvinistische Phraseolo-

  Legrand du Saulle nennt den sich verfolgt glaubenden Verfolger „persécuté actif“. Siehe sein grundlegendes Buch: „Le délire des persécutions“. Paris, . S. .  Wagner, „Das Judenthum in der Musik.“ Ges. Schr. Band , S. . „Aufklärungen über das Judenthum in der Musik.“ Band , S. .

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gie mit unnachahmlicher Meisterschaft. War er doch sogar im Stande, seiner Gemeinde von hypnotisirten Hysterikern weiszumachen, daß die Helden seiner Stücke urdeutsche Gestalten seien, diese Franzosen, diese Brabanter, diese Isländer und Norweger, diese palästinischen Frauenzimmer, alle die Fabelwesen, die er sich aus provençalischen und nordfranzösischen Dichtungen, aus der nordischen Saga, aus dem Evangelium geholt hatte und die — wenn man von „Tannhäuser“ und den „Meistersingern“ absieht — auch nicht einen Tropfen deutschen Blutes in den Adern, auch nicht eine deutsche Faser in ihrem Leibe haben! Aehnlich beschwatzte ein Hypnotisir-Gaukler in öffentlichen Schaustellungen seine Opfer, rohe Kartoffeln als Pfirsiche zu essen. Wagner trat für den Vegetarismus ein und da das zur Volksernährung in seinem Sinne nöthige Obst nur in den warmen Erdgegenden reichlich vorhanden ist, rieth er unbedenklich, „eine vernunftgemäß angeleitete Völkerwanderung in solche Länder unseres Erdballs auszuführen, welche, wie dies von der einzigen südamerikanischen Halbinsel behauptet worden ist, vermöge ihrer überwuchernden Produktivität die heutige Bevölkerung aller Welttheile zu ernähren im Stande sind.“ Er zog sein Ritterschwert gegen die Physiologen, welche Thierversuche anstellen. Für Wolle begeisterte er sich nicht, weil er per[] sönlich Seide vorzog, | und dies ist die einzige Lücke in dem sonst vollständigen Bilde. Die Größe des hochwürdigen Pfarrers Kneipp hat Wagner nicht erlebt; andernfalls würde er wahrscheinlich auch für die urdeutsche Weihe der nassen Füße und die Erlöserkraft des Kniegusses tiefsinnige Worte gefunden haben. Als daher die schwärmerische Freundschaft des Königs Ludwig von Bayern für Wagner diesem erst das nöthige Ansehen gegeben und die allgemeine Aufmerksamkeit Deutschlands auf ihn gelenkt, als das deutsche Volk Wagner mit seinen Eigenheiten kennen gelernt hatte, da mußten ihm alle Mystiker des jüdischen Blutopfers, der wollenen Hemden, des pflanzlichen Küchenzettels und der Sympathiekuren nothwendig zujauchzen, denn er war die Verkörperung aller ihrer Zwangsvorstellungen. Seine Musik nahmen sie blos mit in den Kauf. Die weitaus größere Mehrheit der Wagner-Fanatiker verstand nichts von ihr. Die Gemüthserregungen, die sie bei den Werken ihres Abgottes empfanden, gingen nicht von den Sängern und dem Orchester aus, sondern zum Theil von der malerischen Schönheit der Bühnenbilder und zum größern Theil von den besonderen Delirien, die sie ins Theater mitbrachten und als deren Wortführer und Vorkämpfer sie Wagner verehrten. Ich gehe indeß nicht so weit, zu behaupten, daß es einzig und allein der SkatPatriotismus und der heldenmüthige Naturheil-, Reis mit Obst-, Juden raus- und Flanell-Idealismus war, der die Herzen der Wagner-Frommen beim Anhören seiner  Wagner, „Deutsche Kunst und deutsche Politik.“ Ges. Schr. Band , S. . „Was ist deutsch?“ Band , S.  und passim.  Wagner, „Religion und Kunst.“ Ges. Schr. Band , S. .  Wagner, „Offenes Schreiben an Herrn Ernst von Weber, Verfasser der Schrift: Die Folterkammern der Wissenschaft.“ Ges. Schr. Band , S. .

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Musik in wonniger Bewegung rascher schlagen machte. Diese Musik war gewiß ebenfalls dazu angethan, Hysteriker zu entzücken. Ihre starken Orchester-Wirkungen brachten bei ihnen hypnotische Zustände hervor — in der Pariser Salpetrière erzeugt man häufig die Hypnose durch plötzliches Anschlagen eines Gongs — und die Formlosigkeit der unendlichen Melodie entsprach ganz dem träumenden Schweifen ihres eigenen Denkens. Eine klare Melodie erweckt und fordert | Auf- [] merksamkeit, widersetzt sich also der Gedankenflucht hirnschwacher Entarteter. Ein schwimmendes Rezitativ ohne Anfang und Ende dagegen stellt an den Geist keinerlei Anforderungen — denn um das Versteckensspiel der Leitmotive kümmern sich die meisten Zuhörer ja doch entweder gar nicht oder nur sehr kurze Zeit —; man kann sich von ihm wiegen und treiben lassen und taucht beliebig aus ihm auf, ohne besondere Erinnerung, blos mit dem wollüstigen Gefühl, ein nervenerregendes heißes Tonbad genossen zu haben. Die unendliche Melodie verhält sich zur eigentlichen wie das launenhafte, tausendmal wiederholte, nichts Bestimmtes darstellende Rankenwerk einer maurischen Flächendekoration zu einem Genreoder Geschichtsbilde und der Morgenländer weiß von jeher, wie günstig der Anblick seiner Arabesken dem „Kef“ ist, jenem Traumzustand, in welchem der Verstand eingelullt ist und die tolle Einbildungskraft allein als Herrin im Hause schaltet. Wagners Musik weihte die deutschen Hysteriker in die genußreichen Geheimnisse des türkischen Kef ein. Nietzsche mag darüber mit seiner idiotischen Wortwitzelei „Sursum — Bum-bum“ und seinen Bemerkungen über den deutschen Jüngling, der „Ahnung“ suche, spotten, die Thatsache ist nicht zu leugnen, daß ein Theil der Wagner-Gemeinde, derjenige Theil, der in das Theater krankhafte Mystik mitbrachte, bei ihm Befriedigung fand, da nichts so geeignet ist, „Ahnungen,“ das heißt vieldeutige, schattenhafte Grenz-Vorstellungen, heraufzubeschwören wie eine Musik, die selbst aus nebeligen Gedanken-Schatten hervorgewachsen ist. Die hysterischen Frauen gewann Wagner sich zwar hauptsächlich durch die geile Erotik seiner Musik, aber auch durch seine dichterische Darstellung des Verhältnisses vom Manne zur Frau. Nichts entzückt ein überspanntes Weib so sehr wie dämonische Unwiderstehlichkeit beim Weibe und zitternde Anbetung ihrer übernatürlichen Gewalt beim Manne. Anders | als Friedrich Wilhelm I., der zornig [] rief: „Nicht fürchten sollt ihr mich, sondern lieben“, möchten Frauen dieser Art am Liebsten jedem Manne zurufen: „Nicht lieben sollt ihr mich, sondern voll Angst und Grauen vor mir im Staube liegen.“ Frau Venus, Brunhilde, Isolde und Kundry haben Wagner sehr viel mehr weibliche Bewunderung geworben als Elisabeth, Elsa, Senta und Gudrune. Nachdem Wagner einmal Deutschland erobert hatte und der inbrünstige Glaube an ihn der erste Artikel im Katechismus der deutschen Vaterlandsliebe geworden war, konnte auch das Ausland sich seinem Dienste nicht lang entziehen. Die Bewunderung eines großen Volkes hat eine außerordentliche Ueberzeugungsgewalt. Selbst seine Verirrungen nöthigt es mit unwiderstehlicher Suggestion den

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

anderen Völkern auf. Einer der Haupt-Sieger der deutschen Kriege ist Wagner gewesen. Sadowa und Sedan sind für ihn geschlagen worden. Zu dem Manne, den Deutschland für seinen National-Tondichter erklärte, mußte die Welt, sie mochte wollen oder nicht, Stellung nehmen. Er trat seinen Siegeszug um den Erdball gedeckt von der deutschen Reichsflagge an. Die Feinde Deutschlands waren auch seine Feinde und das zwang selbst solche Deutsche, die ihm kühl gegenüberstanden, dem Auslande gegenüber für ihn einzutreten. Ich schlage mir an die Brust: ich habe auch in Wort und Schrift den Franzosen gegenüber für ihn gestritten. Ich habe ihn auch gegen die Kuchenbäcker vertheidigt, die in Paris „Lohengrin“ auspfiffen. Wie soll man sich dieser Pflicht entziehen? Hamlet sticht nach der Tapete, wohl wissend, daß Polonius hinter ihr steht; da muß man ihm entschlossen zu Leibe gehen, wenn man ein Sohn oder Bruder von Polonius ist. Wagner hatte das Glück, den französischen Hamlets gegenüber die Rolle der Tapete zu spielen, die den Vorwand gab, nach Polonius-Deutschland zu stechen. Dadurch war jedem Deutschen die Haltung in der Wagner-Frage eisern vorgeschrieben. | [] Zum Eifer der Deutschen trat im Auslande noch allerlei Anderes hinzu, was Wagners Erfolg begünstigte. Eine Minderheit, die sich theils aus wirklich unabhängigen, ehrlich vorurtheillosen Naturen, theils aber auch aus krankhaft widerspruchsüchtigen Entarteten zusammensetzte, nahm für ihn Partei, gerade weil er von der nationalgehässigen Chauvinisten-Mehrheit blind wüthend angefeindet wurde. „Es ist abscheulich“, rief diese Minderheit, „einen Künstler zu verdammen, weil er ein Deutscher ist. Die Kunst hat kein Vaterland. Wagners Musik darf nicht mit der Erinnerung an Elsaß-Lothringen beurtheilt werden.“ Diese Anschauungen sind so vernünftig und edel, daß Diejenigen, die sie hegten, über ihre eigenen Gesinnungen erfreut und auf sie stolz sein mußten. Sie hatten, als sie Wagner hörten, die klare Empfindung: „Wir sind bessere und klügere Menschen als die Chauvinisten“, und dies versetzte sie nothwendig von vornherein in eine so angenehme und wohlwollende Stimmung, daß sie seine Musik weit schöner fanden, als sie es gethan hätten, wenn sie nicht zuvor in sich banale und niedrige Erregungen hätten unterdrücken und höhere, freiere, vornehmere stärken müssen. Die Emotionen, welche ihnen ihre Zufriedenheit mit sich selbst gab, schrieben sie dann irrthümlich der Musik Wagners zu. Auch daß man diese nur in Bayreuth ganz unverfälscht und ungeschwächt hören konnte, wurde von großer Bedeutung für ihre Werthschätzung. Hätte man sie in jedem Theater gespielt, wäre es ohne Mühe und Umstände möglich gewesen, zu einer Wagner-Vorstellung wie zur Aufführung des „Troubadour“ zu gehen, so hätte Wagner gerade sein eifrigstes Publikum im Auslande nicht gewonnen. Man mußte aber, um den echten Wagner kennen zu lernen, nach Bayreuth reisen; man konnte dies nur in weiten Abständen und zu bestimmten Zeiten thun; man hatte sich lange vorher um Plätze und Wohnung zu bemühen. Es war eine Pilgerfahrt, [] die schweres Geld | und viel freie Zeit forderte, von der also Krethi und Plethi ausgeschlossen waren. Damit wurde die Bayreuth-Wanderung zu einem Vorrechte

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Der Richard-Wagner-Dienst.

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 der Reichen und Vornehmen und es bekam für die Snobs beider Welten einen

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hohen gesellschaftlichen Werth, in Bayreuth gewesen zu sein. Man konnte mit der Reise Staat machen. Man konnte auf sie hochmüthig sein. Man gehörte nicht mehr zum gemeinen Troß, sondern zur Auslese. Man war ein Hadschi! Und die weisen Morgenländer kennen die besondere Eitelkeit der Hadschis so genau, daß eins ihrer Sprichwörter vor dem frommen Manne, der dreimal in Mekka war, ausdrücklich warnt. Es wurde also ein Merkmal der Aristokratie, nach Bayreuth gepilgert zu sein, und der geistigen Vornehmheit, Wagner trotz seiner Nationalität zu schätzen. Das günstige Vorurtheil für ihn war geschaffen und kam man erst mit diesem zu ihm, so war kein Grund, weshalb er nicht auf ausländische Hysteriker ebenso wirken sollte wie auf deutsche. Namentlich „Parsifal“ mußte die französischen Neokatholiken und die englisch-amerikanischen Mystiker, die hinter der Fahne der Heilsarmee marschiren, vollkommen überwältigen. Diese Oper ist es denn auch hauptsächlich, mit der Wagner bei seinen nichtdeutschen Bewunderern triumphirt. Die Parsifal-Musik anzuhören ist eine gottesdienstliche Handlung aller Jener geworden, die das Abendmahl in musikalischer Gestalt nehmen wollen. Dies sind die Gründe, welche es erklären, daß Wagner zuerst Deutschland und dann den Erdball erobert hat. Die Urtheillosigkeit des unselbstständigen Haufens, der beim Psalmodiren die Antiphonie besorgt, die Nachahmung der Musiker ohne Eigenart, die bei ihm den Erfolg sahen und sich als die richtigen „Büblein, die mitgenommen werden wollen“, an seine Rockschöße klammerten, thaten ein Uebriges, um ihm die Welt zu Füßen zu legen. Von allen Verirrungen der Gegenwart ist die Wagnerei, wie die verbreitetste, so die wich-|tigste. Das Bayreuther Fest- [] spielhaus, die „Bayreuther Blätter“, die Pariser „Revue Wagnérienne“ sind bleibende Denkmäler, an denen die Zukunft staunend die ganze Weite und Tiefe der Zeit-Entartung und -Hysterie wird messen können.

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VI. Parodieformen der Mystik.

Die künstlerischen und dichterischen Formen der Mystik, die wir bisher untersucht haben, können oberflächliche oder ungenügend belehrte Geister vielleicht über ihren Ursprung in der Entartung täuschen und sich für Kundgebungen echter, fruchtbarer Begabung ausgeben. Neben ihnen kommen aber auch solche vor, in denen sich ein Seelenzustand ausdrückt, der selbst den leichtgläubigsten, der Suggestion des gedruckten Wortes und der dreist auftretenden Marktschreierei zugänglichsten Leser denn doch stutzen und den Kopf schütteln macht. Es treten Bücher und Lehren in die Oeffentlichkeit, denen auch der Laie den tiefen Geistes-Verfall ihrer Urheber anmerkt. Hier behauptet Einer, den Leser in die schwarze Kunst einzuweihen und selbst zaubern zu können, dort gibt ein Anderer bestimmten, von der Irrenheilkunde klassifizirten Wahnvorstellungen dichterische Gestalt, ein Dritter schreibt Bücher aus der Denk- und Empfindungsweise ganz kleiner Kinder oder Blödsinniger heraus. Ein großer Theil der Werke, die ich hier im Auge habe, würde die Entmündigung ihrer Verfasser ohne Weiteres rechtfertigen. Da indeß trotz ihrer sichtlichen Verrücktheit die bekannten „Verständnißvollen“ eifrig an der Arbeit sind, in ihnen „Zukunft“, „neue Nerven-Erregungen“ und Schönheiten geheimnißvoller Art zu entdecken und sie mundaufsperrenden Nachbetern als Offenbarungen des Genies aufzuschwatzen, so ist es nicht überflüssig, ihnen eine [] kurze Betrachtung zu widmen. | Ein nicht zu großes Maß von Mystik führt zum Glauben, ein größeres nothwendig zum Aberglauben, und je verworrener, je zerrütteter das Denken ist, umso toller wird die Art des Aberglaubens sein. In England und Amerika nimmt dieser am häufigsten die Form des Spiritismus und der Sektenstiftung an. Hysteriker und Gestörte empfangen göttliche Eingebungen und beginnen zu predigen und zu weissagen, oder sie beschwören Geister herauf und verkehren mit den Todten. Gespenstergeschichten fangen an, im englischen Erzählungsschriftthum einen breiten Platz einzunehmen und in den englischen Zeitungen die Rolle geläufiger Lückenbüßer zu spielen wie früher in den festländischen die Seeschlange und der fliegende Holländer. Eine Gesellschaft hat sich gebildet, die keinen andern Zweck verfolgt, als Gespenstergeschichten zu sammeln und sie auf ihre Wirklichkeit zu prüfen, und selbst Gelehrte von Ruf sind vom Schwindel des Uebernatürlichen erfaßt worden und lassen sich als Gewährsmänner der albernsten Verirrungen mißbrauchen. Auch in Deutschland hat der Spiritismus Eingang gefunden, doch bisher im Ganzen nicht viel Boden gewonnen. In den Großstädten mag es enge spiritistische Gemeinden geben, einzelnen Gestörten ist der englische Fachausdruck „trance“ so geläufig geworden, daß sie ihn als „Trans“ ins Deutsche herübergenommen haben, wahrscheinlich mit der volksethymologischen Vorstellung, daß er „Jenseits“ bedeute, während er in Wirklichkeit das englische Wort für „Verzückung“ ist, das heißt für den Zustand, in welchem sich nach der Annahme der Spiritisten das Medium befinden soll, wenn es mit der Geisterwelt in Verbindung tritt, — aber auf



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Parodieformen der Mystik.

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unser Schriftthum hat der Spiritismus noch wenig Einfluß geübt. Wenn man von den letzten kindisch gewordenen Romantikern, namentlich den Dichtern der Schicksalstragödien, absieht, haben wenige Schriftsteller es gewagt, das Uebernatürliche anders als sinnbildlich in ihre Schöpfungen hineinspielen zu lassen. Höchstens bei Kleist | und Kerner gewinnt es eine gewisse Bedeutung und gesunde [] Leser sehen dies nicht als einen Vorzug der Dramen des unglücklichen Schöpfers der „Hermannsschlacht“ und der „Seherin von Prevorst“ des schwäbischen Dichters an. Andererseits ist freilich zu beobachten, daß gerade das Gespenster-Element diesen beiden Schriftstellern in jüngster Zeit bei den deutschen Entarteten und Hysterikern eine neue Jugend und Beliebtheit verschafft hat. Maximilian Perty, der offenbar zu früh kam, fand bei dem noch nicht genügend quatschköpfigen Geschlechte, das dem unsrigen voraufging, mit seinen dickleibigen Büchern über Geister-Erscheinungen nur seltene und auch dann eher heitere Beachtung und unter den Zeitgenossen hat höchstens Freiherr Karl du Prel die Beschäftigung mit der Gespensterwelt in theoretischen Schriften und Romanen zu seiner Besonderheit erkoren. Alles in Allem spukt es in unseren dramatischen und erzählenden Werken noch wenig, kaum genug, um einem Backfisch eine Gänsehaut zu geben, und auch bei den in Deutschland bekannten hervorragenden Schriftstellern des Auslandes, z. B. bei Turgenjeff, sind es nicht die Geistererscheinungen, die den deutschen Leser anziehen. Die wenigen Gespensterseher, die wir vorerst noch in Deutschland haben, versuchen es natürlich ebenfalls, ihrer Geistesstörung einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, und sie berufen sich auf einzelne Professoren mathematischnaturwissenschaftlicher Fächer, die ganz mit ihnen übereinstimmen oder doch theilweise zu ihnen hinneigen sollen. Ihr ganzes Um und Auf ist aber der eine Zöllner, der blos ein trauriger Beweis dafür ist, daß Professur nicht vor Wahnsinn schützt, und allenfalls können sie noch auf gelegentliche Aeußerungen Helmholtz’ und anderer Mathematiker über n Dimensionen hinweisen, die sie entweder absichtlich oder aus mystischer Geistesschwäche mißverstanden haben. Der Mathematiker mag in einem analytischen Problem an die Stelle von einer, zwei oder drei Di-|mensionen n Dimensionen setzen, ohne daß diese Vertauschung an [] dem Gesetze des Problems und den sich aus diesem regelrecht ergebenden Folgerungen etwas ändert, aber es fällt ihm nicht ein, sich unter dem geometrischen Ausdrucke „n te Dimension“ etwas räumlich Gegebenes, mit den Sinnen Erfaßbares vorzustellen. Wenn Zöllner mit dem bekannten Beispiele von der Umstülpung des Kautschuk-Ringes, die, weil nur in der dritten Dimension möglich, einem zweidimensionalen Wesen gänzlich undenkbar und übernatürlich erscheinen müßte, das Begreifen der Schlingung eines Knotens in einen geschlossenen Ring als einer in der vierten Dimension ausführbaren Handlung zu erleichtern glaubt, so bietet er nur ein Beispiel mehr von der bekannten Neigung des Mystikers dar, sich selbst und Anderen Worte vorzugaukeln, die nach etwas zu klingen scheinen, die ein Schwachkopf meist auch zu verstehen überzeugt ist, die aber in Wirklichkeit gar keinen Begriff ausdrücken, also eitel Laute ohne Vorstellungs-Inhalt sind.

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Das gelobte Land des Gespenster-Glaubens ist Frankreich zu werden im Begriffe. Den frommen Angelsachsen haben die Landsleute Voltaires in der Beschäftigung mit dem Uebernatürlichen schon den Rang abgelaufen. Ich denke dabei nicht an die unteren Volksschichten, in denen das Traumbuch („La clé des songes“) nie aufgehört hat, neben dem Kalender und allenfalls dem „Paroissien“ (Meßbuch) das einzige Hausbuch zu sein, auch nicht an die vornehmen Damen, die von jeher den Hellseherinen und Karten-Aufschlägerinen glänzende Einnahmen gesichert haben, sondern an die männlichen Angehörigen der unterrichteten Klassen. Dutzende von spiritistischen Vereinen zählen Tausende von Mitgliedern. In zahlreichen Salons der besten — auch im Sinne von „gebildetsten!“ — Gesellschaft werden Todte heraufbeschworen. Eine Monatschrift „L’Initiation“, „Die Einweihung,“ verkündet in tiefsinnigem Tone und mit Verschwendung von philosophi[] schen und naturwis-|senschaftlichen Fachausdrücken die Geheimlehre von den Wundern des Außerirdischen. Eine Zweimonatschrift, „Annales des sciences psychiques,“ bezeichnet sich als „Sammlung von Beobachtungen und Versuchen.“ Neben diesen beiden wichtigsten Zeitschriften besteht noch eine ganze Reihe anderer von gleicher Richtung und alle sind stark verbreitet. Streng fachliche Werke über Hypnotismus und Suggestion erleben Auflage um Auflage und es ist für unbeschäftigte Aerzte, denen an der Meinung ihrer Berufsgenossen nicht viel liegt, eine fruchtbare Spekulation geworden, angebliche Hand- und Lehrbücher über diesen Gegenstand zusammenzukleistern, die zwar wissenschaftlich vollkommen werthlos sind, aber von den Laien wie warme Semmeln gekauft werden. Romane haben in Frankreich, von seltenen Ausnahmen abgesehen, keinen Absatz mehr, Werke über dunkle Erscheinungen des Nervenlebens aber gehen glänzend, so daß kluge Verleger ihren entmuthigten Schriftstellern den Rath geben: „Lassen Sie einstweilen die Romane und schreiben Sie über Magnetismus.“ Einige der in den letzten Jahren in Frankreich erschienenen Bücher über Zauberei knüpfen unmittelbar an die Erscheinungen des Hypnotismus und der Suggestion an, z. B. A. de Rochas’ „Les états profonds de l’Hypnose“ und C. A. de Bodisco’s „Traits de lumière“, „physische Untersuchungen, den Ungläubigen und Selbstsüchtigen gewidmet.“ Dies hat manchen Beobachter auf den Gedanken gebracht, daß die Arbeiten und Entdeckungen der Charcot’schen Schule überhaupt den Anstoß zu dieser ganzen Bewegung gegeben haben. Der Hypnotismus, sagen die Vertreter dieser Ansicht, hat so merkwürdige Thatsachen ans Licht gezogen, daß man nicht länger an der Richtigkeit gewisser Ueberlieferungen, volksthümlicher Ueberzeugungen und alter Berichte zweifeln darf, die man bisher für Erfindungen des Aberglaubens zu halten gewohnt war; Besessenheit, Verhexung, doppeltes Gesicht, [] Heilung durch Hän-|deauflegung, Weissagung, geistiger Verkehr auf weiteste Entfernung ohne Vermittelung durch das Wort erfuhren eine neue Deutung und mußten als möglich anerkannt werden; was war nun natürlicher, als daß Geister von nicht genug festem Gleichgewicht und unzureichender wissenschaftlicher Vorbildung dem Wunderbaren, gegen das sie sich vertheidigt hatten, so lange sie es

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für Ammenmärchen halten mußten, zugänglich wurden, als es in der Tracht der Wissenschaft auftrat und sie sich in der besten Gesellschaft befanden, wenn sie daran glaubten? So einleuchtend diese Meinung scheint, so falsch ist sie. Sie spannt die Ochsen hinter den Pflug. Sie verwechselt die Ursache mit der Wirkung. Kein geistig ganz gesunder Mensch ist durch die Erfahrungsthatsachen der neuen hypnotischen Wissenschaft zum Wunderglauben geführt worden. Man war früher an dunkeln Erscheinungen achtlos oder die Augen absichtlich verschließend vorübergegangen, weil sie sich in herrschende Systeme nicht einfügen ließen und man sie deshalb für Hirngespinnst oder Betrug hielt. Seit zwölf Jahren nimmt die amtliche Gelehrsamkeit von ihnen Kenntniß und man beschäftigt sich mit ihnen auf Hochschulen und in Akademien. Aber man denkt keinen Augenblick lang daran, sie für übernatürlich zu halten und hinter ihnen das Wirken außerirdischer Kräfte zu vermuthen, sondern fügt sie in die Reihe aller anderen Natur-Erscheinungen ein, die der sinnlichen Beobachtung zugänglich sind und von den allgemeinen Naturgesetzen bestimmt werden. Unsere Erkenntniß hat einfach ihren Rahmen erweitert und eine Gattung von Thatsachen aufgenommen, die früher außerhalb derselben gestanden hatten. Manche Wirkungen der Hypnose sind mehr oder minder befriedigend erklärt, andere noch gar nicht. Doch darauf legt ein ernster und gesunder Geist kein großes Gewicht, denn er weiß, daß es mit der sogenannten Erklärung der Erscheinungen überhaupt nicht weit her ist und daß wir uns meistens | mit ihrer [] sichern Feststellung und der Kenntniß ihrer unmittelbaren Bedingungen zu begnügen haben. Es ist auch nicht gesagt, daß die neue Wissenschaft ihren Gegenstand erschöpft und ihre Grenzen erreicht hat. Aber was sie auch immer des Unbekannten und Ueberraschenden noch zu Tage fördern mag, dem gesunden Geist ist es nicht zweifelhaft, daß es dabei immer mit natürlichen Dingen zugehen wird und die einfachen letzten Gesetze der Physik, Chemie und Biologie durch sie nicht erschüttert werden können. Wenn also jetzt so viele Leute die Erscheinungen der Hypnose als übernatürliche deuten und sich der Hoffnung hingeben, daß das Heraufbeschwören der Geister von Verstorbenen, das Reisen auf Fausts Zaubermantel, die Allwissenheit u. s. w. nun bald so gewöhnliche Künste sein werden wie Schreiben und Lesen, so sind sie nicht durch die Entdeckungen der Wissenschaft zu diesem Wahn verführt worden, sondern der vorbestehende Wahn ist glücklich, sich für Wissenschaft ausgeben zu können. Er verbirgt sich nicht mehr, sondern zeigt sich stolz am Arme von Professoren und Akademikern auf der Straße. Paulhan hat das ganz richtig erkannt. „Es ist nicht die Liebe zu sicheren Thatsachen“, sagt er, „die die Geister fortgerissen hat, sondern gewiß eine Art Vergeltung der Liebe zum Wunderbaren, der früher befriedigten, jetzt unterdrückten Begierden, die uneingestanden, in verborgenem Zustande schlummerten. Die Magie, die Zauberei, die Astrologie, die

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Wahrsagerei, all dieser alte Aberglaube, entsprechen einem Bedürfnisse der Menschennatur, dem, auf die Außenwelt und die Gesellschaft leicht wirken zu können, dem, durch bequeme Mittel die Kenntnisse zu erlangen, die erforderlich sind, damit diese Einwirkung möglich und erfolgreich sei.“ Der so stürmisch hervorbrechende Aberglaube ist keineswegs von den hypnologischen Forschungen [] erbohrt worden, er stürzt sich blos in die von diesen gegrabene Kanalisation. | Es ist ja hier wiederholt hervorgehoben worden, daß Gestörte ihre Wahnvorstellungen immer den herrschenden Anschauungen anpassen und sich zu ihrer Erklärung mit Vorliebe der neuesten Entdeckungen der Wissenschaft bemächtigen. Die Physiker beschäftigten sich noch lange nicht mit Magnetismus und Elektrizität, als die Verfolgungs-Wahnsinnigen ihre unangenehmen Empfindungen und Sinnestäuschungen bereits ganz geläufig auf elektrische Ströme oder Funken zurückführten, welche ihre Verfolger durch Wände, Decken und Fußböden auf sie werfen sollten, und so waren auch jetzt wieder die Entarteten die ersten, welche die Ergebnisse der hypnologischen Forschungen für sich mit Beschlag belegten und als „wissenschaftliche“ Beweise für die Wirklichkeit von Geistern, Engeln und Teufeln verwendeten. Aber den Wunderglauben hatten die Entarteten schon früher, er ist eine ihrer Eigenthümlichkeiten und nicht erst durch die Beobachtungen der Pariser und Nancyer Hypnologen hervorgerufen. Wenn dies noch eines Beweises bedürfte, so wäre er darin zu finden, daß die meisten „Occultisten“, wie sie sich nennen, in ihren Abhandlungen über GeheimKünste und Zauber-Wissenschaften es verschmähen, sich auf die Ergebnisse der hypnologischen Versuche zu berufen, und ohne jeden Vorwand von Modernität, ohne jedes Zugeständniß an die ehrbare Naturforschung, unmittelbar auf die ältesten Ueberlieferungen zurückgreifen. Papus (Deckname eines Arztes, Dr. Encausse) schreibt einen „Traité méthodique de Science occulte“ („Methodisches Lehrbuch der Geheimwissenschaft“), einen ungeheuern Großoktavband von  Seiten, mit  Abbildungen, welcher den Leser in die Kabbala, Magie, Nekro- und Chiromantie, Astrologie, Alchemie u. s. w. einführt und zu welchem ein alter, nicht unver[] dienstlicher Gelehrter, Adolf Franck vom | „Institut de France“, eine lange, lobende Vorrede zu schreiben die Unvorsichtigkeit hatte, vermuthlich ohne das Buch selbst auch nur geöffnet zu haben. Stanislaus de Guaita, von den Jüngern als erster Meister der schwarzen Kunst und Erzzauberer scheu verehrt, gibt zwei Abhandlungen „Au Seuil du Mystère“ („An der Schwelle des Geheimnisses“) und „Le Serpent de la Genèse“ („Die Schlange der Genesis“) von einem dunkeln Tiefsinn, mit dem verglichen Nicolaus Flamel, der große Alchemist, den bekanntlich nie ein Sterblicher verstanden hat, klar und durchsichtig wie Kristall erscheint. Ernest Bosc beschränkt sich auf die Lehre von der Hexerei der alten Aegypter. Sein Buch „Isis devoilée ou l’Egyptologie sacrée“ („Die entschleierte Isis oder die geweihte Aegypto-

 Legrain, a. a. O. S. : „Das Bedürfniß nach dem Wunderbaren ist bei den Geistesschwachen fast unvermeidlich (fatal).“

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Parodieformen der Mystik.

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logie“) hat den Untertitel: „Hieroglyphen, Papyri, hermetische Bücher, Religion,  Mythen, Symbole, Psychologie, Philosophie, Moral, geweihte Kunst, Occultismus,

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Mysterien, Einführung, Musik.“ Nehor hat ebenfalls seine Besonderheit. Wie Bosc die ägyptischen, so enthüllt Nehor die assyrisch-babylonischen Geheimnisse. „Les Mages et le Secret magique“ („Die Magier und das magische Geheimniß“) heißt die bescheidene Broschüre, in welcher er uns in die tiefsten Zauberkünste der chaldäischen Mobeds oder Tempelmeister einweiht. Wenn ich auf diese Bücher, die Leser und Bewunderer gefunden haben, nicht näher eingehe, so ist es, weil ich nicht überzeugt bin, daß sie ernst gemeint sind. Ihre Verfasser lesen und übersetzen so geläufig ägyptische, hebräische und assyrische Texte, die noch kein Orientalist von Fach entziffert hat, sie führen so oft und ausführlich Bücher an, die in keiner Bibliothek der Welt zu finden sind, sie geben mit so unerschütterlicher Miene genaue Anweisungen zur Erweckung der Todten, zur Erhaltung ewiger Jugend, zum Verkehr mit den Sirius-Bewohnern, zum Wahrsagen über alle Schranken von | Zeit und Raum hinaus, daß man den Eindruck nicht [] los wird, sie wollten sich kaltblütig über den Leser lustig machen. Nur einer von all diesen Hexenmeistern ist sicher guten Glaubens und weil er zugleich der geistig hervorragendste unter ihnen ist, will ich mich mit ihm etwas eingehender beschäftigen. Dieser eine ist Joséphin Péladan. Er hat sich selbst den assyrischen Königstitel „Sar“ beigelegt und wird allgemein so genannt; nur die Aemter geben ihm den Sar-Titel nicht, aber die erkennen ja in Frankreich überhaupt keine Adelstitel an. Er behauptet, er sei der Abkömmling der alten Magier und der Besitzer aller geistigen Vermächtnisse von Zarathustra, Pythagoras und Orpheus. Er ist überdies der unmittelbare Erbe der Tempelritter und der Rosenkreuzer und hat beide Orden verschmolzen und in neuer Form als „Orden des Rosenkreuzes“ wieder aufleben lassen. Er kleidet sich alterthümlich in Atlaswämser von blauer oder schwarzer Farbe, er züchtet sein äußerst üppiges blauschwarzes Hauptund Barthaar in die Formen assyrischer Haartracht, er befleißigt sich einer großen, steilen Handschrift von täuschend mittelalterlichem Ansehen, er schreibt am liebsten mit rother oder gelber Tinte und in der Ecke seines Briefpapiers ist als Abzeichen seiner Würde eine assyrische Königsmütze mit den drei vorn geöffneten Schlangenwülsten abgebildet. Als Wappen führt er das Sinnbild seines Ordens: im silber- und schwarzgespaltenen Schilde ein goldener Kelch mit darüber schwebender purpurener Rose, die zwei ausgebreitete Flügel hat und mit einem schwarzen lateinischen Kreuze belegt ist. Ueberstiegen ist der Schild von einem Kronenreif mit drei Pentagrammen als Zacken. Péladan hat eine Anzahl Komthure und Würdenträger („Großpriore“, „Archonten,“ „Aestheten“) seines Ordens ernannt, der außerdem „Postulanten“ und „Grammatiker“ (Zöglinge) zählt. Er besitzt eine besondere Großmeister- und Sar-Tracht (in der sein lebensgroßes Bildniß von Alexander Seon ge-|malt ist) und ein Tonsetzer, der dem Orden angehört, hat ihm [] eine eigene Trompeten-Musik komponirt, die bei feierlichen Gelegenheiten zu seinem Eintritt geblasen werden soll. Er bedient sich außerordentlicher Formeln.

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Seine Briefe nennt er „Erlasse“ oder „Befehle.“ („Mandements.“) Er spricht die Personen, an die er sie richtet, entweder „Magnifici“, oder „Pairs“, gelegentlich auch „liebster Adelphe“, oder „Synnoede“ an. Er nennt sie nicht „Herr“, sondern „Ew. Herrlichkeit.“ Die Einleitung ist: „Heil, Licht und Sieg in Jesu Christo, dem einzigen Gott, und in Petro, dem einzigen Könige“, oder: „Ad Rosam per Crucem, ad Crucem per Rosam, in ea, in eis gemmatus resurgam.“ Dies ist zugleich der Wappenspruch des Rosenkreuz-Ordens. Der Schluß lautet gewöhnlich: „Amen. Non nobis, Domine, non nobis, sed dominis tui gloriae solae.“ Den Namen seines Ordens schreibt er mit einem in der Mitte eingeschalteten Kreuze, so: „Rose † Croix.“ Seine Romane nennt er „Ethopöen“, sich selbst als deren Verfasser „Ethopoet“, seine Dramen „Wagnerien“, deren Inhaltsangabe „Eumolpöen.“ Jedes seiner Bücher ist mit einer großen Anzahl Sinnbilder geschmückt. Am häufigsten wiederholt sich eine Vignette, welche auf einer Säule eine kauernde Gestalt mit flammenhauchendem Frauenkopf und weiblicher Brust, Löwen-Vorderpranken und einem Wespen- oder Wasserjungfer-Hinterleib zeigt, der in ein schwanzflossenähnliches Anhängsel ausläuft. Dem Werke selbst gehen immer einige Vorreden, Einleitungen und Anrufungen vorauf und oft folgen auch dem Schlusse solche. Ich greife als Beispiel das Buch: „Comment on devient Mage“ („Wie man Magier wird“) heraus. Nach dem mit vielen Sinnbildern (assyrischen [] Flügelstiergöttern, der mystischen Kreuz-|rose u. s. w.) geschmückten doppelten Titelblatte steht zunächst eine lange Widmung an „den Grafen Anton von Larochefoucauld, Großprior des Tempels, Archont des Rosen † Kreuzes.“ Dann kommt ein lateinisches „Gebet des heiligen Thomas von Aquino, sehr geeignet, den Leser vor den möglichen Irrthümern dieses Buches zu warnen,“ hierauf ein „Elentique“ (Elenktik, Gegen-Beweisführung), das eine Art katholischen Glaubensbekenntnisses enthält, sodann eine im Stil der chaldäischen Gebete gehaltene „Anrufung der Ahnen,“ endlich eine lange Ansprache „an den zeitgenössischen jungen Mann,“ worauf erst das eigentliche Buch beginnt. An der Spitze eines jeden Kapitels stehen neun geheimnißvolle Formeln. Hier zwei Beispiele: „I. Der Neophyt. Göttlicher Name: Jud.“ (Der hebräische Buchstabe, der diesen Namen trägt.) „Sakrament: Taufe. Tugend: Glaube. Gabe: Gottesfurcht. Seligkeit: Armuth im Geiste. Werk: Lehren. Engel: Michael. Arcanum: Einheit. Planet: Samas.“ „II. Die Gesellschaft. Göttlicher Name: Jah El“ (in hebräischen Lettern, die Péladan offenbar nicht lesen kann, da er sie „El-lah“ umschreibt.) „Sakrament: Einsegnung. Tugend: Hoffnung. Gabe: Mitleid. Seligkeit: Sanftmuth. Werk: Rathen. Engel: Gabriel. Arcanum: Zweiheit. Planet: Sin.“ Von dem sonstigen Inhalte des gewaltigen Bandes glaube ich keine Proben geben zu müssen. Er entspricht ganz diesen Kapitel-Ueberschriften. Seine Romane oder „Ethopöen,“ deren er bisher neun veröffentlicht, doch vierzehn angekündigt hat, sind in Gruppen von sieben, der mystischen Zahl, geordnet.  Sar Mérodack J. Péladan, Amphithéatre des Sciences mortes. Comment on devient mage. Ethique. Avec un portrait pittoresque gravé par G. Poirel. Paris, .

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Péladan hat selbst ein „Schéma de Concordance“ angefertigt, das den An-|spruch [] erhebt, ihre Leitgedanken zusammenzufassen. Hören wir, wie er seine Werke erklärt: „Erste Siebenreihe. I. Das äußerste Laster. Sittliche und geistige Diathese des lateinischen Verfalls. Merodack, Gipfel des bewußten Willens, Typus absoluter Entität. Alta, Prototyp des Mönches in Berührung mit der Welt. Courtenay, ungenügender Schicksals-Mensch, verhext durch die gesellschaftliche vollzogene Thatsache; L. d’Este, äußerster Stolz, der große Stil im Bösen; Coryse, das wahre junge Mädchen; La Nyne, schlechter Androgyne oder richtiger Gynander; Dominicaux, bewußter Verderbter, Charakter der Unheilbarkeit, Folge einer haarspaltenden ästhetischen Theorie für jedes Laster, welche das Bewußtsein und folglich die Bekehrung ertödtet. Jeder Roman hat einen Merodack, das heißt ein abstraktes orphisches Prinzip, gegenüber einem idealen Räthsel. II. Neugierige. Pariser klinischer Gesammt-Phänomenismus. Ethik: Nebo; systematischer sentimentaler Wille. Erotik: Paula, Leidenschaftliche mit androgynischem Prisma. Das Große Grauen, das Thier mit zwei Rücken, des Gynanders (IX) verwandelt sich in eingeschlechtliche Verderbniß. Neugierige, das ist das Alltägliche und das Allgemeine des Triebes. Der Gynander, die Goethesche Mitternacht und das Ausnahmsweise.“ U. s. w. Ich habe mich bemüht, alle Wunderlichkeiten der Ausdrucksweise Péladans getreu wiederzugeben. Daß seine „Konkordanz“ auch nur eine Ahnung vom Inhalte seiner Romane geben kann, glaube ich keinen Augenblick lang. Ich will also über diese in nichtmagischer Sprache einige Worte sagen. Sie bewegen sich alle in diesen drei Vorstellungskreisen, die einander mannigfach durchdringen und überschneiden: das höchste geistige Ziel des Menschen ist, Wagner’sche Musik zu hören und vollständig zu würdigen; die höchste Entwickelung | der Sittlichkeit besteht im Verzicht auf die Geschlechtlichkeit und in der [] Selbstverwandlung in ein doppelgeschlechtliches Zwitterwesen („Androgyne“ und „Gynander“); der höhere Mensch kann seinen Leib nach Belieben verlassen und wieder annehmen, als „Astralwesen“ im Raume umherschweben und die ganze übernatürliche Gewalt der Geisterwelt, der guten wie der bösen, seinem Willen dienstbar machen. In jedem Romane kommt denn auch ein Held vor, der an sich die Merkmale beider Geschlechter vereinigt und die gewöhnlichen geschlechtlichen Triebe mit Abscheu bekämpft, der Wagner’sche Musik spielt oder genießt, irgend einen Auftritt aus dem Wagner’schen Theater selbst erlebt und darstellt und Geister beschwört oder ihre Angriffe abzuwehren hat. Wenn man den Ursprüngen all dieser delirirenden Vorstellungen nachgehen will, so wird man unschwer erkennen, wie sie entstanden sind. Beim Lesen der

 Joséphin Péladan, La décadence latine. Ethopée. IX. La Gynandre. Couverture de Séon, eau-forte de Desboutins. Paris, . S. XVII.

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Bibel stieß Péladan eines Tages auf den Namen des babylonischen Königs Merodak Beladan. Die Klangähnlichkeit zwischen „Beladan“ und „Péladan“ gab seiner Einbildungskraft den Anstoß, zwischen ihm selbst und dem biblischen Babylonierkönig Beziehungen herzustellen, und als er erst an solche dachte, fand er in seiner Gesichtsbildung, in seiner Haarfarbe und seinem Bartwuchs Aehnlichkeiten mit den assyrischen Königsköpfen auf den Alabaster-Platten vom Niniveh-Palaste. So konnte er leicht auf den Einfall kommen, er sei möglicherweise ein Nachkomme Beladans oder anderer assyrischer Könige, oder es wäre doch merkwürdig, wenn er es wäre, er arbeitete den Gedanken weiter aus und legte sich eines Tages entschlossen den Titel „Sar“ bei. War er erst ein Abkömmling babylonischer Könige, so konnte er auch der Erbe der Magier-Weisheit sein. Er begann also die magische Geheimlehre zu verkünden. In diese Träumereien spielten dann die Eindrücke [] hinein, die er auf einer Pilgerfahrt nach Bayreuth von „Tristan“ und namentlich | von „Parsifal“ empfing. Er phantasirte sich in die Gralssage hinein, sah sich selbst als Gral-Hüter und erfand seinen Orden des Rosenkreuzes, der ganz aus Anklängen an „Parsifal“ zusammengefügt ist. Seine Erfindung des ungeschlechtlichen Zwitterwesens zeigt, daß seine Einbildungskraft sich lebhaft mit Vorstellungen geschlechtlicher Art beschäftigt und unbewußt „konträre Sexualempfindungen“ zu idealisiren sucht. Das Seelenleben Péladans gestattet, an einem überaus deutlichen Beispiele die Wege des mystischen Denkens zu verfolgen. Er ist ganz und gar von der IdeenAssoziation beherrscht. Ein zufälliger Wortklang erweckt eine Gedankenreihe in ihm, die ihn unwiderstehlich dazu drängt, sich als assyrischer König und Magier auszurufen, ohne daß seine Aufmerksamkeit im Stande wäre, ihm die Thatsache zu vergegenwärtigen, daß man Péladan heißen könne und deshalb doch nicht von einem biblischen Beladan abstammen müsse. Der sinnlose Wortfluß der mittelalterlichen Scholastiker verführt ihn, weil er sich fortwährend in „analogischem Denken“ bewegt, das heißt weil er ausschließlich dem Spiele der von den unwesentlichsten, äußerlichsten Aehnlichkeiten angeregten Ideen-Assoziation folgt. Er empfängt jede künstlerische Suggestion mit größter Leichtigkeit. Hört er Wagner’sche Opern, so glaubt er, eine Wagnersche Gestalt zu sein, liest er von Tempelrittern und Rosenkreuzern, so ist er Großmeister der Templer und aller anderen Geheimorden. Er hat die besondere geschlechtliche Emotivität der höheren Entarteten und sie gibt ihm eine seltsame Fabelgestalt ein, die, zugleich keusch und lüstern, die geheimen Kämpfe in seinem Bewußtsein zwischen den krankhaft gesteigerten Trieben und dem ihre Gefährlichkeit erkennenden Urtheile überraschend anschaulich verkörpert. Glaubt Péladan an die Wesenheit seiner Wahnvorstellungen? Anders gesagt: nimmt er sich selbst ernst? Die Antwort auf diese Frage ist nicht so einfach, wie [] Mancher vielleicht meint. Die zwei Wesen, die jeder Menschengeist in | sich schließt, stehen bei solchen Naturen wie Péladan in eigenthümlichem Widerstreit. Das Unbewußte in ihm verwächst ganz mit der Rolle eines Sars, Magiers, Gralsrit-

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ters, Ordens-Großmeisters u. s. w., die er sich erdichtet hat, das Bewußte weiß, daß das Alles Unsinn ist, aber es findet künstlerisches Gefallen daran und läßt das Unbewußte gewähren. So halten kleine Mädchen, die mit der Puppe spielen, sie liebkosen oder züchtigen, sie anscheinend für ein lebendes Wesen und behandeln sie als solches, und im Grunde sehen sie doch ganz gut ein, daß sie nur ein Machwerk aus Leder und Porzellan vor sich haben. Péladans Urtheil hat keine Gewalt über seinen unbewußten Drang. Es steht nicht in seinem Belieben, die Rolle eines Sars oder Magiers aufzugeben oder nicht länger Ordens-Großmeister zu spielen. Er kann sich nicht enthalten, immer wieder auf seine „androgyne“ Absurdität zurückzukommen. Alle diese Verirrungen, ebenso wie die für höhere Entartete kennzeichnende Erfindung neuer Worte und Vorliebe für Sinnbilder, umständliche Titel und Schachtelsysteme von Vorreden, stammen aus den Tiefen seiner organischen Anlage und entziehen sich der Einwirkung seiner höheren Zentren. In ihrem bewußten Theil ist Péladans Hirnthätigkeit eine reiche und schöne. In seinen Romanen finden sich Seiten, die zu den prächtigsten gehören, welche eine zeitgenössische Feder geschrieben hat. Sein sittliches Ideal ist ein hohes und edles. Er verfolgt alles Niedrige, alles Gemeine, jede Form der Selbstsucht, der Falschheit, der Genußgier mit loderndem Haß und seine Gestalten sind durchweg vornehme Seelen, deren Denken sich blos mit den würdigsten, allerdings vorwiegend künstlerischen, Interessen der Menschheit beschäftigen. Es ist tief beklagenswerth, daß seine außerordentliche Begabung durch das Ueberwuchern krankhaft mystischer Vorstellungen völlig unfruchtbar gemacht wird. | Tief unter Péladan steht Maurice Rollinat, der aber dennoch angeführt werden [] muß, einmal weil er eine bestimmte Form der mystischen Entartung sehr lehrreich verkörpert und dann weil er von allen französischen und vielen ausländischen Hysterikern als großer Dichter gefeiert wird. In seinen Gedichten, die er mit bezeichnender Selbsterkenntniß „Les Névroses“ „Die Nervenkrankheiten“ betitelt, verräth er alle Stigmate der Degeneration, die dem Leser nun schon genug geläufig sein dürften, daß ich mich mit einem kurzen Hinweis auf sie begnügen kann. Er fühlt in sich verbrecherische Antriebe. „Die bösen Gedanken kommen überall, zu jeder Stunde, mitten in meiner Arbeit, in meine Seele … Ich lausche unwillkürlich den höllischen Tönen, die in meinem Herzen erklingen, wo Satan pocht, und trotz meines Grauens vor den gemeinen Saturnalien, deren Schatten schon genügt, um mich zu empören, lausche ich unwillkürlich den höllischen Tönen … Das Gespenst des Verbrechens schleicht in meinem Schädel um meinen Verstand herum … Mord, Schändung, Diebstahl, Muttermord zucken durch meinen Geist wie wilde Blitze“ u. s. w. („Le fantome du crime.“)

 Maurice Rollinat, Les Névroses. (Les Ames — Les Luxures — Les Refuges — Les Spectres — Les  Ténèbres.) Avec un portrait de l’auteur par F. Desmoulin. Paris, . Ebenso bezeichnend ist von seinen späteren Gedichtsammlungen „L’Abime“, Paris, .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Das Schauspiel des Todes und der Verwesung hat für ihn eine starke Anziehungskraft. Er weidet sich an Fäulniß und schwelgt in Siechthum. „Meine gespenstische Geliebte, vom Tode erreicht, spielte vor mir, bläulich und violett; … knochige Nacktheit, keusch in ihrer Magerkeit! Schönheit der ebenso traurigen wie heiß verliebten Schwindsüchtigen! … Neben ihr öffnete ein Sarg gierig seinen langen [] Rachen und schien sie zu rufen …“ („L’amante macabre.“) „Sie | war so mager! Ich gab ihr den Beinamen Fräulein Skelett … Sie spuckte ein Tröpfchen wenig karmesinenen Blutes … Ihre Lungensucht war vollständig … Ihr Gesicht war grünlich … Eines Abends erhängte sie sich bei mir am Fensterkarnieß. Gräßlich! Das Schnürchen köpfte Fräulein Skelett unbarmherzig. Sie war aber auch so mager!“ („Mademoiselle Squelette.“) „Um die engelschöne Todte den scheußlichen Küssen der Würmer zu entreißen, ließ ich sie in einer Winternacht einbalsamiren. Man nahm aus dem eiskalten, starren und bläulichen Körper die armen todten Eingeweide heraus und in den ebenso blutigen wie leeren offenen Bauch goß man wohlriechende Salben“ u. s. w. („La morte embaumée.“) „Fleisch, Augenbrauen, Haare, Sarg, Leichentuch, Alles hat das Grab verzehrt, seine Arbeit ist gethan … Mein Schädel hat sein Einschrumpfen festgestellt und ich komme dahin, daß ich, Ueberbleibsel eines zerfallenden Todten, mich nach der Fäulniß zurücksehne und nach der Zeit, da der Wurm noch nicht Fasttag hatte …“ („Le mauvais mort.“) Diese Geschmacks-Verderbniß wird bei Gestörten nicht selten beobachtet. Rollinat gibt sie blos ekelhafte Verse ein. Bei Anderen führt sie zum gierigen Verschlingen menschlicher Ausscheidungen und in ihren schlimmsten Formen zur Leichenliebe. (Nekrophilie.) Heftige erotomanische Erregung äußert sich in einer Reihe Gedichte („Les Luxures.“), die nicht blos die schrankenloseste Sinnlichkeit, sondern auch alle Verirrungen der sexualen Psychopathie feiern. Am auffallendsten sind aber die Empfindungen unbestimmten Grauens, die ihn fortwährend erfüllen. Alles flößt ihm Angst ein, alle Schauspiele der Natur scheinen ihm ein furchtbares Geheimniß in sich zu schließen, er erwartet immer mit Zittern irgend ein unbekanntes Entsetzliches. „Ich schaudere immer beim befremdlichen Anblick gewisser Schuhe oder Stiefel. Ja — Sie mögen spöttisch die Achsel zucken, ich schaudere: plötzlich, an den Fuß denkend, den sie bekleiden, [] frage ich mich: | ist er mechanisch oder lebendig? …“ („Le Maniaque.“) „Mein Zimmer ist wie meine Seele … Schwere, sehr alte Vorhänge krampfen sich auf dem tiefen Bette; lange, phantastische Insekten tanzen und kriechen auf der Decke. Wenn meine Uhr die Stunde schlägt, macht sie ein schreckenerregendes Geräusch; jede Schwingung wogt und verlängert sich absonderlich; … Hausrath, Gemälde, Blumen, sogar die Bücher, alles riecht nach Hölle und Gift; und das Grauen, das mich liebt, hüllt wie ein Laken dieses Gefängniß ein.“ („La Chambre.“) „Die Bücherei machte mich an einen sehr alten Wald denken; dreizehn eiserne Lampen, länglich und gespenstisch, gossen da Tag und Nacht ihr Grablicht auf die welken Bücher voll Schatten und Geheimniß. Ich schauderte immer, wenn ich eintrat. Ich

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Parodieformen der Mystik.

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fühlte mich, inmitten von Nebeln und Geröchel, von den Armen dreizehn bleicher  Lehnstühle angezogen und von den Augen dreizehn großer Bildnisse gemustert …“

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(„La bibliothèque.“) „Im Sumpf, der voller Bosheit seine Strümpfe verschlammt und durchnäßt, hört er sich von mehreren Stimmen, die aber nur eine sind, sehr leise anrufen. Er findet einen Todten auf Schildwache, der seine matten Augäpfel verdreht und seine Fäulniß mit einer Automaten-Feder bewegt. Ich zeige seinen entsetzten Augen in verlassenen Häusern Feuer und in verwilderten Parks Beete voll grüner Rosen … Das alte Kreuz des Kalvarienberges winkt ihm von Weitem und verflucht ihn, seine strengen Arme verschränkend, die es ausstreckt und schwenkt …“ („La peur.“) Ich will die Proben nicht bis zum Ueberdruß vermehren und möchte nur die Titel noch einiger seiner Gedichte anführen: Der lebendig Begrabene; Selbstgespräch Troppmanns (eines bekannten achtfachen Mörders); der verrückte Henker; das Ungeheuer; der Wahnsinnige; der Kopfschmerz; die Krankheit; die Tollwüthige; die todten Augen; der Abgrund; die Thräne; | die Angst; der langsame Todes- [] kampf; die Beerdigung; der Sarg; das Todtengeläut; die Fäulniß; das Lied des Geköpften u. s. w. Alle diese Gedichte sind Ausgeburten eines Deliriums, das bei Entarteten häufig beobachtet wird. Auch Dostojewski, der bekanntlich geisteskrank war, hat daran gelitten. „Sowie die Dämmerung eintrat,“ berichtet er selbst von sich, „verfiel ich allmälig in den Seelenzustand, der sich meiner so oft des Nachts bemächtigt, seit ich krank bin, und den ich den mystischen Schrecken nenne. Es ist eine zermalmende Angst vor etwas, was ich nicht erklären und mir nicht einmal vorstellen kann, was noch nicht leibhaftig besteht, sich aber vielleicht plötzlich, in diesem Augenblicke, verwirklichen, erscheinen und sich vor mir aufbäumen wird wie eine unerbittliche, gräßliche, unförmliche Thatsache.“ Legrain führt einen entarteten Geisteskranken an, dessen Wahnsinn „mit Furchtgefühlen, mit Angst vor etwas Eingebildetem“ begann. Professor Kowalewski bezeichnet als die Stufen der Entartungs-Geistesstörung erstens die Neurasthenie, zweitens die Zwangs-Antriebe und die krankhaften Angstgefühle. Legrand du Saulle und Morel beschreiben diesen Zustand grundloser, unbestimmter Furcht und bilden für ihn das nicht sehr glückliche Wort „Panophobie.“ Magnan nennt ihn richtiger „Anxiomanie“, AngstWahnsinn, und spricht ihn als ein sehr gewöhnliches Stigma der Entartung an. Der Angst-Wahnsinn ist ein Irrthum des Bewußtseins, das von Vorstellungen der Furcht erfüllt ist und ihre Ursache in die Außenwelt verlegt, während | sie thatsäch- [] lich von krankhaften Vorgängen in der Tiefe der Organe erregt werden. Der Kranke

  Angeführt von de Vogué, Le roman russe, S. , Fußnote.  Legrain, a. a. O. S. .  The Journal of Mental Science. Januar .  Le délire des persécutions. Paris, . S. .  Morel, Du délire panophobique des aliénés gémisseurs. Annales médico-psychologiques. . .  Band S. .

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

fühlt sich beklommen und unruhig und dichtet den Erscheinungen, die ihn umgeben, ein drohendes und unheimliches Aussehen an, um sich selbst sein Grauen zu erklären, dessen Ursprung ihm entgeht, weil es im Unbewußten wurzelt. Haben wir in Rollinat den Dichter der Anxiomanie kennen gelernt, so werden wir in einem andern Schriftsteller, dessen Name in den letzten zwei Jahren weithin bekannt geworden ist, in dem Belgier Maurice Maeterlinck, ein Beispiel der gänzlich kindisch gewordenen, blödsinnig unzusammenhängenden Mystik finden. Am bezeichnendsten enthüllt sich sein Geisteszustand in seinen Gedichten, von denen ich einige Proben geben will. Hier gleich das erste der Sammlung: „Treibhaus.“ „O Treibhaus inmitten der Wälder. Und eure immer geschlossenen Thüren! Und alles, was unter eurer Kuppel ist! Und unter meiner Seele in euern Analogien! Die Gedanken einer Prinzessin, die Hunger hat, der Unmuth eines Matrosen in der Wüste, eine Blechmusik vor den Fenstern der Unheilbaren. Gehen Sie in die lauesten Ecken! Man möchte sagen, eine Frau, die an einem Erntetage ohnmächtig geworden ist; es sind Postillone im Hofe des Siechenhauses; in der Ferne zieht ein Elenthier-Jäger vorbei, der Krankenwärter geworden ist. Prüfen Sie beim Mondschein! (O, nichts ist an seinem Platze!) Man möchte sagen, eine Wahnsinnige vor den Richtern, ein Kriegsschiff in vollen Segeln auf einem Kanal, Nachtvögel auf Lilien, ein Todtengeläute gegen Mittag, (dort hinten unter diesen Glocken!), ein Spaziergang von Kranken auf der Wiese, ein Aethergeruch an einem Sonnentage. Mein Gott! mein Gott! Wann werden wir Regen haben und Schnee und Wind im Treibhause!“

Diese blödsinnigen Wortfolgen sind psychologisch interessant, denn sie lassen mit lehrreicher Deutlichkeit die Vorgänge in einem zerrütteten Gehirn erkennen. Einen Grund- oder Mittelpunkt-Gedanken arbeitet das Bewußtsein nicht mehr aus. Die [] Vorstellungen tauchen auf, wie sie die gänzlich mechanische | Ideen-Assoziation wachruft. Keine Aufmerksamkeit sucht Ordnung in den Tumult der kommenden und gehenden Bilder zu bringen, die nicht zusammengehörigen zu trennen, die einander widersprechenden zu unterdrücken und die verwandten zu einer einheitlichen Reihe logisch zu verknüpfen. Einige andere Beispiele der ausschließlich unter der Herrschaft der ungezügelten Ideen-Assoziation stehenden Gedanken-Flucht: „Glasglocken.“ „O Glasglocken! Seltsame, für immer zugedeckte Pflanzen! Während der Wind draußen meine Sinne bewegt! Ein ganzes Thal der Seele für immer unbeweglich! Und die eingeschlossene Lauheit gegen Mittag! Und die am Glase wahrgenommenen Bilder! Heben Sie nie eine von ihnen auf! Man hat einige auf alte Mondscheine gethan. Prüfen Sie durch ihr Blattwerk hindurch: es ist vielleicht ein Vagabund auf dem Throne, man hat die Vorstellung, daß Korsaren auf dem Teich warten und daß vorsintflutliche Wesen die Städte überfallen werden. Man hat einige auf alten Schnee gethan. Man hat einige auf ehemaligen Regen gethan. (Haben Sie Mitleid mit der eingeschlossenen Atmosphäre!) Ich höre ein Fest an einem Hungersnoth-Sonntag feiern, es ist ein Verbandplatz inmitten der Ernte, und alle Töchter des Königs irren an einem Fasttag auf den Wiesen umher. Prüfen Sie besonders die des Horizontes! Sie bedecken

 Maurice Maeterlinck, Serres chaudes. Nouvelle édition. Bruxelles, .

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Parodieformen der Mystik.

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sorgfältig sehr alte Gewitter. O! Es muß irgendwo eine ungeheure Flotte auf einem Sumpfe geben! Und ich glaube, daß die Schwäne Raben ausgebrütet haben. (Man kann es durch die Feuchtigkeit kaum ausnehmen.) Eine Jungfrau begießt mit warmem Wasser den Farrn, eine Truppe kleiner Mädchen beobachtet den Einsiedler in seiner Zelle, meine Schwestern sind am Grund einer giftigen Grotte eingeschlafen! Warten Sie auf den Mond und den Winter, bei diesen Glocken, die endlich auf dem Eise zerstreut sind.“ („Seele.“) „Meine Seele! O meine wirklich zu sehr unter Dach geschützte Seele! Und diese Herden von Begierden in einem Treibhause! Einen Sturm auf der Wiese erwartend! Gehen wir zu den kranksten: sie haben befremdliche Ausdünstungen. Mitten unter ihnen durchschreite ich ein Schlachtfeld mit meiner Mutter. Man beerdigt einen Waffenbruder am Mittag, während die Schildwachen ihre Mahlzeit einnehmen. Gehen wir auch zu den schwächsten: sie haben befremdliche Schweiße; hier ist eine kranke Braut, ein Verrath am Sonntag und kleine Kinder | im Gefängniß. (Und weiter, durch den Dampf,) ist es eine Sterbende an der Thür einer Küche? Oder eine Nonne, die am Fuße des Bettes eines Unheilbaren Gemüse reinigt? Gehen wir endlich zu den traurigsten: (zuletzt, denn sie haben Gifte.) O, meine Lippen nehmen die Küsse eines Verwundeten an! Alle Burgfrauen sind Hungers gestorben, diesen Sommer, in den Thürmen meiner Seele! Hier ist das Morgengrauen, das ins Fest eintritt! Ich unterscheide Lämmer den Staden entlang und es ist ein Segel an den Fenstern des Hospitals! Es ist ein langer Weg von meinem Herzen zu meiner Seele! Und alle Schildwachen sind auf ihrem Posten gestorben! Eines Tages war ein armes kleines Fest in den Vorstädten meiner Seele! Man mähte dort den Schierling eines Sonntags Morgens; und alle Klosterjungfrauen sahen die Schiffe auf dem Kanal vorbeifahren, an einem sonnigen Fasttage. Während die Schwäne unter einer giftigen Brücke litten. Man stutzte die Bäume um das Gefängniß, man brachte Arzeneien an einem Juni-Nachmittage, und Mahlzeiten von Kranken breiteten sich über den ganzen Gesichtskreis aus! Meine Seele! Und die Traurigkeit von alledem, meine Seele! und die Traurigkeit von alledem!“

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Ich habe mit der größten Genauigkeit übersetzt und nicht ein Wort von diesen drei  „Gedichten“ weggelassen. Nichts wäre leichter, als nach ihrem Schema ähnliche

zu machen, welche die von Maeterlinck noch übertrumpfen würden, z. B.: „O Blumen! Und man ächzt so schwer unter den sehr alten Steuern! Eine Sanduhr, gegen die der Hund im Mai bellt; und der befremdliche Briefumschlag des Negers, der nicht geschlafen hat. Eine Großmutter, die Orangen äße und nicht schreiben  könnte! Matrosen im Luftballon, aber blau! blau! Auf der Brücke dieses Krokodil und der Schutzmann mit der geschwollenen Wange winkt schweigend! O, zwei Soldaten im Kuhstall und das Rasirmesser ist schartig! Aber den Haupttreffer haben sie nicht gemacht. Und an der Lampe sind Tintenflecke!“ u. s. w. Doch wozu Maeterlinck parodiren? Seine Art verträgt keine Parodie, da sie bereits selbst die  äußersten Grenzen des Blödsinnigen erreicht, und es ist auch nicht ganz würdig, daß ein Geistesgesunder sich über einen armen Teufel von Idioten lustig macht. | Einzelne Gedichte bestehen blos aus ähnlich klingenden Tönen, die ohne [] Rücksicht auf Sinn und Bedeutung der Worte an einander gereiht sind, z. B. eins, das „Langeweile“ überschrieben ist: „Die trägen Pfauen, die weißen Pfauen sind  geflohen, die weißen Pfauen sind geflohen vor der Langweile des Erwachens; ich sehe die weißen Pfauen, die Pfauen von heute, die während meines Schlafes weggegangenen Pfauen, stumpf den Teich ohne Sonne erreichen, ich höre die weißen Pfauen, die Pfauen der Langweile, stumpf die Zeiten ohne Sonne erwarten.“ In der

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

französischen Ur-Fassung findet man die Erklärung für die Wahl dieser Worte: sie enthalten fast alle den Nasenlaut „en“ oder „an“ oder „aon:“ „Les paons nonchalants, les paons blancs ont fui, les paons blancs ont fui l’ennui du reveil; je vois les paons blancs … atteindre indolents l’étang sans soleil“ u. s. w. Dies ist ein Fall jener Form der Echolalie, die man bei Irrsinnigen nicht selten beobachtet. Ein solcher Kranker sagt z. B.: „Man kann dann ran Mann wann Clan Bann Schwan Hahn“, und fährt mit der Ableierung von Gleichklängen fort, bis er entweder müde wird oder ein vor ihm ausgesprochenes Wort zum Ausgangspunkte einer neuen Reihe von Reimen nimmt. Wenn man Maeterlincks Gedichte mit einiger Aufmerksamkeit liest, so erkennt man bald, daß die wirren Bilder, die in ihnen wie im Traume einander lose folgen, einem sehr beschränkten Kreise von Vorstellungen entnommen sind, welche entweder überhaupt oder blos für ihn einen emotionellen Inhalt haben. „Befremdlich“, „alt“, „fern“, sind die Beiwörter, die er beständig wiederholt; sie haben mit einander gemein, daß sie Undeutliches, nicht bestimmt Erkennbares, an die Grenze des Gesichtskreises Entrücktes bezeichnen, also dem mystischen Schattendenken entsprechen. Ein anderes Beiwort, das ihn träumen macht, ist „langsam“, „lent.“ Auch auf die französischen Symbolisten wirkt es so und ist bei ihnen darum [] sehr | beliebt. Offenbar gesellen sie es mit der Vorstellung der Bewegungen des messelesenden Priesters und es erweckt in ihnen die Emotionen der Glaubensmystik. Sie verrathen diese Ideen-Assoziation dadurch, daß sie „lent“ häufig mit „hiératique“, priesterhaft, zusammen gebrauchen. Maeterlinck denkt außerdem fortwährend an Hospitäler mit Kranken und Allem, was damit zusammenhängt (Nonnen, Krankenkost, Arzeneien, wundärztliche Eingriffe, Verbände u. s. w.), an Kanäle mit Schiffen und Schwänen und an Prinzessinen. Die Krankenhäuser und die Kanäle, die einen Zug in der belgischen Landschaft bilden, mögen mit ersten Eindrücken seiner Kindheit zusammenhängen und ihm deshalb Emotionen geben. Die Prinzessinen dagegen, die in Thürmen sind, die Hunger leiden, die sich verirren, die durch Sümpfe waten u. s. w. sind ihm unverkennbar aus den kindischen Balladen der Präraphaeliten in der Einbildung haften geblieben, von denen eine, die Swinburnesche, oben als Probe wiedergegeben wurde. Hospitäler, Kanäle, Prinzessinen: das sind die Bilder, die mit der Hartnäckigkeit von Zwangsvorstellungen immer wieder auftauchen und inmitten des Nebelwustes seines Galimathias allein einigermaßen feste Umrisse zeigen. Einige seiner Gedichte sind in der herkömmlichen poetischen Form geschrieben; andere dagegen haben weder Maß noch Reim, sondern bestehen aus Prosazeilen von willkürlich wechselnder Länge, nicht nach der Art der Goetheschen freien Gedichte oder der Heineschen Nordseelieder, die in sehr stark ausgeprägter rhythmischer Bewegung dahinwogen, sondern so taub, so holpernd und humpelnd wie die Aufzählung eines Inventars. Diese Stücke sind eine knechtische Nachahmung der Ergüsse Walt Whitman’s, jenes wahnsinnigen Amerikaners, zu dem Maeterlinck sich nach dem hier wiederholt festgestellten Gesetze, daß alle Gestörten einander zufliegen, nothwendig hingezogen fühlen müßte. |

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Ich möchte hier einige Bemerkungen über Walt Whitman einschieben, der [] ebenfalls einer der Götzen ist, dem die Entarteten und Hysteriker beider Welten seit einiger Zeit Altäre errichten. Lombroso reiht ihn ausdrücklich unter die „wahnsinnigen Genies“ ein. Wahnsinnig war Whitman ohne Zweifel. Aber ein Genie? Das dürfte schwer zu beweisen sein. Er war ein Landstreicher und verworfener Wüstling und seine Gedichte enthalten Ausbrüche von Erotomanie, wie sie so naiv schamlos in dem mit Verfassernamen gezeichneten Schriftthum kaum ein zweitesmal vorkommen. Seinen Ruf verdankt er gerade diesen viehisch sinnlichen Stücken, die zuerst die Aufmerksamkeit aller amerikanischen Schmutzfinken auf ihn gelenkt haben. Er hat moralischen Irrsinn und ist unfähig, zwischen Gut und Böse, zwischen Tugend und Verbrechen zu | unterscheiden. „Dies ist die tiefe Lehre [] der Empfänglichkeit“, sagt er an einer Stelle, „ohne Vorzug und Zurückweisung; der Neger mit dem Wollkopf, der Straßenräuber, der Kranke, der Unwissende, sind nicht verleugnet.“ Und an einer andern Stelle erklärt er, er „liebe den Mörder und Dieb, den Frommen und Gütigen mit gleicher Liebe.“ Ein amerikanischer Faselhans, W. D. O’Connor, hat ihn dafür „The good grey Poet“, den „guten grauen Dichter“ genannt. Wir wissen aber, daß diese „Güte“, die in Wirklichkeit sittliche Stumpfheit und krankhafte Empfindsamkeit ist, die Entartung häufig begleitet und auch bei den grausamsten Raubmördern, z. B. Ravachol, vorkommt. Er hat Größenwahn und sagt von sich: „Von dieser Stunde an befehle ich, daß mein Wesen von allen Schranken und Grenzen befreit sei; ich gehe, wo ich will, mein eigener unbedingter und vollständiger Herr. Ich athme tief im Raume. Der Osten und der Westen sind mein. Mein sind der Norden und Süden. Ich bin größer und besser als ich selbst gedacht. Ich wußte nicht, daß so unendlich viel Güte in mir ist … Wer mich verleugnet, macht mir keine Beschwerde. Wer mich anerkennt, der oder die wird gesegnet sein und wird mich segnen.“ Er hat mystischen Wahnsinn und ruft: „Ich habe das Gefühl von Allem, ich bin Alles und glaube an Alles. Ich glaube,

 Lombroso, Genie und Irrsinn, S. : „Walt Whitman, der Dichter der modernen Anglo Amerikaner und ganz zuverlässig ein wahnsinniges Genie, war Typograph, Lehrer, Soldat, Schreiner und für einige Zeit auch Bureaukrat, was für einen Dichter das absonderlichste Geschäft ist.“ Diesen häufigen Wechsel der Laufbahn bezeichnet Lombroso mit Recht als eins der Kennzeichen der Geistesstörung. Ein französischer Whitman-Schwärmer, Gabriel Sarrazin, (La Renaissance de la poësie anglaise —. Paris, , S. , Fußnote) beschönigt diesen  Beweis organischer Unstetigkeit und Willensschwäche folgendermaßen: „Diese amerikanische Leichtigkeit des Ueberganges von einem Berufe zum andern stößt gegen unsere alten europäischen Vorurtheile und unsere unabspülbare Verehrung für die recht hierarchischen, recht bureaukratischen, recht routinemäßigen Laufbahnen an. Wir sind in dieser wie in so vielen anderen Hinsichten wesentlich engherzig geblieben und können nicht begreifen, daß die  Verschiedenheit der Befähigungen dem Menschen einen sehr viel größern gesellschaftlichen Werth gibt.“ Das ist so die richtige Art des ästhetischen Klugschwätzers, der für jede Thatsache, welche er nicht versteht, rund gedrechselte Phrasen findet, mit denen er Alles zu seiner eigenen Zufriedenheit erklärt und rechtfertigt.  Walt Whitman, Leaves of Grass. A new edition. Glasgow, .

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daß der Materialismus wahr ist und daß wahr auch ist der Spiritualismus; ich verwerfe nichts.“ Und an einer andern noch bezeichnendern Stelle: „Santa spirita!“ (so!) „Hauch, Leben, jenseits des Lichts, leichter als Licht, jenseits der Höllenflammen, fröhlich, leicht über die Hölle weghüpfend, jenseits des Paradieses, durchduftet blos von meinem Dufte, alles Leben auf Erden begreifend, Gott erreichend und verstehend, den Heiland und Satan verstehend, fein, Alles durchdringend (denn was wäre Alles, was wäre Gott ohne mich?) Wesenheit der Formen, Leben der [] wirklichen Identitäten, Leben der großen runden Kugel, der | Sonne und der Sterne und des Menschen, ich, die allgemeine Seele …“ In seinen vaterländischen Gedichten ist er ein Schweifwedler vor der verderbten amerikanischen stimmenkaufenden, beamtenbestechenden, machtmißbrauchenden Geld-Demokratie und ein Kriecher vor der dünkelhaftesten Yankee-Ueberhebung. In seinen Kriegsgedichten, den viel gerühmten „Drum taps“ (Trommelschläge), ist besonders der schwadronirende Schwulst und der holzklappernde Stelzentritt bemerkenswerth. Seine rein lyrischen Stücke mit ihren verzückten „o!“ und „ach!“, mit ihren blanden Redensarten von Blumen, Wiesen, Frühling und Sonnenschein, erinnern an unsern alten, glücklicherweise eingesargten und verschollenen Geßner, wo er am ödesten, am süßlichsten und weichlichsten ist. Als Mensch hat Whitman eine überraschende Aehnlichkeit mit Verlaine, mit dem er alle Stigmate der Entartung, die Lebensschicksale und seltsamer Weise sogar die rheumatische Lähmung theilte. Als Dichter hat er die geschlossene Form der Strophe als zu mühselig aufgegeben, Maß und Reim als zu drückend von sich abgestreift und seiner emotiven Gedankenflucht in hysterischen Ausrufungen Luft gemacht, auf welche die Bezeichnung „toll gewordene Prosa“ sehr viel besser paßt als auf Klopstocks brave, schulgerechte Hexameter. Ihm selbst unbewußt scheint ihm der Parallelismus der Psalmen und die eruptive Redeweise Jeremiä für seine Form zum Muster gedient zu haben. Wir hatten im vorigen Jahrhundert die „Paramythien“ Herders und die unleidliche „poetische Prosa“ des schon erwähnten Geßner. Unser gesunder Geschmack hat uns bald das Unkünstlerische, das Rückschrittliche dieser Formlosigkeit erkennen lassen und seit einem Jahrhundert hat jene Geschmacksverirrung bei uns keine Nachahmer mehr gefunden. Bei Whitman aber preisen seine hysterischen Bewunderer dieses Wiederaufwärmen einer vergangenen literarischen Mode als „Zukunft“ und sie [] bewundern als eine Erfindung des Genies, was blos eine | Unfähigkeit zu methodischer Arbeit ist. Immerhin verdient es hervorgehoben zu werden, daß zwei so verschiedene Persönlichkeiten wie Wagner und Whitman auf verschiedenen Gebieten unter dem Zwange derselben Gründe zu demselben Ziele gelangten: jener zur „unendlichen Melodie“, die keine Melodie mehr ist, dieser zu Versen, die keine Verse mehr sind, beide wegen ihres Unvermögens, ihr grillenhaft flackerndes Denken der Zucht jener Regeln zu unterwerfen, welche in der „endlichen“ Melodie wie im lyrischen Vers mit Maß und Reim herrschen. In seinen Gedichten also hat Maeterlinck den verrückten Walt Whitman knechtisch nachgeahmt, seine Thorheiten in der Richtung zum Absurden hin noch über-

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treibend. Außer den Gedichten hat er auch Sachen geschrieben, die man wohl Dramen nennen müssen wird, da sie in die Form von Zwiegesprächen gegossen sind. Am bekanntesten von ihnen ist „La princesse Maleine“ geworden. „Dramatis personae“, wie er, treu dem romantisch-mystischen Brauche der Präraphaeliten und Symbolisten das Personen-Verzeichniß überschreibt, sind folgende: Hjalmar, König eines Theils von Holland; Marcellus, König eines andern Theils von Holland; Prinz Hjalmar, Sohn des Königs Hjalmar; Angus, Freund des Prinzen Hjalmar; der kleine Allan, Sohn der Königin Anna; Stephano, Vanox, Offiziere des Marcellus; Anna, Königin von Jütland; Godelive, Frau des Königs Marcellus; die Prinzessin Maleine, Tochter des Marcellus; ihre Amme; die Prinzessin Uglyane, Tochter der Königin Anna. Dazu kommen alle alten wohlbekannten Gliederpuppen und Hampelmänner aus den verstaubtesten Winkeln der romantischen Rumpelkammer: ein Narr, drei Arme, zwei alte Bauern, Hofherren, | Pilger, [] ein Krüppel, Bettler, Landstreicher, eine alte Frau, sieben (die mystische Zahl!) Beguinen u. s. w. Man beachte die Namen, die Maeterlinck seinen Figuren gibt. Als Vlame weiß er sehr gut, daß Hjalmar nicht holländisch, sondern nordisch, daß Angus schottisch ist. Aber er begeht die Verwechselung absichtlich, um die deutlichen Umrisse, mit denen er die Gestalten zu umfahren scheint, indem er sie als „Könige von Holland“ bezeichnet, wieder zu verwischen, um sie von dem festen Boden, auf den er sie zu stellen vorgibt, wieder loszulösen und ihre Koordinaten, die ihnen einen Platz in Raum und Zeit anweisen, aufzuheben. Sie sollen zwar Kleider tragen, Namen haben und einen Menschenrang einnehmen, aber doch nur Schatten und Gewölk sein. König Hjalmar kommt mit Prinz Hjalmar auf das Schloß des Königs Marcellus, um für den Prinzen die Hand der Prinzessin Maleine zu verlangen. Die beiden jungen Leute sehen einander zum erstenmal und nur einige Augenblicke lang, verlieben sich aber gleich in einander. Beim Festmahl zu Ehren des Königs bricht ein Streit aus, über den wir nichts Näheres erfahren, König Hjalmar wird schwer beleidigt, schwört Rache und verläßt wüthend das Schloß. Im Zwischenakt überzieht Hjalmar Marcellus mit Krieg, tödtet ihn und seine Frau Godelive und macht sein Schloß und seine Stadt dem Erdboden gleich. Prinzessin Maleine und ihre Amme wurden bei dieser Gelegenheit — wie, warum und von wem wird nicht verrathen — in ein gewölbtes Thurmgemach eingemauert, doch reißt die Amme durch dreitägige Arbeit mit ihren Fingernägeln einen Stein aus der Mauer los und die beiden Frauen gelangen ins Freie. Da Maleine Hjalmar liebt und ihn nicht vergessen kann, machen sie sich auf den Weg nach seines Vaters Schlosse. In König Hjalmars Schlosse geht es arg zu. Da haust Königin Anna von Jütland, die von ihren Unterthanen vertrieben | wurde [] und mit ihrer erwachsenen Tochter Uglyane und ihrem kleinen Sohne Allan (auch

 Maurice Maeterlinck, La princesse Maleine. ème (!) édition. Bruxelles, .

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hier ist dem Dänen systematisch ein schottischer Name beigelegt) bei König Hjalmar Gastfreundschaft gefunden hat. Königin Anna hat dem alten Manne den Kopf verdreht. Sie ist seine Buhlin geworden, beherrscht ihn vollständig und macht ihn siech an Leib und Seele. Sie will, daß sein Sohn ihre Tochter heirate. Hjalmar ist verzweifelt über den Verfall seines Vaters. Er verabscheut seine Stiefmutter zur linken Hand und schaudert vor dem Gedanken einer Ehe mit Uglyane. Er glaubt Maleine in dem Kriege zusammen mit ihren Eltern getödtet, kann sie aber noch nicht vergessen. Maleine ist mittlerweile mit ihrer Amme durch eine Art Zauberwald und durch ein unverständliches Dorf gewandert, wo sie mit Bettlern, Landstreichern, Bauern, alten Frauen u. s. w. allerlei unheimliche Begegnungen hat und seltsame Redensarten austauscht, und gelangt in das Schloß Hjalmars, wo Niemand sie kennt, wo sie aber trotzdem sofort als Hofdame der Prinzessin Uglyane angestellt wird. An einem Abend entschließt sich Prinz Hjalmar dennoch, sich Uglyane zu nähern, und er gibt ihr zu diesem Zwecke ein Stelldichein im nächtigen Schloßparke, nicht ein geheimes, sondern so zu sagen ein amtliches, ein VerlobungsStelldichein, zu dem er mit Einwilligung seines Vaters, sie mit Zustimmung ihrer Mutter gehen soll. Maleine verhindert es, indem sie der sich prächtig kleidenden und schmückenden Uglyane sagt, Prinz Hjalmar sei in den Wald gegangen und werde nicht kommen. Sie geht dann selbst in den Schloßpark und gibt sich dem pünktlich erscheinenden Hjalmar zu erkennen. Er führt sie entzückt seinem Vater zu, sie wird von ihm als künftige Schwiegertochter begrüßt, von Hjalmars Verlobung mit Uglyane ist nicht mehr die Rede. Königin Anna beschließt, sich der Störe[] rin zu entledigen. Sie thut zuerst freundlich und weist ihr ein | schönes Zimmer im Schlosse an und in der Nacht zwingt sie den König, der sich lange sträubt, mit ihr in das Zimmer Maleines einzudringen, wo sie der Prinzessin eine Schnur um den Hals legt und sie erwürgt. Dabei geschehen Zeichen und Wunder: es stürmt und tobt, ein Komet erscheint, ein Schloßflügel stürzt ein, ein Wald geht in Flammen auf, Schwäne fallen verwundet aus der Luft herab u. s. w. Am nächsten Morgen wird die Leiche der Prinzessin Maleine entdeckt, König Hjalmar, den die Mordnacht des letzten Restes seines Verstandes beraubt hat, verräth das Geheimniß der Thäterschaft, Prinz Hjalmar erdolcht darauf Königin Anna und sticht sich selbst die Klinge ins Herz, worauf das Stück so schließt: „Die Amme. Kommen Sie, mein armer Herr. Der König. Mein Gott! Mein Gott! Sie wartet jetzt an den Staden der Hölle. Die Amme. Kommen Sie! Kommen Sie! Der König. Ist Jemand hier, der vor den Verwünschungen der Todten Angst hat? Angus. Ja, Herr, ich. Der König. Nun gut. Drücken Sie ihnen die Augen zu und gehen wir. Die Amme. Ja, ja, kommen Sie, kommen Sie. Der König. Ich komme, ich komme. O, o! Wie allein ich jetzt sein werde! Ich bin jetzt im Unglück bis über die Ohren. Mit  Jahren. Wo sind Sie? Die Amme. Hier, hier.

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Der König. Sind Sie mir nicht böse? Wir gehen frühstücken. Bekommen wir Salat? Ich möchte ein wenig Salat haben. Die Amme. Ja, ja, Sie sollen Salat haben. Der König. Ich weiß nicht warum, ich bin heute ein wenig traurig. Mein Gott! mein Gott! wie unglücklich doch die Todten aussehen! (Ab mit der Amme.) Angus. Noch eine solche Nacht und wir werden alle weiß sein. (Alle ab, mit Ausnahme der sieben Beguinen, die das Miserere anstimmen, indem sie die Leichen aufs Bett tragen. Die Glocken verstummen. Man hört draußen die Nachtigallen. Ein Hahn springt auf die Fensterbank und kräht. Ende.)“ |

 Wenn man dieses Stück zu lesen anfängt, stutzt man und fragt sich: „Warum

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kommt mir das Alles so bekannt vor? Woran erinnert das mich doch?“ Nach einigen Seiten hat man plötzlich Klarheit: das ganze ist eine Art Centon aus Shakespeare! Jede Gestalt, jeder Auftritt, jede einigermaßen wesentliche Redensart! König Hjalmar ist aus König Lear und Macbeth zusammengesetzt, Lear durch seinen Wahnsinn und die Art, wie er sich äußert, Macbeth durch seine Theilnahme am Morde der Prinzessin Maleine; Königin Anna ist aus Lady Macbeth und Königin Gertrude geflickt; Prinz Hjalmar ist unverkennbar Hamlet, mit seinen dunkeln Reden und tiefen Anspielungen und seinem innern Kampfe zwischen Sohnespflicht und Sittlichkeit; die Amme ist aus Romeo und Julie, Angus ist Horatio, Vanox und Stephano sind Rosenkranz und Güldenstern, mit Beimischungen von Marcellus und Bernardo (Hamlet), und alle Nebenfiguren: der Narr, der Arzt, die Höflinge u. s. w., tragen die Physiognomie Shakespearescher Figuren. Das Stück fängt folgendermaßen an: „Die Gärten des Schlosses. Stephano und Vanox treten auf. Vanox. Wie viel Uhr ist es? Stephano. Nach dem Monde muß es Mitternacht sein. Vanox. Ich glaube, es wird regnen.“ Man vergleiche damit den ersten Auftritt von Hamlet: „Ein freier Platz vor dem Schlosse. Francisco, Bernardo … Francisco. Ihr haltet ja sehr pünktlich eure Stunde? Bernardo. Just schlug es zwölf … Francisco … es ist bitter kalt und mir nicht wohl zu Muthe.“ u. s. w. So könnte man, wenn es der Mühe werth wäre, Auftritt nach Auftritt, Wort um Wort auf ein Vorbild in Shakespeare zurückführen. Man findet in der „Princesse Maleine“ der Reihe nach die Schilderung der furchtbaren Sturmnacht aus „Julius Cäsar“ (. Aufzug, . Auftritt), den Auftritt von „König Lear“ im Schlosse von Albany (. Aufzug, . Auftritt … „Lear. Nicht einen | Augenblick länger will ich [] auf das Mittagsmahl warten. Geh, schaff’s herbei“ u. s. w.), die Nachtszene aus „Macbeth“, wo Lady Macbeth ihren Gatten drängt, den Mord zu begehen, das dreimalige „o! o! o!“ Othellos, das hier Königin Anna ausstößt, die Gespräche Hamlets mit Horatio u. s. w. Den Tod der Prinzessin Maleine hat die Erinnerung zugleich an Desdemona und an die gehenkte Prinzessin Cordelia eingegeben. All das ist freilich aufs Tollste durcheinander gemengt und oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrt oder ins Gegentheil verkehrt, mit einiger Aufmerksamkeit findet man sich aber doch zurecht. Man denke sich ein Kind in dem Alter, in welchem es eben im Stande ist, dem Gespräche Erwachsener zu folgen, vor dem man „Hamlet“, „Lear“, „Macbeth“,

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„Romeo und Julie“ und „Richard II.“ gespielt oder vorgelesen hätte und das dann in die Kinderstube zurückkehren und seinen kleinen Geschwistern in seiner Weise erzählen würde, was es gehört hat. Man wird dann einen richtigen Begriff von der Beschaffenheit der „Princesse Maleine“ haben. Maeterlinck hat sich mit Shakespeare den Magen überfüllt und gibt die Stücke unverdaut, doch ekelhaft verändert und mit einem Anfange von fauliger Zersetzung wieder von sich. Das Bild ist unappetitlich, aber es ist allein geeignet, den geistigen Vorgang zu veranschaulichen, der sich beim sogenannten „Schaffen“ der Entarteten abspielt. Sie lesen gierig, empfangen in Folge ihrer Emotivität einen sehr starken Eindruck, dieser verfolgt sie mit der Gewalt einer Zwangsvorstellung und sie werden nicht ruhig, ehe sie das Gelesene, allerdings traurig parodirt, wieder herausbefördert haben. So gleichen ihre Werke den Barbaren-Münzen, welche römische und griechische Vorbilder nachahmen, jedoch verrathen, daß ihre Verfertiger die von ihnen nachgekritzelten Buchstaben und Sinnbilder nicht lesen konnten und nicht verstanden. | [] Maeterlinck’s „Princesse Maleine“ ist eine Shakespeare-Blüthenlese für Kinder oder Feuerländer. Aus den Gestalten des Briten sind Rollen für die Künstler des Affentheaters geworden. Sie erinnern noch ungefähr an die Haltungen und Bewegungen der Personen, die sie nachäffen, aber sie haben kein Menschenhirn im Kopfe und können keine zwei zusammenhängende, vernünftige Worte sagen. Hier einige Beispiele der Redeweise von Maeterlincks Personen: König Marcellus sucht (im ersten Aufzug) der Prinzessin Maleine ihre Liebe zu Hjalmar auszureden. „Marcellus. Nun, Maleine! Maleine. Sire? Marcellus. Du verstehst nicht? Maleine. Was, Sire? Marcellus. Du versprichst mir, Hjalmar zu vergessen? Maleine. Sire … Marcellus. Was sagst du? Du liebst noch Hjalmar? Maleine. Ja, Sire. Marcellus. „Ja, Sire!“ Ah Dämonen und Stürme! Sie gesteht das cynisch, sie wagt mir das schamlos zuzuschreien! Sie hat Hjalmar ein einzigesmal gesehen, während eines einzigen Nachmittags, und jetzt ist sie heißer als die Hölle! Godelive. Herr! … Marcellus. Schweigen Sie! „Ja, Sire!“ Und sie ist nicht fünfzehn Jahre alt! Es ist, um sie auf der Stelle todtzuschlagen! … Godelive. Herr! Die Amme. Kann sie nicht wie eine Andere lieben? Werden Sie sie unter Glas halten? Braucht man so mit einem Kinde zu schreien? Sie hat nichts Böses gethan. Marcellus. Ah! sie hat nichts Böses gethan. Vor Allem, schweigen Sie. Ich rede nicht zu Ihnen. Wahrscheinlich haben Sie wie eine Kupplerin… Godelive. Herr! Die Amme. Kupplerin! ich, eine Kupplerin! Marcellus. Werdet ihr mich endlich reden lassen? Geht! Geht alle beide! O, ich weiß, daß ihr mit einander einverstanden seid, daß jetzt die Ränke beginnen! Aber wartet … Maleine, du mußt vernünftig sein. Versprichst du, vernünftig zu sein?|

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Maleine. Ja, Sire. Marcellus. Ah! Siehst du wohl! du wirst also nicht mehr an diese Heirat denken? Maleine. Ja. Marcellus. Ja? Das heißt, du wirst Hjalmar vergessen? Maleine. Nein. Marcellus. Du verzichtest noch nicht auf Hjalmar? Maleine. Nein. Marcellus. Und wenn ich Sie dazu zwinge?“ U. s. w.

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Dann der Auftritt im zweiten Aufzuge, wo Maleine und Hjalmar im finstern Schloßpark zusammenkommen: 

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„Hjalmar. Kommen Sie. Maleine. Noch nicht. Hjalmar. Uglyane! Uglyane! (Er küßt sie. Der Wasserstrahl, vom Winde bewegt, neigt sich und fällt auf sie.) Maleine. O! Was haben Sie gethan? Hjalmar. Es ist der Wasserstrahl! Maleine. O! o! Hjalmar. Es ist der Wind! Maleine. Ich fürchte mich! Hjalmar. Denken Sie nicht mehr daran. Gehen wir etwas weiter. Denken wir nicht mehr daran. Ah! ah! ah! Ich bin ganz naß. Maleine. Hier weint Jemand. Hjalmar. Hier weint Jemand? Maleine. Ich fürchte mich. Hjalmar. Hören Sie denn nicht, daß das der Wind ist? Maleine. Aber was sind das für Augen auf den Bäumen? Hjalmar. Wo denn? O! das sind die Eulen, die zurückgekommen sind. Ich werde sie wegjagen. (Wirft Erde nach ihnen.) Weg! Weg! Maleine. Da ist eine, die nicht weggehen will. Hjalmar. Wo ist sie? Maleine. Auf der Trauerweide. Hjalmar. Weg! Maleine. Sie geht nicht weg. Hjalmar. Weg! Weg! (Wirft Erde nach ihr.) Maleine. O! Sie haben Erde auf mich geworfen. Hjalmar. Ich habe Erde auf Sie geworfen? | Maleine. Ja. Sie ist auf mich gefallen. Hjalmar. O, meine arme Uglyane. Maleine. Ich fürchte mich. Hjalmar. Sie fürchten sich bei mir? Maleine. Es sind da Flammen zwischen den Bäumen. Hjalmar. Das ist nichts. Das sind Blitze. Es ist heute sehr heiß gewesen. Maleine. Ich fürchte mich! O, was bewegt die Erde um uns herum? Hjalmar. Es ist nichts. Es ist ein Maulwurf, ein armer kleiner Maulwurf, der arbeitet.“ (Der Maulwurf aus Hamlet! Grüßen wir diesen Bekannten!) „Maleine. Ich fürchte mich.“ (Nach einigen weiteren Wechselreden in gleichem Stil.)

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„Hjalmar. Woran denken Sie? Maleine. Ich bin traurig. Hjalmar. Sie sind traurig? Woran denken Sie, Uglyane? Maleine. Ich denke an die Prinzessin Maleine. Hjalmar. Wie sagen Sie? Maleine. Ich denke an die Prinzessin Maleine. Hjalmar. Sie kennen die Prinzessin Maleine? Maleine. Ich bin die Prinzessin Maleine. Hjalmar. Was? Maleine Ich bin die Prinzessin Maleine. Hjalmar. Sie sind nicht Uglyane? Maleine. Ich bin die Prinzessin Maleine. Hjalmar. Sie sind die Prinzessin Maleine! Sie sind die Prinzessin Maleine! Sie ist ja aber todt! Maleine. Ich bin die Prinzessin Maleine!“

Hat man jemals in irgend einer Dichtung beider Welten vollkommenere Idioten gesehen? Diese „ah“ und „o“, dieses Nichtverstehen der einfachsten Bemerkungen, dieses vier- oder fünfmalige Wiederholen derselben blödsinnigen Redensarten geben das denkbar treueste klinische Bild unheilbarer Trottelei. Gerade diese Stellen werden von Maeterlincks Bewunderern am meisten gerühmt. Das soll Alles in tiefer künstlerischer Absicht gewollt sein. Ein gesunder Leser wird sich das nicht | [] weismachen lassen. Die Maeterlinckschen Quatschköpfe sagen nichts, weil sie nichts zu sagen haben. Ihr Urheber hat ihnen keine Gedanken in die hohlen Schädel legen können, weil er selbst keine besitzt. Es sind keine denkende und sprechende Menschen, die sich in seinem Stücke bewegen, sondern Kaulquappen oder Nacktschnecken, die erheblich dümmer sind als abgerichtete Flöhe, welche man auf Jahrmärkten zeigt. Alles ist übrigens nicht Shakespeare-Nachträumerei in der „Princesse Maleine.“ Die „sieben Beguinen“ z. B. gehören Maeterlinck. Sie sind eine erstaunliche Erfindung. Beständig sind sie in einem wahnsinnigen Gänsemarsch durch das Stück begriffen, schlängeln sich psalmodirend durch alle Zimmer und Gänge des Königsschlosses, durch den Hof, durch den Park, durch den Wald, biegen mitten in den Auftritten unversehens um die Ecke, traben über die Bühne und auf der andern Seite wieder hinaus, ohne daß man je versteht, woher sie kommen, wohin sie gehen, weshalb sie durch die Szene marschiren. Sie sind eine lebendig gewordene Zwangsvorstellung, die sich unabweisbar in alle Vorgänge des Stückes mischt. Auch sonst finden wir hier alle geistigen Tics wieder, die wir in den „Treibhäusern“ bemerkt haben. Die Prinzessin Maleine selbst ist die Verkörperung der hungernden, kranken, verirrten, über die Wiesen gehenden Prinzessinen, die in den Gedichten herumspuken und unverkennbar aus Swinburnes Ballade von der Königstochter stammen. Auch die Kanäle spielen ihre Rolle (S. : „Man war plötzlich wie in einem großen Kanal.“ S. : „Wir sahen uns die Windmühlen den Kanal entlang an“, u. s. w.) und von Kranken und Krankheit wird fast auf jeder Seite gesprochen. (S. : Anna. Ich bin auch krank gewesen. Der König. Jeder ist krank, wenn er hierher kommt. Hjalmar. Es sind viel Kranke im Dorfe; u. s. w.)

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Außer der „Princesse Maleine“ hat Maeterlinck noch einige andere Stücke geschrieben. Das eine, „L’Intruse“ (Der | Eindringling), behandelt den Gedanken, [] daß der Tod in ein Haus, wo eine Schwerkranke liegt, gegen Mitternacht eindringt, daß er hörbar durch den Garten schreitet, mit der Sense auf dem Rasen vor dem Schloß zuerst einige Mähübungen vornimmt, dann an die Thür klopft, diese hierauf offen drückt, da man ihn nicht einlassen will, und sich sein Opfer holt. In einem zweiten, „Les Aveugles“ (Die Blinden), wird gezeigt, wie eine Anzahl Blinder, die Insassen einer Blindenanstalt, von einem alten Priester in einen Wald geführt wurden, wie der Priester plötzlich lautlos starb, wie die Blinden dies anfangs nicht merkten, endlich aber unruhig wurden, um sich tappten, den bereits erkalteten Leichnam zu fassen bekamen, durch Umfrage feststellten, daß der Todte ihr Führer war, und nun in furchtbarster Verzweiflung den Untergang durch Hunger und Kälte erwarten. Denn diese schöne Geschichte geht auf einer wilden Insel hoch im Norden vor sich und zwischen dem Walde und der Anstalt liegt ein Fluß, über den nur eine Brücke führt, die die Blinden ohne sehenden Führer nicht finden können. Daß man in der Anstalt, wo es auch, wie ausdrücklich erwähnt wird, pflegende Nonnen gibt, das lange Ausbleiben sämmtlicher Blinden bemerken und Jemand ausschicken werde, um nach ihnen zu suchen, nimmt weder Maeterlinck noch irgend einer seiner untröstlichen Blinden als möglich an. Der Leser erwartet wohl nicht, daß ich die Verrücktheit der Voraussetzungen dieser beiden Stücke erst noch eingehend nachweise oder daß ich nach diesen Proben auch noch zwei weitere Stücke von Maeterlinck, „Les sept Princesses“ („Die sieben Prinzessinen“ — natürlich!) und „Pelleas und Melisande“, erzähle und zergliedere. „Der Eindringling“ ist in viele Sprachen übersetzt und in mehreren Städten aufgeführt worden. In Wien hat man über diesen Blödsinn gelacht. In Paris und London hat man den Kopf geschüttelt. In Kopenhagen war ein Publikum | von [] Schätzern der „Zukunfts“-Dichtung gerührt, entzückt und begeistert. Das ist für die Zeithysterie ebenso bezeichnend wie das Stück selbst. Ueberaus merkwürdig und lehrreich ist auch die Geschichte der Berühmtheit Maeterlincks. Dieser mitleiderregende Geisteskrüppel graste seit Jahren gänzlich unbemerkt in seiner Ecke in Gent, nicht einmal die belgischen Symbolisten, welche die französischen noch übertrumpfen, schenkten ihm die geringste Aufmerksamkeit und im großen Publikum hatte Niemand eine Ahnung von seinem Dasein. Da fielen im Jahre  eines Tages seine Schriften zufällig dem französischen Romanschriftsteller Octave Mirbeau in die Hand. Er las sie und sei es, daß er sich über seine Zeitgenossen in großem Stil lustig machen wollte, sei es, daß er irgend einer krankhaften Zwangs-Anregung (so möchte ich im Anschluß an Westphals „Zwangs-Vorstellung“ das Wort „Impulsion“ verdeutschen) gehorchte, genug er veröffentlichte im „Figaro“ einen Artikel von unerhörtem Ueberschwang, in welchem er Maeterlinck für den strahlendsten, erhabensten, erschütterndsten Dichter erklärte, den die letzten drei Jahrhunderte hervorgebracht haben, und ihm einen

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Zweites Buch. Der Mysticismus.

Platz neben, ja über Shakespeare anwies. Und nun erlebte die Welt eins der großartigsten und beweiskräftigsten Beispiele der Suggestion. Die hunderttausend reichen und vornehmen Leute, zu denen der „Figaro“ spricht, gingen ohne Weiteres auf die Anschauungen ein, die Mirbeau ihnen gebieterisch eingegeben hatte. Sie sahen sofort Maeterlinck mit den Augen Mirbeaus. Sie fanden in ihm alle Schönheiten, die Mirbeau in ihm wahrzunehmen behauptete. Andersens Märchen von den unsichtbaren Kleidern des Königs wiederholte sich Zug für Zug. Sie waren nicht da, aber der ganze Hof sah sie. Die einen bildeten sich wirklich ein, diese abwesenden Prachtgewänder zu sehen, die Anderen sahen sie nicht, rieben sich aber so lange [] die Augen, bis sie wenigstens zweifelten, ob sie sie sahen oder | nicht sahen, noch Andere konnten sich selbst nichts vormachen, wagten aber nicht, den Uebrigen zu widersprechen. So wurde Maeterlinck von Mirbeaus Gnaden mit einem Schlag ein großer Dichter, und zwar ein „Zukunfts“-Dichter. Mirbeau hatte auch Proben gegeben, die einem nicht hysterischen, der Suggestion nicht widerstandlos preisgegebenen Leser vollkommen genügen konnten, um Maeterlinck als das zu erkennen, was er ist, nämlich als einen geistesschwachen Nachlaller, aber gerade diese Proben entrissen dem „Figaro“-Publikum Schreie der Bewunderung, denn Mirbeau hatte sie als Schönheiten ersten Ranges bezeichnet und man weiß, daß eine entschiedene Versicherung genügt, um Hypnotisirte zu bestimmen, rohe Kartoffeln als Orangen zu essen und sich selbst für Hunde oder andere Vierfüßler zu halten. Allenthalben waren rasch Apostel zur Hand, die den neuen Meister verkündeten, deuteten, priesen. Unter den Gigerln der Kritik, die ihren Ehrgeiz darein setzen, die allerletzten Moden, die Mode von morgen, wie in der Farbe und Form der Halsbinden, so in den Erscheinungen des Schriftthums, als die ersten anzunehmen, ja sie womöglich vorzuahnen, unter diesen kritischen Gigerln entstand ein wahrer Wetteifer, einander in der Verhimmelung Maeterlincks zu überbieten. Es wurde schon gesagt, daß von seiner „Princesse Maleine“ seit Mirbeaus Suggestion zehn Auflagen abgesetzt, daß seine „Blinden“ und sein „Eindringling“ an verschiedenen Orten aufgeführt wurden, und ich füge hinzu, daß sich selbst in Deutschland schon ein hysterischer Blaustrumpf gefunden hat, der in einem großen Berliner Blatte mit herzbrechendem Ernst die Herrlichkeit Maeterlincks predigte. Ob das Gewäsch dieser Modenärrin, eine Art zweiten Aufgusses der Mirbeauschen Suggestion, auf die deutschen Leser, mit Ausnahme einiger Pfleglinge von Nervenheilanstalten und Irrenhäusern, Wirkung gemacht hat, weiß ich allerdings nicht zu sagen. | [] Wir haben nun die verschiedenen Formen kennen gelernt, unter denen der Entartungs-Mysticismus im zeitgenössischen Schriftthum auftritt. Die Magie eines Guaita und Papus, der Androgyne eines Péladan, die Anxiomanie eines Rollinat, die blödsinnige Faselei eines Maeterlinck sind wohl als seine äußersten Verirrungen anzusehen. Ich kann mir wenigstens nicht denken, daß der Mysticismus über diese Grenzpunkte auch nur um Haaresbreite hinausgehen könnte, ohne selbst von

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Parodieformen der Mystik.

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allen noch einigermaßen zurechnungsfähigen Hysterikern, Nachbetern und ModeSnobs als tiefe und vollständige Umnachtung des Geistes erkannt zu werden. 

Ende des ersten Bandes.

Entartung. Zweiter Band

Entartung.

Von Max Nordau. Zweiter Band.



Berlin NW. Verlag von Carl Duncker. .|

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Entartung. Zweiter Band

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Entartung. Zweiter Band

Inhalt. Drittes Buch. Die Ich-Sucht. I. Psychologie der Ich-Sucht II. Parnassier und Diaboliker .  III. Decadenten und Aestheten IV. Der Ibsenismus . . . . . . . . V. Friedrich Nietzsche . . . . . .

[III]

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Viertes Buch. Der Realismus. I. Zola und die Zolaschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  II. Die „jungdeutschen“ Nachäffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert. I. Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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[IV]

Entartung. Zweiter Band

Druck von G. Bernstein in Berlin.|

Entartung. Zweiter Band.

Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Psychologie der Ich-Sucht.

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I. Psychologie der Ich-Sucht.



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Wie verschieden auch Individualitäten gleich Wagner und Tolstoi, Rossetti und Verlaine auf den ersten Blick scheinen mögen, wir haben doch bei allen gewisse Züge: das verschwommene oder unzusammenhängende Denken, die Tyrannei der Ideen-Assoziation, das Auftreten von Zwangsvorstellungen, die erotische Erregbarkeit, die Glaubens-Schwärmerei, angetroffen, die sie als Mitglieder einer und derselben Geistesfamilie erkennen lassen und es rechtfertigen, sie in eine einzige Gruppe, die der Mystiker, zu vereinigen. Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß nicht blos die Mystiker unter den Entarteten, sondern im Grunde alle Degenerirten, welcher Art sie auch seien, aus demselben Teig geknetet sind. Sie zeigen alle dieselben Lücken, Ungleichmäßigkeiten und Mißbildungen der Geistesfähigkeiten, dieselben seelischen und leiblichen Stigmate. Wer also angesichts einer Anzahl Entarteter bei den einen blos die Mystik des Denkens, bei den anderen blos die erotische Emotivität, oder blos die verworrene, unfruchtbare Nächstenliebe und Weltverbesserungssucht, oder blos den Zwangsantrieb zu verbrecherischen Handlungen u. s. w. hervorheben und als ihre ausschließliche Besonderheit ansprechen wollte, der würde offenbar nur eine Seite der Erscheinung sehen und die anderen außer Rechnung lassen. Das eine oder das andere Entartungs-Stigma mag in | einem gegebenen [] Falle besonders auffallend sichtbar sein, aber wenn man gehörig sucht, wird man daneben auch alle übrigen, wenigsten angedeutet, finden. Es war das große Verdienst des berühmten französischen Irrenarztes Esquirol, erkannt zu haben, daß es Formen der Geistesstörung gibt, in denen das Denken scheinbar vollständig vernünftig vor sich geht, inmitten der verständigen, folgerichtigen Hirnthätigkeit aber einzelne verrückte Vorstellungen gleich erratischen Blöcken erscheinen, die den Betreffenden als geisteskrank erkennen lassen. Allein Esquirol beging den Fehler, nicht tief genug zu graben. Seine Beobachtung haftete zu sehr an der Oberfläche. Nur darum konnte er dazu gelangen, in die Wissenschaft den Begriff der „Monomanie“ einzuführen, das heißt des wohlumschriebenen Theil-Wahnsinns, der vereinzelten fixen Idee, neben der das ganze übrige Geistesleben gesund verlaufen soll. Das war ein Irrthum. Es gibt keine Monomanie. Esquirols eigener Schüler, Falret der Aeltere, hat dies bald genug nachgewiesen, und unser Westphal, unbeschadet seiner sonstigen Verdienste, stand nicht entfernt auf der Höhe der Forschung, als er ein halbes Jahrhundert nach Esquirol, dreißig Jahre nach Falret, noch die „Platzscheu“ oder Agoraphobie als eine besondere Geisteskrankheit, als eine Monomanie, beschrieb. Die scheinbare Monomanie ist in Wirklichkeit das Anzeichen einer tiefen organischen Zerrüttung, die sich nie in einer einzigen Narrheit kundgibt. Eine fixe Idee besteht nie für sich allein. Sie ist immer

 Lisandro Reyes hat dies in seiner brauchbaren Studie über die Entarteten (Contribution à  l’étude de l’état mental chez les enfants dégénérés, Paris, ) gut gesehen. Er stellt (S. ) ausdrücklich fest, daß bei den entarteten Kindern eine wirkliche, ausschließliche, „Monomanie“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

auch von anderen Unregelmäßigkeiten des Denkens | und Fühlens begleitet, die aber freilich bei flüchtigem Hinblick nicht gleich eben so deutlich bemerkt werden mögen wie die besonders stark entwickelte Wahnvorstellung. Die neuere klinische Beobachtung hat eine lange Reihe derartiger fixer Ideen oder „Monomanien“ entdeckt und die Thatsache erkannt, daß sie allesammt die Folge einer Grund-Verfassung des Organismus, nämlich seiner Entartung, sind. Es war unnöthig, daß Magnan jedem Entartungs-Anzeichen einen besondern Namen gab und die beinahe drollig wirkende Schaar der „Phobien“ und „Manien“ aufmarschiren ließ, die „Agoraphobie“ (Platzscheu), „Klaustrophobie“ (Scheu der geschlossenen Räume), „Rupophobie“ (Schmutzscheu), „Iophobie“ (Giftscheu), „Nosophobie“ (Krankheitsscheu), „Aichmophobie“ (Scheu vor spitzen Dingen), „Belenophobie“ (Nadelscheu), „Kremnophobie“ (Abgrundscheu), „Trichophobie“ (Haarscheu), die „Onomatomanie“ (Wort- oder Namen-Wahnsinn), „Pyromanie“ (Brand-Wahnsinn), „Kleptomanie“ (Stehl-Wahnsinn), „Dipsomanie“ (Sauf-Wahnsinn), „Erotomanie“ (Liebes-Wahnsinn), „Arithmomanie“ (Zähl-Wahnsinn), „Oniomanie“ (Kauf-Wahnsinn) u.s.w. Man könnte diese Liste nach Belieben verlängern und sie ungefähr mit allen Wurzeln des griechischen Wörterbuchs bereichern. Das ist einfach eine philologisch-medizinische Spielerei. Keine der von Magnan und seinen Schülern entdeckten, beschriebenen und mit einem klangvollen griechischen Eigennamen versehenen Störungen ist etwas Selbstständiges, keine tritt vereinzelt auf, und Morel hatte Recht, als er alle diese bunten Kundgebungen krankhafter Hirnthätigkeit als unwesentlich vernachlässigte und sich an die eine Haupterscheinung hielt, die allen „Phobien“ und „Manien“ zu Grunde liegt: die große Emotivität der Entar[] teten. Hätte er zur Emotivität oder übergroßen Erreg-|barkeit noch die Hirnschwäche hinzugefügt, welche die Schwäche der Wahrnehmung, des Willens, des Gedächtnisses, des Urtheils, die Unaufmerksamkeit, die Unstetigkeit in sich schließt, so hätte er das Wesen der Entartung erschöpfend gekennzeichnet und vielleicht verhindert, daß die Irrenheilkunde mit einer Menge unnöthiger und verwirrender Bezeichnungen vollgekramt werde. Kowalewski kam der Wahrheit viel näher, als er in seiner bekannten Studie alle Geistesstörungen der Entarteten als eine einheitliche Krankheit darstellte, die nur verschiedene Stärkegrade erkennen lasse und in ihrer mildesten Form die Neurasthenie, in der schwereren ZwangsAntriebe und unsinnige Angstgefühle, in der schwersten den Grübel- oder Zweifel-Wahnsinn gebe. In diesem Rahmen lassen sich alle einzelnen „Manien“ und „Phobien“ unterbringen, von denen gegenwärtig das psychiatrische Schriftthum wimmelt. []

nicht vorkommt. „Eine einzige delirirende Idee mag bei ihnen eine Zeit lang bestehen, meistens aber wird sie plötzlich durch eine neue Vorstellung ersetzt.“  Legrain, Du délire chez les dégénérés, Paris, , drückt dies blos mit etwas anderen Worten aus, wenn er (S. ) sagt: „Zwangs-Vorstellung, Zwangs-Antrieb, das ist es, was man am Grunde jeder Monomanie antrifft.“  Analysirt im Journal of Mental Science, Januar .

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Psychologie der Ich-Sucht.

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Aber wenn man es ablehnen muß, aus jedem Anzeichen, in welchem sich  die Grundstörung, nämlich die Entartung, kundgibt, eine besondere Krankheit zu

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machen, so ist andererseits doch auch nicht zu verkennen, daß bei manchen Entarteten eine Gruppe von Krankheits-Erscheinungen entschieden vorwiegt, ohne daß darum die übrigen bei ihnen fehlen. Es ist also zulässig, unter ihnen gewisse Haupt-Gattungen zu unterscheiden, und zwar neben den Mystikern, deren hervorragendste Vertreter in der zeitgenössischen Kunst und Dichtung wir kennen gelernt haben, die Ichsüchtigen. Es ist keine Ziererei, daß ich mich dieses Wortes statt der längst gebräuchlichen „Selbstsucht“ und „Selbstsüchtige“ bediene. Die Selbstsucht ist eine Unliebenswürdigkeit, ein Erziehungsfehler, vielleicht ein CharakterMangel, ein Beweis ungenügend entwickelter Sittlichkeit, aber sie ist keine Krankheit. Der Selbstsüchtige ist vollkommen im Stande, sich im Leben zu führen und seinen Platz in der Ge-|sellschaft zu behaupten, er ist dazu, wenn es sich blos um [] die Erreichung niedriger Ziele handelt, häufig sogar fähiger als der höhere und edlere Mensch, der sich bis zur Selbstlosigkeit emporgerungen hat. Der Ichsüchtige dagegen ist ein Kranker, der die Dinge nicht sieht, wie sie sind, der die Welt nicht begreift und sich nicht richtig zu ihr zu stellen weiß. Auch die Franzosen machen diesen Unterschied und bezeichnen die Ichsucht mit dem aus dem Englischen genommenen neuen Worte „Egotisme“, das von den sorgfältigeren Schriftstellern niemals mit „Egoisme“ Selbstsucht, verwechselt wird. Natürlich muß der Leser, wenn ihm die geistige Physiognomie der Ichsüchtigen gezeigt wird, immer daran festhalten, daß zwar die Hauptvertreter dieser und der mystischen Gattung scharf genug gekennzeichnet, die Grenzen der letztern aber schwimmend sind. Die Ichsüchtigen sind einerseits gleichzeitig Mystiker, Erotiker, manchmal sogar, scheinbar paradoxal, angebliche Menschenfreunde, und bei den Mystikern treffen wir andererseits oft genug eine stark entwickelte Ichsucht an. Es gibt einzelne Menschen-Erscheinungen unter den Entarteten, bei denen alle Störungen so gleichmäßig auftreten, daß man in Zweifel sein kann, ob man sie richtiger den Mystikern oder den Ichsüchtigen zuzählen würde. In der Regel wird aber die Einordnung in die eine oder andere Klasse keine allzugroße Schwierigkeit bieten. Daß der Egoismus ein hervorstechender Charakterzug der Entarteten ist, wird von allen Beobachtern einhellig festgestellt. „Der Degenerirte kennt nichts als sich und nimmt an nichts Antheil als an sich selbst“, heißt es bei Roubinovitch. „Er hat nur eine einzige Sorge: seine Begierden zu befriedigen,“ sagt Legrain. Diese Eigenthümlichkeit schlingt vom höchsten bis | zum tiefsten Entarteten, vom wahn- [] sinnigen Genie bis zum schwachsinnigen Geisteskrüppel, ein verknüpfendes Band. „Alle wahnsinnigen Genies,“ bemerkt Lombroso, „sind sehr von dem eigenen Ich

 J. Roubinovitch, Hystérie mâle et dégénérescence, Paris, . S. .  Legrain, a. a. O. S. .  Lombroso, Genie und Irrsinn. Deutsche Ausgabe. (Reclams Universal-Bibliothek.) S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

eingenommen und damit beschäftigt,“ und von ihren Gegenfüßlern, den Imbecillen, schreibt Sollier: „Unbändig, wie sie sind, gehorchen sie blos der Furcht und sind oft gewaltthätig, namentlich gegen die, die schwächer sind als sie, dagegen unterwürfig gegen die Stärkeren. Sie sind gefühllos, im höchsten Grade egoistisch, Aufschneider.“ Der Kliniker begnügt sich mit der Anführung der Thatsache dieses kennzeichnenden Egoismus, wir aber wollen auch untersuchen, welches seine organischen Wurzeln sind, weshalb der Entartete mehr als egoistisch, weshalb er ichsüchtig sein muß und nicht anders sein kann. Um zu begreifen, wie das krankhaft übertriebene, häufig bis zum Größenwahn gesteigerte Ich-Bewußtsein entsteht, müssen wir uns gegenwärtig halten, wie das gesunde Ich-Bewußtsein sich bildet. Es kann natürlich nicht meine Absicht sein, hier die ganze Erkenntniß-Theorie zu behandeln, nur die wichtigsten Ergebnisse dieser heute bereits so hoch entwickelten Wissenschaft können an dieser Stelle Platz finden. Es ist ein philosophischer Gemeinplatz geworden, daß wir unmittelbare Kenntniß nur von Veränderungen erlangen, die in unserm eigenen Organismus vor sich gehen. Wenn wir trotzdem im Stande sind, aus Wahrnehmungen, die wir einzig und allein aus unserm Innern schöpfen, ein Bild der uns umgebenden Außenwelt zu gestalten, so ist es, weil wir die von uns an unserm Organismus wahrgenomme[] nen Veränderungen | auf Ursachen zurückführen, welche außerhalb desselben thätig sind, und aus der Art und Stärke der in unserm Organismus vorgehenden Veränderungen Schlüsse auf die Art und Stärke der sie veranlassenden äußeren Vorgänge ziehen. Wie wir dazu kommen, überhaupt anzunehmen, daß es etwas Aeußeres gibt und daß die allein von uns wahrgenommenen Veränderungen an unserm Organismus Ursachen haben können, die nicht im Organismus selbst liegen, ist eine Frage, über welche die Metaphysik sich seit Jahrhunderten den Kopf zerbricht. Eine Antwort hat sie so wenig gefunden, daß sie, um mit der Schwierigkeit doch irgend wie fertig zu werden, einfach die Frage selbst geleugnet und sich zu der Behauptung verstiegen hat, das Ich habe thatsächlich keine Kenntniß von einem Nicht-Ich, von einer Außenwelt, und könne sie auch nicht haben, weil es eine Außenwelt überhaupt nicht gebe, vielmehr das, was wir so nennen, eine Schöpfung unseres Geistes und nur in unserm Denken als Vorstellung, nicht aber außerhalb unseres Ichs als Wirklichkeit vorhanden sei. Es ist bezeichnend für die einlullende Wirkung, welche der Klang eines Wortes auf den Menschengeist übt, daß dieses völlig sinnlose Geschwätz, glatt, wohlgefügt und zum philosophischen System des Idealismus ausgebildet, beinahe acht Menschenalter hindurch die meisten Berufs-Metaphysiker von Berkeley bis Fichte, Schelling und Hegel vollkommen befriedigt hat. Diese weisen Männer wiederholten

 Dr. Paul Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile. Paris, . S. .

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mit überzeugter Miene die Lehre vom Nichtbestehen des Nicht-Ichs und es störte sie nicht, daß sie selbst in all ihrem Thun fortwährend ihrem eigenen Wortschwall widersprachen, daß sie selbst von der Geburt bis zum Tode unausgesetzt Handlungen vornahmen, welche gänzlich sinnlos waren, wenn es keine objektive Außenwelt gab, daß sie also selbst ihr System als Wind und Schatten, als ein kindisches Spiel mit begriffleeren Worten erkannten. Und der folgerichtigste unter diesen ernsthaften Faselhänsen, Bischof Berkeley, merkte | nicht einmal, daß er um den [] Preis des völligen Verzichts auf den gesunden Menschenverstand immer noch nicht die gesuchte Antwort auf die Grundfrage der Erkenntniß erlangt hat, denn sein dogmatischer Idealismus leugnet zwar die Wirklichkeit der Außenwelt, gibt aber leichtsinnig gedankenlos zu, daß es außer ihm, Berkeley, selbst noch andere Geister und sogar einen Weltgeist gebe. Also selbst nach ihm ist das Ich nicht Alles, es gibt außerhalb des Ichs noch Etwas, ein Nicht-Ich, eine Außenwelt besteht also, wäre es auch nur in der Form von unstofflichen Geistern. Damit ist jedoch wieder die Frage gegeben: wie kommt Berkeleys Ich dazu, das Vorhandensein von irgend Etwas außerhalb seiner selbst, das Bestehen eines Nicht-Ichs anzunehmen? Diese Frage war aber zu beantworten und trotz der Opferung der ganzen Erscheinungswelt läßt Berkeleys Idealismus, ebenso wie der Idealismus eines jeden seiner Nachtreter, sie ganz und gar ungelöst. Die Metaphysik konnte keine Antwort auf die Frage finden, weil diese so, wie sie von jener gestellt wird, eben nicht zu beantworten ist. Die wissenschaftliche Psychologie, das heißt die Psycho-Physiologie, begegnet nicht denselben Schwierigkeiten. Sie nimmt nicht das fertige, seiner selbst sich klar bewußte Ich des erwachsenen Menschen, das sich als bestimmten Gegensatz zum Nicht-Ich, zur ganzen Außenwelt, fühlt, sondern sie geht auf die Anfänge dieses Ichs zurück, sie untersucht, auf welche Weise es entsteht, und da findet sie denn, daß zu einer Zeit, da die Vorstellung vom Vorhandensein eines Nicht-Ichs wirklich unerklärlich wäre, diese Vorstellung eben in der That gar nicht besteht und daß dann, wenn wir sie antreffen, das Ich bereits solche Erfahrungen erworben hat, welche es durchaus verständlich machen, wie es zur Bildung der Vorstellung eines Nicht-Ichs gelangen konnte und mußte. Daß ein gewisses Bewußtsein die Begleiterscheinung jeder Rückwirkung des Protoplasmas auf äußere Einwirkungen, also | eine Grundeigenschaft des lebenden [] Stoffes ist, dürfen wir annehmen. Selbst die allereinfachsten einzelligen Lebewesen bewegen sich mit unverkennbarer Absicht nach gewissen Zielen hin und von gewissen Punkten weg, sie unterscheiden zwischen Nahrung und solchen Stoffen, die zur Ernährung untauglich sind, sie haben also eine Art Willen und Urtheil und diese beiden Tätigkeiten setzen Bewußtsein voraus. Freilich, wie dieses in dem

 Siehe hierüber die bemerkenswerthe Abhandlung von A. Binet „Ueber das Seelenleben des Kleinlebewesen“, enthalten in dem Sammelbande: „Le fétichisme dans l’amour (études de  psychologie expérimentale). La vie psychique des micro-organismes, l’intensité des images mentales, le problème hypnotique, note sur l’écriture hystérique.“ Paris, . Kurz vor Binet hat Verworn in seinen „Psycho-physiologischen Protisten-Studien“, Jena, , denselben Gegenstand sehr verdienstlich und bahnbrechend behandelt.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

noch nicht einmal zu Nervenzellen differenzirten Protoplasma sitzende Bewußtsein beschaffen sein mag, davon kann ein Menschengeist sich unmöglich ein deutliches Bild machen. Nur das eine können wir bestimmt voraussetzen, daß in dem dämmernden Bewußtsein eines einzelligen Lebewesens die Vorstellung eines Ichs und eines ihm entgegengesetzten Nicht-Ichs nicht vorhanden ist. Die Zelle fühlt Veränderungen in sich selbst und diese Veränderungen rufen nach bestimmten biochemischen oder biomechanischen Gesetzen andere Veränderungen hervor; sie empfängt einen Eindruck und antwortet auf ihn mit einer Bewegung; aber sie macht sich sicher keine Vorstellung davon, daß der Eindruck von einem Vorgang in der Außenwelt verursacht ist und daß ihre Bewegung auf die Außenwelt zurückwirkt. Selbst bei sehr viel höher stehenden, in der Differenzirung erheblich weiter vorgeschrittenen Thieren ist ein eigentliches Ich-Bewußtsein undenkbar. Wie soll ein Arm eines Seesterns, eine Knospe eines Mantelthiers, etwa des Botrylus, die [] eine Hälfte eines Doppelthiers (Diplozoon), ein Röhrchen einer Seenelke | oder eines andern Korallen-Polypen sich als ein besonderes Ich fühlen, da es zwar ein Thier für sich, aber zugleich der Theil eines zusammengesetzten Thiers, einer Thierkolonie, ist und sowohl Eindrücke, die es unmittelbar treffen, als auch solche, die ein Genosse derselben Kolonie erfährt, wahrnehmen muß? Oder können gewisse große Würmer, z. B. manche Eunice-Arten, eine Vorstellung von ihrem Ich haben, da sie ihre eigenen Körpertheile nicht als Bestandtheile ihrer Individualität fühlen und erkennen und ihren Schwanz anfressen, wenn er durch einen Zufall der Ringelung vor ihren Mund zu liegen kommt? Das Ich-Bewußtsein ist nicht gleichbedeutend mit dem Bewußtsein überhaupt. Während dieses wohl dem ganzen lebenden Stoffe zukommt, ist jenes das Ergebniß des Zusammenwirkens hochdifferenzirten und in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältniß gebrachten (hierarchisirten) Nervengewebes. Es tritt sehr spät in der Entwickelungsreihe der Organismen auf und ist bis jetzt die höchste LebensErscheinung, von der wir Kenntniß haben. Es entsteht allmälig aus den Erfahrungen, welche der Organismus im Laufe der natürlichen Thätigkeit seiner Bestandtheile gewinnt. Jede einzelne unserer Nervenganglien, ja jede einzelne Nervenfaser, und selbst jede Zelle, hat ein untergeordnetes, schwaches Bewußtsein von dem, was in ihr vorgeht. Da das ganze Nervensystem unseres Körpers unter sich mannigfach zusammenhängt, so nimmt es in seiner Gesammtheit von allen Erregungen und dem sie begleitenden Bewußtsein seiner Theile etwas wahr. Auf diese Weise entsteht an der Hauptstelle, wo alle Nervenbahnen des ganzen Körpers einmünden, im Gehirn, ein aus zahllosen Theilbewußtsein zusammengesetztes Gesammtbewußtsein, das aber selbstverständlich nur die Vorgänge im eigenen Organismus zum Inhalte hat. Im Laufe seines Daseins, und zwar sehr früh, unterscheidet das Bewußtsein zwei gänzlich verschiedene Arten von Wahrnehmungen. Die einen treten unvorbereitet auf, die anderen in Begleitung von anderen Erscheinungen, die [] ihnen vorhergehen. | Den Erregungen der Sinne geht keine Willenshandlung vorher, wohl aber jeder bewußten Bewegung; ehe unsere Sinne etwas wahrnehmen,

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hat unser Bewußtsein keine Vorstellung von dem, was sie wahrnehmen werden; ehe unsere Muskeln eine Bewegung ausführen, wird im Gehirn oder Rückenmark (wenn es sich um eine Reflexbewegung handelt) ein Bild dieser Bewegung ausgearbeitet, es ist also vorher eine Vorstellung von der Bewegung vorhanden, welche die Muskeln ausführen werden. Wir empfinden deutlich, daß die unmittelbare Ursache der Bewegung in uns selbst liegt, dagegen haben wir eine ähnliche Empfindung nicht von den Sinneseindrücken. Wir erfahren ferner durch das Muskelgefühl die Verwirklichung der von unserm Bewußtsein ausgearbeiteten Bewegungsvorstellungen, dagegen erfahren wir nichts derartiges, wenn wir eine Bewegungsvorstellung ausarbeiten, die nicht ausschließlich unsere eigenen Muskeln zum Gegenstande hat. Wir wollen z. B. den Arm heben. Unser Bewußtsein arbeitet diese Vorstellung aus, die Armmuskeln gehorchen und das Bewußtsein erhält die Rückmeldung, daß die Vorstellung von den Armmuskeln verwirklicht wurde. Nun wollen wir etwa mit dem Arm einen Stein heben oder schleudern. Unser Bewußtsein arbeitet eine Bewegungsvorstellung aus, in welcher unsere eigenen Muskeln und der Stein enthalten sind. Wenn wir die gewollte und gedachte Bewegung ausführen, so empfängt unser Bewußtsein wohl von den in Thätigkeit gesetzten Muskeln Empfindungen, nicht aber von dem Stein. Es nimmt also Bewegungen wahr, die von Muskelempfindungen begleitet sind, und solche, die ohne diese Begleitung auftreten. Um den Werdegang unseres Ich-Bewußtseins und der Vorstellung vom Vorhandensein eines Nicht-Ichs vollständig zu begreifen, müssen wir noch einen dritten Punkt ins Auge fassen. Alle einzelnen Theile, alle Zellen unseres Leibes haben ihr Sonderbewußtsein, das jede ihrer Erregungen begleitet. Diese Erregungen sind theils durch die Thätigkeit der Ernährung, des | Stoffwechsels, der Kerntheilung, das heißt durch die [] eigentlichen Lebensvorgänge der Zelle, theils durch äußere Einwirkungen veranlaßt. Die Erregungen, welche von den inneren, biochemischen und biomechanischen, Vorgängen der Zelle herrühren, sind ununterbrochene und dauern so lange wie das Leben der Zelle selbst. Die Erregungen, die eine Folge äußerer Einwirkungen sind, erscheinen naturgemäß nur mit diesen Einwirkungen, also nicht dauernd, sondern zeitweilig. Die Lebensvorgänge in der Zelle haben unmittelbar blos für die Zelle selbst Werth und Bedeutung, nicht für den Gesammtorganismus, die äußeren Einwirkungen können für den ganzen Organismus Wichtigkeit erlangen. Das Haupt-Organ, das Gehirn, gewöhnt sich daran, die Erregungen, welche sich auf die innere Lebensthätigkeit der Zelle beziehen, zu vernachlässigen, einmal, weil sie dauernd sind und nur eine Aenderung eines Zustandes, nicht aber ein Zustand selbst deutlich wahrgenommen wird, und dann, weil die Zelle ihre eigenen Verrichtungen aus eigener Kraft besorgt, ein Eingreifen des Gehirns also nicht nöthig ist. Die Erregungen dagegen, welche durch äußere Einwirkung hervorgerufen werden, beachtet das Gehirn, erstens, weil sie mit Unterbrechungen auftreten, und zweitens, weil sie eine Anpassung des Gesammt-Organismus nöthig machen können, diese aber nur durch ein Eingreifen des Gehirns erfolgt.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Daß das Gehirn auch von den inneren Erregungen des Organismus Kenntniß erlangt und nur aus den angegebenen Gründen sich ihrer in der Regel nicht deutlich bewußt wird, ist nicht zweifelhaft. Wenn durch Krankheit in den Verrichtungen der einzelnen Zelle eine Störung eintritt, werden wir uns der Vorgänge in der Zelle sofort bewußt, wir empfinden das kranke Organ, es erregt unsere Aufmerksamkeit, der ganze Organismus fühlt sich unbehaglich und verstimmt. Aus den Erregungen dieser Art, die uns im gesunden Zustand nicht klar zum Bewußtsein [] kommen, setzt sich die Empfindung unseres Leibes, | unser organisches Ich, die sogenannte Cönästhesie oder das Gemeingefühl, zusammen. Zum hellen Ich-Bewußtsein steigert sich die Cönästhesie, das organische, nur dunkel bewußte Ich, durch die Erregungen der zweiten Art, die dem Gehirn aus den Nerven und Muskeln zugehen, denn sie sind stärker und deutlicher als die anderen und sie sind unterbrochen. Das Gehirn erfährt die durch äußere Einwirkungen gesetzten Veränderungen im Nervensystem und die Zusammenziehungen der Muskeln. Wie es von den letzteren Kennwiß erlangt, das ist noch dunkel. Man hat in der letzten Zeit behauptet, der Sitz des Muskelsinnes seien die Nerven der Gelenke. Das ist sicher falsch. Denn wir haben deutliche Empfindungen von Zusammenziehungen solcher Muskeln, die keine Gelenke bewegen, z. B. der Ringund Schließmuskeln, dann von Krämpfen und Zuckungen sogar einzelner Muskelfasern, die ebenfalls nicht zu einer Aenderung der Stellung des Gelenks führen. Indeß, wie auch die Wahrnehmungen des Muskelsinnes zu Stande kommen, diese Wahrnehmungen sind jedenfalls vorhanden. Das Bewußtsein macht also sehr früh die Erfahrung, daß den wahrgenommenen Muskelbewegungen gewisse Handlungen, die es selbst verrichtet, voraufgehen, nämlich die Ausarbeitung von Bewegungsvorstellungen, die Aussendung von Anregungen an die Muskeln. Es empfängt von diesen Bewegungen zweimal nach einander Kenntniß: es nimmt sie zuerst unmittelbar als eigene Vorstellung und Willenshandlung, als in den Nervenzentren ausgearbeitetes Bewegungsbild, und gleich darauf als einen aus den Muskelnerven stammenden Eindruck, als vollzogene Bewegung, wahr. Es gewöhnt sich daran, jene eigenen Handlungen, jene zuerst ausgearbeiteten Bewegungs-Bilder, mit den Muskelbewegungen in Zusammenhang zu bringen, diese als Folge von jenen anzusehen, kurz: ursächlich zu denken. Hat das Bewußtsein erst die Gewohnheit der Ursächlichkeit erlangt, so | [] sucht es für alle seine Wahrnehmungen die Ursache und kann sich eine Wahrnehmung ohne Ursache nicht mehr denken. Die Ursache der Muskel-Wahrnehmungen, das heißt der mit Bewußtsein gewollten Bewegungen, findet es in sich selbst. Die Ursache der Nerven-Wahrnehmungen, das heißt der Meldungen des Nervensystems von den Erregungen, die es erfährt, findet es nicht in sich selbst. Eine Ursache müssen sie haben. Wo soll diese Ursache nun liegen? Da sie nicht im Bewußtsein liegen, müssen sie nothwendig irgendwo anders liegen, es muß also außerhalb des Bewußtseins noch etwas Anderes geben, und so kommt das Bewußtsein durch die Gewohnheit des ursächlichen Denkens dazu, das Vorhandensein von irgend Etwas

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Psychologie der Ich-Sucht.

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 außerhalb seiner selbst, von einem Nicht-Ich, von einer Außenwelt anzunehmen

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und dahin die Ursache der Erregungen zu verlegen, die es im Nervensystem wahrnimmt. Die Erfahrung lehrt, daß es sich beim Unterscheiden zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich thatsächlich nur um eine Denk-Gewohnheit, um ein Denk-Schema, nicht um eine sachliche, sichere Erkenntniß handelt, welche die Kriterien ihrer Richtigkeit und Zuverlässigkeit in sich selbst trägt. Wenn unsere Sinnesnerven oder ihre Wahrnehmungs-Zentren in Folge von krankhafter Störung erregt sind und das Bewußtsein von dieser Erregung Kenntniß erlangt, so schreibt es ihr ohne Weiteres seiner Gewohnheit gemäß eine im Nicht-Ich liegende, eine äußere Ursache zu. So entstehen die Illusionen und Halluzinationen, die der Kranke für Wirklichkeiten hält, und zwar so zuversichtlich, daß es schlechterdings kein Mittel gibt, ihn zu überzeugen, daß er Vorgänge wahrnimmt, die in ihm, nicht außer ihm, stattfinden. Ebenso folgert das Bewußtsein, daß solche Bewegungen, die unbewußt ausgeführt werden, von einem fremden Willen veranlaßt sind. Es nimmt die Bewegung wahr, es hat nicht gemerkt, daß ihr die gewohnte innere Ursache, nämlich eine Bewegungs-Vorstellung und eine Willenshandlung, vorausgegangen | ist, es verlegt also [] ohne Zögern die Ursache der Bewegung in das Nicht-Ich, obwohl sie im Ich liegt und nur durch untergeordnete Zentren veranlaßt wurde, deren Thätigkeit dem Bewußtsein verborgen bleibt. Dies ist die Entstehungsursache des Spiritismus, der, so weit er nicht offener Betrug, sondern guten Glaubens ist, einfach ein mystischer Erklärungsversuch von Bewegungen ist, deren eigentliche Ursache das Bewußtsein nicht in sich findet und darum ins Nicht-Ich verlegt. Im letzten Grunde ist das Ich-Bewußtsein und namentlich die Gegenüberstellung des Ichs und Nicht-Ichs eine Sinnestäuschung und ein Denkfehler. Jeder Organismus hängt mit der Art und über sie hinaus mit dem Weltganzen zusammen. Er ist die unmittelbare, stoffliche Fortsetzung seiner Eltern, er setzt sich unmittelbar, stofflich in seinen Nachkommen fort. Er besteht aus denselben Stoffen wie die ganze ihn umgebende Welt, diese Stoffe dringen fortwährend in ihn ein, verändern ihn, veranlassen in ihm alle Erscheinungen des Lebens und Bewußtseins. Alle Kraftlinien der Natur verlängern sich in sein Inneres, das der Schauplatz derselben physikalischen und chemischen Vorgänge ist, die im ganzen Weltall ablaufen. Was der Pantheismus ahnt und in unnöthig mystische Worte kleidet, ist nüchterne und klare Thatsache: die Einheit der Natur, in der auch jeder Organismus ein mit dem Ganzen zusammenhängender Theil ist. Manche Theile sind näher zusammengerückt, andere liegen etwas weiter auseinander. Das Bewußtsein nimmt nur die dicht aneinander geknüpften Theile seiner körperlichen Unterlage wahr, die ferner abliegenden nicht. So gelangt es zur Illusion, die nahen Theile als allein zu sich gehörig, die entfernteren als etwas Fremdes zu betrachten und sich als ein „Individuum“ zu fühlen, das der Welt als eine besondere Welt, als ein Mikrokosmus, entgegentritt. Es merkt nicht, daß das so schroff hingestellte Ich keine festen Grenzen hat, sondern unter der Bewußtseins-Schwelle mit immer mehr abnehmender

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Bestimmtheit | der Sonderung sich weit hinaus bis in die äußersten Tiefen der Natur fortsetzt, um dort mit allen anderen Bestandtheilen des Weltganzen zu verschwimmen. Wir können jetzt die Naturgeschichte des Ichs und Nicht-Ichs noch sehr viel kürzer zusammenfassen und in einigen Schlagworten darstellen. Bewußtsein ist eine Grund-Eigenschaft des lebenden Stoffs. Auch der höchste Organismus ist nur eine Kolonie einfachster Organismen, nämlich lebender Zellen, die aber mannigfach differenzirt sind, um der Kolonie höhere Verrichtungen zu ermöglichen, als die einfache Zelle sie leisten kann. Das Gesammt- oder Ich-Bewußtsein der Kolonie setzt sich aus dem Einzelbewußtsein der Theile zusammen. Das Ich-Bewußtsein hat einen dunkeln, vernachlässigten Theil, der sich auf die Lebensverrichtungen der Zellen bezieht, die Cönästhesie, und einen hellen, bevorzugten Theil, der die Erregungen der Sinnesnerven und die willkürliche Thätigkeit der Muskeln beachtet und kennt. Das helle Bewußtsein macht die Erfahrung, daß den willkürlichen Bewegungen Willenshandlungen voraufgehen. Es gelangt zur Annahme der Ursächlichkeit. Es bemerkt, daß die Sinneserregungen keine in ihm selbst liegende Ursache haben. Es ist also gezwungen, diese Ursache, auf deren Annahme es nicht verzichten kann, anderswohin zu verlegen, und wird dadurch nothwendig zuerst zur Vorstellung eines Nicht-Ichs und dann zur Entwickelung dieses Nicht-Ichs in die ganze Welterscheinung geführt. Die alte, spiritualistische Psychologie, die das Ich als etwas vom Körper ganz Verschiedenes, als eine besondere, einheitliche Substanz ansieht, behauptet, daß es den eigenen Leib als etwas nicht mit ihm Identisches, als ein dem eigentlichen Ich Entgegengesetztes, als ein Aeußeres, also thatsächlich als Nicht-Ich betrachtet. Sie leugnet damit die Cönästhesie, das heißt eine vollkommen gesicherte Erfahrungsthatsache. Wir haben fortwährend die dunkle Empfindung des Vorhandenseins aller unserer Körpertheile und unser Ich-Bewußtsein erfährt sofort eine | [] Aenderung, wenn die Lebensverrichtungen in den einzelnen Organen oder Geweben eine Störung erleiden. Die Entwickelung geht vom organischen, unbewußten Ich zum hellen IchBewußtsein und zum Begriffe des Nicht-Ichs. Das Kind hat wahrscheinlich schon vor, jedenfalls aber nach der Geburt Cönästhesie, denn es empfindet seine inneren Lebensvorgänge, läßt Behagen erkennen, wenn diese gesund verlaufen, gibt durch

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 „Manche“ (Kranke) „empfinden voll Wonne eine Leichtheit ihres Körpers, sie fühlen sich in der Luft schweben, sie glauben fliegen zu können; oder sie haben ein Gefühl der Schwere im ganzen Körper, in manchen Gliedern, in einem Gliede, das ihnen groß und schwer vorkommt. Ein junger Epileptiker fühlte manchmal seinen Leib so außerordentlich schwer, daß er ihn kaum heben konnte. Ein andermal fühlte er sich so leicht, daß er den Boden nicht zu berühren glaubte. Manchmal schien es ihm, daß sein Körper einen solchen Umfang erlangt hatte, daß er unmöglich durch eine Thür gehen könne. In dieser letztern Sinnestäuschung fühlt der Kranke sich sehr viel kleiner oder sehr viel größer als er wirklich ist.“ Th. Ribot, Les maladies de la personnalité. ème édition. Paris, . S. .

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Psychologie der Ich-Sucht.

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Bewegungen und Geschrei, das auch nur eine Bewegung der Athem- und Kehlkopf muskeln ist, sein Mißbehagen kund, wenn in ihnen Störungen auftreten, bemerkt

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und äußert Gemeinzustände seines Organismus wie Hunger, Durst und Ermüdung. Ein klares Bewußtsein besteht aber noch nicht, das Gehirn hat noch nicht die Herrschaft über die untergeordneten Zentren angetreten, Sinneseindrücke werden vielleicht wahrgenommen, aber sicher noch nicht zu Vorstellungen verknüpft, den meisten Bewegungen geht keine bewußte Willenshandlung vorher, sie sind bloße Reflexe, das heißt Kundgebungen jener örtlichen Bewußtsein, die später bis zur Unwahrnehmbarkeit verdunkelt werden, wenn das Hirn-Bewußtsein die volle Helle erlangt hat. Allmälig entwickeln sich die höheren Zentren, das Kind fängt an, auf seine Sinneseindrücke zu achten, aus seinen Wahrnehmungen Vorstellungen zu bilden und willkürliche, zweck-|bedingte Bewegungen zu machen. An das Erwa- [] chen seines bewußten Willens ist auch das Entstehen seines Ich-Bewußtseins geknüpft. Das Kind erkennt, daß es eine Individualität ist. Allein seine inneren, organischen Vorgänge beschäftigen es noch sehr viel mehr als die Vorgänge der Außenwelt, die ihm durch die Sinnesnerven vermittelt werden, und seine eigenen Zustände füllen sein Bewußtsein ungefähr vollständig aus. Das Kind ist daher ein Muster der Selbstsucht und bis zu einem vorgerücktern Alter gänzlich unfähig, Aufmerksamkeit oder Theilnahme für irgend etwas zu entwickeln, was sich nicht unmittelbar auf es selbst, seine Bedürfnisse und Neigungen bezieht. Durch die weitere Ausbildung seines Gehirns gelangt der Mensch schließlich zu jenem Grade der Reife, in welchem er eine richtige Vorstellung von seinem Verhältnisse zu den anderen Menschen und zur Natur gewinnt. Dann achtet das Bewußtsein immer weniger auf die Lebensvorgänge im eigenen Organismus und immer mehr auf die Erregungen seiner Sinne. Mit jenen beschäftigt es sich nur noch, wenn sie zu dringenden Bedürfnissen verdeutlicht werden, mit diesen dagegen im wachen Zustand immer. Das Ich tritt entschieden hinter das Nicht-Ich zurück und das Abbild der Welt füllt den größten Theil des Bewußtseins aus. Wie die Ausbildung eines Ichs, einer sich ihrer Besonderheit deutlich bewußten Individualität die höchste Leistung des lebenden Stoffes ist, so ist die höchste Entwickelungsstufe des Ichs die Aufnahme des Nicht-Ichs in sich, das Begreifen der Welt, die Ueberwindung der Selbstsucht und die Herstellung enger Beziehungen zu anderen Wesen, Dingen und Erscheinungen. Auguste Comte und nach ihm Herbert Spencer haben diese Stufe „Altruismus“ genannt, von dem italienischen Worte „altrui“, der Nächste. Der Geschlechtstrieb, der das Individuum drängt, ein anderes Individuum zu suchen, ist so wenig Altruismus wie etwa der Hunger, der den Jäger veranlaßt, einem Thier nachzustellen, um es zu tödten und zu essen. Von | Altruismus kann erst die Rede sein, wenn das Individuum sich mit einem [] andern Wesen aus Mitgefühl oder Neugierde beschäftigt, und nicht, um ein unmittelbares, drängendes Bedürfniß seines Leibes, den augenblicklichen Hunger irgend eines seiner Organe, zu befriedigen. Erst durch den Altruismus ist der Mensch im Stande, sich in der Gesellschaft und in der Natur zu behaupten. Um ein Gesellschaftswesen zu sein, muß der

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Mensch mit seinen Nebenmenschen fühlen und für ihre Meinung über ihn empfindlich sein. Das eine und das andere setzt voraus, daß er fähig ist, sich die Gefühle seiner Nebenmenschen lebhaft genug vorzustellen, um sie selbst mitzufühlen. Wer nicht im Stande ist, den Schmerz eines Andern sich so deutlich zu vergegenwärtigen, daß er ihm selbst wehthut, der wird kein Mitleid haben, und wer nicht genau vorfühlen kann, welchen Eindruck eine Handlung oder Unterlassung von ihm auf einen Andern machen wird, der wird keine Rücksicht auf Andere nehmen. In beiden Fällen wird er sich sehr bald aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen sehen, der Feind Aller und von Allen befeindet sein und höchst wahrscheinlich untergehen. Und um sich gegen die zerstörenden Naturkräfte zu vertheidigen und sie zu seinem Vortheil zu verwenden, muß der Mensch sie genau kennen, das heißt er muß im Stande sein, ihre Wirkungen sich klar vorzustellen. Eine deutliche Vorstellung der Gefühle Anderer und der Wirkungen von Naturkräften setzt die Fähigkeit voraus, sich intensiv mit dem Nicht-Ich zu beschäftigen. Während der Zeit, daß der Mensch sich mit dem Nicht-Ich beschäftigt, denkt er nicht an sein Ich und dieses sinkt unter die Bewußtseins-Schwelle. Damit das Nicht-Ich in dieser Weise über das Ich vorwiege, müssen die Sinnesnerven die äußeren Eindrücke gut leiten, die Wahrnehmungs-Zentren im Gehirn müssen für die Erregungen der Sinnesnerven feinfühlig sein, die höchsten Zentren [] müssen die Wahrnehmungen sicher, rasch und stark zu Vorstellungen | entwickeln, diese zu Gedanken und Urtheilen verknüpfen und gegebenen Falls in Willenshandlungen, in Bewegungs-Anregungen umsetzen, und da der größte Theil dieser verschiedenen Thätigkeiten von der grauen Hirnrinde der Stirnlappen verrichtet wird, so heißt das, daß die graue Rinde der Stirnlappen gut entwickelt sein und kräftig arbeiten muß. So stellt sich uns der gesunde Mensch dar. Seine inneren Erregungen nimmt er wenig und selten, seine äußeren Eindrücke immer und deutlich wahr. Sein Bewußtsein ist von Bildern der Außenwelt, nicht von solchen der Thätigkeit seiner Organe erfüllt. Die unbewußte Arbeit seiner untergeordneten Zentren spielt eine fast verschwindende Rolle neben der vollbewußten Arbeit der höchsten Zentren. Seine Selbstsucht ist nicht stärker als gerade nothwendig ist, um seine Individualität zu erhalten, und sein Denken und Handeln wird von der Kenntniß der Natur und der Nebenmenschen und von der Rücksicht auf sie bestimmt. Ein ganz anderes Schauspiel bietet der Entartete dar. Sein Nervensystem ist nicht normal. Worin in letzter Reihe die Abweichungen von der Norm bestehen, das wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich ist die Zelle des Entarteten etwas anders zusammengesetzt wie die des Gesunden, die Theilchen des Protoplasmas sind anders, weniger regelmäßig, geordnet, die Molekular-Bewegungen gehen in Folge dessen weniger frei und rasch, weniger rhythmisch und kräftig von Statten. Doch wie gesagt: dies ist eine bloße unerweisliche Annahme, man kann indeß nicht vernünftig bezweifeln, daß alle körperlichen Merkmale oder „Stigmate“ der Entartung, alle die beobachteten Bildungshemmungen und Ungleichmäßigkeiten, ihren

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Psychologie der Ich-Sucht.

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Grund in einer biochemischen und biomechanischen Störung der Nervenzelle oder  vielleicht der Zelle überhaupt ihren Grund haben.

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Im Seelenleben des Entarteten hat die Anomalie seines Nervensystems die Unfähigkeit zur Folge, die höchste Entwickelungsstufe des Individuums, nämlich das freie Heraustreten | aus den künstlichen Grenzen der Individualität, den Altru- [] ismus, zu erreichen. In dem Verhältnisse zwischen seinem Ich und dem Nicht-Ich bleibt der Entartete sein ganzes Leben lang ein Kind. Er würdigt, ja bemerkt die Außenwelt kaum und beschäftigt sich nur mit den organischen Vorgängen in seinem eigenen Leibe. Er ist mehr als selbstsüchtig, er ist krankhaft ich-süchtig. Seine Ich-Sucht kann unmittelbar aus verschiedenen Verhältnissen seines Organismus hervorgehen. Seine Sinnesnerven können stumpf sein, werden also von der Außenwelt schwach erregt, theilen ihre Erregungen langsam und schlecht dem Gehirn mit und sind nicht im Stande, dieses zu genügend starker Wahrnehmungs- und Vorstellungsthätigkeit anzuregen. Oder seine Sinnesnerven arbeiten leidlich gut, aber das Gehirn ist ungenügend erregbar, es nimmt also die ihm übermittelten Eindrücke von der Außenwelt nicht ordentlich wahr. Die Stumpfheit der Entarteten wird von allen Beobachtern bezeugt. Aus der fast unübersehbaren Menge der Thatsachen, die hier angeführt werden könnten, sei nur eine hinreichend kennzeichnende knappste Auslese getroffen. „Bei vielen Idioten,“ sagt Sollier, „wird süß und bitter gar nicht unterschieden. Wenn man ihnen nach einander Zucker und Koloquinten reicht, zeigen sie keine verschiedenen Empfindungen … Der Geschmack ist bei ihnen thatsächlich nicht vorhanden … Außerdem kommen Verirrungen des Geschmackes vor. Nicht nur bei den vollständigen Idioten, sondern selbst bei den Schwachsinnigen. Sie essen Unrath oder ekelhafte Dinge, … selbst ihren eigenen Koth. Dasselbe gilt vom Geruche. Ihr Sinn ist für Düfte, noch mehr als für Geschmack, vollkommen stumpf … Der Tastsinn ist meist gleichmäßig abgestumpft … In manchen Fällen muß man sich fragen, ob nicht vollkommene | Unempfindlichkeit besteht.“ Lombroso untersuchte die [] allgemeine Empfindlichkeit der Haut von  Verbrechern und fand sie bei  von ihnen abgestumpft und bei  an den beiden Körperhälften verschieden. Und in einem spätern Buche faßt er seine Wahrnehmungen über die Sinnesschärfe der Entarteten in die Worte zusammen: „Dem Schmerzgefühl unzugänglich, selbst fühllos, verstehen sie auch bei Anderen niemals den Schmerz.“ Ribot führt die „Krankheiten der Persönlichkeit“ (d. h. die falschen Vorstellungen vom Ich) auf „organische Störungen“ zurück, „deren erstes Ergebniß eine Schwächung, deren zweites eine Verirrung der allgemeinen Empfindlichkeit ist.“ „Ein junger Mann, dessen Benehmen immer ausgezeichnet gewesen war, gab sich plötzlich den

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Dr. Paul Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile. Paris, . S. ff. Prof. Cesare Lombroso, L’Uomo delinquente. a edizione. Torino, . S.  ff. Lombroso, Les applications de l’anthropologie criminelle. Paris, . S. . Th. Ribot, Les maladies de la personnalité. ème édition. Paris, . S. , , .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

schlechtesten Neigungen hin. In seinem Geisteszustande konnte man keine Zeichen deutlichen Wahnsinns feststellen, doch bemerkte man, daß die ganze Hautoberfläche bei ihm völlig unempfindlich geworden war.“ „Es mag seltsam scheinen, daß schwache und falsche Empfindlichkeit …, das heißt Veränderungen in den Sinnesnerven, das Ich zerrütten können. Die Erfahrung lehrt dies aber.“ Maudsley schildert einige Fälle von Entartung bei Kindern, deren Haut unempfindlich war, und bemerkt: „Sie können die Sinneseindrücke nicht auf natürliche Art wahrnehmen, sie können sich den Bedingungen, von welchen sie umgeben [] sind, nicht anpassen, sie setzen sich zu ihnen in | Widerspruch und die verirrte Gefühlsweise ihres Ichs gibt sich durch Handlungen zerstörender Art kund.“ Die von allen Beobachtern festgestellte Unempfindlichkeit der Entarteten ist übrigens nicht eindeutig. Wenn Viele sie für eine Folge der krankhaften Beschaffenheit der Sinnesnerven halten, so sind Andere der Meinung, daß die Störung nicht in diesen Nerven, sondern im Gehirn, nicht in der Leitung, sondern in den Wahrnehmungszentren liegt. Binet, um einen der hervorragendsten jüngeren Psychophysiologen anzuführen, stellt fest, daß, „wenn ein Theil des Körpers einer Person unempfindlich ist, diese zwar nicht weiß, was dort vorgeht, die Nervenzentren aber, die mit der unempfindlichen Gegend in Verbindung stehen, fortfahren können, thätig zu sein; … hieraus ergibt sich, daß gewisse Handlungen, die oft einfach, manchmal aber sehr verwickelt sind, im Körper einer Hysterischen ohne [] ihr Wissen vor sich gehen können; ja noch mehr: diese | Handlungen können psychischer Natur sein und einen Verstand bekunden, der von dem Verstande der Hysterischen verschieden sein und ein zweites, neben dem ersten bestehendes, Ich bilden wird.“ „Man hat sich lange über die wahre Beschaffenheit der hysterischen Unempfindlichkeit getäuscht und sie mit einer gewöhnlichen von organischer Ursache, z. B. in Folge einer Unterbrechung der Leitungsnerven, verglichen. Diese Anschauungsweise muß vollständig aufgegeben werden. Wir wissen heute, daß die hysterische Unempfindlichkeit keine wahre Unempfindlichkeit ist; sie ist eine

 Maudsley, Pathologie de l’esprit. Traduit de l’anglais par Germont. Paris, . S. .  Siehe auch noch Alfred Binet, Les altérations de la personnalité. Paris, . S. : „Seine Sinne verschließen sich den äußeren Anregungen; die Außenwelt hört auf, für ihn zu bestehen; er lebt nur noch sein ausschließlich persönliches Leben; er handelt nur noch auf seinen eigenen Anreiz, mit der automatischen Arbeit seines Gehirns. Obschon er nichts mehr von außen empfängt und seine Persönlichkeit von der Umgebung, in die er gestellt ist, vollkommen abgesondert ist, sieht man ihn doch kommen, gehen, thun und schaffen, wie wenn er seine Sinne und seinen Verstand in vollem Gebrauch hätte.“ Das ist nun das Bild eines Kranken; aber was von diesem gesagt wird, das findet seine Anwendung, nur nicht in dem gleichen Maße, auch auf den Ichsüchtigen. Féré hat in der Sitzung der Pariser „biologischen Gesellschaft“ vom . November  die Ergebnisse zahlreicher von ihm vorgenommener Versuche mitgetheilt, aus welchen hervorgeht, „daß bei den meisten Fallsüchtigen, Hysterikern und Entarteten die Hautempfindlichkeit vermindert ist.“ S. La Semaine médicale, Jahrg. , S. .  Alfred Binet, Les altérations de la personnalité. Paris, . S. ,  u. ff.

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Unempfindlichkeit durch Unbewußtheit, durch geistige Zersetzung. Mit einem Worte: sie ist eine seelische Unempfindlichkeit.“ Meistens wird es sich wohl nicht um reine Fälle handeln, in denen blos die Sinnesnerven oder blos die Hirnzentren schlecht arbeiten, sondern um gemischte, in denen beide Apparate einen mannigfach wechselnden Antheil an der Störung haben. Aber ob nun die Nerven die Eindrücke dem Gehirn nicht zuleiten oder ob das Gehirn die zugeleiteten Eindrücke nicht wahrnimmt oder nicht ins Bewußtsein emporführt, das Ergebniß ist immer das gleiche: die Außenwelt wird vom Bewußtsein nicht richtig und deutlich erfaßt, das Nicht-Ich wird im Bewußtsein nicht gehörig vertreten sein, das Ich die nothwendige Ableitung von der ausschließlichen Beschäftigung mit den Vorgängen im eigenen Organismus nicht erfahren. Noch stärker wird das gesunde, natürliche Verhältniß zwischen den organischen Empfindungen und den Sinneswahrnehmungen verschoben, wenn zu der Unempfindlichkeit der Sinnesnerven oder der Wahrnehmungszentren oder beider eine krankhaft geänderte und gesteigerte Lebensthätigkeit in den Organen tritt. Dann drängt sich das organische Ich-Gefühl, die Cönästhesie, unabweislich in den Vordergrund und überschreit die Wahrnehmungen von der Außenwelt großentheils oder ganz im Bewußtsein, das nur noch auf die Vorgänge im Innern | des Organis- [] mus achtet. So entsteht jene besondere Aufgeregtheit oder Emotivität, die wir als Grunderscheinung des Geisteslebens der Entarteten kennen gelernt haben. Denn die verzweifelte oder lustige, grimmige oder weichselige Grundstimmung des Emotiven, welche die Färbung seiner Vorstellungen wie den Gang seiner Gedanken bestimmt, ist die Folge der Erscheinungen, die in seinen Nerven, Gefäßen und Drüsen ablaufen. Das Bewußtsein dieses emotiven Entarteten ist mit ZwangsVorstellungen erfüllt, die nicht von Vorgängen in der Außenwelt eingegeben werden, und mit Zwangs-Antrieben, die keine Gegenwirkung auf äußere Anregungen sind. Dazu kommt dann noch die nie fehlende Willensschwäche des Entarteten, die es ihm unmöglich macht, seine Zwangsvorstellungen zu unterdrücken, seinen Zwangsantrieben zu widerstehen, seine Grundstimmungen zu beherrschen und seine höheren Zentren zu aufmerksamem Verfolgen der Welterscheinung anzuhalten. Das nothwendige Ergebniß dieser Verhältnisse ist, daß in solchen Köpfen die Welt nach des Dichters Worte sich anders spiegeln muß wie in normalen. Die Außenwelt, das Nicht-Ich, ist in dem Bewußtsein des emotiven Entarteten entweder gar nicht, oder wie auf einer schwachspiegelnden Fläche nur durch ein ganz blasses, kaum erkennbares, oder wie in einem Hohl- oder Wölb-Spiegel durch ein vollkommen verzerrtes, falsches Bild vertreten, dagegen ist das Bewußtsein gebieterisch vom leiblichen Ich in Anspruch genommen, welches nicht zuläßt, daß der

 „Die organischen, vom Herzen ausgehenden, vasomotorischen, sekretorischen u. s. w.  Erscheinungen, welche beinahe alle, wenn nicht alle, Gefühls-Zustände begleiten, … gehen den Vorgängen im Bewußtsein vorauf, weit entfernt, ihnen zu folgen; sie bleiben aber trotzdem in vielen Fällen unbewußt.“ Gley, angeführt von Binet, Les altérations de la personnalité. S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Geist sich mit etwas Anderem als den peinlichen oder tumultuosen Vorgängen in der Tiefe der Organe beschäftige. | [] Schlecht leitende Sinnesnerven, stumpfe Wahrnehmungs-Zentren im Gehirn, Willensschwäche und das durch sie bedingte Unvermögen zur Aufmerksamkeit, krankhaft unregelmäßige und heftige Lebensvorgänge in den Zellen sind also die organischen Unterlagen, auf welchen die Ich-Sucht erwächst. Der Ich-Süchtige muß nothwendig seine eigene Wichtigkeit und die Bedeutung seines ganzen Thuns außerordentlich überschätzen, denn er ist nur von sich und wenig oder gar nicht vom Weltbild erfüllt und darum nicht im Stande, sein Verhältniß zu den anderen Menschen und zur Welt zu begreifen und die Rolle seiner Thätigkeit in den Gesammt-Verrichtungen der Gesellschaft richtig zu würdigen. Man wäre nun vielleicht geneigt, die Ich-Sucht mit dem Größenwahn zu verwechseln. Zwischen beiden Zuständen besteht aber ein bezeichnender Unterschied. Allerdings ist auch Größenwahn, ganz wie seine klinische Ergänzung, der Verfolgungswahn, durch krankhafte Vorgänge im Innern des Organismus veranlaßt, die das Bewußtsein zwingen, seine Aufmerksamkeit unausgesetzt dem eigenen leiblichen Ich zu widmen; und zwar gibt unnatürlich gesteigerte biochemische Thätigkeit der Organe die angenehm überschwenglichen Vorstellungen des Größenwahnes, verlangsamte oder krankhaft zweckwidrige dagegen die peinlichen des Verfolgungswahns. Allein im Größen- wie im Verfolgungswahn bekümmert sich der Kranke fortwährend um Welt und Menschen, in der Ich-Sucht dagegen sieht er [] von ihnen nahezu voll-|ständig ab. In dem systematisch ausgearbeiteten Delirium des Größen- und Verfolgungswahnsinnigen spielt das Nicht-Ich die hervorragendste Rolle. Der Kranke erklärt sich die Wichtigkeit, die sein Ich in seinen eigenen Augen erlangt, durch die Erdichtung einer großartigen, allseitig anerkannten gesellschaftlichen Stellung oder einer unerbittlichen Feindschaft mächtiger Personen oder Gruppen. Er ist Papst oder Kaiser und seine Verfolger sind Staatsoberhäupter oder große gesellschaftliche Gewalten, die Polizei, die Geistlichkeit u. s. w. Sein Delirium rechnet also mit Staat und Gesellschaft, es räumt deren Bedeutung ein und mißt in dem einen Falle den Huldigungen, im andern der Feindseligkeit der Mitmenschen den größten Werth bei. Der Ich-Süchtige dagegen hält es durchaus nicht für nöthig, sich in eine erfundene gesellschaftliche Stellung hineinzuträumen. Er bedarf der Welt und ihrer Anerkennung nicht, um es in seinen eigenen Augen zu rechtfertigen, daß er selbst der Gegenstand seines einzigen Interesses sei. Er sieht die Welt gar nicht. Die anderen Menschen bestehen einfach nicht für ihn. Das ganze Nicht-Ich erscheint nur als verschwommener Schatten oder dünnes  Dies ist keine bloße Annahme, sondern eine wohlerwiesene Thatsache. Hunderte Untersuchungen von Böck, Weill, Möbius, Charrin, Mairet, Bosc, Slosse, Laborde, Marie u. A. haben festgestellt, daß bei Geisteskranken in und nach Erregungszuständen der Harn giftiger, das heißt an verbrauchten und ausgeschiedenen organischen Stoffen reicher, nach Zuständen der Niedergeschlagenheit weniger giftig, also an Zerfallstoffen ärmer ist als bei Gesunden, ein Beweis, daß bei jenen der Stoffwechsel in den Geweben krankhaft gesteigert oder verlangsamt ist.

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 Gewölk in seinem Bewußtsein. Er kommt also gar nicht auf den Einfall, daß er

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etwas Besonderes, daß er mehr als die Anderen und aus diesem Grunde entweder bewundert oder angefeindet sei, er ist eben allein in der Welt, ja er ist allein die Welt und alle Anderen, die Menschen, die Thiere, die Dinge, sind unwesentliche Staffage, denen man keinen Gedanken zu widmen braucht. Je geringfügiger die Störungen in den Leitungsbahnen, den Ernährungs-, Wahrnehmungs- und Willenszentren sind, umso schwächer ist natürlich die Ich-Sucht ausgeprägt und umso harmloser gibt sie sich kund. Ihre am wenigsten anstößige Aeußerung ist die oft belustigende Wichtigkeit, die der Ich-Süchtige seinen Empfindungen, Neigungen und Thätigkeiten zuschreibt. Ist er Maler, so zweifelt er nicht daran, daß | die ganze Weltgeschichte sich um Gemälde überhaupt und um seine [] Bilder im Besondern dreht. Schreibt er Prosa oder macht er Reime, so ist er überzeugt, daß die Menschheit keine andere oder doch keine ernstere Sorge hat als die um Verse und Bücher. Man wende nicht ein, daß dies eine Eigenthümlichkeit nicht der Ich-Süchtigen allein, sondern der großen Mehrheit aller Menschen ist. Gewiß, einem Jeden scheint sein eigenes Thun bedeutend und der ist sogar ein schlechter Mann, der seine Arbeit so obenhin und leichtfertig, so ohne Lust und Gewissen betreibt, daß er selbst sie nicht achten kann. Der große Unterschied zwischen dem vernünftigen und gesunden Menschen und dem Ich-Süchtigen ist aber der, daß jener sehr wohl einsieht, wie untergeordnet seine Beschäftigung, obwohl sie ihm ja das Leben ausfüllt und seine beste Kraft erfordert, doch für die übrigen Menschen ist, während dieser sich nicht vorzustellen vermag, daß eine Thätigkeit, der er seine Zeit und Anstrengung widmet, allen Anderen unwichtig, ja kindisch scheinen kann. Der pflichttreue Flickschuster ist sicher mit Herz und Seele dabei, wenn er einen alten Stiefel neu sohlt, aber er räumt ein, daß es für die Menschheit noch Interessanteres und Bedeutenderes gibt als das Ausbessern schadhaften Schuhwerks. Der Ich-Süchtige dagegen, wenn er ein Schriftsteller ist, zögert nicht, wie Mallarmé zu erklären: „Die Welt ist gemacht, um schließlich zu einem Buche zu führen.“ Diese unsinnige Ueberschätzung der eigenen Beschäftigungen und Interessen gibt im Schriftthum die Parnassier und Aestheten. Ist die Entartung tiefer und die Ich-Sucht stärker, so nimmt sie nicht mehr die vergleichsweise unschuldige Form des vollständigen Aufgehens in dichterischkünstlerischer Süßholzraspelei an, sondern äußert sich als Unsittlichkeit, die bis zu moralischem Irrsinn gesteigert sein kann. Die Neigung, Handlungen zu begehen, die seiner eigenen Gesundheit oder dem Gedeihen der Gesellschaft unzuträglich sind, erwacht auch | im gesunden Menschen ab und zu, wenn irgend eine [] schädliche Begierde nach Befriedigung verlangt; aber er hat den Willen und die Kraft, sie zu unterdrücken. Der entartete Ich-Süchtige ist zu willensschwach, um Zwangs-Antriebe zu beherrschen, und die Rücksicht auf das Wohl der Gesellschaft kann sein Thun und Denken nicht bestimmen, weil die Gesellschaft in seinem Bewußtsein gar nicht vertreten ist. Er ist ein Einsamer und empfindet das Sittengesetz nicht, das ja für das Leben in Gemeinschaft, nicht für den Einsamen ausgebil-

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

det wurde. Es ist klar, daß für Robinson Crusoe das ganze Strafgesetzbuch keine Geltung hat. Allein auf seiner Insel, blos der Natur gegenüberstehend, kann er offenbar im Sinne des Strafrechts weder morden noch stehlen noch rauben. Er kann nur Vergehen gegen sich selbst begehen. Mangel an Einsicht und Selbstbeherrschung ist die einzige Unsittlichkeit, die ihm möglich ist. Der Ich-Süchtige ist ein geistiger Robinson Crusoe, der in seiner Vorstellung allein auf einer Insel lebt, und er ist zugleich ein Schwächling, der sich nicht beherrschen kann. Das allgemeine Sittengesetz besteht also für ihn nicht und das einzige, was er möglicherweise einsehen und zugeben, vielleicht auch ein wenig bedauern wird, das ist, daß er gegen das Sittengesetz des Einsamen, nämlich gegen das Gebot der Bändigung ihm selbst schädlicher Triebe, sündigt. Die Sittlichkeit, nicht die äußerlich angelernte, sondern die von uns als innerer Drang empfundene, ist im Laufe der Tausende von Geschlechtsfolgen zu einem organisirten Triebe geworden. Sie ist gerade darum, wie jeder andere organisirte Trieb, der „Perversion“, der Verirrung, ausgesetzt. Diese hat die Wirkung, daß ein Organ oder der ganze Organismus seinen normalen Aufgaben und seinen natürlichen Gesetzen zuwider arbeitet und nicht anders arbeiten kann. In der [] Ver-|irrung des Geschmackes sucht der Kranke mit Gier Alles zu verschlingen, was sonst den tiefsten Ekel erregt, das heißt triebhaft als schädlich empfunden und darum zurückgestoßen wird, also verwesende organische Stoffe, Unrath, Eiter, Husten-Auswurf u. dgl. In der Verirrung des Geruchs zieht er Fäulnißgerüche Blumendüften vor. In der des Geschlechtssinnes hat er Begierden, die dem Zwecke des Triebes, nämlich der Erhaltung der Gattung, gerade zuwiderlaufen. In der Verirrung des Sittlichkeits-Triebes ziehen den Kranken die Handlungen an und bereiten ihm Wonne, die den Gesunden mit Abscheu und Grauen erfüllen. Tritt also zur Ich-Sucht diese besondere Verirrung, so haben wir nicht mehr blos die stumpfe Gleichgiltigkeit gegen das Verbrechen vor uns, die den moralischen Irrsinn kennzeichnet, sondern die Freude am Verbrechen. Der Ich-Süchtige dieser Gattung steht dem Guten und Bösen nicht mehr blos unempfindlich und ohne UnterscheidungsFähigkeit gegenüber, sondern er hat eine entschiedene Vorliebe für das Böse, schätzt es bei Anderen, thut es selbst jedesmal, wenn er nach Neigung handeln kann, und erkennt ihm die eigene Schönheit zu, die der gesunde Mensch am Guten findet. Je nach der Gesellschafts-Klasse, welcher der Ich-Süchtige, mit oder ohne Perversion des Sittlichkeits-Triebes, angehört, und je nach seiner persönlichen Eigen-

 Dr. Paul Moreau (de Tours) umschreibt die Verirrung („aberration“) etwas unklar folgendermaßen: „Die Verirrung bildet eine Abweichung von den Gesetzen, welche die besondere Empfindungsweise der Organe und Fähigkeiten regieren. Mit diesem Worte wollen wir die Fälle bezeichnen, in welchen die Beobachtung eine widernatürliche, ausnahmsweise und gänzlich krankhafte Veränderung festzustellen gestattet, eine Veränderung, die eine greifbare Störung im regelmäßigen Arbeiten einer Fähigkeit herbeiführt.“ Des abberations du sens génésique. ème édition. Paris, . S. , Fußnote.

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art wird sich seine sittliche Störung natürlich verschieden kundgeben. Als Mitglied  des Standes der Enterbten ist er entweder blos ein verkommener und versumpfter

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Mensch, den Gelegenheit zum Diebe macht, der mit | seinen Schwestern oder Töch- [] tern in greulicher Vermischung lebt u. s. w., oder er ist Gewohnheits- und BerufsVerbrecher. Gebildet und wohlhabend oder gar in gebietender Stellung begeht er die Missethaten, welche den höheren Klassen eigenthümlich sind und nicht die Befriedigung der Leibesnothdurft, sondern anderer Begehrlichkeiten zum Zwecke haben. Er wird Salon-Don Juan und trägt unbedenklich Schmach und Verwüstung in die Familie seines besten Freundes. Er ist Erbschleicher, Verräther an denen, die ihm vertrauen, Ränkeschmied, Zwietracht-Säer und Lügner. Er erhebt sich wohl auch bis zum reißenden Thier auf dem Throne und zum Welt-Eroberer. Er wird in engen Verhältnissen Karl der Böse Graf von Evreux und König von Navarra, Gille de Rays, das Urbild des „Blaubarts“, oder Cäsar Borgia und in weiten Napoleon I. Ist sein Nervensystem nicht stark genug, um gebieterische Zwangs-Antriebe auszuarbeiten, oder sind seine Muskeln zu schwach, um solchen Antrieben zu gehorchen, so bleiben alle diese verbrecherischen Neigungen unbefriedigt und leben sich nur in der Einbildung aus. Der pervertirte Ich-Süchtige ist dann blos ein platonischer oder theoretischer Missethäter und wenn er schriftstellerischer Thätigkeit obliegt, so wird er zur Rechtfertigung seiner Verworfenheit philosophische Systeme aushecken oder mit liebevoller Schönrednerei sie in Vers und Prosa feiern, herausputzen und möglichst bestechend darstellen. Wir haben dann die literarische Erscheinung des Diabolismus und Decadentismus vor uns. Diaboliker und Decadenten unterscheiden sich von den Verbrechern lediglich darin, daß jene blos träumen und Worte machen, diese aber die Entschlossenheit und die Kraft haben, Thaten zu thun. Gemeinsam jedoch ist ihnen, daß sie gesellschaftfeindliche („antisoziale“) Wesen sind. | Noch ein zweites Merkmal gibt es, das alle Ich-Süchtigen, sie mögen nun ihre [] gesellschaftfeindlichen Neigungen in Gedanken oder Handlungen, als Schriftsteller

 „Die Mängel der psycho-physischen Organisation, die sich in Handlungen Luft machen, welche nicht nur von der Sittlichkeit, dieser Gesammtheit der von der vielhundertjährigen Erfahrung der Völker ausgearbeiteten Vorschriften, sondern auch vom Strafgesetz verboten sind,  laufen dem Leben in der Gesellschaft zuwider, in dem allein die Menschheit fortschreiten kann… Ein von Anbeginn dem Leben in der Gesellschaft angepaßter Mensch kann derartige Mängel nur durch gewisse zerstörende Bedingungen erwerben, die seine psycho-physischen Mittel in Gegensatz zu den nothwendigen Anforderungen des Gesellschafts-Lebens bringen.“ Drill, Die minderjährigen Verbrecher, angeführt von Lombroso, Les applications de l’anthropologie criminelle,  Paris, . S. . Siehe auch Tarde, Philosophie pénale, Lyon, : „Der sittlich Irrsinnige ist nicht ein wirklicher Wahnsinniger. Eine Frau von Brinvilliers, ein Troppmann, ein ohne Mitleid und Schamgefühl geborener Mensch — kann man sagen, daß er nicht er selbst ist, wenn er sein Verbrechen verübt? Nein. Er ist nur zu sehr er selbst. Aber sein Wesen, seine Person sind gesellschaftfeindlich. Er empfindet nicht die menschlichen Gefühle, die wir übrigen gesitteten  Menschen als unerläßlich ansehen. Man kann nicht daran denken, ihn zu heilen oder zu bessern.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

oder Verbrecher, bethätigen, mit einander theilen, und das ist ihre Unfähigkeit, sich den gegebenen Bedingungen, unter denen sie leben müssen, anzupassen. Der Mangel an Anpassungsfähigkeit ist eine der auffallendsten Eigenthümlichkeiten des Entarteten und er ist für ihn der Grund beständigen Leidens und schließlichen Unterganges. Er ergibt sich aber mit Nothwendigkeit aus der Beschaffenheit seines Zentral-Nervensystems. Die unerläßliche Voraussetzung der Anpassung ist, daß man eine genaue Vorstellung der Verhältnisse habe, denen man sich anpassen [] soll. Ich kann das | Loch im Wege nicht vermeiden, wenn ich es nicht bemerke;

 Der Darwinismus erklärt die Anpassung blos als Ergebniß des Kampfes ums Dasein und der Zuchtwahl, welche eine Form jenes Kampfes ist. In einem Einzelwesen tritt zufällig eine Eigenschaft auf, die es zur Selbsterhaltung und Besiegung der Feinde geschickter macht als die Individuen, welche ohne jene Eigenschaft geboren werden. Es findet günstigere Lebensbedingungen, hinterläßt zahlreichere Nachkommen, welche die vortheilhafte Eigenschaft erben, und durch das Ueberleben der Tüchtigsten und das Verschwinden der minder Tauglichen wird schließlich die ganze Gattung Besitzerin der vortheilhaften Eigenschaft. Nun leugne ich keineswegs, daß eine zufällige individuelle Abweichung vom Gattungstypus, die sich als Vortheil im Kampf ums Dasein erweist, eine Quelle solcher Umgestaltungen sein kann, welche eine bessere Anpassung der Gattung an die gegebenen und nicht zu ändernden Verhältnisse zum Ergebniß haben. Ich glaube aber nicht, daß ein solcher Zufall die einzige oder auch nur häufigste Quelle derartiger Umgestaltungen ist. Ich denke mir den Vorgang der Anpassung ganz anders, nämlich so: das Lebewesen empfängt in irgend einer Lage Unlustgefühle und will ihnen entgehen, sei es durch Lageveränderung (Bewegung, Flucht), sei es durch den Versuch einer thätigen Einwirkung auf die Ursache jener Unlustgefühle (Angriff, Aenderung der natürlichen Verhältnisse). Reichen die Organe, die das Lebewesen besitzt, und die Fähigkeiten, welche diese Organe bereits erlangt haben, nicht aus, um die als nothwendig empfundene und gewollte Gegenwirkung auf die Unlustgefühle zu leisten, so ergeben sich die schwächlichen Lebewesen in ihr Schicksal und leiden oder gehen sogar zu Grunde. Die stärkeren Individuen aber machen fortgesetzte, heftige Anstrengungen, ihre Absicht der Flucht, der Abwehr, des Angriffs, der Ueberwältigung natürlicher Hindernisse zu erreichen, sie geben starke Nervenimpulse an ihre Organe aus, um deren Leistungsfähigkeit aufs Aeußerste zu steigern, und diese Nervenimpulse sind die unmittelbare Ursache der Veränderungen, welche den Organen neue Eigenschaften geben und sie geeigneter machen, das Gedeihen des Lebewesens zu fördern. Daß der Nervenimpuls eine Steigerung der Blutzufuhr und bessere Ernährung des betreffenden Organs zur Folge hat, ist eine sichere biologische Thatsache. Für mich ist also die Anpassung meistens kein Ergebniß zufällig erlangter Eigenschaften, sondern eine Willenshandlung. Ihre Voraussetzung ist deutliche Wahrnehmung und Vorstellung der äußeren Ursachen von Unlustgefühlen und der starke Wunsch, diesen Unlustgefühlen zu entgehen, oder auch das Verlangen, sich Lustgefühle zu verschaffen, also ein organischer Appetit. Ihr Mechanismus besteht in der Ausarbeitung einer scharfen Vorstellung von zweckdienlichen Handlungen bestimmter Organe und die Aussendung von angemessenen Impulsen an diese Organe. Daß solche Impulse die anatomische Struktur der Organe ändern können, hat schon Kant geahnt, als er seine Abhandlung „Von der Macht des Gemüthes“ schrieb, und die neuere Heilkunde hat den vollen Beweis dafür erbracht, indem sie zeigte, daß die Wundenmale einer Louise Lateau, die Geschwulstheilungen auf dem Grabe des Diakonus Pâris, die an der Haut von Hysterikern durch Suggestion eintretenden Veränderungen, die Entstehung von Muttermälern durch Versehen oder Emotionen, die Wirkung von Vorstellungen auf Körpergewebe sind. Man hat Unrecht gehabt, Lamarck zu verspotten, als er lehrte, daß die Giraffe einen langen Hals habe, weil sie ihn fortwährend reckte, um die Kronen

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ich kann den Stoß nicht abwehren, den ich nicht kommen sehe; es | ist unmöglich, []  einen Faden in eine Nadel einzufädeln, wenn man das Öhr nicht scharf genug ins

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Auge faßt und den Zwirn mit sicherer Hand an die richtige Stelle führt. Das ist so selbstverständlich, daß man es kaum zu sagen braucht. Was wir die Herrschaft über die Natur nennen, ist thatsächlich die Anpassung an die Natur. Es ist eine ungenaue Ausdrucksweise, wenn wir davon sprechen, daß wir uns die Naturkräfte dienstbar machen. In Wahrheit beobachten wir sie, lernen ihre Eigenthümlichkeiten kennen und richten es so ein, daß die Ziele der Naturkräfte und unsere eigenen Wünsche zusammenfallen. Wir bauen das Rad dort hin, wohin das Wasser kraft des Naturgesetzes fallen muß, und haben dann den Vortheil, daß | es uns das Rad [] nach unserm Bedarf dreht. Wir wissen, daß die Elektrizität Kupferdrähten folgt, und bereiten ihr voll schlauer Ergebung in ihre Eigenheit Kupferbahnen nach der Stelle, wo wir sie haben wollen und wo ihre Wirkung uns nützlich ist. Ohne Kenntniß der Natur also keine Anpassung und ohne Anpassung keine Möglichkeit, aus ihren Kräften einen Vortheil für uns zu ziehen. Der Entartete nun kann sich nicht anpassen, weil er keine deutliche Vorstellung der Verhältnisse hat, denen er sich anpassen soll, und er erlangt von ihnen keine deutliche Vorstellung, weil er, wie wir wissen, schlecht leitende Nerven, stumpfe Wahrnehmungs-Zentren und geringe Aufmerksamkeit hat. Die treibende Ursache aller Anpassung wie jeder Anstrengung überhaupt — und Anpassung ist ja nichts Anderes als eine Anstrengung besonderer Art — ist der Wunsch, irgend ein organisches Bedürfniß zu befriedigen oder irgend einem Unbehagen zu entgehen. Anders gesagt: die Anpassung hat den Zweck, Lustgefühle zu geben und Unlustgefühle zu vermindern oder zu unterdrücken. Der Anpassungs-Unfähige ist darum sehr viel weniger als der Normalmensch im Stande, sich angenehme Empfindungen zu verschaffen und unangenehme von sich abzuwehren; er stößt sich an alle Ecken, weil er ihnen nicht auszuweichen weiß, und er trägt vergebens nach der saftigen Birne Verlangen, da er es nicht versteht, den Zweig zu erhaschen, an dem sie hängt. Der Ich-Süchtige ist das Musterbild eines Anpassungs-Unfähigen. Er muß also nothwendig von der Welt und den Menschen leiden. Der Grund seines Wesens ist denn auch Mißmuth und er wendet sich in grimmiger Unzufriedenheit gegen die Natur, die Gesellschaft, die öffentlichen Ein-

hochstämmiger Bäume zu erreichen und die Blätter abfressen zu können. Wenn das Thier die deutliche Vorstellung ausarbeitet, daß es den Hals aufs Aeußerste verlängern müsse, um bis an das hochstehende Laub zu gelangen, so wird diese Vorstellung den Blutumlauf in allen Geweben des Halses aufs Stärkste beeinflussen, sie werden ganz anders ernährt werden, als es ohne jene  Vorstellung geschähe, und die vom Thier gewünschten Veränderungen werden, wenn sie seiner Gesammt-Anlage nach überhaupt möglich sind, allmälig sicher eintreten. Erkenntniß und Wille sind also die Ursachen der Anpassung — nicht Wille im mystischen Sinne Schopenhauers, sondern als Aussender von Nervenimpulsen. Dieser Gedankenumriß möge dem Leser genügen, da hier nicht der Ort ist, ihn des Weitern auszuführen und im Einzelnen nachzuweisen, wie  fruchtbar er für die Entwickelungslehre ist.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

richtungen, die ihn ärgern und verletzen, weil er sich nicht in sie zu schicken vermag. Er ist beständig im Zustande der Empörung gegen alles Bestehende und [] arbeitet an dessen Umsturz oder träumt doch von diesem. An einer be-|rühmten Stelle bezeichnet Taine „übertriebene Eigenliebe“ und „dogmatisches Klügeln“ als die Wurzeln des Jakobinismus; jene führe zur Geringschätzung und Verwerfung der Einrichtungen, die man fertig vorfindet, also nicht selbst erfunden oder gewählt hat, dieses betrachte den Gesellschaftsbau als unsinnig, weil er „nicht ein Werk der Logik, sondern der Geschichte“ ist. Neben diesen beiden Wurzeln des Jakobinismus, die Taine aufgedeckt hat, gibt es aber noch eine andere, die wichtigste, die seiner Aufmerksamkeit entgangen ist: das ist die Unfähigkeit des Entarteten, sich nach einer gegebenen Decke, sie sei wie immer beschaffen, zu strecken. [] Der Ich-Süchtige ist durch seine orga-|nische Beschaffenheit dazu verurtheilt, ein Pessimist und ein Jakobiner zu sein. Aber die Umwälzungen, die er wünscht, predigt und vielleicht thatsächlich macht, sind für den Fortschritt unfruchtbar. Er ist als Revolutionär, was eine Überschwemmung oder ein Wirbelsturm als Straßenkehrer wäre. Er ist kein zielbewußter Aufräumer, sondern ein blinder Zerstörer. Das unterscheidet ihn von dem geistesklaren Neuerer, von dem wirklichen Revolutionär, der ein Reformer ist und die versumpfende, leidende Menschheit von Zeit zu Zeit auf mühseligen Pfaden in ein neues Kanaan führt. Der Reformer wirft, wenn nöthig, mit rücksichtsloser Gewalt, störend gewordenes Getrümmer nieder, um Platz für zweckmäßige Bauten zu schaffen; der Ich-Süchtige rast gegen Alles, was aufrecht steht, es sei brauchbar oder unnütz, und denkt nicht daran, nach der Verwüstung den Baugrund zu säubern; seine Freude ist es, unkrautüberwucherte Schutthaufen zu sehen, wo früher Mauern und Giebel ragten.

 H. Taine, Les origines de la France contemporaine. La Révolution. Tome II: La conquête jacobine.  ème édition. Paris, . S. : „Weder übertriebene Eigenliebe noch dogmatisches Klügeln sind im Menschengeschlechte selten. In allen Ländern bestehen diese beiden Wurzeln des Jakobinismus unterirdisch und unzerstörbar. Ueberall sind sie durch die bestehende Gesellschaft niedergedrückt. Ueberall suchen sie den alten geschichtlichen Bau, der mit seiner ganzen Wucht auf ihnen lastet, zu sprengen … Mit zwanzig Jahren, wenn ein junger Mensch ins Leben eintritt, wird seine Vernunft ebenso wie sein Stolz verletzt. Welches immer die Gesellschaft sei, die ihn in sich begreift, sie ist ein Aergerniß für die reine Vernunft; denn es hat sie kein philosophischer Gesetzgeber nach einem einfachen Grundsatze aufgebaut; auf einander folgende Geschlechter haben sie nach ihren vielfachen und wechselnden Bedürfnissen eingerichtet … Ferner: die Einrichtungen, Sitten und Gesetze mögen noch so vollkommen sein, da sie vor ihm dagewesen sind, so hat er ihnen nicht freiwillig zugestimmt; Andere, seine Vorgänger, haben für ihn gewählt und ihn zum Voraus in die sittengesetzliche, staatliche und gesellschaftliche Form eingeschlossen, die ihnen beliebte. Niemand fragt, ob sie ihm mißfällt; er muß sie erdulden und er schreitet gleich einem Ziehgaul zwischen zwei Sielen unter dem Geschirr dahin, in das man ihn eingespannt hat … Was Wunder, daß er sich gegen den Rahmen aufzulehnen sucht, in den er, er mag wollen oder nicht, eingereiht ist? … Daher kommt es, daß die meisten jungen Leute … beim Abgange vom Gymnasium mehr oder weniger Jakobiner sind. Es ist eine WachsthumsKrankheit.“

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Das gräbt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem gesunden Revolutionär  und dem ich-süchtigen Jakobiner. Jener hat positive Ideale, dieser nicht. Jener

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weiß, was er anstrebt, dieser hat keine Ahnung davon, wie das, was ihn ärgert, besser gemacht werden soll. Er denkt gar nicht so weit. Er beschäftigt sich gar nicht mit der Frage, was an die Stelle des Vernichteten treten soll. Er weiß nur, daß ihn Alles verdrießt, und er will seinen polternden, verworrenen Unmuth daran auslassen. Es ist denn auch bezeichnend, daß das alberne Auflehnungs-Bedürfniß dieser Art von Umstürzlern sich häufig gegen eingebildete Uebel wendet, kindische Ziele verfolgt oder geradezu weise und wohlthätige Gesetze bekämpft. Da bilden sie einen „Bund gegen das Grüßen durch Hutabnehmen“, dort widersetzen sie sich dem Impfzwang, ein andermal eifern sie gegen die Volkszählung und sie haben die lächerliche Dreistigkeit, diese blödsinnigen Feldzüge mit denselben Reden und Ge-|berden zu führen, mit welchen die echten Revolutionäre etwa für die Aufhe- [] bung der Sklaverei oder für die Geistesfreiheit streiten! Oft tritt zur Anpassungs-Unfähigkeit des Ich-Süchtigen noch ZerstörungsWahnsinn oder Klastomanie, die man bei Blöd- und Schwachsinnigen und in manchen Formen der Geistesstörung so häufig beobachtet. Beim Kinde ist der Zerstörungsdrang normal. Er ist die erste Kundgebung des Bedürfnisses nach Bethätigung der Muskelkraft. Bald jedoch erwacht das Verlangen, sich nicht im Zerstören, sondern im Schaffen auszuleben. Das Schaffen hat aber eine psychische Voraussetzung: die Aufmerksamkeit. Da diese dem Entarteten fehlt, so erhebt sich bei ihm der Zerstörungsdrang, der ohne Aufmerksamkeit, durch ungeordnete, zufällige Bewegungen, befriedigt werden kann, nicht zum Schaffensdrange. Unzufriedenheit nun als Folge von Anpassungs-Unfähigkeit, Mangel an Mitgefühl mit den Nebenmenschen als Folge schwachen Vorstellung-Vermögens und Zerstörungsdrang als Folge von geistiger Entwickelungshemmung geben zusammen den Anarchisten, der je nach der Stärke seiner Zwangs-Antriebe entweder blos Bücher schreiben und Volksversammlungs-Reden halten oder zur Dynamit-Bombe greifen wird. In ihrer höchsten Steigerung endlich führt die Ich-Sucht | zu jenem Caligula- [] Wahnsinn, in welchem der Gestörte sich rühmt, ein „lachender Löwe“ zu sein, sich über alle Schranken der Sittlichkeit und des Gesetzes erhaben dünkt und der ganzen Menschheit einen einzigen Kopf wünscht, um ihn ihr abschlagen zu können. Dem Leser, der mir bisher gefolgt ist, wird, denke ich, die Psychologie der Ich-Sucht nunmehr verständlich sein. Wie wir gesehen haben, entsteht das Ich-

 Dr. Paul Sollier, Psychologie de l’Idiot et de l’Imbécile. Paris, . S.  ff.: „Es besteht bei  den Idioten noch ein anderer Trieb, der übrigens bis zu einem gewissen Grade auch bei den normalen Kindern auftritt: die Zerstörungssucht, die bei allen Kindern als erste Kundgebung ihres Bewegungs-Vermögens in der Form eines Bedürfnisses zu schlagen, brechen und zerstören erscheint … Bei den Idioten ist diese Neigung sehr viel stärker ausgesprochen … Bei den Imbecillen verhält es sich anders. Ihr boshafter und schadenfroher Geist treibt sie zur Zerstörung,  nicht in der Absicht, ihre Kräfte auszuleben, sondern mit dem Wunsche, zu schaden. Es ist eine ungesunde Selbstbefriedigung, die sie suchen.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Bewußtsein aus der Empfindung der Lebensvorgänge in allen Theilen unseres Körpers und die Vorstellung des Nicht-Ichs aus den Veränderungen in den Sinnesorganen. Wie wir überhaupt zur Annahme des Vorhandenseins eines Nicht-Ichs gelangen, ist oben ausführlich dargestellt worden, braucht also hier nicht wiederholt zu  werden. Wenn wir den festen Boden völlig gesicherter Thatsachen verlassen und uns auf den etwas schwankendern Grund wahrscheinlicher Annahmen vorwagen wollen, so können wir sagen, daß das Ich-Bewußtsein im Sympathikus-System, die Vorstellung des Nicht-Ichs im Hirn- und Rückenmark-System ihre anatomische Unterlage haben. Im gesunden Menschen tritt die Wahrnehmung der inneren  Lebensvorgänge nicht über die Bewußtseins-Schwelle. Das Gehirn empfängt seine Anregungen weit mehr von den Sinnes- als von den Sympathikus-Nerven. Im Bewußtsein überwiegt also die Vorstellung der Außenwelt das Ich-Bewußtsein weit. Im Entarteten sind entweder die inneren Lebensvorgänge krankhaft gesteigert oder verlaufen regelwidrig und werden daher vom Bewußtsein fortwährend wahr-  genommen; oder die Sinnesnerven sind stumpf und die Wahrnehmungs-Zentren schwach und träge; oder diese beiden Abweichungen von der Norm sind zugleich vorhanden; in allen drei Fällen ist die Wirkung die, daß im Bewußtsein die IchVorstellung sehr viel stärker vertreten ist als das Bild der Außenwelt. Der IchSüchtige kennt und begreift daher die Welt-Erscheinung nicht. Die Folge davon ist  [] Mangel an Theil-|nahme und Mitgefühl (Sympathie) und Unfähigkeit, sich an Natur und Menschheit anzupassen. Die Gefühllosigkeit und Anpassungs-Unfähigkeit, häufig von Verirrung der Triebe und Zwangs-Antrieben begleitet, macht aus dem Ich-Süchtigen ein gesellschaftfeindliches Wesen. Er ist ein sittlich Irrsinniger, ein Verbrecher, ein Pessimist, ein Anarchist, ein Hasser der Menschheit, und zwar  all das entweder blos in seinen Gedanken und Empfindungen oder auch in seinen Thaten. Der Kampf gegen den gesellschaftfeindlichen Ich-Süchtigen, seine Ausscheidung aus dem Gesellschafts-Körper, ist eine nothwendige Verrichtung des letztern und wenn er dazu nicht im Stande ist, so ist dies ein Anzeichen schwindender Lebenskraft oder schwerer Erkrankung. Duldung oder gar Bewunderung  des theoretisirenden oder handelnden Ich-Süchtigen beweist, daß gleichsam die Nieren des Gesellschafts-Organismus ihre Schuldigkeit nicht thun, daß die Gesellschaft an der Brightschen Krankheit leidet. In den folgenden Kapiteln werden wir die einzelnen Formen studiren, in welchen die Ich-Sucht sich im Schriftthum kundgibt, und Gelegenheit finden, Vieles,  was hier nur angedeutet zu werden brauchte, ausführlich zu behandeln.

Parnassier und Diaboliker.

II. Parnassier und Diaboliker.



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Man hat sich daran gewöhnt, die französischen Parnassier als eine Schule zu bezeichnen, aber diejenigen, die mit dem Worte gemeint sind, haben sich immer dagegen verwahrt, daß man sie in einen Gattungsnamen einpferche. Catulle Mendès, einer der unzweifelhaftesten Parnassier, ruft: „Wir sind nie eine Schule gewesen … Der Parnaß! Wir haben nicht einmal eine Vorrede geschrieben! Blättern Sie die Revue fantaisiste durch und suchen Sie in ihr eine Zeile der Kritik von einem von uns zu finden! Der Parnaß ist aus einem Bedürfniß des Widerstandes gegen die Verlotterung der Dichtung, welche der Anhang von Murger: Charles Bataille, Amédée Roland, Jean du Boys, verschuldete, hervorgegangen; dann war er ein Bund von Geistern, die durch gemeinsame Liebe zur Kunst verknüpft waren.“ Der Name „Parnassier“ wird in der That auf eine ganze Reihe von Dichtern und Schriftstellern angewendet, die kaum Etwas mit einander gemein haben. Es ist ein rein äußerliches Band, das sie vereinigt: ihre Werke sind beim Pariser Verleger Lemerre erschienen, der „Parnassier“ machen konnte, wie der Cottasche Verlag in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Klassiker machte. Die Bezeichnung selbst rührt von | einer Art Musen-Almanach her, den Catulle Mendès  [] unter dem Titel „Le Parnasse contemporain, Recueil de vers nouveaux“ (Der zeitgenössische Parnaß, Sammlung neuer Gedichte) herausgab und der Beiträge von ungefähr allen Schriftstellern enthielt, die zu jener Zeit dichterisch thätig waren. Mit den meisten Namen dieser zahlreichen Gruppe brauche ich mich hier nicht zu beschäftigen, denn ihre Träger sind keine Entartete, sondern brave Dutzendmenschen, die schulgerecht nachzwitscherten, was Andere ihnen vorsangen. Sie haben keinerlei unmittelbaren Einfluß auf das zeitgenössische Denken geübt und nur mittelbar dazu beigetragen, die Wirkung einiger Führer zu verstärken, indem sie sich in der Haltung von Jüngern um sie schaarten und ihnen dadurch ermöglichten, mit stattlichem Gefolge aufzutreten, was auf die Gaffer immer Eindruck macht. Diese Führer allein haben für meine Untersuchungen Bedeutung. An sie denkt man, wenn man von den Parnassiern spricht, und aus ihren Eigenthümlichkeiten hat man die Kunsttheorie abgeleitet, die dem Parnaß untergelegt wird. Am vollkommensten in Theophile Gautier verkörpert, läßt sie sich in zwei Worte zusammenfassen: Formvollendung und „impassibilité“, Gefühllosigkeit oder Kaltsinn. Für Gautier und seine Nachbeter ist in der Dichtung die Form Alles, der Inhalt ohne jede Bedeutung. „Ein Dichter“, sagt er, „ist, man mag reden, was man will, ein Arbeiter. Er darf nicht mehr Verstand haben als ein Arbeiter und kein anderes Handwerk können als das seinige, sonst macht er es schlecht; ich finde es höchst vollkommen unsinnig, daß man eine Wuth hat, ihn auf einen idealen Sockel zu

 Jules Huret, Enquête sur évolution littéraire. Paris, . S. .   Theophile Gautier, Les grotesques.  ème édition. Paris, .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

heben; nichts ist weniger ideal als ein Dichter… Der Dichter ist ein Tastwerk und sonst nichts. Jeder Gedanke, der vorüberzieht, legt den Finger auf eine Taste, wor[] auf diese ihren Ton von sich gibt — | das ist Alles.“ An anderer Stelle äußert er: „Für den Dichter haben die Worte an sich und abgesehen von dem Sinne, den sie ausdrücken, eine Schönheit und einen Eigenwerth wie Edelsteine, die noch nicht geschliffen und in Armbänder, Halsgeschmeide und Ringe gefaßt sind: sie bezaubern den Kenner, der sie betrachtet und mit dem Finger in der kleinen Schale, wo sie aufbewahrt werden, unter ihnen wühlt.“ Dieser Anschauung entspricht es vollständig, wenn G. Flaubert, ein anderer Anbeter des Wortes, ruft: „Ein schöner Vers, der nichts bedeutet, steht über einem minder schönen Vers, der etwas bedeutet.“ Unter „schön“ und „minder schön“ versteht Flaubert hier „Namen mit triumphirenden Silben, die wie Trompetengeschmetter dröhnen“, oder „strahlende Worte, Worte aus Licht.“ Gautier ließ von Racine, den er, der Romantiker, natürlich tief verachtete, blos einen Vers gelten: „La fille de Minos et de Pasiphaë.“

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Die lehrreichste Anwendung dieser Theorie findet sich in einem Gedichte des Parnassiers Catulle Mendès, betitelt „Récapitulation“ (Wiederholung), das so beginnt: „Rose, Emmeline, Margueridette, Odette, Alix, Aline

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Paule, Hippolyte, Lucy, Lucile, Cécile, Daphne, Mélite, | Artémidore, Myrrha, Myrrhine, Périne, Naïs, Endore.“

Es folgen elf weitere Strophen von ganz derselben Mache, deren Anführung ich mir natürlich erspare, und dann diese Schlußstrophe: „Zulma, Zélie, Régine, Reine, Irène! … Et j’en oublie.“

 Les fleurs du mal par Charles Baudelaire, précédées d’une notice par Théophile Gautier.  ème édition. Paris, . S. .  M. Guyau, L’Esthétique du vers moderne. Revue philosophique, Band XVII, S. .  Gautier, angeführt von Guyau, a. a. O. S. .  Abgedruckt im Echo de Paris, Nr.  vom . Juli .

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„Und ich vergesse noch welche.“ Das ist die einzige von den sechzig Zeilen des „Gedichtes“, die einen Sinn hat, während die übrigen  blos aus Frauennamen bestehen. Was Catulle Mendès beabsichtigt, ist ja klar genug. Er will den Geisteszustand eines Lüstlings zeigen, der in der Erinnerung an alle die Frauen schwelgt, die er geliebt oder mit denen er geliebelt hat. Die Aufzählung ihrer Namen soll im Leser üppige Vorstellungen einer Schaar von Mädchen, die der Lust dienen, Bilder eines Harems oder des Mahomedschen Paradieses erwecken. Aber abgesehen von der Länge des Verzeichnisses, die dieses unausstehlich langweilig und erkältend macht, erreicht Mendès die beabsichtigte Wirkung auch aus einem zweiten Grunde nicht: weil er durch seine Künstelei dem ersten Blick die tiefe Unwahrheit seiner angeblichen Regung verräth. Wenn vor dem innern Auge des Frauenknechts die Gestalten der Gefährtinen seiner Schäferstunden aufsteigen und er wirklich den Drang empfindet, ihre Namen zärtlich vor sich hin zu murmeln, dann denkt er gewiß nicht daran, diese Namen auch noch zu Wortspielen zu ordnen („Alix-Aline“, „Lucy-Lucile“) „Myrrha-Myrrhine“ u. s. w.). Ist er kaltblütig genug, diese trockene Schreibtisch-Arbeit zu machen, so kann er sich | unmöglich in der geilen Verzü- [] ckung befinden, welche das „Gedicht“ ausdrücken und dem Leser mittheilen soll. Diese Emotion, so unsittlich und gemein, weil prahlerisch, sie auch ist, hätte wie jede echte Erregung allenfalls ein Recht, lyrisch ausgedrückt zu werden. Eine ausgeklügelte, nach dem Gleichklange geordnete Liste von bedeutungslosen Namen dagegen heißt gar nichts. Nach der Kunsttheorie der Parnassier aber ist „Récapitulation“ ein Gedicht, ja sogar das Ideal eines Gedichtes, denn es „bedeutet nichts“, wie Flaubert fordert, und es besteht ganz und gar aus Worten, die nach Gautiers Behauptung „an sich eine Schönheit und einen Eigenwerth haben.“ Ein anderer hervorragender Parnassier, Th. de Banville, hat, ohne die Theorie des jedes Sinnes baren Wortklanges so unerschrocken folgerichtig auf die Spitze zu treiben wie Catulle Mendès, sich doch auch mit anerkennenswerther Aufrichtigkeit zu ihr bekannt. „Ich befehle euch“, ruft er angehenden Dichtern zu, „möglichst viel Wörterbücher, Encyklopädien, Fachschriften über alle Handwerke und SonderWissenschaften, Buchhändler- und Versteigerungs-Verzeichnisse, Museum-Kataloge, kurz alle Bücher zu lesen, die euern Wortschatz vermehren können … Ist euer Kopf erst auf diese Weise vollgepfropft, so werdet ihr zum Reimfang gut bewaffnet sein.“ Auf den Reimfang allein kommt es nach Banville beim Dichten an. Wenn man über irgend einen Gegenstand ein Gedicht machen will, belehrt er die Jünger, „so muß man zunächst alle Reime dieses Gegenstandes suchen. Hat man sie gefunden, so reiht man sie an einander und stopft die Löcher mit Künstlerhand. Diejenigen, die uns rathen, die Lückenbüßer zu vermeiden, würden mir Vergnügen machen, wenn sie blos mit Hilfe des Gedankens zwei Bretter an einander befestigen | wollten.“ Der Dichter, so faßt Banville seine Lehre zusammen, hat keine []

 Theodore de Banville, Petit traité de poësie française. Paris, .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Gedanken im Gehirn; er hat nur Töne, Reime, Wortspiele. Diese Kalauer „calembours“) geben ihm die Gedanken oder einen Anschein von Gedanken ein. Auch wir haben Dichter gehabt, die die Form vielleicht etwas übermäßig pflegten und die Rücksicht auf den Inhalt hinter sie zurücksetzten. Platen zwar, den man so ungerecht kalter Aeußerlichkeit beschuldigte, ist im Gegentheil das Muster eines gewissenhaften Künstlers, der wohl Vollendung der technischen Arbeit anstrebt, aber ihr nicht die leiseste Schattirung des Gedankens opfert. Allein Rückert sank, namentlich in den „Makamen des Hariri“ und selbst in der edeln „Weisheit der Brahmanen“, bis zur Wortspielerei hinab und Bodenstedt hat sich nicht immer von geschmackloser Reim-Witzelei freigehalten. Zu unserm Ruhme sei es jedoch gesagt: das deutsche Schriftthum hat bisher noch keinen nur einigermaßen namhaften Dichter zu verzeichnen, der gewagt hätte, nach dem Beispiele Banvilles den Kalauer als das Wesen der Dichtkunst hinzustellen! Mit Recht übt Guyau an der von Banville geformten Kunst-Theorie der Parnassier diese Kritik: „Die bis zum äußersten getriebene Reimjagd führt dazu, daß der Dichter sich entwöhnt, die Gedanken folgerichtig zu verknüpfen, das heißt im Grunde: zu denken; denn denken ist, wie Kant gesagt hat, vereinen und verbinden. Reimen dagegen heißt, Worte, die nothwendigerweise unzusammenhängend sind, nebeneinander stellen … Die Anbetung des Reimes um des Reimes willen führt allmälig in das Gehirn des Dichters selbst eine Art Unordnung und dauernden Wust ein: alle üblichen Gesetze der Gedanken-Verknüpfung, alle Folgerichtigkeit des Denkens, sind zerstört, um durch den Zufall der Begegnung von Tönen ersetzt [] zu werden … Umschreibung und Gleichniß sind das ein-|zige Mittel, um gut zu reimen … Die Unmöglichkeit, einfach zu bleiben, wenn man reiche Reime sucht, zieht einen gewissen Mangel an Aufrichtigkeit nach sich. Die Frische und Unmittelbarkeit des Gefühls verschwinden beim allzu vollkommenen Wortkünstler; er verliert die Achtung vor dem Gedanken selbst, welche die erste Eigenschaft des Schriftstellers sein muß.“ Wo Guyau einen Irrthum begeht, das ist dort, wo er sagt, daß die Pflege des Reimes um des Reimes willen „in das Gehirn des Dichters selbst eine Art Unordnung und dauernden Wust einführt.“ Das Umgekehrte ist die Wahrheit. Der „dauernde Wust“ und die „Unordnung“ im Gehirn des Dichters sind das Vorbestehende, die übermäßige Betonung des Reimes ist nur die Folge dieses Geisteszustandes. Wir haben hier wieder eine Erscheinungsform des uns wohlbekannten Unvermögens zur Aufmerksamkeit vor uns, das dem Entarteten eigenthümlich ist. Den Lauf seiner Gedanken bestimmt nicht eine Mittelpunkt-Vorstellung, um welche der Wille  M. Guyau, a. a. O. S. , .  Vergl. damit Tolstois Anschauungen: „Er ist ein heftiger Gegner aller gereimten Dichtung. Der Rhythmus, der Reim binde den Gedanken, und Alles, was der entsprechendsten Formung der Idee entgegenstehe, sei vom Uebel … Der Graf … hält es für einen Fortschritt, daß unsere Schätzung der Versdichtung eine geringere ist.“ Raphael Löwenfeld, Gespräche über und mit Tolstoj. Berlin, . S. .

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alle anderen Vorstellungen gruppirt, indem er mit Hilfe der Aufmerksamkeit die  einen unterdrückt und die anderen verstärkt, sondern die vollkommen mechani-

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sche Ideen-Assoziation, die in dem Falle des Parnassiers der ähnliche oder gleiche Wortklang erweckt. Sein Dichten ist reine Echolalie. Die parnassische Theorie von der Wichtigkeit der Form, namentlich des Reimes, für das Gedicht, von dem eigenen Schönheitswerthe des Wortklanges, von dem sinnlichen Vergnügen, das wohltönende Silben ohne Rücksicht auf ihren | Sinn bereiten können, und von der Unnöthigkeit, ja Schädlichkeit eines Gedankens [] im Gedichte, ist für die neueste Entwickelung der französischen Dichtung bestimmend geworden. Die Symbolisten, die wir im vorigen Buche kennen gelernt haben, halten sich genau an diese Theorie. Diese Armen im Geiste, die nur noch „wohltönende Silben“ ohne Sinn stammeln, sind die unmittelbaren Nachkommen der Parnassier. Die parnassische Kunsttheorie ist blos schwachsinnig. Die Ich-Sucht aber der Entarteten, die sie ausgeheckt haben, gibt sich in der ungeheuern Wichtigkeit kund, die sie ihrem Reimfang, ihrer kindischen Jagd nach „dröhnenden“ und „strahlenden“ Worten beimessen. Ein Gedicht, in welchem er eine Reihe von Lebensfreuden so üppig wie möglich geschildert hat, schließt Catulle Mendès mit dieser „Widmung“: „Prinz, ich lüge. Unter den Zwillingen und der Urne“ (des Wassermannes?) „in seinem Buche zwei edle Worte unter einander reimen zu machen, das ist die einzige Freude des Lebens.“ Wer nicht dieser Meinung ist, dem wird einfach sein Menschenthum abgesprochen. So nennt Baudelaire Paris „ein Capharnaum, ein Babel, bevölkert von Dummköpfen und Unnöthigen, wenig wählerisch in der Art, wie sie die Zeit tödten, und dichterischen Genüssen vollständig unzugänglich.“ Schon den einen Dummkopf zu nennen, der auf sinnloses Reimgeklingel und Stränge angeblich schöner Eigennamen nichts gibt, ist eine alberne Selbstüberhebung, über die man lachen muß. Aber Baude-|laire spricht sogar von [] „Unnöthigen“! Man hat kein Recht, zu leben, wenn man dem, was er „dichterische Genüsse“ nennt, das heißt blödsinniger Echolalie, unzugänglich ist! Weil er mit kindischem Ernst Wortspielerei treibt, muß jeder Andere seinem Säugling-Treiben dieselbe Wichtigkeit beimessen wie er und wer dies nicht thut, der ist nicht etwa blos ein Philister oder ein untergeordnetes Wesen ohne Empfänglichkeit und Feinsinn, nein, er ist ein Unnöthiger! Hätte der Tropf die Macht dazu, so würde er ohne Zweifel seinen Gedanken bis ans Ende verfolgen und die „Unnöthigen“ aus der

 Catulle Mendès, „La seule douceur“: „Envoi.“  „Prince, je mens. Sous les Gémeaux Ou l’Amphore, faire en son livre Rimer entre eux de nobles mots, C’est la seule douceur de vivre.“  Charles Baudelaire in Eugène Crépets „Les poëtes français“ Paris, , Band IV: Studie über  Théodore de Banville.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Reihe der Lebenden fegen, wie Nero diejenigen tödten ließ, die seinem Spiel im Theater nicht Beifall klatschten. Kann sich die ungeheuerliche Ich-Sucht eines Gestörten rücksichtsloser äußern als in dieser Bemerkung Baudelaires? Das zweite Kennzeichen der Parnassier nach ihrer wahnwitzigen Ueberschätzung des Werthes der äußerlichsten Form für die Dichtung und der Reimerei für die Menschheit ist ihre „impassibilité“ oder Gefühllosigkeit. Sie selbst wollen allerdings nicht zugeben, daß diese Bezeichnung auf sie anwendbar sei. „Wird man mit diesem Unsinn endlich einmal aufhören!“ ruft Leconte de Lisle ärgerlich, als er nach der „impassibilité“ gefragt wird, und Catulle Mendès sagt: „Weil Glatigny ein Gedicht mit dem Titel ‚Impassible‘ gemacht hat, … weil ich diesen Vers geschrieben habe, dessen Ziererei durch den weitern Verlauf des Gedichtes Lügen gestraft wird: ‚Pas de sanglots humains dans le chant des poëtes‘ (Kein menschliches Schluchzen im Sange des Dichters), hat man geschlossen, daß die Parnassier gefühllos waren oder zu sein vorgaben! Wo findet man diesen gefrorenen Gleichmuth, diese Trockenheit, die man uns zuschreibt?“ | [] In der That, das Wort wurde von der Kritik schlecht gewählt. „Impassibilité“ in dem Sinne von vollkommener Gleichgiltigkeit gegen das Schauspiel der Natur und des Lebens kann es in der Kunst gar nicht geben. Sie ist psychologisch unmöglich. Jede Kunstübung, soweit sie nicht bloße Schüler-Nachahmung ist, sondern aus ursprünglichem Drange hervorgeht, ist eine Gegenwirkung des Künstlers auf empfangene Eindrücke. Solche, die ihn ganz gleichgiltig lassen, geben dem Dichter keinen Vers, dem Maler kein Bild, dem Musiker keine Tonzeichnung ein. Die Eindrücke müssen ihm irgendwie auffallen, sie müssen in ihm irgend eine Emotion erwecken, damit er überhaupt auf den Gedanken komme, sie künstlerisch zu veräußerlichen. Der Künstler hat den Gegenstand, den er mit den besonderen Mitteln seiner Kunst behandelt, aus der unendlichen Fülle der an seinen Sinnen gleichmäßig vorüberflutenden Erscheinungen herausgehoben, er hat eine auswählende Thätigkeit geübt und ihm vor anderen den Vorzug gegeben. Diese Bevorzugung setzt Neigung oder Abneigung voraus, der Künstler muß also bei der Wahrnehmung des Gegenstandes etwas empfunden haben. Die bloße Thatsache, daß der Schriftsteller ein Gedicht oder ein Buch geschrieben, beweist, daß ihm der behandelte Stoff Neugierde, Theilnahme, Aerger, eine angenehme oder unangenehme Erregung eingeflößt, daß er seinen Geist zum Verweilen gezwungen hat. Das aber ist das Gegentheil von Gleichgiltigkeit. Die Parnassier sind nicht gefühllos. In ihren Gedichten wird gewinselt, geflucht und gelästert, Freude, Begeisterung und Schmerz geäußert. Aber was sie quält oder entzückt, das sind ausschließlich ihre eigenen Zustände, ihre eigenen Erlebnisse. Der einzige Inhalt ihrer Dichtung ist ihr Ich. Leid und Freude der übrigen Menschen sind für sie nicht vorhanden. Gefühllosigkeit ist also ihre „impassibilité“

 Jules Huret, a. a. O. S. .  Jules Huret, a. a. O. S. .

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nicht, wohl aber vollständige Abwesenheit von Mitgefühl. Der „Elfenbein- | Thurm“, in welchem nach dem Worte eines von ihnen der Dichter haust und sich [] von dem gleichgiltigen Menschengewühl stolz absondert, ist ein schöner Name, den er seiner Stumpfheit für das Sein und Thun der Mitmenschen beilegt. Der wohlthuend geistesklare Kritiker F. Brunetière hat das sehr gut gesehen. „Eine der schlimmsten Folgen“, schreibt er, „welche sie“ (die Theorien der Parnassier, insbesondere Baudelaires) „nach sich ziehen können, ist, die Kunst und mit ihr den Künstler zu vereinsamen, aus diesem ein Götzenbild für ihn selbst zu machen und ihn gleichsam ins Heiligthum seines Ichs einzuschließen. In seinem Werke ist dann nur noch von ihm die Rede, — von seinen Kümmernissen und Freuden, seiner Liebe und seinen Träumen, — und um sich in der Richtung seiner Fähigkeiten zu entwickeln, kennt er nichts mehr, was er achtet oder verschont, und sieht er nichts mehr, was er nicht sich unterordnet. (Dies ist, nebenbei bemerkt, die wahre Umschreibung der Unsittlichkeit.) Sich selbst zum Mittelpunkt der Dinge zu machen ist in philosophischem Sinne eine ebenso kindische Selbsttäuschung, wie im Menschen den ‚König der Schöpfung‘ oder in der Erde das, was die Alten den ‚Nabel der Welt‘ nannten, zu sehen. In rein menschlicher Hinsicht ist es die Verherrlichung der Selbstsucht, folglich die völlige Leugnung der menschlichen Zusammengehörigkeit.“ Brunetière bemerkt also die Ich-Sucht der Parnassier und stellt deren gesellschaftfeindliches Wesen, deren Unsittlichkeit fest, er hält aber ihren Standpunkt für einen freiwillig gewählten. Das ist sein einziger Irrthum. Sie sind nicht ichsüchtig aus Willkür, sondern weil sie es sein müssen und nicht anders sein können. Ihre Ich-Sucht ist keine Philosophie oder Sittenlehre, sondern ihre Krankheit. | Die Gefühllosigkeit der Parnassier ist, wie wir gesehen haben, kein Kaltsinn [] gegen Alles, sondern nur ein solcher gegen die Mitmenschen, verbunden mit zärtlichster Liebe zu sich selbst. Aber die „impassibilité“ hat noch eine andere Seite und wahrscheinlich haben diejenigen, welche die Bezeichnung gefunden, hauptsächlich an jene gedacht, ohne sich über sie ganz klar geworden zu sein. Die Gleichgiltigkeit, welche die Parnassier zur Schau tragen und auf die sie besonders stolz sind, ist eine solche, nicht so sehr gegen Freud und Leid der Nebenmenschen, wie gegen das allgemein anerkannte Sittengesetz. Für sie gibt es weder Tugend noch Laster, sondern nur Schönes und Häßliches, Seltenes und Gewöhnliches. Sie nehmen ihren Standpunkt „jenseits von Gut und Böse“, lange ehe der moralische Irrsinn Nietzsches diese Formel gefunden hat. Baudelaire rechtfertigt ihn mit folgenden Worten: „Die Dichtung … hat keinen andern Zweck als sich selbst; sie kann keinen andern haben und keine Dichtung wird so groß, edel und des Namens Dichtung wahrhaft würdig sein wie diejenige, welche einzig um des Vergnügens

  F. Brunetière, La statue de Baudelaire. Revue des deux mondes, Band , S. .  Les fleurs du mal par Charles Baudelaire, précédées d’une notice par Théophile Gautier.  ème édition. Paris, . S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

willen, ein Gedicht zu schreiben, geschrieben worden ist. Ich will nicht sagen, daß die Dichtkunst nicht die Sitten veredeln, — man verstehe mich recht: — daß ihr Endergebniß nicht sein soll, den Menschen über seine gemeinen Interessen zu erheben. Das wäre offenbar ein Unsinn. Ich sage, daß der Dichter, wenn er einen sittlichen Zweck verfolgte, seine dichterische Kraft vermindert hat, und es ist nicht unvorsichtig, zu wetten, daß sein Werk schlecht sein wird. Die Dichtkunst kann sich nicht der Wissenschaft oder der Sittlichkeit gleichstellen, wenn sie nicht sterben oder sich entwürdigen soll. Sie hat nicht die Wahrheit zum Gegenstande, son[] dern nur sich selbst.“ Und Gautier, der diese Be-|merkung anführt, billigt sie vollkommen. „Auf den hohen Gipfeln ist er“ (der Dichter) „ruhig; pacem summa tenent“, sagt er mit einem Bilde, das sich bei Nietzsche dutzendfach vorfindet. Nageln wir hier vor Allem einen geläufigen Sophistenkniff fest, den Baudelaire anwendet. Die Frage, die er beantworten will, ist die: hat die Dichtkunst sittlich zu sein oder nicht? Er schmuggelt nun in seine Beweisführung unversehens die Wissenschaft ein, von der gar nicht die Rede ist, nennt sie mit der Sittlichkeit in einem Athem, zeigt triumphirend, daß die Dichtkunst mit Wissenschaft nichts gemein habe, und thut dann, als hätte er dasselbe von der Sittlichkeit dargethan. Nun fällt es aber heute keinem Vernünftigen ein, von der Dichtkunst zu fordern, daß sie wissenschaftliche Wahrheiten lehre, und seit Menschenaltern ist kein ernst zu nehmender Dichter auf den Gedanken gekommen, Sternkunde oder Physik in einem Lehrgedichte vorzutragen. Die einzige Frage, die Manche als offene behandeln möchten, ist die, ob man von der Dichtkunst Sittlichkeit verlangen darf oder nicht, und auf diese Frage antwortet Baudelaire mit einer unerwiesenen Behauptung und einer listigen Ablenkung. Ich will bei der Frage hier nicht verweilen. Nicht, weil sie mich etwa in Verlegenheit setzt und ich ihr ausweichen möchte, sondern weil mir ihre Erörterung bei der Betrachtung der Jünger des Parnasses, der Decadenten und Aestheten, die seine Lehre auf die Spitze getrieben haben, besser am Platze zu sein scheint. Ich will vorläufig die Behauptung der Parnassier, daß die Dichtkunst sich um Sittlichkeit nicht zu kümmern habe, ohne Widerspruch lassen. Der Dichter soll „jenseits von Gut und Böse“ stehen. Das kann doch aber vernünftigerweise nur vollkommene Unparteilichkeit bedeuten, das kann doch nur heißen, daß der Dichter bei der Betrachtung irgend einer That, irgend eines Anblicks blos ein Schauspiel vor [] sich sehen will, das er | lediglich auf seine Schönheit oder Häßlichkeit beurtheilt, ohne auch nur zu fragen, ob es sittlich sei oder nicht. Ein Dichter dieser Art wird nun nothwendig ebenso viel Schönes wie Häßliches, ebenso viel Sittliches wie Unsittliches sehen müssen. Denn Alles in Allem ist das Sittliche und Schöne in der Menschheit und in der Natur mindestens ebenso häufig wie sein Gegentheil, ja es muß sogar überwiegen. Uns erscheint nämlich als häßlich, was entweder eine Abweichung von den uns vertrauten Gesetzen, denen wir uns angepaßt haben, darstellt oder was wir als die Erscheinungsform irgend einer Schädlichkeit für uns erkennen, und als unsittlich betrachten wir, was dem Gedeihen oder gar dem

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 Bestande der Gesellschaft abträglich ist. Die bloße Thatsache nun, daß wir Gesetze

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zu finden geglaubt haben, ist ein Beweis, daß die den erkannten Gesetzen entsprechenden, also gefälligen, Erscheinungen weit zahlreicher sein müssen als die ihnen zuwiderlaufenden, das heißt häßlichen, und ebenso ist der Bestand der Gesellschaft ein Beweis, daß die erhaltenden und begünstigenden, also die sittlichen, Kräfte stärker sein müssen als die zerstörenden, das heißt unsittlichen. Deshalb müßte in einer Dichtung, die sich zwar um Sittlichkeit nicht kümmert, aber wirklich, wie sie vorgibt, unparteiisch wäre, das Sittliche mindestens in dem gleichen, ja in etwas größerm Umfange vertreten sein wie das Unsittliche. In der Dichtung der Parnassier ist dies aber nicht der Fall. Sie gefällt sich fast ausschließlich im Verworfenen und Häßlichen. Gautier preist in „Mademoiselle de Maupin“ die niedrigste Sinnlichkeit, die, wenn sie das gemeingeltende Gesetz werden sollte, die Menschheit auf den Stand der ohne individuelle Liebe und ohne irgend eine Form der Familie in Geschlechtsgemeinschaft lebenden Wilden zurückbringen müßte; Sainte Beuve, allerdings mehr Romantiker als Parnassier, erbaut der „Wollust“ in seinem gleichnamigen Werke einen Altar, an dem die alten | asiatischen Astaroth- [] Anbeter ihren Tempeldienst ohne Weiteres verrichten könnten; Catulle Mendès, der seine schriftstellerische Laufbahn mit einer Verurtheilung wegen Sittlichkeitsvergehens begann, die er sich durch sein Schauspiel „Le roman d’une nuit“ zuzog, feiert in seinen späteren Werken, deren Titel ich nicht einmal anführen will, eine der ekelhaftesten Formen der Unzucht wider die Natur; Baudelaire besingt Aeser, Krankheiten, Verbrecher und Freudendirnen; kurz, wenn man das Weltbild im Spiegel der parnassischen Dichtung betrachtet, so muß man den Eindruck bekommen, daß es sich ausschließlich aus Laster, Verbrechen und Verwesung zusammensetzt, ohne auch nur eine Beimischung von gesunden Regungen, erfreulichen Anblicken in der Natur und rechtschaffen fühlenden und handelnden Menschen. Als richtiger Entarteter fortwährend sich selbst widersprechend, sagt derselbe Baudelaire, der an einer Stelle dafür eintritt, daß die Dichtkunst nicht mit der Sittlichkeit zusammengeworfen werde, an einer andern Stelle: „Die zeitgenössische Kunst hat eine wesentlich teuflische (démoniaque) Richtung. Und es scheint, daß dieser höllische Theil des Menschen, den der Mensch mit solchem Vergnügen sich selbst erklärt, von Tag zu Tag zunimmt, wie wenn es dem Teufel Spaß machen würde, ihn mit künstlichen Mitteln zu vergrößern, als wäre er ein Mäster, der die Menschheit geduldig in seinem Hühnerhofe stopft, um sich eine saftigere Speise zu bereiten.“ Das ist doch nicht mehr Gleichgiltigkeit gegen Tugend oder Laster, es ist entschiedene Vorliebe für dieses und Abneigung gegen jene. Die Parnassier stehen durchaus nicht „jenseits von Gut und Böse“, sondern bis an die Nase im Bösen und möglichst weit vom Guten. Ihre geheuchelte „Unparteilichkeit“ gegenüber dem Schauspiele der Sittlichkeit und | Unsittlichkeit ist in Wahrheit eine leidenschaftli- []

  Baudelaire, in dem angeführten Aufsatz in „Les poëtes français.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

che Parteinahme für das Unsittliche und Abscheuliche. Man hatte also in der That Unrecht, sie mit „impassibilité“ kennzeichnen zu wollen. Wie sie nur gegen die Mitmenschen, nicht aber gegen sich selbst gefühllos sind, so sind sie auch nur gegen das Gute kalt und gleichgiltig, nicht aber gegen das Schlechte, dieses zieht sie vielmehr ebenso an und erfüllt sie mit ebensolchen Lustgefühlen wie die gesunde Mehrheit der Menschen das Gute. Die Thatsache dieser Vorliebe für das Böse ist von vielen Beobachtern gesehen worden und manche haben versucht, ihr philosophisch beizukommen. In einem Vortrag über „das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung“ sagt Franz Brentano: „Da das, was in der Tragödie vorgestellt wird, so wenig wünschenswerth und erfreulich scheint, so legt dies den Gedanken nahe, daß jene Erklärungsgründe“ (für das Wohlgefallen, das man daran findet) „nicht sowohl in der Vorzüglichkeit des Gegenstandes, als in der Rücksicht auf ein besonderes Bedürfniß des Publikums zu suchen seien, dem nur durch solcherlei Vorstellungen entsprochen werde … Sollte etwa der Mensch … zeitweise ein Bedürfniß fühlen nach etwas, was ihn schmerzlich aufregt, und sich nach der Tragödie sehnen wie nach etwas, was dies in wirksamster Weise vollbringt, und sozusagen ihm dazu verhilft, einmal recht von Herzen zu weinen? … Wenn lange kein Affekt, wie die, welche die Trauerspiele erregen, in uns gewaltet hat, (so verlangt das Vermögen dazu) so zu sagen wieder nach einer Bethätigung, und nun bringt sie das Trauerspiel, und wir fühlen die Aufregungen zwar schmerzlich, aber doch zugleich wie eine wohlthuende Stillung des Bedürfnisses. Weniger an mir selbst als an anderen, die z. B. [] den Zeitungsbericht über eine neue | Mordthat mit Begier verschlangen, glaube ich hundertfach solche Beobachtungen gemacht zu haben.“ Professor Brentano verwechselt hier zunächst mit bedauerlicher Flüchtigkeit das Schlechte und das Traurige, zwei gänzlich verschiedene Begriffe. Der Tod eines geliebten Menschen z. B. ist traurig, man kann aber nichts Schlechtes, nämlich Unsittliches, darin sehen, wenn man nicht mit künstelnder Rabulistik in die das Einzelwesen auflösende Thätigkeit der Naturkräfte Unsittlichkeit hineindeuten will. Er gibt ferner für eine Erklärung aus, was nur eine ganz flache Umschreibung ist. Warum erfreut man sich am Schlechten? Weil — offenbar eine gewisse Neigung in uns besteht, uns am Schlechten zu erfreuen! F. Paulhan hat die Frage ernster behandelt, aber auch mit ihm kommen wir nicht viel weiter. „Ein beschaulicher, weiter, wißbegieriger, durchdringender Geist“, sagt er, „von tief sittlicher Richtung, die aber während einer wissenschaftlichen Untersuchung oder ästhetischen Betrachtung großentheils vergessen werden kann, dazu manchmal eine leichte natürliche Verderbtheit oder auch blos eine deutliche Hinneigung zu gewissen Vergnügen, sie

 Franz Brentano, Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft der Litteraturfreunde zu Wien. Leipzig, . S. .  F. Paulhan, Le nouveau mysticisme. Paris, . S. . (Siehe übrigens den ganzen Abschnitt „L’amour du mal“, „Die Neigung zum Bösen“, S. —.)

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Parnassier und Diaboliker.

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seien welche sie wollen, die an sich kein Uebel sind, ja sogar etwas Gutes sein mögen, deren Mißbrauch aber ein Uebel ist, das sind die Daseinsgründe des Gefühls“ (der Liebe zum Bösen), „das uns beschäftigt. Der Gedanke des Bösen findet einen festen Stützpunkt, indem er einem Geschmack schmeichelt, und er wird uns auch darum angenehm sein, weil er einen Hang geistig (idéalement) befriedigt, den thatsächlich bis zur Sättigung zu befriedigen uns die Vernunft verhindert.“ Wieder dieselbe Gedankenfolge, die sich wie eine spielende Katze im Kreise dreht und sich in den eigenen Schwanz beißt: wir haben Geschmack am Bösen, weil wir am Bösen Geschmack finden. | Die geistige Untüchtigkeit, die Paul- [] han hier verräth, ist umso befremdlicher, als er wenige Seiten vor dieser Stelle der richtigen Lösung des Räthsels ganz nahe gekommen ist. „Es gibt krankhafte Zustände,“ heißt es dort, „in welchen die Begierden sich verirren; der Kranke verschlingt mit Heißhunger Kohle, Erde, noch Schlimmeres. Es gibt andere, in welchen an irgend einer Stelle der Wille verdorben und der Charakter zerrüttet ist. Die Heilkunde liefert überraschende Beispiele dieser Art. Der Fall des Marquis de Sade ist einer der bezeichnendsten … Man empfindet manchmal einen Genuß bei dem Uebel, das man selbst erleidet, ebenso wie bei dem der Anderen. Die Gefühle der Wollust des Schmerzes und der Wollust des Mitleids, mit denen die Psychologie sich beschäftigt hat, scheinen manchmal eine wahre Verirrung in sich zu schließen und als Bestandtheil die Liebe zum Schmerz um des Schmerzes selbst willen zu enthalten … Oft hat man es mit Leuten zu thun, die zunächst ihr eigenes Wohl, dann aber das Wehe der Anderen wollen. Beide Seelenzustände sind in vielen Fällen von Schlechtigkeit sichtbar, z. B. in dem Fall eines reichen Fabrikanten, der einen jungen Mann auf Freiersfüßen fälschlich beschuldigt, an einer ansteckenden Krankheit zu leiden, und seine Behauptung ‚um des Vergnügens willen‘ aufrecht hält, … oder jenes jungen Strolchs, der die Wonne des Diebstahls so stark genießt, daß er ausruft: ‚Selbst wenn ich reich wäre, möchte ich immer stehlen‘. Der Anblick körperlicher Leiden ist auch nicht immer unangenehm, viele Leute suchen ihn … Diese Verderbniß kommt wahrscheinlich zu allen Zeiten und in allen Ländern vor … Aber im Geist eines Menschen unserer eigenen Zeit erwacht eine gewisse Freude daran, die Ordnung der Natur zu stören, die früher nicht mit solcher Stärke aufgetreten zu sein scheint. Es ist eine der tausend Formen des Beschränktseins auf sich selbst, das unsere vorgeschrittene Gesittung kennzeichnet.“ Hier berührt Paulhan den Kernpunkt der Frage, | ohne ihn zu bemerken und ohne bei ihm zu [] verweilen. Die Liebe zum Schlechten ist nicht etwas allgemein Menschliches, sie ist eine „Verirrung“ und „Verderbniß“, und sie ist „eine der tausend Formen des Beschränktseins auf sich selbst“ („repliement sur soi“), anders gesagt, kürzer und deutlicher: der Ich-Sucht. Das Schriftthum des Strafrechts und der Irrenheilkunde verzeichnet Hunderte von Fällen der Verirrung, in welchen der Kranke eine leidenschaftliche Vorliebe für das Schlechte, das Gräßliche, für Leid und Tod empfand. Ich möchte nur einen bezeichnenden Fall dieser Art anführen: „Im Herbst  starb in einem schweize-

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

rischen Gefängniß die Massenmörderin Marie Jeanneret. Nach einer guten Erziehung hatte sich dieselbe der Krankenpflege gewidmet, nicht im Drange eines wohlthätigen Gemüthes, sondern zur Befriedigung einer wahnsinnigen Leidenschaft. Die Schmerzen, das Stöhnen und die Gesichtsverzerrungen der Kranken bereiteten ihr eine geheime Wollust. Auf den Knieen und mit Thränen bat sie die Aerzte, gefährlichen Operationen beiwohnen zu dürfen, um ihr Gelüst stillen zu können. Der Todeskampf eines Menschen bot ihr den höchsten Genuß. Unter dem Vorwande einer Augenkrankheit hatte sie mehrere Augenärzte konsultirt und ihnen Belladonna und andere Gifte entwandt. Ihr erstes Opfer war ihre Freundin, andere folgten, ohne daß die Aerzte, denen sie sich als Pflegerin empfahl, Verdacht schöpften, zumal sie die Stätte ihres Wirkens häufig wechselte. Ein vereitelter Versuch in Wien führte zur Entdeckung; sie hatte nicht weniger als neun Menschen vergiftet, fühlte aber darüber weder Reue noch Scham. Im Gefängniß war ihr eifrigster Wunsch, schwer zu erkranken, um sich an den eigenen Gesichtsverzerrungen im Spiegel weiden zu können.“ | [] So erkennen wir im Lichte der klinischen Beobachtung das eigentliche Wesen der Parnassier. Ihre Gefühllosigkeit, so weit sie bloße Gleichgiltigkeit gegen fremdes Leiden, gegen Tugend und Laster ist, geht aus ihrer Ichsucht hervor und ist eine Folge ihrer Stumpfheit, die es ihnen unmöglich macht, von einem Vorgange der Außenwelt, also auch von Schmerz, Laster oder Häßlichkeit, eine genug lebhafte Vorstellung zu gewinnen, um auf ihn mit den normalen Gegenwirkungen, mit Widerwillen, Entrüstung oder Mitgefühl, antworten zu können; wo sie aber ausgesprochene Vorliebe für das Böse und Abscheuliche ist, da haben wir in ihr dieselbe Verirrung zu sehen, die den Schwachsinnigen zu einem grausamen Thierquäler und die oben angeführte Jeanneret zur Massenmörderin macht. Der ganze Unterschied besteht in der Stärke des Zwangsantriebes. Ist er mächtig genug, so hat er Handlungen der Herzlosigkeit und Verbrechen zur Folge. Wird er von den

 Oswald Zimmermann, Die Wonne des Leids. Beiträge zur Erkenntniß des menschlichen Empfindens in Kunst und Leben. Zweite umgearbeitete Auflage. Leipzig, . S. . Dieses Buch ist in gedanklicher Hinsicht werthlos, denn es wiederholt in gewollt schwulstiger Sprache und sichtbarer Liebäugelei mit sogenannter „Tiefe“ die schwachsinnigsten Faseleien des Kleeblattes E. v. Hartmann, Nietzsche und Gustav Jäger. Doch hat der belesene Verfasser in einzelnen Abschnitten, so besonders in dem, welcher „Die Association von Wollust und Grausamkeit“ betitelt ist (S.  ff.), brauchbaren Stoff fleißig zusammengetragen. (Der Fall Jeanneret, zuerst von Chatelain in den Annales médico-psychologiques veröffentlicht, wird übrigens auch von KrafftEbing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, . Aufl., Stuttgart, , S. , angeführt.)  Sollier, a. a. O. S. : „Der Schwachsinnige ist raffinirt in seinen Verfolgungen, und zwar bewußt. Er liebt es, leiden zu sehen. Er schindet einen lebenden Vogel, lacht, wenn er ihn schreien hört und zappeln sieht. Er reißt einem Frosche die Beine aus, sieht einen Augenblick zu, wie er sich quält, dann zermalmt er ihn plötzlich oder tödtet ihn auf andere Weise, wie einer der Schwachsinnigen von Bicêtre zu thun pflegt … Der Schwachsinnige ist gegen Menschen ebenso grausam wie gegen Thiere, selbst in seinen Scherzen. Er lacht boshaft und spottet über einen Kameraden, der zum Krüppel wird.“

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Parnassier und Diaboliker.

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er-|krankten Zentren nicht mit hinreichender Kraft ausgearbeitet, so kann er durch [] bloße Einbildungsthätigkeit, dichterisch oder künstlerisch, befriedigt werden. Natürlich hat man versucht, die Verirrung als etwas Berechtigtes und Gewolltes zu vertheidigen und sogar als eine geistige Vornehmheit hinzustellen. So legt Paul Bourget mit kleinen stilistischen Kniffen, die keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß er seine eigene Meinung ausdrückt, den Decadenten diese Beweisführung in den Mund: „Wir ergötzen uns an dem, was ihr unsere Stilverderbniß nennt, und wir ergötzen mit uns die Verfeinertsten unserer Gattung und unserer Zeit. Bleibt zu wissen, ob unsere Ausnahme nicht eine Aristokratie ist und ob auf ästhetischem Gebiete die Mehrheit der Zustimmungen etwas Anderes darstellt als die Mehrheit der Unwissenheiten … Es ist ein Selbstbetrug, nicht den Muth seines geistigen Vergnügens zu haben. Gefallen wir uns also in unseren Wunderlichkeiten des Ideals und der Form, auch wenn wir uns in eine Einsamkeit ohne Besucher sollen einschließen müssen.“ Es ist wohl nicht erst nöthig, darauf hinzuweisen, daß sich mit dieser Begründung, in welcher Bourget die ganze wahnsinnige „Philosophie“ Nietzsches vorausnimmt, jedes Verbrechen als eine „aristokratische“ That verherrlichen läßt. Der Mörder hat „den Muth seines geistigen Vergnügens“, die Mehrheit, die ihm nicht zustimmt, ist eine solche von „Unwissenden“, er gefällt sich in seiner „Wunderlichkeit des Ideals“ und muß sich dafür allenfalls „in eine Einsamkeit ohne Besucher“, einfacher gesagt, in ein Zuchthaus, einschließen lassen, wenn ihn nämlich die „Mehrheit der Unwissenheiten“ nicht hängen oder köpfen läßt. Der Decadent Maurice Barrès hat denn auch Chambige, | eine Art Lustmörder, mit der Bourgetschen [] Theorie vertheidigt und gerechtfertigt! Derselbe widerliche Theoretiker der ruchlosesten gesellschaftfeindlichen Ichsucht leugnet auch, daß man von einem kranken oder gesunden Geiste sprechen dürfe. „Es gibt“, sagt er, „weder Krankheit noch Gesundheit der Seele, vom Gesichtspunkte des nicht metaphysischen Beobachters gibt es nur Seelenzustände, denn er erkennt in unseren Schmerzen und Fähigkeiten, in unseren Tugenden und Lastern, in unserm Wollen und Verzichten, blos wechselnde, aber nothwendige, folglich normale, den bekannten Gesetzen der Ideen-Assoziation unterworfene Verbindungen. Blos ein Vorurtheil, in welchem die veraltete Lehre der Endursachen und der Glaube an einen bestimmten Zweck der Welt wieder zum Vorschein kommen, kann bewirken, daß wir die Liebe von Daphnis und Chloe im Thal als natürlich und gesund, die eines Baudelaire als künstlich und ungesund betrachten.“ Um diese alberne Sophistik auf ihren wirklichen Werth zurückzuführen, braucht der gesunde Menschenverstand blos auf den Bestand von Irrenanstalten hinzuweisen. Der gesunde Menschenverstand hat aber bei den Schönrednern vom Schlage Bourgets kein Stimmrecht. So sei ihm denn mit unverdientem Ernste geant-

 Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine. Paris, . S. .  Bourget, a. a. O. S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

wortet, daß zwar in der That jede Lebensäußerung, des Gehirns wie irgend eines andern Organs, die nothwendige und einzig mögliche Wirkung der sie veranlassenden Ursachen ist, daß aber je nach dem Zustande des Organs und seiner einfachsten Bestandtheile seine an sich nothwendige und natürliche Thätigkeit dem Gesammtorganismus nützlich oder schädlich sein kann. Ob die Welt einen Zweck hat, mag durchaus dahingestellt bleiben; die Thätigkeit aller einzelnen Bestand[] theile des Organismus indeß hat, wenn auch vielleicht nicht den Zweck, so | doch unverkennbar die Wirkung, den Gesammtorganismus zu erhalten; wenn sie diese Wirkung nicht erzielt, ja ihr entgegenarbeitet, dann ist sie dem Gesammtorganismus schädlich und für eine solche schädliche Thätigkeit einzelner Organe hat die Sprache das Wort Krankheit gebildet. Der Sophist, der leugnet, daß es Krankheit und Gesundheit gibt, muß folgerichtig auch leugnen, daß es Leben und Tod gibt, oder doch, daß der Tod irgend eine Bedeutung hat. Denn thatsächlich geht bei gewisser Thätigkeit seiner Theile, die wir eben krankhaft nennen, der Gesammtorganismus zu Grunde, während er bei einer anders gearteten Thätigkeit, der als gesund bezeichneten, lebt und gedeiht. So lange also Bourget nicht die Lehre aufstellt, daß Schmerz ebenso angenehm sei wie Vergnügen, Hinfälligkeit eben so erfreulich wie Kraft und der Tod ebenso wünschenswerth wie das Leben, beweist er, daß er es nicht versteht oder wagt, aus seinem Vordersatze die richtige Folgerung zu ziehen, die sofort dessen Unsinnigkeit erkennen lassen würde. Die ganze Theorie, welche die Vorliebe für das Böse erklären und rechtfertigen soll, ist ja übrigens blos nachträglich erfunden worden. Die Neigung zum Schlechten und Abscheulichen bestand zuerst und war nicht eine Folge der philosophischen Erwägung und Selbstüberredung, daß sie vollkommen berechtigt sei. Wir haben hier einfach wieder einen Fall jener im Laufe dieser Untersuchungen so oft festgestellten Methode unseres Bewußtseins, den Antrieben und Handlungen des Unbewußten vernünftige Ursachen anzudichten. Es handelt sich bei der Vorliebe der Parnassier für das Unsittliche, Verbrecherische und Häßliche blos um organische Verirrung und um nichts Anderes. Die Behauptung, daß derartige Neigungen in jedem Menschen, selbst dem besten und gesundesten, bestehen und von ihm nur unterdrückt werden, während die Parnassier ihnen die Zügel schießen lassen, ist eine willkürliche und unerwiesene. Die [] Beobachtung und der ganze | Gang der sittengeschichtlichen Entwickelung der Menschheit widersprechen ihr. Daß es in der Natur Abstoßung und Anziehung gibt, wird Niemand leugnen wollen. Ein Blick auf magnetische Pole, auf positive und negative Elektroden genügt, um diese Thatsache sicherzustellen. Wir finden dieselbe Erscheinung bei den untersten Lebewesen wieder. Gewisse Stoffe ziehen sie an, von anderen werden sie abgestoßen. Es kann sich dabei unmöglich um eine Neigung oder eine Willensäußerung handeln. Der Vorgang muß vielmehr als ein rein mechanischer angesehen werden, der seinen Grund wahrscheinlich in Molekularverhältnissen hat, welche uns vorerst noch unbekannt sind. Die Wissenschaft, die sich mit den

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 Kleinlebewesen beschäftigt, nennt deren Verhalten gegenüber anziehenden und

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abstoßenden Stoffen mit dem von Pfeffer gebildeten Worte Chemotaxis. Bei den höheren Organismen liegen natürlich die Verhältnisse nicht so einfach. Auch bei ihnen ist zwar der letzte Grund der Neigungen und Abneigungen sicherlich ein chemotaktischer, die Wirkung der Chemotaxis muß sich aber bei ihnen nothwendig in anderer Form geltend machen. Eine einfache Zelle, wie es etwa ein Bazillus ist, entfernt sich sofort, wenn sie in den Bereich eines sie abstoßenden chemischen Körpers gelangt. Die Zelle aber, die ein Bestandtheil eines höhern Organismus ist, hat nicht diese Freiheit der Bewegung. Sie kann sich selbstständig nicht vom Platze rühren. Wird sie nun chemotaktisch abgestoßen, so kann sie der Schädlichkeit nicht entrinnen und muß ihr ausgesetzt bleiben, erleidet aber in ihrer Lebensthätigkeit Störungen. Sind diese so erheblich, daß die Verrichtungen des Gesammtorganismus durch sie beeinträchtigt werden, so erlangt dieser Kenntniß von ihnen, bestrebt sich, ihre Ursache wahrzunehmen, macht diese auch in der Regel ausfindig und | thut für die leidende Einzelzelle das, was sie allein nicht thun kann: [] er entzieht sie der abstoßenden Einwirkung. Der Organismus erlangt nothwendig Erfahrung in seiner Abwehr der Schädlichkeiten. Er lernt die Verhältnisse kennen, unter welchen diese auftreten, und läßt es nicht mehr auf wirkliche chemotaktische Einwirkung ankommen, sondern weicht meistens den störenden Stoffen aus, noch ehe sie eine thatsächliche, unmittelbare Abstoßung haben üben können. Die vom Einzelwesen erworbene Erkenntniß wird vererbt und ein organisirter Besitz der Gattung, die Mahnung, daß eine Schädlichkeit auf ihn wirkt und er sich ihr zu entziehen habe, empfindet der Organismus subjektiv als Unbehagen, das sich bis zum Schmerze steigern kann. Dem Schmerze zu entgehen wird zu einer Hauptverrichtung des Organismus, deren unvollkommene Besorgung oder Unterlassung er mit seinem Untergange büßt. Beim Menschen sind die Vorgänge nicht anders, als sie hier geschildert wurden. Die organisirte Erberfahrung der Gattung belehrt ihn über die Schädlichkeit der Einwirkungen, denen er häufig ausgesetzt ist. Seine Vorposten gegen die feindlichen Naturkräfte sind seine Sinne. Geschmack und Geruch geben ihm von chemotaktisch abstoßenden Stoffen den Eindruck von Ekel und Gestank, die verschiedenen Arten von Hautempfindung bringen ihm durch Schmerz, Hitze- oder Kältegefühl zum Bewußtsein, daß eine gegebene Berührung für ihn störend ist, Auge und Ohr warnen ihn durch die Empfindung des Grellen, des Gellenden, des Mißklanges vor den mechanischen Wirkungen gewisser physikalischer Erscheinungen und die höheren Hirnzentren antworten auf erkannte Schädlichkeiten zusammengesetzter Art oder auf ihre Vorstellung mit der ebenfalls zusammengesetzten Gegenwirkung der Unlust in ihren verschiedenen Heftigkeitsgraden vom bloßen Unbehagen bis zum Abscheu, zur Entrüstung, zum Entsetzen oder zur Wuth. Der Träger der organisirten, erblichen Gattungserfahrung | ist das Unbewußte; [] ihm ist denn auch die Abwehr der einfachen, häufig vorkommenden Schädlichkei Verworn gebraucht das Wort Chemotropismus.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

ten überlassen und der Ekel gegen unzuträgliche Geschmacks-, der Widerwille gegen solche Geruchs-Eindrücke, das Entsetzen vor gefährlichen Thieren, NaturErscheinungen u. s. w. ist in ihm zum Triebe geworden, dem der Organismus sich ohne Nachdenken, das heißt ohne Dazwischenkunft des Bewußtseins, überläßt. Aber nicht nur was ihm selbst unmittelbar schädlich ist lernt der menschliche Organismus unterscheiden und scheuen, sondern auch das, was ihn nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen, als Mitglied einer gefügten Gesellschaft bedroht; auch die Abneigung gegen Einwirkungen, die den Bestand oder das Gedeihen der Gesellschaft schädigen, wird bei ihm zum Triebe. Doch stellt diese Bereicherung der organisirten Erkenntniß des Unbewußten einen hohen Grad von Entwickelung dar, den viele Menschen nicht erreichen. Die gesellschaftlichen Triebe sind vom Menschen am spätesten erworben worden und dem bekannten Gesetze gemäß verliert er sie zuerst, wenn er in seiner organischen Entwickelung zurückgeht. Das Bewußtsein hat nur dann Anlaß, die Gefährlichkeit von Erscheinungen festzustellen und den Organismus gegen sie zu schützen, wenn diese Erscheinungen entweder ganz neue oder sehr seltene sind, so daß sie nicht erblich bekannt und gefürchtet sein können, oder wenn sie sehr viele verschiedenartige Bestandtheile in sich schließen, auch nicht unmittelbar, sondern erst in näherer oder entfernterer Folge wirken, so daß ihre Erkenntniß eine verwickelte Vorstellungs- und Urtheils-Thätigkeit erfordert. Das Mißbehagen ist also immer eine triebhafte oder bewußte Erkenntniß der Schädlichkeit einer Einwirkung. Sein Gegensatz, das Wohlbehagen, ist nicht etwa blos, wie mehrfach behauptet worden ist, die Abwesenheit von Mißbehagen, also [] ein negativer Zustand, sondern etwas positives. Jeder Theil | des Organismus hat bestimmte Bedürfnisse, die sich als bewußter oder unbewußter Drang, als Neigung oder Begierde geltend machen; die Befriedigung dieser Bedürfnisse wird als Wohlbehagen empfunden, das sich bis zum Wonnegefühl steigern kann. Das erste aller Bedürfnisse eines jeden Organs ist, sich zu bethätigen. Schon seine bloße Thätigkeit ist, so lange sie nicht über sein Vermögen geht, für es eine Quelle der Lust. Die Thätigkeit der Hirnzentren besteht darin, Eindrücke zu empfangen und sie in Vorstellungen und Bewegungen umzusetzen. Diese Thätigkeit gibt ihnen Lustgefühle. Sie haben deshalb einen starken Drang danach, Eindrücke zu empfangen, um durch sie in Thätigkeit versetzt zu werden und Lustgefühle zu erlangen. Dies ist in großen Zügen die Naturgeschichte der Lust- und Unlustgefühle. Mit ihr vertraut, wird der Leser keine Schwierigkeit finden, das Wesen der Verirrung zu verstehen. Das Unbewußte untersteht ganz denselben biologischen Gesetzen wie das Bewußte. Der Träger des Unbewußten ist ja dasselbe Nervengewebe, — obschon vielleicht ein anderer Theil des Systems, — in welchem auch das Bewußtsein ausgearbeitet wird. Das Unbewußte ist ebensowenig unfehlbar wie das Bewußtsein. Es kann höher entwickelt oder in der Entwickelung zurückgeblieben, es kann düm-

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mer oder klüger sein. Ist das Unbewußte mangelhaft entwickelt, so unterscheidet  es schlecht und urtheilt falsch, es irrt in der Erkenntniß des Schädlichen und

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Zuträglichen, der Trieb wird unzuverlässig oder stumpf. Dann haben wir die Erscheinung der Gleichgiltigkeit gegen das Häßliche, Ekelhafte, Unsittliche. Wir wissen, daß bei den Entarteten mannigfaltige Bildungshemmungen und Mißbildungen auftreten. Einzelne Organe oder ganze Organsysteme bleiben auf einer Stufe der Entwickelung stehen, die der Kindheit, ja dem Leben im Mutterleibe entspricht. Wenn die höchsten Hirnzentren des Entarteten in ihrer Ent-|wickelung [] auf einer frühen Stufe stehen, so wird er ein Schwach- oder Blödsinniger. Trifft die Entwickelungshemmung die Nervenzentren des Unbewußten, so verliert der Entartete die Triebe, die sich im Normalmenschen als Ekel und Abscheu gegen bestimmte Schädlichkeiten äußern, sein Unbewußtes, möchte ich sagen, leidet an Imbecillität oder Idiotismus. Wir haben ferner im vorigen Kapitel gesehen, daß die Eindrucksfähigkeit der Nerven und des Gehirns des Entarteten abgestumpft ist. Er nimmt deshalb nur starke Eindrücke wahr und seine Hirnzentren werden nur von solchen zu jener Denk- und Bewegungsthätigkeit angeregt, die ihnen Lustgefühle geben. Nun sind die unangenehmen Eindrücke naturgemäß stärker als die angenehmen oder gleichgiltigen, denn wenn sie nicht stärker wären, so würden wir sie nicht als schmerzlich empfinden und sie würden den Organismus nicht zu Anstrengungen der Abwehr veranlassen. Um sich also die Lustgefühle zu verschaffen, die mit der Thätigkeit der Hirnzentren verbunden sind, um den Drang nach Bethätigung zu befriedigen, der den Hirnzentren wie allen anderen Organen eigen ist, sucht der Entartete die Eindrücke, die stark genug sind, um seine stumpfen und trägen Zentren zu Thätigkeit anzuregen, diese starken Eindrücke aber sind die, welche der gesunde Mensch als schmerzliche oder widerwärtige empfindet. So erklären sich die Verirrungen oder „Perversionen“ der Entarteten. Sie haben ein Verlangen nach starken Eindrücken, weil solche allein ihr Gehirn in Thätigkeit versetzen, und diese gewünschte Wirkung auf ihre Zentren haben eben blos diejenigen Eindrücke, die von gesunden Menschen wegen ihrer Heftigkeit gescheut werden, das heißt die schmerzlichen, widerwärtigen und empörenden. Zu sagen, daß jeder Mensch im Geheimen eine gewisse Vorliebe für das Schlechte und Abscheuliche habe, ist eine Albernheit; das einzige Fünkchen Wahrheit in dieser thörichten Behauptung ist, daß auch der normale Mensch in Ermüdung | oder Erschöpfung durch Krankheit stumpf wird, also in den Zustand geräth, [] der beim Entarteten der dauernde ist. Dann zeigt er natürlich dieselben Erscheinungen, die wir bei diesem festgestellt haben, allerdings in viel kleinerem Maße. Er mag dann an Verbrechen und Häßlichkeit Gefallen finden, und zwar an jenem früher als an dieser; denn Verbrechen sind gesellschaftliche Schädlichkeiten, Häßlichkeiten dagegen die Erscheinungsform von Kräften, die dem Einzelwesen unzuträglich sind; die gesellschaftlichen Triebe sind aber schwächer als die der Selbsterhaltung, sie schlafen daher früher ein und darum schwindet der Widerwillen

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gegen das Verbrechen früher als gegen das Häßliche. Jedenfalls ist dieser Zustand auch beim normalen Menschen eine Verirrung, die auf Ermüdung zurückzuführen ist, und nicht ein solcher, der bei ihm, wie beim Entarteten, immer besteht und den verborgenen Grundzug seines Wesens ausmacht, wie seine sophistischen Verleumder behaupten. Von den französischen Romantikern zu den Parnassiern führt eine ununterbrochene Entwickelungslinie und in jenen sind bereits alle Keime der Verirrungen zu unterscheiden, die uns bei diesen in voller Entfaltung entgegentreten. Wir haben im vorigen Buche gesehen, wie äußerlich und gedankenarm ihre Dichtung ist, wie hoch sie ihre Einbildungskraft über die Beobachtung der Wirklichkeit stellten und welche Bedeutung sie ihrer Traumwelt beimaßen. Sainte Beuve, der ursprünglich selbst zu ihnen gehörte, sagt hierüber mit einer Selbstgefälligkeit, welche beweist, daß er sich nicht bewußt ist, einen Tadel auszusprechen: „Sie“ (die Romantiker) „hatten einen Gedanken, einen Gottesdienst: die Liebe zur Kunst, die leidenschaftliche Begierde nach einem lebhaften Ausdrucke, einer neuen Wendung, einem aus[] erlesenen Bilde, einem prächtigen Reime; | sie wollten für jeden ihrer Rahmen einen goldenen Nagel.“ (Ein bemerkenswerth schlechtes Bild. Man mag für ein Gemälde einen reichen Rahmen wünschen, aber beim Nagel, an dem der Rahmen hängt, wird man wohl nur auf Festigkeit, nicht auf Kostbarkeit sehen.) „Sie waren Kinder, wenn Sie wollen, aber Kinder der Musen, die niemals der gewöhnlichen Anmuth opferten.“ Halten wir dieses Geständniß fest: die Romantiker waren Kinder; sie waren es in ihrer Unfähigkeit, die Welt und die Menschen zu begreifen, in dem Ernst und Eifer, mit dem sie ihrer Reimspielerei oblagen, in der Harmlosigkeit, mit der sie sich über die für Erwachsene geltenden Vorschriften der Sittlichkeit und des Verstandes hinwegsetzten. Man übertreibe diese Kinderei ein wenig, ohne ihr die wilde und ungeheuerliche Einbildungskraft eines Victor Hugo und seine Gabe der stets die verblüffendsten Gegensätze heraufbeschwörenden blitzschnellen Ideen-Assoziation beizugesellen, und man erhält das schriftstellerische Charakterbild von Théophile Gautier, den der schwachsinnige Barbey d’Aurévilly mit Goethe in einem Athem nennen konnte, offenbar blos, weil der Klang des Namens unseres großen Dichters in französischer Aussprache mit dem von „Gautier“ eine gewisse Aehnlichkeit hat, von dem aber einer seiner Bewunderer, J. K. Huysmans sagt: „Er“ (der Held seines Romans) „wurde allmälig gegen Gautiers Werke gleichgiltig; seine Bewunderung für den unvergleichlichen Maler, der dieser Mann war, löste sich von Tag zu Tag mehr auf; jetzt war er von seinen so zu sagen gleichgiltigen Beschreibungen mehr erstaunt als entzückt. Der Eindruck der Dinge blieb in seinem so

 Sainte-Beuve, Causeries de Lundi, chez Garnier frères. Tome XIV. Paris, Causerie vom . Oktober .  Barbey d’Aurévilly, Goethe et Diderot. Paris, .  J. K. Huysmans, A rebours. ème mille. Paris, . S. .

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wahrnehmungsfähigen Auge haften, aber auch nur im Auge, und war nicht weiter | in sein Gehirn und Fleisch (?) gedrungen; gleich einem wunderbaren Spiegel [] hatte er sich immer darauf beschränkt, mit unpersönlicher Deutlichkeit die Umgebung zurückzustrahlen.“ Wenn Huysmans Gautier für einen unpersönlichen Spiegel der Wirklichkeit hält, so überläßt er sich einer Sehtäuschung. In Vers und Prosa ist Gautier ein mechanischer Arbeiter, der glitzernde Beiwörter zeilenweise an einander fädelt, ohne sich etwas dabei zu denken. Seine Beschreibungen geben nie einen bestimmten Umriß des Gegenstandes, den er schildern will. Sie erinnern an eine grobe Mosaik der spät byzantinischen Verfallszeit, deren einzelne Steine Lapis lazuli, Malachit, Chrysopras und Jaspis sind und die deshalb den Eindruck barbarischer Pracht machen, aber kaum noch eine Zeichnung erkennen lassen. In seiner IchSucht ohne jede Theilnahme für die Außenwelt, ahnt er nicht, was ihr Schauspiel an Schmerzen und Freuden in sich schließt, und so wie er bei ihrem Anblicke nichts empfindet, so kann er auch mit seinen zerstreuten und manierirten Versuchen, ihre Erscheinung wiederzugeben, beim Leser keinerlei Emotion erwecken. Die einzigen Erregungen, deren er, von Hochmuth und Eitelkeit abgesehen, fähig ist, sind geschlechtliche, in seinen Werken gibt es daher blos die eine Abwechselung zwischen eisiger Kälte und Schlüpfrigkeit. Uebertreibt man Gautiers Formdienst und Lüsternheit und gesellt man zu seiner Gleichgiltigkeit gegen Welt und Menschen die Verirrung, welche sie zur Vorliebe für das Schlechte und Ekelhafte auswachsen läßt, so hat man die Erscheinung Baudelaires vor sich. Wir müssen bei ihr verweilen, denn Baudelaire ist, mehr noch als Gautier, das geistige Oberhaupt und Vorbild der Parnassier und sein Einfluß beherrscht allgewaltig das heutige Geschlecht der französischen und theilweise auch das der englischen Dichter und Schriftsteller. Daß Baudelaire ein Entarteter war, bedarf keines umständlichen Beweises. Er starb an allgemeiner Lähmung, nach-|dem er monatelang in den tiefsten Graden [] des Irrsinns geschwelt hatte. Aber selbst wenn kein so entsetzliches Ende die Diagnose gegen jede Anfechtung sichergestellt hätte, so wäre sie nicht zweifelhaft, da er sein ganzes Leben lang alle geistigen Stigmate der Entartung aufwies. Er war zugleich Mystiker und Erotomane, er war Haschisch- und Opiumesser, er fühlte

 Bourget, a. a. O. S. : „Er ist ein Wollüstling (libertin) und Vorstellungen, die bis zum  Sadismus verderbt sind, erregen denselben Mann, der den erhobenen Finger seiner Madonna anbetet. Die mürrischen Trunkenheiten der gemeinen Venus, die berauschende Glut der schwarzen Venus, die kunstvollen Wonnen der erfahrenen Venus, die verbrecherischen Wagnisse der blutgierigen Venus haben ihre Erinnerungen in den durchgeistigtsten seiner Gedichte gelassen. Ein übelriechender Dunst niederträchtiger Schlafzimmer entweicht seinen Gedichten  u. s. w.“ Und S. : „Baudelaires Seele war eine mystische. Diese Seele … begnügte sich nicht mit dem Glauben an einen Gedanken. Sie sah Gott. Er war für sie kein Wort, kein Sinnbild, keine Abstraktion, sondern ein Wesen, in dessen Gesellschaft die Seele lebte wie wir mit einem liebenden Vater.“  Theophile Gautier, der selbst Mitglied eines Haschisch-Klubs war, sucht uns zwar („Les fleurs  du mal“ S.  ff.) weiszumachen, daß Baudelaire sich dem Genusse der narkotischen Gifte blos

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sich in bezeichnender Weise von anderen Entarteten, Wahnsinnigen oder Lasterhaften angezogen und verehrte z. B. von allen Schriftstellern den begabten, aber geistesgestörten Edgar Poë und den Opiumesser de Quincey am höchsten. Er übersetzte Edgar Poës Erzählungen und widmete ihm eine begeisterte Lebensgeschichte und Kritik und aus den „Bekenntnissen eines englischen Opiumessers“ von de Quincey veranstaltete er einen erschöpfenden Auszug, den er mit überschwenglichen Zwischenbemerkungen begleitete. | [] Die Eigenthümlichkeiten seines Geistes enthüllen sich uns in der Sammlung seiner Gedichte, der er den seine Selbsterkenntniß und zugleich seinen Cynismus verrathenden Titel „Les fleurs du mal“, „Die Blüthen des Bösen“, gegeben hat. Die Sammlung ist nicht vollständig. Es fehlen in ihr einige Gedichte, die nur handschriftlich umlaufen, weil sie zu scheußlich sind, um die volle Oeffentlichkeit des marktgängigen Buches zu vertragen. Ich will aber meine Anführungen blos aus den gedruckten Versen schöpfen, da sie vollkommen genügen, um ihren Verfasser zu kennzeichnen. Baudelaire haßt das Leben und die Bewegung. In dem Gedichte „Die Eulen“ („Les hiboux“) schildert er diese Vögel, wie sie unbeweglich dasitzen, und fährt fort: „Ihre Haltung lehrt den Weisen, daß er in dieser Welt das Getümmel und die Bewegung zu scheuen hat. Der Mensch, trunken von einem vorüberziehenden Schatten, empfängt immer die Züchtigung dafür, daß er den Platz wechseln wollte.“ Die Schönheit läßt er von sich sagen („La beauté“): „Ich hasse die Bewegung, welche die Linien stört. Und niemals weine und niemals lache ich.“ In demselben Maße, wie er das Natürliche verabscheut, liebt er das Künstliche. Sein Ideal einer Welt schildert er so („Rêve parisien“): „Das unbestimmte und ferne Bild dieser schrecklichen Landschaft, die nie ein sterbliches Auge gesehen, entzückte mich heute früh … Ich hatte aus diesem Schauspiele die unregelmäßige Pflanze verbannt … Ich genoß in meinem Gemälde die berauschende (!) Einförmigkeit des Metalls, des Marmors und des Wassers. Ein Babel von Treppen und Bogengängen, war es ein ungeheurer Palast, voll von Becken und Springbrunnen, die in mattes oder geglättetes Gold fielen. Schwere Wasserfälle hingen blendend wie Kristallvorhänge an metallenen Mauern. Die schlummernden Teiche waren nicht von Bäumen, sondern von Säulen umgeben und ungeheure Najaden spiegelten sich in [] ihnen wie Frauen. Wasser-|flächen breiteten sich blau zwischen rosenfarbenen und grünen Ufermauern Millionen Meilen weit, bis an die Grenzen der Welt, aus. Es waren unerhörte Steine und zauberische Fluten; es waren ungeheure Glasplatten, geblendet von Allem, was sie widerspiegelten … Und Alles, selbst die schwarze Farbe, schien geglättet, hell, schillernd … Uebrigens kein Stern, keine Spur einer

„aus wissenschaftlichem Drange“, „zum Zwecke des Studiums ihrer Wirkung an sich selbst“ hingegeben habe, wir kennen ja aber die Neigung aller Entarteten, Zwangsantriebe, deren sie sich schämen, als freie Willenshandlungen hinzustellen, für die sie allerlei beschönigende Erklärungsgründe haben.

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Sonne, selbst nicht am untern Himmelsrande, um diese Wunder zu erhellen, die in einem persönlichen (!) Feuer glänzten. Und über diesem Zauber schwebte (furchtbare Neuheit! Alles fürs Auge, nichts fürs Ohr!) ein Schweigen der Ewigkeit.“ Das ist die Welt, die er sich vorstellt und die ihn entzückt: keine „unregelmäßige“ Pflanze, keine Sonne, kein Stern, keine Bewegung, kein Laut, nichts als Metall und Glas; also etwas wie eine Nürnberger Blechlandschaft, nur größer und aus theurerem Stoff, ein Spielzeug für das Kind eines am Protzenwahnsinn leidenden amerikanischen Millionärs, mit elektrischen Lämpchen im Innern und einem Uhrwerk, das langsam die gläsernen Springbrunnen dreht und die gläsernen Wasserflächen schiebt. So muß das Weltideal eines ichsüchtigen Entarteten nothwendig aussehen. Die Natur läßt ihn kalt oder stößt ihn ab, weil er sie weder wahrnimmt noch begreift. Wo der gesunde Mensch das Bild der Außenwelt sieht, da umgibt den Ichsüchtigen eine finstere Leere, in der höchstens unverstandene Nebelformen wallen. Um ihrem Grauen zu entgehen, läßt er auf sie wie aus einer Zauberlaterne die farbigen Schatten der Vorstellungen fallen, die sein Bewußtsein erfüllen, diese Vorstellungen aber sind starr, träge, einförmig und kindisch wie die kranken und schwachen Hirnzentren, die sie ausarbeiten. Die Unfähigkeit des Ichsüchtigen, äußere Eindrücke richtig zu empfinden, und die Mühsal, mit der sein Gehirn arbeitet, ist auch der Schlüssel zur entsetzlichen Langweile, über die Baudelaire klagt, und zu dem tiefen Pessimismus, mit dem er Welt und Leben betrachtet. „Wir haben überall“, heißt es in der | „Reise“ „… nur [] das langweilige Schauspiel der unsterblichen Sünde gesehen. Das Weib, eine gemeine, hochmüthige und dumme Sklavin, betet sich selbst an, ohne zu lachen, und liebt sich, ohne sich vor sich zu ekeln. Der Mann, ein gefräßiger, harter, habgieriger Tyrann, ist ein Sklave dieser Sklavin und eine Gosse im Siel. Der Henker schwelgt, der Blutzeuge schluchzt, Blut würzt und durchduftet das Fest … Die wenigst Dummen, kühne Liebhaber des Wahnsinns, fliehen die vom Schicksal eingepferchte große Herde und flüchten sich ins ungeheure (!) Opium. Das ist der ewige Tagesbericht vom ganzen Erdball … O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! Lichten wir den Anker! Dieses Land langweilt uns, o Tod. Stechen wir in die See … Wir wollen an den Boden des Abgrunds tauchen; er sei Hölle oder Himmel; was liegt daran? An den Boden des Unbekannten, um etwas Neues zu finden!“ Dieser verzweifelte Schrei nach „etwas Neuem“ ist die natürliche Klage eines Gehirns, das sich nach dem Lustgefühl der Thätigkeit sehnt, gierig nach Anregung verlangt und sie von den untüchtigen Sinnesnerven nicht erhalten kann. Ein gesunder Mensch denke sich in die Stimmung, in die er gerathen würde, wenn man ihn in eine Zelle sperrte, in der kein Strahl, kein Laut, kein Duft der Außenwelt zu ihm dringen würde. Er hat dann die richtige Vorstellung vom dauernden Seelenzustande des Ichsüchtigen, den die Unvollkommenheit seines Nervensystems ewig von der Welt, ihrem fröhlichen Lärm, ihren wechselnden Bildern, ihrem spannenden Treiben absondert. Baudelaire kann nicht anders als sich entsetzlich langweilen, denn sein Geist erfährt wirklich nichts Neues und Unterhaltliches und ist

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gezwungen, ohne Unterlaß in der Selbstbetrachtung seines bresthaften, schmerzwimmernden Ichs zu brüten. Die einzigen Bilder, die seine Gedankenwelt bevölkern, sind finstere, grimmige und abscheuliche. Er will („Der muntere Todte“) „in einer fetten Erde, voll Schne[] cken, selbst für sich | eine tiefe Grube graben, wo er bequem seine alten Knochen ausstrecken und in der Vergessenheit schlafen kann wie ein Haifisch im Wasser …“ „Ehe ich eine Thräne von der Welt erbettle, möchte ich lieber die Raben einladen, alle Enden meines scheußlichen Aases anzuzapfen. O Würmer, schwarze Genossen ohne Ohren und Augen, kommt und seht einen freien und fröhlichen Todten zu euch kommen …“ In „La cloche félée“ („Die geborstene Glocke“) sagt er von sich: „Meine Seele ist geborsten und wenn sie in ihrer Langweile die kalte Luft der Nächte mit ihren Gesängen bevölkern will, kommt es oft vor, daß ihre geschwächte Stimme das dicke (!) Geröchel eines Verwundeten scheint, welchen man am Rande eines Sees von Blut unter einem großen Haufen Todter vergißt.“ („Spleen“:) „Mein trauriges Gehirn ist eine ungeheure Gruft, die mehr Todte enthält als das Armengrab. Ich bin ein vom Mond verabscheuter Kirchhof, wo lange Würmer sich wie Gewissensbisse fortschleppen.“ („Anziehendes Grauen“:) „Himmel, zerrissen wie Strände, in euch spiegelt sich mein Stolz. Eure ungeheueren Wolken in Trauer sind die Leichenwagen meiner Träume und eure Lichter sind der Widerschein der Hölle, in der mein Herz sich gefällt.“ („Romantischer Sonnenuntergang“:) „Ein Grabesduft schwimmt in der Finsterniß, mein furchtsamer Fuß streift am Rande des Morastes unvermuthete Kröten und kalte Nacktschnecken.“ („Todtentanz“, der Dichter spricht zu einem Skelett:) „Manche werden dich ein Zerrbild nennen; trunkene Liebhaber des Fleisches, verstehen sie nicht die unsagbare Eleganz des menschlichen Knochengerüstes; du entsprichst, großes Skelett, meinem köstlichsten Geschmacke!“ („Ein Aas“:) „Erinnern Sie sich, meine Seele, des Gegenstandes, den wir eines schönen Sommermorgens an der Wende eines Pfades gesehen haben: ein gräßliches Aas auf einem Kieselbette; die Beine in der Luft, wie ein geiles Weib, [] brennend und Gifte schwitzend, öffnete es frech und unbe-|kümmert seinen Bauch voll Ausdünstungen … Der Himmel betrachtete das prächtige (!) Aas, das sich wie eine Blume entfaltete, der Gestank war so entsetzlich, daß Sie glaubten, Sie müßten ohnmächtig auf den Rasen sinken … Und doch, Stern meiner Augen, Sonne meiner Natur, Sie, mein Engel und meine Leidenschaft, Sie werden wie dieser Mist, wie dieser fürchterliche Pestgeruch sein. Ja, Königin der Anmuth, so werden Sie sein, wenn Sie nach der letzten Wegzehrung hingehen werden, um unter Gras und feisten Pflanzen zwischen Todtengebein zu vermodern.“ Am meisten gefällt sich Baudelaire in diesen Bildern des Todes und der Verwesung, deren ich noch eine große Anzahl anführen könnte, wenn ich nicht glaubte, daß die gegebenen Proben genügen. Aber nächst dem Schauerlichen und Ekelhaften ist es das Kranke, Verbrecherische und Schlüpfrige, was ihn am stärksten anzieht. („Traum eines Wißbegierigen“:) „Kennst du, wie ich, den schmackhaften Schmerz?“ („Spleen“:) „Meine Katze, am Boden ihr Lager suchend, zappelt fort-

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während mit ihrem abgemagerten und aussätzigen Körper.“ („Der Wein des Einsamen“:) „Ein lasterhafter Kuß der magern Adeline …“ („Abenddämmerung“:) „Hier ist der reizende Abend, der Freund des Verbrechers … Der ungeduldige Mensch verwandelt sich jetzt in ein reißendes Thier.“ („Die Zerstörung“:) „Fortwährend regt sich neben mir der Dämon … Ich verschlinge ihn, ich fühle, wie er meine Lunge verbrennt und mit ewiger sündhafter Begierde erfüllt … Er führt mich in die tiefen, wüsten Ebenen der Langweile und wirft mir besudelte Gewänder, offene Wunden und blutige Zerstörungswerkzeuge ins Auge.“ In dem Gedichte „Eine Blutzeugin“ schildert er liebevoll und eingehend ein Schlafzimmer, in welchem eine junge, wahrscheinlich hübsche, Dirne ermordet worden ist; der Mörder hat ihr den Kopf abgeschnitten und mitgenommen; der Dichter ist nur | auf eins neugierig: [] „Der bösartige Mensch, dessen Lüste du lebend trotz so vieler Liebe nicht sättigen konntest, hat er an deinem leblosen und willfährigen Fleische die Ungeheuerlichkeit seiner Begierde gestillt? …“ „Verdammte Frauen“, das von der schlimmsten Verirrung entarteter Weiber handelt, schließt mit dieser verzückten Anrufung der Heldinen des widernatürlichen Lasters: „O Jungfrauen, o Dämonen, o Ungeheuer, o Märtyrerinen, große Geister, Verächterinen der Wirklichkeit, Sucherinen des Unendlichen, Fromme und Satyren, bald voller Schreie, bald voller Thränen, ihr, die meine Seele in eure Hölle verfolgt hat, arme Schwestern, ich liebe euch ebenso heiß, wie ich euch beklage …“ („Vorrede“:) „Wenn Schändung, Gift, Dolch und Brandstiftung das banale Tuch unserer erbärmlichen Schicksale noch nicht mit ihren hübschen Zeichnungen gestickt haben, so ist es, weil unsere Seele leider nicht kühn genug ist.“ Aber wenn er nicht kühn genug ist, um selbst Verbrechen zu begehen, so läßt er doch keinen Zweifel daran bestehen, daß er sie liebt und der Tugend weit vorzieht, wie ihm auch der Herbst lieber ist als der Frühling und eine kothige Straße lieber als eine blühende Wiese („Nebel und Regen“). Er ist gegen das Weltall „mehr feindselig als gleichgiltig“ („Die sieben Greise“). Das Schauspiel des Schmerzes läßt ihn kalt und wenn vor ihm Thränen vergossen werden, so denkt er nur an eine Landschaft mit fließendem Wasser. („Was liegt mir daran, daß du tugendhaft bist? Sei du nur schön und traurig. Die Thränen verleihen deinem Gesichte einen Reiz mehr, wie der Fluß einer Landschaft.“ „Trauriges Madrigal“.) Im Streite zwischen Abel und Kain nimmt er ohne zu schwanken für Kain Partei: „Geschlecht Abels, schlafe, trinke und esse; dir lächelt Gott wohlgefällig. Geschlecht Kains, im Kothe krieche und stirb elend. Geschlecht Abels, dein Opfer schmeichelt der Nase des Seraphs; Geschlecht Kains, wird deine Qual nie ein Ende nehmen? Geschlecht Abels, sieh deine | Saaten und deine Herden gedeihen; [] Geschlecht Kains, deine Gedärme heulen vor Hunger wie ein alter Hund. Geschlecht Abels, wärme deinen Bauch an deinem patriarchalischen Herde; Geschlecht Kains, in deiner Höhle zittre vor Kälte, armer Schakal! … Ah, Geschlecht Abels, dein Aas wird die rauchende Erde düngen! Geschlecht Kains, deine Arbeit ist noch nicht hinlänglich gethan. Geschlecht Abels, sieh deine Schmach. Das Eisen ist durch den Spieß besiegt! (?) Geschlecht Kains, ersteige den Himmel und

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wirf Gott auf die Erde hinunter!“ („Abel und Kain.“) Wenn er betet, so ist es zum Teufel: „Ruhm und Preis dir, Satan, in den Höhen des Himmels, wo du geherrscht hast, und in den Tiefen der Hölle, wo du, ein Besiegter, schweigend träumst. Mache, daß meine Seele eines Tages, unter dem Baume der Erkenntniß, bei dir ruhe …“ („Die Litaneien Satans.“) Hier mischt sich in die Verirrung jener Mysticismus, der beim Entarteten nie fehlt. Die Liebe zum Bösen kann naturgemäß nur dann die Form der Teufelsverehrung, des Diabolismus, annehmen, wenn man gläubig ist, wenn man Uebernatürliches für wirklich hält. Nur wer mit allen seinen Empfindungen im Kirchenglauben wurzelt, wird, wenn er an sittlicher Verirrung leidet, eine Wonne in der Anbetung Satans, in der leidenschaftlichen Schmähung Gottes und des Heilands und in der Schändung der Sinnbilder des Glaubens suchen oder seine widernatürliche Wollust durch Todsünde und höllische Verdammniß steigern wollen, indem er ihr in der „schwarzen Messe“ fröhnt, im Beisein eines wirklichen, geweihten Priesters und unter scheußlicher Nachspottung aller Formen der Liturgie. Neben dem Teufel betet Baudelaire nur noch eine Macht an: die Wollust. „Ah! dämpfe deine Flammen nicht!“ fleht er zu ihr, „wärme mein erstarrendes Herz, Wollust! Marter der Seelen! … Wollust, sei immer meine Königin!“ („Gebet eines Heiden.“) | [] Um das Bild dieses Geistes zu vervollständigen, seien noch zwei seiner Eigenthümlichkeiten angeführt. Er leidet erstens an beständigen Angstvorstellungen. „Alles ist Abgrund“, sagt er in dem als Bekenntniß werthvollen Gedichte „Der Abgrund“; „Handlung, Verlangen, Traum, Wort; über mein Haar, das sich senkrecht sträubt, fühle ich, wie oft (!) den Hauch der Furcht streifen. Oben, unten, überall die Tiefe, die Klippe, das Schweigen, der schauerliche und anziehende Raum. Auf den Grund meiner Nächte zeichnet Gott mit seinem geschickten Finger erbarmungslos ein vielförmiges Schreckgespenst. Ich fürchte mich vor dem Schlafe, wie man sich vor einem großen Loche fürchtet, das voll unbestimmten Grauens ist und man weiß nicht wohin führt; ich sehe nichts als Unendliches durch alle Fenster und mein Geist, immer vom Schwindel verfolgt, sehnt sich nach der Unempfindlichkeit des Nichts.“ Baudelaire schildert hier ziemlich genau jene Zwangsvorstellung der Entarteten, welche man „Abgrundscheu“, „Kremnophobie“, genannt hat. Die zweite Eigenthümlichkeit ist seine Beschäftigung mit den Gerüchen. Er ist auf sie aufmerksam, deutet sie, sie regen in ihm allerlei Empfindungen und Ideen-Assoziationen an. „Die Düfte, die Farben und die Töne entsprechen einander,“ heißt es in dem Gedichte „Beziehungen“; „es gibt Düfte, die so frisch sind wie Kinderfleisch, sanft wie Oboen, grün wie Wiesen, andere, die verdorben, reich und triumphirend sind und die Ausdehnung des Unendlichen haben, wie Ambra, Moschus und Weihrauch, welche die Verzückungen des Geistes und der Sinne singen.“ Er liebt das Weib mit seinem Geruchssinn („Der Duft deiner

 Dr. E. Régis, Manuel pratique de médecine mentale.  ème édition. Paris, . S. .

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 fremdartigen Reize“, — „Eine Malabarin“) und versäumt nie, bei der Schilderung

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einer Geliebten ihrer Ausdünstungen zu erwähnen. („Wenn | ich mit geschlossenen [] Augen an einem warmen Herbstabend den Duft deines heißen Busens athme, sehe ich glückliche Ufer sich entrollen, welche die Flammen einer eintönigen (!) Sonne blenden.“ „Ausländischer Geruch.“ „O Vließ, das sich bis zu deinem Nacken kräuselt! O Locken! O mit Trägheit geladener Duft! … Das schmachtende Asien und das brennende Afrika, eine ganze ferne Welt, … lebt in deinen Tiefen, duftender Wald!“ „Das Haar.“) Natürlich zieht er Düfte, die der gesunde Mensch als Gestank empfindet, den Wohlgerüchen vor. Fäulniß, Verwesung und Pestilenz entzücken seine Nase. „Es gibt starke Düfte, für die alle Stoffe löcherig sind. Man möchte fast sagen, daß sie durch Glas dringen … Manchmal findet man eine alte Flasche, die sich erinnert, aus der in vollem Leben eine wiederkehrende Seele hervorsprudelt … Siehe da die berauschende Erinnerung, die in der getrübten Luft umherflattert; die Augen schließen sich; der Schwindel erfaßt die besiegte Seele und stößt sie mit beiden Händen zu einem Abgrund hin, den menschlicher Gestank verdunkelt; er wirft sie am Rande einer hundertjährigen Schlucht zu Boden, wo, ein sein Leichentuch zerreißender übelriechender Lazarus, der gespenstische Leichnam einer alten, ranzigen Liebe, entzückend und verwest, sich erwachend regt. So werde ich, wenn ich, von den Menschen vergessen, … eine alte schmutzige Flasche, … in einen Winkel geworfen sein werde, dein Sarg sein, liebenswürdiger Pesthauch! Der Zeuge deiner Kraft und Giftigkeit, theures, von Engeln bereitetes Gift!“ („Die Flasche.“) Wir haben nun alle Züge kennen gelernt, aus denen sich der Charakter Baudelaires zusammensetzt. Er „betet sich selbst an“; verabscheut die Natur, die Bewegung, das Leben; | träumt ein Ideal von Unbeweglichkeit, ewiger Stille, Ebenmaß [] und Künstlichkeit; er liebt die Krankheit, die Häßlichkeit, das Verbrechen; alle seine Neigungen sind in tiefer Verirrung denen der gesunden Menschen entgegengesetzt; seinen Geruchssinn erfreut Fäulnißduft, sein Auge der Anblick von Aas, Eiterwunden und fremdem Schmerz; er fühlt sich in kothigem und nebeligem Herbstwetter wohl; seine Sinne erregt nur widernatürliche Lust. Er klagt über entsetzliche Langweile und Angstgefühle; seinen Geist erfüllen blos finstere Vorstellungen, seine Ideen-Assoziation arbeitet ausschließlich mit traurigen oder ekelhaften Bildern; das Einzige, was ihn zerstreuen und anregen kann, ist das Schlechte: Mord, Blut, Geilheit, Lüge. Er betet zu Satan und sehnt sich nach der Hölle. Er hat versucht, seine Eigenthümlichkeiten für Komödienspiel und einstudirte Haltung auszugeben. In einer Anmerkung zur ersten Ausgabe () seiner Gedichte sagt er: „Diese Gedichte … sind, wenigstens von den geistreichen Leuten, nur als das angesehen worden, was sie sind: als die Nachahmung der Denkweise der Unwissenheit und Wuth. Seinem schmerzlichen Programm getreu hat der Verfasser der ‚Blüthen des Bösen‘ als vollkommener Komödiant seinen Geist nach

  Gautier in „Les fleurs du mal“, S. : „ce culte de soimême“ u. s. w.

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allen Sophismen wie nach allen Verworfenheiten formen müssen. Diese offene Erklärung wird ohne Zweifel die wackeren Kritiker nicht hindern, ihn unter die Theologen des Pöbels einzureihen“ u. s. w. Einige seiner Bewunderer glauben ihm diese Ausrede oder thun doch so. „Seine tiefe Verachtung des Gemeinen“, säuselt Bourget, „bricht in maßlosen Paradoxen und mühseligen Foppereien (mystifications) los … Bei vielen Lesern, selbst den scharfsinnigsten, hindert die Furcht, von diesem großen Verächter hinters Licht geführt zu werden, die volle Bewunderung.“ [] Das Wort ist zum kritischen Gemein-|platze für Baudelaire geworden; er ist ein „Mystifikateur“; es ist Alles nur Täuschung; er selbst fühlt und glaubt nichts von dem, was er in seinen Gedichten ausdrückt. Das ist aber Faselei und nichts anderes. Ein leeres Stroh dreschender, Papierschnitzel kräuselnder Rhetor von der Art Bourgets mag glauben, daß ein innerlich freier Mensch sein ganzes Leben lang künstlich die Haltung eines Galeerensträflings und Tollhäuslers beibehalten kann, wohlwissend, daß er nur Komödie spielt. Der Kundige weiß, daß schon die Wahl einer Haltung gleich der Baudelaireschen ein Beweis tiefer Störung ist. Die Irrenheilkunde hat festgestellt, daß die Personen, die mit einiger Ausdauer Wahnsinn heucheln, selbst wenn es, wie bei angeklagten Verbrechern, zu einem vernünftigen Zwecke geschieht, nämlich um der Strafe zu entgehen, fast ohne Ausnahme that[] sächlich geisteskrank sind, allerdings nicht in dem Grade, den | sie darzustellen suchen, wie auch der Hang, sich eingebildeter Verbrechen zu bezichtigen oder zu rühmen, ein bekanntes Anzeichen der Hysterie ist. Die Versicherung Baudelaires selbst, daß sein Satanismus nur eine einstudirte Rolle ist, hat keinerlei Werth. Wie

 Bourget, a. a. O. S. .  Ch. J. J. Sazaret, Etude sur la simulation de la folie. Nancy, . Diese Schrift eines Anfängers, die eine brauchbare Zusammenstellung von Krankengeschichten enthält, ist darum besonders ergötzlich, weil alle Beobachtungen, die der Verfasser anführt, genau das Gegentheil von dem beweisen, was er zu beweisen beabsichtigt. Nachdem er (S. .) selbst festgestellt hat, daß „die Opfer der Hysterie sehr geneigt sind, alle möglichen Krankheiten zu heucheln“, sagt er (S. .): „Geisteskranke heucheln manchmal Wahnsinn. Der Fall ist selten, aber er ist doch festgestellt worden und wenn man ihn nicht öfter verzeichnet hat, so ist es, glauben wir, weil man sich auf eine oberflächliche Untersuchung beschränkt und gewisse Handlungen nicht zergliedert hat“. Der Fall ist so wenig selten, daß er sich in jeder von Sazaret angeführten Beobachtung nachweisen läßt: Im Falle Ballairgers (. Beob.) war die angebliche Simulantin acht Jahre vorher als sehr echte Wahnsinnige in einer Irrenanstalt gewesen; im Falle Morels (. Beob.) hat der Simulant „beim Anblick einer Lanzette wahre Nervenanfälle“, was doch deutliche Aichmophobie und ein bestimmtes Entartungszeichen ist; in der . Beobachtung gibt Morel zu, daß „die Absonderlichkeit des Beobachteten, seine Angst vor Gift“ (also ausgesprochene Iophobie!) „und die Thatsache, daß er Unrath aufliest, eine mögliche Geistesstörung anzeigen“; der Fall Fovilles (. Beob.) „hatte eine gewisse Anzahl Geisteskranker in der Familie“; der Fall Legrand du Saulles (. Beob.) „war der Sohn einer Hysterikerin und Enkel eines Wahnsinnigen“; der Fall Bonnets und Delacroix’ (. Beob.) „zählt Wahnsinnige unter seinen Vorfahren“; der Fall Billods (. Beob.) „hat oft Störungen und Delirien aufgewiesen“ u. s. w. Alle diese angeblichen Heuchler waren unverkennbar geisteskrank und daß sie die Anzeichen ihres Wahnsinns absichtlich übertrieben, war nur ein Beweis mehr für ihre Gestörtheit.

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Parnassier und Diaboliker.

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 die höheren Entarteten so häufig, fühlt er in seinem tiefsten Innern, daß seine

Verirrungen krankhaft, unsittlich und gesellschaftfeindlich sind und daß alle besseren Menschen ihn verachten oder bemitleiden würden, wenn sie erst die Ueberzeugung erlangt hätten, daß er wirklich so ist, wie er in seinen Gedichten zu sein sich rühmt; er gebraucht also die kindische Ausrede, die auch Missethäter oft  genug im Munde führen, „es sei gar nicht ernst gemeint gewesen.“ Vielleicht auch empfand Baudelaires Bewußtsein ein aufrichtiges Grauen vor den verworfenen Trieben seines Unbewußten und er suchte sich selbst weiszumachen, daß er mit seinem Satanismus die Philister zum Besten halte. Aber solche nachträgliche Beschönigung täuscht den Psychologen nicht und ist für sein Urtheil ohne Belang.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

III. Decadenten und Aestheten.

Wie beim Tode Alexanders seine Marschälle über das Reich des Eroberers herfielen und sich je eines Landes bemächtigten, so haben die Nachahmer, die Baudelaire unter seinen Zeitgenossen und dem nachfolgenden Geschlechte fand, — viele, ohne erst seinen Wahnsinn und Tod abzuwarten, — von einer seiner Eigenthümlichkeiten Besitz ergriffen, um sie schriftstellerisch auszubeuten. Baudelaires Schule zeigt sein Wesen wunderlich zerlegt; sie ist gleichsam das Prisma geworden, das dieses Licht in seine einzelnen Farbenstrahlen auflöst. Sein Angstwahnsinn (Anxiomanie) und seine Vorliebe für Krankheit, Tod und Verwesung (Nekrophilie) sind, wie wir im vorigen Buche gesehen haben, Rollinat als Antheil zugefallen. Seine geschlechtlichen Verirrungen und seine Lüsternheit hat Catulle Mendès geerbt und außerdem berufen sich auf sie alle neueren französischen Pornographen, um die „künstlerische Berechtigung“ ihrer Verworfenheit zu beweisen. Seine Verherrlichung des Verbrechens hat ihm Jean Richepin („Chanson des gueux“ — „Lumpenlieder“) abgeguckt, der außerdem in der Gedichtesammlung „Blasphèmes“ („Lästerungen“) Baudelaires Flüche und Gebete an den Teufel in der ödesten und langweiligsten Weise zu einem ganzen dicken Bande aufgeblasen hat. An seinem Mysticismus zehren die Symbolisten, die auch gleich ihm geheimnißvolle Beziehungen zwischen den Farben und den Empfindungen der anderen Sinne [] wahrzunehmen behaupten, nur | daß sie Farben hören, während er Farben roch, oder wenn man will: daß sie im Ohr ein Auge haben, während er mit der Nase sah. Bei Verlaine finden wir sein Gemisch von Wollust und Frömmigkeit wieder, Swinburne errichtete eine englische Auslieferungsstelle seines aus Geilheit und Grausamkeit zusammengesetzten Sadismus, seiner Mystik und seiner Lust am Verbrechen und ich fürchte, daß selbst der sonst so reiche und eigenartige Carducci zu „Satans Litaneien“ von Baudelaire hinübergeblinzelt hat, als er seine berühmte „Ode an Satanas“ dichtete. Den Diabolismus Baudelaires pflegten besonders Villiers de l’Isle Adam und Barbey d’Aurévilly. Diese beiden haben außer der allgemeinen Familienähnlichkeit der Entarteten noch eine Reihe besonderer Züge mit einander gemein. Villiers und Barbey dichteten sich, wie Gestörte es häufig thun, eine fabelhafte Abstammung an; jener wollte ein Abkömmling des berühmten Marschalls und Malteser-Großmeisters (der als solcher unverheiratet war, wohl gemerkt!) Grafen de l’Isle Adam sein und forderte eines Tages in einem Schreiben an die Königin von England kraft seines Erbrechts die Herausgabe von Malta. Barbey legte sich den adeligen Beinamen d’Aurévilly zu und erzählte sein Leben lang von seinem hochedeln Geschlechte, das es gar nicht gab. Beide stellten einen fanatischen Katholizismus theatralisch zur Schau, schwelgten aber gleichzeitig in studirter Gotteslästerung.  Paulhan, a. a. O. S. : „Er“ (Villiers) „heuchelte den Glauben eines Priesters und ergötzte sich an Lästerung. Das Recht, Gott zu lästern, betrachtete er als sein persönliches Eigenthum … Dieser katholische Bretone liebte die Gesellschaft Satans noch mehr als die Gottes.“



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Beide gefielen sich in Sonderbarkeiten der Tracht und Lebensweise und Barbey hatte die uns bereits bekannte Gewohnheit der Graphomanen, seine Briefe und schriftstellerischen Arbeiten mit verschiedenfarbigen Tinten zu schreiben. Villiers, noch mehr aber Barbey d’Aurévilly, | schufen eine Dichtung des Teufelsdienstes, [] die an die verrücktesten Aussagen mittelalterlicher Hexen bei der peinlichen Frage erinnert. Besonders Barbey ist hierin wohl bis an die Grenze des Denkbaren gegangen. Sein Buch „Le prêtre marié“, „Der verheiratete Priester“, könnte von einem Zeitgenossen der Hexenverbrenner geschrieben sein; es wird aber noch übertroffen von „Les Diaboliques“, „Die Teuflischen“, einer Sammlung wahnwitziger Geschichten, in denen Männer und Weiber sich in der scheußlichsten Unzucht wälzen und dabei fortwährend den Teufel anrufen, ihn preisen und ihm dienen. Alles, was in diesen Rasereien Erfindung ist, hat Barbey mit größter Unverschämtheit aus den Büchern des Marquis de Sade gestohlen; ihm gehört blos der katholisch-theologische Zuschnitt, den er seinen Verruchtheiten gibt. Wenn ich über die hier erwähnten Bücher nur in allgemeinen Ausdrücken spreche, ohne auf sie einzugehen, ihren Inhalt zu erzählen und bezeichnende Stellen aus ihnen anzuführen, so ist es, weil das Hinabtauchen in diesen Unrath zu meiner Beweisführung nicht nöthig ist und es genügt, wenn ich von Weitem mit dem Finger auf den Morast hinweise, der für die Wirkung Baudelaires auf seine Zeitgenossen zeugt. Barbey, der Nachahmer Baudelaires, hat selbst einen Nachahmer in Josephin Péladan gefunden, dessen erster Roman „Vice Suprême“, „Äußerstes Laster“, einen herorragenden Platz im Schriftthum des Diabolismus einnimmt. Péladan, der sich damals noch nicht zur Würde eines assyrischen Großkönigs befördert hatte, gibt in diesem Buch eine Umschreibung dessen, was ihm das „äußerste Laster“ scheint: „Man leugne Satan, die Zauberei hat trotzdem noch immer ihre Zauberer; … höhere Geister, die keine Folianten brauchen, da ihr Denken eine von der Hölle für die Hölle geschriebene Seite ist. Statt | des Bockes haben sie in sich die [] gute Seele getödtet und sie gehen zum Sabbat des Wortes.“ (An Dunkelheiten möge sich der Leser nicht stoßen. Was wäre Péladan, wenn er nicht mystisch wäre?) „Sie versammeln sich, um den Gedanken zu entweihen und zu besudeln. Das Laster, das ist, genügt ihnen nicht; sie erfinden, sie wetteifern mit einander im Aufspüren des neuen Bösen und wenn sie es finden, so klatschen sie sich Beifall. Was ist schlimmer, der Sabbat des Leibes oder der des Geistes, die verbrecherische Handlung oder der lasterhafte Gedanke? Das Böse ersinnen, begründen, rechtfertigen, verherrlichen, seine Dienstordnung feststellen, seine Trefflichkeit nachweisen, ist das nicht ärger, als es begehen? Den Teufel anbeten oder das Böse lieben — abstrakter oder konkreter Ausdruck derselben Thatsache. Die bloße Befriedigung des Triebes ist blind, die Verübung des Verbrechens ist Wahnsinn; aber ausdenken und Theorien aufrichten, das erfordert ruhige Geistesarbeit und diese ist das äußerste

 Joséphin Péladan, Vice Suprême. Paris, . S. .

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Laster.“ Baudelaire hat das viel kürzer in dem einen Vers ausgedrückt: „La conscience dans le Mal“ „Das Bewußtsein im Bösen.“ Derselbe Villiers de l’Isle Adam, der Baudelaire seinen Diabolismus abgeguckt, hat sich auch seine Vorliebe für das Künstliche angeeignet und sie in seinem Roman „L’Eve future“, „Die Eva der Zukunft“, bis zu einer drolligen Höhe gesteigert. In diesem halb phantastischen, halb satirischen und ganz wahnsinnigen Buche denkt er sich nämlich als nächste Entwickelung der Menschheit einen Zustand, in welchem das Weib von Fleisch und Blut abgeschafft und durch eine Maschine [] ersetzt ist, der | er, etwas widerspruchsvoll, die Form eines Frauenleibes läßt und die man nur durch eine Schraube entsprechend zu stellen braucht, um von ihr Alles zu erhalten, was man eben wünscht: Liebe, Launen, Untreue, Hingebung, jede Verderbtheit, jedes Laster. Das ist in der That noch künstlicher als Baudelaires Blech- und Glaslandschaft! Lehrreicher als all diese Nachahmer, die nur die eine oder die andere Seite Baudelaires ausgestalteten, ist ein späterer Jünger, J. K. Huysmans, der sich der mühseligen Arbeit unterzogen hat, aus allen Einzelzügen, welche sich in Baudelaires Gedichten und Prosaschriften zerstreut finden, eine Menschengestalt zusammenzufügen und uns den Baudelairismus verkörpert und lebendig, denkend und handelnd vorzuführen. Das Buch, in welchem er uns seinen Muster-„Decadenten“ zeigt, heißt „A Rebours“, „Gegen den Strich“. Das Wort „Decadenten“ ist zuerst in den Fünfziger-Jahren von französischen Kritikern zur Bezeichnung der Eigenart von Gautier und namentlich Baudelaire aus der Geschichte des untergehenden römischen Reiches hervorgesucht worden und heute nehmen die Schüler dieser beiden und ihrer älteren Nachahmer es als Ehrentitel für sich in Anspruch. Anders wie bei den Ausdrücken „Präraphaeliten“ und „Symbolisten“ besitzen wir eine genaue Erklärung des Sinnes, den diejenigen, die von „Decadenz“ und „Decadenten“ sprechen, mit diesen Worten verbinden. „Der Stil des Verfalls (décadence),“ sagt Gautier, „ist nichts Anderes als die zu jenem Punkt äußerster Reife gelangte Kunst, welche die alternden Gesittungen mit ihren schrägen Sonnen (!) hervorbringen: ein geschickter, verwickelter, gelehrter Stil, voll Abstufungen und Gesuchtheiten, der die Grenzen der Sprache immer [] weiter hinausrückt, der bei allen Fachwörter-|büchern Anleihen macht, der von allen Paletten Farben und von allen Tastwerken Töne nimmt, der sich anstrengt, das Unaussprechlichste des Gedankens und die unbestimmtesten und fliehendsten Umrisse der Form wiederzugeben, der, um sie auszudrücken, auf die spitzfindigen Bekenntnisse der Nevrose, auf die Geständnisse der alternden und verderbenden Begierde und auf die seltsamen Sinnestäuschungen der in Wahnsinn übergehen Les fleurs du mal, S. : „Düsteres und durchsichtiges Gegenüber: ein Herz, das sein eigener Spiegel geworden ist! Klarer und schwarzer Brunnen der Wahrheit, in welchem ein fahler Stern zittert! Ein höhnischer, höllischer Leuchtthurm, Fackel der satanischen Reize, einzige Erleichterung und Herrlichkeit: das Bewußtsein im Bösen!“  Les fleurs du mal, S.  und .

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den fixen Idee horcht. Dieser Stil der Decadenz ist die höchste Leistung des Wortes,  dem befohlen wird, Alles darzustellen, und das bis zur äußersten Uebertreibung

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gehetzt ist. Man kann an die schon vom Grün der Verwesung marmorirte und gleichsam wildernde Sprache der spätrömischen Kaiserzeit und an die verwickelten Verfeinerungen der byzantinischen Schule erinnern, diese letzte Form der griechischen Kunst, die der Verflüssigung anheimgefallen ist; aber das ist eben die nothwendige und unausbleibliche Sprache der Völker und Gesittungen, bei denen das künstliche Leben das natürliche ersetzt und beim Menschen unbekannte Bedürfnisse entwickelt hat. Er ist übrigens nicht leicht, dieser von den Schulfüchsen verachtete Stil, denn er drückt neue Gedanken mit neuen Formen und Worten aus, die man noch nicht gehört hat. Im Gegensatze zum klassischen Stil läßt er Schatten zu und in diesem Schatten bewegen sich verworren die Unholde des Aberglaubens, die grauenhaften Gespenster der Schlaflosigkeit, die Nachtschrecken, die Gewissensbisse, die beim leisesten Geräusche zusammenfahren und sich umsehen, die ungeheuerlichen Träume, denen blos die Ohnmacht Einhalt gebietet, die dunkeln Einbildungen, über die der Tag sich wundern würde, und Alles, was die Seele am Grund ihrer tiefsten und letzten Höhle des Finstern, Formlosen und verschwommen Gräßlichen in sich verbirgt.“ Dieselbe Vorstellungsreihe, die Gautier in diesem Galimathias ungefähr ausdrückt, kleidet Baudelaire in diese Worte: „Scheint es dem Leser nicht wie mir, daß die Sprache des letzten lateinischen Verfalls, der End-|Seufzer einer kräftigen Person, die bereits für das geistige Leben [] umgewandelt und vorbereitet ist, sich eigenthümlich dazu eignet, die Leidenschaft auszudrücken, wie die heutige Dichterwelt sie begreift und fühlt? Die Mystik ist der andere Pol des Magneten, von dem Catull und seine Bande, rohe Dichter der bloßen Oberhaut (purement épidermiques!) nur den Pol Sinnlichkeit gekannt haben. In dieser wundervollen Sprache scheinen wir die Fehler und Barbarismen die nothwendigen Nachlässigkeiten einer Leidenschaft wiederzugeben, die sich vergißt und der Regeln spottet. Die Worte, die eine neue Bedeutung erhalten, offenbaren die bezaubernde Unbeholfenheit des vor der römischen Schönen knieenden nordischen Barbaren. Spielt denn nicht selbst der in diesem pedantischen Lallen auftretende Kalauer die wilde und absonderliche Anmuth der Kindheit?“ Der Leser, der das Kapitel über die Psychologie des Mysticismus gegenwärtig hat, erkennt natürlich sofort, was hinter dem Gewäsch von Gautier und Baudelaire steckt. Ihre Schilderung des Seelenzustandes, den die „decadente“ Sprache ausdrücken soll, ist einfach eine Schilderung der Geistesverfassung mystischer Entarteter, mit ihren treibenden Nebelvorstellungen, ihrer Flucht formloser Gedankenschatten, ihren Verderbnissen und Verirrungen, ihren Angstgefühlen und Zwangsantrieben. Um diesen Seelenzustand auszudrücken, muß man allerdings eine neue, unerhörte Sprache erfinden, da es für Vorstellungen, die in Wirklichkeit keine sind, in keiner gebräuchlichen Sprache deckende Bezeichnungen geben kann. Es ist vollkommen willkürlich, ein Beispiel und Vorbild „decadenter“ Ausdrucksweise in der Sprache der spätrömischen Kaiserzeit zu suchen. Es sollte Gau-

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tier schwer werden, an irgend einem Schriftsteller des vierten und fünften Jahrhunderts das ihn so entzückende „vom Grün der Verwesung marmorirte und gleichsam wildernde“ Latein nachzuweisen. Huysmans, in der Weise der Nachahmer den [] Gedanken Gautiers und Baudelaires ungeheuerlich über-|treibend, gibt von diesem angeblichen Latein des fünften Jahrhunderts folgende Schilderung: „Die lateinische Sprache, nunmehr vollkommen verfault, hing herab (!), verlor ihre Gliedmaßen, troff von ihrem Eiter und bewahrte in der ganzen Verjauchung ihres Leibes kaum einige feste Theile, welche die Christen loslösten, um sie in der Lake ihrer neuen Sprache zu beizen.“ Dieses Schwelgen in Krankheits- und Ekel-Vorstellungen eines Gestörten mit Geschmack-Verderbniß ist ein Delirium und hat keinerlei Begründung in den sprachgeschichtlichen Thatsachen. Das Latein der späten Verfallszeit war roh und fehlerhaft in Folge der zunehmenden Sitten- und Geschmacks-Verwilderung der Leser, der Geistesenge und grammatikalischen Unbildung der Schriftsteller und des Eindringens barbarischer Bestandtheile in seinen Wortschatz, aber weit entfernt, „neue Abstufungen des Gefühls und Gedankens auszudrücken“ und „von allen Paletten Farben zu nehmen“, fällt es im Gegentheile durch seine Unbeholfenheit in der Wiedergabe der einfachsten Denkvorgänge und durch seine tiefe Verarmung auf. Unsere Sprache hat ja eine ähnliche Verfallszeit durchgemacht: nach dem dreißigjährigen Kriege waren selbst die besten Schriftsteller, ein Moscherosch, Zinkgref, Schupp mit ihren „langathmigen und verzwickten Perioden“ und „ihrer ebenso verwickelten als steifen Haltung oft beinahe ganz unverständlich“, die Grammatik zeigte die schlimmsten Unformen, den Wortschatz überwucherten fremde Eindringlinge, aber das Deutsch jener trostlosen Jahrzehnte war sicherlich nicht „decadent“ im Sinne der Erklärungen, die Gautier, Baudelaire und Huysmans [] von dem Worte geben. Die Wahrheit ist, daß diese | Entarteten ihren eigenen Seelenzustand willkürlich den Schriftstellern der römischen und byzantinischen Verfallszeit, einem Petronius, namentlich aber einem Commodianus von Gaza, Ausonius, Prudentius, Sidonius Apollinaris u. s. w. andichteten und nach ihrem Ebenbild oder aus ihren kranken Trieben heraus einen idealen „Menschen der römischen Decadenz“ schufen, wie J. J. Rousseau den idealen Wilden und Chateaubriand den idealen Indianer erfanden und aus ihrer Einbildungskraft heraus in eine fabelhafte Vergangenheit oder räumliche Entfernung versetzten. Bourget ist ehrlicher, wenn er auf die schwindelhafte Anführung der lateinischen VerfallsSchriftsteller verzichtet und die „Decadenz“, unabhängig von seinen parnassischen Meistern, so umschreibt: „Man bezeichnet mit diesem Worte den Zustand einer Gesellschaft, die eine zu große Anzahl von Individuen hervorbringt, welche zu den

 J. K. Huysmans, A rebours. ème mille. Paris, . S. .  Heinrich Kurz, in seiner Einleitung zu Grimmelshausens Simplicianischen Schriften, Leipzig, . Erster Theil, S. LI. Siehe auch seine Bemerkungen über Grimmelshausens Deutsch, S. XLV ff.  Paul Bourget, a. a. O. S. .

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Arbeiten des gewöhnlichen Lebens ungeeignet sind. Eine Gesellschaft muß einem Lebewesen gleichgestellt werden. Wie ein solches ist sie ein Bund untergeordneter Wesen, die selbst wieder einen Bund von Zellen darstellen. Der Einzelmensch ist die Zelle der Gesellschaft. Damit das ganze Lebewesen sich kräftig bethätige, müssen die Wesen, aus denen es zusammengesetzt ist, mit Kraft, aber mit einer sich unterordnenden Kraft, sich bethätigen. Und damit die untergeordneten Wesen selbst sich mit Kraft bethätigen, müssen die Zellen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sich mit Kraft, aber mit einer sich unterordnenden Kraft, bethätigen. Wenn die Kraft der Zellen unabhängig wird, hören die Wesen, die das ganze Lebewesen bilden, ebenfalls auf, ihre Kraft der Gesammtkraft unterzuordnen, und die Anarchie, die dann eintritt, stellt die Decadenz der Gesammtheit dar.“ Ganz richtig. Eine verfallende Gesellschaft „bringt eine | zu große Anzahl von [] Individuen hervor, welche zu den Arbeiten des gewöhnlichen Lebens ungeeignet sind“; diese Individuen sind eben die Entarteten; diese „hören auf, ihre Kraft der Gesammtkraft unterzuordnen“, weil sie ichsüchtig sind und ihre verkümmerte Entwickelung nicht bis zu der Höhe gelangt ist, auf welcher das Individuum seinen gemüthlichen und geistigen Anschluß an die Gesammtheit erreicht, und ihre Ichsucht macht die Entarteten nothwendig zu Anarchisten, das heißt zu Feinden aller Satzungen, die sie nicht begreifen und denen sie sich nicht anzupassen vermögen. Ueberaus bezeichnend ist, daß Bourget, der all dies einsieht, der erkennt, daß „decadent“ gleichbedeutend ist mit Unfähigkeit zu den regelmäßigen Thätigkeiten und zur Unterordnung unter die Gesellschaftszwecke und daß die Folge der Decadenz Anarchie und Untergang der Gesammtheit ist, trotzdem die Decadenten, namentlich Baudelaire, rechtfertigt und bewundert. Das ist „das Bewußtsein im Bösen“, von dem sein Meister spricht. Wir wollen uns nun den idealen Decadenten ansehen, den uns Huysmans in „A rebours“ so liebevoll und eingehend zeichnet. Zuvor ein Wort über den Verfasser dieses lehrreichen Buches. Huysmans, der klassische Typus des Hysterikers ohne Eigenart, der das vorbestimmte Opfer jeder Suggestion ist, begann seine schriftstellerische Laufbahn als fanatischer Nachahmer Zolas und gab in jenem ersten Abschnitte seiner Entwickelung Romane und Novellen von sich, in denen er (wie in „Marthe“) an Unflätigkeit sein Vorbild weit überbot. Dann wandte er sich mit jähem Gesinnungswechsel, der gleichfalls echt hysterisch ist, vom Naturalismus ab, überhäufte diese Richtung und Zola selbst mit den heftigsten Schmähungen und verlegte sich auf die Nachäffung der Diaboliker, insbesondere Baudelaires. Ein rother Faden verknüpft übrigens seine beiden sonst so schroff getrennten Manieren, nämlich seine Schlüpfrigkeit. Die ist | sich gleich geblieben. Er ist als schmach- [] tender „Decadent“ ganz so gemein unzüchtig, wie er als viehischer „Naturalist“ war. „A rebours“ kann man kaum einen Roman nennen, wie Huysmans das Buch denn auch nicht als solchen bezeichnet. Es trägt keine Geschichte vor, es hat keine Handlung, sondern gibt sich als eine Art Schilderung oder Lebensbeschreibung

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eines Menschen, dessen Gewohnheiten, dessen Neigungen und Abneigungen, dessen Gedanken über alle möglichen Gegenstände, namentlich über Kunst und Schriftthum, uns mit großer Ausführlichkeit erzählt werden. Dieser Mensch heißt des Esseintes und ist der letzte Träger eines alten französischen Herzogstitels. Der Herzog Jean des Esseintes ist körperlich ein Schwächling, bleichsüchtig, nervös, der Erbe aller Laster und Entartungen eines erschöpften Geschlechtes. „In den letzten zwei Jahrhunderten hatten die des Esseintes ihre Kinder unter einander verheiratet und in Ehen Blutsverwandter die letzten Ueberbleibsel ihrer Kraft aufgebraucht.“ „In ihrem Blute trat die Vorherrschaft der Lymphe auf.“ (Diese Anwendung wissenschaftlich klingender Fachausdrücke und Floskeln ist vielen entarteten Schriftstellern der Gegenwart und ihren Nachahmern eigenthümlich. Sie werfen mit derartigen Worten und Redensarten um sich wie der „gebildete Hausknecht“ der Posse mit französischen Brocken, haben aber von Wissenschaft ebenso wenig eine Ahnung wie dieser von der französischen Sprache.) Des Esseintes wurde von den Jesuiten erzogen, verlor früh seine Eltern, vergeudete in albernen Gelagen, bei denen er sich langweilte, einen großen Theil seines Vermögens, zog sich aber bald aus der Gesellschaft zurück, da sie ihm unausstehlich wurde. „Seine Verachtung der Menschheit wuchs. Er begriff endlich, daß die Welt großentheils aus Schurken und Schwachköpfen besteht. Er hatte nicht mehr die Hoffnung, bei Anderen dieselbe Sehnsucht und denselben Haß zu entdecken, nicht mehr die [] Hoffnung, sich mit einem Geiste zu paaren, der sich, ebenso | wie der seinige, in einer emsigen Hinfälligkeit (!) gefallen hätte … Entnervt, verstimmt, empört über das Nichtssagende der ausgetauschten und empfangenen Gedanken, wurde er wie die Leute, die überall schmerzhaft sind; er kam so weit, daß er sich beständig die Oberhaut aufschürfte, daß er unter dem vaterländischen und gesellschaftlichen Blech litt, das die Zeitungen jeden Tag auftischen … Er träumte eine kunstvolle Thebaide, eine bequeme Einöde, eine unbewegliche und laue Arche, in die er sich flüchten könne, fern von der unaufhörlichen Sintflut der menschlichen Dummheit.“ Er verwirklicht diesen Traum. Er verkauft seine Güter, erwirbt für die Trümmer seines Vermögens französische Rente, die ihm . Franken jährlich abwirft, schafft sich ein Haus an, das auf einem Hügel in einiger Entfernung von einem kleinen Dorfe allein steht, und richtet sich da ganz nach seinem Geschmacke ein. „Das Künstliche erschien des Esseintes das auszeichnende Merkmal des menschlichen Genies. Die Zeit der Natur, sagte er, ist um. Sie hat durch die ekelhafte Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel die aufmerksame Geduld der Verfeinerten endgiltig erschöpft. Welche Plattheit eines in seine Berufsarbeit eingepferchten Fachsimpels, welche Engherzigkeit einer blos eine bestimmte Waare führenden Krämerin, welches eintönige Ladengeschäft von Wiesen und Bäumen, welche alltägliche Niederlage von Bergen und Meeren!“ (S. .) Er verbannt also alles Natürliche aus seinem Gesichtskreis und umgibt sich mit Künstlichkeit. Er schläft am Tage und verläßt erst gegen Abend das Bett, um

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die Nacht über in seinem hell erleuchteten Erdgeschoß zu sitzen, zu lesen, zu träumen. Er geht nie aus dem Hause, sondern bleibt in seinen vier Wänden. Er sieht Niemand vor sich, auch ein alter Diener und seine Frau, die seine Wirtschaft führen, müssen alle Arbeit thun, wenn er schläft, so daß sie ihm nie vor die Augen | kommen. Er erhält keine Briefe, keine Zeitung, erfährt nichts von der Außen- [] welt. Er hat niemals Eßlust, wenn sie aber einmal erwacht, „so tunkte er einen Braten, bestrichen mit außerordentlicher Butter, in eine Tasse Thee“ (pfui Teufel!), „ein makelloses Gemisch von Si-a-Fayun, von Mo-yu-tann und von Chansky, gelbe Theearten, die mit ausnahmsweise Karavanen von China nach Rußland gekommen waren.“ (S. ). Sein Eßzimmer „glich einer Schiffskabine, mit einem kleinen Fenster wie ein Ochsenauge.“ Es war in ein größeres Zimmer hineingebaut. Das Fenster dieses eigentlichen Zimmers war dem Schiffs-Ochsenauge gegenüber. Den Raum zwischen der Mauer und der Schiffswand füllte ein Aquarium, das Tageslicht mußte also, um zum Ochsenauge zu gelangen, das durch eine Spiegelscheibe geschlossene Fenster und eine Wasserschichte durchdringen. „Manchmal, wenn des Esseintes zufällig schon Nachmittags wach und aufgestanden war, setzte er das Spiel der Leitungsröhren in Bewegung, die das Aquarium leerten und wieder mit reinem Wasser füllten, und ließ Tropfen farbiger Essenzen hineingießen, um sich auf diese Weise nach Belieben die grünen und lehmgelben, wolkigen und silbernen Töne zu bieten, welche die wirklichen Ströme je nach der Farbe des Himmels, der stärkern oder schwächern Sonnenglut, der mehr oder minder ausgesprochenen Regendrohung, kurz je nach der Jahreszeit und dem Wetter haben. Er bildete sich dann ein, er sei im Zwischendeck einer Brigg, und betrachtete neugierig die wunderbaren, wie Uhrwerke aufgezogenen mechanischen Fische, die vor der Glasscheibe des Ochsenauges vorüberschwammen und in falschen Gräsern hängen blieben, oder er athmete den Theerduft, den man in das Gemach einblies, und sah sich die an der Wand hängenden Farbendrucke an, welche, wie in den Schreibstuben der Lloyds, Seedampfer der Valparaiso- und La-Plata-Linie darstellten.“ (S. .) Die mechanischen Fische sind entschieden bedeutender als die | Blechland- [] schaft Baudelaires. Aber dieser Traum eines von den Geschäften zurückgezogenen blödsinnig gewordenen Kurzwaarenhändlers ist nicht der einzige Genuß des Herzogs des Esseintes, der „die Dummheit und Gemeinheit der Menschen“ so tief verachtet, obwohl von allen seinen Bekannten wahrscheinlich kein einziger auf eine solche Eselei verfallen wäre wie diese mechanischen Fische mit Rädergetriebe. Wenn er sich etwas besonders Gutes anthun will, so dichtet und spielt er sich eine Schmeck-Symphonie. Er hat sich nämlich einen Kasten bauen lassen, den eine große Anzahl Tönnchen mit verschiedenen Schnäpsen füllen. Die Hähne aller Fäßchen können durch eine Vorrichtung, die ein Druck auf einen Knopf in Bewegung setzt, gleichzeitig geöffnet oder geschlossen werden und unter jedem Hahn steht ein winziger Becher, in welchen bei Aufdrehung des Hahns ein Tropfen fällt. Diesen Schnapsschrank nennt des Esseintes seine „Mund-Orgel.“ (Man beachte diese

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lächerliche Wichtigthuerei, um sich aus allerlei Flaschen etwas Likör zusammenzugießen! Als ob dazu tiefsinnige mechanische Vorrichtungen nöthig wären!) „Die Orgel war dann offen. Die Register mit der Aufschrift ‚Flöte, Horn, himmlische Stimme‘ waren aufgezogen, bereit, in Bewegung zu treten. Des Esseintes trank einen Tropfen hier, einen da, spielte sich innere Symphonien und erreichte es, sich in der Kehle ähnliche Empfindungen zu bereiten, wie die Musik sie ins Ohr gießt. Jeder Schnaps entsprach, behauptete er, mit seinem Geschmack dem Klang eines Tonwerkzeuges; der herbe Curaçao z. B. der Klarinette, deren Gesang säuerlich und sammtweich ist; der Kümmel der Oboe, deren dröhnender Laut näselt; Pffeffermünz und Anisette der Flöte, zugleich gezuckert und gepfeffert, quiekend und sanft; während, um das Orchester zu vervollständigen, der Kirsch wüthend die Trompete bläst, Gin und Whisky mit ihrem schrillen Piston- und TrombonGedröhne den Gaumen ausreißen, der Träber-Branntwein mit dem betäubenden [] Getöse der Tuben blitzt, während die vom | Chios-Raki und Mastik auf die Mundhaut mit voller Faustgewalt gehauenen Donnerschläge der Zymbeln und Pauken rollten.“ So spielt er „Streichquartette unter seiner Gaumenwölbung; alter Franzbranntwein, rauchig und fein, scharf und zart, stellte die erste Geige dar; der kräftigere, schnarchendere, dumpfere Rum war die Altgeige;“ der Vespetro das Violoncello, der Bitter der Kontrabaß; grüne Chartreuse war die Dur-, Benediktine die Moll-Tonart u. s. w. (S. .) Des Esseintes hört nicht nur die Musik der Schnäpse, er schnüffelt auch die Farbe der Düfte. Wie er eine Mund-Orgel hat, so besitzt er eine Nasen-Gemäldegalerie, nämlich eine große Sammlung von Flaschen mit allen möglichen Riechstoffen. Wenn er an seinen Schmeck-Symphonien keine Freude mehr hat, spielt er sich ein Riech-Tonstück vor. „Er saß vor seinem Tische in seinem Kabinet … Ein leichtes Fieber schüttelte ihn, er war zur Arbeit bereit; … mit seinen Sprühfläschchen sprengte er eine Essenz aus Ambrosia, Lavendel und Riecherbsen; das gab das Bild einer Wiese; in diese Wiese führte er eine genaue Verschmelzung von Tuberosen, Orangen- und Mandelblüthen ein und sofort ersprossen künstliche Hollunderblüthen, während Linden sich fächelten und ihre bleichen Aushauchungen auf den Boden sinken ließen … In diese Dekoration, die in ihren großen Linien hingemalt war, … blies er einen leichten Regen von Menschen- und beinahe Katzen-Düften, die nach Unterröcken rochen und die gepuderte und geschminkte Frau ankündigten: Stephanotis, Ayapana, Opoponax, Zypern, Shampaka, Sarcanthus; darauf setzte er eine Ahnung Seringa, um diesem künstlichen Leben der Schminke eine natürliche Blüthe von schweißgebadetem Lächeln (!!) und von Freuden, die im vollen Sonnenbrand umhertollen, hinzuzufügen.“ (S. .) Wir haben gesehen, wie sklavisch Huysmans in seinen Faseleien über den Thee, die Schnäpse und Düfte die parnassische Grundregel befolgt, Fachwörterbü[] cher zu plündern. Er hat un-|verkennbar die Waarenverzeichnisse von Handlungsreisenden in Parfümerie und Seife, in Thee und in Likören abschreiben müssen, um seine Preislisten-Gelehrsamkeit zusammenzukratzen.

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Daß des Esseintes bei seiner Lebensweise krank wird, kann nicht Wunder nehmen. Sein Magen weist jede Nahrung zurück und gerade dies ermöglicht ihm den höchsten Triumph seiner Liebe zum Künstlichen: er muß nämlich mit Pepton-Klysmen genährt werden, also in einer Weise, welche der natürlichen genau entgegengesetzt ist. An vielen Einzelheiten muß ich vorbeigehen, weil ich nicht zu breit werden will; z. B. an einer endlosen Schilderung der Töne, die er aus den Farben heraushört (S. .); an einer Beschreibung von Orchideen, die er liebt, weil sie ihn an blutige und eiternde Wunden, an Aussatz, an Pusteln, an Geschwüre u. dgl. erinnern (S.  ff.); an einer Darstellung der Mystik der Edelsteine und Halbedelsteine (S.  ff.) u. s. w. Wir wollen nur noch einige weitere Geschmacks-Eigenthümlichkeiten des Musterdecadenten kennen lernen. „Das wilde Uebersprudeln, das herbe, unsinnige Talent Goyas fesselte ihn; aber die allgemeine Bewunderung, welche seine Werke erworben hatten, brachte ihn von diesen etwas ab und seit Jahren hatte er darauf verzichtet, sie einrahmen zu lassen… Wie die schönste Weise der Welt gemein und unerträglich wird, wenn das Publikum sie trällert und die Drehorgeln sich ihrer bemächtigen, so wird auch das Kunstwerk, das den falschen Künstlern nicht gleichgiltig bleibt, das von den Thoren nicht bestritten wird, das sich nicht damit begnügt, die Begeisterung einiger Weniger zu erwecken, gerade hierdurch für die Eingeweihten besudelt, alltäglich, fast abstoßend.“ (S. .) Der Hinweis auf die Drehorgel ist ein Kniff, um den unaufmerksamen Leser irre zu machen. Wenn eine schöne Weise unleidlich wird, so wie die Drehorgeln sie herunterleiern, so ist | es, weil die Drehorgeln falsch, lärmend und ausdruckslos [] spielen, also das Wesen der Weise selbst verändern und ins Gemeine ziehen; das Kunstwerk aber bleibt durch die Bewunderung selbst des größten Einfaltspinsels an sich gänzlich unverändert und wer es um seiner Eigenschaften willen geliebt hat, der wird alle diese Eigenschaften voll und unberührt wiederfinden, auch nachdem die Blicke von Millionen gefühlloser Philister über das Kunstwerk hingekrochen sein werden. Die Wahrheit ist, daß der vor alberner Eitelkeit platzende Decadent hier unwillkürlich sein geheimstes Inneres verräth. Dieser Bursche hat thatsächlich nicht das leiseste Verständniß für Kunst und ist dem Schönen, wie allen äußeren Eindrücken, völlig unzugänglich; um zu wissen, ob ihm ein Kunstwerk gefällt oder nicht, betrachtet er nicht etwa das Kunstwerk; o nein; er wendet ihm den Rücken, studirt aber ängstlich die Mienen der Leute, die davor stehen; sind die Leute entzückt, so verachtet der Decadent das Werk; bleiben die Leute gleichgiltig oder scheinen sie gar geärgert, so bewundert er es voll Ueberzeugung. Der Dutzendmensch sucht immer dasselbe zu denken, zu fühlen, zu thun wie die Menge, der Decadent genau das Gegentheil; Beide holen also ihre Anschauungen und Gefühle nicht aus ihrem Innern, sondern lassen sie sich von der Menge vorschreiben. Beiden fehlt jede Eigenart und sie müssen fortwährend die Menge scharf im Auge behalten, um ihren Weg zu finden. Der Decadent ist also blos ein Dutzend-

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

mensch mit negativem Vorzeichen, der sich ganz ähnlich, nur entgegengesetzt, nach der Menge richtet, es sich aber viel saurer werden läßt als der Dutzendmensch und sich dabei fortwährend ärgert, während dieser dabei vergnügt ist. Man kann es in einen Satz zusammenfassen: der decadente Snob ist ein an Widerspruchswahnsinn leidender, gesellschaftfeindlicher Philister ohne jede Empfindung für das Kunstwerk selbst. [] Des Esseintes liest auch manchmal zwischen seinen Schmeck- | und RiechAufführungen. Das einzige, was ihm gefällt, sind natürlich die Werke der äußersten Parnassier und Symbolisten. Denn in ihnen findet er (S. .) „den Todeskampf der alten Sprache, die, nachdem sie von Jahrhundert zu Jahrhundert muffiger geworden war, sich schließlich auflöste, um die Verflüssigung der lateinischen Sprache zu erreichen, welche in den geheimnißvollen Begriffen und räthselhaften Ausdrücken des heiligen Bonifacius und des h. Adhelm den Geist aufgab. Die Verwesung der französischen Sprache war übrigens plötzlich eingetreten. In der lateinischen Sprache gab es einen langen Uebergang, einen Abstand von vierhundert Jahren zwischen dem sprenkeligen und prächtigen (!) Worte Claudians und Rutilius’ und dem wildernden Worte des achten Jahrhunderts. In der französischen Sprache gab es keine Frist, keine Folge von Altern; der sprenkelige und prächtige Stil der Brüder Goncourt und der wildernde Stil Verlaines und Mallarmés stoßen in Paris aneinander, sie leben gleichzeitig, in demselben Geschichtsalter.“ Wir kennen jetzt den Geschmack eines Muster-Decadenten nach allen Richtungen hin; wir wollen noch einen Blick auf seinen Charakter, seine Sittlichkeit, sein Gefühl, seine politische Gesinnung werfen. Er hat einen Freund d’Aigurande, der eines Tages auf den Gedanken kommt, sich zu verheiraten. „Gestützt auf die Thatsache, daß d’Aigurande gar kein Vermögen besaß und die Mitgift seiner Frau ungefähr Null war, bemerkte des Esseintes in diesem Heiratswunsche eine endlose Aussicht auf lächerliche Uebel.“ Er redete also (!) dem Freunde aus Leibeskräften zu, die Dummheit zu machen, und es trat ein, was unausbleiblich war: das junge Paar gerieth ins Elend, sein Haus war voll ewigen Zankes und Streites, das Leben wurde den Beiden unerträglich, er unterhielt sich draußen, sie „suchte unter den Auskunftsmitteln des Ehebruchs Verges[] senheit für ihr reg-|nichtes, flaches Leben, sie lösten ihren Vertrag und beantragten gerichtliche Scheidung. ‚Mein Schlachtplan war richtig‘, sagte des Esseintes sich dann und empfand die Genugthuung des Feldherrn, dessen weite Voraussicht sich auf dem Gelände bewährt.“ Ein andermal kommt ihm in der Rivolistraße ein etwa sechzehnjähriger, bleich und verschmitzt aussehender Bursche in den Weg, der eine schlechte Zigarette raucht und von ihm Feuer verlangt. Des Esseintes schenkt ihm eine duftige türkische Zigarette, fragt ihn aus und erfährt, daß er seine Mutter verloren hat, von seinem Vater geprügelt wird und bei einem Pappschachtel-Macher in der Arbeit ist. „Des Esseintes wurde nachdenklich. Komm trinken, sagte er. Er führte ihn in ein Café und ließ ihm heftige Pünsche vorsetzen. Das Kind trank wortlos. Sag mal,

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rief des Esseintes plötzlich, willst du dich heute unterhalten? Ich halte dich frei.“  Und er führt den Unglücklichen in ein Freudenhaus, wo seine Jugend und Verwir-

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rung die Dirnen verwundert. Während der Knabe von einem der Frauenzimmer weggeschleppt wird, fragt die Wirthin des Esseintes, was ihm denn eingefallen sei, diesen Knaben zu ihr zu führen. Der Decadent antwortet (S. .): „Ich suche einfach einen Mörder anzufertigen. Dieser Bursche war bisher rein und hat das Alter erreicht, in welchem das Blut zu wallen beginnt. Er könnte den Mädchen seiner Nachbarschaft nachlaufen und sich zwar unterhalten, aber ehrlich bleiben … Indem ich ihn dagegen hierher führe, in einen Luxus, von dem er nie eine Ahnung gehabt hat und der sich ihm unbedingt ins Gedächtniß graben wird, indem ich ihm dieses Glück alle vierzehn Tage biete, wird er sich an die Genüsse gewöhnen, zu denen er nicht die Mittel besitzt. Nehmen wir an, es wird drei Monate dauern, bis sie ihm durchaus unentbehrlich geworden sind; … nun denn: nach diesen drei Monaten unterdrücke ich die kleine Rente, die ich dir jetzt für das gute Werk | vorausbezahle, und dann wird er stehlen, um zu dir kommen zu können … Ich [] hoffe, er wird auch morden, wenn der Eigenthümer ungerufen erscheint, mährend er dessen Schrank erbricht. Dann wird mein Ziel erreicht sein. Ich werde, so weit mein Vermögen es mir gestattet, dazu beigetragen haben, einen Strolch zu schaffen, einen Feind mehr dieser scheußlichen Gesellschaft, die uns plündert.“ Und er verläßt den armen besudelten Knaben an diesem ersten Abend mit den Worten: „So, nun gehe … Thu den Anderen, was du nicht willst, daß sie dir thun, mit diesem Grundsatz kommst du weit. Gute Nacht. Besonders aber sei nicht undankbar, laß mich recht bald von dir hören, durch die Gerichtszeitungen.“ Er sieht vor den Fenstern seines Hauses arme Dorfkinder sich um ein mit Quarkkäse belegtes Stückchen Schwarzbrod balgen. Er ruft sofort seinen Diener, läßt ihn eine ähnliche Stulle bereiten und sagt ihm: „Werfen Sie diese Stulle den Kindern hin, die auf der Straße raufen. Die Schwächeren sollen zu Krüppeln geschlagen werden, sie sollen ihren Antheil nicht bekommen und außerdem von ihren Eltern windelweich gehauen werden, wenn sie mit zerrissenen Hosen und verschwollenen Augen heimkommen. Das wird ihnen eine Vorstellung von dem Leben geben, das ihrer harrt.“ (S. .) Wenn er an die Gesellschaft denkt, so entringt sich seiner Brust dieser Schrei: „Ei, so brich doch zusammen, Gesellschaft, so stirb doch, alte Welt!“ (S. .) Damit die Leser nicht auf den Verlauf der Geschicke des Esseintes’ neugierig bleiben, sei hinzugefügt, daß er in seiner Einsamkeit schwer nervenkrank wird und daß sein Arzt von ihm aufs Entschiedenste fordert, er solle nach Paris, ins Leben und zu den Menschen zurückkehren. Ein zweiter Roman von Huysmans, „Là bas“, zeigt uns dann, was des Esseintes in Paris thut. Er schreibt eine Geschichte von Gilles de Rays, dem Massen-Lustmörder des fünfzehnten Jahrhunderts, auf den un-|verkennbar Moreau de Tours’ Werk über die Geschlechts-Verir- [] rungen die im Allgemeinen zwar tief unwissende, aber auf dem Sondergebiete der Erotomanie belesene Bande der Diaboliker aufmerksam gemacht hat, und dies gibt

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Huysmans Gelegenheit, mit Schweinebehagen im schauerlichsten Unrath zu wühlen und zu nüstern. In diesem Buch entwickelt er außerdem die mystische Seite des Decadententhums, er läßt des Esseintes fromm werden, aber zugleich mit einer hysterischen Frau zu einer „schwarzen Messe“ gehen u. s. w. Mit diesem ebenso widerwärtigen wie albernen Buche mich zu beschäftigen habe ich keine Ursache. Was ich wollte, das war, das Menschenideal des Decadententhums zu zeigen. Da haben wir ihn nun, den „Uebermenschen“, den Baudelaire und seine Schüler träumen und dem sie ähnlich zu werden suchen: körperlich krank und schwach, sittlich ein abgefeimter Schurke, geistig ein namenloser Idiot, der seine ganze Zeit damit zubringt, die Farben der Stoffe zur Austapezirung seines Zimmers kunstvoll zu wählen, dem Schwimmen mechanischer Fische zuzusehen, Düfte zu nüsseln und Schnäpse zu schleckern. Das Schlaueste, worauf er verfällt, ist, nachts zu wachen und am Tage zu schlafen und sein Fleisch in Thee zu stippen. Liebe und Freundschaft sind ihm unbekannt. Sein Kunstsinn besteht darin, daß er aufpaßt, wie sich die Menschen zu einem Werke stellen, um sofort die entgegengesetzte Haltung einzunehmen. Seine vollkommene Anpassungs-Unfähigkeit verräth sich darin, daß jede Berührung mit Welt und Menschen ihm Schmerzen bereitet. Die Schuld an seinem Unbehagen wälzt er natürlich auf die Menschen über und schimpft wie ein Rohrspatz auf sie. Er nennt sie allesammt Schurken und Dummköpfe und stößt gräßliche anarchistische Verwünschungen gegen sie aus. Dieser Tropf hält sich den Anderen für weit überlegen und seiner unerhörten Dummheit kommt nur seine geschwollene Selbstvergötterung gleich. Er hat . Franken [] Rente und muß sie auch | haben, denn ein solcher Jammermensch wäre nicht im Stande, der Gesellschaft einen Zehrpfennig und der Natur ein Nährkörnchen abzugewinnen. Ein Schmarotzer der niedrigsten Rückbildungsstufe, eine Art menschlicher Sacculus, müßte er, wenn er arm wäre, elend verhungern, sofern ihn die Gesellschaft in ihrer unangebrachten Güte nicht in einer Idiotenanstalt mit dem Nöthigen versorgen würde. Hat Huysmans uns in seinem des Esseintes den Decadenten mit vorwiegender Verirrung aller Triebe, also den vollen Baudelairianer mit Widernatürlichkeit, ästhetischem Aberwitz und gesellschaftfeindlichem Diabolismus, gezeigt, so verkörpert ein anderer Hauptvertreter des decadenten Schriftthums, Maurice Barrès, die reine Ichsucht des anpassungsunfähigen Entarteten. Er hat der „Pflege des Ichs“ bisher eine Reihe von vier Romanen gewidmet und überdies die drei ersten von ihnen in einer Broschüre erläutert, welche für diese Untersuchung fast werth-

 Der Sacculus ist ein Rankenfüßer, der als Schmarotzer am Darmkanal gewisser Krustenthiere lebt. Er stellt die tiefste Rückbildung eines ursprünglich höher organisirten Lebewesens dar. Er hat alle seine differenzirten Organe verloren und bildet im Wesentlichen nur noch einen Schlauch (daher sein Name: „Säckchen“), der sich mit den Säften des Wirths füllt, welche der Schmarotzer mit Hilfe einiger Gefäße in sich saugt, die er in dessen Darmwand sendet. Diesem verkümmerten Wesen ist so wenig von einem selbstständigen Thiere geblieben, daß man es lange für einen krankhaften Auswuchs des Darmes seines Wirths hielt.

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voller ist als die Romane selbst, da alle Sophismen, mit welchen das Bewußtsein die Zwangsantriebe des kranken Unbewußten nachträglich zu erklären und herauszulügen bemüht ist, hier in bequemer Uebersichtlichkeit zu einer Art von philosophischem System geordnet auftreten. Ueber Barrès nur wenige Worte. Er machte zuerst dadurch von sich reden, daß er in der Pariser Presse seinen Freund, den algerischen Lustmörder Chambige, einen folgerichtigen „Pfleger | seines Ichs“, vertheidigte. Dann wurde er boulangis- [] tischer Abgeordneter und später sprach er Marie Baschkirtseff, eine früh an Schwindsucht gestorbene Entartete mit moralischem Irrsinn, Ansätzen zu Größenund Verfolgungswahn und krankhafter erotischer Schwärmerei, unter der Anrufung „Unsere liebe Frau vom Schlafwagen“ heilig. Seine Romane „Unter dem Auge der Barbaren“, „Ein freier Mann“, „Der Garten der Berenice“ und „Der Feind der Gesetze“, sind nach der von Huysmans aufgestellten Kunstformel abgefaßt. Die Schilderung eines Menschen, seines Gedankenlebens und seiner eintönigen, kaum modulirten äußeren Schicksale gibt dem Verfasser den Vorwand, seine eigenen Meinungen über alle möglichen Dinge auszusprechen: über Lionardo da Vinci und Venedig, über ein französisches Provinzmuseum und mittelalterliche Kleinkunst, über Nero, Saint Simon, Fourier, Marx und Lassalle. Früher war es üblich, derartige Ausflüge auf alle möglichen Gebiete zu Zeitungs- oder Monatschrift-Artikeln zu verwenden und diese dann als Sammelband herauszugeben. Die Erfahrung hat aber gelehrt, daß das Publikum diesen gesammelten Aufsätzen keine besondere Theilnahme entgegenbringt, und so sind die Decadenten auf den schlauen Kniff verfallen, sie mittels eines kaum wahrnehmbaren Fadens von Erzählung zusammenzuheften und den Lesern als Roman aufzutischen. Auch die englischen Romandichter des vorigen Jahrhunderts, dann Stendhal, Jean Paul und selbst Goethe haben dieses Einflechten persönlicher | Betrachtungen des Verfassers [] in den Gang der Geschichte gekannt, aber bei ihnen (vielleicht blos mit Ausnahme von Jean Paul) waren diese Einschiebsel dem Gesammt-Kunstwerke doch noch untergeordnet. Erst Huysmans und seiner Schule war es vorbehalten, sie zur Hauptsache zu machen und den Roman aus einer epischen Prosadichtung in ein Zwitterding von Montaigneschen „Essais“, Schopenhauerschen „Parerga und Paralipomena“ und Tagebuch-Ergüssen einer höheren Tochter umzuwandeln. Barrès macht kein Hehl daraus, daß er in seinen Romanen sein eigenes Wesen geschildert hat und daß er sich für einen typischen Vertreter einer Gattung hält. „Diese Bücher sind“, sagt er, „eine Auskunft über einen Typus von jungen Leuten, der bereits häufig ist und, ich fühle es voraus, immer zahlreicher werden wird

 Maurice Barrès, Trois stations de psychothérapie. Paris, . Zweite Station.   Maurice Barrès, Un homme libre.  ème édition. Paris, .  Maurice Barrès, Le Jardin de Bérénice. Paris, . S.  ff.  Le Jardin de Bérénice. S.  ff.  Maurice Barrès, L’Ennemi des lois. Paris, . S. , , .  M. Barrès, Examen de trois idéologies. Paris, . S. .

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unter denen, die heute das Gymnasium besuchen. Sie werden später … als Urkunden benutzt werden.“ Wie ist dieser Typus beschaffen? Die Antwort sei in Barrès’ eigenen Worten gegeben. Der Held der Romane ist „ausschließlich Schriftsteller, hochmüthig, verkünstelt und entwaffnet“; („Examen“, S. .) „ein blasser junger Bourgeois, heißhungrig nach allen Genüssen“ (S. .); „angewidert von der Berührung der Menschen“; (S. .) er fühlt sich „in einer übeln Lage inmitten der Weltordnung“ und „schwach angesichts des Lebens“. (S. .) Kann man sich eine vollkommenere Umschreibung des anpassungsunfähigen, zum Kampf ums Dasein schlecht ausgerüsteten und darum Welt und Menschen hassenden und fürchtenden, dabei aber von krankhaften Begierden erregten Entarteten denken? Dieser hinfällige Jammermensch, den die Willensschwäche seines unvollkommenen Gehirns und der beständige Tumult seiner ungesunden Organe nothwendig [] zu einem Ichsüchtigen | machen, erhebt sein Gebrechen zu einem System und verkündet es stolz. „Halten wir uns an das einzig Wirkliche, an unser Ich.“ (S. .) „Es gibt nur eins, was wir kennen und was wirklich vorhanden ist … Diese einzige greifbare Wirklichkeit ist das Ich und das Weltall ist nur ein Wandgemälde, das es schön oder häßlich gestaltet. Halten wir uns also an unser Ich, schützen wir es gegen die Fremden, gegen die Barbaren.“ (S. .) Was versteht er unter Barbaren? Das sind „die Wesen, die vom Leben einen Traum besitzen, welcher dem entgegengesetzt ist, den das Ich sich davon zurechtlegte. Wären sie übrigens feingebildet, sie sind für das Ich Fremde und Gegner … Der junge Mann, den das Leben zwingt, mit Wesen umzugehen, die nicht aus seiner seelischen Heimat sind, fühlt eine Verletzung. Ah! was liegt an der Beschaffenheit einer Seele, die einer Empfindlichkeit widerspricht! Diese Fremden, welche die Entwickelung irgend eines zarten, zögernden, sich selbst suchenden Ichs hindern oder ablenken, diese Barbaren, durch die ein beeinflußter junger Mann sein Schicksal verfehlen und seine Lebensfreude nicht finden wird, ich hasse sie.“ (S. , .) „Soldaten, Richter, Sittenlehrer, Erzieher“, das sind die Barbaren, welche dem „Ich“ hemmend entgegentreten. (S. .) Kurz gesagt, das Ich, das sich in der gesellschaftlichen Ordnung nicht zurechtfinden kann, betrachtet alle Träger und Vertheidiger dieser Ordnung als seine Feinde. Was es möchte, das ist, „sich ohne Widerstand den Kräften seines Triebes hinzugeben,“ (S. .) „aufrichtig und seinen Trieben angemessen zu sein.“ (S. .) Dieser Gedanke der Befreiung des Triebes, der Leidenschaft, des Unbewußten, von der Ueberwachung der Vernunft, des Urtheils, des Bewußtseins kehrt in den Romanen hundertfach wieder. „Der Geschmack soll den Platz der Sittlichkeit einnehmen.“ („L’ennemi des lois“, S. .) „Ein Mann, und ein freier Mann, möchte ich mein Geschick erfüllen, meinen | [] innern Antrieb achten und begünstigen und mir von nichts Aeußerem einen Rath geben lassen.“ (S. .) „Nach der Schnur gezogene Gesellschaft! Du bietest Jedem die Sklaverei, der sich nicht dem anbequemt, was die Mehrheit als schön und gut bezeichnet hat. Wie viel Verbrechen begeht man gegen das Individuum im Namen

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der Menschheit wie einst im Namen Gottes und des Gemeinwesens!“ (S. .) „Man darf den Neigungen des Menschen keinen Zwang anthun, sondern muß die gesellschaftliche Form ihnen anpassen.“ (S. .) (Daß es viel einfacher wäre, die Neigungen des einen Menschen der für Millionen Menschen maßgebenden gesellschaftlichen Form anzupassen, fällt dem Philosophen gar nicht ein.) Es ist nur folgerichtig, daß Barrès seinen „Pfleger des Ichs“, nachdem er uns in den drei ersten Romanen oder „Ideologien“ seine Entwickelung gezeigt hat, Anarchist werden Iäßt und zum „Feinde der Gesetze“ macht. Er fühlt aber selbst, daß man ihm mit Recht entgegenhalten werde, die Gesellschaft könne ohne irgend ein Gesetz, irgend eine Ordnung nicht bestehen, und sucht diesem Einwande mit der Ausrede zu begegnen, daß Jeder sich selbst richtig leite, daß der Trieb gut und unfehlbar sei, daß er „aus der langen Lehrzeit unserer Gattung unter Gesetzbüchern und Glaubenslehren seinen Nutzen gezogen habe“. Er gibt also zu, daß „Glaubenslehren und Gesetzbücher“ ihren Nutzen und ihre Nothwendigkeit haben, aber nur in einem frühen Abschnitte der Menschengeschichte. Als die Triebe noch wild, schlecht und unvernünftig waren, brauchten sie die Unterweisung des zügelnden Gesetzes. Jetzt aber sind sie so vollkommen, daß sie dieses Führers und Meisters nicht mehr bedürfen. Es gibt ja aber noch Verbrecher? Was fängt man mit diesen an? Diese „liebt und küßt man so lange, bis sie gut werden“. Ich wünschte nur, daß Barrès Gelegenheit hätte, seine Vertheidigungsmethode in einem nächtlichen Ueberfall gegen Raubmörder anzuwenden! | Sich von seinen Trieben leiten lassen heißt mit anderen Worten, das Unbe- [] wußte zum Herrscher über das Bewußtsein machen, die höchsten Hirnzentren den niederen unterordnen. Aller Fortschritt beruht aber darauf, daß die höchsten Zentren immer mehr die Gewalt über den Gesammtorganismus an sich nehmen, daß das Urtheil und der Wille immer strenger die Triebe und Leidenschaften bändigen und leiten, daß das Bewußtsein immer weiter ins Gebiet des Unbewußten dringt und sich immer neue Theile davon aneignet. Der Trieb drückt ein unmittelbar empfundenes Bedürfniß aus und seine Befriedigung gewährt unmittelbare Lust, gewiß. Aber dieses Bedürfniß ist oft das eines einzigen Organs und seine Befriedigung, obschon dem verlangenden Organ angenehm, mag dem Gesammtorganismus schädlich, ja tödtlich sein. Es gibt ferner gesellschaftfeindliche Triebe, deren Befriedigung zwar nicht dem Organismus selbst unmittelbar schädlich ist, aber sein Zusammenleben mit der Gattung erschwert oder unmöglich macht, also seine Lebensbedingungen verschlechtert und ihm mittelbar den Untergang bereitet. Das Urtheil allein ist berufen, diesen Trieben die Vorstellung der Bedürfnisse des Gesammtorganismus und der Gattung entgegenzuhalten, und der Wille hat die Aufgabe, der vernünftigen Vorstellung den Sieg über den selbstmörderischen Trieb zu sichern. Das Urtheil kann irren, es ist das Arbeitsergebniß eines höher differenzirten heiklern Werkzeugs, das, wie jede feinere und verwickeltere Maschine, leichter in Unordnung kommt und versagt als ein einfacheres und gröberes Geräth; der Trieb, die ererbte, organisirte Gattungserfahrung, ist in der Regel sicherer und

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zuverlässiger. Das sei ohne Weiteres zugegeben. Aber was ist das Unglück, wenn das Urtheil einmal in einem Verbote irrt, welches es dem Trieb entgegensetzt? Dann wird in der Regel der Organismus nur um ein augenblickliches Lustgefühl gebracht, er erleidet also höchstens einen negativen Schaden, der Wille wird aber [] eine Anstrengung | gemacht und sich durch seine Uebung gekräftigt haben, und das ist ein positiver Nutzen für den Organismus, der wohl fast immer jenen negativen Schaden mindestens aufwiegt. Und dann ist bei allen diesen Betrachtungen die vollkommene Gesundheit des Organismus vorausgesetzt, denn nur in dieser arbeiten sowohl das Unbewußte wie das Bewußtsein normal. Wir haben aber oben gesehen, daß auch das Unbewußte der Krankheit unterworfen ist; es kann dumm, stumpf und verrückt sein wie das Bewußtsein; dann hört es vollständig auf, zuverlässig zu sein; dann sind die Triebe als Führer so werthlos wie Blinde oder Betrunkene; dann muß der Organismus, wenn er sich ihnen überläßt, in Verderben und Tod taumeln; das einzige, was ihn dann manchmal retten kann, ist die beständige, ängstliche, angespannte Wachsamkeit des Urlheils und da dieses mit seinen eigenen Mitteln sich niemals gegen ein großes Heer empörter, tobender Triebe behaupten kann, so muß es sich Verstärkung bei dem Urtheil der Gattung, das heißt bei irgend einem Gesetz, bei irgend einer anerkannten Sittlichkeit holen. Das ist die aberwitzige Verirrung der „Pfleger des Ichs“: in denselben Fehler fallend wie die seichten Psychologen des achtzehnten Jahrhunderts, die nur die Vernunft anerkannten, sehen sie blos einen Theil des menschlichen Geisteslebens, sein Unbewußtes; sie wollen ihr Gesetz nur vom Triebe empfangen, übersehen aber ganz, daß der Trieb entarten, erkranken, sich erschöpfen kann und dann als Gesetzgeber so unbrauchbar wird wie ein Tobsüchtiger oder ein Idiot. Barrès widerspricht übrigens seinen eigenen Theorien auf Schritt und Tritt. Während er zu glauben vorgibt, daß die Triebe immer gut sind, schildert er in den Ausdrücken zärtlichster Bewunderung manche seiner Heldinen als wahre sittliche Ungeheuer. Die „kleine Prinzessin“ im „Feinde der Gesetze“ ist ein weiblicher des Esseintes; sie rühmt sich, daß sie als Kind „die Geißel des Hauses war“. (S. .) [] Ihre Eltern „betrachtete | sie als ihre Feinde.“ (S. .) Die Kinder „liebt sie weniger als die Hunde.“ (S. .) Daß sie sich jedem Manne, der ihr in die Augen sticht, sofort hingibt, ist selbstverständlich, denn wozu wäre sie sonst eine „Pflegerin des Ichs“ und eine Bekennerin des Gesetzes der Triebe? So sehen die guten Menschen von Barrès aus, die kein Gesetz mehr brauchen, weil sie „aus der langen Lehrzeit unserer Gattung ihren Nutzen gezogen haben“. Noch einige Züge, um das geistige Bild dieses Decadenten zu vervollständigen. Er läßt seine „kleine Prinzessin“ erzählen: „Als ich zwölf Jahre alt war, liebte ich es, wenn ich allein war, meine Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die nackten Füße in warmen Koth zu stecken. So verbrachte ich Stunden und das gab mir Lustschauer über den ganzen Körper.“ Barrès gleicht seiner Heldin. Er empfindet „Lustschauer über den ganzen Körper“, wenn er „im warmen Kothe steckt“.

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„Es gibt keine Einzelheit der Lebensgeschichte von Berenice,“ fängt er das dritte Kapitel des „Gartens der Berenice“ an, „die nicht anstößig wäre; ich bewahre aber von ihr sehr feine Empfindungen.“ Diese Berenice war eine Tänzerin im Pariser Edentheater, die als kleines Mädchen von ihrer Mutter und ältern Schwester an alte Verbrecher verkauft und erst später von einem Liebhaber aus der Prostitution erlöst wurde, die schon ihr Kindesalter geschändet hatte. Ihr Liebhaber stirbt und hinterläßt ihr ein ansehnliches Vermögen. Der Held des Romans, der sie als Kind der Gosse gekannt hat, begegnet der Kebswittib in Arles, wo er als boulangistischer Bewerber um einen Abgeordneten-Sitz auftritt, und knüpft die alte Beziehung zu ihr wieder an. Was ihn am Meisten in dem Verhältniß entzückt und seine Lust aufs Höchste steigert, das ist die Vorstellung, wie sehr sie ihren verstorbenen Freund geliebt und mit welcher Hingebung sie in seinen Armen geruht habe. „Meine Berenice“, heißt es, (S. .) „bewahrt auf ihren bleichen Lippen | und an ihren glänzen- [] den Zähnen noch den Geschmack der Küsse des Herrn de Transe“ (so heißt der Liebhaber und Erblasser). „… Der junge Mann, der nicht mehr ist, hat ihr an Leidenschaft so viel hinterlassen, wie ein Frauenherz in sich fassen kann.“ Das Gefühl, das Barrès mit einem Schwulst hochtrabender Redensarten herauszuputzen sucht, ist einfach der wohlbekannte Reiz, den greise Sünder bei dem Anblick der Liebesthaten Anderer empfinden. Jeder Kenner des Pariser Lebens weiß, was man an der Seine einen „voyeur“ oder „Zugucker“ nennt. Barrès enthüllt sich hier als metaphysischer voyeur. Dabei möchte er glauben machen, daß diese kleine Straßendirne, deren schmutzige Abenteuer er mit der Wärme der Liebe und dem Entzücken des Kunstsinnigen vorträgt, eigentlich ein Sinnbild sei, er will sie nur als Symbolist gestaltet haben; „man sieht ein junges Weib um einen jungen Mann. Ist das nicht die Geschichte einer Seele mit ihren beiden Bestandtheilen, dem weiblichen und männlichen? Oder neben dem Ich, das sich bewahrt, sich kennen und geltend machen will, die Einbildungskraft, die Freude an der Sinnenlust, das Behagen am Schweifen, das bei einem jungen und feinfühligen Wesen so lebhaft ist?“ Man darf wohl fragen, wo in den Einzelheiten der Lebensschicksale von „Petite secousse“ („kleiner Ruck“), wie er sein „Symbol“ nennt, der „Symbolismus“ bleibt? Krankheit und Verwesung üben auf ihn die übliche Baudelairesche Anziehung. „Als Berenice ein kleines Mädchen war“, heißt es im „Garten der Berenice“, (S. .) „bedauerte ich in meiner Begierde, sie zu lieben, ungemein, daß sie nicht irgend ein leibliches Gebrechen hatte … Ein Makel in dem, was ich allem Andern vorziehe, … schmeichelt meiner theuersten Geisteseigenthümlichkeit.“ Und S.  wird ein Ingenieur verspottet, der „an die Stelle unserer Sümpfe voll schöner Wechselfieber irgend einen Karpfenteich setzen möchte.“ | Das Entartungs-Merkmal der Zoophilie oder übertriebenen Thierliebe ist bei [] ihm stark ausgeprägt. Wenn er sich besonders erbauen will, so „läuft er, die schönen Augen der Seehunde anzusehen und bei dem geheimnißvollen Bangen un-

 Examen de trois idéologies. S. .

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tröstlich zu werden, daß diese so sanftherzigen Thiere, die Brüder der Hunde und unsere Brüder, in ihrem Becken bekunden.“ Der einzige Erzieher, den Barrès gelten läßt, ist — der Hund. „Sie ist nämlich ausgezeichnet, die Erziehung, die ein Hund gibt! … Unsere Gymnasiasten, überbürdet mit geistigen Erwerbungen, die ihnen bloße Begriffe bleiben und nicht Empfindungsweisen werden, beschwert mit Meinungen, die nicht der Richtung ihrer eigenen Anlage folgen, würden vom Hunde die schöne Freiheit, die Gabe, auf den Trieb ihres Ichs zu hören, wieder erlernen.“ Und man glaube nicht, daß Stellen wie diese Selbstverhöhnung oder Verspottung des Philisters sind, der sich etwa unter die Leser des Buches verirrt haben möchte. Nein. Die Rolle, welche zwei Hunde in dem Romane spielen, beweist, daß die angeführten Bemerkungen bitter ernst gemeint sind. Wie jeder richtige Entartete, bewahrt er die ganze Nächstenliebe und Bewunderung, die nicht von See- und anderen Hunden in Anspruch genommen wird, Hysterischen und Wahnsinnigen. Seiner Schwärmerei für die bedauernswerthe Baschkirtseff wurde schon gedacht. Unvergleichlich ist seine Auffassung Ludwigs II. von Bayern. Der unglückliche König ist ihm ein „Unbefriedigter“; („Der Feind der Gesetze“, S. .) er spricht von „seinem Fortgerissensein außerhalb seiner angeborenen Umgebung, seiner heißen Begierde, seinen Traum greifbar zu machen, dem Scheitern seiner Einbildungskraft in der Unbeholfenheit der Ausführung“; (S. .) [] „Ludwig II. ist eine | gänzlich vollendete Sittlichkeits-Lehraufgabe“; (S. .) „wie hätte er dulden sollen, daß ein fremder Wille in sein Leben eingreife, dieser Bruder Parsifals, dieser Reine, dieser Schlichte, der allen menschlichen Gesetzen die Regungen seines Herzens entgegensetzte! Und es scheint sehr, daß die Ertränkung des Doktors Gudden die Rache war, welche er an einem Barbaren nahm, der ihm seine Lebensregel aufnöthigen wollte.“ (S. .) Mit solchen Redensarten kennzeichnet Barrès einen Gestörten, dessen Geist vollständig umnachtet und der jahrelang nicht eines einzigen vernünftigen Gedankens fähig war! Dieses schamlose Wegwenden des Kopfes von einer Thatsache, die ihn rechts und links ohrfeigt, dieses Unvermögen, das Unsinnige im Geistesleben eines Kranken zu erkennen, der zu den tiefsten Stufen des Irrsinns hinabgesunken war, diese Hartnäckigkeit, die verrücktesten Handlungen als wohlüberlegt, absichtsvoll, philosophisch begründet und tiefsinnig auszulegen, wirft ein helles Licht auf den Geisteszustand des Decadenten. Wie soll ein Mensch dieser Art die krankhafte Zerrüttung seines eigenen Gehirns einsehen, wenn er nicht einmal wahrnimmt, daß Ludwig II. nicht eine „Sittlichkeits-Lehraufgabe“, sondern ein gewöhnlicher Geisteskranker war, wie jede größere Irrenanstalt deren Dutzende enthält? Die Weltanschauung und Sittenlehre der Barrèsschen „Pfleger des Ichs“ kennen wir nun. Jetzt nur noch ein Wort über ihre praktische Lebensführung. Der Held des „Gartens der Berenice“, Philipp, ist der vergnügte Wohngast von „petite

 Examen de trois idéologies. S. .  L’ennemi des lois, S. .

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secousse“ in dem Hause, das ihr letzter Liebhaber ihr hinterlassen hat; nach einiger Zeit hat er von ihrem „erziehlichen Einflusse“ genug, er verläßt sie und gibt ihr beim Scheiden den dringenden Rath, seinen Wettbewerber um den Abgeordnetensitz zu heiraten, was sie auch thut. Der „Feind der Gesetze“, ein Anarchist André Maltère, der wegen eines Zeitungsartikels, in welchem er ein Dynamit-Verbrechen gutgeheißen | hatte, zu mehrmonatlicher Gefängnißstrafe verurtheilt worden war, [] ist durch seine Strafsache zu einer Tagesberühmtheit geworden; eine sehr reiche, verwaiste Erbin bietet ihm ihre Hand, die „kleine Prinzessin“ ihre Liebe. Er heiratet das reiche Mädchen, das er nicht liebt, und fährt fort, die „kleine Prinzessin“ zu lieben, die er nicht heiratet. Denn so erfordert es die „Pflege seines Ichs“: um seine ästhetischen Neigungen zu befriedigen und mit Wort und Schrift zu „wirken“, muß er Geld haben, und um seine Gemüthsbedürfnisse zu stillen, muß er die „kleine Prinzessin“ haben. Nach einigen Monaten der Ehe findet er es unbequem, seine Liebe zur kleinen Prinzessin vor seiner Frau zu verheimlichen. Er läßt sie also die Bedürfnisse seines Herzens errathen. Die Frau steht auf der Höhe seiner Philosophie. Sie ist „verständnißvoll“. Sie geht selbst zur „kleinen Prinzessin“, führt sie dem edeln Anarchisten zu und von da an lebt dieser reich, geliebt, vergnügt und befriedigt zwischen der Erbin und der Geliebten, wie es sich für eine höhere Natur schickt. Barrès glaubt da eine sehr „seltene“ und „köstliche“ („rare et exquis“) Menschengestalt geschaffen zu haben. Er irrt sich. „Pfleger des Ichs“ von der Art des Boulangisten Philippe und des Anarchisten André gibt es in allen Großstädten zu Tausenden. Nur kennt die Polizei sie unter einem andern Namen. Sie nennt sie Zuhälter. Und das Sittengesetz des braven Anarchisten ist längst das der Pariser vergoldeten Dirnen, die von jeher den „Liebhaber fürs Herz“, „l’amant de cœur“, neben „dem Andern“ — oder „den Anderen“ — unterhalten haben. Das Decadententhum ist nicht auf Frankreich beschränkt geblieben. Es hat auch in England Schule gemacht. Von einem der frühesten und sklavischsten Nachahmer Baudelaires, Swinburne, war schon im vorigen Buche die Rede. Seinen Platz mußte ich ihm unter den Mystikern anweisen, denn das Entartungsstigma des Mysticismus herrscht in seinen Werken | vor. Er hat ja freilich so vielen Vorbil- [] dern die Schleppe nachgetragen, daß man ihn zum Hausgesinde einer ganzen Reihe von Herren zählen muß, schließlich wird man ihn aber doch dort einordnen, wo er am längsten gedient hat, und das war bei den Präraphaeliten. Baudelaire hat er hauptsächlich den Diabolismus und Sadismus abgeguckt, die Unzucht wider die Natur und die Lust an Qual, Krankheit und Verbrechen. Die Ichsucht des Decadententhums, seine Vorliebe für das Künstliche, seine Abneigung gegen die Natur, gegen jede Form der Thätigkeit und Bewegung, seine größenwahnsinnige Verachtung der Menschen und seine Ueberschätzung der Kunst haben ihre englischen Vertreter in den „Aestheten“ gefunden, deren Führer Oskar Wilde ist. Wilde hat mehr durch seine persönlichen Absonderlichkeiten gewirkt als durch seine Werke. Wie Barbey d’Aurévilly, dessen rosaseidenen Hüte und Halsbinden mit Goldspitzen bekannt sind, wie dessen Jünger Péladan, der in Spitzenjabot und

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Atlaswams einhergeht, kleidet Wilde sich in absonderliche Trachten, die theils an die Moden des Mittelalters, theils an Rococoformen erinnern. Er gibt vor, den heutigen Kleiderschnitt aufgegeben zu haben, weil er seinen Schönheitssinn beleidigt, das ist aber nur eine Ausrede, an die er vermuthlich selbst nicht glaubt. Was sein Thun wirklich bestimmt, das ist die hysterische Gier, aufzufallen, die Welt mit sich zu beschäftigen, von sich reden zu machen. Es wird versichert, daß er in Pall Mall, der belebtesten Straße des Londoner Westends, in Wams und Kniehosen, mit einem malerischen Barett auf dem Kopfe und einer Sonnenblume, gleichsam der Wappenblume der Aestheten, in der Hand am hellen Nachmittage spazieren gegangen sei. Diese Anekdote wird in allen Lebensgeschichten Wildes wiederholt und ich habe nicht gesehen, daß ihr irgendwo widersprochen worden wäre. Ist ein Spaziergang mit der Sonnenblume etwa auch vom Schönheitsdrange eingegeben? | [] Phrasendrescher schwatzen einander die Faselei nach, daß es ein Beweis vornehmer Unabhängigkeit sei, wenn man seinem eigenen Geschmacke folge, ohne sich an die Kleiderordnung des Philisterviehs zu kehren, und für seinen Anzug Farbe, Stoff und Schnitt wähle, die man als schön empfinde, auch wenn sie von der herrschenden Mode noch so weit abweichen. Auf dieses Geschwätz ist zu erwidern, daß es zunächst ein Anzeichen gesellschaftfeindlicher Ichsucht ist, wenn man ohne Noth, zur bloßen Befriedigung einer Eitelkeit oder eines durchaus nicht wichtigen und unschwach zu zügelnden ästhetischen Triebes, die Mehrheit ärgert, was man immer thut, wenn man sich durch Wort und That zu ihr in Widerspruch setzt. Man muß sich aus Rücksicht auf die Nebenmenschen viele Kundgebungen von Meinungen und Begierden versagen; das dem Menschen beizubringen ist Zweck der Erziehung und wer es nicht gelernt hat, sich einigen Zwang aufzuerlegen, um bei den Anderen nicht anzustoßen, den nennen die bösen Philister nicht einen Aestheten, sondern einen Flegel. Im Dienste der Wahrheit und Erkenntniß kann es zur Pflicht werden, der Menge entgegenzutreten, aber der ernste Mensch wird diese Pflicht immer als eine schmerzliche empfinden und an ihre Erfüllung niemals leichtfertig gehen, sondern lang und streng prüfen, ob wirklich ein hohes und unbedingten Gehorsam heischendes Gebot ihn nöthigt, der Mehrheit seiner Mitmenschen unangenehm zu werden. Eine solche That ist dem sittlichen, gesund fühlenden Menschen eine Art Blutzeugenschaft für eine Ueberzeugung, deren Bethätigung ihm eine Lebensnothwendigkeit ist; sie ist eine Form, und nicht einmal eine gelinde, der Selbstaufopferung, denn sie ist ein Verzicht auf die Freude, die das Bewußtsein der Uebereinstimmung mit den Nebenmenschen gibt, und sie erfordert die qualvolle [] Niederkämpfung der gesellschaftfreundlichen Triebe, die zwar den | ichsüchtigen Gestörten fehlen, die aber im Normalmenschen sehr mächtig sind. Die Vorliebe für absonderliche Kleidung ist die krankhafte Verirrung eines Gattungstriebes. Die Herausschmückung des Aeußern geht ursprünglich aus dem Drange hervor, von den Anderen — in erster Linie dem entgegengesetzten Geschlechte — bewundert, von ihnen als besonders wohlgebaut, schön, jugend-

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lich, oder reich und mächtig, oder durch Stellung und Verdienst ausgezeichnet erkannt zu werden, sie geschieht also zum Zwecke, auf die Anderen günstig zu wirken, sie ist eine Folge des Denkens an die Anderen, der Beschäftigung mit der Gattung. Wenn man sich nun, nicht in Folge eines Urtheilsfehlers, sondern mit Absicht so herausputzt, daß man die Anderen ärgert oder von ihnen ausgelacht wird, also Mißbilligung statt Wohlgefallens erregt, so geht dies gerade gegen den Zweck aller Kleiderkunst und beweist eine Perversion des Eitelkeits-Triebes. Der vorgeschützte Schönheitssinn ist eine Ausrede des Bewußtseins für eine Tollheit des Unbewußten. Der Narr, der in Pall Mall eine Maskerade aufführt, sieht sich nicht, genießt also die schöne Erscheinung nicht, die ihm ein ästhetisches Bedürfniß sein soll. Es hätte einen Sinn, wenn er dahin streben würde, daß die Anderen sich nach seinem Geschmacke kleiden; denn sie sieht er, sie können ihn durch ihre häßliche Tracht ärgern und durch eine schöne erfreuen. Aber daß er die kleiderkünstlerische Neuerung an sich beginnt, bringt ihn seinem angeblichen Ziele ästhetischer Befriedigung nicht um ein Haar breit näher. Es ist also nicht Unabhängigkeit des Charakters, wenn ein Wilde in „AesthetenTracht“ unter den ihn spöttisch oder geärgert anstarrenden Philistern umhergeht, sondern durch keinen höhern Zweck gerechtfertigte, rein gesellschaftfeindliche, ichsüchtige Rücksichtslosigkeit und hysterisches Verlangen, Aufsehen zu er-|regen; es [] ist auch nicht Schönheitsdrang, sondern böswillige Widerspruchslust. Durch seine Bajazzo-Vermummung erlangte Wilde immerhin in der ganzen angelsächsischen Welt den Ruhm, den ihm seine Gedichte und Dramen nie erworben hätten. Mich mit diesen zu beschäftigen habe ich keinen Grund, denn sie sind schwächliche Nachahmungen Rossettis und Swinburnes und von einer trostlosen Nichtigkeit. Dagegen verdienen seine Prosa-Aufsätze Beachtung, weil sie alle Züge aufweisen, welche im „Aestheten“ den Artgenossen des Decadenten erkennen lassen. Oscar Wilde verachtet die Natur wie seine französischen Lehrmeister. „Was sich thatsächlich ereignet, ist für die Kunst verdorben. Alle schlechten Gedichte gehen aus echten Gefühlen hervor. Natürlich sein heißt selbstverständlich sein und selbstverständlich sein heißt unkünstlerisch sein.“ Er ist ein „Pfleger des Ichs“ und empfindet eine ergötzliche Entrüstung darüber, daß sich die Natur untersteht, gegen seine wichtige Person gleichgiltig zu sein. „Die Natur ist so gleichgiltig, so verständnißlos. So oft ich im Hydepark spazieren gehe, fühle ich immer, daß ich für sie nicht mehr bin als das Vieh, das am Wiesenhange grast.“ (S. .) Er hat von sich und der Gattung die Meinung des Esseintes. „Ah! Sagen Sie nicht, daß Sie mit mir übereinstimmen. Wenn Leute mit mir übereinstimmen, so fühle ich immer, daß ich Unrecht haben muß.“ (S. .)

 Oscar Wilde, Intentions. Leipzig, Tauchnitz, . S. . Die oben im Folgenden angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Buch.

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Sein Ideal des Lebens ist Thatlosigkeit. „Nur die Philister suchen eine Persönlichkeit nach der gemeinen Probe der Leistung abzuschätzen. Man suche, etwas zu sein, nicht etwas zu thun.“ (S. .) „Die Gesellschaft verzeiht oft dem Verbre[] cher, sie verzeiht nie dem Träumer. Die herrlich unfrucht-|baren Gefühle, welche die Kunst in uns erregt, sind in ihren Augen hassenswerth … Die Leute kommen immer schamlos an einen heran und sagen: ‚was thun Sie?‘ während: ‚was denken Sie?‘ die einzige Frage ist, welche irgend ein einzelnes gesittetes Wesen einem andern sollte zuflüstern dürfen … Beschaulichkeit … ist die angemessene Beschäftigung des Menschen … Die Auserwählten sind dazu da, nichts zu thun. Thätigkeit ist begrenzt und bedingt. Unbegrenzt und unbedingt ist das Sehen desjenigen, der bequem dasitzt und beobachtet, der in Einsamkeit wandelt und träumt.“ (S. .) „Das sichere Mittel, vom Leben nichts zu wissen, ist, sich nützlich zu machen.“ (S. .) „Von Zeit zu Zeit erhebt die Welt ein Geschrei gegen irgend einen reizvollen künstlerischen Dichter, weil er, um ihre abgedroschene und dumme Phrase zu gebrauchen, ‚nichts zu sagen hat‘. Aber wenn er etwas zu sagen hätte, so würde er es wahrscheinlich sagen und das Ergebniß wäre langweilig. Gerade weil er uns nichts Neues anzukündigen hat, kann er prächtige Arbeit leisten.“ Er liebt Unsittlichkeit, Sünde und Verbrechen. In einem liebevollen lebensgeschichtlichen Aufsatz über den Massenmörder, Zeichner, Maler und Schriftsteller Thomas Griffith Wainewright sagt er: „Er war ein Fälscher von ungewöhnlicher Fähigkeit und als feiner und verschwiegener Giftmörder hat er fast nicht seines Gleichen in diesem oder irgend einem Zeitalter. Dieser merkwürdige Mann, so machtvoll mit Feder, Pinsel und Gift“ u. s. w. (S. .) „Er suchte den Ausdruck seines Wesens durch die Feder oder durch Gift.“ (S. .) „Als ein Freund ihm die Ermordung von Helena Abercrombie vorwarf, zuckte er die Achsel und sagte: Ja. Es war schrecklich, so etwas zu thun. Aber sie hatte sehr dicke Knöchel!“ (S. .) „Seine Verbrechen scheinen eine bedeutende Wirkung auf seine Kunst gehabt zu haben. Sie gaben seinem Stil etwas stark Persönliches, eine Eigenschaft, die seinen [] ersten Arbeiten sicher-|lich fehlte.“ (S. .) „Es gibt keine Sünde, ausgenommen Dummheit.“ (S. .) „Ein Gedanke, der nicht gefährlich ist, ist überhaupt nicht werth, ein Gedanke zu sein.“ (S. .) Er treibt nebenbei gelinde Farbenmystik. „Vorliebe für Grün ist bei Einzelnen immer ein Zeichen feiner, künstlerischer Anlage und bei Völkern soll sie Lockerung, ja Verfall der Sitten bedeuten.“ (S. .) Doch den Mittelpunkt-Gedanken seiner gequält spöttischen, das Uzen des Philisters als Hauptziel verfolgenden, mühselig den Gegenpol des gesunden Menschenverstandes aufsuchenden Salbaderei bildet die Verhimmelung der Kunst. Wilde setzt das System der „Aestheten“ folgendermaßen auseinander: „Ihre Lehren sind in Kurzem diese: die Kunst drückt nie etwas Anderes aus als sich selbst. Sie hat ein unabhängiges Leben wie der Gedanke und entwickelt sich ausschließlich nach ihren eigenen Zielen … Zweitens: alle schlechte Kunst kommt von der Rückkehr zu Leben und Natur und von deren Erhebung zum Ideal. Leben und Natur

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Decadenten und Aestheten.

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 mögen manchmal als Theile des Rohstoffs der Kunst benutzbar sein, doch bevor

sie für die Kunst irgendwie wirklich brauchbar sind, müssen sie in künstlerische Sinnbilder (conventions) übersetzt werden. Sowie die Kunst ihr Einbildungsmedium (?) aufgibt, gibt sie Alles auf. Als eine Methode ist Realismus ein vollständiger Mißerfolg und die beiden Dinge, die jeder Künstler vermeiden sollte, sind Moderni tät der Form und Modernität des Gegenstandes. | Für uns, die wir im . Jahrhun- [] dert leben, ist jedes Jahrhundert ein geeigneter Kunstvorwurf, ausgenommen unser eigenes. Die einzigen schönen Dinge sind die, welche uns nichts angehen… Gerade weil Hecuba uns nichts ist, sind ihre Schmerzen ein so geeigneter Gegenstand für ein Trauerspiel. Die dritte Lehre ist die, daß das Leben die Kunst sehr viel mehr  nachahmt als die Kunst das Leben. Dies ist die Folge nicht blos des Nachahmungstriebes des Lebens, sondern auch der Thatsache, daß es das bewußte Ziel des Lebens ist, Ausdruck zu finden, und daß die Kunst ihm gewisse schöne Formen bietet, durch welche es dieses Bestreben verwirklichen kann.“ (S.  ff.) Wohlgemerkt: mit diesem dritten Punkte, dem Einfluß der Kunst auf das | Leben, meint []  Wilde nicht etwa die von mir längst festgestellte Wechselbeziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum, die darin besteht, daß jenes eine Suggestion übt und dieses sie erleidet, sondern er will wirklich gesagt haben, daß die Natur —

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 Schiller sagt auch: „Ewig jung ist nur die Phantasie; Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie.“ („An die Freunde“.) Er meint aber damit nicht, daß die Kunst von Wahrheit und Leben absehen soll, sondern daß sie in der Erscheinung das Wesentliche und darum Dauernde vom Zufälligen und darum Vergänglichen unterscheiden müsse.  Vergl. damit, Kant, Kritik der Urtheilskraft, herausgegeben und erläutert von J. H. v. Kirchmann. Berlin, , S. : „Alles Interesse verdirbt das Geschmacksurtheil und nimmt ihm seine Unparteilichkeit, vornehmlich, wenn es nicht, so wie das Interesse der Vernunft, die Zweckmäßigkeit vor dem Gefühle der Lust voranschickt, sondern sie auf diese gründet; welches Letztere allemal im ästhetischen Urtheil über etwas, sofern es vergnügt oder schmerzt, geschieht.“ Die heutige Psycho-Physiologie hat diese Anschauung Kants als irrig erkannt und nachgewiesen, daß „das Gefühl der Lust“ an sich ursprünglich ein Gefühl organischer „Zweckmäßigkeit“ ist und daß ein „Geschmacksurtheil“ ohne „Interesse“ (die Psycho-Physiologie gebraucht statt „Interesse“ die Worte „organische Tendenz“ oder „Neigung“) überhaupt nicht vorkommt. Uebrigens sagt Wilde, dem es auf Widersprüche gegen seine flotten Behauptungen nicht ankommt, S.  der Intentions genau das Gegentheil von dem, was die oben angeführte Stelle enthält. „Ein Kritiker“, heißt es dort, „kann nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes gerecht sein. Nur über Dinge, die einen nicht interessiren, kann man eine wirklich unbeeinflußte Meinung abgeben. Dies ist ohne Zweifel der Grund, weshalb eine unbeeinflußte Meinung immer vollständig werthlos ist. Der Mann, der beide Seiten einer Frage sieht, ist ein Mann, der schlechterdings gar nichts sieht.“ Also muß Hecuba dem Kritiker doch etwas sein, damit er sie überhaupt kritisiren könne?  Siehe die Kapitel „Inhalt der poetischen Literatur“ und „Zur Naturgeschichte der Liebe“ der „Paradoxe.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

nicht die gesitteten Menschen — sich in die vom Künstler gegebenen Formen hinein entwickelt. „Woher, wenn nicht von den Impressionisten, bekommen wir die wunderbaren braunen Nebel, die durch unsere Straßen kriechen, die Gaslampen verschmauchen, die Häuser in ungeheuerliche Schatten verwandeln? Wem, wenn nicht ihnen und ihren Meistern, verdanken wir den herrlichen Silberduft, der über unserem Strome brütet und geschwungene Brücken und sich wiegende Kähne in Erscheinungen von verdämmernder Anmuth umbildet? Die außerordentliche Veränderung, welche im Klima von London während dieser letzten zehn Jahre Platz gegriffen hat, ist gänzlich dieser besondern Kunstschule zuzuschreiben.“ (S. .) Wenn er blos feststellen wollte, daß Nebel und Dunst früher nicht als schön empfunden wurden und daß erst ihre künstlerische Wiedergabe die Menge auf sie aufmerksam gemacht habe, so wäre ihm nicht zu widersprechen, aber er hätte einen abgedroschenen Gemeinplatz mit unangebrachter Wichtigthuerei vorgetragen. Er behauptet jedoch, daß die Maler das Klima geändert haben, daß es in London seit zehn Jahren Nebel gibt, weil die Impressionisten Nebel darstellen, und das ist eine solche Albernheit, daß man sie nicht zu widerlegen braucht. Es genügt, sie als Kunst-Mysticismus zu kennzeichnen. Endlich lehrt Wilde: „Das Aesthetische steht höher als das Sittliche. Es gehört einer geistigern Sphäre an. Die Schönheit eines Dinges wahrzunehmen ist der vornehmste Punkt, zu dem wir gelangen können. Selbst ein Farbensinn ist in der Entwickelung des Individuums wichtiger als der Sinn für Recht und Unrecht.“ (S. .) | [] Also: die Lehre der „Aestheten“ behauptet mit den Parnassiern, daß das Kunstwerk Selbstzweck ist, mit den Diabolikern, daß es nicht sittlich zu sein braucht, ja besser unsittlich ist, mit den Decadenten, daß es Natürlichkeit und Wahrheit vermeiden und ihnen gerade entgegengesetzt sein soll, und mit allen diesen ichsüchtigen Entartungs-Schulen, daß die Kunst höher steht als jede andere menschliche Verrichtung. Hier ist der Ort, das Unsinnige dieser Aufstellungen nachzuweisen. Natürlich wird es nur in gedrängtester Kürze geschehen können. Denn, wollte man das Verhältniß des Schönen zum Sittlichen und Naturwahren, den Zweckbegriff im Kunstschönen und den Rang der Kunst in den Geistesverrichtungen ausführlich behandeln, so müßte man einfach die ganze Wissenschaft der Aesthetik vortragen, deren einigermaßen erschöpfende Lehrbücher immer mehrere Bände stark sind, und dies kann hier nicht meine Absicht sein. Ich werde also nothgedrungen nur letzte Ergebnisse in eine Reihe von möglichst klaren und einleuchtenden Sätzen zusammenfassen, die der aufmerksame Leser in eigenem Nachdenken unschwer wird entwickeln können. Die Kunstbonzen, welche den Selbstzweck des Kunstwerks verkünden, sehen hochnäsig auf alle Leugner ihres Dogmas hinab und behaupten, daß die Ketzer, die dem Kunstwerk einen Zweck irgendwelcher Art zuschreiben, nur hartfellige Philister sein können, die lediglich für Pökelfleisch mit dicken Erbsen Verständniß

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haben, oder Börsenjobber, die immer blos nach dem Profitchen fragen, oder augenverdrehende Pfaffen, die berufsmäßig Tugend heucheln. Sie glauben sich dabei auf Männer wie Kant, Lessing u. s. w. stützen zu können, die ebenfalls der Ansicht waren, das Kunstwerk habe nur eine einzige Aufgabe, die, schön zu sein. Die großen Namen dieser Gewährsmänner brauchen uns nicht einzuschüchtern. Ihre Ansicht widersteht der Kritik nicht, die seit hundert Jahren von einer großen Anzahl Philosophen (ich nenne nur Fichte, Hegel und Vischer) an ihr | geübt [] wurde, und wie unzulänglich sie übrigens ist, geht z. B. schon daraus hervor, daß sie für das Häßliche als Gegenstand künstlerischer Darstellung überhaupt keinen Platz hat. Vergegenwärtigen wir uns, wie das Kunstwerk und die Kunst überhaupt entsteht. Daß die bildende Kunst ursprünglich aus der Nachahmung der Natur hervorgehe, ist ein Gemeinplatz, dem man mit Recht vorwirft, daß er die Frage nicht tief genug faßt. Nachahmung ist allerdings eine der ersten und allgemeinsten Gegenwirkungen des entwickelten Lebewesens auf die Eindrücke, die es von der Außenwelt erhält. Dies ist eine nothwendige Folge des Mechanismus der höhern Thätigkeit des Nervensystems. Jeder zusammengesetzten Bewegung muß die Vorstellung dieser Bewegung vorangehen und umgekehrt kann eine Vorstellung von Bewegung nicht ausgearbeitet werden, ohne daß die entsprechende Bewegung von den Muskeln wenigstens leise und andeutungsweise ausgeführt wird. Darauf beruht ja u. A. das bekannte „Gedankenlesen“. So oft also ein Wesen, dessen Nervensystem hoch genug entwickelt ist, um Wahrnehmungen zu Vorstellungen steigern zu können, von irgend einer Erscheinung, die gröbere Bewegung in sich schließt (Molekularbewegungen oder gar Aetherschwingungen werden nicht unmittelbar als Aenderung von Lagen im Raume erkannt), Kenntniß gewinnt, das heißt, sich eine Vorstellung macht, hat es auch die Neigung, die Vorstellung in ähnliche Bewegung zu verwandeln, also die Erscheinung nachzuahmen, natürlich sie in der Form nachzuahmen, die es mit seinen Mitteln verwirklichen kann. Wenn nicht jede Vorstellung sich zu wahrnehmbarer Bewegung verkörpert, so ist dies auf die Wirkung von Hemmungsvorrichtungen im Gehirn zurückzuführen, die nicht gestatten, daß jede Vorstellung ohne Weiteres die Muskeln in Thätigkeit setze. Im Zustande der Ermüdung lockert sich die Hemmung und es kommen in der That allerlei unbeabsichtigte Nachahmungen zum Vorschein, wie z. B. die sym-|metrischen Bewegungen, die darin [] bestehen, daß beispielsweise die linke Hand unwillkürlich und zwecklos SchreibeBewegungen der rechten mitmacht u. s. w. Es gibt auch eine seltsame, bisher hauptsächlich in Rußland und namentlich Sibirien beobachtete Nervenkrankheit, dort „Myriachit“ genannt, in der die Hemmung ganz in Unordnung geräth, so

 S. A. Tokarskis Aufsatz über „Myriachit“ in der November-Nummer  des Neurologischen  Central-Blattes. Tokarski belehrt uns dort auch, daß man eigentlich nicht „Myriachit“, sondern „Meriatschenja“ schreiben sollte.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

daß die Kranken jede Handlung, die sie sehen, sofort nachahmen müssen, auch wenn sie ihnen unangenehm oder schädlich ist. Wenn Jemand z. B. vor ihren Augen fällt, so müssen sie sich sofort ebenfalls zu Boden werfen, selbst wenn sie eben mitten im Straßenkoth stehen. Außerhalb des Zustandes der Krankheit und Ermüdung wird die Hemmung nur aufgehoben, wenn die Erregung, in die das Nervensystem durch einen Eindruck versetzt wird, stark genug ist, um sie zu überwinden. Ist dieser Eindruck ein unangenehmer oder gefahrdrohender, so sind die Bewegungen, die er auslöst, solche der Abwehr oder Flucht. Ist er dagegen ein angenehmer oder zwar überraschender, doch nicht beunruhigender, so ist die Gegenwirkung des Organismus auf ihn Bewegung ohne objektiven Zweck, meistens nachahmende Bewegung. Diese tritt also beim gesunden Menschen mit gut arbeitenden Hemmungsvorrichtungen im Nervensystem nicht auf jede Erscheinung ein, sondern nur auf solche, die ihm stark auffallen, seine Aufmerksamkeit fesseln, ihn beschäftigen und erregen, kurz, ihm eine Emotion verursachen. Die Nachahmungsthätigkeit — und die bildenden Künste sind in letzter Linie nichts Anderes als die zurückgelassenen Spuren nachahmender Bewegungen — hat somit einen unmittelbaren organischen Zweck: den, [] das Nervensystem von einer Erregung zu befreien, in die es durch einen | Anblick versetzt wurde. Rührt die Erregung nicht vom Anblick einer äußern Erscheinung, sondern von einem innern, organischen Zustande (sexueller Erethismus) oder von einer Vorstellung abgezogener Natur (Siegesfreude, Trauer, Sehnsucht) her, so setzt sie sich zwar ebenfalls in Bewegungen um, doch sind diese natürlich nicht nachahmende, da sie keine Bewegungs-Vorstellung verwirklichen, sondern theils solche, die blos den Zweck haben, die mit Bewegungs-Antrieb vollgeladenen Nervenzentren zu entspannen, wie Tanz, Geschrei, Gesang und Musik, theils solche, welche die gedankenbildenden Zentren entladen, wie getragene Rede, lyrische und epische Dichtung. Wird die Kunstthätigkeit öfter geübt und durch Gewohnheit erleichtert, so bedarf es gar nicht mehr außerordentlich starker Emotionen, um sie anzuregen. So oft der Mensch dann durch solche äußere oder innere Eindrücke erregt wird, die kein Handeln (Kampf, Flucht, Anpassung) erfordern, sondern ihm als Stimmung zum Bewußtsein kommen, entlastet er sein Nervensystem von dieser Erregung durch Kunstthätigkeit irgend welcher Art, entweder durch die bildenden Künste oder durch Musik und Dichtkunst. Nachahmung ist also nicht die Ursache der Künste, sondern eines der Mittel der Kunst; ihre wirkliche Ursache aber ist die Emotion. Die Kunstthätigkeit ist nicht Selbstzweck, sondern sie hat einen unmittelbaren Nutzen für den Künstler; sie befriedigt das Bedürfniß seines Organismus, seine Emotionen in Bewegung umzusetzen. Er schafft das Kunstwerk nicht um des Kunstwerkes willen, sondern um sein Nervensystem von einer Spannung zu befreien. Der zum Gemeinplatz gewordene Ausdruck ist psycho-physiologisch vollkommen zutreffend: der Künstler schreibt, malt, singt oder tanzt sich eine ihn belastende Vorstellung oder Empfindung von der Seele.

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Zu diesem ersten Zwecke des Kunstwerks, dem subjektiven Zwecke der Selbst befreiung des Künstlers, tritt ein zweiter, objektiver: der Zweck, auf Andere zu

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wirken. In Folge seines | Gattungstriebes hat der Mensch (wie jedes andere in [] Gesellschaft lebende und auf sie theilweise angewiesene Thier) das Bestreben, seine eigenen Emotionen den Artgenossen mitzutheilen, wie er auch selbst die Emotionen der Artgenossen mitempfindet. Dieser Drang, sich in emotioneller Gemeinschaft mit der Gattung zu wissen, ist die Sympathie, diese organische Grundlage des Gesellschaftsbaues. In der vorgeschrittenen Gesittung, in welcher die ursprünglichen natürlichen Beweggründe der Handlungen theils verdunkelt, theils durch künstliche ersetzt werden und die Handlungen selbst einen andern als ihren eigentlichen theoretischen Zweck erhalten, ist es dem Künstler allerdings nicht mehr blos darum zu thun, seine Emotionen mit den Anderen zu theilen, sondern er schafft sein Kunstwerk mit der Nebenabsicht, berühmt zu werden, ein Wunsch, der noch immer aus gesellschaftfreundlichen Trieben hervorgeht, da er auf den Beifall der Artgenossen gerichtet ist, oder sogar nur, Geld zu verdienen, was nicht mehr ein gesellschaftfreundlicher, sondern ein rein selbstsüchtiger Beweggrund ist. Bei den zahllosen Nachahmern, welche nicht aus ursprünglichem Drange die Kunst üben, weil sie ihnen die natürliche und nothwendige Ausdrucksweise ihrer Emotionen ist, sondern die künstlerisch thätig sind, weil sie neidischen Auges die Erfolge sehen, welche Andere mit der Kunst erringen, wirkt überhaupt nur noch dieser gemein selbstsüchtige Beweggrund. Sobald feststeht, daß die Kunst nicht um ihrer selbst willen geübt wird, sondern einen doppelten, subjektiven und objektiven, Zweck hat, den der Befriedigung eines organischen Bedürfnisses des Künstlers und den der Wirkung auf die Artgenossen, finden auch auf sie die Grundsätze Anwendung, nach welchen jede andere denselben Zweck verfolgende menschliche Thätigkeit be-|urtheilt wird, nämlich [] die Grundsätze der Sittlichkeit und des Gesetzes. Wir prüfen jeden organischen Drang darauf, ob er einem rechtmäßigen Bedürfnisse entspringt oder die Folge einer Verirrung ist, ob seine Befriedigung dem Organismus nutzt oder schadet; wir unterscheiden den gesunden vom krankhaften Trieb und fordern die Bekämpfung des krankhaften. Sucht der Drang seine Befriedigung in einer Thätigkeit, die auf Andere wirkt, so untersuchen wir, ob diese mit dem Bestand und Gedeihen der Gesellschaft vereinbar ist oder sie gefährdet. Die Thätigkeit, welche die Gesellschaft schädigt, verstößt gegen Brauch und Gesetz, die nichts Anderes sind als die Zusammenfassung der jeweiligen Anschauungen der Gesellschaft über das, was ihr nützt oder schadet. Die Begriffe gesund und krank, sittlich und unsittlich, gesellschaftlich oder gesellschaftfeindlich, gelten somit für die Kunst wie für jede andere menschliche

 Edmund R. Clay, L’Alternative. Contribution à la psychologie. Traduit de l’anglais par A. Burdeau. Paris, . S. : „Die Sympathie ist eine Emotion, die in uns durch das erregt wird, was uns die Emotion oder Empfindung unseres Nächsten zu sein scheint.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Thätigkeit und es läßt sich nicht der Schimmer eines vernünftigen Grundes anführen, weshalb wir ein Kunstwerk anders ansehen sollen wie jede andere Kundgebung einer Individualität. Es ist sehr wohl denkbar, daß die Emotion, welcher der Künstler in seinem Werke Ausdruck gibt, aus einer krankhaften Verirrung hervorgeht, daß sie naturwidrig, wollüstig, grausam, auf Häßliches oder Ekelhaftes gerichtet ist; sollen wir dieses Werk nicht verurtheilen und, wenn uns dies möglich ist, unterdrücken? Wie will man seine Berechtigung vertheidigen? Etwa damit, daß der Künstler aufrichtig war, als er es schuf, daß er das wiedergab, was wirklich in ihm lebte, und daß er deshalb die subjektive Berechtigung hatte, sich künstlerisch auszuleben? Es gibt eben Aufrichtigkeiten, die gänzlich unzulässig sind. Der Trunk- oder Zerstörungssüchtige ist auch aufrichtig, wenn er säuft oder Alles zerbricht, was in seinem [] Handbereiche liegt. Wir gestehen ihm aber nicht das Recht zu, seinen Drang | zu befriedigen. Wir verhindern ihn gewaltsam daran. Wir entmündigen ihn, obschon er mit seinem Trinken und Verwüsten vielleicht nur sich selbst und sonst Niemand schädigt. Und noch viel entschiedener widersetzt sich die Gesellschaft der Befriedigung jener Begierden, die nicht ohne gewaltsame Einwirkung auf Andere gestillt werden können. Die neue Wissenschaft der Kriminal-Anthropologie gibt ohne Weiteres zu, daß die Lustmörder, gewisse Brandstifter, viele Diebe und Landstreicher unter einem Zwangsantriebe handeln; daß sie mit ihrem Verbrechen einen organischen Drang befriedigen; daß sie schänden, tödten, zünden, stehlen, faulenzen, wie ein Anderer sich zum Mittagstische setzt, einfach weil sie Hunger danach haben; aber sie fordert trotzdem, gerade deshalb, daß diesen Entarteten die Stillung ihrer sehr aufrichtigen Begierden mit allen Mitteln verwehrt werde, nöthigenfalls durch ihre vollständige Unterdrückung. Es fällt uns nicht ein, dem Verbrecher aus organischer Anlage zu gestatten, daß er seine Individualität in Verbrechen „auslebe“; und ebenso wenig kann uns zugemuthet werden, dem entarteten Künstler zu gestatten, daß er seine Individualität in unsittlichen Kunstwerken auslebe. Der Künstler, der das Verwerfliche, das Lasterhafte, das Verbrecherische mit Behagen darstellt, es billigt, es vielleicht gar verherrlicht, unterscheidet sich nicht im Wesen, sondern nur im Stärkegrade vom Verbrecher, der es thatsächlich verübt. Es ist eine Frage der Dringlichkeit des Zwangsantriebes und der Widerstandskraft des Urtheils, vielleicht auch des Muthes und der Feigheit; nichts Anderes. Wenn das positive Gesetz den Verbrecher im Geiste nicht ebenso streng behandelt wie den Verbrecher in Handlungen, so ist dies darum, weil das Strafrecht die That, nicht die Absicht, die objektive Erscheinung, nicht ihre subjektiven Wurzeln verfolgt. Das Mittelalter kannte Zufluchtsstätten, wo Verbrecher wegen ihrer Missethaten nicht behelligt werden durften. Das neuere Recht hat diese Einrichtung aufge[] hoben. Soll nun etwa | die Kunst das letzte Asyl sein, wohin Verbrecher sich flüchten, um der Strafe zu entgehen? Sollen sie die Triebe, deren Befriedigung auf der Straße der Schutzmann verhindert, im sogenannten „Tempel“ der Kunst stillen dürfen? Ich sehe nicht, wie man ein solches Vorrecht gesellschaftfeindlichster Natur vertheidigen will.

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Ich bin weit entfernt, die Ansicht Ruskins zu theilen, daß man von einem Kunstwerk nur Sittlichkeit und sonst nichts verlangen dürfe. Die Sittlichkeit allein thut es nicht. Denn sonst wären Traktätlein das schönste Schriftthum und die bekannten, in München fabrikmäßig hergestellten, bunt gestrichenen Kirchenheiligen die vornehmste Bildhauerei. Die Vorzüglichkeit der Form behält in allen Künsten ihre Rechte und sie gibt der Schöpfung in erster Linie ihren Kunstwerth. Das Werk braucht also nicht sittlich zu sein. Es braucht, genauer gesagt, nicht ausdrücklich Tugend und Gottesfurcht zu predigen und zur Erbauung von Betschwestern bestimmt zu sein. Aber zwischen einem Werke ohne Heiligungszweck und einem gewollt unsittlichen Werke ist ein himmelweiter Unterschied. Ein sittlich gleichgiltiges Werk wird nicht alle Geister gleich stark anziehen und gleich tief befriedigen, es wird aber Niemand abstoßen und ärgern. Ein ausgesprochen unsittliches Werk erregt im gesunden Menschen dieselben Empfindungen der Unlust und des Abscheus wie die unsittliche Handlung selbst und die Form des Werkes kann daran nichts ändern. Gewiß, die Sittlichkeit allein macht ein Kunstwerk nicht schön. Aber Schönheit ist ohne Sittlichkeit unmöglich. Und damit kommen wir zu dem zweiten Grunde, mit dem die Aestheten das Recht des Künstlers auf Unsittlichkeit vertheidigen wollen. Das Kunstwerk, sagen sie, hat nur schön zu sein. Die Schönheit liegt in der Form. Der Inhalt ist also gleichgiltig. Er mag Laster und Verbrechen sein. Er kann | die Vorzüge der Form, [] wenn solche vorhanden sind, nicht beeinträchtigen. Solche Sätze kann nur der wagen, der auch nicht eine Ahnung von der PsychoPhysiologie des ästhetischen Gefühls hat. Jeder, der sich nur eine Sekunde lang mit diesem Gegenstande beschäftigt hat, weiß, daß man zwei Arten des Schönen unterscheidet, das Sinnlich-Schöne und das Geistig-Schöne. Als sinnlich-schön empfinden wir die Erscheinungen, deren Wahrnehmung durch die Sinnes-Zentren mit Lustgefühl begleitet ist: eine bestimmte Farbe, etwa reines Roth, oder einen Zusammenklang, ja selbst einen einzelnen Ton mit seinen nicht besonders erfaßten, aber mitklingenden Obertönen. Die Untersuchungen von Helmholtz und Blaserna haben über die Gründe des Lustgefühls bei gewissen Ton-Wahrnehmungen, die von Brücke über den Mechanismus der Lustgefühle bei Gesichts-Eindrücken Licht verbreitet. Es handelt sich um das Erkennen bestimmter einfacher Zahlenverhältnisse in den Schwingungen des Stoffes oder des Aethers durch die Sinnesnerven. Von den Ursachen des Lustgefühls beim Riechen und Tasten wissen wir weniger, doch scheint es sich auch hier um stärkere und schwächere Eindrücke, also gleichfalls um Mengen, das heißt um Zahlen zu handeln. Der letzte Grund von

 Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen. . Aufl. Braunschweig, .   Pietro Blaserna, Die Theorie des Schalls in Beziehung zur Musik. Zehn Vorlesungen. Leipzig, Internationale wissenschaftliche Bibliothek.  E. Brücke, Bruchstücke aus der Theorie der bildenden Künste. Leipzig, Intern. wissensch. Bibl. (Der französischen Ausgabe des Brückeschen Werkes ist auch das einschlägige „L’optique et la peinture“ von Helmholtz beigefügt.)

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

allen diesen Gefühlen ist, daß gewisse Schwingungsformen mit dem Bau der Nerven übereinstimmen, ihnen leicht werden und sie in Ordnung lassen, während [] andere die Lagerung ihrer Bestandtheile stören, so daß | es die Nerven eine, manchmal für ihren Bestand oder doch ihre Thätigkeit gefährliche, Anstrengung kostet, sie wieder in die natürliche Ordnung zu bringen. Jene werden als Lust, diese als Unlust, ja als Schmerz empfunden. Von Sittlichkeit kann beim SinnlichSchönen nicht die Rede sein, da es nur als Wahrnehmung vorhanden, nicht aber zur Vorstellung gesteigert ist. Ueber dem Sinnlich-Schönen steht das Geistig-Schöne, das nicht mehr aus bloßen Wahrnehmungen, sondern aus Vorstellungen, aus Gedanken und Urtheilen und den sie begleitenden, im Unbewußten ausgearbeiteten, Emotionen besteht. Lustgefühle muß auch das Geistig-Schöne erwecken, um eben als schön empfunden zu werden, und mit Lustgefühlen, dies ist oben auseinander gesetzt worden, sind im gesunden, vollentwickelten, auch mit Gesellschaftstrieb (Altruismus) ausgerüsteten Menschen nur solche Vorstellungen verbunden, deren Inhalt ein dem Leben und Gedeihen des Einzelwesens und der Gesellschaft oder Gattung förderlicher ist. Das aber, was Leben und Gedeihen des Individuums und der Art begünstigt, ist gerade das, was wir das Sittliche nennen. Daraus ergibt sich mit eiserner Nothwendigkeit, daß ein Werk, welches keine Lustgefühle erweckt, nicht schön sein kann und daß es keine Lustgefühle erwecken kann, wenn es nicht sittlich ist, und wir kommen zum letzten Schlusse, daß Sittlichkeit und Schönheit in ihrem innersten Wesen identisch sind. Man behauptet nichts Falsches, wenn man sagt, daß die Schönheit zuständliche Sittlichkeit und die Sittlichkeit Schönheit in Thätigkeit ist. Dem widerspricht es nur scheinbar, daß auch das unbestreitbar Häßliche und Schlechte gefallen, also Lustgefühle erwecken kann. Der geistige Vorgang, den die Wahrnehmungen und Vorstellungen anregen, ist in diesem Falle nicht so einfach und unmittelbar wie angesichts des Schönen und Guten. Es müssen dann erst mitunter recht verwickelte Ideen-Assoziationen ausgelöst werden, um schließlich [] doch zu dem einen großen Er-|gebnisse zu führen: der Erweckung von Lustgefühlen. Die bekannte aristotelische Katharsis, Läuterung oder Reinigung, erklärt, wie das Trauerspiel, obschon es den Anblick von Leid und Untergang bietet, zuletzt doch angenehm wirkt. Die Darstellung von verschuldetem Unglück erweckt die Vorstellung der Gerechtigkeit, eine angenehme und sittliche Vorstellung, selbst die von unverschuldetem Mißgeschick noch Mitleid, das an sich ein Schmerzgefühl, aber in seiner Eigenschaft als Gattungstrieb nützlich und darum nicht nur sittlich, sondern in letzter Linie auch angenehm ist. Wenn Valdes in seinem berühmten Bilde der Caridad von Sevilla einen geöffneten Sarg mit der von Würmern wimmelnden Leiche eines Erzbischofs in vollem Ornate zeigt, so ist dieser Anblick an sich zwar unleugbar widerwärtig. Er läßt aber sofort die Emotion erkennen, die der Maler ausdrucken wollte: sein Gefühl der Nichtigkeit aller irdischen Güter und Ehren, der Hinfälligkeit des Menschen gegenüber der Urgewalt der Natur; es ist

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dieselbe Emotion, die unser Holbein in seinem „Todtentanz“, allerdings nicht so tief und leidenschaftlich wie der stark fühlende Spanier, sondern selbstverspottend und bitter verkörpert hat, dieselbe Emotion auch, die, etwas weniger düster und mehr schwermüthig verzichtend, aus Mozarts Requiem herausklingt. In den Gedanken, welcher die Unbedeutendheit des Einzellebens der Größe und Ewigkeit der Natur gegenüberstellt, mischt sich ein Element des Erhabenen, dessen Vorstellung, als auserlesene Thätigkeit der höchsten Hirnzentren, mit Lustgefühlen verbunden ist. In den bildenden Künsten kommt noch ein Umstand in Betracht. Bei den Werken der Bildhauerei und Malerei ist eine weitgehende Scheidung von Form und Inhalt, von Sinnlichem und Sittlichem möglich. Ein Gemälde, eine Gruppe mag den unsittlichsten und verbrecherischsten Vorgang darstellen, die einzelnen Bestandtheile, die Luft, die Farben-Zusammenstimmungen, die Menschengestalten können darum an sich doch | schön sein und der Kenner kann an ihnen Genuß [] haben, ohne bei dem Vorwurfe des Werkes zu verweilen. Die Stiche zu den „General-Pächter-Ausgaben“ des vorigen Jahrhunderts, die marmornen und bronzenen Werke des pornographischen Museums in Neapel sind theilweise widerwärtig unsittlich, weil unzüchtig wider die Natur; sie sind aber an sich vortrefflich gearbeitet und einer Betrachtungsweise zugänglich, die von ihrem Gedanken absieht und nur ihre Formvollendung behält. Hier ist also der Eindruck des Kunstwerks aus Ekel an dem behandelten Stoff und Lust an der Schönheit der einzelnen gemalten, gezeichneten oder geformten Leiber und ihrer Haltungen gemischt, das Lustgefühl mag vorwiegen und das Werk trotz seiner Verworfenheit nicht abstoßend, sondern anziehend wirken. In der Natur ist es nicht anders. Wenn das Schädliche und Furchtbare manchmal als schön empfunden wird, so ist es, weil es gewisse Züge und Bestandtheile enthält, die nicht zwingend auf den furchtbaren oder schädlichen Charakter des Ganzen hinweisen, also für sich ästhetisch wirken können. Die Kreuzotter ist schön um ihres metallischen Schimmers, der Tiger um seiner Stärke und Geschmeidigkeit, die Fingerhut-Blüthe um ihrer anmuthigen Form und reichen Rosafarbe willen. Die Schädlichkeit der Schlange liegt eben nicht in ihren kupferrothen Rückenbändern, die Furchtbarkeit des Raubthieres nicht in seiner eleganten Erscheinung, die Gefährlichkeit der Giftpflanze nicht in der Gestalt und Färbung ihrer Blüthe. Das Sinnlich-Schöne überwiegt in diesen Fällen das Sittlich-Abstoßende, weil es unmittelbarer gegenwärtig ist, und läßt im Gesammt-Eindruck die Lustgefühle vorwalten. Der Anblick von Kraftentwickelung und Entschlossenheit ist ebenfalls um der von ihm erweckten Vorstellungen organischer Tüchtigkeit willen ein schöner. Wird man ihn aber noch als schön empfinden, wenn man etwa sieht, wie ein Meuchelmörder ein heftig widerstehendes Opfer überwältigt, zu Boden wirft und dann | abschlachtet? Gewiß nicht, denn bei diesem Bilde ist es [] nicht mehr möglich, die an sich schöne Kraftentwickelung von ihrem Zwecke zu trennen und ohne Rücksicht auf diesen zu genießen. Ebenso ist in der Dichtung diese Trennung von Form und Inhalt weit weniger möglich als in den bildenden Künsten. Das Wort an sich, durch sein Laut- oder

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Form-Bild, kann kaum sinnlich-schön wirken, selbst wenn es rhythmisch geregelt und durch den Reim zum ausdrucksvollern Doppelklang verstärkt auftritt. Es wirkt fast nur durch seinen Inhalt, durch die Vorstellungen, die es wachruft. Es ist also kaum denkbar, daß man eine dichterische Darstellung verbrecherischer oder lasterhafter Thatsachen hört oder liest, ohne bei jedem Worte die Vorstellung seines Inhalts, nicht die seiner Form, das heißt doch wohl seines Klanges, gegenwärtig zu haben, der Eindruck kann also in diesem Falle gar nicht mehr ein gemischter sein wie beim Anblick der schön gemalten Darstellung eines widerwärtigen Vorganges, sondern nur noch ein ungemischt häßlicher. Die Bilder des Giulio Romano, zu denen Pietro Aretino seine „Sonetti lussuriosi“ schrieb, mögen von Liebhabern der weichlichen Malweise des Raphael-Schülers noch schön gefunden werden; die Sonette sind nur mehr ekelhaft. Wer wird beim Lesen der Schriften des Marquis de Sade, des Andrea de Nercia, des Liseux Lustgefühle empfinden? Nur eine Menschen-Gattung: die der Entarteten mit Verirrung der Triebe. Die Darstellungen des Verbrechens und Lasters in Kunst und Schriftthum haben ihr Publikum. Wir kennen es wohl. Es ist das der Gefängnisse. Die Verbrecher lesen neben öde empfindsamen Büchern nichts so gerne wie Geschichten von Unzucht und Gewaltthat [] und die Zeichnungen und In-|schriften, mit denen sie die Wände ihrer Zellen bedecken, haben meist ihre Verbrechen zum Gegenstande. Aber der gesunde Mensch fühlt sich von Werken dieser Art heftig abgestoßen und es ist ihm unmöglich, von ihnen einen ästhetischen Eindruck zu empfangen, ihre Form möge noch so sehr den bewährtesten Kunstregeln entsprechen. Noch in einem Falle kann selbst das Häßlichste und Lasterhafteste in künstlerischer Darstellung sittlich-schön wirken: wenn es eine sittliche Absicht erkennen läßt, wenn es eine uns sympathische Emotion des Urhebers verräth. Denn was wir, bewußt oder unbewußt, hinter jeder Kunstschöpfung wahrnehmen, das ist das Wesen ihres Schöpfers und die Emotion, aus der sie hervorgegangen ist, und an unserer Schätzung des Werkes hat unsere Sympathie oder Antipathie für die Emotion des Urhebers den stärksten Antheil. Wenn Raffaelli entsetzlich verkommene Absinth-Trinker in schäbigen Kneipen der Pariser Vororte malt, so fühlen wir deutlich sein tiefes Mitleid beim Anblick dieser entwürdigten Menschenwesen und diese Regung empfinden wir als eine sittlich-schöne. Ebenso sind wir über die Sittlichkeit der Emotionen des Künstlers keinen Augenblick im Zweifel, wenn wir die Callotschen Bilder der Kriegsgreuel, die Zurbaranschen blutigen und eiterschwärigen Heiligen, die Höllenbreughelschen Ungestalten sehen oder den Mordauftritt in Dostojewskis „Raskolnikow“ lesen. Jene Emotionen sind schön. Ihre  Henry Joly, Les lectures dans les prisons de la Seine. Lyon, . S. auch Lombroso, L’Uomo delinquente, Turin, , S.  ff. und  ff.  Pitrè, Sui canti popolari italiani in carcere. Florenz, . S. auch das Gruppenbild der drei Räuber von Ravenna, Lombroso, a. a. O. Tafel XV, zu S. .  Raskolnikow. Roman von F. M. Dostojewski. Nach der vierten Auflage des russischen Originals: „Prestuplenie i Nakazanie“ übersetzt von Wilhelm Henckel. Leipzig, . . Band S. —.

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Mitempfindung gibt uns Lustgefühl. Die Unlust über die Widerwärtigkeit des Werkes kann gegen dieses nicht aufkommen. Wenn das Werk aber verräth, daß sein Urheber | gegen das dargestellte Schlechte oder Häßliche gleichgiltig war, ja daß [] er Vorliebe dafür hatte, dann verstärkt sich der Widerwille, den das Werk erregt, um den ganzen Abscheu, den uns die Verirrung der Triebe des Urhebers einflößt, und der Gesammt-Eindruck ist der der schärfsten Unlust. Dies trifft nur bei Jenen nicht zu, welche die Emotionen des Urhebers theilen, also mit ihm vom Ekelhaften, Kranken, Schlechten angezogen und angenehm erregt werden, und das sind eben die Entarteten. Die Aestheten behaupten, die Kunstthätigkeit sei die höchste, deren der Menschengeist fähig ist, und müsse in der Schätzung der Menschen den ersten Platz einnehmen. Womit wollen sie diese Behauptung gerade von ihrem Standpunkte aus begründen? Weshalb soll mir die Thätigkeit eines Burschen, der mit Entzücken die Farben und Düfte eines verwesenden Aases schildert, hochstehen und weshalb soll ich vor einem Maler, der mir die Lotterei einer Dirne zeigt, besondere Achtung haben? Weil ihr Bischen Kunsttechnik schwierig ist? Wenn das entscheidend sein soll, so müßten die Aestheten folgerichtig den Akrobaten höher stellen als den Künstler ihrer Art, denn man lernt die Kunst des Trapez-Virtuosen sehr viel schwerer als das Reimen oder Pinseln, das die „Kunst“ der Aestheten ausmacht. Soll es um der Lustempfindungen willen sein, welche die Künstler geben? Diejenigen, für welche die Aestheten sich begeistern, bereiten vor Allem dem gesunden Menschen kein Vergnügen, sondern Ekel oder Langeweile. Aber gesetzt selbst, man fände bei ihnen Sensationen. Da würde sich zuerst noch fragen, welcher Art diese sind. Nicht jede Sensation, selbst wenn wir sie im Augenblick als angenehm empfinden, flößt uns Achtung vor dem ein, dem wir sie verdanken. Am Kartentisch, in der Kneipe, im Freudenhause verschafft sich eine niedrige Natur Sensationen, mit deren Stärke diejenigen, welche irgend ein Werk der Aestheten bieten mag, nicht entfernt wetteifern können. Aber selbst der wüsteste Schlemmer hat deshalb vor den | Wirthen [] jener Stätten seiner Genüsse keine besondere Hochachtung. Die Wahrheit ist, daß der Anspruch der Aestheten auf den obersten Rang für die Kunst die vollkommenste Widerlegung ihrer übrigen Lehrsätze in sich schließt. Die Gattung schätzt die einzelnen Thätigkeiten nach ihrem Nutzen für die Gesammtheit. Je höher sie sich entwickelt, ein um so richtigeres und tieferes Verständniß erlangt sie für das, was ihr wirklich noth- und wohlthut. Der Krieger, der auf einer niedrigen Gesittungsstufe mit Recht die vornehmste Rolle spielt, weil die Gesellschaft zunächst leben und zu diesem Behufe sich ihrer Feinde erwehren muß, tritt auf einen bescheidenern Platz zurück, sowie die Sitten sanfter werden und die Beziehungen zwischen den Völkern ihre raubthierhafte in eine menschenthümliche Beschaffenheit verwandeln. Ist die Gattung erst zu einer einigermaßen klaren Erfassung ihres Verhältnisses zur Natur gelangt, dann weiß sie, daß Erkenntniß ihre wichtigste Aufgabe ist, und ihre tiefste Verehrung gilt denen, welche die Erkenntniß pflegen und erweitern, also den Denkern und Forschern. Selbst

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im monarchischen Staate, der, seinem eigenen atavistischen Wesen angemessen, die Bedeutung des Kriegers mit urmenschlichem Maße mißt (und man kann bei dem heutigen Zustande Europas, bei der kaum verhaltenen Kriegswuth einer ganzen Reihe von Völkern diesem Atavismus leider die Berechtigung nicht absprechen), ist der Gelehrte, als Professor, Akademiker, Rath, ein Bestandtheil der Regierungsmaschine und die Ehren und Würden fallen ihm weit mehr zu als dem Dichter und Künstler. Für diesen schwärmen die Jugend und die Frauen, das heißt diejenigen Bestandtheile der Gattung, in welchen das Unbewußte das Bewußtsein überwiegt; denn Künstler und Dichter wenden sich zunächst an die Emotion und diese erregten sie im Weibe und Halbwüchsigen leichter als im reifen Manne; ihre [] Vorzüge sind überdies der Menge zugänglicher | als die des Gelehrten, dem fast nur die Besten seiner Zeit folgen können und dessen Bedeutung selbst in unseren Tagen der Vervolksthümlichung der Wissenschaft durch die Zeitungen meist nur von wenigen Eingeweihten ganz gewürdigt wird. Auf den raschen Ruhm des Künstlers hat er, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht zu rechnen. Staat und Gesellschaft suchen ihn aber für den Entgang dieses Preises durch amtliche Formen der Hochschätzung zu entschädigen, mit denen sie ihn umgeben. Freilich, sehr große Künstler und Dichter, die man als bahnbrechend und deren Wirken man als dauernd erkennt, erhalten ebenfalls ihren Antheil an den amtlichen Ehren, über welche das festgeformte Gemeinwesen als solches verfügt, und diese Ausnahme-Menschen empfangen dann einen glänzendern Lohn als irgend ein Forscher und Finder, denn sie besitzen neben den verleihbaren Auszeichnungen, die sie mit diesem theilen, die weite Volksthümlichkeit, auf die dieser meist verzichten muß. Und warum wird der Künstler manchmal auch von den guten und ernsten Geistern neben, ja über den Mann der Wissenschaft gestellt? Weil sie das Schöne mehr schätzen als das Wahre, die Emotion mehr als die Erkenntniß? Nein. Sondern weil sie die richtige Empfindung haben, daß die Kunst ebenfalls eine Quelle der Erkenntniß ist. Sie ist dies auf dreifache Weise. Einmal ist die Emotion, die das Kunstwerk hervorruft, selbst ein Mittel zur Erlangung von Erkenntniß, wie Edmund R. Clay, James Sully und andere Psychologen sehr gut gesehen haben, ohne indeß bei der wichtigen Thatsache zu verweilen. Sie zwingt die höheren Zentren zu Aufmerksamkeit für die Ursachen, welche sie erregen, und führt dadurch nothwendig ein schärferes Beobachten und Erfassen der ganzen Reihe von Erscheinungen herbei, die zur Emotion in Beziehung stehen. Dann gewährt das Kunstwerk einen Einblick in [] die Gesetze, deren Ausdruck | die Erscheinung ist, denn der Künstler sondert bei seinem Schaffen das Wesentliche vom Zufälligen, vernachlässigt dieses, das in der Natur den minder begnadeten Betrachter abzulenken und zu verwirren pflegt, und hebt jenes unwillkürlich hervor, da es hauptsächlich oder allein seine Aufmerksamkeit beschäftigt und von ihm deshalb besonders deutlich wahrgenommen und wiedergegeben wird. Wie der Künstler selbst hinter der Bildung den Gedanken, in der Form deren sinnlich nicht wahrnehmbaren innern Grund und Zusammenhang

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ahnt, so deckt er ihn in seinem Werke dem Betrachter auf. Das ist es, was Hegel meint, wenn er das Schöne „die Gegenwart der Idee in begrenzter Erscheinung“ nennt. Durch sein eigenes tiefes Erfassen des Naturgesetzes fördert der Künstler dessen Verständniß auch bei den übrigen Menschen mächtig. Endlich aber ist die Kunst der einzige, wenn auch noch so schwache und zweifelhafte, Lichtschimmer, der ins Dunkel der Zukunft vorausfällt und uns wenigstens eine traumhafte Vorstellung der Umrisse und Richtung unserer weiteren organischen Entwickelungen gibt. Das ist durchaus keine Mystik, sondern ein sehr klarer und verständlicher Vorgang. Wir haben oben gesehen, daß jeder Anpassung, das heißt jeder Aenderung der Form und | Thätigkeit der Organe, eine Vorstellung dieser Aenderung [] vorangeht. Diese muß zuerst als nothwendig empfunden und gewünscht werden; dann wird von ihr ein Vorstellungsbild in den höheren oder höchsten Nervenzentren ausgearbeitet und zuletzt macht der Organismus Anstrengungen, dieses Vorstellungsbild zu verwirklichen. Dieser Vorgang wiederholt sich in der Gattung ganz in derselben Weise. Irgend ein Zustand stört sie. Sie empfängt Unlustgefühle in ihm. Sie leidet unter ihm. Hieraus ergibt sich ihr Trieb, den Zustand zu ändern. Sie macht sich ein Bild von der Art, der Richtung, dem Umfange dieser Aenderung. Nach dem ältern, mystischen, Sprachgebrauche: sie schafft sich ein Ideal. Das Ideal ist thatsächlich der Bildungsgedanke künftiger organischer Entwickelung zum Zwecke besserer Anpassung. Es entsteht in den vollkommensten Einzelwesen der Gattung früher und deutlicher als in der Durchschnittsmenge und der Künstler wagt mit unsicherer Hand dessen Versinnlichung durch das Kunstwerk, lange ehe es von der Gattung organisch verwirklicht werden kann. So gewährt die Kunst die feinste, höchste, an das Wunder streifende Erkenntniß: die der Zukunft. Nicht so bestimmt natürlich, nicht so unzweideutig wie die Wissenschaft, drückt sie doch auch das geheime Naturgesetz des Seins und Werdens aus. Die Wissenschaft zeigt das Gegenwärtige, Gewisse, die Kunst weissagt, wenn auch stammelnd und dunkel, das Kommende, Mögliche. Jener enthüllt die Natur ihre festen Formen, dieser gestattet sie unter Schauern einen raschen, verwirrenden Blick in die Tiefe, wo das noch Formlose nach Erscheinung ringt. Die Emotion, aus der das ahnende Kunstwerk hervorgeht, ist der zukunftschwangere Werdedrang des lebenskräftigen Organismus. |

 Die Erkenntniß dieser Thatsache ist so alt wie die ästhetische Wissenschaft selbst. Sie ist  u. A. gut ausgedrückt in Dr. Wilh. Alex. Freunds „Blicken ins Culturleben“, Breslau, , S. : „Die Idealisirung besteht … in der Entfernung zufälliger Beigaben, welche den wahren Ausdruck des Wesens stören.“ S. : „Alle“ (hervorragenden Künstler) „erheben das, was sie schauen, zu einem geläuterten, von allem Unwesentlichen, Zufälligen, Störenden gesäuberten Bilde; Allen erwächst aus demselben die dem Geschauten zu Grunde liegende Idee.“ S. : „Er“ (der Künstler) „erfaßt  das Wesen …, von welchem die zufälligen, störenden Beigaben der äußeren Erscheinung wie dürre Blätter abfallen, so daß seinem inneren Auge die Wahrheit lebendig als Idee erscheint.“ U. s. w.  S. die Fußnote zu S. .  Wilhelm Loewenthal läßt aus derselben zukunftahnenden Emotion auch das religiöse Gefühl  und Bedürfniß hervorgehen. Für den Verfasser der „Grundzüge einer Hygiene des Unterrichts“ ist

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Diese ahnende Kunst ist gewiß die höchste Geistesthätigkeit des Menschen. Aber sie ist nicht die Kunst der Aestheten. Sie ist die sittlichste Kunst, denn sie ist die idealste, ein Wort, das nichts Anderes sagen will, als daß sie mit den Vervollkommnungsbahnen der Gattung gleichläuft, ja mit ihnen zusammenfällt. Mit den verschiedensten Methoden sind wir immer wieder zu demselben Ergebnisse gelangt: es ist nicht wahr, daß die Kunst mit Sittlichkeit nichts gemein hat. Das Kunstwerk muß sittlich sein, denn es hat den Zweck, Emotionen auszudrücken und zu erregen, durch diesen Zweck fällt es unter die Zuständigkeit der Kritik, welche alle Emotionen auf ihre Nützlichkeit oder Schädlichkeit für das Einzelwesen oder die Gattung prüft, und es hat, wenn es unsittlich ist, verurtheilt und unterdrückt zu werden wie jede andere zweckwidrige organische Thätigkeit. Das Kunstwerk muß sittlich sein, denn es soll ästhetisch wirken, es kann dies nur, wenn es, wenigstens in letzter Linie, vorwiegend Lustgefühle erweckt, solche verschafft es nur, wenn es Schönheit in sich schließt, Schönheit aber ist im tiefsten Grunde mit Sittlichkeit gleichbedeutend. Das höchste Kunstwerk endlich kann seiner innersten Natur nach gar nicht anders als sittlich sein, denn es ist eine Kundgebung der Lebenskraft und Gesundheit, eine Offenbarung der Entwickelungsfähigkeit der Gattung und die Menschheit bewerthet es nur darum so hoch, weil sie eine Ahnung von diesem Verhalten hat. Was endlich die letzte Lehre der Aestheten betrifft, daß die Kunst Wahrheit [] und Natürlichkeit scheuen müsse, so ist sie ein | bis zum vollständigen Unsinn übertriebener und in sein Gegentheil umgekehrter Gemeinplatz. Volle, sachliche Wahrheit und Natürlichkeit braucht der Kunst nicht erst verwehrt zu werden, sie ist ihr gar nicht möglich. Denn das Kunstwerk versinnlicht Vorstellungen des Künstlers, eine Vorstellung ist aber nie das genaue Abbild einer Erscheinung der Außenwelt; jede Erscheinung erfährt vielmehr, ehe sie in einem menschlichen Bewußtsein zu einer Vorstellung werden kann, zwei sehr wesentliche Veränderungen; eine erste in den leitenden und empfangenden Organen der Sinne, eine zweite in den Zentren, welche die Sinneswahrnehmungen in Vorstellungen umarbeiten. Die Sinnesnerven und Wahrnehmungszentren verändern die Beschaffenheit der äußeren Reize ihrer Eigenart gemäß, sie geben ihnen ihre besondere Färbung, wie verschiedene Blaseinstrumente, von demselben Menschen gespielt, unter demselben Hauche ganz verschiedene Klangfarben liefern. Die vorstellungbildenden Zentren wieder verändern das thatsächliche Verhältniß der Erscheinungen zu einander, indem sie einzelne stärker hervorheben und andere vernachlässigen, die in Wirklichkeit gleichwerthig sind. Das Bewußtsein nimmt nicht von allen den zahllosen Wahrnehmungen Kenntniß, die ununterbrochen im Gehirn erregt werden, sondern []

die Religion die Form, welche das Ideal, das heißt die ahnende Erkenntniß des EntwickelungsZieles, im Bewußtsein des Menschen annimmt. „Der Entwickelungstrieb, die unerläßliche Grundlage alles Lebens und aller Erkenntniß, deckt sich mit dem Religionsbedürfniß“, sagt er in einer leider nur „als Manuskript gedruckten“ Denkschrift, die sehr verdienen würde, der Allgemeinheit zugänglich gemacht zu werden.

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blos von jenen, auf die es aufmerksam ist. Durch die bloße Thatsache der Aufmerksamkeit sondert es aber einzelne Erscheinungen aus und gibt ihnen eine Bedeutung, welche sie in der ewig gleichen Allbewegung nicht haben. Aber wenn das Kunstwerk nie die Wirklichkeit in ihren richtigen Verhältnissen wiedergibt, so kann es andererseits — und das ist ebenfalls ein psychologischer und ästhetischer Gemeinplatz — niemals aus anderen Bestandtheilen aufgebaut sein als solchen, die von der Wirklichkeit geliefert sind. Die Art, wie diese Bestandtheile von der Einbildungskraft des Künstlers gemengt und gefügt sind, läßt eine andere Thatsache erkennen, die ebenso wahr und natürlich ist wie irgend etwas, was wir | als wirklich zu bezeichnen gewohnt sind: nämlich den Charakter, [] die Denkweise und die Emotion des Künstlers. Denn was ist Einbildungskraft? Ein besonderer Fall des allgemeinen psychologischen Gesetzes der Ideen-Assoziation. Beim wissenschaftlichen Beobachten und Urtheilen wird das Spiel der Ideen-Assoziation von der Aufmerksamkeit aufs Strengste überwacht, der Wille hemmt kräftig die Ausbreitung der Reize die bequemsten Bahnen entlang und verhindert das Eindringen von bloßen Aehnlichkeiten, Gegensätzen und Nachbarschaften in Raum oder Zeit in das Bewußtsein, das den Bildern der von den Sinnen gegebenen unmittelbaren Wirklichkeit vorbehalten bleibt. Beim künstlerischen Schaffen waltet die Einbildungskraft, das heißt die vom Willen geübte Hemmung ist lockerer; es wird einer Vorstellung gestattet, nach den Gesetzen der Ideen-Assoziation ähnliche, entgegengesetzte, räumlich oder zeitlich benachbarte Vorstellungen ins Bewußtsein zu rufen, nur ist die Hemmung nicht ganz aufgehoben und der Wille gestattet nicht die Vereinigung einander ausschließender Vorstellungen zu einem Begriffe, also eine absurde Geistesarbeit, wie sie die rein mechanische IdeenAssoziation, die Gedanken-Flucht, liefert. In der Art, wie sich die von der IdeenAssoziation herangeholten Vorstellungen zu Begriffen fügen, offenbart sich die den Künstler beherrschende Emotion. Denn diese bewirkt, daß die mit ihr zusammenstimmenden Vorstellungen zurückbehalten, die gleichgiltigen oder widersprechenden unterdrückt werden. Selbst so ausschweifende Phantasiegebilde wie ein geflügeltes Roß oder ein Weib mit Löwenpranken enthüllt eine wahre Gefühlsbewegung, jenes eine Sehnsucht, die aus dem Anblick des leicht und frei dahinschwebenden Vogels erwächst, dieses ein Grauen vor der den Verstand überwältigenden, zerfleischende Leidenschaft heraufbeschwörenden Gewalt der Geschlechtlichkeit. Für Kleinarbeiter der Psychologie wäre es eine dankbare Aufgabe, den Emotionen nachzugehen, aus denen die bekannteren Phantasie- | gebilde der Kunst und die [] Gleichnisse der Dichter hervorgegangen sind. Man kann also sagen, daß jedes Kunstwerk insofern immer Wahrheit und Wirklichkeit in sich schließt, als es, wenn nicht die Außenwelt, doch sicher das Geistesleben des Künstlers abspiegelt. Von den Sophismen der Aestheten hält also, wie wir gesehen haben, keins der Kritik Stand. Das Kunstwerk ist sich nicht Selbstzweck, sondern es hat eine individuell organische und eine gesellschaftliche Aufgabe; es steht unter dem Sittengesetze; es muß diesem gehorchen; es hat auf Schätzung nur Anspruch, wenn es

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sittlich schön und ideal ist; und es kann gar nicht anders als natürlich und wahr sein, insofern es mindestens der Abdruck einer Persönlichkeit ist, die doch auch zur Natur und Wirklichkeit gehört. Das ganze System, das einige irrige oder unvorsichtige Aeußerungen achtunggebietender Denker und Dichter zum Ausgangspunkt nimmt, aber von den Parnassiern und Decadenten in einer Weise ausgestaltet wurde, von der Lessing, Kant und Schiller sich nichts haben träumen lassen, ist nichts Anderes als der bekannte Versuch, Zwangsantriebe durch nachträglich hinzuerfundene mehr oder minder einleuchtende Gründe zu erklären und zu rechtfertigen. Die Entarteten, welche in Folge ihrer organischen Verirrungen das Widerwärtige und Häßliche, das Laster und Verbrechen zum Inhalte von Werken der bildenden Künste und des Schriftthums machen, verfallen naturgemäß auf die Theorie, daß die Kunst nichts mit Sittlichkeit, Wahrheit und Schönheit gemein habe, denn diese Theorie hat für sie den Werth einer Ausrede. Und muß die übermäßige Bewerthung der Kunstthätigkeit an sich, ohne Rücksicht auf den Gehalt ihrer Ergebnisse, dem unübersehbaren Troß der Nachahmer nicht hochwillkommen sein, die nicht aus innerm Drange Künste üben, sondern aus dummdreistem Verlangen nach der Verehrung, die wirkliche Künstler umgibt; die nichts Eigenes [] zu sagen haben, keine Emotion, keinen Gedanken, son-|dern mit leicht zu erlernender oberflächlicher Handwerksübung die Anschauungen und Gefühle der Meister in allen Kunstformen nachfälschen? Dieses Gelichter, das für sich eine oberste Stelle auf der Stufenleiter geistigen Ranges und Freiheit vom Zwang aller Sittengesetze als sein Hochadelsvorrecht beansprucht, steht sicherlich tiefer als der letzte Kanalräumer. Diese Leute bringen dem Gemeinwesen gar keinen Nutzen und sie schaden der wahren Kunst durch ihre Hervorbringungen, deren Menge und Vordringlichkeit den meisten Menschen den Ausblick auf die nie sehr zahlreichen echten Kunstwerke der Zeit verbaut. Sie sind Schwächlinge des Willens, die zu einer Thätigkeit untauglich sind, welche regelmäßige, gleiche Anstrengungen erfordert, oder Opfer der Eitelkeit, die berühmter sein wollen, als man etwa durch Steineklopfen oder Schneidern werden kann. Die Unsicherheit des Verständnisses und Geschmackes der Mehrheit und die Unzuständigkeit der meisten Berufskritiker gestatten diesen Eindringlingen, sich in den Künsten einzunisten und ihr Leben lang da zu schmarotzen. Einen guten Stiefel von einem schlechten unterscheidet der Käufer bald und der Schustergeselle, der keine Sohle ordentlich festnähen kann, findet keine Stelle. Daß aber ein Buch oder Gemälde jeder Eigenart bar, gleichgiltig und darum überflüssig ist, erkennt der Philister, auch der mit der kritischen Feder bewaffnete, keineswegs ebenso leicht und der Erzeuger solchen Häcksels kann ungestört seiner emsigen Tagedieberei obliegen. Diese in Baretten und Wämsern einherstolzirenden Sudler mit der Feder, dem Pinsel und Modellir-Spatel schwören natürlich auf die Lehre der Aestheten, geberden sich als das Salz der Menschheit und tragen die tiefste Verachtung des Philisters zur Schau. Sie gehören aber zu den gesellschaftfeindlichsten Bestandtheilen der Gattung. Ohne Sinn für deren Aufgaben und Interessen, ohne die Fähigkeit, einen ernsten Gedanken, eine

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fruchtbare That zu begreifen, träumen sie nur die Befriedigung ihrer niedrigsten Triebe und schaden | sowohl durch das Beispiel ihres Drohnendaseins als auch [] durch die Verwirrung, die sie in ungenügend gewarnten Geistern durch ihren Miß brauch des Wortes Kunst für Zuchtlosigkeit und Kinderei anrichten. Die ichsüchtigen Entarteten, die Decadenten und Aestheten, haben diesen Auswurf der gesitteten Völker vollzählig unter ihrer Fahne versammelt und ziehen an seiner Spitze einher.

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IV. Der Ibsenismus.

In den beiden letzten Jahrhunderten hat die ganze gesittete Menschheit wiederholt mehr oder minder einmüthig einem Zeitgenossen eine Art geistigen Königthums zuerkannt und als dem Ersten und Größten unter den lebenden Schriftstellern gehuldigt. Während eines großen Theils des achtzehnten Jahrhunderts war Voltaire, „le Roi Voltaire“) der „Poet Laureate“ aller Kulturvölker. Im ersten Drittel des gegenwärtigen Jahrhunderts nahm Goethe diese Stelle ein. Nach seinem Tode blieb der Thron etwa zwei Jahrzehnte lang erledigt, dann bestieg ihn unter begeistertem Zurufe der romanischen und slavischen und schwachem Widerspruche der germanischen Völker Victor Hugo, um ihn bis an sein Lebensende einzunehmen. Seit einigen Jahren nun erheben sich in allen Ländern Stimmen, um für Henrik Ibsen die erhabenste Geisteswürde zu fordern, welche die Menschheit überhaupt zu vergeben hat. Der norwegische Dramatiker soll auf seine alten Tage als der Weltdichter des ausgehenden Jahrhunderts anerkannt werden. Es ist zwar nur ein Theil der Menge und der kritischen Anwälte ihres Geschmacks, der ihm zujubelt, aber daß überhaupt irgend Jemand auf den Einfall kommen konnte, in ihm einen möglichen Anwärter auf den Dichterkönigsthron zu sehen, macht eine eingehende Prüfung seiner Ansprüche nöthig. [] Daß Ibsen ein drangvoller und starker Dichter ist, soll | keinen Augenblick geleugnet werden. Er ist außerordentlich emotiv und hat die Gabe, das, was seine Gefühle erregt, — wir werden sehen, daß diese Gefühle fast immer solche des Hasses und der Wuth, also Unlustgefühle sind, — höchst leibhaftig und wirksam darzustellen. Seine Fähigkeit, Lagen zu ersinnen, in welchen Charaktere ihr Innerstes nach außen kehren müssen, abgezogene Gedanken sich in Handlungen umsetzen und sinnlich sonst nicht wahrnehmbare, ursächlich wirkende Anschauungen und Gefühlsweisen in Stellungen und Bewegungen, in Mienen und Worten packend sicht- und hörbar werden, weist ihn naturgemäß auf die Bühne hin. Wie Richard Wagner weiß er Vorgänge in lebendige Fresken zusammenzufassen, die den Reiz bedeutungsvoller Gemälde besitzen; mit dem Unterschiede jedoch, daß Ibsen nicht wie jener mit fremdartigen Trachten und Geräthen, mit baukünstlerischem Prunk, Maschinenzauber, Göttern und Fabelthieren arbeitet, sondern mit tiefen Ausblicken in Seelen-Hintergründe und Menschheit-Zustände. Märchenhaft ist Ibsen auch; nur läßt er die Einbildungskraft der Zuschauer nicht in bloßen Anblicken schwelgen, sondern zwingt sie in Stimmungen und bannt sie in Vorstellungskreise durch die Bilder, die er vor ihnen entrollt. Sein Drang, den ihn beschäftigenden Gedanken in einem einzigen Gemälde zu versinnlichen, das man mit einem Blicke soll übersehen können, gibt ihm auch die Formel seines Theaters ein, die zwar von ihm nicht erfunden, aber zu großer Vollkommenheit ausgestaltet wurde. Seine Stücke sind gleichsam Schlußworte, welche lange voraufgegangene Entwickelungen beenden. Sie sind das plötzliche Aufflammen von Zündstoffen, die seit Jahren, vielleicht während ganzer Men-



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schenleben und sogar mehrere Geschlechter hindurch, aufgehäuft wurden und deren jähe Glut eine weite Ausdehnung von Zeit und Raum scharf erhellt. Die Vorgänge des Ibsenschen Theaters laufen meist in einem einzigen Tage, höchstens in zweimal  Stunden ab | und in diese kurze Spanne Zeit drängen sich alle [] Wirkungen des Weltenganges und der gesellschaftlichen Einrichtungen auf gegebene Naturen so übersichtlich zusammen, daß uns die Schicksale der handelnden Personen von ihren frühesten Anfängen klar werden. „Nora“, „Gespenster“, „Rosmersholm“, „Stützen der Gesellschaft“, „Hedda Gabler“ dauern ungefähr , „Ein Volksfeind“, „Die Wildente“, „Die Frau vom Meer“ gegen  Stunden. Das ist die Rückkehr zum aristotelischen Lehrsatze der Einheiten von Zeit und Raum mit einer Rechtgläubigkeit, gegen die gehalten die französischen Klassiker des Zeitalters Ludwigs XIV. Ketzer sind. Ich möchte die Ibsensche Technik eine Feuerwerks-Technik nennen, denn sie besteht darin, daß von langer Hand ein Schaugerüst vorbereitet wird, an dem die Sonnen, römischen Kerzen, Schwärmer, Leuchtkugeln und Schluß-Feuergarben sorgsam an der richtigen Stelle angebracht sind; wenn dann Alles fertig ist, geht der Vorhang in die Höhe und das kunstvoll aufgebaute Werk prasselt hinter einander, ohne Unterbrechung, Knall auf Knall mit Donner und Blitz ab. Diese Technik ist gewiß sehr wirksam, aber schwerlich wahr. In der Wirklichkeit laufen die Ereignisse kaum jemals zu einer so glänzenden und knapp gefaßten Katastrophe in einander. In der Natur wird Alles langsam vorbereitet und wickelt sich Alles langsam ab und die Ergebnisse jahrelang dauernder menschlicher Handlungen drängen sich nicht in ein paar Stunden zusammen. Die Natur arbeitet nicht epigrammatisch. Sie kann sich nicht um aristotelische Einheiten kümmern, denn sie hat immer gleichzeitig endlos viele Geschäfte im Gange. Vom Standpunkt des Handwerks muß man freilich oft die Geschicklichkeit bewundern, mit der Ibsen seine Fäden führt und knotet. Manchmal gelingt die Arbeit besser, manchmal weniger, einen großen Aufwand an Weberkunst bedeutet sie immer. Wer aber in einer Dichtung hauptsächlich die Wahrheit, das heißt das natürliche Walten der Lebensgesetze, schätzt, der wird von Ibsens | Dramen oft genug den Ein- [] druck des Unwahrscheinlichen, mühselig und spitzfindig Ausgeklügelten mitnehmen. Sehr viel höher als seine vielgerühmte Gewandtheit der perspektivischen Verkürzung in der Zeit, die man als dichterisches Seitenstück des schwierigen, doch meist unfruchtbaren malerischen Kunststückleins der Verkürzung im Raum ansehen kann, steht wohl die Kraft, mit der Ibsen in wenigen raschen Strichen eine Lage, eine Gemüthsbewegung, eine dämmerige Seelentiefe hinzeichnet. Jedes der knappen Worte, die ihm genügen, hat etwas von einem Guckloch an sich, durch das man Ausblicke in endlose Fernen gewinnt. Das Theater aller Völker und Zeiten hat wenig so vollendet einfache und so unwiderstehlich ergreifende Stellen wie, um nur einige anzuführen, die Auftritte, wo Nora mit ihren Kindern spielt, wo  „Nora. (Die Kinder sprechen während des Folgenden durcheinander mit ihr.) Ja, und ihr habt euch gut amüsirt? Das ist ja prächtig. Ja so; du hast Emmy und Bob auf dem Schlitten gefahren? Beide zugleich! Herrje! Ja, du bist ein wackrer Bursch, Erwin. Ach, geben Sie sie mir ein wenig, Marianne. Mein süßes, herziges Püppchen! (Nimmt das Kleinste der Kinderfrau ab und tanzt mit

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Dr. Rank erzählt, daß er von | seiner unerbittlichen Krankheit zu nahem Tode verurtheilt sei, wo Frau Alving mit Entsetzen im einzigen Sohne den ver-|worfenen Vater wiederfindet, wo die Haushälterin Frau Helseth Rosmer und Rebekka vereint sterben sieht u. s. w. demselben.) Ja ja, Mama wird mit Bob auch tanzen. Wie, mit Schneebällen habt ihr euch geworfen? Ah, da hätt’ ich dabei sein müssen! Nein, lassen Sie, Marianne; ich will sie selbst ausziehen. Nein nein, lassen Sies mich thun; das ist so amüsant … So? Also ein großer Hund war da, der hinter euch her lief? Aber er biß doch nicht? Nein, artige Kinder beißen die Hunde nicht. Nicht in die Packete gucken, Erwin! Was das ist? Ja, das solltet ihr nur wissen. Ach nein, nein; das ist nicht schön. So? Spielen sollen wir? Was sollen wir denn spielen? Versteckens? Ja, spielen wir Versteckens. Bob soll sich zuerst verstecken. Ich solls? Ja, ich will mich zuerst verstecken“ u. s. w. (Nora, S. .) Ich bemerke hier ein für allemale, daß ich die Stücke Ibsens nach der deutschen Ausgabe anführe, die in Reclams Universal-Bibliothek erschienen ist. Zwar ist die Uebersetzung in dieser Ausgabe manchmal bedauerlich schwach, doch halte ich mich in meinen Hinweisen an sie, weil sie dem Leser am leichtesten zugänglich ist.  „Rank. (Im Zimmer von Nora und Helmer. Er hat an dem Tag ein Anzeichen an sich entdeckt, welches er als untrüglichen Vorboten des nahen Todes kennt.) Ach ja, diese lieben bekannten Räume. Es ist so still und traulich hier bei euch beiden. Helmer. Es schien dir dort oben doch auch recht gut zu gefallen. Rank. Ausgezeichnet. Weshalb soll man in dieser Welt nicht alles mitnehmen? Jedenfalls so viel und so lange als man kann. Der Wein war vorzüglich — Helmer. Namentlich der Champagner. Rank. Hast du das auch bemerkt? Es ist unglaublich, wie viel ich hinunter spülen konnte … Weshalb soll man sich nach einem wohlangewendeten Tage nicht einen lustigen Abend machen? Helmer. Wohlangewendet? Dessen kann ich mich leider nicht rühmen. Rank (ihm auf die Schulter klopfend). Aber ich, siehst du. Nora. Dann haben Sie heute gewiß eine wissenschaftliche Untersuchung vorgenommen, Doctor. Rank. Ganz recht … Nora. Und darf ich Ihnen zu dem Ergebniß gratuliren? Rank. Freilich dürfen Sie das. Nora. Also ein gutes Resultat? Rank. Das bestmögliche, sowohl für den Arzt wie für den Patienten, nämlich — Gewißheit. Nora (hastig und forschend). Gewißheit? Rank. Volle Gewißheit. Soll ich mir daraufhin nicht einen lustigen Abend machen? Nora. Ja, daran thaten Sie recht, Doctor … Sie sind gewiß ein großer Freund von Maskenbällen. Rank. Wenn recht viele interessante Masken da sind, gewiß — … Helmer … Was willst du (auf der nächsten Maskerade) selbst darstellen? Rank. Damit bin ich schon vollständig im Klaren. Helmer. Nun? Rank. Auf der nächsten Maskerade werde ich unsichtbar erscheinen. Helmer. Ein drolliger Einfall. Rank. Es war einmal ein großer schwarzer Hut — hast du nicht von dem unsichtbar machenden Hut gehört? Den zieht man sich über und dann wird man von Niemand gesehen … Aber ich vergesse ja ganz, weshalb ich hereinkam. Helmer, gib mir eine Zigarre, eine von den dunkeln Havanas … Danke. (Er steckt sich die Zigarre an.) Und nun leben Sie wohl! … Und Dank für das Feuer. (Er nickt Beiden zu und geht.)“ (Nora, S. .)  Frau Alving spricht mit Pastor Manders und erzählt ihm eben, wie sie eines Tages eine Szene im Nebenzimmer belauschte, die ihr bewies, daß ihr verstorbener Gatte sie mit ihrem Dienstmädchen betrog. Im Nebenzimmer sind ihr Sohn und Regine, die Frucht des Verhältnisses ihres Gatten mit der Zofe. Dies zum Verständniß des Folgenden. „(Aus dem Speisezimmer hört man den Lärm eines fallenden Stuhls; zu gleicher Zeit ertönt:) Regines Stimme (scharf, aber flüsternd). Oswald, aber Oswald! Bist du närrisch? Laß mich! Frau Alving (fährt entsetzt zusammen). Ah! (Sie starrt wie im Wahnsinn auf die halb geöffnete Thür. Man hört Oswald husten und ein Lied summen. Eine Flasche wird entkorkt.) Pastor Manders (erregt). Aber was ist denn das? Was ist das, Frau Alving? Frau Alving (heiser). Gespenster! Das Paar aus dem Blumenzimmer — geht wieder um …“ (Gespenster, S. .)  „Frau Helseth (hat Rosmer und Rebekka vergebens im Hause gesucht. Ans Fenster gehend und hinausblickend). Jesus ja! Da das weiße! Sie stehen meiner Treu beide auf dem Steg! Gott sei den

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Ebenso muß anerkannt werden, daß Ibsen einzelne Gestalten von einer Lebenswahrheit und Vollständigkeit geschaffen hat, wie man sie bei keinem zweiten Dichter seit Shakespeare antrifft. Gina (in der „Wildente“) ist eine der tiefsinnigsten Schöpfungen der ganzen Weltdichtung. Sie ist beinahe so groß wie Sancho Panza, von dem sie eingegeben ist. Ibsen hat den Muth gehabt, Sancho ins Weibliche zu übersetzen, und er kommt bei seinem Wagniß dem unerreichten Cervantes nahe. Wenn Gina nicht ganz so überwältigend ist wie Sancho, so liegt dies daran, daß ihr die Gegensätzlichkeit zu Don Quijote fehlt; ihr Don Quijote, Hjalmar, ist kein echter, überzeugter Idealist, | sondern blos ein elender, sich selbst belügender [] Komödiant des Ideals. Immerhin ist seit dem großen spanischen Meister keinem Dichter eine solche Verkörperung des flachen, fröhlichen, gesunden Menschenverstandes, der praktischen Weltgewandtheit ohne Sorge um das Ewige und der braven Erfüllung aller naheliegenden und leichtfaßlichen Pflichten ohne Ahnung höherer sittlicher Anforderungen gelungen wie diese Gina, etwa in dem Auftritte, wo Hjalmar heimkehrt, nachdem er über Nacht ausgeblieben war. Auch Hjalmar ist eine vollendete Schöpfung, bei welcher Ibsen kein einzigesmal der so dringenden Versuchung, zu übertreiben, erlegen ist, sondern in jedem Worte die „Beschränkung“, in der sich nach Goethes Worte „der Meister zeigt“, entzückend geübt hat. Die kleine Hedwig (immer in der „Wildente“), die Tante Juliane Tesman (in „Rosmersholm“), vielleicht auch der kindlich selbstsüchtige Brustkranke | Lyngstrand (in der „Frau vom Meere“) stehen jenen Figuren nicht nach. Doch ist [] zu bemerken, daß, mit Ausnahme von Gina, Hjalmar und Hedwig, die lebenswahren und künstlerisch erfreulichen Personen in Ibsens Dramen nie die Hauptrolle spielen, sondern sich in untergeordneten Aufgaben um die Mittelpunkt-Gestalten bewegen. Diese aber sind keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Schemen, armen Sündern gnädig! Schlingen sie nicht die Arme umeinander! (Laut aufschreiend.) Ach — hinüber — die beiden! In den Bach hinein. Hilfe! Hilfe! (Hält sich mit zitternden Knien an eine Stuhllehne, mühsam sprechend.) Nein. Keine Hilfe hier. — Die verstorbene Frau hat sie geholt.“ (Rosmersholm, S. .) Der letzte Satz ist unglücklich. Er zerstört durch seine Banalität die Stimmung.  Hjalmar ist über Nacht ausgeblieben, weil er erfahren hat, daß seine Frau vor ihrer Verheiratung mit ihm ein Verhältniß mit einem Andern gehabt hat. Am Morgen kommt er wüst und bekatert heim. Er ist hochtrabend und melodramatisch, sie ruhig und praktisch. „Gina. Ach wirklich — kommst du doch? Hjalmar (mit dumpfer Stimme). Ich komme — um in demselben Moment zu verschwinden. Gina. Ja, ja; kann mir schon denken. Aber Jesus — wie siehst du denn aus? Hjalmar. Wie ich aussehe? Gina. Und dein schöner Winterrock! Na, der hat den Rest bekommen … Es bleibt also dabei, du ziehst von uns, Ekdal? Hjalmar. Das versteht sich doch von selbst, scheint mir. Gina. Ja wohl … (Stellt ein besetztes Kaffeebrett auf den Tisch.) Hier ist ein Tropfen Warmes, wenn du Lust haben solltest. Und hier sind Butterbrode und etwas Pökelfleisch. Hjalmar (das Brett verstohlen anblickend). Pökelfleisch? Keinen Bissen mehr unter diesem Dach. Freilich habe ich in bald  Stunden keine kompakten Nahrungsmittel genossen. Doch das kann mir gleich sein … Ich muß hinaus in den Sturm und das Schneegestöber von Haus zu Haus gehen und Obdach suchen für Vater und mich. Gina. Aber du hast ja keinen Hut, Ekdal. Du hast ja deinen Hut verloren“ u. s. w. (Die Wildente, S.  ff.)

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

wie ein krankhaft erregtes Gehirn sie heraufbeschwört. Sie sind Versuche der Verkörperung Ibsenscher Lehrsätze, Homunculi, die nicht durch natürliche Zeugung, sondern durch die schwarze Kunst des Dichters entstanden sind. Das muß selbst einer seiner tobendsten Lobpreiser, der französische Professor Auguste Ehrhard, wenn auch widerwillig und mit Vorbehalten, einräumen. Gewiß gibt sich Ibsen große Mühe, seinen sprechenden Puppen, welche seine Anschauungen vortragen sollen, einen Anschein von Leben anzuschminken. Er hängt ihnen allerlei kleine Eigenthümlichkeiten an, die ihnen eine individuelle Physiognomie geben sollen. Aber dieses beständig wiederholte schwachköpfige „Wie?“ Tesmans (in „Hedda Gabler“), dieses „Donnerwetter!“ und Backwerk-Naschen von „Nora“, dieses „Rau[] chen aus der großen Meerschaumpfeife“ | und Sekt-Trinken Oswald Alvings (in „Gespenster“) täuscht den aufmerksamen Betrachter nicht darüber, daß sie Automaten sind. Trotz der Kunstgriffe des Dichters sieht man hinter der aufgepinselten Lebensfarbe die Gelenk-Scharniere und hört man hinter den Tönen des in ihrem Innern verborgenen Phonographen das Knarren und Rasseln des Mechanismus. Ich habe der hohen dichterischen Begabung Ibsens gerecht zu werden gesucht und werde dies im Laufe dieser Untersuchung noch einigemale thun können. Ist es aber diese Begabung allein oder hauptsächlich, welche ihm seine Bewunderer in allen Ländern geworben hat? Schätzt sein Gefolge von Pfeifern und Dudelsackbläsern ihn um seiner schlicht emotionellen Auftritte und um seiner lebensechten Nebenfiguren willen? Nein. Sie finden ganz Anderes an ihm zu rühmen. Sie entdecken in seinen Stücken Weltbilder von größter Wahrheit, die glücklichste dichterische Anwendung wissenschaftlicher Methoden, Klarheit und Schärfe der Gedanken, umwälzungslustigen Freiheitsdrang und zukunftschwangere Modernität. Wir wollen nun diese Behauptungen der Reihe nach prüfen und zusehen, ob sie sich auf Ibsens Werke stützen können oder blos willkürliche, unerweisliche Redensarten ästhetischer Schwätzer sind. Ibsen soll also vor Allem musterhaft wahr sein. Er ist ja für den „Realismus“ vorbildlich geworden. Thatsache ist aber, daß seit Alexander Dumas dem ältern,

 Auguste Ehrhard, Professeur à la Faculté des Lettres de Clermont-Ferrand, Henrik Ibsen et le théâtre contemporain. Paris, . S. : „Man kann im Allgemeinen Ibsens Personen in zwei Kategorien theilen … Die einen sind meist Sprachrohre, welche die Theorien vertheidigen, die dem Dichter theuer sind … Sie haben ihren ersten Ursprung im Gehirn des Dichters … Er ist es, der ihnen das Leben gibt.“  „Schon so früh am Tage! Wie?“ … „Nun, du bist doch gut von der Landungsbrücke nach Hause gekommen? Wie?“ „Komm, laß mich die Schleife aufmachen. Wie?“ U. s. w. (Hedda Gabler, S. , .)  „Nora. Ja nun bin ich wirklich ganz außerordentlich glücklich. Nun gibts nur noch eins in der Welt, was ich ganz besonders gern möchte. Rank. Nun? Und das ist? Nora. Etwas, das ich so sehr gern sagen möchte — aber so, daß Robert es hörte. Rank. Warum sagen Sies denn nicht? Nora. Weil ich nicht darf; denn es klingt so häßlich … Rank. Ja, dann ists nicht rathsam. Aber zu uns können sie ja doch — Wohlan, was ists, das Sie in Helmers Gegenwart gern — Nora. Ich möchte mal so recht von Herzen rufen: Himmeldonnerwetter!“ (Nora, S. .)

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 dem Verfasser der „Musketiere“ und des „Montechristo“, vermuthlich kein Dichter

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so viel verblüffende Unwahrscheinlichkeiten in seinen Werken aufgehäuft hat wie Ibsen. (Ich sage Unwahrscheinlichkeiten, weil ich nicht wage, Unmöglichkeiten zu sagen; denn | möglich ist schließlich als unerhörte Handlung irgend eines Wahn- [] sinnigen oder als außerordentliche Wirkung eines einzig dastehenden Zufalls Alles.) Ist es denkbar, daß (in „Gespenster“) der Tischler Engstrand, wenn er eine Matrosenkneipe mit weiblicher Bedienung einrichten will, gerade seine Tochter auffordern wird, als Odaliske in seine „Anstalt“ einzutreten; diese Tochter, die ihn daran erinnert, daß sie „bei der Kammerherrin Alving aufgewachsen ist“, daß sie „hier beinahe wie das Kind vom Hause gehalten worden ist“? (S. .) Nicht etwa, als ob ich Engstrand sittliche Bedenken zutraute. Aber ein Mann dieses Schlages weiß, daß ein Frauenzimmer für sein Haus nicht genügt, und da er doch auch noch andere werben muß, so wird er sich gewiß nicht zuerst an seine Tochter wenden, die in einem reichen Hause inmitten höherer Lebensgewohnheiten aufgewachsen ist und sehr gut begreift, daß sie nicht nöthig hat, gleich Matrosendirne zu werden, wenn sie einen zuchtlosen Lebenswandel führen will. Ist es denkbar, daß Pastor Manders („Gespenster“), ein akademisch gebildeter Seelsorger im heutigen Norwegen, das blühende Versicherungs-Gesellschaften, Banken, Eisenbahnen, große Zeitungen u. s. w. hat, Frau Alving abräth, ihr Asyl gegen Feuersgefahr zu versichern? „Ich für meine eigene Person würde natürlich nicht das Geringste darin finden“, sagt er; „… ich denke in erster Reihe an Männer, die so weit in unabhängiger und einflußreicher Stellung sind, daß man nicht gut unterlassen kann, ihrer Meinung ein gewisses Gewicht beizulegen; … man könnte wirklich leicht dahin kommen, es so aufzufassen, als wenn weder Sie, verehrte Frau, noch ich das rechte Vertrauen auf eine Vorsehung hätten.“ (S. .) Will Ibsen wirklich Jemand glauben machen, daß es in Norwegen Personen gibt, die gegen Feuerversicherung religiöse Bedenken hegen? Er ist auf diesen unsinnigen Zug blos verfallen, weil er das Asyl abbrennen und endgiltig zerstört sein lassen will; zu diesem Behufe durfte | Frau [] Alving kein Geld haben, es wieder aufbauen zu lassen, das Gebäude durfte nicht versichert sein und das Unterlassen der Versicherung glaubte Ibsen begründen zu müssen. Ein Dichter, der eine Feuersbrunst als Symbol und gleichsam als handelnde Person in sein Werk einführt — denn sie hat die dramatische Aufgabe, die Lüge von der Wohlthätigkeit des verstorbenen Sünders Alving zu vernichten —, sollte auch den Muth haben, das Unterbleiben einer Feuerversicherung, und wenn es noch so auffallend ist, unerklärt zu lassen. Oswald Alving erzählt („Gespenster“ S. .) seiner Mutter, ein Pariser Arzt, von dem er sich untersuchen gelassen, habe ihm gesagt, er habe „eine Art Weichheit im Gehirn.“ Ich frage alle Aerzte beider Welten, ob sie jemals einem Kranken ins Gesicht gesagt haben: „Sie sind gehirnerweicht.“ Den Angehörigen sagt man es vielleicht, dem Kranken nie. Vor Allem schon darum nicht, weil er, wenn die Diagnose richtig ist, die Bemerkung doch nicht verstehen würde und sicher nicht mehr allein zum Arzte kommen könnte. Auch aus einem andern Grund ist das Wort unmöglich. Die Krankheit, um die es

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

sich bei Oswald allenfalls handeln kann, ist nämlich keine Erweichung, sondern eine Verhärtung, eine Verhornung des Gehirns, eine Sklerose. In „Nora“ sagt Helmer, ein zwar als etwas sinnlich geschilderter Mensch, doch eine prosaische, hausbackene, praktische Durchschnitts-Natur, zu seiner Nora: „Ist das meine Lerche, die da draußen zwitschert? … Ists das Eichkätzchen, das da rumort? … Hat mein lockerer Zeisig wieder Geld verschwendet? … Nun, nun, meine Lerche muß nicht gleich die Flügel hängen lassen … Wie nennt man die Vögel, die immer Alles verschwenden? … Meine Lerche ist ein allerliebstes Geschöpfchen; aber sie braucht einen sehr großen Haufen Geld … Und ich möchte dich nicht anders wünschen als just wie du bist, meine holde kleine Lerche …“ So soll ein Gatte, der Bankdirektor und Rechtsanwalt ist, nach achtjähriger Ehe zu seiner [] Frau, | der Mutter seiner drei Kinder sprechen, und nicht etwa in einem Augenblicke verliebten Ueberschwanges, sondern am gewöhnlichen, helllichten Werktag, in einem endlosen Auftritte, (S. —.) der uns eine Vorstellung vom Tone geben soll, welcher für gewöhnlich in diesem „Puppenheim“ herrscht! Ich würde gern wissen, was meine seit mindestens acht Jahren verheirateten Leser und Leserinen von dieser Probe Ibsenschen „Realismus“ denken! In „Stützen der Gesellschaft“ sprechen alle handelnden Personen von der „Gesellschaft.“ „Du sollst gehen und die Gesellschaft stützen, Schwager“, sagt Frl. Hessel „ernst und mit Nachdruck.“ (S. .) „Wird dieser Schlag gegen mich geführt, so vernichtet ihr mich ganz und gar; und nicht blos mich, — nein, auch die große segensreiche Zukunft einer Gesellschaft, welcher ihr durch eure Geburt doch angehört“, äußert sich Bernick. (S. .) Und etwas später: (S. .) „Seht, das hab’ ich gewagt zum Besten der Gesellschaft! … Und ist es nicht die Gesellschaft selbst, die uns zwingt, Schleichwege zu gehen?“ Die Leute, die das sagen, sind ein Großkaufmann und Konsul, eine Lehrerin, die jahrelang in Amerika gelebt hat und einen weiten Gesichtskreis besitzt. Kann das Wort „Gesellschaft“, so gebraucht, im Munde gebildeter Menschen einen andern Sinn haben als den von „Gesellschaftsbau“? Nun denn: die Personen im Stücke sollen sich, wie immer wieder ausdrücklich wiederholt wird, des Wortes „Gesellschaft“ zur Bezeichnung der wohlhabenden Klasse eines kleinen norwegischen Strandortes, das heißt einer Sippe von sechs bis acht Familien bedienen! Ibsen macht den Leser seines Stückes glauben, daß von den Stützen des Gesellschaftsbaues die Rede sein werde, und man ist verblüfft, nur von den Stützen der winzigen Philister-Coterie eines nordischen Schöppenstädt zu erfahren. [] Im Dock des Consuls Bernick liegt das amerikanische | Schiff „die Gazelle“ zur Ausbesserung. Sein Boden ist ganz verfault. Es geht sicher unter, wenn es in See geschickt wird. Bernick fordert aber, daß man es in zwei Tagen auslaufen lasse. Sein Werkführer Auler erklärt dies für eine Unmöglichkeit. Bernick droht jedoch, Auler zu entlassen, und nun fügt sich der Arbeiter und verspricht: „Die Gazelle wird übermorgen segelfertig sein.“ Bernick weiß, daß er die achtzehn Menschen, welche die „Gazelle“ bemannen, in den sichern Tod schickt. Und weshalb begeht

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er diesen Massenmord? Er gibt dafür (S. .) folgende Erklärungen: „Ich habe  meine guten Gründe, die Sache zu beschleunigen. Haben Sie die Morgenzeitung

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gelesen? … Nun so wissen Sie, daß die Amerikaner wieder tolle Streiche gemacht. Dieses ruchlose Gesindel stellt die ganze Stadt auf den Kopf; keine Nacht vergeht, ohne daß in den Wirthshäusern und auf der Straße Schlägereien stattfinden, — von allen anderen Nichtswürdigkeiten gar nicht zu reden … Und wen macht man für dieses Unwesen verantwortlich? Mich! Ja mich läßt mans entgelten. Diese Zeitungsschreiber schimpfen mich in verblümter Weise aus … Ich, der die Aufgabe hat, durch die Macht des Beispiels auf meine Mitbürger zu wirken, muß mir dergleichen ins Gesicht schleudern lassen. Das duld’ ich nicht. Damit ist mir nicht gedient, daß solcherart mein Name beschmutzt wird … Gegenwärtig nicht; grade jetzt bedarf ich all der Achtung und des Wohlwollens, das meine Mitbürger mir schenken können. Ich habe ein großes Unternehmen vor, wie Sie wohl gehört haben werden; und gelingt es böswilligen Menschen, das unbedingte Vertrauen zu meiner Person zu erschüttern, so können mir daraus die größten Schwierigkeiten erwachsen. Deshalb will ich mich um jeden Preis diesen boshaften, verleumderischen Zeitungsschreibern entziehen und darum hab’ ich die Frist auf übermorgen festgesetzt.“ Diese windige Begründung eines kaltblütig geplanten achtzehnfachen Mordes ist so aberwitzig, daß | selbst Ehrhard, der an Ibsen doch Alles bewundert, [] sie nicht zu vertheidigen wagt und kleinlaut bemerkt: „Man muß sagen, daß der Verfasser nicht sehr gut erklärt, weshalb die Rücksicht auf seinen Ruf das Auslaufen des Schiffes erfordert.“ An der Spitze einer Abordnung, welche Bernick für die Gründung einer Eisenbahn danken will, richtet Hilfsprediger Rohrland an Bernick eine Ansprache, in der Stellen wie diese vorkommen: (S.  ff.) „Schon oft durften wir Ihnen unsern Dank darbringen für die breite moralische Grundlage, auf welcher Sie so zu sagen unsre Gesellschaft aufgebaut haben … Heute huldigen wir dem … Mitbürger, der die Initiative ergriffen zu einem Unternehmen, das nach der einhelligen Ansicht aller Sachkundigen dem irdischen Wohlergehn und Gedeihen unsrer Gesellschaft einen mächtigen Aufschwung geben wird … Sie sind in eminentem Sinne der Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Und gerade dieser Glanz der Uneigennützigkeit, der auf Ihrem ganzen Wandel ruht, ist es, der so unendlich wohlthuend wirkt, besonders in diesen Zeiten. Sie stehen jetzt im Begriffe, uns eine — ich trage kein Bedenken, das prosaische Wort ohne Umschweif auszusprechen — uns eine Eisenbahn zu verschaffen … Ein bescheidenes Zeichen der Anerkennung seitens Ihrer dankbaren Mitbürger dürfen Sie doch nicht zurückweisen, — am wenigsten in diesem bedeutsamen Moment, wo wir nach der Versicherung praktischer Männer vor dem Beginn einer neuen Zeit stehen.“ Ich habe diesen unerhörten Galimathias durch keine Bemerkung, durch kein Ausrufungszeichen unterbrochen. Er soll durch sich allein auf den Leser wirken. Wenn die Faselei in einer parodistischen

 Auguste Ehrhard, a. a. O. S. .

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Posse vorkäme, so wäre sie blos nicht lustig genug, doch sonst allenfalls annehmbar. Sie soll aber „realistisch“ sein! Wir sollen Ibsen glauben, daß Hilfsprediger [] Rohrland in nüchternem Zustande so ge-|sprochen hat! Eine beleidigendere Zumuthung hat schwerlich jemals ein Schriftsteller an seine Leser gestellt. Im „Volksfeind“ ist von einer nicht recht verständlichen Badeanstalt die Rede, die zugleich Trinkquelle, Heilbad und Seebad ist. Der Badearzt Dr. Stockmann hat entdeckt, daß die Heilquelle Typhusgift führt, und verlangt, daß sie höher in den Bergen gefaßt werde, an einer Stelle, wo sie nicht von menschlichen Abfallsstoffen verunreinigt wird. Er weist mit größtem Nachdruck darauf hin, daß andernfalls unter den Badegästen eine tödtliche Seuche ausbrechen werde. Und darauf soll der Bürgermeister erwidern: (S. .) „Die eingerichtete Art der Wasserversorgung ist nun einmal eine Thatsache und muß selbstverständlich als solche behandelt werden. Aber wahrscheinlich wird die Direktion seiner Zeit nicht abgeneigt sein, in Erwägung zu ziehn, inwiefern es bei angemessenen pekuniären Opfern möglich sein dürfte, gewisse Verbesserungen einzuführen.“ Es handelt sich um einen Ort, der, wie Ibsen mit Nachdruck auseinander setzt, seine ganze Zukunft auf die Entwickelung seiner jungen Badeanstalt gestellt hat; der Ort liegt in Norwegen, in einem kleinen Lande, wo alle Leute einander kennen und jeder Krankheits- und Todesfall stark bemerkt wird. Und da wird es der Bürgermeister darauf ankommen lassen, daß eine Anzahl Badegäste in seinem Orte den Typhus bekommen, wenn er rechtzeitig erfährt, daß dies gewiß geschehen werde, sofern die Quell-Leitung nicht verlegt wird? Ohne vom bürgermeisterlichen Geist im Allgemeinen eine übertriebene Meinung zu haben, leugne ich dennoch, daß ein Idiot, wie ihn Ibsen schildert, in Europa an der Spitze irgend einer Stadtverwaltung steht. In „Hedda Gabler“ erwartet Tesman, mit einem Buche über „die Brabanter Hausindustrie im Mittelalter“ (S. .) einen Lehrstuhl an der Hochschule zu erlan[] gen. Er hat aber einen gefährlichen Wettbewerber in Ejlert Lövborg, der ein | Buch geschrieben hat, welches (S. .) „vom Gang der Kultur handelt — im großen ganzen.“ Schon dieses Werk „hat ungeheures Aufsehen“ erregt, (S. .) aber es soll noch weit überboten werden durch die Fortsetzung. Diese (S. .) „handelt von der Zukunft. — Aber, lieber Gott, von der wissen wir ja gar nichts! — Nein. Aber trotzdem läßt sich dies und jenes darüber sagen … Es theilt sich in zwei Abschnitte. Der erste handelt von den Kulturmächten der Zukunft. Und der zweite hier, der handelt vom Kulturgang der Zukunft.“ Daß es sich nicht im Entferntesten um Wissenschaft, sondern um reine Weissagung handelt, wird (S. .) noch ausdrücklich hervorgehoben: „Läßt sich so etwas denn nicht noch einmal schreiben? Zum zweitenmal? — Nein … Denn die Eingebung, weißt du …“ Man kennt ja, wäre es auch nur aus volksthümlichen sittengeschichtlichen Werken wie Webers „Demokritos“, die wunderlichen Fragen, mit denen sich mittelalterliche Kasuisten zu beschäftigen pflegten. Aber daß in unserm Jahrhundert an irgend einer Hochschule beider Welten Jemand mit Arbeiten über Vorwürfe wie die von Tesman und Lövborg gewählten Professor oder selbst nur Privat-Dozent geworden wäre, ist eine Kinderstuben-

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Erfindung, über die Jeder, der den akademischen Kreisen nahesteht, hell auflachen wird. In der „Frau vom Meer“ kommt der geheimnißvolle Schiffer zu seiner ehemali gen Verlobten, die aber seit Jahren mit Dr. Wangel verheiratet ist, und fordert sie auf, mit ihm zu gehen, da sie ja eigentlich ihm gehöre. Der Gatte, Dr. Wangel, steht dabei. Er beweist dem Fremden, daß er Unrecht hat, Ellida entführen zu wollen. Er stellt ihm vor, daß es besser wäre, sich mit seinen Ansprachen an ihn und nicht an seine Frau zu wenden. Er rügt milde, daß er Ellida duzt und beim Vornamen  anspricht, denn „diese Art von Vertraulichkeit ist bei uns nicht gebräuchlich.“ Der Auftritt (S. —.) ist von | unsagbarer Komik und müßte eigentlich ganz ange- [] führt werden. Hier nur die Schlußreden:

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„Der Fremde … Morgen Nacht komme ich also wieder. Und dann werde ich mich hier nach dir umsehen. Du mußt hier im Garten auf mich warten. Denn weißt du, ich möchte die Sache am liebsten mit dir allein abmachen. Ellida (leise und zitternd). O hörst du es, Wangel! Wangel. Sei nur ruhig. Den Besuch werden wir schon zu verhindern wissen. Der Fremde. Leb wohl indessen, Ellida. Morgen Nacht also. Ellida (flehentlich). O nein, nein — kommen Sie nicht morgen Nacht! Kommen Sie nie wieder! Der Fremde. Und wenn du bis dahin gesonnen bist, mit mir übers Meer zu gehen, — Ellida. O blicken Sie mich nicht so an! Der Fremde. Ich meine nur. dann mußt du reisefertig sein. Wangel. Geh hinauf ins Haus, Ellida.“ U. s. w.

Wangel ist von Ibsen nicht etwa als entmündigter, gehirnerweichter Greis, sondern  als Mann in den besten Jahren und von voller Zurechnungsfähigkeit geschildert! Alle diese Hirnverbranntheiten werden aber von dem Auftritt in „Rosmersholm“ weit überboten, wo Rebekka dem wackern Rosmer bekennt, daß sie in heißem sinnlichem Begehren nach ihm entbrannt gewesen sei: (S. .)

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„Rosmer. Was kam? Sprich so, daß ich dich verstehen kann. Rebekka. Da kam es über mich — dieses wilde, unbezwingliche Begehren — o Rosmer —! Rosmer. Begehren? Du —! Wonach? Rebekka. Nach dir! Rosmer (will aufspringen). Was heißt das!“ (Trottel!) „Rebekka (ihn niederhaltend). Bleib sitzen, Theurer. Jetzt sollst du weiter hören. Rosmer. Und du willst sagen — daß du mich geliebt hast — auf solche Weise! Rebekka. Ich meinte, dies müsse lieben heißen — damals. Daß es Liebe sei, glaubte ich. Aber das war es nicht. Es war wie ich dir sage. Es war ein wildes, unbezwingliches Begehren … Es | war über mir, wie ein Sturm auf dem Meer. Es war, wie einer jener Stürme, die wir zuweilen da oben im Norden um die Winterszeit haben. Es faßt einen — und trägt einen mit sich, so weit es will. Kein Gedanke an Widerstand.“

Rosmer, der Gegenstand dieser Brunst, ist  Jahre alt (S. .) und ehemaliger Pastor. Das ist zwar etwas drollig, aber nicht undenkbar, denn erotomanisch Gestörte

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

können alles Mögliche lieben, selbst Stiefel. Was aber undenkbar ist, das ist das Verfahren, das die Nymphomanin eingeschlagen haben soll, um ihr „wildes, unbezwingliches Begehren,“ diesen „Sturm auf dem Meere“, der „einen faßt und trägt, so weit er will“, zu befriedigen. Sie ist die Freundin der kränklichen Gattin Rosmers geworden, hat sie achtzehn Monate lang mit dem Hinweis darauf bedrängt, daß Rosmer unglücklich sei, weil sie kein Kind habe, daß er sie, die Nymphomanin, liebe, sich aber bezwinge, so lange seine Gattin lebe, und sie hat sie glücklich durch dieses geduldig und unablässig in ihre Seele geträufelte Gift zum Selbstmord getrieben! Nach anderthalb Jahren! Um ihr „wildes, unbezwingliches Begehren“ zu stillen! Das ist genau, wie wenn ein rasend Hungriger, in der Absicht, seine Gier zu sättigen, einen tiefsinnigen Plan ersänne, um durch Erbschleicherei ein Stück Feld zu ergattern, darauf Weizen zu bauen, diesen in einer Mühle zu Mehl mahlen zu lassen und sich daraus ein prächtiges Brod zu backen, das zu verzehren dann [] o! so wonnig sein wird! Der Leser beurtheile selbst, ob | dies die Art ist, wie Heißhungrige oder Nymphomaninen, über die es „wie ein Sturm auf dem Meere kommt“, vorzugehen pflegen, um ihren Trieb zu befriedigen. So sehen die Vorstellungen aus, die sich dieser „Realist“ von der Weltwirklichkeit macht! Manche seiner kindischen oder aberwitzigen Austiftelungen sind kleine Aeußerlichkeiten und ein wohlwollender Freund mit einiger Lebenserfahrung und etwas gesundem Menschenverstande hätte ihn leicht durch billige Rathschläge davor bewahren können, sich lächerlich zu machen. Andere aber rühren an den innersten Kern seiner Dichtungen und machen diese durch und durch zu einem abgeschmackten Hirngespinnst. In „Stützen der Gesellschaft“ soll Bernick, der Mann, der ruhig den Mord von achtzehn Menschen plant, um seinen Ruf eines leistungsfähigen Dock-Besitzers aufrechtzuerhalten (auf die Absurdität dieses Mittels zur Erreichung eines solchen Zwecks sei nur nebenbei hingewiesen), plötzlich, ohne äußern Zwang, auf bloßes Zureden von Frl. Hessel, seinen Mitbürgern bekennen, daß er ein Schurke und Verbrecher gewesen sei. In „Nora“ soll die Frau, die eben noch so zärtlich mit ihren Kindern gespielt hat, mit einemmale auf und davongehen, ohne diesen Kindern auch nur einen Gedanken zu widmen. In „Rosmersholm“ soll die Nymphomanin Rebekka im steten Umgang mit dem Gegenstand ihrer Flamme keusch und tugendhaft geworden sein u. s. w. Viele seiner Hauptge Dr. R. von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie. Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Stuttgart, : S. die Beobachtung des jungen Aristokraten, den seine „Stiefelgedanken“ erotisch erregten, S. . Ich weise nur auf diesen einen Fall hin, obwohl aus der einschlägigen Literatur leicht Dutzende von Fällen angeführt werden könnten, in welchen Nachthauben, Schuhnägel, weiße Schürzen, der verrunzelte Kopf einer Greisin u. s. w. die Sinnlichkeit aufs Heftigste erregt haben.  Nora, S. : „Helmer. Deine Wohnung, deinen Mann und deine Kinder verlassen! Und bedenkst du nicht, was die Leute dazu sagen werden? Nora. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich weiß nur, daß es für mich nothwendig ist … Helmer … Die Pflichten gegen deine Kinder? Nora. Ich habe andere ebenso heilige Pflichten … Die Pflichten gegen mich selbst“ u. s. w.

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stalten bieten dieses Schauspiel unmöglicher und unbegreiflicher Wandlungen, so daß sie wie Figuren aussehen, die durch einen Fehlgriff des Hand-|werkers aus [] zwei nicht zusammen gehörenden Hälften zusammengeleimt wurden. Nach der Lebenswahrheit Ibsens seine Wissenschaftlichkeit. Diese erinnert an die Gesittung der Liberia-Neger. Die Verfassung und Gesetze dieses westafrikanischen Freistaates lauten ungefähr so wie die der Vereinigten Staaten von Nordamerika und sehen sich geschrieben sehr achtunggebietend an. Wenn man aber in Liberia lebt, so erkennt man bald, daß die schwarzen Republikaner Wilde sind, die von den dem Namen nach bei ihnen bestehenden Staatseinrichtungen, ihrer theoretischen Rechtsordnung u. s. w. keine Ahnung haben. Ibsen gibt sich gern den Anschein, auf dem Boden der Naturforschung zu stehen und ihre letzten Ergebnisse zu verwerthen. Man führt in seinen Schauspielen Darwin an. Er hat offenbar, wenn auch nur mit zerstreuter Hand, in Büchern über Erblichkeit geblättert und sich aus gewissen Gebieten der Heilkunde Etwas erzählen lassen. Aber die dürftigen, drollig mißverstandenen Schlagworte, die in seinem Gedächtnisse haften geblieben sind, verwendet er wie mein als Beispiel angeführter LiberiaNeger die ehrbaren Papierkragen und Zylinderhüte Europas: der Kundige kann nie seinen Ernst bewahren, wenn Ibsen seine naturwissenschaftlichen und ärztlichen Kenntnisse auskramt. Die Erblichkeit ist sein Steckenpferd, das er in jedem seiner Stücke vorreitet. Es gibt keinen Zug an seinen Gestalten, keine Eigenthümlichkeit des Charakters, keine Krankheit, die er nicht auf Vererbung zurückführt. In „Nora“ muß Dr. Rank (S. .) an seinem „armen unschuldigen Rückgrat für seines Vaters lustige Lieutenantstage büßen.“ Helmer setzt Nora auseinander, (S. .) daß „ein Dunstkreis von Lüge Krankheitsstoff in eine ganze Familie bringt. Jeder Athemzug, den die Kinder thun, birgt den Keim zu etwas Bösem … Fast alle früh verdorbenen Menschen haben lügenhafte Mütter gehabt … Am häufigsten kommt es von | der Mutter; [] aber natürlich ist der Vater ebenfalls schuld.“ Und: „Deines Vaters leichtsinnige Grundsätze, du hast sie alle geerbt. Keine Religion, keine Moral, kein Pflichtgefühl.“ (S. .) In den „Gespenstern“ hat Oswald von dem merkwürdigen Pariser Arzte, der ihm sagte, daß er gehirnerweicht sei, erfahren, daß er sein Uebel vom Vater geerbt habe. Regine, die uneheliche Tochter des verstorbenen Alving, artet vollständig ihrer Mutter nach: (S. .) „Regine. Mutter war also auch eine solche — Frau Alving. Deine Mutter hatte viele gute Seiten, Regine. Regine. Ja, aber trotzdem war sie — Zuweilen habe ich mir das wohl gedacht … Ein armes Mädchen muß seine Jugend ausnutzen … Und ich habe auch Lebensfreudigkeit in mir, gnädige Frau. Frau Alving. Ja, leider; aber wirf dich nicht fort, Regine. Regine. Nun, wenns

 Gespenster, S. : „Oswald. Und schließlich sagte er dann: schon seit Ihrer Geburt haben Sie diese wurmstichige Stelle; … ich verstand ihn anfangs nicht und bat ihn um eine nähere  Erklärung. Und da sagte der alte Cyniker: … die Sünden der Väter werden an den Kindern heimgesucht.“ Und S. : „Oswald. Die Krankheit, welche ich als Erbtheil bekommen, die — (zeigt auf die Stirn und fügt ganz leise hinzu) — die sitzt hier.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

geschieht, so hat es wohl geschehen müssen. Artet Oswald seinem Vater nach, so arte ich vermuthlich meiner Mutter nach.“ In „Rosmersholm“ wird Rebekkas Nymphomanie daraus erklärt, (S. —.) daß sie die uneheliche Tochter einer sittlich anfechtbaren Lappin ist. „Ihr Gebahren halte ich für eine Folge Ihrer Herkunft“, sagt ihr der Rektor Kroll. Rosmer lacht niemals, weil das „so in der Familie liegt“. (S. .) Er ist „ein Sprößling der Männer, die hier auf uns herabsehen“. Er „wurzelt tief in seinem Geschlecht“. (S. .) In der „Frau vom Meere“ sagt deren Stieftochter Hilde: (S. .) „Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie uns eines [] schönen Tages verrückt würde … Ihre Mutter wurde ja auch verrückt. | Sie starb im Wahnsinn, das weiß ich.“ In der „Wildente“ hat fast jede Person einen erblichen Hieb. Gregor Werle, der bösartige Narr, der seine Klatschsucht für Wahrheitsdrang hält und ausgibt, hat diese Verdrehtheit von seiner Mutter. Die kleine Hedwig erblindet wie ihr Vater, der alte Werle. Schon in den älteren, philosophischen, Dramen wiederholt sich fortwährend dasselbe Motiv. Brand hat seine Hartnäckigkeit, Peer Gynt seine bewegliche, ausschweifende Einbildungskraft von seiner Mutter. Ibsen hat sichtlich das grundlegende Buch von Lucas über Erblichkeit gelesen und kritiklos daraus geschöpft. Es ist wahr, daß Lucas an die Vererbung selbst so zusammengesetzter, auf bestimmte Vorgänge bezogener Anschauungen und Gefühle glaubt wie z. B. des Abscheus vor Aerzten und daß für ihn die Vererbung [] krankhafter Abweichungen von der Norm, z. B. auch der Erblindung in | einem bestimmten Lebensalter, keinem Zweifel unterliegt. Lucas, dessen Verdienste nicht geleugnet werden sollen, unterschied eben nicht genug zwischen dem, was das Lebewesen bei seiner Entstehung von den Eltern stofflich mitbekommt, und dem, was ihm später durch Familien-Erziehung und Beispiel, durch das Weiterleben in denselben Verhältnissen wie die Eltern u. s. w., beigebracht wird. Ibsen ist der richtige Mann eines einzigen Buches. Er hält sich an seinen Lucas. Wüßte er

 Wildente, S. : „Gregor. Und außerdem — soll ich länger leben, so muß ich suchen Genesung zu finden für mein krankes Gewissen. Werle. Das wird niemals gesund. Dein Gewissen ist von Kindheit an kränklich gewesen; ein Erbtheil von deiner Mutter, Gregor; — das einzige Erbe, das sie dir hinterließ.“ S. : „Relling. Ach zum Teufel, — merkst du denn nicht, daß der Kerl verdreht, verrückt und verstört ist! Gina. Ja, da hörst du es. Seine Mutter hatte auch mitunter solche physische Raptusse.“  Wildente, S. : „Hjalmar … Es liegt die drohende Gefahr nahe, daß sie das Augenlicht verliert. Gregor. Blind wird! Hjalmar … Der Arzt hat uns gewarnt. Es kommt rettungslos. Gregor … Woher hat sie das? Hjalmar (seufzt). Wahrscheinlich erblich.“ S. : „Frau Sörby … Er (Werle) wird blind. Hjalmar (stutzt). Er wird blind? Das ist doch sonderbar. — Er wird auch blind.“  Dr. Prosper Lucas, Traité philosophique et physiologique de l’Hérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux etc. (Hier folgen im Titel noch sieben Zeilen!) Paris, ,  Bände. . Band S. . (Montaigne soll diesen erblichen Abscheu vor Aerzten gehabt haben.)  Lucas, a. a. O. Bd. , S. -: „De l’hérédité des modes sensitifs de la vue.“ S.  erzählt er von einer Familie, in der die Mutter mit  Jahren, ihre Kinder im . und . Jahre erblindet sind, u. s. w.

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etwas mehr von der Erblichkeitsfrage, hätte er Weismann und namentlich Galton gelesen, so wäre ihm bekannt, daß nichts dunkler, nichts scheinbar launenhafter ist als der Gang der Erblichkeit. Denn das Individuum ist das Ergebniß, Galton sagt: das rechnungsmäßige Mittel, von drei verschiedenen Größen, seinem Vater, seiner Mutter und der ganzen Gattung, welche durch die bis in die Uranfänge alles Lebens zurückführende Doppelreihe der väterlichen und mütterlichen Ahnen dargestellt ist. Diese dritte Größe ist das Unbekannte, das X in der Rechenaufgabe. Rückschläge auf entfernte Ahnen können das Individuum seinen Eltern völlig unähnlich machen und die Gattungseinflüsse überwiegen in der Regel die der unmittelbaren Erzeuger so sehr, daß Kinder, die, namentlich in den verwickeltsten Aeußerungen der Persönlichkeit, im Charakter, in den Fähigkeiten und Neigungen, ein genauer Abklatsch des Vaters oder der Mutter sind, zu den größten Seltenheiten gehören. Aber es ist ja Ibsen gar nicht um die ernste wissenschaftliche Begründung seiner Vorstellungen von Erblichkeit zu thun. Wie wir weiterhin sehen werden, haben | diese Vorstellungen ihre Wurzel in seinem Mysticismus; das Werk von [] Lucas war für ihn nur ein glücklicher Fund, dessen er sich hocherfreut bemächtigte, weil er ihm die Möglichkeit bot, seiner mystischen Zwangsvorstellung ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen. Höchst belustigend sind seine Ausflüge in das Gebiet der Heilkunde, die er sich fast in keinem seiner Stücke versagt. In den „Stützen der Gesellschaft“ rühmt Hilfsprediger Rohrland die Damen seines Kreises (S. .) als eine Art „barmherziger Schwestern, die Charpie zupfen“. Charpie zupfen! Im Zeitalter der Anti- und Asepsie! Ibsen soll doch einmal versuchen, mit „gezupfter Charpie“ in irgend einen wundärztlichen Krankensaal zu treten. Er wird sich über den Empfang wundern, den man ihm und seiner Charpie da bereiten wird. Im „Volksfeind“ behauptet Dr. Stockmann, (S. .) daß die „Millionen von Bakterien beim Baden“ außerordentlich schaden. Die Bakterien, um die es sich, wie aus dem ganzen Stücke hervorgeht, allein handeln kann, sind die Eberthschen Typhus-Bazillen. Nun mag es richtig sein, daß man die Biskra-Beule und vielleicht das Beri-Beri durch Baden in verseuchtem Wasser bekommt. Es sollte aber Dr. Stockmann und Ibsen schwer werden, auch nur einen einzigen Fall nachzuweisen, in welchem Jemand durch Baden in bazillenhaltigem Wasser typhuskrank geworden wäre. In „Nora“ soll „das Leben Helmers von der Reise ins Ausland abgehangen haben“. (S. .) Das mag für einen Europäer in den Tropen oder für Jemand, der sich in einer Fiebergegend aufhält, gelten. Eine akute Krankheit in Norwegen aber gibt es nicht, in der „das Leben von der Reise ins Ausland abhängt“. In demselben Stücke sagt Dr. Rank: (S. .) „In diesen Tagen hab’ ich eine Generaluntersuchung meines innern Status vorgenommen. Bankrott. Eh’ vier Wochen vergehn, lieg’ ich vielleicht für die Würmer auf dem Kirchhof … Es ist nur | noch eine einzige Untersuchung vorzunehmen; bin []

  August Weismann, Ueber die Vererbung. Jena, .  Fr. Galton, Natural Inheritance. London, .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

ich damit fertig, dann weiß ich so ungefähr, wann die Auflösung beginnt.“ Dr. Rank leidet, nach seiner eigenen Erklärung, an einer Rückenmarks-Krankheit (er spricht allerdings vom „Rückgrat“, aber diese falsche Ausdrucksweise sei ihm nicht zu streng angerechnet); Ibsen denkt offenbar an Rückenmark-Schwindsucht. Nun gibt es in dieser Krankheit schlechterdings kein Anzeichen, das gestatten würde, den Tod wenige Wochen vorher mit Bestimmtheit vorauszusagen, es gibt auch keine „innere Untersuchung“, die der Kranke, wenn er Arzt ist, an sich selbst vornehmen könnte, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, „wann die Auflösung beginnt“, und es gibt keine Form der Rückenmark-Schwindsucht, welche dem Kranken gestatten würde, vier Wochen vor seinem (nicht zufälligen, sondern durch die Krankheit bedingten!) Tode auf einen Ball zu gehen, viel Sekt zu trinken und nachher rührenden Abschied von seinen Freunden zu nehmen. Ebenso kindlich ahnungslos wie das Krankheitsbild Ranks ist das von Oswald Alving in den „Gespenstern“. Nach Allem, was in dem Stücke von dem Uebel gesagt wird, das Oswald von seinem Vater geerbt hat, können nur zwei Diagnosen in Betracht kommen, späte Erb-Lustseuche (Syphilis hereditaria tarda) oder Lähmungswahnsinn (Dementia paralytica). An die erste Krankheit ist nicht zu denken. Denn Oswald wird als ein Bild männlicher Kraft und Gesundheit geschildert: (S. .) „Frau Alving. Ich kenne Einen, der sowohl seinen innern wie seinen äußern Menschen unverderbt bewahrt hat, sehen Sie ihn nur an, Pastor Manders …“ und wenn es auch in ganz ausnahmsweisen, ungeheuer seltenen Fällen vorgekommen sein mag, daß das Uebel bis hoch in die Zwanzig des Befallenen sich nicht offenbart hat, so zeigt dieser doch schon seit der frühesten Kindheit gewisse Entartungs-Erscheinungen, die selbst der blinden Liebe und dem Stolz einer Mutter nicht gestatten, seinen [] „äußern | Menschen“ zu rühmen, wie Frau Alving es thut. Dem Lähmungswahnsinn würden allenfalls einzelne kleine Züge entsprechen, etwa Oswalds sinnliche Erregtheit, die naive Frechheit, mit der er vor seiner Mutter über das Liebeleben seiner Pariser Freunde spricht (S. .) oder seinem Wohlgefallen an der „Herrlichkeit“ von Regine Ausdruck gibt, (S. .) die Leichtigkeit, mit der er beim ersten Anblick dieses Mädchens Heiratspläne schmiedet u. s. w. Aber neben diesen zutreffenden, doch untergeordneten Zügen stechen andere, weit wichtigere, hervor, welche die Diagnose „Lähmungs-Wahnsinn“ unbedingt ausschließen. Von dem im ersten Stadium dieser Krankheit nie fehlenden Größenwahn ist bei Oswald keine Spur, er ist ängstlich und niedergeschlagen, während der General-Paralytiker sich höchst glücklich fühlt und das Leben überaus rosig sieht, und er ahnt und fürchtet den Ausbruch des Wahnsinns, was ich beim Paralytiker weder selbst je beobachtet noch von irgend einem Kliniker verzeichnet gefunden habe. Endlich tritt die Geistesstörung mit einer Plötzlichkeit und Vollkommenheit auf, die man nur bei der

 Dr. R. von Krafft-Ebing, a. a. O. S. . Der Verfasser führt hier alle obigen Züge als bezeichnend für das erste Stadium des Lähmungs-Wahnsinns an: „unzüchtige Reden, Ungenirtheit im Verkehr mit dem andern Geschlecht, Heiratspläne.“

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akuten Manie kennt, allein die Schilderung Oswalds im letzten Auftritte mit seiner Unbeweglichkeit, seiner „dumpfen, tonlosen“ Sprache und seinem irrsinnig vor sich hin gemurmelten, ein halbes Dutzendmal wiederholten „die Sonne — die Sonne“ entspricht nicht im Entferntesten dem Bilde der akuten Manie. Der Dichter braucht natürlich von der Pathologie nichts zu verstehen. Aber wenn er vorgibt, wirkliches Leben zu schildern, so soll er ehrlich sein. Er soll nicht mit Genauigkeit und wissenschaftlicher Beobachtung schwindeln, blos weil diese von der Zeit gefordert oder doch bevorzugt wird. Je unwissender der Dichter | in [] der Pathologie ist, eine umso zuverlässigere Probe auf seine Wahrhaftigkeit stellen seine Krankheitsbilder dar. Da er als Laie sie nicht aus seiner Vorstellung durch Verknüpfung klinischer Erfahrungen und Lese-Erinnerungen schöpfen kann, muß er jeden dargestellten Sonderfall mit eigenen Augen gesehen haben, um ihn richtig vorzutragen. Shakespeare war auch kein Arzt und übrigens: was wußten selbst die Aerzte seiner Zeit! Und doch können wir noch heute unbedenklich den GreisenIrrsinn (dementia senilis) Lears, die Willensschwäche aus Nerven-Erschöpfung (neurasthenische Abulie) Hamlets, die akute Manie von erotischer Färbung Opheliens, die Melancholie mit Gesichts-Halluzinationen der Lady Macbeth diagnostiziren. Warum? Weil Shakespeare wirklich Gesehenes in seine Dichtungen eintrug. Ibsen dagegen hat seine Kranken frei erfunden und daß diese Methode in der Hand des Laien nur lächerliche Ergebnisse liefern kann, bedarf keines Beweises. Seiner Einbildungskraft stellt sich eine rührende oder erschütternde Lage dar — die eines Mannes, der seinen nahen unabwendbaren Tod mit Bestimmtheit voraussieht und sich mit heftiger Selbstbezwingung zur Philosophie des Verzichtens der Stoa emporringt, oder die eines Jünglings, der seine Mutter beschwört, ihn zu tödten, wenn der von ihm mit Grauen erwartete Wahnsinn ausbrechen würde. Die Lage ist sehr unwahrscheinlich. Sie ist vielleicht nie vorgekommen. Jedenfalls hat Ibsen sie nie gesehen. Aber sie wäre dichterisch sehr schön, auf der Bühne sehr wirksam, wenn sie auftreten würde. Er drechselt sich also ruhig die neuen unbekannten Krankheiten eines Rank oder Oswald Alving zurecht, deren Verlauf jene Lagen möglich machen könnte. Das ist das Verfahren des Dichters, an dem seine Bewunderer den Realismus und die genaue Beobachtung rühmen! Seine Geistesklarheit, sein Freiheitsdrang, seine Modernität! Wer Ibsens Werke mit Aufmerksamkeit und unbestochener Urtheilskraft gelesen hat, traut seinen Augen nicht, wenn er diese | Worte auf Ibsen angewendet sieht. Von der Klarheit [] seines Denkens sollen gleich erschöpfende Proben gegeben werden. Seinen Freiheitsdrang wird die Zergliederung als Anarchismus enthüllen und seine Modernität besteht im Wesentlichen darin, daß in seinen Stücken Eisenbahnen gebaut werden („Stützen der Gesellschaft“), von Bazillen geschwatzt wird („Volksfeind“), Banken vorkommen („Nora“), Wahlen und politische Parteikämpfe eine Rolle spielen („Der Bund der Jugend“, „Rosmersholm“), all das äußerlich aufgepinselt, ohne innern Zusammenhang mit den eigentlichen treibenden Kräften der Dichtung. Dieser „moderne“ und „freiheitliche“ Mensch hat von der Presse und ihrer Thätigkeit die

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Vorstellung eines Polizei-Amtsdieners und verfolgt die Tagesschriftsteller mit dem heute drollig anmuthenden Haß eines Demagogen-Riechers der Dreißiger Jahre. Alle Journalisten, die er vorführt — und sie sind in seinen Stücken häufig —, Peter Mortensgaard in „Rosmersholm“, Haustad und Billing im „Volksfeind“, Bahlmann im „Bund der Jugend“, sind entweder versoffene Lumpe, oder arme knieschlotternde Hungerleider, die immer vor Prügeln oder dem Weggejagtwerden zittern, oder gesinnungslose Hallunken, die für den schreiben, der zahlt. Von der sozialen Frage hat er einen so deutlichen Begriff, daß er einen Werkführer unter den Arbeitern wühlen und mit Ausstand drohen läßt, weil auf der Werft Maschinen zur Anwendung kommen sollen! („Stützen der Gesellschaft“, S. .) Dem Volke steht er mit der schönen Verachtung feudaler Großgrundbesitzer gegenüber. Wo er seiner gedenkt, da geschieht es mit beißendem Spott oder hochmüthigster aristokrati[] scher Ueberhebung. Die meisten seiner Anschauungen | gehören überhaupt keiner Zeit an, sondern sind Ausflüsse seiner persönlichen Verschrobenheit, können also weder modern noch unmodern sein; diejenigen aber, die minder verdreht sind und in einer bestimmbaren Zeit wurzeln, stammen ans dem Vorstellungskreise von Krähwinklern des ersten Drittels dieses Jahrhunderts. Die Etikette „modern“ wurde ihm willkürlich von Georg Brandes („Moderne Geister“, Frankfurt, .) angeklebt, einer der widerwärtigsten schriftstellerischen Erscheinungen des Jahrhunderts. Brandes, ein Schmarotzer des Ruhmes oder Rufes Anderer, hat sein Leben lang das Geschäft eines „Orchester-Menschen“ geübt, der, zehn Lärm-Instrumente zugleich mit Kopf, Mund, Händen, Ellbogen, Knien und Füßen bearbeitend, vor Dichtern und Schriftstellern hertanzt und nach dem Getöse beim betäubten Publikum sammeln geht. Er hat sich emsig an Jeden gedrängt, der seit einem Vierteljahrhundert aus irgend einem Grunde Zulauf hatte, und so lange über ihn Rhetor- und Sophisten-Phrasen gemacht, als er für diese Absatz finden konnte. Mit einigen Federn geschmückt, die er aus den stolzen Schwingen des Taineschen Genius gerissen, und mit John Stuart Mill flunkernd, dessen Studie „Ueber Freiheit“ er angeblinzelt, aber schwerlich gelesen und sicher nicht verstanden hat, führte er sich bei der skandinavischen Jugend ein und ihr mit diesen Mitteln erworbenes Vertrauen mißbrauchend, hat er ihre systematische sittliche Vergiftung zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er predigte ihr das Evangelium der Leidenschaft und verwirrte mit wahrhaft teuflischem Eifer und Beharrlichkeit alle ihre Begriffe, indem er dem Verworfenen und Erbärmlichen, das er ihr anpries, die anziehendsten und geachtetsten Namen gab. Man hat immer geglaubt, daß es eine Schwäche und Feigheit ist, seinen niedrigen, vom Urtheil verdammten Trieben nachzugeben, statt sie zu bekämpfen und zu unterdrücken. Wenn Brandes der Jugend, zu der er sprach,

 Rosmersholm, S. : „Rebekka (zu Brendel). Sie sollten sich an Peter Mortensgaard wenden. Brendel. Pardon, Madame, was ist das für ein Idiot?“ S. die schale Parodie des Forum-Auftrittes von Shakespeares „Julius Cäsar“ im „Volksfeind“, . Aufzug, und die Kennzeichnung der „Menge“ in „Brand“, . Aufzug.

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gesagt hätte: „Verzichtet auf euer Urtheil! Opfert eurer Begierde die Pflicht! Laßt euch von euern | Sinnen beherrschen! Euer Wille und Bewußtsein sei wie ein [] Flaum vor dem Sturm eurer Gelüste!“ — so würden die Besseren unter seinen Zuhörern vor ihm ausgespieen haben. Er aber sagte: „Seinen Sinnen gehorchen heißt Charakter haben. Wer sich von seiner Leidenschaft leiten läßt, der ist eine Individualität. Der Willensstarke verachtet Zucht und Pflicht und folgt jeder Laune, jeder Verführung, jeder Regung seines Bauches oder seiner sonstigen Organe“, und so dargestellt, hatte das Gemeine nicht mehr das Abstoßende an sich, das Mißtrauen erweckt und warnt. Unter dem Namen „Freiheit“ und „Selbstbestimmungsrecht“ angemeldet, finden Wüstheit und Liederlichkeit leicht in die besten Kreise Zulaß und die Ruchlosigkeit, von der man sich abwenden würde, wenn sie als solche aufträte, scheint ungenügend belehrten Geistern als „Modernität“ anziehend und begehrenswerth. Es ist verständlich, daß ein Erzieher, der die Schulstube in eine Kneipe und ein Freudenhaus verwandelt, Erfolg und Andrang hat. Er läuft freilich Gefahr, daß ihn die Eltern todtschlagen, wenn sie dahinter kommen, was er seinen Schülern beibringt, aber die Zöglinge werden sich schwerlich beklagen und bei den Stunden eines so angenehmen Lehrers höchst eifrig sein. Mit ähnlicher Methode waltete Brandes seines Lehreramtes und das erklärt, daß er auf die Jugend seines Landes einen Einfluß gewinnen konnte, den ihm seine gedankenleeren, endlos schwatzhaften Schriften sonst gewiß nicht verschafft hätten. Brandes entdeckte in Ibsen Auflehnung gegen das herrschende Sittengesetz und Verherrlichung der thierischen Triebe, er trompetete ihn also trotz seiner erstaunlichen Vormärzlichkeit sofort als einen „Modernen Geist“ aus und empfahl seine Werke augenzwinkernd den wißbegierigen Jünglingen, denen er als maître de plaisir dient. Dieser „Moderne“, dieser „wissenschaftlich“ genau beobachtende „Realist“ ist aber thatsächlich ein Mystiker und ichsüchtiger Anarchist. Die Zergliederung seiner | geistigen Eigenthümlichkeiten wird uns eine Aehnlichkeit zwischen [] diesen und denen Wagners erkennen lassen, die uns nicht überraschen kann, da die ähnlichen Züge eben Stigmate der Entartung und darum vielen oder allen höheren Entarteten gemein sind. Ibsen ist der Sohn eines streng kirchlichen Volkes und in einer gläubigen Familie aufgewachsen. Die Kindeseindrücke sind für sein Leben entscheidend gewesen. Sein Denken hat nie den theologischen Bruch ausglätten können, in den es durch die erste Erziehung gefalzt wurde. Katechismus und Bibel sind ihm die Schranken geworden, über die er nie hinausgelangt ist. Seine freidenkerisch klingenden Redensarten gegen das amtliche Christenthum (in „Brand“, „Rosmersholm“ u.s.w.), seine Verspottung der gebundenen Gläubigkeit von Pastoren (Manders in „Gespenster“, Rohrland in „Stützen der Gesellschaft“, der Probst in „Brand“) sind ein Widerhall von Sören Kierkegaard, der zwar für ein anderes als das staatlich geordnete und mit Ernennungsdekret und Gehalt ausgestattete Christenthum, aber doch für ein strenges, ausschließliches, den ganzen Menschen forderndes Christenthum eiferte. Vielleicht hält Ibsen selbst sich für einen Freidenker. Wagner that es

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

ja auch. Aber was beweist das? Er sieht eben in seinem eigenen Denken und Fühlen nicht klar. „Es ist merkwürdig, zu sehen“, sagt Herbert Spencer, „wie sehr die Menschen gewöhnlich den Lehren, die sie dem Namen nach verworfen haben, thatsächlich ergeben bleiben, indem sie ihr Wesen bewahren, nachdem sie ihre Form aufgegeben. In der Theologie haben wir das Beispiel Carlyles. Als Student bildete er sich ein, den Glauben seiner Väter abgeschworen zu haben, aber er warf [] nur die Schale weg und behielt den Kern. Seine Anschauung | von der Welt und den Menschen, seine Lebensführung beweisen, daß er einer der glühendsten schottischen Calvinisten geblieben ist.“ Hätte Spencer, als er dies schrieb, Ibsen gekannt, er würde ihn vielleicht als zweites Beispiel angeführt haben. Wie Carlyle immer schottischer Calvinist, so ist Ibsen immer norwegischer Kierkegaardscher Protestant geblieben, das heißt Protestant mit heftiger Jacob Boehmescher, Swedenborgscher oder Puseyscher Mystik, die leicht eine Brücke zum Katholizismus einer heiligen Therese oder eines Ruysbroek findet. Drei christliche Grundgedanken sind seinem Geiste fortwährend gegenwärtig und um sie dreht sich die ganze Thätigkeit seiner dichterischen Einbildungskraft wie um ebenso viele Achsen. Diese drei unabänderlichen Mittelpunkt-Gedanken, wahre Zwangsvorstellungen, die aus dem Unbewußten in sein Geistesleben hinaufragen, sind die Erbsünde, die Beichte und die Selbstopferung oder Erlösung. Die ästhetischen Schwätzer haben das Erb-Motiv in allen Werken Ibsens, das selbst der schwächsten Aufmerksamkeit nicht entgehen kann, als ein modernnaturwissenschaftliches, als ein darwinistisches angesprochen. Es ist thatsächlich die immer wiederkehrende augustinische Erbsünde und es verräth seine theologische Natur einmal dadurch, daß es neben den beiden anderen theologischen Motiven, der Beichte und der Erlösung, auftritt, und zweitens durch die kennzeichnende Beschaffenheit der Vererbung: wir haben oben gesehen, daß das, was die Ibsenschen Gestalten erben, immer eine Krankheit (Erblindung, RückenmarkSchwindsucht, Wahnsinn), ein Laster (Verlogenheit, Leichtsinn, Unzüchtigkeit, Verstocktheit) oder ein Mangel (Unfähigkeit zum Frohsinn) ist, niemals aber ein Vorzug, eine nützliche oder erfreuliche Eigenschaft. Nun erbt man aber das Gute und Gesunde mindestens ebenso häufig wie das Schlechte und Kranke, manche Forscher sagen: sehr viel häufiger. Wenn also Ibsen wirklich das Gesetz der Verer[] bung im darwinistischen | Sinne hätte in Thätigkeit zeigen wollen, so würde er uns doch mindestens ein Beispiel, ein einziges, von der Vererbung guter Eigenschaften geboten haben. Ein solches ist aber in allen Dramen Ibsens nicht anzutreffen. Was seine Gestalten Gutes an sich haben, kommt ihnen man weiß nicht woher. Geerbt haben sie immer nur das Schlechte. Die süße Hedwig in der „Wildente“ wird blind wie ihr Vater Werle. Aber von wem hat sie ihre träumerische, blühende Einbildungskraft und ihr hingebendes, liebendes Herz? Ihr Vater ist ein trockener Selbst-

 Herbert Spencer, L’individu contre l’état. Traduit de l’anglais par J. Gerschel.  ème édition. Paris, . S. .

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ling und ihre Mutter eine kluge, praktische, gänzlich schwunglose Kochtopf-Haus frau! Von den beiden Eltern kann sie also ihre schönen Eigenthümlichkeiten nicht

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geerbt haben. Von ihnen hat sie nur ihre Augenkrankheit. Die Erblichkeit ist bei Ibsen immer nur eine Heimsuchung, eine Strafe für die Sünden der Väter, und eine solche ausschließliche Erblichkeit kennt die Naturwissenschaft nicht, nur die Theologie kennt sie, sie ist eben die Erbsünde. Das zweite theologische Motiv Ibsens ist die Beichte; fast in allen seinen Stücken bildet eine solche das Ziel, zu dem die ganze Handlung hindrängt; nicht etwa ein Schuldgeständniß, zu dem die Umstände einen geheimen Frevler zwingen, nicht die unvermeidliche Enthüllung einer verborgenen Missethat, sondern die freiwillige Oeffnung einer verschlossenen Seele, die wollüstig selbstquälerische Aufdeckung eines häßlichen innern Schadens, das reuige „Meine Schuld, meine größte Schuld!“ des unter der Wucht seiner Gewissens-Belastung zusammenbrechenden Sünders, der sich demüthigt, der bekennt, um den innern Frieden zu finden, kurz die echte Beichte, wie die Kirche sie fordert. In „Nora“ (S. .) belehrt Helmer seine Frau: „Mancher kann sich moralisch wieder erheben, wenn er sein Vergehen offen bekennt und seine Strafe abbüßt … Denke dir nur, wie ein solcher schuldbewußter Mann überall lügen und heucheln und sich verstellen muß; wie er seinen Nächsten, ja | sogar Weib und Kindern gegenüber die Maske anlegen muß.“ Nicht die [] Schuld ist ihm das große Uebel, sondern deren Verheimlichung, und ihre eigentliche Sühnung besteht im „offenen Bekennen“, das heißt in der Beichte. In demselben Stück beichtet Frau Linden ohne jeden äußern Zwang, nur dem innern Antrieb gehorchend: (S. .) „Auch ich habe Schiffbruch gelitten … Ich hatte keine andre Wahl“ und entwickelt später (S. .) wieder die Theorie der Beichte: „Helmer muß Alles erfahren; dies unglückselige Geheimniß muß an den Tag; zwischen den beiden muß es zu einer offnen Auseinandersetzung kommen; bei diesen Ausflüchten und Verheimlichungen kann es unmöglich bleiben.“ In „Stützen der Gesellschaft“ fordert Frl. Hessel mit diesen Worten die Beichte: (S. .) „Da lebst du hier, der erste Mann der Stadt, in Freud’ und Herrlichkeit, in Macht und Ehre, — du, der einem Unschuldigen das Verbrecherzeichen auf die Stirn gedrückt hat! Bernick. Glaubst du, ich fühle mein Unrecht gegen ihn nicht tief genug? Glaubst du, ich sei nicht bereit, es wieder gut zu machen? Frl. Hessel. Wodurch? Durch ein offenes Bekenntniß? Bernick. Und das könntest du fordern? Frl. Hessel. Was anderes kann ein solches Unrecht wieder gut machen?“ Und auch Johann sagt: (S. .) „In zwei Monaten bin ich wieder hier. Bernick. Und dann willst du reden? Johann. Dann soll der Schuldige die Schuld selbst auf sich nehmen.“ Thatsächlich legt auch Bernick die geforderte öffentliche Beichte ab, und zwar aus Zerknirschung, denn als er es thut, sind alle Beweise seiner Schuld vernichtet und er hat von Anderen nichts mehr zu fürchten. Er beichtet in den erbaulichsten Ausdrücken: (S. ff.) „Ich muß damit beginnen, das Lob zurückzuweisen, mit dem Sie mich … überschüttet haben. Ich habe es nicht verdient, denn ich bin bis auf diesen Tag kein uneigennütziger Mann gewesen … Ich habe keinen Anspruch

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

auf diese Huldigung; | denn … meine Absicht war, das Ganze selbst zu behalten … Meine Mitbürger müssen mich vollständig kennen, … auf daß wir mit dem heutigen Tag eine neue Zeit beginnen. Die alte mit ihrer Schminke, ihrer Heuchelei und Hohlheit, ihrer verlogenen Wohlanständigkeit und elenden Rücksichtnahme soll, gleichsam wie ein Museum, zu Jedermanns Belehrung geöffnet, vor uns stehen … Meine Mitbürger — fort mit der Unwahrheit! Sie war nahe daran, jede Fiber in mir zu vergiften. Sie sollen Alles erfahren. Ich war vor fünfzehn Jahren der Schuldige.“ U. s. w. „Rosmersholm“ hat überhaupt keinen andern Inhalt als die Beichte Aller vor Allen. Schon beim ersten Besuche Krolls fordert Rebekka von Rosmer die Beichte. (S. .) Rebekka hat sich Rosmer genähert und sagt leise, schnell und vom Rektor unbemerkt: „Thu’ es! Rosmer. Nicht heut Abend. Rebekka. Ja, gerade!“ Da er nicht gleich gehorcht, will sie für ihn sprechen. (S. .) „Rebekka. Jetzt will ich Ihnen gerade heraus sagen — Rosmer. Nein nein, laß das! Jetzt nicht!“ Rosmer thut es bald darauf selbst: (S. .) „Kroll. Wir beide sind doch aber so ungefähr einig. In den großen Kernfragen auf alle Fälle. Rosmer (leise). Nein. Jetzt nicht mehr. Kroll (will aufspringen). Was ist das? Rosmer (hält ihn fest). Nein, du mußt sitzen bleiben, ich bitte dich, Kroll. Kroll. Was soll das bedeuten? Ich verstehe dich nicht. Sprich doch gerade heraus! Rosmer. Ein neuer Sommer ist über mein Gemüth gekommen. Eine neue jugendliche Anschauungsweise. Und deshalb stehe ich jetzt dort — Kroll. Wo? Wo stehst du? Rosmer. Dort, wo deine Kinder stehen. Kroll. Du? Du! Das ist doch wohl unmöglich! Wo sagst du, daß du stehst? Rosmer. Auf derselben Seite wie Laurits und Hilda. Kroll (senkt den Kopf). Abtrünnig! Johannes Rosmer abtrünnig! … Heißt dies sprechen, wies einem Geistlichen ziemt? Rosmer. Ich [] bin | kein Geistlicher mehr. Kroll. Ja, aber — dein Kinderglaube? Rosmer (aufstehend). Ich habe ihn aufgegeben … Friede, Freude und Versöhnung müssen wieder in die Gemüther einziehen. Deshalb trete ich jetzt hervor und bekenne offen, was ich bin … Rebekka. So, nun ist er auf dem Wege zu seinem großen Opferfest.“ (Man beachte diese rein theologische Bezeichnung der That Rosmers.) „Rosmer. Mir ist so leicht, nachdem es vorüber … Ich weiß die Zeit nicht mehr, wo mir so leicht ums Herz gewesen wäre wie jetzt. Ach, es war wahrhaftig gut, daß ich es gesagt habe.“ Wie Rosmer, so beichtet auch Rebekka vor Rektor Kroll: (S.  ff.) „Herr Rektor, wir nennen einander du — Rosmer und ich. Das Verhältniß zwischen uns hat es mit sich geführt … Setzen wir uns. Alle drei. Ich werde jetzt Alles sagen. Rosmer (sich unwillkürlich setzend). Rebekka, was ist über dich gekommen! Diese unheimliche Ruhe — was soll das bedeuten? Rebekka. Ich will nur erzählen … Jetzt muß es heraus. Nicht du warst es, Rosmer. Du bist ohne Schuld. Ich bin es gewesen, ich — die Beate auf jenen Weg des Wahnsinns gelockt hat … Auf die Wege — die zum Mühlbach führten. Nun wißt ihr es beide … Rosmer. Hast du jetzt Alles gebeichtet, Rebekka?“ Nein, noch nicht Alles. Aber sie beeilt sich, die vor Kroll begonnene Beichte vor Rosmer zu vollenden: (S. .) „Rosmer. Hast du noch mehr zu gestehen? Rebekka. Das Größte bleibt noch. Rosmer. Das Größte? Rebekka. Das, was du nicht einmal geahnt hast, das, was allem Uebrigen Licht und Schatten gibt“ u. s. w. []

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In der „Frau vom Meer“ beichtet Ellida (S. .) Arnholm die Geschichte ihrer  wahnsinnigen Verlobung mit dem fremden Seemann. Arnholm sieht die Noth-

wendigkeit dieses grund- und zwecklosen Bekenntnisses so wenig ein, daß er verwundert fragt: „Welchen Zweck hat es dann, mir zu erzählen, daß Sie gebunden waren?“ „Weil ich Jemand haben muß, dem ich | mich anvertrauen kann,“ ist [] Ellidas einzige, übrigens ausreichende, Erklärung.  In „Hedda Gabler“ haben die unvermeidlichen Beichten vor Beginn des Stückes stattgefunden. „Ja, Hedda“, erzählt Lövborg, (S. .) „und wenn ich Ihnen dann beichtete! Ihnen von mir das erzählte, was von den Anderen damals keiner wußte — da saß und Ihnen gestand, daß ich Tage und Nächte gerast und nicht zu Hause gewesen … O Hedda, was war es denn für eine Macht in Ihnen, die mich  zwang, Ihnen das zu bekennen? … War es Ihrerseits nicht, als ob Sie mich gleichsam rein waschen wollten — wenn ich mit meinem Bekenntniß zu Ihnen flüchtete?“ Er beichtete, um Absolution zu gewinnen. In der „Wildente“ hat das Beicht-Motiv ebenfalls seinen Platz, aber es ist köstlich verspottet. Der Auftritt, in welchem Gina ihrem Gatten ihr früheres Verhältniß  zu Werle bekennt, ist eine der prächtigsten des zeitgenössischen Theaters: (S.  ff.)

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„Hjalmar. Ist es wahr — kann es wahr sein, daß — daß zwischen dir und dem Großhändler Werle eine Art Verhältniß bestand, als du dort im Hause dientest? Gina. Das ist nicht wahr. Damals nicht, nein. Der Großhändler stellte mir nach — ja, ich kann es nicht leugnen. Und die Frau glaubte, es wäre etwas dahinter, … und deshalb ging ich aus dem Dienst. Hjalmar. Also später. Gina. Ja; ich kam ja nach Hause. Und Mutter — sie war wirklich nicht so reel, wie du dachtest; und sie kam und redete mir dies und jenes vor. Denn damals war der Großhändler ja schon Witwer. Hjalmar. Nun und weiter. Gina. Es ist wohl am besten, wenn du alles erfährst. Er ließ nicht eher nach, als bis er seinen Willen bekam. Hjalmar. Und das die Mutter meines Kindes! Wie konntest du mir so etwas verschweigen! Gina. Es war Unrecht von mir, ich hätte es dir schon lange sagen sollen. Hjalmar. Sofort hättest du es mir sagen sollen — da hätte ich doch gewußt, was du für eine warst. Gina. Aber hättest du mich dann trotzdem geheiratet? Hjalmar. Wie kannst du sowas denken! Gina. Nun, gerade deshalb durfte ich dir damals nichts sagen … Hjalmar. Hast du nicht jeden Tag, jede Stunde das Lügengewebe der Verheimlichung bereut, | in welches du mich gleich einer Spinne eingesponnen hast? Antworte mir darauf! Bist du hier wirklich nicht mit Reue und Gewissensbissen umhergegangen? Gina. Ach, lieber Ekdal, ich habe reichlich genug damit zu thun gehabt, an das Haus und all die tägliche Arbeit zu denken.“

Weiterhin ist der Gedanke der Selbstbefreiung und Reinigung durch die Beichte unerbittlich parodirt: (S. .) „Gregor. Nun, ihr lieben Leute — Also noch nicht  geschehen? Hjalmar. Es ist geschehen. Gregor. Es ist? … Eine solch große Abrechnung — eine Abrechnung, auf welche eine ganz neue Lebensbahn gegründet werden soll — eine Lebensbahn, ein Zusammenleben in Wahrheit und ohne jedes Geheimniß … Du mußt doch eine höhere Weihe von der großen Abrechnung empfangen haben. Hjalmar. Ja, natürlich habe ich das, das heißt — so auf eine Art —  Gregor. Denn es gibt doch wohl nichts auf der Welt, was damit verglichen werden könnte, einer Fehlenden zu verzeihen und sie in Liebe zu sich zu erheben“ u. s. w.

[]

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Der bekannte französische Raubmörder Avinain faßte auf dem Gange zur Guillotine die Erfahrung seines Lebens in den Kernspruch zusammen: „Bekennen Sie niemals!“ Diesem Rathe können aber nur sehr willensstarke, geistesgesunde Menschen folgen. Eine lebhafte Vorstellung verlangt mit großer Heftigkeit, sich in Bewegung umzusetzen. Diejenige Bewegung, welche die geringste Mühe macht, ist die der kleinen Kehlkopf-, Zungen- und Lippen-Muskeln, das heißt die der Sprachwerkzeuge. Wer also eine besonders lebhafte Vorstellung mit sich herumträgt, der hat den Drang, die Zellengruppen seines Gehirns, in welchen sie ausgearbeitet wird, zu entspannen, indem er ihnen gestattet, ihren Reiz auf die Sprachzentren zu übertragen. Kürzer gesagt: er hat das Verlangen, sich auszusprechen. Und wenn er schwach ist, wenn die hemmende Gewalt seines Willens nicht kräftiger ist als [] der Bewegungs-Antrieb, der vom Vorstellungszentrum ausgeht, so | wird er losplatzen, es mag nachher geschehen was da wolle. Dieses psychologische Gesetz war den Menschen immer bekannt, wie das Schriftthum von der König Midas-Fabel bis zu Dostojewskis „Raskolnikow“ zeigt, und die katholische Kirche lieferte einen Beweis mehr ihrer tiefen Kenntniß der Menschennatur, als sie das urchristliche Schuldbekenntniß vor versammelter Gemeinde, das eine Selbstdemüthigung und Buße sein sollte, in die Ohrenbeichte verwandelte, die dem Zwecke der gefahrlosen, wonnigen Erleichterung und Entspannung dient und den Durchschnittsmenschen ein psychisches Bedürfniß ersten Ranges ist. Diese Art der Beichte hat Ibsen, wahrscheinlich unbewußt, im Auge. („Weil ich Jemand haben muß, dem ich mich anvertrauen kann.“ Ellida.) Selbst ein Entarteter, kann er sich auch nur das Geistesleben Entarteter vorstellen, bei denen die Hemmungs-Vorrichtungen immer in Unordnung sind und die sich deshalb dem Beicht-Verlangen nicht entziehen können, wenn in ihrem Bewußtsein irgend Etwas lebt, was sie beschäftigt und erregt. Die dritte und wichtigste theologische Zwangs-Vorstellung Ibsens ist die der Heilsthat Christi, der Erlösung Schuldiger durch freiwillige Uebernahme ihrer Schuld. Diese Abwälzung der Sünde auf ein Opferlamm nimmt in Ibsens Theater denselben Platz ein wie in dem Richard Wagners. Das Opferlamm- und ErlösungsMotiv ist seinem Geist fortwährend gegenwärtig, freilich nicht immer klar und verständig, sondern, der Verworrenheit seines Denkens angemessen, mannigfach verzerrt, verdunkelt und kontrapunktisch umgewandelt. Bald nehmen Ibsens Gestalten das Kreuz freiwillig und freudig auf sich, wie es dem Christusgedanken entspricht, bald wird es ihnen gewaltsam oder hinterlistig auf die Schulter gelegt, was eine, Theologen würden sagen: teuflische, Verhöhnung dieses Gedankens darstellt; bald ist die Opferung für Andere aufrichtig, bald ist sie bloße Heuchelei; die [] Wirkungen, die Ibsen aus dem immer | wiederkehrenden Motiv zieht, sind, seiner verschiedenen Gestaltung entsprechend, bald hohe, sittliche und erschütternde, bald niedrig lustige oder abstoßende. In den „Stützen der Gesellschaft“ ist von einem „Skandal“ die Rede, der Jahre vor Beginn des Stückes stattgefunden hat. Bei der Schauspielerin Dorff fand ihr heimkehrender Gatte eines Abends einen fremden Mann, der beim Eintritt des

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Erstern zum Fenster hinaussprang. Die Sache erregte in dem norwegischen Kräh winkel ungeheures Aufsehen und Aergerniß. Gleich darauf verschwand Johann

Tönnesen nach Amerika. Alle Welt hielt ihn für den „Schuldigen“. In Wirklichkeit aber war es dessen Schwager Bernick. Johann hatte freiwillig Bernicks Schuld auf sich genommen. Als er aus Amerika wiederkommt, sprechen Sünder und Opferlamm sich über den Fall aus: (S. .) 

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„Bernick. Johann, endlich sind wir allein! Und nun laß mich dir danken! Johann. Wofür? Bernick. Haus, Heimat, Familienglück, — meine ganze bürgerliche Stellung in der Gesellschaft — alles verdanke ich dir! Johann. Nun, das freut mich … Bernick. Dank, herzlichsten Dank! Nicht einer unter Tausenden hätte gethan, was du damals für mich thatst. Johann. War auch was Rechtes … Einer von uns mußte ja doch die Schuld auf sich nehmen — Bernick. Aber wer war ihr näher als der Schuldige? Johann. Halt! Damals war der Unschuldige ihr am nächsten. Ich war elternlos, frank und frei. Du dagegen hattest noch deine alte Mutter am Leben; und zudem hattest du dich gerade heimlich mit Betty verlobt, die so sehr an dir hing … Bernick. Gewiß, Johann … und dennoch — daß du so großmüthig die Schande auf dich nehmen und fortreisen konntest — Johann. Keine Skrupel, lieber Richard … gerettet mußtest du ja doch werden — und warst du nicht mein Freund?“

Hier ist das Opferlamm-Motiv normal und verständig verwendet. Gleich darauf tritt es in demselben Stücke ein zweitesmal, aber verzerrt auf. Bernick schickt die kielfaule „Gazelle“ in die See hinaus, in den sichern Untergang, trotz des Widerstandes des Werkführers Auler. Aber während er | seinen Massenmord plant, bereitet er []  zugleich die Abladung des Verbrechens auf den unschuldigen Auler vor: (S. .)

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„Krapp … Da geschehen arge Dinge, Herr Consul. Bernick. Das kann ich nicht glauben, Herr Krapp. Ich kann, ich will so etwas von Auler nicht glauben. Krapp. Thut mir leid, — ist aber die nackte Wahrheit … Reine Pfuscharbeit. Die „Gazelle“ kommt mein Lebtag nicht bis nach Newyork … Bernick. Das ist ja entsetzlich! Aber was meinen Sie, kann seine Absicht dabei gewesen sein? Krapp. Will vermuthlich die Maschinen in Mißkredit bringen … Bernick. Und opfert auf diese Weise vielleicht all die vielen Menschenleben — … eine so gewissenlose That. Hören Sie, Herr Krapp; so etwas muß zweimal untersucht werden. Gegen keinen Menschen eine Silbe davon! … Während der Mittagsruhe müssen Sie wieder hinunter zu kommen suchen; volle Gewißheit müssen wir haben … Wir können uns doch nicht bei einem Verbrechen zu Mitschuldigen machen. Ich muß mein Gewissen rein bewahren“ u. s. w.

In „Gespenster“ spielt das Opferlamm-Motiv ebenfalls parodistisch hinein. Das von Frau Alving gegründete Asyl ist abgebrannt. Der Theaterbösewicht Tischler Engstrand weiß dem idiotischen Pastor Manders einzureden, daß er, Manders, die Feuersbrunst verursacht hat. Und da der Pastor wegen der möglichen gerichtlichen  Folgen trostlos ist, tritt Engstrand an ihn heran und sagt: (S. .) „Jakob Engstrand ist nicht der Mann, der einen würdigen Wohlthäter in der Stunde der Noth verläßt, wie man so sagt (!). Pastor Manders. Ja, mein Bester — aber wie? Engstrand. Jakob Engstrand ist wie ein rettender Engel, Herr Pastor. Manders. Nein nein, das kann ich wahrlich nicht annehmen. Engstrand. O, es wird aber trotzdem geschehen. Ich  kenne einen, der schon einmal die Schuld Anderer auf sich genommen hat. Manders. Jakob! (Drückt seine Hand.) Sie sind ein seltener Mensch.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

In „Nora“ entfaltet sich das Motiv zu hoher Schönheit. Nora erwartet mit Gewißheit, daß ihr Gatte ihre Schuld auf sich nehmen wird, wenn ihre Wechselfälschung ans Licht kommt, und sie ist entschlossen, sein Opfer nicht anzunehmen. [] (S. .) | „Nora. Jetzt blos eins, Christine, du sollst mein Zeuge sein … Wenn Jemand Alles auf sich nehmen wollte … die ganze Schuld, mein’ ich — dann sollst du bezeugen, daß es nicht wahr ist, Christine. Ich weiß sehr wohl, was ich sage; ich habe meinen vollen Verstand; und ich sage dir: Niemand anders hat darum gewußt; ich allein hab’ Alles gethan … Das Wunderbare wird noch geschehen … Aber das ist so entsetzlich, Christine; es darf nicht geschehen, um keinen Preis der Welt.“ Sie sieht in tiefster Erregung dem erwarteten Wunder entgegen: der Erneuerung der Heilsthat Christi in der Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse, — „Ich bin das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt“, — und da das Wunder ausbleibt, geht die ungeheure Verwandlung in ihrem Gemüthe vor sich, die den Inhalt des Stückes ausmacht. Nora erklärt dies ihrem Manne mit größter Deutlichkeit: (S. .) „Niemals kam mir der Gedanke, du könntest dich durch die Drohungen dieses Menschen einschüchtern lassen. Ich war so unerschütterlich fest überzeugt, du würdest zu ihm sagen: Machen Sie die Sache nur der Welt bekannt! Und wenn das geschehen … dann würdest du, wie ich unerschütterlich fest glaubte, vor die Welt hintreten, Alles auf dich nehmen und sagen: Ich bin der Schuldige! … Das war das Wunderbare, worauf ich mit Furcht und Beben hoffte. Und nur um das zu verhindern, wollt’ ich meinem Leben ein Ende machen.“ In der „Wildente“ tritt das Opferlamm-Motiv nicht weniger als dreimal auf und ist die treibende Kraft der ganzen Handlung. Der Waldfrevel, um dessentwillen der alte Ekdal vor Jahren verurtheilt wurde, war nicht von ihm, sondern von Werle begangen: (S. .) „Werle … Ich hatte keine Ahnung davon, was Leutnant Ekdal unternahm. Gregor. Leutnant Ekdal hatte wohl selbst keine Ahnung davon, was er unternahm. Werle. Mag es so sein. Aber es ist doch einmal Thatsache daß er verur[] theilt und ich freigesprochen wurde. Gregor. Ja, | ich weiß wohl, es fehlten die Beweise. Werle. Freisprechung ist Freisprechung. Weshalb rührst du diese alten peinlichen Geschichten wieder auf? … Ich bin so weit gegangen, als ich nur konnte, ohne mich geradezu bloszustellen … Ich habe Ekdal Schreibereien für das Kontor geben lassen und bezahle ihm weit mehr, weit mehr, als seine Arbeit werth ist.“ Werle hat also seine Sünde auf Ekdal abgewälzt und dieser ist unter dem Kreuze zusamengebrochen. Weiterhin, als Hjalmar weiß, daß die kleine Hedwig nicht sein Kind ist, und sie verleugnet, tritt der Idiot Gregor Werle vor das hierüber trostlose Mädchen und sagt: (S. .) „Aber wenn Sie nun freiwillig die Wildente seinetwegen opferten? Hedwig (steht auf). Die Wildente! Gregor: Wenn Sie nun das Beste, was Sie auf der Welt kennen und besitzen, für ihn opferwillig hingäben? Hedwig. Glauben Sie, das würde helfen? Gregor. Versuchen Sie es, Hedwig. Hedwig (leise, mit leuchtenden Augen). Ja, ich will es versuchen.“ Hier soll also Hedwig nicht sich selbst, sondern ein Lieblingsthier opfern, wodurch das Motiv aus dem Christlichen ins Heidnische herabgezogen wird. Endlich erscheint es ein drittesmal. Hedwig

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kann sich im letzten Augenblicke nicht entschließen, die Ente zu tödten, und sie  zieht es vor, die Pistole gegen die eigene Brust zu kehren, das Leben des Vogels

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mit ihrem Leben freikaufend. Dieser grausame Schluß ist quälend und albern, weil unnöthig; die dichterische Wirkung wäre voll erreicht, wenn Hedwig nicht stürbe, sondern sich nur leicht verwundete, da auch damit der Beweis erbracht wäre, daß es ihr heiliger Ernst sei mit dem Entschlusse, durch das Opfer ihres jungen Lebens dem Vater ihre Liebe zu bekunden und zwischen ihm und der Mutter den Frieden herzustellen. Doch ästhetische Kritik zu üben sehe ich nicht als meine Aufgabe an; ich überlasse das gern den Phrasendreschern. Mir kommt es nur darauf an, die dreimalige Wiederkehr des Opferlamm-Motivs in der „Wildente“ nachzuweisen. | Bei seinem dritten Erscheinen erleidet das Motiv eine bezeichnende Aende- [] rung. Hedwig opfert sich, nicht um eine Schuld zu sühnen, — denn von der Schuld ihrer Mutter weiß sie nichts, — sondern um ein Werk der Liebe zu thun. Hier tritt also das mystisch-theologische Element der Heilsthat fast bis zur Unwahrnehmbarkeit zurück und es bleibt beinahe nur das reinmenschliche Element der Freude an der Selbstaufopferung für Andere übrig, ein Drang, der bei guten Frauen nicht selten angetroffen wird, der eine Aeußerung des nicht befriedigten, manchmal auch des sich selbst nicht begreifenden Bemutterungs-Triebes und zugleich die edelste und heiligste Form des Altruismus ist. Diesen Drang zeigt Ibsen bei vielen seiner weiblichen Gestalten, denen man ihren Ursprung aus der Glaubensmystik des Dichters nicht gleich anmerken würde, wenn uns die vielfachen anderen Abwandlungen des Opferlamm-Motivs nicht bereits die Uebung gegeben hätten, es auch in seinen Verdunkelungen mit Sicherheit zu erkennen. Hedwig bildet den Uebergang von der theologischen zur reinmenschlichen Form der freiwilligen Selbstopferung. Das überspannte Kind treibt den Verzicht regelrecht bis zur Hingabe des Lebens; die anderen Ibsenschen Frauen, zu deren Verständniß es den Schlüssel bietet, gehen nur bis zur liebevoll thätigen Selbstlosigkeit. Sie sterben nicht für Andere, aber sie leben für Andere. In „Nora“ hat Frau Linden diesen Selbstopferungs-Hunger. „Ich muß arbeiten, um das Leben ertragen zu können“, sagt sie zu Günther; (S. .) „von Jugend auf hab’ ich gearbeitet und das ist meine einzige und beste Freude gewesen. Aber nun steh’ ich ganz allein in der Welt; so schrecklich leer und verlassen! Für sich selbst arbeiten, das gewährt doch keine Freude. Günther, geben Sie mir Jemand, für den ich arbeiten kann … Günther. Wie, Sie könnten wirklich —? Sagen Sie — kennen Sie meine Vergangenheit? Frau Linden. Ja. Günther. Und Sie wissen, wofür ich hier gelte? Frau | Linden. Deuteten Sie [] nicht vorhin an, mit mir hätten Sie ein Anderer werden können? Günther. Davon bin ich sogar überzeugt. Frau Linden. Sollt’ es nicht noch jetzt geschehen können? Günther. Christine! … Das sagen Sie mit voller Ueberlegung! … Fr. Linden. Ich bedarf Jemandes, für den ich leben kann; und Ihre Kinder bedürfen einer Mutter.“ Hier ist das Motiv nicht bis zur Unkenntlichkeit verkleidet. Günther ist ein Schuldiger und Geächteter. Wenn Frau Linden ihm anbietet, für ihn zu leben, so ist dies zwar hauptsächlich Bemutterungs-Trieb, es klingt aber auch der mystische Gedanke der

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Erlösung des Sünders durch selbstlose Liebe in dieses natürliche Gefühl herein. In der „Frau vom Meer“ will Ellida wieder nach ihrem Meer-Ort Skjoldvik zurückgehen, weil sie in Wangels Hause nichts zu thun zu haben glaubt. Bei der Ankündigung ihres Entschlusses zeigt ihre Stieftochter Hilde tiefe Verzweiflung. Jetzt erst erfährt Ellida, daß Hilde in Liebe an ihr hängt, da geht ihr der Gedanke auf, daß  sie für Jemand leben könne, und sie sagt träumend: (S. .) „Ah! Sollte hier eine Aufgabe für mich sein?“ In „Rosmersholm“ sagt Rebekka zu Kroll: (S. .) „Ich bleibe gern hier, wenn Herr Rosmer findet, daß ich etwas zu seinem Wohlergehen beitragen kann. Kroll (sie ergriffen anblickend). In der That — es ist etwas Erhabenes um ein Weib, das Anderen seine ganze Jugend zum Opfer bringt. Rebekka.  Ach, wofür hätte ich denn sonst leben sollen!“ In „Stützen der Gesellschaft“ bewegen sich zwei dieser rührenden Opfer-Seelen, Frl. Martha Bernick und Frl. Hessel. Frl. Bernick hat Dina, die Frucht eines Ehebruchs, erzogen und ihr das eigene Leben gewidmet: (S. .) „Frl. Bernick … Ich bin dem armen Kind eine Mutter gewesen, habe es erzogen, so gut ichs konnte. Johann. Und darum dein ganzes Leben  fortgeworfen — Frl. Bernick. Es ist nicht fortgeworfen.“ Sie liebt Johann, da sie aber [] sieht, daß er sich zu Dina hingezogen fühlt, vereinigt sie die | beiden. Sie spricht sich in einem überaus rührenden Auftritt mit Johanns Halbschwester, Frl. Hessel, über den Fall aus: (S. .) „Frl. Hessel. Nun sind wir allein, Martha. Du hast sie und ich habe ihn verloren. Frl. Bernick. Du — ihn? Frl. Hessel. Ach, ich hatte ihn schon drüben halb verloren. Es verlangte ihn danach, auf eigenen Füßen zu stehen; deshalb redete ich ihm ein, daß ich an Heimweh litt. Frl. Bernick. Deshalb? Ja, nun versteh ich, daß du kamst. Aber er wird dich wieder zurückverlangen, Lona. Frl. Hessel. Eine alte Halbschwester, — was soll ihm die jetzt? Die Männer zerreißen gar manches Band, um das Glück zu erlangen. Frl. Bernick. Das thun sie. Frl. Hessel. Aber wir wollen zusammen halten, Martha. Frl. Bernick. Kann ich dir etwas sein? Frl. Hessel. Wer mehr als du? Wir beiden Pflegemütter, — haben wir nicht beide unsere Kinder verloren? Jetzt sind wir allein. Frl. Bernick. Ja, allein. Und darum sollst dus auch wissen: ich habe ihn geliebt. Frl. Hessel. Martha! (Ergreift ihren Arm.) Ist das wahr? Frl. Bernick. Mein ganzer Lebensinhalt liegt in diesen Worten. Ich habe ihn geliebt und auf ihn gewartet. Sommer um Sommer hoffte ich, er würde kommen. Und da kam er, aber er sah mich nicht. Frl. Hessel. Ihn geliebt! Und du selbst warst diejenige, welche ihm das Glück in die Hände legte. Frl. Bernick. Sollte ich ihm das Glück nicht in die Hände legen, da ich ihn liebte? Ja, ich habe ihn geliebt, mein ganzes Leben hat ihm gehört … Er sah mich nicht … Frl. Hessel. Dina stellte dich in den Schatten, Martha. Frl. Bernick. Und es ist gut, daß sie das that. Als er fortging, waren wir gleichaltrig; als ich ihn wiedersah — o der entsetzliche Augenblick! — da ward es mir klar, daß ich zehn Jahre älter geworden als er. Da draußen war er umhergezogen … und inzwischen saß ich hier und spann und spann — Frl. Hessel — am Faden seines Glücks, Martha. Frl. Bernick. Ja, es war Gold, was ich spann. Keine Bitterkeit! Nicht wahr, Lona, wir sind ihm zwei gute Schwestern gewesen?“

In „Hedda Gabler“ ist Frl. Tesman, die Tante des schwachsinnigen Tesman, die rührende Opfermutter. Sie hat ihn erzogen, sie gibt ihm den größten Theil ihrer bescheidenen Rente, als er sich verheiratet. „Ach, Tante“, meckert der arme Idiot, [] (S. .) „du wirst nie müde, dich für mich zu opfern!“ | „Habe ich denn“, antwortet

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 die gute Seele, „eine andere Freude auf der Welt, als dir den Weg zu ebnen, mein

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lieber Junge? Du hast weder Vater noch Mutter gehabt, an die du dich hättest halten können.“ Und als später die gelähmte Schwester von Frl. Tesman gestorben ist, entspinnt sich dieses Gespräch zwischen ihr und Hedda: (S. .) „Hedda. Sie werden jetzt sehr einsam sein, Frl. Tesman. Frl. Tesman. Während der ersten Tage wohl. Aber ich will hoffen, daß es nicht zu lange anhält. Die kleine Stube der seligen Rina wird nicht lange leer stehen, meine ich. Hedda. So? Wen willst du denn da hinein haben? Wie? Frl. Tesman. Ach, es gibt leider Gottes immer irgend einen armen Kranken, der Wartung und Pflege braucht. Hedda. Wollen Sie wirklich wieder ein solches Kreuz auf sich nehmen? Frl. Tesman. Kreuz! Gott verzeihe Ihnen, Kind — das ist doch kein Kreuz für mich gewesen. Hedda. Wenn nun aber irgend eine ganz fremde Person käme, so — Frl. Tesman. Ach, mit kranken Menschen ist man bald Freund! Und ich brauche doch so nothwendig Jemand, für den ich leben kann — den brauche ich.“ Die drei christlich-dogmatischen Zwangsvorstellungen der Erbsünde, der Beichte und der Selbstopferung, die, wie wir gesehen haben, sein Theater von der ersten bis zur letzten Zeile erfüllen, sind nicht das einzige Anzeichen seiner Mystik. Diese verräth sich noch durch eine ganze Reihe anderer Eigenthümlichkeiten, welche kurz nachgewiesen werden sollen. Obenan steht unter ihnen die verblüffend chaotische Beschaffenheit seines Denkens. Man traut seinen Augen nicht, wenn man liest, daß seine Lobhudler sich erdreistet haben, ihn gerade wegen der „Klarheit“ und „Schärfe“ seines Denkens zu rühmen! Rechnen diese Leute denn darauf, daß nie ein Urtheilsfähiger eine Zeile von Ibsen lesen wird? Ein deutlich umrissener Gedanke ist bei Ibsen eine außerordentliche Seltenheit. Das schwimmt und wogt Alles nebelig formlos | durch [] einander, wie wir es bei gehirnschwachen Entarteten gewohnt sind. Und wenn er einmal mit Mühe und Noth Etwas hat fassen und einigermaßen verständlich ausdrücken können, so beeilt er sich unfehlbar, wenige Seiten später, oder doch in einem folgenden Stücke, das genaue Gegentheil davon zu sagen. Man spricht von Ibsens „Ideen über Sittlichkeit“ und von seiner „Philosophie“. Er hat keinen einzigen Satz über Sittlichkeit, keine einzige Anschauung von Welt und Leben gebildet, ohne sich selbst entweder zu widerlegen oder treffend zu verspotten. Er scheint freie Liebe zu predigen und sein Lob der durch keine Selbstbeherrschung, keine Rücksicht auf Vertrag, Gesetz und Sitte gezügelten Unzucht machte ihn ja in den Augen eines Georg Brandes und ähnlicher Gönner der „Jugend, die sich ein bischen unterhalten will“, zu einem „Modernen Geist“. Frau Alving („Gespenster“, S. .) nennt es „ein Verbrechen“, daß Pastor Manders sie zurückgewiesen hat, als sie ihrem Mann entlaufen war und sich ihm an den Hals geworfen hatte. Dieselbe temperamentvolle Dame stößt ohne Weiteres Regine (S. –.) in die Arme ihres Sohnes, als dieser ihr in frechen Worten eröffnet, daß es ihm Vergnügen machen würde, sie zu besitzen. Und diese nämliche Frau Alving spricht in Ausdrücken tiefster sittlicher Entrüstung von ihrem verstorbenen Gatten als von

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einem „gefallenen Mann“ (S. .) und bezeichnet ihn vor dem Sohne nochmals als „einen gesunkenen Menschen“; (S. .) (in der Ursprache heißt es auch hier „et forfaldent“ Menneske, ein Beiwort, mit dem man gefallene Frauenzimmer zu bezeichnen pflegt), und weshalb? Weil er leichtfertige, freie Beziehungen zu Weibern gehabt hat! Ja: ist es nun nach Ibsens Meinung erlaubt oder ist es nicht erlaubt, der Fleischeslust zu fröhnen, so wie sie erwacht? Ist es erlaubt, wie kommt Frau Alving dazu, mit Verachtung von ihrem Gatten zu sprechen? Ist es nicht [] er-|laubt, wie wagte sie, sich Pastor Manders anzubieten und Regine mit dem eigenen Halbbruder zu verkuppeln? Oder gilt das Sittengesetz nur für den Mann und nicht für die Frau? Ein englisches Sprichwort sagt: „Was für die Gans Tunke ist, das ist auch für den Gänserich Tunke.“ Ibsen theilt sichtlich nicht die Meinung der Volksweisheit. Eine Frau, die von ihrem rechtmäßigen Gatten davonläuft und einem Geliebten folgt (Frau Elvsted und Ejlert Lövborg, „Hedda Gabler“), oder die einem Manne anbietet, in ein freies Verhältniß zu ihm zu treten, obgleich nichts die Beiden hindern würde, sich ohne Gethue und Gerede zu verheiraten wie andere vernünftige Steuerzahler auch (Frau Linden und Günther, „Nora“), solche Frauen haben den vollen Beifall und die Zuneigung Ibsens. Wenn aber ein Mann ein Mädchen verführt und für dessen weiteres Fortkommen freigebig sorgt (Werle und Gina, „Wildente“), oder wenn er sich mit einer verheirateten Frau einläßt (Konsul Bernick und die Schauspielerin Dorff, „Stützen der Gesellschaft“), so ist dies ein so schweres Verbrechen, daß der Schuldige für sein ganzes Leben gebrandmarkt bleibt und vom Dichter mit der Grausamkeit eines mittelalterlichen Henkers an den Schandpfahl genagelt wird. Derselbe Widerspruch drückt sich auch in einer andern, allgemeinern Form aus. Einmal tritt Ibsen mit grimmigem Ungestüm dafür ein, daß das Individuum nur „seinem eigenen Gesetze“, das heißt jeder seiner Launen, ja jedem seiner krankhaften Zwangs-Antriebe gehorche, daß er „sich auslebe“, wie die blödsinnige Phrase seiner Ausleger lautet. In „Stützen der Gesellschaft“ sagt Frl. Bernick zu Dina: (S. .) „Versprich mir, ihn“ (ihren Verlobten) „glücklich zu machen. Dina. Ich will nichts versprechen; ich hasse alle Versprechungen; alles muß kommen, wie Gott es will“. (Das heißt: wie der Augenblick es dem grillenhaften Kopf eingibt.) „Frl. Bernick. Ja, das muß es; bleibe du, wie du bist — wahr und treu ge[] gen | dich selbst. Dina. Das will ich, Tante.“ In „Rosmersholm“ sagt Rosmer (S. .) bewundernd von dem Lumpen Brendel: „Auf alle Fälle hat er den Muth gehabt, das Leben nach seinem eigenen Kopf zu leben. Mich dünkt, das ist doch auch nichts Geringes.“ In demselben Stücke klagt Rebekka: (S. .) „Rosmersholm hat mich gebrochen … Gänzlich zermalmt … Als ich kam, hatte ich einen so frischen, muthigen Willen. Jetzt hat ein fremdes Gesetz mich unterjocht.“ Und weiterhin: (S. .) „Es ist die Lebensanschauung des Geschlechts der Rosmers, … die meinen Willen angesteckt hat … Und ihn krank gemacht hat. Ihn geknechtet hat durch Gesetze, die früher nicht für mich galten.“ Aehnlich winselt Ejlert Lövborg in „Hedda Gabler“: (S. .) „Aber nun kommt noch das dazu, daß ich solch ein Leben

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nicht mehr leben mag. Nicht von Neuem. Den Lebensmuth und den Lebenstrotz  hat sie“ (Thea Elvsted mit ihrem sanften, liebenden Zwange) „in mir geknickt.“

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Ganz im Gegensatze zu diesen Anschauungen aber läßt Ibsen in „Gespenster“, als Regine ihr „Recht, sich auszuleben“ mit den Worten verkündet: (S. .) „Ich kann nicht hier draußen auf dem Lande bleiben und mich für kranke Leute abmühen … ein armes Mädchen muß seine Jugend ausnützen … ich habe auch Lebensfreudigkeit in mir, gnädige Frau“ — Frau Alving antworten: „Ja, leider.“ Dieses „leider“ ist verblüffend. Leider? Warum „leider“? Gehorcht Regine nicht ihrem „Gesetze“, wenn sie ihre „Lebensfreudigkeit“ befriedigt und, wie sie gleich darauf erklärt, (S. .) in das Freudenhaus für Matrosen geht, das Tischler Engstrand gründet? Wie kommt gerade Frau Alving dazu, dieses „leider“ auszusprechen, da sie ja auch ihrem „Gesetze gehorchte“, als sie sich Pastor Manders als Geliebte anbot, und da sie auch ihrem Sohne behilflich sein will, seinem „Gesetze zu gehorchen“, als er sein Auge auf Regine geworfen hat? Ibsen sieht eben in lichten Augenblicken ein, daß es sein Mißliches haben kann, | seinem „Gesetze zu gehorchen“, und dieses [] „leider“ der Frau Alving entfährt ihm wie ein Geständniß. In der „Wildente“ verspottet er sein eigenes Dogma aufs Ausgiebigste. Da ist ein Kandidat Molvig, der auch seinem „Gesetze gehorcht“. Dieses Gesetz schreibt ihm vor, nichts zu lernen, seinen Prüfungen auszuweichen und Nächte hindurch in den Wirthshäusern zu liegen. Der Spötter Relling nun behauptet: (S. .) „Es kommt über ihn wie eine Eingebung; dann muß ich mit ihm hinaus zum Bummeln; denn sehen Sie, der Kandidat Molvig ist dämonisch … Und dämonische Naturen sind nicht dazu geschaffen, auf geraden Beinen durch die Welt zu gehen; sie müssen mitunter hinaus auf Abwege.“ Und damit kein Zweifel darüber bestehe, wie Relling dies meint, erklärt er selbst später: (S. .) „Was zum Teufel soll das heißen, dämonisch? Natürlich nur dummes Zeug, das ich erfunden habe, um ihn am Leben zu erhalten. Hätte ich es nicht gethan, so wäre der arme, gutherzige Mensch schon vor vielen Jahren in Selbstverachtung und Verzweiflung untergegangen.“ Das ist die Wahrheit: Molvig ist ein erbärmlicher Schwächling, der seine Faulheit und Trunksucht nicht überwinden kann; er würde, sich selbst überlassen, sich als den Wicht erkennen, der er ist, und sich so tief verachten, wie er es verdient; da kommt aber Relling und nennt seine Charakterlosigkeit „dämonisch“ und nun hat das Kind einen schönen Namen, mit dem Molvig vor sich und den Anderen Staat machen kann. Ibsen thut ganz dasselbe wie sein Relling. Die Willensschwäche, die den gemeinen und erbärmlichen Trieben nicht zu widerstehen vermag, preist er als „den Willen, sich auszuleben“, als „Freiheit eines Geistes, der nur seinem eigenen Gesetze gehorcht“, und empfiehlt sie als einzige Lebensregel. Aber anders als Relling, weiß er meist nicht, daß er nur einen Betrug übt, den ich keineswegs — mit Relling — als einen frommen und mitleidigen ansehen kann, sondern | glaubt an seinen eigenen Schwindel. Freilich nur meistens. Nicht immer. [] Ab und zu, wie in der „Wildente“, erkennt er seine Verirrung und geißelt sie und seine innerste Empfindung ist von seiner Selbsttäuschungs-Phrase willensschwa-

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cher Entarteter so wenig beeinflußt, daß er unwillkürlich und unbewußt in allen seinen Erfindungen seinen tiefen Abscheu vor den Menschen verräth, die „ihrem eigenen Gesetze gehorchen, um sich auszuleben“. Er bestraft den Kammerherrn Alving in seinem Sohn und läßt ihn von seiner Witwe verwünschen, weil er „sich ausgelebt“ hat. Er rechnet es dem Konsul Bernick, dem Kaufmann Werle als Verbrechen an, daß sie „sich ausgelebt“ haben, jener, indem er seinen Schwager Johann für sich opferte und mit Frau Dorff fensterlte, dieser, indem er seine Schuld auf Ekdal abwälzte und Gina verführte. Er umgibt die verherrlichten Häupter von Rosmer und Rebekka mit einem Heiligenschein, weil sie nicht „sich auslebten“, sondern im Gegentheil „sich ausstarben“, wenn man mir den Ausdruck gestatten will, weil sie nicht „dem eigenen Gesetze“ gehorchten, sondern dem Gesetze der Anderen, dem allgemeinen Sittengesetze, das sie vernichtete. So oft eine seiner Personen im Sinne seiner Lehre handelte und that, was ihr angenehm war, ohne sich an Sitte und Gesetz zu kehren, empfindet sie solche Zerknirschung und Selbstqual, daß sie nicht ruhig und froh werden kann, ehe sie durch Beichte und Buße ihr Gewissen entlastet hat. Das „Sichausleben“ tritt bei Ibsen auch in der Gestalt eines schroffen Individualismus auf. Das Ich ist das einzige Wirkliche, daß Ich muß gepflegt und entfaltet werden, wie dies ja auch Barrès, unabhängig von Ibsen, predigt. Die erste Pflicht eines jeden Menschenwesens ist, seinem Ich gerecht zu werden, dessen Ansprüche zu befriedigen, ihm jede Rücksicht auf Andere zu opfern. Als Nora ihren Mann verlassen will, ruft dieser: (S. .) „Bedenkst du nicht, was die Leute dazu [] sagen | werden? Nora. Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich weiß nur, daß es für mich nothwendig ist. Helmer. O, es ist empörend! So kannst du dich über deine heiligsten Pflichten hinwegsetzen? Nora. Was hältst du für meine heiligsten Pflichten? Helmer … Sind es nicht die Pflichten gegen deinen Mann und deine Kinder? Nora. Ich habe andere eben so heilige Pflichten. Helmer … Welche denn? Nora. Die Pflichten gegen mich selbst. Helmer. Vor Allem bist du Gattin und Mutter. Nora. Das glaub’ ich nicht mehr. Ich glaube, vor Allem bin ich ein menschlich Wesen — eben so wie du — oder will es wenigstens zu werden suchen.“ In „Gespenster“ sagt Oswald mit triumphirender Rohheit zu seiner Mutter: (S. .) „Ich kann mich nicht so viel mit Anderen beschäftigen; ich habe genug mit mir selbst zu thun.“ Wie in demselben Stücke Regine ihr Ich und dessen Rechte betont, das haben wir schon oben gesehen. Im „Volksfeind“ verkündet Stockmann das Recht des Ichs gegenüber der Mehrheit, gegenüber der Gattung mit diesen Worten: (S. .) „Sie ist eine häßliche Lüge …, die Lehre, daß die Menge, der Haufe, die Masse der Kern des Volkes sei — ja, daß sie das Volk selbst sei — daß der gemeine Mann, dieser unser unwissender, geistig unreifer Mitbruder dasselbe Recht besitze, ein Urtheil abzugeben, zu herrschen und zu regieren, wie die wenigen geistig Vornehmen und Freien.“ Und: (S. .) „Ich will den noch unentwickelten Köpfen begreiflich machen, daß die Liberalen die ärgsten Feinde jedes freien Manns sind, … daß das ewige Rücksichtnehmen Moral und Gerechtigkeit auf den Kopf

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stellt, so daß einem schließlich das Leben zur Hölle wird … Jetzt bin ich der stärkste Mann der Welt … Seht ihr, die Sache ist die: der stärkste Mann der Welt ist derjenige, welcher allein steht.“ Aber ganz derselbe Stockmann, der nichts von der „Menge, dem Haufen, der Masse“, wie er mit unleidlichem Wortschwall sagt, wissen will, der sein Ich nur in majestätischer | Einsamkeit mächtig fühlt, nennt [] (S. .) seine Mitbürger „Feiglinge, weil alle nur an sich und ihre Familie und nicht an die Allgemeinheit denken.“ Und in derselben „Nora“, in welcher Ibsen diesem Weibe sichtlich so entschieden zustimmt, wenn sie erklärt, sie habe nur „Pflichten gegen sich selbst“ und könne „auf Niemand anders Rücksicht nehmen“, auch nicht auf Mann und Kind, brandmarkt er ihren Gatten Helmer als jämmerlichen Schwachmattikus, weil er bei ihrem Geständniß der Wechselfälschung zunächst nur an seinen Leumund, also an die „Pflicht gegen sich selbst“, denkt und nur auf sich Rücksicht nimmt, nicht aber auf sein Weib! Hier wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie bei Ibsens Anschauungen von Geschlechts-Sittlichkeit. Unzucht ist beim Mann ein Verbrechen und nur dem Weibe gestattet. Ebenso ist die schroffe Betonung des Ichs nur beim Weib ein Verdienst. Der Mann hat nicht das Recht, selbstsüchtig zu sein. Wie verspottet Ibsen die Selbstsucht z. B. bei Bernick in „Stützen der Gesellschaft“, wenn er diesen (S. .) von seiner Frau naiv sagen läßt, er wolle sie „unbedeutend“ haben; „in einem großen Hause wie dem unsern ists immer gut, eine solche schlichte Persönlichkeit zu haben … Johann. Ja, aber sie — ? Bernick. Sie? Wieso? … es fehlt ihr doch nicht an Personen, für die sie sich interessiren kann! Sie hat ja mich und Betty und Olaf und mich! Der Mensch darf nicht in erster Linie an sich selbst denken, und am allerwenigsten die Frau.“ Und wie hart läßt Ibsen die Selbstsucht des Gatten der Frau Elvsted (in „Hedda Gabler“) verdammen, indem er ihr die bitteren Worte in den Mund legt: (S. .) „Er hat gewiß Niemand weiter lieb als sich selbst. Und vielleicht die Kinder ein wenig.“ Aber das Merkwürdigste ist, daß dieser Philosoph des Individualismus die Selbstsucht nicht nur beim Mann ausdrücklich als ein niedriges Laster verurtheilt, sondern daß er unbewußt auch beim Weibe die höchste Selbstlosigkeit als engel-|hafte Vollkommenheit bewundert. „Die heiligste Pflicht ist die gegen mich [] selbst“, prahlt er großmäulig in „Nora.“ Und die einzigen rührenden und liebenswürdigen Gestalten, die diesem unbeugsamen Individualisten gelingen, sind doch die heiligen Frauen, die nur für Andere leben und sterben, diese Hedwigs, Frl. Bernicks, Frl. Hessels, Tanten Tesman u. s. w., die nie an ihr Ich denken, sondern die Opferung aller ihrer Triebe und Wünsche für das Glück Anderer zu ihrer einzigen Aufgabe auf Erden machen! Dieser bis zur Lächerlichkeit heftige Widerspruch erklärt sich aber sehr gut aus der Geistesbeschaffenheit Ibsens. Seine mystischreligiöse Zwangsvorstellung von der freiwilligen Selbstopferung für Andere ist nothwendig stärker als seine ausgeklügelte After-Philosophie des Individualismus. Zu den „sittlichen Gedanken“ Ibsens rechnet man auch seinen angeblichen Wahrheitsdrang. Phrasen wenigstens macht er über diesen genug. „Denke dir nur“, sagt Helmer in „Nora“, (S. .) „wie ein solcher schuldbewußter Mann überall

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lügen und heucheln und sich verstellen muß, wie er seinen Nächsten, ja sogar Weib und Kindern gegenüber die Maske anlegen muß. Und den eigenen Kindern gegenüber — das ist das Schrecklichste; … weil ein solcher Dunstkreis von Lüge Krankheitsstoff in eine ganze Familie bringt.“ „Ist denn keine Stimme in Ihrem Mutterherzen, die Ihnen verbietet, die Ideale Ihres Sohnes zu zertrümmern?“ fragt Pastor Manders in „Gespenster“, (S. .) als Frau Alving die „Unsittlichkeit“ ihres verstorbenen Gatten dem Sohne enthüllt hat. Darauf erwidert Frau Alving großartig: „Und was wird dann aus der Wahrheit?“ In „Stützen der Gesellschaft“ predigt Frl. Hessel dem Konsul Bernick: (S. .) „Geschah es auch aus Rücksicht auf die Gesellschaft, daß du während dieser fünfzehn Jahre der Lüge treu bliebst? … Bernick. Meiner Lüge? … Und das nennst du — Frl. Hessel. Eine Lüge. Eine dreifache [] Lüge. Erst die Lüge gegen dich, dann die Lüge wider Betty, | und endlich die Lüge gegen Johann … Regt sich nichts in dir, das die Lüge abschütteln möchte? Bernick. Ich sollte freiwillig mein Familienglück und meine Stellung in der Gesellschaft opfern? Frl. Hessel. Welches Recht hast du auf dein Glück?“ Und weiterhin: (S. .) „Eine Lüge hat dich zu dem Mann gemacht, der du jetzt bist. Bernick. Wem schadete das damals? Frl. Hessel. Du fragst, wem es schadete? Schau in dein Inneres und sage mir, ob du keinen Schaden dabei genommen.“ Bernick geht denn auch in sich und kurz vor seiner Beichte findet ein sehr erbauliches Gespräch zwischen ihm und seinem strengen Gewissensrath statt: (S. .) „Bernick. Ja ja ja; das alles kommt von der Lüge. Frl. Hessel. Warum brichst du denn nicht mit der Lüge? … Welche Befriedigung gewähren dir diese Täuschung und dieser Schein? Bernick. Mein Sohn ist es, für den ich arbeite … Es wird eine Zeit kommen, wo die Wahrheit in das gesellschaftliche Leben eindringt und auf ihr wird er sich eine glücklichere Existenz gründen, als die seines Vaters war. Frl. Hessel. Mit einer Lüge als Grundlage? Bedenke welch ein Erbe du deinem Sohne hinterläßt!“ In „Stützen der Gesellschaft“ führt die Familie Stockmann fortwährend die Wahrheit im Munde. „Ja, ja“, deklamirt Petra, (S. .) „Unwahrheit zu Hause und in der Schule. Im Hause darf man nicht reden und in der Schule muß man die Kinder belügen … Ja; bedenken Sie denn nicht, daß wir mancherlei sagen müssen, an das wir selbst nicht glauben? … Hätte ich nur die Mittel, so würde ich selbst eine Schule errichten und darin sollt’ es anders zugehen.“ Das tapfere Mädchen überwirft sich wegen seiner Unwahrhaftigkeit mit einem Redakteur, der Eheabsichten hatte: (S. .) „Was ich Ihnen verüble, ist, daß Sie gegen meinen Vater nicht ehrlich gewesen sind. Wenn man Sie reden hörte, mußte man glauben, die Wahrheit und das Gemeinwohl gin[] gen Ihnen über Alles … Sie sind nicht der Mann, für den Sie sich aus-|gaben. Und das verzeih’ ich Ihnen nie.“ „Unser ganzes aufblühendes Gesellschaftsleben“, ruft Vater Stockmann seinerseits, (S. .) „zieht seine Nahrung aus einer Lüge.“ Und später: (S. .) „Ich liebe meine Vaterstadt so sehr, daß ich sie lieber ruiniren will, als sie auf einer Lüge emporblühen zu sehen … Ausgerottet müssen sie werden wie schädliche Thiere alle die, welche in der Lüge leben. Ihr verpestet schließlich das ganze Land, ihr bringt es noch dahin, daß auch dieses vernichtet zu werden ver-

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dient.“ Das wäre nun Alles gewiß sehr schön, wenn wir nicht wüßten, daß dieser glühende Wahrheitsdienst blos eine der Formen ist, in der die religiös-mystische Zwangsvorstellung vom Beicht-Sakrament in seinem Bewußtsein erscheint, und wenn Ibsen nicht nach seiner Gewohnheit dafür sorgte, jeden vorschnellen Glauben an die Aufrichtigkeit seiner Redensarten dadurch zu zerstören, daß er sie selbst verhöhnt. Im Gregor Werle der „Wildente“ hat er die beste Spottfigur auf seine Wahrheitsmenschen geschaffen. Gregor redet genau dieselbe Sprache wie Frl. Hessel, Petra Stockmann und ihr Vater, aber in seinem Munde soll sie Gelächter erregen. „Da sitzt er nun“, sagt Gregor von seinem Freunde Hjalmar, (S. .) „mit seiner großen, arglosen Kinderseele, er mitten im Betruge — lebt unter einem Dache zusammen mit einer solchen Person und weiß nicht, daß das, was er sein Heim nennt, sich auf einer Lüge aufbaut … Jetzt erblicke ich endlich einmal eine Lebensaufgabe.“ Sie besteht darin, Hjalmar den geistigen Staar zu stechen. Er thut dies auch. „Du bist in einen giftigen Sumpf gerathen“, sagt er ihm, (S. .) „du hast eine schleichende Krankheit in deinen Körper bekommen und bist auf den Grund gegangen, um im Dunkel zu sterben … Sei nur ruhig, ich werde dich schon wieder emporzubringen suchen. Ich habe nämlich jetzt auch eine Lebensaufgabe erhalten … Hjalmar kann ich befreien aus all der Lüge und Verheimlichung, an welcher er im Begriff ist, zu Grunde zu | gehen.“ Der Spötter Relling leuchtet dem [] Idioten, der in der Erfüllung seiner „Lebensaufgabe“ Hjalmar mit seiner Frau verunfriedet, sein behagliches Heim stört und Hedwig in den Tod treibt, gebührend heim. „Sie leiden am Rech[t]schaffenheits-Fieber“, sagt er ihm; (S. .) „ich sorge dafür, die Lebenslüge in Hjalmar aufrecht zu erhalten. Gregor. Lebenslüge? Ich hörte wohl nicht recht? Relling. Ja, ich sagte die Lebenslüge; denn die Lebenslüge ist das stimulirende Prinzip, sehen Sie … Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nehmen Sie ihm gleichzeitig das Glück.“ Was ist nun Ibsens wirkliche Meinung? Soll man nach Wahrheit streben oder in Lüge schmoren? Ist er mit Stockmann oder mit Relling? Die Antwort auf diese Fragen bleibt Ibsen schuldig oder vielmehr er bejaht und verneint sie mit gleichem Eifer und gleicher dichterischer Kraft. Ein anderer „sittlicher Gedanke“ Ibsens, über den von seinen Chorknaben mit am meisten geschwatzt wurde, ist der von der „wahren Ehe.“ Es ist allerdings nicht leicht, herauszubekommen, was sein mystisches Gehirn sich unter diesen geheimnißvollen Worten denkt, aber man kann doch versuchen, es aus hundert dunkeln Andeutungen seines Theaters zu errathen. Er scheint es nicht zu billigen, daß die Frau die Ehe als eine bloße Versorgung betrachte. Fast in allen Stücken kommt er mit der ihm eigenen Eintönigkeit darauf zurück. In „Stützen der Gesellschaft“ schreibt sich das ganze Lebensunglück der Frau Alving daher, daß sie den Kammerherrn um seines Geldes willen geheiratet, daß sie sich verkauft hat. „Die Summen, die ich diesem Asyl geschenkt, machen jenen Betrag aus, welcher seiner Zeit Alving zu einer guten Partie machte. Das war die Kaufsumme. Ich will nicht, daß jenes Geld in Oswalds Hände übergehe“. (S. .) In der „Frau vom Meer“ singt

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Ellida dasselbe Lied: (S. .) „Es konnte nur zum Unglück führen; nach der Art und Weise, wie wir beide zusammen-|kamen … Es führt zu nichts, daß wir uns selbst und — einander noch länger belügen … Ja, das thun wir. Oder auf alle Fälle verschweigen wir die Wahrheit. Denn die Wahrheit … ist doch, daß du hinauskamst und mich kauftest … Ich war nicht um ein Haar besser als du. Ich schlug ein. Ich verkaufte mich dir … Ich stand so hilflos und rathlos und so ganz verlassen da. Es war so natürlich, daß ich einschlug, als du kamst und dich erbotest, mich auf Lebenszeit zu versorgen.“ Ungefähr mit denselben Worten sagt Hedda: („Hedda Gabler“, S. .) „Als er dann so mit aller Gewalt darauf ausging, mich versorgen zu wollen — ich weiß nicht, weshalb ich es nicht hätte annehmen sollen?“ Sie weiß nicht weshalb; aber ihre innere Zerfahrenheit und Rastlosigkeit, ihr schließlicher Selbstmord sind die Folge davon, daß sie sich hat „versorgen“ lassen. Die Rücksicht auf die „Versorgung“ ist auch das Lebensunglück einer andern Frau desselben Stückes, der Frau Elvsted, geworden. Sie ging ursprünglich (S. .) „als Gouvernante in das Haus ihres spätern Gatten.“ Dann mußte sie sich des Haushalts annehmen. Dann ließ sie sich heiraten, obschon ihr „Alles an ihrem Mann widerlich“ ist und sie „nicht einen gemeinsamen Gedanken mit ihm hat.“ Ibsen verdammt den Mann, der um Geldes willen heiratet, nicht weniger als die Frau, die sich „versorgen“ läßt. Bernicks sittlicher Verfall („Stützen der Gesellschaft“, S. .) rührt mit am Meisten daher, daß er nicht Frl. Hessel, das er liebte, sondern eine Andere heiratete. „Nicht einer neuen Neigung wegen brach ich mit dir. Es geschah einfach des Geldes halber.“ Man soll also nicht um eines Vortheils willen heiraten. Das ist ein Satz, mit dem jeder verständige und sittliche Mensch sich eifrig einverstanden erklären wird. Weshalb soll man aber heiraten? Die vernünftige Antwort kann doch nur sein: „Aus Neigung!“ Das will jedoch Ibsen auch nicht. Die Ehe von Nora und Helmer [] ist eine reine Liebesheirat. Sie führt zu | einem jähen Bruch. Wangel („Die Frau vom Meer“) hat Ellida gleichfalls aus Neigung heimgeführt. Sie stellt es ausdrücklich fest: (S. .) „Du hattest mich nur gesehen und ein paarmal mit mir gesprochen. Dann begann ich dir zu gefallen und da …“ Und da fühlt sie sich ihm fremd und will von ihm gehen. Also: Frau Alving, Ellida Wangel, Hedda Gabler, Frau Elvsted heiraten aus Eigennutz und büßen darüber ihr Lebensglück ein. Nora heiratet aus Liebe und wird tief unglücklich. Konsul Bernick heiratet ein Mädchen, weil es reich ist, und bezahlt diese Schuld mit sittlichem Untergang. Dr. Wangel heiratet ein Mädchen, weil es ihm gefällt, und zum Lohne dafür will sie sein Heim und ihn verlassen. Was soll man daraus schließen? Daß die Vernunftheirat schlecht ist und die Liebesheirat nicht besser? Daß die Ehe überhaupt nichts taugt und abgeschafft werden sollte? Das wäre wenigstens eine Folgerung und Lösung. Es ist nicht die, zu der Ibsen gelangt. Die Neigung allein thut es nicht, selbst wenn sie, wie im Falle Noras, gegenseitig ist. Noch etwas Anderes ist nothwendig: der Mann muß der Erzieher seiner Frau werden. Er muß sie geistig fördern. Er muß sie an allen seinen Angelegenheiten theilnehmen lassen, sie zu seiner gleichberechtigten []

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Genossin machen, unbedingtes Vertrauen zu ihr haben. Sonst bleibt sie ewig eine Fremde in ihrem Hause. Sonst ist die Ehe keine „wahre Ehe.“ „Ich habe kein Recht, meinen Mann allein und ganz für mich in Anspruch zu nehmen“, bekennt Ellida, („Frau vom Meer“, S. .) „ich selbst lebe ja auch in etwas, wovon die Anderen ausgeschlossen sind.“ In demselben Stücke klagt Wangel sich an: (S. .) „Ich hätte ihr ein Vater sein sollen und ein Führer zugleich. Ich hätte mein Bestes thun sollen, ihr Gedankenleben zu entwickeln und zu klären. Aber daraus ist leider nie etwas geworden … Denn am liebsten wollte ich sie so, wie sie war.“ Bernick („Stützen der Gesellschaft“, S. .) rühmt an seiner Frau, daß sie „ganz unbedeutend“ ist, | aber: „Ich wünsche sie überhaupt nicht anders. Du weißt, in einem großen Hause [] wie dem unsern ists immer gut, eine solche schlichte Persönlichkeit zu haben.“ Frau Bernick klagt: (S. .) „Viele Jahre hindurch glaubte ich, ich hätte dich einst besessen und wieder verloren. Jetzt weiß ich, daß ich dich nie besessen habe“, und Frl. Hessel zieht die Lehre aus der Geschichte: (S. .) „Und bedenkst du nicht, was sie dir hätte werden können? … Bernick. Jedenfall weiß ich, daß sie mir nicht geworden ist, wonach ich verlangte. Frl. Hessel. Weil du nie deine Lebensaufgabe mit ihr getheilt hast, — weil du sie nie in ein wahres und freies Verhältniß zu dir gestellt hast.“ In „Rosmersholm“ hat Rektor Kroll seine Frau nach derselben Methode behandelt: er hat sie geistig unterdrückt und ist schmerzlich überrascht, als sie sich schließlich gegen den lichtlöschenden Haustyrannen auflehnt: (S. .) „Sie, die Zeit ihres Lebens, sowohl im Großen wie im Kleinen, meine Ansichten getheilt und meine Anschauungen gebilligt hat, sie neigt jetzt in manchen Stücken auf die Seite der Kinder. Und dann gibt sie mir die Schuld für das, was geschehen ist. Sie sagt, ich wirke unterdrückend auf die Jugend. Gerade als ob das nicht nothwendig wäre! Nun, so habe ich denn Unfrieden im Hause. Aber ich spreche natürlich so wenig wie möglich davon. So unterdrückt man am besten.“ Auch damit wird man sich voll einverstanden erklären: gewiß soll die Ehe nicht blos ein Bund der Leiber, sondern auch eine Gemeinschaft der Seelen sein; gewiß soll der Mann das Weib geistig fördern und erziehen, obschon, um es gleich zu bemerken, diese von Ibsen dem Manne mit Recht zugewiesene Rolle des Lehrers und Vormunds die von ihm ebenfalls geforderte volle geistige Gleichstellung beider Ehegatten entschieden ausschließt. Aber wie paßt es zu diesen Anschauungen von dem richtigen Verhältnisse des Mannes zur Frau, wenn Nora zu ihrem Gatten sagt: (S. .) „Ich muß mich selbst zu erziehen suchen. Dabei vermagst du mir nicht zu helfen. Ich | muß mich allein damit befassen. Und darum verlasse ich dich jetzt. [] Ich muß lediglich auf mich selbst angewiesen sein …“? Da reibt man sich die Augen und fragt sich, ob man richtig gelesen hat. Was ist nun die Pflicht des Gatten in der „wahren Ehe“? Soll er sein Weib geistig fördern? Wangel, Frau Bernick, Frl. Hessel, Frau Kroll behaupten es. Aber Nora leugnet es wild und stößt jede Hilfe zurück. Farà da se! Sie will sich allein erziehen und bilden! Macht schon dieser Widerspruch vollständig irre, so narrt Ibsen die Bedauernswerthen, die sich bei ihm sittliche Regeln holen möchten, vollends, indem er nach seiner Gewohnheit

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

in der „Wildente“ Alles verhöhnt, was er in sämmtlichen übrigen Stücken über die „wahre Ehe“ gepredigt hat. Dort entspinnt sich (S. .) zwischen dem bösartigen Idioten Gregor und dem Spottvogel Relling ein köstliches Gespräch. „Gregor. Ich will den Grund zu einer wahren Ehe legen. Relling. So finden Sie nicht, Ekdals Ehe sei gut genug so, wie sie ist? Gregor. Es ist gewiß eine gerade so gute Ehe wie leider so viele andere. Aber zu einer wahren Ehe ist es noch nicht gekommen. Hjalmar. Du hast niemals ein Verständniß für die ideale Forderung gehabt, Relling. Relling. Dummes Zeug, mein Lieber. Mit Verlaub, Herr Werle, wie viel … wahre Ehen haben Sie in Ihrem Leben schon kennen gelernt? Gregor. Ich glaube, keine einzige. Relling. Ich auch nicht.“ Und noch einschneidender ist der Spott, der aus Hjalmars Worten hervorgeht: (S. .) „Es hat etwas so Peinliches, sich zu denken, daß jetzt nicht ich, sondern er“ (der alte Werle) „die wahre Ehe verwirklicht … Dein Vater und Frau Sörby gehen ja nun eine Ehe ein, welche auf volles Vertrauen gegründet ist; gegründet auf volle und ganze Offenherzigkeit von beiden Seiten; sie verbergen vor einander nichts; es gibt kein Geheimniß in ihrem Verhältniß; es findet zwischen ihnen, wenn ich mich so ausdrücken darf,“ (!) „eine gegenseitige Verzeihung [] der Sünden | statt.“ Also: eine „wahre Ehe“ hat noch Niemand sein Lebtag gesehen und wenn das Wunder sich doch einmal ereignet, so vollzieht es sich an Herrn Werle und Frau Sörby, an Herrn Werle, der seiner Gattin bekennt, daß er Mädchen verführt und alte Freunde für sich ins Zuchthaus geschickt hat, und an Frau Sörby, die ihrem Mann eröffnet, daß sie früher Verhältnisse zu allen möglichen Leuten gehabt hat. Das ist eine schale Nachahmung des Auftritts in Dostojewskis „Raskolnikow“, wo der Mörder und die Freudendirne ihre beiden besudelten und gebrochenen Leben nach zerknirschtem Bekenntnisse vereinigen, nur ist das Treibende des Auftrittes seiner düstern Großartigkeit entkleidet und ins Lächerliche und Gemeine herabgezerrt. Wenn bei Ibsen die Frauen zur Entdeckung gelangen, daß sie nicht in der „wahren Ehe“ leben, so wird ihr Gatte plötzlich ein „fremder Mann“ für sie und sie verlassen ohne Weiteres ihr Haus und ihre Kinder, die einen, wie Nora, um „nach ihrem Geburtsorte zu gehen, wo es ihr leichter werden wird, auf die eine oder andere Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen“, die anderen, wie Ellida in der „Frau vom Meere“, ohne sich einen Gedanken darüber zu machen, was weiter werden soll, die dritten, wie Frau Alving in „Gespenster“ und Frau Elvsted in „Hedda Gabler“, um spornstreichs zu einem Geliebten zu laufen und sich ihm an den Hals zu werfen. Auch dieser Abgang ist von Ibsen in vorzüglicher Weise parodirt worden, und zwar doppelt grotesk, weil die lächerliche Rolle des tragischen Durchgängers einem Manne zugetheilt ist. „Ich muß hinaus“, deklamirt Hjalmar („Wildente“, S. .) „in den Sturm und das Schneegestöber — von Haus zu Haus gehen und Obdach suchen für Vater und mich.“ Und er geht wirklich, aber natürlich nur, um am nächsten Tag mit gesunkenem Hahnenkamm heimzukommen und herzhaft zu frühstücken. Man braucht gegen den Blödsinn der hochtrabenden [] Nora-Abgänge, die das Evangelium aller Hysteriker beider Ge-|schlechter geworden

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 sind, wirklich nichts mehr zu sagen, da Ibsen selbst uns dieser Mühe enthoben

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hat, indem er seinen Hjalmar schuf. Wir sind mit Ibsens Faseleien über die Ehe noch nicht fertig. Er scheint zu verlangen, daß kein Mädchen heirate, ehe es ein voll ausgereiftes Menschenwesen ist, Lebenserfahrung besitzt und Kenntniß der Welt und der Menschen erlangt hat: (Nora, S. ) „Wie bin ich darauf vorbereitet, die Kinder zu erziehen? … Der Aufgabe bin ich nicht gewachsen. Ich muß mich selbst zu erziehen suchen … Ich kann mich nicht mehr damit begnügen, was die meisten Menschen sagen und was in den Büchern steht … Helmer … Du verstehst die Gesellschaft nicht, in der du lebst. Nora. Das thu’ ich auch nicht. Aber nun will ich sie kennen lernen.“ Die nöthige Reife erwirbt ein Mädchen am besten, indem es abenteuert, möglichst viel Leute nahe kennen lernt, womöglich es mit einigen Männern versucht, ehe es sich endgiltig bindet. Richtig für die Ehe vorbereitet ist ein Mädchen, wenn es ein ehrbares Alter erreicht, einigen Haushaltungen vorgestanden, wohl auch etliche Kindchen geboren und derart sich und Anderen bewiesen hat, daß es Hausfrau und Mutter zu sein versteht. Ibsen sagt dies nicht ausdrücklich, aber es ist der einzige vernünftige Schluß, zu dem man nach seinem ganzen Theater gelangen kann. Der große Reformator ahnt nicht, daß er Etwas predigt, was die Menschheit längst versucht und als unpassend oder nicht mehr passend verworfen hat. Die Probeehe auf kürzere oder längere Zeit, die Bevorzugung von Bräuten mit reicher Liebeserfahrung und etlichen Kindern, das ist Alles schon dagewesen. Ibsen kann darüber bei seinem halben Landsmann, dem Helsingforser Professor Westermarck, alles Nöthige erfahren. Aber er wäre kein | Entarteter, wenn er nicht ein Zurückkehren zu den [] ältesten, längst überwundenen Zuständen für einen Fortschritt, die ferne Vergangenheit für Zukunft halten würde. Fassen wir seinen Ehe-Kanon zusammen, wie er sich aus seinem Theater ergibt. Man soll nicht um eines Vortheils willen heiraten. (Hedda, Frau Alving, Bernick u. s. w.) Man soll nicht aus Liebe heiraten. (Nora, Wangel.) Eine Vernunftehe ist keine wahre Ehe. Aber zu heiraten, weil man einander gefällt, taugt auch nichts. Man soll einander erst gründlich kennen lernen, um mit voller Billigung der Vernunft in die Ehe zu treten. (Ellida.) Der Mann soll der Frau ein Lehrer und Erzieher sein. (Wangel, Bernick.) Die Frau soll sich vom Manne nicht erziehen und belehren lassen, sondern die nöthigen Kenntnisse ganz allein erlangen. (Nora.) Entdeckt die Frau, daß ihre Ehe keine „wahre“ ist, so geht sie von dem Manne, denn er ist ein Fremder. (Nora, Ellida.) Sie geht auch von ihren Kindern, denn Kinder, die sie von einem Fremden hat, können natürlich auch nur fremde Kinder sein. Sie muß aber gleichzeitig beim Manne bleiben und versuchen, ihn von einem Fremden zu einem eigenen Manne zu machen. (Frau Bernick.) Die Ehe ist nicht

 Edward Westermarck, The History of Human Marriage. London, , Macmillan. Siehe besonders die beiden Abschnitte über „die Formen der menschlichen Ehe“ und „die Dauer der  Ehe.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

dazu bestimmt, zwei Wesen dauernd zu verknüpfen. Wenn ihnen etwas an einander nicht paßt, so geben sie den Ring zurück und gehen jedes seiner Wege. (Nora, Frau Alving, Ellida, Frau Elvsted.) Wenn ein Mann ein Weib verläßt, so begeht er ein schweres Verbrechen. (Bernick, Werle.) Und Alles in Allem gibt es überhaupt keine wahre Ehe. (Relling.) Das ist Ibsens Lehre von der Ehe. Sie läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Sie reicht vollständig aus, um die Diagnose von Ibsens Geisteszustand zu stellen. Seine Mystik offenbart sich, von seinen religiösen Zwangsvorstellungen und von seinen verblüffenden Widersprüchen abgesehen, auf Schritt und Tritt auch in [] Absurditäten, deren ein | gesunder Verstand gänzlich unfähig wäre. Wir haben gesehen, daß Ellida in der „Frau vom Meer“ von ihrem Manne gehen will, weil ihre Ehe keine wahre Ehe und weil der Gatte ihr ein Fremder ist. Warum ist er ihr ein Fremder? Weil er sie geheiratet hat, ohne daß sie einander näher kannten. „Du hattest mich nur gesehen und ein paarmal mit mir gesprochen.“ (S. .) Sie hätte sich nicht versorgen lassen sollen. „Lieber die armseligste Arbeit, lieber die elendesten Verhältnisse, aus freiem Willen, aus freier Wahl.“ Hieraus kann doch vernünftig nur geschlossen werden, daß Ellida der Meinung ist, eine wahre Ehe sei nur möglich, wenn man den Bräutigam genau kennt und wenn man ihn in voller Freiheit wählt. Sie ist überzeugt, daß diese Bedingungen bei ihrem ersten Verlobten gegeben waren. „Die erste, die hätte eine ganze und reine Ehe werden können.“ Nun sagt aber dieselbe Ellida wenige Seiten vorher (S.  ff.), daß sie von diesem Verlobten nicht das Geringste gewußt habe; sie kannte nicht einmal seinen Namen, wie er denn im Stück bezeichnender Weise nur „der Fremde“ genannt wird. (Wangel: Was weißt du … von ihm? Ellida. Weiter nichts, als daß er früh zur See gegangen war. Und daß er lange Reisen gemacht hatte. Wangel. Sonst gar nichts? Ellida. Nein. Wir kamen nie dazu, von dergleichen zu sprechen. Wangel. Wovon spracht ihr denn? Ellida. Vom Meer!!“) Und sie verlobte sich mit ihm, „weil er sagte, daß ich es thun müsse. Wangel. Müsse? Hattest du denn selbst keinen Willen? Ellida. Nicht, wenn er in der Nähe war.“ Also: Ellida muß Dr. Wangel verlassen, weil sie ihn vor der Hochzeit nicht recht gekannt hat, und sie muß zum „Fremden“ gehen, von dem sie gar nichts weiß. Ihre Ehe mit Dr. Wangel ist keine, weil sie sie nicht mit voller Willensfreiheit eingegangen ist, aber die Ehe mit dem „Fremden“ wird eine „ganze und reine“ sein, obschon sie bei ihrer Verlobung mit ihm „keinen [] Willen hatte.“ Es ist eigent-|lich tief beschämend, daß man nach diesem Beispiel tiefer Verwirrtheit noch mehr Worte über den Geisteszustand eines Menschen verlieren muß. Aber da dieser Mensch von Narren und Fanatikern der Welt als großer Sittenlehrer und Zukunftsdichter aufgeschwindelt wird, darf der psychiatrische Beobachter sich die Arbeit nicht ersparen, auch noch auf seine anderen Absurditäten hinzuweisen. In derselben „Frau vom Meer“ gibt Ellida ihren Entschluß, ihren Gatten Wangel zu verlassen und mit dem „Fremden“ zu gehen, sofort auf, als Wangel ihr mit „schmerzerfülltem Herzen“ sagt: „Jetzt kannst du deinen Weg wählen. In voller

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Freiheit.“ Sie bleibt nun bei Wangel. Sie wählt ihn. „Woher kam die Wandlung?“ fragt Wangel und fragt der Leser mit ihm. „O begreifst du denn nicht,“ antwortet Ellida schwärmend, „daß die Wandlung kam, daß die Wandlung kommen mußte, als ich in Freiheit wählen durfte!“ (S. .) Diese zweite Wahl soll also einen Gegensatz zu der ersten, als Ellida sich mit Wangel verlobte, darstellen. Es sind aber alle Bedingungen, alle ohne Ausnahme, dieselben geblieben. Ellida ist jetzt frei, weil Wangel sie ausdrücklich freigibt; sie war aber damals noch freier, da Wangel noch gar keine Rechte auf sie hatte, also sie nicht erst freizugeben brauchte. Ein äußerer Zwang wurde bei der Verlobung ebenso wenig auf sie geübt wie später, in der Ehe. Ihr Entschluß hing damals wie jetzt ausschließlich von ihr selbst ab. Wenn sie sich bei der Verlobung unfrei fühlte, so war es nach ihrer eigenen Erklärung, weil sie damals arm war und sich von der Versorgung locken ließ. Aber daran hat sich nichts geändert. Sie hat seit ihrer Verheiratung keine Erbschaft gemacht, so viel wir von Ibsen wissen. Sie ist so arm, wie sie je gewesen. Wenn sie Wangel verläßt, kehrt sie in dieselbe wirthschaftliche Gedrücktheit zurück, die sie als Mädchen unleidlich gefunden. Wem sie bei ihm bleibt, ist sie ebenso versorgt, wie sie zu | werden hoffte, als sie sich mit ihm verlobte. Wo ist also der Gegensatz zwischen [] der damaligen Unfreiheit und der jetzigen Freiheit, der die Wandlung erklären soll? Er ist nicht vorhanden. Er besteht blos im irren Denken Ibsens. Wenn die ganze Seeräubergeschichte von Ellida, Wangel und dem Fremden etwas bedeuten oder beweisen soll, so kann es nur das sein, daß eine Frau erst einige Jahre lang mit ihrem Mann zur Probe leben muß, ehe sie sich endgiltig binden kann, und daß es ihr nach Ablauf der Probezeit freistehen soll, zu gehen oder zu bleiben, damit ihre Entscheidung Werth habe. Der einzige Sinn des Stückes ist also ein Blödsinn — die Probeehe. Dieselbe Absurdität finden wir im Grundgedanken, in den Voraussetzungen und Folgerungen fast aller seiner Stücke wieder. In „Gespenster“ ist die Krankheit Oswald Alvings als eine Strafe für die Sünden seines Vaters und die sittliche Schwäche seiner Mutter, die aus Eigennutz einen ungeliebten Mann geheiratet hat, hingestellt. Nun ist aber Oswalds Zustand die Folge eines Uebels, das man sich ohne jede Verworfenheit zuziehen kann. Es ist eine alte thörichte Vorstellung augenverdrehender Mitglieder von Männerbünden gegen Unsittlichkeit, daß ansteckende Krankheit die Folge und Strafe von Ausschweifung ist. Aerzte wissen das besser. Sie kennen Hunderte, Tausende von Fällen, in welchen ein junger Mann für sein ganzes Leben vergiftet wurde, ohne daß er sich etwas anderes als eine nach den herrschenden Anschauungen läßliche Sünde hätte zu Schulden kommen lassen. Selbst die heilige Ehe schützt vor solchem Unglücke nicht, ganz abgesehen von jenen Fällen, in welchen Aerzte, Ammen u. s. w. die Krankheit in Erfüllung ihrer Berufspflicht, ohne jedes fleischliche Vergehen, erworben haben. Ibsens Faselei beweist also nichts von dem, was es nach seiner Einbildung beweisen soll. Kammerherr Alving konnte ein Scheusal von Sittenlosigkeit sein und brauchte darum weder selbst zu erkranken noch einen wahn-|sinnigen Sohn zu haben, und []

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der Sohn konnte wahnsinnig sein, ohne daß sein Vater schuldiger war als alle Männer, die bis zum Eintritt in die Ehe nicht keusch geblieben sind. Daß aber Ibsen nicht etwa ein Traktätlein zum Preise der Enthaltung hat schreiben wollen, das beweist er ja aufdringlich genug damit, daß er Frau Alving zu Pastor Manders laufen und den Sohn durch die Mutter mit der eigenen Schwester außerehelich verkuppeln läßt und daß er Oswald ein Loblied unehelicher Verhältnisse in den Mund legt, allerdings mit einer Begründung, die zum Unglaublichsten gehört, was man bei dem unglaublichen Ibsen antrifft. „Was sollen sie thun?“ hält Oswald dem entsetzten Pastor entgegen, (S. .) „ein armer, junger Künstler, ein armes, junges Mädchen — es kostet viel Geld, wenn man sich verheiraten will.“ Ich kann nur annehmen, daß der harmlose norwegische Kleinstädter nie ein „freies Verhältniß“ mit eigenen, leibhaftigen Augen gesehen und seine Vorstellung davon ganz und gar aus der Tiefe seines gegen die bestehende Ordnung anarchistisch vergrimmten Gemüthes gezogen hat. Wer in der Großstadt lebt und täglich Gelegenheit hat, in Dutzende, ja Hunderte freier Verhältnisse einen Einblick zu gewinnen, der wird über Ibsens kindliche Phantasien eines lüsternen Schuljungen in ein helles Gelächter ausbrechen. Die standesamtliche Eheschließung kostet in keinem Lande der Welt mehr als einige Nickel, sehr viel weniger als die erste Mahlzeit, die der Bursche dem Mädchen vorsetzt, wenn er es überredet hat, zu ihm zu ziehen, und die kirchliche kostet nicht nur nichts, sondern bringt dem Ehepaar noch ein Geschenk an Baargeld, Kleidungsstücken und Hausrath ein, wenn es unzart genug ist, es anzunehmen. Es gibt überall fromme Vereine, die viel Geld daran wenden, wilde Verhältnisse in den ehrbaren Formen zu befestigen. Wenn Leute sich ohne Standesamt und Priester zusammenthun, so ist es wohl niemals, um die Kosten der Ehe[] schließung zu sparen, sondern | entweder aus sträflichem Leichtsinn, oder weil er oder sie den Hintergedanken hat, sich nicht zu binden, sondern sich etwas Angenehmes ohne Uebernahme von ernsten Pflichten anzuthun, oder endlich in den wenigen Fällen, die ein sittlicher Mensch billigen oder mindestens entschuldigen kann, weil auf einer oder der andern Seite ein gesetzliches Hinderniß obwaltet, über das die Beiden sich, stark durch Liebe und vor sich selbst gerechtfertigt durch den Ernst ihrer Absicht treuer Gemeinschaft bis zum Tode, hinwegsetzen. Doch um von diesem Unter-Unsinn zum Haupt-Unsinn des Stückes zurückzukehren: Kammerherr Alving wird für außereheliche Fleischeslust am eigenen Leibe und in seinen Kindern Oswald und Regine gestraft. Das ist sehr erbaulich und wird gewiß den Beifall von Pastoral-Konferenzen finden, wenn es auch unsinnig und unwahr im höchsten Grade ist. Daß Ibsen selbst die Unzucht, das „Sichausleben“, fortwährend empfiehlt und rühmt, sei nur nebenher erwähnt. Aber was folgert Frau Alving aus dem Fall ihres Mannes? Etwa, daß man keusch und rein bleiben soll, wie Björnson in seinem „Handschuh“ ausführt? Nein. Sie schließt daraus, daß die bestehende sittliche Ordnung und das Gesetz schlecht ist! „Ach ja, die Ordnung und das Gesetz!“ deklamirt sie, (S. .) „manchmal glaube ich beinahe, daß diese Beiden alles Unglück hier auf Erden stiften … Ich ertrage alle diese Bande und

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Rücksichten nicht länger. Ich kann nicht mehr. Ich muß mich zur Freiheit emporarbeiten.“ Was in aller Welt hat die Geschichte Alvings mit „Ordnung und Gesetz“ zu thun und wie kommt die „Freiheit“ in dieses Credo? Welchen Zusammenhang haben die albernen Redensarten der Frau mit dem Stücke, wenn sie nicht etwa blos hineineingeklebt sind, um radikale Galeriebesucher zu Händeklatschen zu kitzeln? Auf Tahiti herrschen weder „Ordnung“ noch „Sitte“ im Sinne der Frau Alving. Dort haben die braunen Schönen alle die | „Freiheit“, zu der Frau Alving [] sich „emporarbeiten“ will, und die Männer „leben sich aus“, daß Seeoffiziere, die doch sonst nicht zimperlich sind, verschämt die Augen abwenden. Und gerade dort ist die Krankheit des Kammerherrn Alving so verbreitet, daß alle jungen Tahitier nach Ibsens Krankheitslehre Oswalds sein müßten. Aber das ist eine ständige Gewohnheit Ibsens, die sich in allen seinen Stücken offenbart: er legt seinen Gestalten Effekt-Phrasen von Volksversammlungs-Rednern niedrigster Gattung in den Mund, die mit den Vorgängen des Stückes nicht das Geringste zu thun haben. „Ich weiß gar nicht, was Religion ist“, sagt Nora im bekannten Abgangs-Auftritt, (S. .) „ich weiß weiter nichts, als was Pastor Jakobi sagte, da ich konfirmirt wurde. Er sagte, Religion wäre das und das. Komm’ ich aus alledem hier heraus und bin auf mich ganz allein angewiesen, dann will ich auch diese Frage untersuchen. Ich will sehen, ob es richtig, was Pastor Jakobi sagte … Ich höre ja jetzt auch, daß die Gesetze anders sind, als ich glaubte, aber daß die Gesetze gut sein sollten, das will mir nicht in den Kopf.“ Nun hat ihr Fall gar keine Beziehungen zur Religionslehre des Pastors Jakobi und zur Güte oder Schlechtigkeit der Gesetze. Kein Gesetz der Welt, es sei gut oder schlecht, kann zugeben, daß ein Kind ohne Vorwissen seines Vaters dessen Namen unter einen Wechsel setze, und alle Gesetze der Welt gestatten dem Richter nicht nur, sondern verpflichten ihn, bei jeder strafbaren Handlung nach den Beweggründen zu fragen, obschon Ibsen Günther den Blödsinn in den Mund legt: (S. .) „Die Gesetze fragen wenig nach den Beweggründen.“ Der ganze Auftritt, im Hinblick auf den das Stück doch geschrieben wurde, steht wie ein Fremdkörper darin und wächst aus ihm nicht organisch heraus. Wenn Nora ihren Mann verlassen will, so kann es vernünftiger Weise doch nur geschehen, weil sie entdeckt, daß er sie nicht so hingebend liebt, wie sie ge-|wünscht und gehofft hat. Die hysterische Närrin aber hält eine [] flammende Rede gegen die Religion, die Gesetze, die Gesellschaft, die an der Charakterschwäche und Lieblosigkeit ihres Mannes tief unschuldig sind, und geht ab wie ein weiblicher Coriolan, der die Faust gegen das Vaterland schüttelt. In „Stützen der Gesellschaft“ will Bernick seine eigenen Gemeinheiten beichten, leitet sein Geständniß aber mit den Worten ein: (S. .) „Mag Jeder sich selbst prüfen, auf daß wir mit dem heutigen Tage eine neue Zeit beginnen. Die alte mit ihrer Schminke, ihrer Heuchelei und Hohlheit, ihrer verlogenen Wohlanständigkeit und elenden Rücksichtnahme soll gleichsam wie ein Museum vor uns stehen“ u. s. w. „Sprechen Sie für sich, Herr Bernick, sprechen Sie für sich!“ möchte man dem alten Schwätzer zurufen, der seinen ganz persönlichen Fall in diesem Sittenpredigerton

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verallgemeinert. „Ich will von der großen Entdeckung sprechen“, ruft Stockmann im „Volksfeind“, (S. .) „die ich in den letzten Tagen gemacht habe — von der Entdeckung, daß unsere sämmtlichen geistigen Lebensquellen vergiftet sind und unsere ganze bürgerliche Gesellschaft auf dem pestschwangern Grunde der Lüge ruht.“ Das mag an sich richtig sein, aber nichts von dem, was im Stücke vorgeht, gibt Stockmann das Recht, vernünftig zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen. Selbst in der Republik Platos könnte es vorkommen, daß ein einzelner Lump, der übrigens noch dümmer als schlecht ist, sich weigert, eine als vergiftet erkannte Heilquelle zu reinigen, und nur ein Narr könnte aus dieser einen Thatsache und aus dem Verhalten eines Ringes von Spießbürgern eines unmöglichen norwegischen Krähwinkels den allmeinen Satz ableiten: „Unsere ganze Gesellschaft ruht auf der Lüge.“ In „Rosmersholm“ sagt Brendel (S. .) in dunkel tiefsinnigem, ahnungdurchschauertem Prophetenton: „Es ist eine sturmbewegte Zeit der Sonnenwende, in der wir athmen.“ Auch dieser Satz, so richtig er an sich ist, paßt in [] das Stück | wie die Faust aufs Auge, denn „Rosmersholm“ hat keinerlei Beziehungen zur Zeit und man braucht kein wesentliches Wort an dem Stücke zu ändern, um es nach Belieben ins Mittelalter oder in die römische Kaiserzeit, nach China oder ins Reich der Incas zu verlegen, in irgend eine Zeit oder ein Land, wo es hysterische Frauen und idiotische Männer gibt. Man kennt die Art, wie Krakehler, die Händel suchen, Streit vom Zaun zu brechen pflegen. „Herr, was haben Sie mich so anzusehen?“ „Entschuldigen Sie, ich habe Sie gar nicht angesehen.“ „So? Sie sagen also, daß ich lüge?“ „Ich habe nichts derartiges gesagt.“ „Sie strafen mich zum zweitenmale Lüge, Sie werden mir Rechenschaft geben.“ Das ist Ibsens Methode. Was er will, das ist, über die Gesellschaft, den Staat, die Religion, die Gesetze und die Sitte anarchistische Phrasen machen. Statt sie aber, wie Nietzsche, ohne Zusammenhang in Broschüren zu veröffentlichen, sticht er sie aufs Gerathewohl in seine Stücke, wo sie so unvermittelt erscheinen wie die Gesangs-Couplets in den naiven Possen unserer Väter. Man säubere sie von diesen aufgeklebten Phrasen und selbst ein Brandes wird sie nicht mehr als „moderne“ Stücke ausposaunen können, sondern es werden nur Gewebe von Absurditäten übrig bleiben, die keiner Zeit und keinem Ort angehören und in denen hie und da einzelne dichterisch schöne Auftritte und Nebenfiguren auftauchen, die an der Verrücktheit des Ganzen nichts ändern. Ibsen findet nämlich immer zuerst eine These, das heißt eine anarchistische Phrase. Dann sucht er Menschen und Vorgänge zu erklügeln, die jene These sinnfällig machen und beweisen sollen, dazu reicht aber sein dichterisches Können und namentlich seine Kenntniß des Lebens und der Menschen nicht aus. Denn er geht durch die Welt, ohne sie zu sehen, und sein Blick ist immer in sein eigenes Innere gesenkt. Im Gegensatze zum Dichterworte ist „alles Menschliche ihm fremd“ und nur sein eigenes Ich beschäf[] tigt ihn und fesselt seine Auf-|merksamkeit. Er gibt dies selbst in einem bekannten Gedicht offen zu, indem er sagt: „Leben ist ein Kampf mit dem Gespenst in den Gewölben des Herzens und Hirnes; Dichten heißt Gerichtstag über sich selbst hal-

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ten.“ Das „Gespenst im Herzen und Hirne“, das sind die Zwangs-Vorstellungen und -Antriebe, in deren Bekämpfung allerdings das Leben des höhern Entarteten aufgeht. Und daß ein Dichten, welches immer nur ein „Gerichtstag des Dichters über sich selbst“ ist, nicht das frei und weit flutende allgemeine Menschendasein widerspiegeln kann, sondern blos die krausen Wandarabesken der engen und finstern Zelle eines verschrobenen Einzeldaseins, das liegt auf der Hand. Das Bild der Welt sieht er wie mit einem Kerbthier-Auge; einen winzigen Einzelzug, der sich vor einer der Schliffflächen eines solchen Butzenscheiben-Auges zeigt und den er zufällig wahrnimmt, erfaßt er gut und gibt ihn deutlich wieder. Aber seinen Zusammenhang mit der ganzen Erscheinung begreift er nicht und ein größeres Gesammtbild zu umspannen ist sein Sehwerkzeug ungeeignet. So erklärt es sich, daß ganz kleine Einzelheiten und nebensächlichste Gestalten der Wirklichkeit manchmal treu abgelauscht sind, daß aber die Haupt-Vorgänge und Mittelpunkt-Menschen seines Theaters immer durch ihre Absurdität und Weltfremdheit verblüffen. Den höchsten Triumph feiert Ibsens Absurdität wahrscheinlich in „Brand“. Die nordische Kritik hat bis zum Ueberdruß darauf hingewiesen, daß dieses tolle Stück die Uebersetzung des tollen „Entweder-Oder“ von Kierkegaard ins Dramatische ist. Ibsen zeigt einen Narren, der „Alles ganz sein will“, und seiner Gemeinde dasselbe predigt. Was er mit diesen so energisch klingenden Worten eigentlich meint, das wird in dem Stücke nirgends auch | nur mit einer Silbe verrathen. Immerhin gelingt [] es Brand, auch seine Gemeinde verrückt zu machen, und eines Tages bricht er mit ihr aus dem Dorfe und führt sie in unwegsame Gebirgseinöden. Was er sich dabei denkt, weiß und ahnt Niemand. Dem Küster, der etwas weniger verdreht zu sein scheint als die übrigen, wird schließlich dieses völlig sinnlose Bergsteigen unheimlich und er fragt, wohin Brand sie eigentlich führe und was bei dieser Kletterei herauskommen solle. Darauf gibt ihm Brand folgende wundervolle Auskunft: (S. .) „Wie lang das Streiten“ (nämlich das Bergsteigen! denn einen andern Streit gibt es in dem Aufzuge nicht) „währen wird? Es währt bis an des Lebens Ende. Bis alle Opfer ihr gebracht, bis ihr vom Pakt euch frei gemacht, bis ihr es wollt, wollt unbeirrt.“ (Was dieses „es“ ist, welches man wollen soll, ist nicht erklärt.) „Bis jeder Zweifel schwindet, nichts euch trennt vom: Alles oder Nichts. Und eure Opfer? Alle Götzen, die euch den ew’gen Gott ersetzen; die blanken, goldnen Sklavenketten sammt eurer schlaffen Trägheit Betten. Der Siegespreis? Des Willens Einheit, des Glaubens Schwung, der Seelen Reinheit.“ Natürlich kommen die guten Leute beim Hören dieser Raserei zur Besinnung und gehen nach Hause, der Tollhäusler Brand aber spielt den Gekränkten, weil die Gemeinde nicht bergan keuchen will, um „es“ zu wollen, um „Alles oder Nichts“ zu erreichen und „des Wil-

 „At leve — er Kamp med Trolde I Hjertet og Hjernens Hvaelv;  At digte — det er at holde Dommedag over sig selv.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

lens Einheit“ zu erlangen. Denn das Alles scheint auf den Bergen zu wohnen, nicht blos die Freiheit, die ein Dichter in früheren Zeiten dort suchte. Und doch ist Brand eine bemerkenswerthe Gestalt. Unbewußt hat Ibsen da einen zu Lehrzwecken sehr brauchbaren Typus jener Gestörten geschaffen, die unter einem Zwangs-Antriebe laufen, reden und handeln, die mit wilder Leiden[] schaft immer | wieder von „dem Ziele“ sprechen, das sie erreichen wollen, und wenn sie das Leben daran setzen sollten, die aber weder selbst eine Ahnung davon haben, was dieses Ziel eigentlich ist, noch im Stande sind, es einem Andern in verständlicher Weise zu bezeichnen. Brand hält die Kraft, die ihn treibt, für seinen eisernen, unbeugsamen Willen. Sie ist in Wirklichkeit sein eiserner, unbeugsamer Zwangs-Antrieb, den sein Bewußtsein vergebens zu begreifen und mit einem Schwall unverständlicher Worte zu deuten sucht. Ibsens Absurdität ist nicht immer so deutlich gefaßt wie in den bisher angeführten Beispielen. Sie offenbart sich häufig in verschwommenen, unbestimmten Redensarten, die anschaulich den Zustand eines Geistes ausdrücken, der sich bemüht, eine in ihm auftauchende Schattenvorstellung in Worte zu fassen, aber dazu nicht die Kraft hat und sich in sinnloses, mechanisches Vorsichhinmurmeln verliert. Man kann bei Ibsen drei Arten dieser Redensarten unterscheiden. Die einen sind völlig nichtssagend und haben nicht mehr Vorstellungsinhalt als etwa das „Tra la la“, das man einer Gesangsweise unterlegt, wenn man sich der Worte des Liedes nicht erinnert. Sie sind ein Anzeichen von zeitweiligem Stillstand der Thätigkeit der gedankenbildenden Hirnzentren und treten auch bei gesunden Menschen im Zustande tiefer Ermüdung als Verlegenheits-Einschiebsel in die stockende Rede auf. Beim erblich Erschöpften sind sie dauernd vorhanden. Die anderen geben sich den Anschein von Tiefsinnigkeit und bedeutungsvollen Anspielungen auf etwas Unausgesprochenes, doch läßt genaue Betrachtung auch sie als | [] leeres Wortgeklingel ohne Gedankeninhalt erkennen. Die dritten endlich sind so offenbarer und unzweideutiger Blödsinn, daß selbst Laien einander bestürzt ansehen und sich verpflichtet fühlen würden, der Familie einen schonenden Wink zu geben, wenn sie von einem ihrer Tischgenossen in der Stammkneipe derartiges hörten. Ich will einige Proben einer jeden dieser drei Gattungen geben. Zuerst die völlig nichtssagenden Redensarten, die zwischen verständige Worte eingeschoben sind und zeitweilige Lähmung der Denkzentren bekunden. In der „Frau vom Meere“ sagt Lyngstrand: (S. .) „Ich bin gewissermaßen ein Bischen schwächlich.“ Man würdige dieses „gewissermaßen“! Lyngstrand, der Bildhauer ist, spricht von seinen künstlerischen Plänen: (S. .) „Sobald ich dazu kommen kann, will ich es mit einem großen Werke versuchen. So eine Gruppe,  Dr. Wilhelm Griesingers Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende. Fünfte Auflage. Gänzlich umgearbeitet und erweitert von Dr. Willibald LevinsteinSchleger. Berlin, . S. , über krankhafte Impulse. S. , über „gesteigerte Willensenergie.“  Griesinger, a. a. O. S. : „Die Verlangsamung des Denkens kann geschehen, … d) durch das Gebundensein infolge depressiver Stimmung, völlige Trägheit bis zum Stillstand der Gedanken.“

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wie man es nennt.“ „Arnholm. Soll sonst nichts dabei sein? Lyngstrand. Doch, noch  eine Figur. Was man so eine Gestalt nennt.“ Lyngstrand wird von Ibsen als Trottel

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geschildert, man könnte also glauben, daß diese idiotischen Wendungen ihm absichtlich in den Mund gelegt werden. Aber Brack in „Hedda Gabler“, ein schlauer und geistreicher Lebemann, sagt: (S. .) „Was mich selbst aber betrifft, so wissen Sie wohl, daß ich stets einen gewissen Respekt vor den Ehebanden gehegt habe. So im Allgemeinen, Frau Hedda.“ In „Rosmersholm“ sagt Brendel: (S. .) „Siehst du, wenn goldene Träume sich auf mich herabsenkten, … dann formte ich sie um in Dichtung, in Visionen, in Bilder. So in großen Umrissen, verstehst du? O wie ich genossen und geschwelgt habe! Die räthselhafte Seligkeit der Gestaltung — so in großen Umrissen, wie gesagt.“ Rektor Kroll äußert: (S. .) „Ein Geschlecht, das nun bald seit ein paar Jahrhunderten als das erste hier im Distrikt ansässig gewesen ist.“ Nun bald seit ein paar Jahr-|hunderten! Das heißt: jetzt sind [] es noch nicht „ein paar Jahrhunderte“, aber „bald“ werden es „ein paar Jahrhunderte“ sein. „Bald“ soll also ein „paar Jahrhunderte“ in sich schließen. Durch welches Wunder? In „Wildente“ haben wir die gewollten, aber in dieser Uebertreibung unmöglichen Idiotengespräche der „fetten“, „kahlen“ und „kurzsichtigen“ Herren im ersten Aufzuge, aber auch diese Bemerkung der durchaus nicht als blödsinnig geschilderten Gina: (S. .) „Erzählst du dem Vater gern etwas Gutes, wenn er Abends nach Hause kommt? Hedwig. Gewiß, er wird ja dann fröhlicher. Gina. O ja, es liegt etwas Wahres darin.“!! Im Gespräch über die Wildente zwischen Ekdal, Gregor und Hjalmar heißt es: (S. .) „Ekdal. Er war im Boote draußen, verstehen Sie, und da schoß er auf sie. Aber Ihr Vater sieht jetzt so schlecht. Hm — und da wurde sie nur angeschossen. Gregor. Ja, sie bekam ein paar Schrotkörner in den Leib. Hjalmar. Ja, so zwei bis drei Stück … Gregor. Und da drinnen auf dem Bodenraum gedeiht sie nun so gut? Hjalmar. Ja, so unglaublich gut; sie ist fett geworden. Nun, sie ist ja auch so lange da drinnen gewesen, daß sie das richtige wilde Leben vergessen hat; und darauf allein kommt es ja an. Gregor. Darin hast du gewiß Recht, Hjalmar.“ Und in einem Zwiegespräche zwischen Hedwig und Gregor Werle: (S. .) „Hedwig … Hätte ich das Korbflechten erlernt, so hätte ich den neuen Korb für die Wildente machen können. Gregor. Das könnten Sie, ja, und Sie wären auch die nächste dazu. Hedwig. Freilich, ist es doch meine Wildente. Gregor. Das ist sie!“ Nun einige Beispiele von Redensarten, die überaus tiefsinnig klingen, jedoch in Wirklichkeit nichts oder nur eine Albernheit sagen. In „Nora“ meint Frau Linden: (S. .) „Nun, zunächst sinds doch wohl auch die Kranken, welche der Pflege be- | dürfen“, worauf Rank bedeutungsvoll erwi- [] dert: „Da haben wirs. Eben die Erwägung ists, welche die Gesellschaft zu einem Krankenhause macht.“ Was bedeutet dieses nachdenksame Orakelwort? Meint Rank, die Gesellschaft sei ein Krankenhaus, weil sie ihre Kranken pflegt, und sie wäre gesund, wenn sie ihre Kranken nicht pflegen würde? Wären die ungepflegten Kranken etwa weniger krank? Wenn er das glaubt, so glaubt er einen Blödsinn. Oder soll man die Kranken ungepflegt sterben lassen und auf diese Weise ihrer los

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werden? Wenn er das predigt, so predigt er eine Rohheit und ein Verbrechen und das würde zu dem Charakter Ranks, wie er in dem Stücke geschildert wird, nicht passen. Man drehe und wende die geheimnißvoll dunkeln Worte wie man will, man findet immer nur entweder Dummheit oder Sinnlosigkeit. In „Rosmersholm“ will Rosmer (S. .) „all seine Lebenskräfte für dies Eine einsetzen: das wahre Volksurtheil im Lande zu begründen.“ Und wunderbar: die Personen, denen Rosmer dieses Wort sagt, geben sich alle den Anschein, zu verstehen, was das „wahre Volksurtheil“ ist. Rosmer liefert übrigens ungefragt einige Erklärungen seines pythischen Ausspruchs: „Ich stelle dem Volksurtheil die wahre Aufgabe. Alle Menschen im Lande zu Adelsmenschen zu machen. Indem ich ihren Geist frei mache und ihren Willen läutere. Ich will versuchen, sie dazu zu wecken. Thun müssen sie es selbst. Durch eigene Kraft. Es gibt keine andere. Friede, Freude und Versöhnung müssen wieder in die Gemüther einziehen.“ Rebekka wiederholt ihm sein Programm: (S. .) „Du wolltest in das lebendige Leben eingreifen, in das lebendige Leben des Tages, sagtest du. Wie ein befreiender Gast wolltest du von einem Herde zum andern gehn. Den Geist und den Willen für dich erobern. Adelsmenschen schaffen rund umher — in weiteren und immer weiteren Kreisen. Adels[] menschen. Rosmer. Frohe Adelsmenschen. Rebekka. Ja, frohe. Rosmer. Denn | es ist die Freude, welche die Seelen adelt.“ Das kann man sich nicht anders als sehr lustig vorstellen, wie Rosmer „von einem Herde zum andern zieht“, „in weiteren und immer weiteren Kreisen“, und die Leute, bei denen er vorspricht, zu „frohen Adelsmenschen macht“, indem er sie „weckt“ und „ihren Willen läutert“ und so „das wahre Volksurtheil begründet.“ Was dieser Galimathias bedeuten soll, ist zwar nicht verständlich, aber jedenfalls muß es etwas Vergnügliches sein, denn Rosmer sagt ausdrücklich, daß er „Freude“ braucht, um „Adelsmenschen“ zu machen. Und trotzdem entdeckt Rebekka plötzlich: (S. .) „Die Lebensanschauung der Rosmers adelt, aber sie tödtet das Glück.“ Wie? Rosmer tödtet das Glück, wenn er „von Herd zu Herd“ zieht, weckt, läutert, frei macht u. s. w. und frohe Adelsmenschen schafft? Das Wort „froh“ schließt doch mindestens etwas Glück ein, und doch soll die Erziehung der Menschen zu „frohen Adelsmenschen“ das Glück tödten? Daß Rosmer findet, (S. .) es sei „keine Arbeit für ihn, die Sinne adeln zu wollen, und außerdem sei es auch etwas so Hoffnungsloses an und für sich“, ist einigermaßen verständlich, obwohl nicht erklärt wird, auf Grund welcher Erfahrung Rosmer zu einer solchen Aenderung seiner Anschauungen gelangt ist. Ganz unbegreiflich aber bleibt Rebekkas Wort von der tödtlichen Wirkung der Lebensanschauung Rosmers. In „Gespenster“ sucht Frau Alving die Verirrungen ihres verstorbenen Gatten mit diesem Wortschwall zu erklären und zu entschuldigen: (S. .) „Als er noch junger Lieutenant war — in ihm war Lebensfreudigkeit. Es war wie Frühlingswetter, wenn man ihn nur ansah. Und dann diese unbändige Kraft, diese Lebhaftigkeit in ihm! Und nun mußte dies lebensfrohe Kind, — denn damals war er nichts Anderes als ein Kind, — hier in einer halbgroßen Stadt umhergehen, die keine erhebende

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Freude, sondern nur Vergnügungen zu bieten | vermag. Hier mußte er bleiben, [] ohne einen Lebenszweck zu haben — er hatte nur ein Amt. Er sah nirgend eine Arbeit, der er sich mit allen seinen Kräften hätte widmen können — er hatte nur eine Beschäftigung. Er besaß keinen Kameraden, der im Stande gewesen wäre, mit ihm zu empfinden, was Lebensfreudigkeit ist, — er hatte nur Zechbrüder.“ Diese Gegenüberstellungen sehen nach etwas aus, wenn man sich aber ernstlich bemüht, in ihnen eine bestimmte Vorstellung zu suchen, so gehen sie in Rauch auf. „Lebenszweck — Amt“, „Arbeit — Beschäftigung“, „Kameraden — Zechbrüder“ sind nicht an sich Gegensätze, sondern sie werden es durch die Individualität. Bei einem tüchtigen Manne fallen sie vollständig zusammen. Bei einem schlechten gerathen sie in Widerstreit. Damit hat die große oder kleine Stadt nichts zu thun. Für Kant war in dem kleinen Königsberg des vorigen Jahrhunderts das „Amt“ „Lebenszweck“ und die „Arbeit“ „Beschäftigung“, und er wählte seine „Zechbrüder“ so, daß sie zugleich seine „Kameraden“ waren, soweit er überhaupt solche haben konnte. Und umgekehrt gibt es auch in der größten Weltstadt keine Beschäftigung und keinen Menschenkreis, wo ein Entarteter, der die Zerrüttung in sich trägt, sich wohl und sein Inneres harmonisch fühlen könnte. In „Hedda Gabler“ finden wir eine ganze Anzahl solcher vielsagend klingenden und in Wirklichkeit nichtssagenden Worte. „Das war doch der Lebensdrang in dir“, ruft Lövborg Hedda zu (S. .) und scheint überzeugt, ihr mit diesem Wort etwas erklärt zu haben. Und Hedda sagt: (S. .) „Ich sehe ihn vor mir. Mit Weinlaub im Haar. Heiß und keck.“ (S. .) „Und Ejlert Lövborg sitzt — mit Weinlaub im Haar und liest vor.“ „Hatte er Weinlaub im Haar?“ (S. .) „So hat es sich also zugetragen? Dann hat er kein Weinlaub im Haar gehabt.“ (S. .) „Hedda. Können Sie nicht darauf sehen, daß es in Schönheit geschähe? Lövborg. In Schön-|heit? Mit [] Weinlaub im Haar …“ (S. .) „Mit Weinlaub im Haar“ — „der Lebensdrang“, das sind Worte, die im gegebenen Zusammenhange gar nichts bedeuten, aber zu träumen gestatten. In einigen wenigen Fällen wendet Ibsen diese träumerisch verschwommenen Schatten-Ausdrücke mit künstlerischer Berechtigung an, z. B. wenn es in „Stützen der Gesellschaft“ heißt: (S. .) „Rohrland. Sagen Sie mir doch, Dina, warum sind Sie eigentlich so gern mit mir zusammen? Dina. Weil Sie mich so viel Schönes lehren. Rohrland. Schönes? Nennen Sie das, was ich Sie lehren kann, etwas Schönes? Dina. Ja. Oder eigentlich — nicht, daß Sie mich Etwas lehrten; aber wenn ich Sie reden höre, so ists mir, als umgäbe mich so viel Schönes. Rohrland. Was verstehen Sie eigentlich darunter: etwas Schönes? Dina. Darüber hab’ ich nie nachgedacht. Rohrland. So denken Sie jetzt einmal darüber nach. Was verstehen Sie unter etwas Schönem? Dina. Etwas Schönes — das ist — was großartig ist — und weit fort von hier.“ Dina ist ein junges Mädchen, das in trüben, gedrückten Verhältnissen lebt. Es ist psychologisch richtig, daß sie alle ihre unbestimmte Sehnsucht nach einem neuen, glücklichen Dasein in ein Wort von emotioneller Färbung wie „schön“ zusammenfaßt. Ebenso, wenn in der „Wildente“ zwischen Gregor und Hedwig diese Wechselrede geführt wird: (S. .) „Gregor. Und sie (die

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Wildente) ist in der Tiefe des Meeres gewesen. Hedwig. Warum sagen Sie: in der Tiefe des Meeres? Gregor. Was sollte ich sonst sagen? Hedwig. Sie könnten sagen: auf dem Grunde des Meeres, oder: auf dem Meeresgrunde. Gregor. Kann ich nicht ebenso gut sagen: in der Tiefe des Meeres? Hedwig. Ja, aber mir klingt es so sonderbar, wenn Andere sagen: in der Tiefe des Meeres. Gregor. Warum denn? … Hedwig. Weil mir immer scheint, der ganze Raum da drinnen und alles zusammen heiße [] die Tiefe des Meeres. Aber das ist ja so | dumm … Es ist ja doch nur der Bodenraum (wo die Wildente lebt, die alten Weihnachtsbäume stehen, der alte Ekdal Kaninchen jagt u. s. w.).“ Hedwig ist ein überspanntes Kind im Alter der Pubertät (Ibsen hält es für nöthig, ausdrücklich festzustellen, daß sie die Stimme ändere und gern mit Feuer spiele), da ist es natürlich, daß sie von Ahnungen, Träumen und dunkeln Trieben durchschauert ist und in dichterische, etwas Fernes und Wildes bezeichnende Ausdrücke wie „in der Tiefe des Meeres“ all das Unbegreifliche, Märchenhafte hineingeheimnißt, das in ihr wogt. (In der Ursprache hat in „paa Havsens Bund“ das Wort „Havsens“ statt des einfachern und prosaischern „Havets“ oder „paa Havbunden“ noch einen besondern dichterischen Nebenklang, der in der Uebersetzung nicht zu hören ist.) Wenn aber nicht kleine Mädchen im Entwickelungsalter, sondern erwachsene, als verständig geschilderte Menschen Ausdrücke dieser Art gebrauchen, dann ist es nicht psychologisch berechtigte Träumerei, sondern krankhafte Hirnschwäche. Manchmal nehmen diese Worte die Beschaffenheit einer Zwangsvorstellung an. Ibsen wiederholt sie hartnäckig, ohne erkennbaren Zweck, indem er ihnen eine geheimnißvolle Bedeutung unterlegt. So erscheint z. B. in „Gespenster“ das dunkle Wort „Lebensfreudigkeit“: (S. .) „Oswald. In ihr ist Lebensfreudigkeit.“ (S. .) „Frau Alving. Was war doch das, was du von der Lebensfreudigkeit sagtest? Oswald. Ja, die Lebensfreudigkeit, Mutter. Die kennt ihr hier zu Hause wenig.“ (S. .) „Oswald. Hast du nicht bemerkt, daß sich Alles, was ich gemalt, um die Lebensfreudigkeit dreht? Immer und beständig um die Lebensfreudigkeit.“ (S. .) „Frau Alving. Du sprachst vorhin von Lebensfreudigkeit und da sah ich plötzlich mein ganzes Leben in einem neuen Licht … Du hättest deinen Vater kennen sollen. In [] ihm war Lebensfreudigkeit.“ In „Hedda Gabler“ spielt das | Wort „Schönheit“ eine ähnliche Rolle: (S. .) „Hedda. Gebrauchen Sie die Pistole jetzt. Und nur in Schönheit, Ejlert!“ (S. .) „Hedda. Ich sage, daß hierin“ (in Ejlerts Selbstmord) „Schönheit liegt.“ (S. .) „Hedda. Eine Befreiung, zu wissen, daß wirklich doch noch etwas freiwillig Muthiges in der Welt geschehen kann. Etwas, worauf ein Glanz unwillkürlicher Schönheit fällt … Und nun jetzt — das Große, das, worüber Schönheit liegt.“ Das „Weinlaub im Haar“ in demselben Stücke gehört eigentlich ebenfalls in diese Kategorie von Worten, die einer Zwangsvorstellung entsprechen. Der Gebrauch geheimnißvoller Ausdrücke, die dem Hörer unverständlich sind und die der Sprecher entweder vollkommen frei erfindet oder denen er einen eigenen, vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abweichenden Sinn gibt, ist eine der häufigsten

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Erscheinungen bei Gestörten. Griesinger hebt dies an verschiedenen Stellen hervor und A. Marie gibt einige bezeichnende Beispiele neu erfundener oder in einem andern als dem üblichen Sinne gebrauchter Worte und Sätze, | die Geistes- [] kranke beständig wiederholt haben. Ibsen ist allerdings kein vollkommener Geisteskranker, sondern nur ein Grenzlandbewohner, ein „Mattoide“. Sein Gebrauch von formelartigen Ausdrücken geht also nicht bis zur Erfindung von Neuworten, wie sie Marie anführt. Aber daß er den Ausdrücken „Schönheit“, „Lebensfreudigkeit“, „Lebensmuth“ u. s. w. einen geheimen Sinn beilegt, den sie für die verständige Betrachtung nicht haben, geht aus den mitgetheilten Beispielen deutlich genug hervor. Endlich seien einige Proben reinen Gefasels angeführt, das Traum-Unterhaltungen und der zusammenhanglosen, thörichten Rede von Fieberkranken und an akuter Manie Leidenden entspricht. In der „Frau vom Meer“ sagt Ellida: (S. .) „Das Wasser hier in den Fjorden ist krank. Ja, es ist krank. Und ich glaube, es macht auch krank.“ (S. .) „Wir“ (Ellida und der „Fremde“) „sprachen von Möwen und Seeadlern und all den anderen Meervögeln, wie du weißt. Denk nur — ist es nicht seltsam — wenn wir von dergleichen sprachen, so war mirs, als seien sowohl die Seethiere wie die Seevögel mit ihm verwandt … Mir war fast, als würde ich ihnen auch verwandt.“ (S. .) „Ich glaube durchaus nicht, daß wir auf dem Festlande zu Hause sind. Ich glaube, daß, wenn die Menschen sich von Anfang an gewöhnt hätten, ihr Leben auf dem Meer zu leben, im Meer vielleicht, so wären wir jetzt bedeutend vollkommener, als wir sind. Auch besser und glücklicher …“ Arnholm. „Was geschehen ist, ist geschehen. Wir sind also ein- für allemale auf falschen Weg gekommen und Landthiere anstatt Wasserthiere geworden. Unter allen Umständen ist es jetzt gewiß zu spät, den Irrthum wieder gut zu machen.“ Ellida. „Ja, da sprechen Sie eine traurige Wahrheit aus. Und ich glaube, daß die Menschen selbst etwas derartiges ahnen. Daß sie es wie einen heimlichen Schmerz und ein heimliches Bedauern mit sich herumtragen. Sie | können mirs glauben — [] darin hat die Schwermuth der Menschen ihren tiefliegendsten Grund!!“ Und Dr. Wangel, der als verständiger Mann geschildert ist, sagt: (S. .) „Und damit ist sie“ (Ellida) „ja auch so veränderlich, so unberechenbar, so plötzlich wechselnd.“

 Griesinger, a. a. O. S. . Er nennt die „Neubildung von Wörtern“ „Phraseomanie.“ Kußmaul gibt der „Neubildung unverständlicher oder Anwendung bekannter Wörter in einem völlig fremden Sinne“ den Namen „Paraphrasia vesana.“   Dr. A. Marie, Etude sur quelques symptomes des délires systématisés et sur leur valeur. Paris, . Kapitel II „Seltsamkeiten der Sprache. Neubildungen und beschwörende Zauberformeln.“ S. —. Tanzi führt u. A. folgende Beispiele an: Ein Kranker wiederholte fortwährend: „Das ist wahr und nicht falsch“, ein anderer begann jeden Satz mit den Worten: „Wort Gottes“, ein dritter sagte: „Hinaus das häßliche Thier“ und machte dazu eine segnende Bewegung mit der rechten  Hand; ein vierter sagte beständig: „Blättern Sie um“, ein fünfter rief im Tone des Befehls: „Lips acs livi cux lips sux!“ u. s. w. Ein Kranker von Krafft-Ebing bildete u. A. folgende Wörter: „Magnetismusambosarbeitswellen, Augengedanken-Ausstrahlung, Glückseligkeitsbetten, Ohrenschlußmaschine“ u. s. w. Krafft-Ebing, a. a. O. S. —.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Arnholm. „Das ist wohl eine Folge ihres krankhaften Gemüthszustandes.“ Wangel. „Das nicht allein. Im tiefsten Grunde ist es ihr angeboren. Ellida gehört zum Meervolk. Das ist die Sache!!“ Es muß hervorgehoben werden, daß gerade die Absurditäten, die nichtssagenden, verschwommenen, tiefsinnig klingenden Redensarten, die geheimnißvollen, formelartigen Worte und die Traum-Faseleien wesentlich dazu beigetragen haben, Ibsen sein besonderes Publikum zu werben. Sie gestatten mystischen Hysterikern zu träumen, wie Dina bei dem Worte „schön“ und Hedwig bei dem Worte „in der Tiefe des Meeres“. Da sie gar nichts bedeuten, so kann ein unaufmerksam schweifender Geist in sie hineinlegen, was das Spiel seiner Ideen-Assoziation unter dem Einflusse seiner jeweiligen Emotion ihm gerade eingibt. Sie sind ferner ein überaus dankbarer Stoff für die „Verständnißvollen“, für die es keine Dunkelheit geben kann. Die Verständnißvollen erklären immer Alles. Je größer der Blödsinn, umso verwickelter, umso sinnreicher, umso erschöpfender ist ihre Deutung und umso größer der Stolz, mit dem sie auf den „Banausen“ hinabsehen, der es derb ablehnt, in einem Galimathias etwas Anderes zu sehen als einen Galimathias. In einer überaus lustigen französischen Posse, „Le Homard“, überrascht ein Mann, der Abends plötzlich heimkommt, einen Unbekannten bei seiner Frau. Diese verliert den Kopf nicht und sagt dem Gatten, sie sei plötzlich unwohl geworden, habe das Dienstmädchen nach dem erstbesten Arzt geschickt und dieser Herr sei eben der Doktor. Der Gatte dankt dem Liebhaber für sein rasches Erscheinen und fragt, ob er schon etwas verschrieben habe. Der Liebhaber, der natürlich kein Arzt [] ist, | sucht sich zu drücken, der besorgte Gatte besteht aber darauf, ein Rezept zu haben, und der Galan, dem der Angstschweiß ausbricht, muß eines ausstellen. Der Gatte wirft einen Blick darauf — es sind völlig unleserliche Zeichen. „Und der Apotheker wird das lesen können?“ fragt der Gatte kopfschüttelnd. „Wie Gedrucktes,“ versichert der falsche Arzt und will sich wieder davonmachen. Der Gatte beschwört ihn aber zu bleiben und hält ihn fest, bis das Dienstmädchen aus der Apotheke zurückkommt. Nach einigen Minuten ist sie da. Der Galan macht sich auf eine Katastrophe gefaßt. Nein. Das Mädchen bringt eine Flasche Arzenei, eine Schachtel Pillen und eine Anzahl Pulver. „Das hat Ihnen der Apotheker gegeben?“ fragt der Galan verblüfft. „Gewiß.“ „Auf mein Rezept?“ „Natürlich auf Ihr Rezept“, antwortet das erstaunte Mädchen. „Hat sich der Apotheker etwa geirrt?“ fällt der Gatte unruhig ein. „Nein nein“ beeilt sich der Galan zu erwidern, aber er betrachtet lange die Arzeneien und versinkt in Träumen. Die „Verständnißvollen“ sind wie der Apotheker im „Homard.“ Sie lesen geläufig alle Ibsenschen Rezepte, auch die, besonders die, welche gar keine Schriftzeichen, sondern nur Krähenfüße ohne Bedeutung enthalten. Es ist eben ihr Geschäft, kritische Pillen und Latwergen zu liefern, wenn man ihnen ein Papierchen mit der Unterschrift eines angeblichen Arztes bringt, und sie liefern sie ohne zu zucken, auf dem Papierchen mag was immer oder auch gar nichts stehen. Ist es nicht bezeichnend, daß das Einzige, was einer dieser „Verständnißvollen“, der französi-

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sche Mystiker de Vogué, an Ibsen zu rühmen findet, gerade eine der Redensarten ohne Bedeutung ist, die ich oben angeführt habe? | Eines letzten Merkmals von Ibsens Mysticismus muß ebenfalls gedacht wer- [] den: seines Symbolismus. In der „Wildente“ ist dieser Vogel das Symbol der Lebensgeschicke Hjalmars und der Bodenraum neben dem Photographen-Atelier das der „Lebenslüge“, deren nach Relling jeder Mensch bedarf. In der „Frau vom Meer“ will Lyngstrand eine Gruppe formen, welche das Symbol Ellidas werden soll, wie der „Fremde“ mit den „wechselnden Fischaugen“ das des Meeres und dieses wieder das der Freiheit ist, so daß der „Fremde“ eigentlich das Symbol eines Symbols wäre. In „Gespenster“ ist der Brand des Asyls das Symbol der Vernichtung der „Lebenslüge“ Alvings und das Regenwetter während des ganzen Stückes das der gedrückten und grämlichen Seelenstimmung der handelnden Personen. In den älteren Stücken, „Kaiser und Galiläer“, „Brand“, „Peer Gynt“, wimmelt es förmlich von Symbolen. In jede Gestalt, in jedes Theater-Requisit ist eine Nebenbedeutung hineingeheimnißt und jedes Wort schließt einen Doppelsinn in sich. Wir kennen bereits von der „Psychologie des Mysticismus“ her diese Eigenthümlichkeit des mystischen Denkens, dunkle Beziehungen zwischen den Erscheinungen zu ahnen. Es sucht sich eben die Verknüpfung der im Bewußtsein auftauchenden gänzlich unzusammenhängenden Vorstellungen durch das Spiel der mechanischen IdeenAssoziation so zu erklären, daß es diesen Vorstellungen verborgene, aber wesentliche Hinweise auf einander andichtet. Die „Verständnißvollen“ glauben Alles gesagt zu haben, wenn sie mit äußerster Wichtigthuerei und Selbstge-|fälligkeit darthun, [] daß der „Fremde“ in der „Frau vom Meer“ das Meer und das Meer die Freiheit bedeute. Sie übersehen ganz, daß man nicht nur zu erklären hat, was sich der Dichter unter seinem Symbol gedacht hat, sondern zuerst und ganz besonders, weshalb er überhaupt auf den Gedanken gerathen ist, ein Symbol zu gebrauchen. Ein geistesklarer Dichter nennt nach dem bekannten Worte des französischen Satirikers „eine Katze eine Katze.“ Es setzt schon eine krankhafte Störung der Geistesthätigkeit voraus, daß man eben den Einfall hat, einen „Fremden mit Fischaugen“ zu erfinden, um einen so schlichten Gedanken auszudrücken wie: feinfühlige Personen, die in engen Verhältnissen leben, haben eine tiefe Sehnsucht nach einem freien, großen, ungebundenen Dasein. Bei Wahnsinnigen ist die Neigung zum Allegorisiren und Symbolisiren etwas sehr Gewöhnliches. „Verwickelte Arabesken,

 Melchior de Vogué, Les Cigognes. Revue des deux Mondes, . Februar , S. : „Ibsen  hätte unser Vertrauen gewonnen, wäre es auch nur durch einige Axiome“, (?) „die unserm gegenwärtigen Mißtrauen entsprechen, wie … das in Rosmersholm: der Geist Rosmers adelt, aber er tödtet das Glück.“ Ich bin überzeugt, daß die „Verständnißvollen“ ohne jede Schwierigkeit auch den Ausdruck „Vorstellungs-Appetitschränkchen“, den eine Geisteskranke Meynerts gern gebrauchte, oder die Worte einer Kranken Griesingers, daß „die Oberin sich ihr in den  militärischen Seitenton und in den Zahnverzug setze“, verstehen und deuten würden, wenn ihnen nicht verrathen würde, daß sie von eingesperrten Wahnsinnigen herrühren. S. Griesinger, a. a. O. S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

sinnbildliche Figuren, kabalistische Geberden und Haltungen, wunderliche Deutungen natürlicher Thatsachen, Wortspiele, Wortneubildungen und besondere Ausdrucksweise, die in der Paranoia häufig sind, geben dem Delirium eine lebhafte und groteske Färbung,“ sagt Tanzi und sieht, wie vor ihm Meynert gethan hat, in dem Symbolismus der Verrückten einen Atavismus. Bei Menschen auf niedriger Gesittungsstufe ist nämlich der Symbolismus die gewöhnliche Form des Denkens. Wir wissen, weshalb: ihr Gehirn ist noch nicht zur Aufmerksamkeit erzogen, es ist noch zu schwach, um unvernünftige Ideen-Assoziationen zu unterdrücken, und bezieht Alles, was durch das Bewußtsein schießt, auf eine beliebige Erscheinung, die es eben wahrnimmt oder deren es sich erinnert. Nach allen den geistigen Stigmaten Ibsens, die wir kennen gelernt haben, seinen theologischen Zwangsvorstellungen von der Erbsünde, der Beichte und der Erlösung, den Absurditäten seiner Erfindung, den beständigen Widersprüchen sei[] ner unsichern Mei-|nungen, seiner verschwommenen oder sinnlosen Ausdrucksweise, seiner Onomatomanie und seinem Symbolismus, könnte man ihn zu den mystischen Entarteten zählen, mit denen ich mich im vorigen Buche beschäftigt habe. Es rechtfertigt sich aber dennoch, ihm seinen Platz bei den Ichsüchtigen anzuweisen, weil in seinem Denken die krankhafte Steigerung seines Ich-Bewußtseins doch noch auffallender und bezeichnender ist als selbst sein Mysticismus. Seine Ichsucht nimmt die Form des Anarchismus an. Er ist im Zustande der beständigen Empörung gegen alles Bestehende. Er übt nicht etwa eine vernünftige Kritik daran, er zeigt nicht etwa, was schlecht ist, warum es schlecht ist und wie es besser gemacht werden könnte; nein; er macht ihm nur den einen Vorwurf, daß es besteht, und er hat nur ein Verlangen, es zu zerstören. „Alles verrunjeniren“ war das politische Programm gewisser Umstürzler von  und es ist das von Ibsen geblieben. Er faßt es mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt, in seinem bekannten Gedicht „An meinen Freund den Umsturzredner“ zusammen. Er rühmt darin die Sintflut als „die einzige Umwälzung, die nicht von einem Halbheitspfuscher (Halvhedsfusker) gemacht worden ist“, aber auch sie war nicht grundstürzend genug. „Wir wollen sie nochmals radikaler machen, aber dazu brauchen wir Männer und Redner. Ihr sorgt für die Ueberflutung des Weltparks, ich lege mit Wonne einen Torpedo unter die Arche.“ In einer Reihe von Brie[] fen, | die sein Kornak Brandes den Ibsen-Anbetern zur Erbauung darbietet, gibt

 Tanzi, I neologismi in rapporto col delirio cronico. Turin, .  „Vi vil gjöre det om igjen radikalere, Men dertil fordres baade Maend og Talere. I sörger for Vandflom til Verdensparken, Jeg laegger med Lyst Torpedo under Arken.“ Man beachte die echt mystische Qualmigkeit dieses Gedankens: der Dichter will Alles zerstören, auch die Arche, die die geretteten Reste des Erdenlebens birgt, aber er selbst sieht sich außerhalb der Zerstörung gestellt, wird also übrigbleiben, wenn alles Andere auf Erden vernichtet ist.  Georg Brandes, a. a. O. S. , ,  u. s. w.

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 der Dichter anschauliche Proben seiner Theorien. Der Staat muß zerstört werden.

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Die Pariser Kommune hat diesen schönen und reichen Gedanken durch ungeschickte Ausführung leider verhunzt. Der Kampf um die Freiheit hat nicht die Eroberung der Freiheit zum Zweck, sondern ist sich selbst Zweck. Sowie man die Freiheit zu haben glaubt und zu kämpfen aufhört, hat man bewiesen, daß man sie verloren hat. Das Verdienstliche am Kampfe um die Freiheit ist der Zustand beständiger Auflehnung gegen alles Bestehende, den er voraussetzt. Es gibt nichts Festes und Dauerndes. „Wer verbürgt mir, daß auf dem Jupiter zweimal zwei nicht fünf sind?“ (Diese Bemerkung ist eine unverkennbare Kundgebung von Zweifelwahnsinn, der in den letzten Jahren eingehend studirt worden ist.) Eine wahre Ehe gibt es nicht. Freunde sind ein kostspieliger Luxus. „Sie haben mich lange gehindert, ich selbst zu werden.“ Pflege des Ichs ist die einzige Aufgabe des Menschen. Davon darf er sich durch kein Gesetz und keine Rücksicht abbringen lassen. Diese Gedanken, die er selbst in seinen Briefen ausdrückt, | legt er auch seinen [] Bühnengestalten in den Mund. Von den ichsüchtigen und anarchistischen Redensarten der Frau Alving und Noras habe ich schon oben einige angeführt. In „Stützen der Gesellschaft“ sagt Dina: (S. .) „Wenn ich nur nicht unter Menschen lebte, die so anständig und moralisch sind … Täglich kommen Fräulein Rummel und Nettchen Holt hierher, damit ich mir ein Muster an ihnen nehme. So wohlerzogen wie die kann ich niemals werden. Und ich wills auch nicht.“ (S. .) „Aber was ich wissen wollte, war, ob die Menschen da drüben“ (in Amerika) „sehr moralisch sind, … ob sie so — so anständig und honett sind wie hier. Johann. Nun, sie sind jedenfalls nicht so schlecht, als man hier glaubt. Dina. Sie verstehn mich nicht. Im Gegentheil, ich wünschte, sie wären nicht so sehr anständig und moralisch.“ (S. .) „Mir graut vor all dieser Anständigkeit … Frl. Bernick … O wie wir hier von Sitten und Gewohnheiten zu leiden haben! Empöre dich dagegen, Dina … Es soll etwas geschehen, was all dieser Wohlanständigkeit ins Gesicht schlägt.“ Im „Volksfeind“ erklärt Stockmann: (S. .) „Leitende Männer mag ich in der Seele nicht ausstehen; … einem freien Mann stehen sie im Wege, wo er sich nur blicken läßt — und am besten wäre es, wir könnten sie ausrotten wie andere schädliche Insekten.“ (S. .) „Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit — das ist die kompakte Majorität; ja diese verfluchte kompakte liberale Majorität — das ist unser ärgster Feind!“ „Die Mehrheit hat niemals das Recht auf ihrer Seite … Die Minderheit hat

 J. Cotard, Etudes sur les maladies cérébrales et mentales. Paris, . Hier ist zuerst das „Verneinungs-Delirium“, „délire des négations“, als eine Form der Melancholie erkannt und  beschrieben. Der „dritte Kongreß der französischen Irrenärzte“, der vom . bis . August  in Blois stattfand, widmete fast seine ganze Verhandlung dem Zweifelwahnsinn. In einer Arbeit von F. Raymond und F. L. Arnaud, „Sur certains cas d’aboulie avec obsession interrogatives et trouble des mouvements“, Annales médico-psychologiques,  ème Série, Tome , heißt es S. : „Die Kranken beschäftigen sich mit Fragen, die ihrer Natur nach unlösbar sind: Schöpfung, Natur,  Leben u. s. w. Warum sind die Bäume grün? Warum hat der Regenbogen sieben Farben? Warum sind die Menschen nicht so groß wie die Häuser? U. s. w.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

immer Recht.“ Wo Ibsen die Mehrheit nicht ernst angreift, da verspottet er sie. So wenn er groteske Philister die Gesellschaft vertheidigen oder radikalthuende Politiker die Heuchelei ihres Freisinns verrathen läßt. „Stützen der Gesellschaft“, (S. .) „Bürgermeister. Du willst deinen Vorgesetzten zu Leibe. Das ist ja eine alte Gewohn[] heit von dir. Du kannst keine Autorität über dir dulden.“ „Rosmers-|holm“, (S. .) „Mortensgaard, der sich als freisinnig aufspielende Zeitungs-Herausgeber: Herr Pastor, Freidenker haben wir schon im Voraus genug. Ich hätte beinahe gesagt — wir haben allzu viele von dieser Art. Das, was die Partei braucht, sind christliche Elemente, etwas, das jedermann respektiren muß. Das ist es, woran es uns so sehr gebricht.“ In der gleichen Absicht anarchistischer Verspottung läßt er für den Pflichtbegriff immer nur Idioten oder verächtliche Pharisäer eintreten. In „Gespenster“ predigt der Dummkopf Pastor Manders: (S. .) „Welches Recht haben wir Menschen denn ans Glück? Nein. Wir sollen unsere Pflicht thun, Frau Alving. Und Ihre Pflicht war es, fest zu dem Manne zu halten, den Sie einmal gewählt hatten und an den Sie durch ein heiliges Band geknüpft waren.“ In „Stützen der Gesellschaft“ ist es der Schurke Bernick, der die Nothwendigkeit der Unterordnung des Einzelnen unter die Gesammtheit zu betonen hat: (S. .) „Die Menschen müssen ihre Forderungen gegenseitig herabstimmen lernen, wollen sie ihren Platz in der Gesellschaft ganz ausfüllen.“ Der nicht minder erbärmliche Bürgermeister im „Volksfeind“ kanzelt seinen Bruder Stockmann so ab: (S. .) „Jedenfalls hast du einen angebornen Hang, stets deinen eigenen Weg zu gehen, und das ist in einem wohlgeordneten Gemeinwesen … unstatthaft. Der Einzelne muß sich nun einmal dem Ganzen unterordnen.“ Man sieht den Kniff: um den Begriff der Pflicht und der nothwendigen Unterordnung des Einzelwesens unter die Gesammtheit lächerlich und verächtlich zu machen, bestellt er zu seinen Wortführern lächerliche und verächtliche Gestalten. Dagegen sind es die Personen, auf die er alle Schätze seiner Liebe häuft, welche die Auflehnung gegen die Pflicht zu verfechten, Gesetze, Sitten, Einrichtungen, Selbstzügelung zu beschimpfen oder zu verspotten und rücksichtslose Ichsucht als einzige Lebensführerin auszurufen haben. | [] Die psychologischen Wurzeln der gesellschaftfeindlichen Triebe Ibsens sind uns wohlbekannt. Sie sind die Anpassungs-Unfähigkeit des Entarteten und das hieraus sich ergebende beständige Unbehagen inmitten von Verhältnissen, in die er sich wegen seiner organischen Mangelhaftigkeit nicht schicken kann. „Der Verbrecher“, sagt Lombroso, „ist durch seine neurotische und impulsive Natur und durch seinen Haß gegen die Einrichtungen, die ihn gezüchtigt haben oder ihn einengen, ein beständiger verhaltener politischer Rebell, der im Aufruhr das Mittel

 C. Lombroso und R. Laschi, Le crime politique et les révolutions par rapport au droit, à l’anthropologie criminelle et à la science du gouvernement. Traduit de l’italien par A. Bouchard. Paris, . . Band S. .

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findet, seine Leidenschaften nicht nur zu befriedigen, sondern auch sie sogar zum erstenmal von einem zahlreichen Publikum gebilligt zu sehen.“ Dieser Ausspruch findet volle Anwendung auf Ibsen, mit der kleinen Aenderung, daß er blos ein theoretischer Verbrecher ist, weil seine Bewegungszentren nicht kräftig genug sind, um seine anarchistisch verbrecherischen Vorstellungen in Thaten umzusetzen, und daß er nicht im Aufruhr, sondern in seiner bühnendichterischen Thätigkeit die Mittel findet, seine Zerstörungstriebe zu befriedigen. Seine Anpassungs-Unfähigkeit macht ihn nicht nur zum Anarchisten, sondern auch zu einem Menschenfeind und sie erfüllt ihn mit tiefer Lebensmüdigkeit. Die Lehre des „Volksfeindes“ ist in Stockmanns Ausruf enthalten: (S. .) „Der stärkste Mann der Welt ist derjenige, welcher — allein steht“, und in „Rosmersholm“ sagt Brendel: (S. .) „Ich liebe es, in Einsamkeit zu schwelgen. Denn dann schwelge ich doppelt.“ Derselbe Brendel jammert später (S. .) mit schlecht gespielter Lustigkeit: „Ich gehe jetzt heimwärts. Ich habe Heimweh nach dem großen Nichts … Peter Mortensgaard will nie mehr als er kann. Peter Mortensgaard ist kapabel, das Leben ohne | Ideale zu leben. Und siehst du — das ist ja das große [] Geheimniß des Handelns und Siegens. Das ist die Summe aller Weltweisheit … In düsterer Nacht ist es am Besten. Friede sei mit euch!“ Die Worte Brendels haben eine besondere Bedeutung, denn nach dem Zeugnisse Ehrhards hat Ibsen in dieser Gestalt sich selbst zeichnen wollen. Deshalb ist auch die kleine Andeutung Brendels: „Ulrik Brendel hat dieser Art von Vereinen“ („einem totalen Mäßigkeitsverein“) „niemals die Thüren eingerannt“, (S. .) nicht völlig zu vernachlässigen. Was sich in diesen Stellen ausdrückt, das sind die „Leutscheu“ und das „taedium vitae“ der Irrenheilkunde, Erscheinungen, die in den Erschöpfungsformen der Geisteskrankheit nie fehlen. Außer seinem Mysticismus und seiner Ichsucht fällt bei Ibsen noch die außerordentliche Armuth seiner Gedankenwelt auf, die ebenfalls als ein geistiges Stigma der Entartung anzusprechen ist. Oberflächliche oder unwissende Beurtheiler, welche den Geistesreichthum eines Künstlers nach der Anzahl der Bände schätzen, die er hervorgebracht hat, glauben den Vorwurf der Unfruchtbarkeit, den man gegen einen Entarteten erhebt, siegreich widerlegt zu haben, wenn sie auf den hohen Stoß seiner Werke hinweisen. Bei dem Kundigen verfängt dieses armselige Beweismittel natürlich nicht. Die Geschichte des Wahnsinns-Schriftthums kennt eine ganze Anzahl von Fällen, in welchen Narren Dutzende dicker Bände geschrieben und veröffentlicht haben. Sie müssen Jahrzehnte lang beinahe Tag und Nacht mit fieberischer Hast die Feder geführt haben; aber fruchtbar ist diese rastlose Thätigkeit trotz ihrer reichen | buchdruckerischen Ergebnisse doch wohl nicht zu []

  Auguste Ehrhard, a. a. O. S. : „Er“ (Ibsen) „theilt sich selbst eine Rolle zu, um uns unmittelbar mit seinen Enttäuschungen bekannt zu machen … Er stellt sich uns in der phantastischen und gequälten Gestalt Ulrik Brendels vor. Lassen wir uns durch die eigenartige Verkleidung, in die er sich hüllt, nicht täuschen. Ulrik Brendel, der Narr, ist Niemand anders als der Idealist“ (?) „Henrik Ibsen.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

nennen, da in all den beleibten Büchern nicht ein einziger brauchbarer Gedanke zu finden ist. Wir haben bei Wagner gesehen, daß er als Dichter niemals eine Fabel, eine Gestalt, eine Lage zu erfinden fähig war, sondern immer auf alten Dichtungen oder auf der Bibel schmarotzte. Ibsen hat beinahe ebenso wenig echte, selbsteigene Schaffenskraft wie sein Geistesverwandter und da er es in seinem Bettelstolze meist verschmäht, bei fremden, zeugungstüchtigen Dichtern oder bei lebenstrotzenden Volksüberlieferungen Anleihen zu machen, so erscheinen seine Dichtungen bei genauer und tiefer blickender Betrachtung noch viel dürftiger als die Wagners. Wenn wir uns von der Variations-Kunst eines in der dramatischen Technik außergewöhnlich geschickten Kontrapunktisten nicht blenden lassen und den Themen nachgehen, die er so gewandt verarbeitet, so erkennen wir alsbald deren trostlose Eintönigkeit. Im Mittelpunkt aller seiner Stücke (mit Ausnahme der romantischen, die er in der ersten Periode, der der reinen Nachahmung, geschrieben) stehen zwei Gestalten, stets dieselben, die im letzten Grunde auch nur eine einzige, aber einmal mit negativem und dann wieder mit positivem Vorzeichen, eine These und ihre Antithese im Hegelschen Sinne, sind: das Menschenwesen, das nur seinem innern Gesetze, das heißt seiner Ichsucht, gehorcht und sich dazu kühn und trotzig bekennt, und dasjenige, das zwar im Grunde auch nur nach seiner Ichsucht handelt, aber nicht den Muth hat, sie offen zur Schau zu tragen, sondern Achtung vor dem Gesetze der Anderen, vor den Anschauungen der Mehrheit heuchelt; also der eingeständige und gewaltthätige Anarchist und sein Widerspiel, der listige und feig betrügerische Anarchist. Der Bekenner ist mit einer einzigen Ausnahme immer in einem Weibe verkörpert. Die Ausnahme ist Brand. Der Heuchler dagegen ist immer ein Mann, wieder [] mit einer ein-|zigen Ausnahme: in Hedda Gabler klingt nämlich das Motiv nicht rein; in ihrem Wesen mischt sich in franken Anarchismus etwas Heuchelei. Nora, Frau Alving („Gespenster“), Selma Malsberg („Der Bund der Jugend“), Dina, Frl. Hessel, Frau Bernick („Stützen der Gesellschaft“), Hedda Gabler, Ellida Wangel („Frau vom Meere“), Rebekka („Rosmersholm“) sind eine und dieselbe Gestalt, nur gleichsam zu verschiedenen Tagesstunden und darum in verschiedener Beleuchtung gesehen. Die einen sind in Dur, die anderen in Moll, die einen sind mehr, die anderen weniger hysterisch vertrackt, aber im Wesen sind sie nicht etwa blos einander ähnlich, sondern mit einander identisch. Selma Malsberg ruft: (S. .) „Unglück gemeinsam tragen? Bin ich jetzt gut genug? Nein. Ich kann nicht länger schweigen, heucheln und lügen. Jetzt sollt ihrs wissen … O wie habt ihr mich mißhandelt! Schändlich, ihr Alle! … Wie hat mich gedürstet nach einem Tropfen eurer Sorgen! Aber bat ich, so ward ich mit einem feinen Scherz abgewiesen. Ihr kleidetet mich wie eine Puppe. Ihr spieltet mit mir, wie man mit einem Kinde spielt … Ich will fort von dir … Laß mich, laß mich.“ Und Nora: (S. .) „Ich lebte davon, daß ich dir Kunststücke vormachte … Ihr habt eine große Sünde gegen mich begangen. Ihr seid schuld, daß nichts aus mir geworden ist. Ich war niemals

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glücklich, nur lustig … Unser Heim war nichts Anderes als eine Spielstube. Zu Hause bei Vater ward ich wie eine kleine Puppe behandelt, hier wie eine große … Deshalb kann ich nicht länger bei dir bleiben. Ich verlasse jetzt sofort deine Wohnung.“ Ellida: („Frau vom Meer“, S.  ff.) „Was ich will, ist, daß wir uns beide dahin einigen, freiwillig von einander zu gehen … Ich bin nicht die, für welche du mich nahmst. Nun siehst du es ja selbst. Jetzt können wir uns in vollem Verständniß trennen … Hier ist ja auch nicht das Geringste, das mich fesselt und bindet. Ich bin ganz ohne Wurzel in deinem Hause, Wangel.“ Selma | droht mit dem Weg- [] gehen, Ellida ist zum Weggehen entschlossen, Nora geht weg, Frau Alving ist weggegangen. („Gespenster“, S. . Pastor Manders): „Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist dem Zwanglosen, dem Ungesetzlichen zugewendet gewesen. Niemals haben Sie irgend einen Zwang ertragen können, Alles, was Sie im Leben beengt und bedrückt hat, haben Sie gewissenlos und rücksichtslos wie eine Bürde abgeworfen, über die Sie selbst Gewalt hatten. Es behagte Ihnen nicht länger, Gattin zu sein — und Sie verließen Ihren Gatten. Es war Ihnen beschwerlich, Mutter zu sein, und Sie schickten Ihr Kind hinaus in die Fremde“. Frau Bernick war ebenso wie ihre Doppelgängerinen eine Fremde in ihrem Hause. Sie aber will nicht gehen, sondern bleiben und versuchen, den Gatten zu erobern: (S. .) „Viele Jahre hindurch glaubte ich, ich hätte dich einst besessen und wieder verloren. Jetzt weiß ich, daß ich dich nie besessen habe. Aber nun sollst du mein werden.“ Dina („Stützen der Gesellschaft“) kann noch nicht weglaufen, weil sie noch gar nicht verheiratet ist, aber ihrem Mädchen-Zustand entsprechend gibt sie dem Auflehnungsgedanken diese Form: (S. .) „Ich will Ihre Frau werden, aber zuvor will ich arbeiten, selbst etwas werden. Ich will keine Sache sein, die man nimmt.“ Rebekka („Rosmersholm“) ist auch nicht verheiratet, aber sie läuft doch weg: (S. .) „Ich reise. Rosmer. Auf der Stelle? Rebekka. Ja … Mit dem Dampfschiff nach Norden. Ich bin ja von da gekommen. Rosmer. Aber da oben hast du ja nichts mehr zu thun. Rebekka. Das habe ich hier unten auch nicht. Rosmer. Was willst du beginnen? Rebekka. Ich weiß nicht. Ich will nur sehen, dem Ganzen eine Ende zu machen.“ Nun das Gegenstück: der heuchlerische Selbstling, der seine Ichsucht befriedigt, ohne die Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen. Diese Gestalt tritt der Reihe nach unter den Namen Robert Helmer, Konsul Bernick, Hilfsprediger Rohrland, Rektor Kroll, | Pastor Manders, Bürgermeister Stockmann, Werle, einmal auch ein [] wenig als Hedda Gabler auf, immer mit denselben Gedanken und Worten. Helmer („Nora“, S.  ff.) ruft nach dem Bekenntniß seiner Frau: „O welch ein entsetzliches Erwachen … Keine Religion, keine Moral, kein Pflichtgefühl … Er kann die Sache bekannt machen und thut er das, so komme ich vielleicht in den Verdacht, um deine verbrecherische That gewußt zu haben … Ich muß ihn auf die eine oder andere Weise zu befriedigen suchen. Die Sache muß um jeden Preis vertuscht werden.“ Pastor Manders („Gespenster“) läßt sich bei verschiedenen Anlässen so vernehmen: „Man braucht doch wahrhaftig nicht Allen und Jedem Rechenschaft über das abzulegen, was man innerhalb seiner vier Wände liest oder denkt … Wir dürfen

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

uns doch nicht einer schiefen Beurtheilung aussetzen; und wir dürfen auch durchaus in der Gemeinde kein Aergerniß geben … Sie gehen hin und setzen Ihren guten Namen und Ihren Ruf aufs Spiel und sind nahe daran, den Ruf Anderer obendrein zu verscherzen. Es war äußerst rücksichtslos von Ihnen, bei mir Zuflucht zu nehmen … Ja, das ist wohl das einzig mögliche“ („die Sache zu vertuschen“), — „ja, leider ist das Familienleben nicht immer so rein, wie es sein sollte. Aber das, worauf Sie abzielen, sind doch immer nur Dinge, die man nicht wissen kann.“ Rohrland („Stützen der Gesellschaft“): „Wie ist nicht das Familienleben untergraben! Wie äußern sich nicht fremde Umsturzgelüste … Wohl wuchert leider auch hier Unkraut unter dem Weizen, aber das suchen wir doch nach besten Kräften redlich auszujäten … O Dina, wie können Sie so klein denken von den tausend Rücksichten — wenn man den Beruf hat, die moralische Stütze der Gesellschaft zu sein, in der man lebt, kann man nie vorsichtig genug sein … O Dina, Sie sind mir so theuer — st! Da kommt Jemand. Dina, um meinetwillen — gehen Sie hinaus zu den Anderen … Ein gutes Buch bildet einen wohlthuenden Gegensatz zu jenen Produk[] ten, die uns | leider täglich die Zeitungen und Zeitschriften bieten.“ Konsul Bernick in demselben Stücke: „Jetzt, da ich in der Stadt sowohl wie in der Presse einer ungetrübt guten Stimmung bedarf! Die Blätter der Nachbarschaft werden von hier aus Korrespondenzen bringen … Diese Zeitungsschreiber schimpfen mich in verblümter Weise aus … Ich, der die Aufgabe hat, durch die Macht des Beispiels auf meine Mitbürger zu wirken, muß mir dergleichen ins Gesicht schleudern lassen! Das duld ich nicht … daß solcherart mein Name beschmutzt wird … Ich muß mein Gewissen rein bewahren. Zudem wirds in der Presse und in der Gesellschaft einen guten Eindruck machen, wenn man sieht, daß ich alle persönlichen Rücksichten beiseite setze und der Gerechtigkeit ihren Lauf lasse.“ Kroll in „Rosmersholm“: „Lesen Sie bisweilen radikale Blätter? … Jedenfalls haben Sie doch gelesen, wie diese Herren vom ‚Volke‘ es für gut befunden haben, mir zu begegnen? Welche Infamien sie sich herausgenommen haben?“ Werle in der „Wildente“: „Selbst wenn sie, aus Anhänglichkeit für mich, sich dem Klatsch und der Verleumdung und allem ähnlichen aussetzte —.“ Der Bürgermeister im „Volksfeind“: „Wenn ich vielleicht mit einer gewissen Aengstlichkeit über mein Ansehen wache, so geschieht das im Interesse der Stadt … Im Interesse der Allgemeinheit muß die Sache unter uns bleiben … Im Stillen wollen wir inzwischen unser Bestes thun. Aber nichts darf von dieser fatalen Angelegenheit in die Oeffentlichkeit dringen … Und dann dein unglückseliger Hang, öffentlich über alle möglichen und unmöglichen Dinge zu schreiben. Kaum hast du irgend einen Einfall — gleich mußt du einen Zeitungsartikel oder gar eine ganze Broschüre daraus machen.“ Zuletzt Hedda Gabler: „Daß du so ganz offenkundig gegangen bist — was glaubst du, daß die Leute von dir sagen werden? Solche Angst habe ich vor dem Skandal! … Sie sollten es trotzdem thun. Um Ihrer selbst willen. Oder besser gesagt, um der Leute willen.“ | [] Wenn man alle Nora- und alle Helmer-Stellen hinter einander liest, wird man den Eindruck haben müssen, daß sie aus einer einzigen Rolle herausgeschrieben

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sind, und der Eindruck wird richtig sein, denn unter einem Dutzend verschiedener Namen ist es auch nur eine einzige Rolle. Dasselbe gilt von den Frauen, die im Gegensatze zur ichsüchtigen Nora sich selbstlos opfern. Martha Bernick, Frl. Hessel, Hedwig, Frl. Tesman u. s. w., immer dieselbe Gestalt, mannigfach verkleidet. Aber die Eintönigkeit geht bis in die kleinsten Einzelheiten. Ranks Erbkrankheit wird in Oswalds Erbkrankheit blos weitläufiger ausgeführt. Noras Abgang wiederholt sich fast in jedem Stück und wird in der „Wildente“ durch Hjalmars Abgang parodirt. Ein Zug dieses Auftrittes kommt in allen seiner Wiederaufwärmungen wörtlich vor: „Nora. Hier leg ich die Schlüssel hin. Die Mädchen wissen über Alles im Hause Bescheid — besser als ich. Ellida. Reise ich, … so habe ich nicht einen Schlüssel abzugeben, keinen Befehl zu hinterlassen … So ganz ohne Wurzel bin ich in deinem Hause“ u. s. w. In „Nora“ läßt sich die Heldin, die mit ihrem Leben abgeschlossen hat und der Katastrophe entgegenbangt, auf dem Piano von Rank eine wilde Tarantella vorspielen, zu der sie tanzt; in „Hedda Gabler“ hört man die Heldin im Hinterzimmer „plötzlich eine wilde Tanzweise auf dem Klavier spielen,“ ehe sie sich erschießt. Rosmer sagt zu Rebekka, als sie erklärt, daß sie sterben wolle: „Nein. Du weichst. Du wagst nicht, was sie gewagt.“ Der Erpresser Günther sagt zu Nora, die mit Selbstmord droht: „O, Sie machen mir nicht bange. Eine feine, verwöhnte Dame wie Sie … So etwas thut man nicht.“ Brack sagt zu Hedda Gabler auf ihre Bemerkung: „Lieber sterben“: „Dergleichen sagt man wohl. Aber man thut es nicht.“ Mit ungefähr denselben Worten werfen Helmer seiner Gattin Nora und Pastor Manders der Frau Alving vor, der eine, daß sie ihm ihre Ehre durch die Wechselfälschung geopfert, der andere, daß sie ihm | ihre Ehre opfern [] gewollt. Mit ganz denselben Worten fordern Frl. Hessel, Konsul Bernick und Rebekka Rosmer zur Ablegung der Beichte auf. Werle hat das Verbrechen begangen, das Dienstmädchen Gina zu verführen. Alvings Verbrechen war, daß er sein Dienstmädchen verführt hat. Diese kläglich schwachsinnige Selbstwiederholung Ibsens, diese Ohnmacht seines trägen Gehirns, den Abdruck eines einmal mühselig ausgearbeiteten Gedankens wieder auszuwachsen, geht so weit, daß er selbst bei der Erfindung der Namen seiner Gestalten bewußt oder unbewußt unter der Wirkung eines Nachklanges steht. Wir haben in „Nora“ Helmer, in der „Wildente“ Hjalmar, in den „Stützen der Gesellschaft“ Hilmar, den Bruder der Frau Bernick. So ist Ibsens ganzes Theater wie ein Kaleidoskop aus einem ZehnpfennigBazar. Wenn man durch das Guckloch in die Pappröhre blickt, so sieht man bei jeder Rüttel-Bewegung neue, bunte Figuren. Kinder unterhält dieses Spielzeug. Der Erwachsene aber weiß, daß darin blos einige Splitter farbigen Glases, immer dieselben, durcheinander geworfen und von drei Stückchen Spiegelglas zu einer ebenmäßigen Zeichnung vervielfältigt werden, deren ausdruckslose Arabesken sehr rasch ermüden. Mein Bild läßt sich aber nicht blos auf Ibsens Theater, sondern auch auf ihn selbst anwenden. Eigentlich ist er das Kaleidoskop. Die paar armseligen Glasscherben, mit denen er seit dreißig Jahren klappert und die er zu billigen Mosaik-Kombinationen durcheinander wirft, sind seine Zwangsvorstellungen.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Diese sind in seinem krankhaften Innern entstanden und nicht vom Schauspiel der Welt eingegeben. Vom wirklichen Leben weiß dieser angebliche „Realist“ nichts. Er begreift es nicht, er sieht es nicht einmal, er kann also seinen Vorrath an Eindrücken, Vorstellungen, Urtheilen daraus nicht erneuern. Nach der bekannten Anweisung zur Herstellung von Kanonen nimmt man ein Loch und gießt Metall darum. Aehnlich verfährt Ibsen bei seinem Dichten. Er hat eine These, richtiger eine [] anar-|chistische Narrheit; das ist das Loch; es handelt sich nur noch darum, dieses Loch, dieses Nichts mit dem Metall von Lebenswirklichkeit zu umgeben. Aber das besitzt Ibsen nicht. Höchstens findet er manchmal einige Körnchen abgetretener Hufnägel oder eine weggeworfene Sardinenbüchse, wenn er im Miste stöbert, aber dieses bischen Metall reicht zu einer Kanone nicht aus. Wo Ibsen sich anstrengt, ein Bild thatsächlicher, zeitgenössischer Vorgänge zu malen, da erstaunt er durch die Beschränktheit aller Verhältnisse und Menschen, die seine ganze Erfahrung ausmachen. Philiströs, krähwinkelhaft ist gar nicht das Wort dafür. Das sinkt bereits unter die Menschheit-Schwelle. Der alte Huber, Sir John Lubbock verzeichnen derartige Vorgänge, wenn sie das Treiben eines Ameisenhaufens beobachten. Die kleinen Züge, die Ibsen seinen Thesen auf zwei Beinen annadelt, um ihnen wenigstens so viel Menschenähnlichkeit zu geben, wie sie eine Vogelscheuche hat, sind aus einer gräßlichen norwegischen Strandlochgesellschaft von Säufern und Faselhänsen, von Idioten und tollgewordenen hysterischen Gänsen geholt, die in ihrem Leben nie einen andern Gedanken klar ausgedacht haben als den: „Wie verschaffe ich mir eine Flasche Aquavit?“ oder: „Wie mache ich mich vor den Männern interessant?“ Das einzige, was diese Lövborgs, Ekdals, Oswald Alvings u. s. w. von Thieren unterscheidet, ist, daß sie kneipen. Die Noras, Heddas, Ellidas zechen nicht, dafür rasen sie, daß man sie binden müßte. Ihre großen Lebensereignisse sind die Erlangung einer Bankanstellung („Nora“), ihre Katastrophen das Bekenntniß, daß man nicht mehr kirchengläubig ist („Rosmersholm“), der Verlust einer Badearzt-Anstellung („Der Volksfeind“), das Ruchbarwerden eines verliebten Nachtabenteuers aus der Jugendzeit („Stützen der Gesellschaft“); die furchtbaren Verbrechen, die wie eine Gewitterwolke das Leben seiner Gestalten und ihres ganzen Kreises verfins[] tern, sind eine Dienstmädchen-Liebschaft | („Gespenster“, „Wildente“), eine vergnügliche Beziehung zu einer Bänkelsängerin („Stützen der Gesellschaft“), ein irrthümliches Holzfällen in einem Staatsforst („Wildente“), ein Besuch in einem öffentlichen Hause nach einem Zechgelage („Hedda Gabler“). Es widerfährt mir manchmal, daß ich eine halbe Stunde in einer Kinderstube verbringe, um mich am Geplauder und Spiel der Kleinen zu erfreuen. Einmal geschah es, daß die Kinder zufällig auf der Straße Zeugen einer Verhaftung geworden waren. Ihre Begleiterin hatte sie zwar rasch von dem unpassenden Schauspiel weggeführt, aber sie hatten doch von dem Auflauf genug gesehen, um davon stark erregt zu werden. Als ich tags darauf bei ihnen eintrat, waren sie noch ganz voll von dem großen Ereignisse und ich wurde Zeuge folgenden Zwiegesprächs: Mathilde, dreijährig.

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 Warum haben sie den Herrn eingesperrt? Richard, fünfjährig, sehr würdevoll und

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lehrhaft. Es war kein Herr, es war ein schlechter Mensch. Sie haben ihn eingesperrt, weil er unartig war. Mathilde. Was hat er denn angestellt? Richard, nach kurzem Nachdenken. Seine Mama hatte ihm verboten, Chokolade zu nehmen. Er hat aber doch Chokolade genommen. Darum hat ihn seine Mama einsperren lassen. Dieses Kindergespräch kam mir jedesmal in den Sinn, so oft ich in Ibsens Theater auf eins seiner Verbrechen stieß, die er mit so einschüchternder Wichtigkeit behandelt. Sie sind aus dem geistigen Gesichtskreis eines Hemdelatzes heraus erfunden. Wir sind nun um Ibsen in seinem ganzen Umfange herumgegangen. Auf die Gefahr hin, breitspurig und schwerfällig zu werden, habe ich ihn immer mit seinen eigenen Worten gekennzeichnet, damit der Leser selbst den Stoff vor sich habe, aus dem meine Urtheile abgeleitet sind. Ibsen steht vor uns als ein Mystiker und Ichsüchtiger, der gerne beweisen möchte, daß Welt und Menschen keinen Schuß Pulver werth sind, aber nur beweist, daß er von diesen und von jener nicht | die [] blasseste Ahnung hat. Unfähig, sich irgend welchen Verhältnissen anzupassen, schimpft er zuerst auf die norwegischen, dann auf die europäischen im Allgemeinen. In keinem einzigen seiner Stücke ist ein wirklich zeitgenössischer, wirklich zeitbewegender Gedanke anzutreffen, man wollte denn seinem Anarchismus, der sich aus der krankhaften Beschaffenheit seines Geistes erklärt, und seinem parodistischen Spielen mit den unsichersten Ergebnissen der Forschungen auf dem Gebiete der Hypnose und Telepathie die Ehre erweisen, sie als Gedanken dieser Art gelten zu lassen. Er ist ein gewandter Theatertechniker und er weiß Personen des Hintergrundes und Lagen, die außerhalb des Hauptstromlaufs der Handlung auftreten, mit großer dichterischer Kraft darzustellen. Das ist aber auch Alles, was ein gewissenhafter und geistesklarer Zergliederer an ihm echt finden kann. Er hat es gewagt, von seinen „sittlichen Gedanken“ zu sprechen, und seine Bewunderer wiederholen das Wort geläufig. Die sittlichen Gedanken Ibsens! Wer darüber nicht lacht, nachdem er sein Theater gelesen hat, der besitzt wirklich keinen Sinn für Humor. Er scheint den Abfall vom Kirchenglauben zu predigen und wird die kirchlichen Vorstellungen der Beichte, der Erbsünde, der Heilsthat des Erlösers nicht los. Er stellt die Selbstsucht und Freiheit des Individuums von allen Bedenken als Ideal hin und kaum hat ein Individuum etwas bedenkenfrei gehandelt, so winselt es zerknirscht so lange, bis es sein zum Ersticken volles Gemüth in einer Beichte ausgeschüttet hat, und die einzigen lebenswahren und angenehmen Gestalten, die ihm gelungen, sind Frauen, die sich bis zur Vernichtung ihrer Individualität für Andere opfern. Er feiert jeden Verstoß gegen die Sitte als ein Heldenstück und bestraft gleichzeitig jede kleinste und dümmste Liebelei mit nicht weniger als dem Tode. Er gurgelt sich mit den Worten Wahrheit, Fortschritt u. s. w. und feiert in seinem besten Werke Lüge und Stillstand. Und alle diese Widersprüche treten | nicht etwa der Reihe nach als Haltstellen auf seiner Entwickelungsbahn auf, sie [] sind gleichzeitig, sie erscheinen immer neben einander. Sein französischer Bewun-

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

derer Ehrhard sieht diese etwas störende Thatsache und sucht sie zu entschuldigen, so gut er kann. Sein norwegischer Ausleger dagegen, Henrik Jaeger, behauptet mit größter Seelenruhe, daß das, was die Werke Ibsens am Meisten kennzeichne, ihre Einheitlichkeit sei. „Enhed“, so sagt Jaeger wirklich! Es war höchst unvorsichtig, daß der Franzose und der Norweger sich nicht vorher verabredeten, ehe sie ihren großen Mann so weit auseinander lobten. Die einzige Einheit, die ich in Ibsen entdecken kann, ist die seiner Verdrehtheit. Worin er sich wirklich immer gleichgeblieben ist, das ist seine vollständige Unfähigkeit, einen einzigen Gedanken deutlich zu denken, ein einziges der Schlagworte, die er seinen Stücken hie und da aufpinselt, zu begreifen, aus einem einzigen Vordersatze die richtigen Folgerungen abzuleiten. Und diesen bösartigen, gesellschaftfeindlichen, allerdings bühnentechnisch hochbegabten Faselhans hat man sich unterstanden, als den großen Weltdichter des ausgehenden Jahrhunderts auf den Schild heben zu wollen. Seine Gemeinde hat so lange in alle Welt hinausgeschrieen: „Ibsen ist ein großer Dichter!“ bis alle stärkeren Urtheile mindestens schwankend und alle schwächeren völlig unterjocht [] wurden. In einem | neuen Buch über Simon den Magier findet sich eine hübsche Geschichte. „Der Libyer Apsethus wollte ein Gott werden. Aber trotz seiner größten Anstrengungen konnte er seine Sehnsucht nicht befriedigen. Jedenfalls sollten jedoch die Leute glauben, er sei ein Gott geworden. Er sammelte also eine große Menge Papageien, deren es in Libyen sehr viele gibt, und sperrte sie alle in einen Käfig. Er behielt sie eine Zeit lang und lehrte sie sagen: Apsethus ist ein Gott. Und als die Vögel dies erlernt hatten, öffnete er den Käfig und ließ sie fortfliegen. Und die Vögel verbreiteten sich über ganz Libyen und ihre Worte drangen bis zu den griechischen Siedelungen. Und die Libyer, erstaunt über die Stimme der Vögel, nicht ahnend, welchen Kniff Apsethus angewendet hatte, betrachteten ihn als einen Gott.“ Nach dem Vorbilde des anschlägigen Apsethus hat Ibsen einigen „Verständnißvollen“, diesen Brandes, Ehrhards, Jaegers u. s. w., die Worte anzulernen gewußt: „Ibsen ist ein Moderner! Ibsen ist ein Zukunftsdichter!“ und die Papageien haben sich über alle Länder verbreitet und schwatzen betäubend in Büchern und Zeitungen: „Ibsen ist groß! Ibsen ist ein moderner Geist!“ und die Schwachköpfe im Publikum murmeln den Schrei nach, weil sie ihn häufig wiederholt hören und weil jedes stark betonte, mit Sicherheit ausgesprochene Wort auf sie Eindruck macht.  Auguste Ehrhard, a. a. O. S. : „Mit einer wunderbaren Offenheit weist Ibsen in seinen letzten Werken auf den Mißbrauch hin, den man mit seinen Gedanken“ (!) „treiben kann. Er räth den Umgestaltern äußerste Vorsicht, wenn nicht Schweigen. Was ihn betrifft, so hört er auf, die Menge zur Verfolgung des sittlichen und gesellschaftlichen Fortschritts“ (!) „anzureizen; er zieht sich in seinen verachtenden Pessimismus zurück und schwelgt in einer aristokratischen Einsamkeit in den heiteren Gesichten der künftigen Zeiten.“  Henrik Jaeger, Henrik Ibsen og hans Vaerker. En Fremstilling i Grundrids. Christiania, . Passim.  G. R. S. Mead, B. A., Simon Magus. London, .

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Freilich wäre es oberflächlich, zu glauben, daß die Dreistigkeit seiner Korybanten allein die Stellung erklärt, zu der Ibsen emporgeschwindelt werden konnte. Er hat ohne Frage Züge, durch die er auf seine Zeitgenossen wirken mußte. Da sind zuerst seine verschwommenen Redensarten und seine beiläufigen, unbestimmten Anspielungen auf die „große Zeit, in der wir leben“, auf die „neue Zeit, die anbricht“, auf die „Freiheit“, den „Fortschritt“ u. s. w. Diese Phrasen mußten | allen Träumern und Faslern gefallen, denn sie lassen jede Deutung zu und [] gestatten namentlich, in ihrem Urheber Modernität und kühne Fortschrittlichkeit zu vermuthen. Daß Ibsen selbst sich in der „Wildente“ (S. .) über die „Verständnißvollen“ grausam lustig macht, indem er Relling das nach seiner eigenen Erklärung gänzlich sinnlose Wort „dämonisch“ so gebrauchen läßt, wie er selbst die Fortschritts- und Freiheits-Schwabbeleien verwendet, entmuthigt sie nicht. Dafür sind sie eben „Verständnißvolle“, daß sie jede Stelle so deuten können, wie es ihnen paßt. Da ist ferner seine Lehre vom Rechte des Individuums, nach seinem eigenen Gesetze zu leben. Ist dies wirklich seine Lehre? Man muß dies leugnen, wenn man sich durch seine zahllosen Widersprüche und Selbstwiderlegungen durchgewunden und wenn man gesehen hat, daß er mit besonderer Liebe die Opferlämmer behandelt, die ganz Verleugnung des eigenen Ichs, ganz Unterdrückung ihrer natürlichsten Triebe, ganz Nächstenliebe und Rücksicht sind. Aber jedenfalls haben seine Apostel den anarchistischen Individualismus als die Mittelpunkt-Lehre seines Theaters hingestellt. Ehrhard faßt sie in die Worte zusammen: „Auflehnung des Individuums gegen die Gesellschaft; anders gesagt: Ibsen ist der Apostel der sittlichen Selbstbestimmung (autonomie morale).“ Eine solche Lehre ist nun allerdings dazu angethan, unter den Denkfaulen oder Denkunfähigen Verheerungen anzurichten. Ehrhard wagt die Worte „sittliche Selbstbestimmung“ zu gebrauchen. Im Namen dieses schönen Grundsatzes überreden Ibsens kritische Herolde die ihm zulaufende Jugend, daß sie „das Recht habe, sich auszuleben“, und sie lächeln billigend dazu, wenn ihre Zuhörer darunter das Recht verstehen, ihren viehischen Trieben nachzugeben und sich jeder Zucht zu ent-|ledigen. Wie Ruffiane in den [] Mittelmeer-Häfen den gut gekleideten Reisenden, so murmeln sie ihrem Publikum ins Ohr: „Unterhalten Sie sich! Genießen Sie! Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen den Weg zeigen.“ Das aber ist der ungeheure Irrthum bei den Gutgläubigen und der schändliche Betrug bei den Jugend-Verderbern um Kuppellohn, daß sie die „sittliche Selbstbestimmung“ mit Zügellosigkeit verwechseln. Diese beiden Begriffe sind nicht nur nicht gleichbedeutend, sie sind einander sogar entgegengesetzt und schließen sich gegenseitig aus. Freiheit des Individuums! Das Recht der Selbstbestimmung! Das Ich sein eigener Gesetzgeber! Wer ist dieses Ich, das sich seine Gesetze geben soll? Wer ist dieses „Selbst“, für das Ibsen

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das Recht fordert, sich allein zu bestimmen? Wer ist dieses freie Individuum? Daß der ganze Begriff eines Ichs, welches der übrigen Welt als etwas Fremdes und Ausschließendes entgegengesetzt wird, eine Täuschung des Bewußtseins ist, haben wir bereits in der „Psychologie der Ichsucht“ gesehen, ich brauche also hier nicht wieder dabei zu verweilen. Wir wissen, daß der Mensch, wie jedes andere sehr zusammengesetzte und hochentwickelte Lebewesen, eine Gesellschaft oder ein Staat von einfacheren und einfachsten Lebewesen, von Zellen und Zellensystemen oder Organen ist, die alle ihre eigenen Verrichtungen und Bedürfnisse haben. Sie sind im Laufe der Entwickelung des Lebens auf der Erde zusammengetreten und haben Veränderungen erlitten, um höhere Verrichtungen leisten zu können, als sie der einfachen Zelle und dem ursprünglichen Zellenhaufen möglich sind. Die höchste Verrichtung des Lebens, die wir bisher kennen, ist das helle Bewußtsein, der vornehmste Inhalt des Bewußtseins ist die Erkenntniß und der sichtbarste und nächste Zweck der Erkenntniß ist, dem Organismus immer bessere Lebensbedingungen zu verschaffen, also sein Dasein möglichst lang zu erhalten und es mit möglichst viel Lustempfindungen zu füllen. Damit der Gesammtorganismus sei[] ner | Aufgabe nachkommen könne, sind seine Bestandtheile verpflichtet, sich einer strengen Rangordnung zu fügen. Anarchie in seinem Innern ist Krankheit und führt rasch zum Tode. Die einzelne Zelle thut ihre chemische Arbeit der Zersetzung und des Aufbaus von Verbindungen, ohne sich um etwas Anderes zu kümmern. Sie arbeitet beinahe blos für sich. Ihr Bewußtsein ist das denkbar beschränkteste, irgend eine Voraussicht hat sie schwerlich, ihre Anpassungsfähigkeit aus eigener Kraft ist so gering, daß sie, sowie sie etwas schwächer genährt ist als ihre Nachbarin, sich gegen diese nicht halten kann und von ihr sofort aufgefressen wird. Die differenzirte Zellengruppe, das Organ, hat schon ein weiteres Bewußtsein, dessen Sitz eigene Nervenganglien sind, seine Verrichtung ist verwickelter und kommt nicht mehr ihm allein oder hauptsächlich, sondern dem Gesammtorganismus zu Gute, es hat also auch schon einen, ich möchte sagen verfassungsmäßigen Einfluß auf die Leitung der Geschäfte des Gesammtorganismus, der sich dadurch geltend macht, daß das Organ im Stande ist, dem Bewußtsein Vorstellungen einzugeben, die den Willen zu Handlungen veranlassen. Aber das vornehmste Organ, die Zusammenfassung aller anderen Organe ist die graue Hirnrinde. Sie ist der Sitz des hellen Bewußtseins. Sie arbeitet am wenigsten für sich, am meisten für das Gemeinwesen, das heißt den Gesammtorganismus. Sie ist die Regierung des Staa[] tes. In ihr laufen alle Meldungen aus dem Innern und von außen zu-|sammen, sie hat sich inmitten aller Verwickelungen zurechtzufinden, sie hat Voraussicht zu  W. Roux, Ueber den Kampf der Theile des Organismus. Leipzig, . Seit dem Erscheinen der Rouxschen Arbeit ist die Lehre von der Phagocytose oder der Verdauung von schwächeren Zellen durch stärkere bedeutend erweitert worden. Hier ist aber nicht der Ort, die zahlreichen einschlägigen Mittheilungen anzuführen, die in der „Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie“, in Virchows „Archiv“, im „Biologischen Zentralblatt“, in den „Zoologischen Jahrbüchern“ u. s. w. erschienen sind.

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üben und bei jeder Handlung außer der unmittelbaren Wirkung auch die weiteren Folgen für das Gemeinwesen in Erwägung zu ziehen. Wenn also vom „Ich“, vom „Selbst“, vom „Individuum“ die Rede ist, so kann vernünftiger Weise nicht irgend ein untergeordneter Theil des Organismus, nicht die kleine Zehe oder der Mastdarm, sondern nur die graue Hirnrinde gemeint sein. Sie allerdings hat das Recht und die Pflicht, das Individuum zu leiten und ihm sein Gesetz vorzuschreiben. Sie, das heißt das Bewußtsein. Wie bildet dieses aber seine Urtheile und Beschlüsse? Es bildet sie aus den Vorstellungen, die in ihm durch Erregungen aus den inneren Organen und aus den Sinnen geweckt werden. Läßt sich das Bewußtsein blos von den organischen Erregungen leiten, so sucht es augenblickliche Begierden auf Kosten des Wohlseins in der nächsten Stunde zu befriedigen, es schädigt ein Organ, indem es das Bedürfniß eines andern begünstigt, und es vernachlässigt die Rücksicht auf Verhältnisse in der Außenwelt, mit denen es zum Wohle des Organismus rechnen müßte. Hierfür nur einige ganz einfache Beispiele. Ein Mensch bewegt sich im Hechtschwimmen unter dem Wasser. Seine Zellen wissen davon nichts und kümmern sich nicht darum. Sie nehmen aus dem Blute ruhig den Sauerstoff, den sie augenblicklich nöthig haben, und entleeren im Austausche dafür Kohlensäure. Das verdorbene Blut reizt das verlängerte Mark und dieses verlangt stürmisch eine Athembewegung. Würde die graue Hirnrinde diesem an sich voll berechtigen Drange eines Organs nachgeben und den Antrieb zu einer Athembewegung au die betreffenden Muskeln ausgehen lassen, so wäre die Füllung der Lunge mit Wasser und der Tod des Gesammtorganismus die Folge davon. Das Bewußtsein gehorcht denn auch dem Verlangen des verlängerten Markes nicht und gibt, statt an die Zwischenrippen- und Zwerchfell-, an die Arm- und Bein-Muskeln Bewegungs-|an- [] triebe aus, statt im Wasser Athem zu schöpfen taucht der Schwimmer auf. Ein anderer Fall. Ein Genesender nach Unterleibstyphus empfindet Heißhunger. Würde er diesem Drange nachgeben, so könnte er sich eine augenblickliche Befriedigung verschaffen, aber  Stunden später würde er wahrscheinlich an Darmdurchlöcherung sterben. Sein Bewußtsein widersteht also zum Wohle des Gesammtorganismus dem Drange seiner Organe. Natürlich liegen die Fälle fast nie so einfach, sondern viel verwickelter. Aber immer ist es die Aufgabe des Bewußtseins, die ihm aus der Tiefe der Organe zugehenden Reize zu prüfen, in die Bewegungsvorstellungen, die sie anregen, alle seine früheren Erfahrungen, seine Erkenntniß, die Weisungen der Außenwelt mit einzubegreifen und die Reize unberücksichtigt zu lassen, wenn die ihnen widerstehenden Urtheile mächtiger sind. Selbst ein ganz gesunder Organismus geht rasch zu Grunde, wenn die hemmende Thätigkeit des Bewußtseins nicht geübt wird und durch diesen Mangel an Uebung seine Hemmungskraft verkümmert. Der Cäsaren-Wahnsinn ist nichts Anderes als die Folge der grundsätzlichen Nachsicht des Bewußtseins gegen jedes Verlangen der Organe. Ist aber der Organismus nicht ganz gesund, ist er entartet,

 Jacoby, La folie des césars. Paris, .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

so ist sein Untergang noch viel schleuniger und sicherer, wenn er dem Drange seiner Organe gehorcht, denn diese leiden dann an Verirrungen, sie fordern Befriedigungen, die nicht nur dem Gesammt-Organismus in weiterer Folge, sondern ihnen selbst unmittelbar schädlich sind. Wenn man also von dem Ich spricht, welches das Recht haben soll, sich selbst zu bestimmen, so kann man nur das bewußte Ich, das erwägende, sich erinnernde, beobachtende, vergleichende Denken meinen, nicht aber die unzusammenhängen[] den, meist mit einander im Kampfe liegenden Unter-Ichs, | welche das Unbewußte in sich schließt. Das Individuum ist der urtheilende, nicht der triebhafte Mensch. Freiheit heißt die Fähigkeit des Bewußtseins, Anregungen nicht blos aus den Reizen der Organe, sondern auch aus denen der Sinne und aus den eigenen Erinnerungsbildern zu schöpfen. Die Ibsensche „Freiheit“ ist die tiefste und stets selbstmörderische Sklaverei. Sie ist die Unterjochung des Urtheils unter den Trieb und die Auflehnung eines Einzelorgans gegen die Herrschaft jener Kraft, welche für das Wohl des Gesammt-Organismus zu sorgen hat. Selbst ein so individualistischer Philosoph wie Herbert Spencer sagt: „Um zum Gesellschafts-Zustande geeignet zu werden, muß der Mensch … die Kraft besitzen, auf einen kleinen augenblicklichen Genuß zu verzichten, um einen größern in der Zukunft zu erlangen.“ Auf sein Urtheil kann ein gesunder und geistig vollkräftiger Mensch nicht verzichten. Das [] „sacrifizio dell’ intelletto“ ist das einzige, das er nicht | bringen darf. Wenn ihm Gesetz und Sitte Handlungen auferlegen, die er als unsinnig, weil zweckwidrig, erkennt, so wird er nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht haben, die Vernunft gegen den Unsinn und die Erkenntniß gegen den Irrthum zu vertheidigen. Aber er wird sich immer nur im Namen des Urtheils, nie im Namen des Triebes auflehnen. Freilich kann diese ganze Philosophie der Selbstzügelung nur gesunden Menschen gepredigt werden. Für Entartete hat sie keine Geltung. Ihr mangelhaftes Gehirn und Nervensystem ist außer Stande, ihren Anforderungen zu entsprechen. Die Vorgänge in der Tiefe ihrer Organe sind krankhaft gesteigert. Diese senden also

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 Alfred Binet, Les altérations de la personnalité, Paris, , theilt S.  den oft angeführten, von Bourru und Burot beobachteten Fall des Louis V. mit, der sechs verschiedene Persönlichkeiten, sechs von einander nicht die geringste Kenntniß besitzende Ichs in sich  vereinigte, deren jedes einen andern Charakter, eine andere Lebens-Erinnerung, andere Empfindungs- und Bewegungs-Eigenschaften u. s. w. besaß.  „Selbstmörderisch“ ist hier nicht etwa blos in rednerischer Weise verwendet. Wenn die Herrschaft des Triebes auf die Dauer immer selbstmörderisch wirkt, so thut sie dies manchmal unmittelbar. Der Trieb kann nämlich geradezu auf den Selbstmord oder auf Selbstverstümmelung  gerichtet sein und der „freie“ Mensch, der seinem Triebe gehorcht, hat dann die „Freiheit“, sich zu verstümmeln oder zu tödten, obschon dies so wenig seinem wirklichen Wunsch entspricht, daß er bei Anderen vor sich selbst Schutz sucht. Siehe Dr. R. von Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Dritte umgearbeitete Auflage. Stuttgart, . S. .  Herbert Spencer, L’individu contre l’état. Traduit de l’anglais par J. Gerschel.  ème édition. Paris,  . S. .

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besonders starke Anreize ins Bewußtsein. Die Sinnesnerven leiten schlecht. Die Erinnerungsbilder im Gehirn sind blaß. Wahrnehmungen von der Außenwelt, Vorstellungen früherer Erfahrungen sind also abwesend oder zu schwach, um den aus den Organen stammenden Reiz zu überwinden. Solche Menschen können nicht anders als ihren Begierden und Zwangsantrieben folgen. Sie sind die „Instinktiven“ und „Impulsiven“ der Irrenheilkunde. Zu ihnen gehören die Noras, Ellidas, Rebekkas, Stockmanns, Brands u. s. w. Diese Gesellschaft gehört, weil sie für sich selbst und die Anderen gefährlich ist, unter die Vormundschaft vernünftiger Menschen, am Besten in die Irren-Anstalt. Das muß jenen Narren oder Betrügern geantwortet werden, welche die Ibsenschen Gestalten als „freie Menschen“ und „starke Persönlichkeiten“ rühmen und mit der schönklingenden Rattenfänger-Weise von der „Selbstbestimmung“, der „sittlichen Unabhängigkeit“ und dem „Sichausleben“ urtheillose Kinder wer weiß wohin, doch jedenfalls in den Untergang locken. Der dritte Zug in Ibsens Theater, der seine Erfolge erklärt, ist die Beleuchtung, in der er das Weib zeigt. „Die Frauen sind die Stützen der Gesellschaft“, läßt er Bernick („Stützen der Gesellschaft“, S. .) sagen. Das Weib hat | bei Ibsen keine [] Pflicht und alle Rechte. Das Band der Ehe fesselt es nicht. Es geht, wenn es nach Freiheit verlangt oder wenn es glaubt, daß es sich über den Mann zu beklagen hat, oder wenn ihm ein anderer Mann ein klein wenig besser gefällt als der eigene Gatte. Der Mann, der den Josef spielt und einer Frau Putiphar nicht zu Willen ist, zieht sich nicht etwa den herkömmlichen Spott zu, er wird rundweg als Verbrecher erklärt. (Gespenster, S. .) „Pastor Manders. Es war der größte Sieg meines Lebens, der Sieg über mich selbst. Frau Alving. Es war ein Verbrechen gegen uns beide.“ Das Weib ist immer das kluge, starke, muthige Wesen, der Mann immer der Dummkopf und Feigling. In jedem Zusammenstoß siegt das Weib, wie es will, und der Mann wird plattgeschlagen wie ein Pfannkuchen. Das Weib braucht nur für sich selbst zu leben. Sogar seine ursprünglichsten Triebe, die der Mutterschaft, hat es bei Ibsen überwunden und es verläßt ohne Wimperzucken seine Brut, wenn es die Laune hat, sich anderweitig Befriedigungen zu suchen. Eine solche zerknirschte Anbetung des Weibes, ein Seitenstück zum Weiber-Götzendienste Wagners, eine solche unbedingte Billigung aller weiblichen Verworfenheiten mußte Ibsen den Beifall all der Frauen sichern, die in den hysterischen, nymphomanischen, mit Verirrung des Mutter-Triebes behafteten Mann-Weibern seines Theaters entweder ihr Bild oder das Entwickelungs-Ideal ihrer entarteten Einbildungskraft erkannten. Frauen dieser Gattung finden in der That jede Zucht unausstehlich. Sie sind die geborenen „Weiber der Gosse“ Dumas des Jüngern. Sie taugen nicht zur Ehe, zur europäischen Ehe mit einem einzigen | Manne. Geschlechtliche Vermischung und []

 Dr. Ph. Boileau de Castelnau, Misopédie ou lésion de l’amour de la progéniture. Annales  médico-psychologique, ème Série, . Band, S. . Der Verfasser theilt in dieser Arbeit zwölf Beobachtungen mit, in welchen das natürliche Gefühl der Mutter für ihre Kinder krankhaft in Haß verwandelt war.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Prostitution ist ihr innerster Trieb, nach Ferrero die atavistische Form der Entartung beim Weibe, und sie sind Ibsen dankbar dafür, daß er ihre Neigungen, denen man sonst häßliche Namen gibt, unter den schönen Bezeichnungen „Kampf des Weibes um sittliche Selbstständigkeit“ und „Recht des Weibes auf Geltendmachung seiner Persönlichkeit“ katalogisirt hat. Der arme, ebenfalls verdrehte, aber gestaltungskräftige Strindberg gibt sich die größte Mühe, Ibsens Anschauungen vom Wesen des Weibes, dessen Rechten, seinem Verhältnisse zum Manne, durch grimmig parodistische Uebertreibung der Ibsenschen Lehren (in „Der Vater“, „Gräfin Julie“, „Gläubiger“ u. s. w.) als unsinnig erkennen zu lassen. Seine Methode ist aber falsch. Mit Vernunftgründen wird er Ibsen nie überzeugen, daß seine Lehren aberwitzig sind. Denn sie stammen nicht aus seiner Vernunft, sondern aus seinen unbewußten Trieben. Seine Frauengestalten und ihre Schicksale sind der dichterische Ausdruck jener geschlechtlichen Ver[] irrung der Entarteten, die Krafft-Ebing „Masochismus“ genannt hat. | Der Masochismus ist eine Unter-Gattung der „konträren Sexual-Empfindung“. Der mit dieser Verderbniß Behaftete fühlt sich dem Weibe gegenüber als den schwächern Theil, als den Schutzbedürftigen, als den sich am Boden windenden Sklaven, der den Befehlen der Herrin zu gehorchen hat und im Gehorsam sein Glück findet. Es ist die Umkehrung des gesunden und natürlichen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Bei Sacher-Masoch schwingt das gebieterische und triumphirende Weib die Knute, bei Ibsen fordert es Beichten, hält flammende Strafreden und geht in bengalischer Beleuchtung ab. Die Aeußerung der weiblichen Ueberlegenheit ist hier weniger roh, aber im Wesen sind Ibsens Heldinen denen Sacher-Masochs gleich. Bemerkenswerth ist, daß die Frauen, die den Norafiguren zujubeln, sich nicht an den Hedwigs, Frl. Tesmans und anderen weiblichen Opfergestalten stoßen, in denen das widerspruchsvolle Denken und Fühlen des verworrenen Mystikers zu Tage tritt. Es ist eben psychologisch begründet, daß man übersieht, was zu den  G. Ferrero, L’Atavisme de la prostitution. Revue scientifique, Band , S. .  R. von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis u. s. w. . Auflage, S. , (die dritte Auflage dieses Buches, welche meinen früheren Anführungen zu Grunde liegt, enthält noch nichts über den Masochismus) und „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopathia sexualis, eine medicinisch-psychologische Studie“, zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Stuttgart, , S.  ff. Krafft-Ebing gibt von seinem Worte diese Erklärung: „Unter Masochismus verstehe ich eine eigenthümliche Perversion der psychischen vita sexualis, welche darin besteht, daß das von derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem Willen einer Person des andern Geschlechts vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemüthigt und mißhandelt zu werden.“ Das Wort ist nach dem Namen Sacher-Masochs gebildet, weil „dessen Schriften geradezu typische Bilder des perversen Seelenlebens derartiger Männer entwerfen.“ (Neue Forschungen u. s. w., S. .) Ich halte das Wort nicht für glücklich. Krafft-Ebing zeigt selbst, daß Zola und lange vor ihm Rousseau, er hätte hinzufügen können: auch Balzac im Baron Hulot, den Zustand ebenso deutlich verkörpert haben wie Sacher-Masoch. Besser gefällt mir denn auch die Bezeichnung „Passivismus“, die Dimitry Stefanowsky vorschlägt. Siehe Archives de l’anthropologie criminelle, Jahrgang , S. .

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eigenen Neigungen nicht paßt, und nur bei dem verweilt, was mit ihnen zusammenklingt. Ibsens weibliche Kundschaft setzt sich übrigens nicht blos aus Hysterischen und Entarteten zusammen, sondern auch aus jenen Frauen, die in unglücklicher Ehe leben oder sich unverstanden glauben oder an Unzufriedenheit und innerer Leere leiden, welche eine Folge ungenügender Beschäftigung ist. | Klares Denken [] ist nicht die hervorragendste Eigenschaft dieser Gattung Frauen. Sie würden sonst in Ibsen nicht ihren Anwalt sehen. Ibsen ist nicht ihr Freund. Niemand ist es, der die Einrichtung der Ehe angreift, so lange die heutige Wirthschaftsordnung besteht. Ein ernster und gesunder Reformator wird dafür eintreten, daß die Ehe einen sittlichen und emotionellen Inhalt gewinne und keine lügnerische Form bleibe. Er wird die Ehe aus Eigennutz, die Mitgift- und Geschäfts-Ehe, verdammen, er wird es als Verbrechen verurtheilen, wenn Gatten, die eine starke, wahre, durch Dauer und Kampf erprobte Liebe zu einem andern Menschenwesen fühlen, in einem feigen Scheinbunde beisammen bleiben und einander betrügen und besudeln, statt ehrlich aus einander zu gehen und ein wahres Verhältniß zu gründen; er wird fordern, daß die Ehe aus gegenseitiger Neigung geschlossen, daß sie durch Vertrauen, Achtung und Dankbarkeit unterhalten, durch die Rücksicht auf das Kind befestigt werde, aber er wird sich hüten, gegen die Ehe selbst, gegen die feste Eindämmung der Geschlechtsbeziehungen durch eine bestimmte, dauernde Pflicht, etwas zu sagen. Die Ehe ist ein hoher Fortschritt gegen die lose Paarung der Wilden. Es wäre der tiefste Entartungs-Rückschlag, von ihr zur Ur-Vermischung zurückzukehren. Die Ehe ist überdies nicht für den Mann, sondern für das Weib und das Kind erfunden. Sie ist eine gesellschaftliche Schutzvorrichtung für den schwächern Theil. Der Mann hat seine polygamischen Thier-Triebe noch nicht in dem Maße überwunden und vermenschlicht wie das Weib. Ihm wird es meist ganz recht sein, das Weib, das er besessen hat, durch ein neues zu ersetzen. NoraAbgänge sind in der Regel nicht dazu angethan, ihn zu erschrecken. Er wird Nora die Thür sehr weit öffnen und ihr sehr vergnügt seinen Segen mit auf den Weg geben. Wird es erst in einer Gesellschaft, in der Jeder für sich selbst zu sorgen hat und sich | um fremden Nachwuchs nur kümmert, wenn es sich um verwaiste, [] verwahrloste oder bettelnde Kinder handelt, Gesetz und Sitte, daß man von einander geht, so wie man aufgehört hat, an einander Gefallen zu finden, so werden es die Männer, nicht die Frauen, sein, die von der neuen Freiheit Gebrauch machen werden. Nora-Abgänge sind vielleicht gefahrlos für reiche oder hervorragend erwerbstüchtige, also wirthschaftlich unabhängige Frauen. Aber diese sind in der heutigen Gesellschaft eine winzige Minderheit. Die ungeheure Mehrheit der Frauen hätte unter der Ibsenschen Sittenlehre Alles zu verlieren. Ihr Bollwerk ist die strenge Ehezucht. Sie verpflichtet den Mann, für das verblühte Weib und für die Kinder zu sorgen. Darum wäre es eigentlich die Pflicht verständiger Frauen, Ibsen in Verruf zu erklären und sich gegen den Ibsenismus aufzulehnen, der sie und ihre

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Rechte ruchlos bedroht. Gesunde und sittlich unanfechtbare Frauen können nur aus Irrthum in das Gefolge Ibsens gerathen. Es ist nothwendig, sie über die Trag-  weite seiner Lehren, über deren Wirkung besonders auf die Stellung des Weibes, aufzuklären, damit sie eine Gesellschaft verlassen, welche niemals die ihrige sein kann. Er bleibe von denen allein umgeben, die Geist von seinem Geiste sind, also von hysterischen Frauen und männlichen Masochisten oder Schwachköpfen, die mit Ehrhard glauben, daß „gesunder Menschenverstand und Optimismus die bei-  den Grundsätze sind, welche jede Dichtung zerstören.“

 Ehrhard, a. a. O. S. .

Friedrich Nietzsche.

V. Friedrich Nietzsche.



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Wie die Ichsucht in Ibsen ihren Dichter, so hat sie in Nietzsche ihren Philosophen gefunden. Zu der Verhimmelung des Dreckelns mit Tinte, Farbe und Thon seitens der Parnassier und Aestheten, zu der Beweihräucherung des Verbrechens, der Unzucht, der Krankheit und Verwesung seitens der Diaboliker und Decadenten, zu der Verherrlichung des „wollenden“, „freien“, „ganz er selbst“ seienden Menschen seitens Ibsens liefert Nietzsche die Theorie oder etwas, was sich dafür ausgibt. Dies ist, nebenbei bemerkt, von jeher die Arbeit der Philosophie gewesen. Sie spielt in der Gattung dieselbe Rolle wie das Bewußtsein im Einzelwesen. Das Bewußtsein hat die undankbare Aufgabe, für die aus dem Unbewußten stammenden Triebe und Handlungen vernünftige Gründe und einleuchtende Erklärungen zu erfinden. Aehnlich bemüht sich die Philosophie, für die in den staats- und sittengeschichtlichen Ereignissen, in den klimatischen und wirthschaftlichen Weltverhältnissen wurzelnden Besonderheiten des Fühlens, Denkens und Thuns eines Zeitalters tiefsinnig klingende Formeln zu finden und ihnen eine Art Uniform der Logik anzumessen. Das Geschlecht lebt, ohne sich um eine Theorie seiner Eigenthümlichkeiten zu kümmern, nach seiner entwickelungsgeschichtlichen Nothwendigkeit und die Philosophie humpelt ihm geschäftig nach, sammelt die zerstreuten Züge seines Charakters, die Aeußerungen seiner Gesundheit und Krankheit mehr oder minder ordentlich in ihr | Album, versieht dieses methodisch mit Titelblatt, Seitenzahlen [] und Schlußpunkt und stellt es zufrieden in die Bücherei zur Sammlung der Systeme von vorschriftsmäßig gleichem Format. Echte Wahrheiten, wirkliche, zutreffende Erklärungen enthalten die philosophischen Systeme nicht. Aber sie sind lehrreiche Zeugen der Anstrengungen des Gattungs-Bewußtseins, zum unbewußten Treiben der Gattung in einer gegebenen Zeit geschickt oder unbeholfen die von der Vernunft geforderten Ausreden zu liefern. Wenn man Nietzsches Schriften hinter einander liest, so hat man von der ersten bis zur letzten Seite den Eindruck, einen Tobsüchtigen zu hören, der mit blitzenden Augen, wilden Geberden und schäumendem Munde einen betäubenden Wortschwall hervorsprudelt und zwischendurch bald in ein irres Gelächter ausbricht, bald unflätige Schimpfreden und Flüche ausstößt, bald in einem schwindelig behenden Tanz herumhüpft, bald mit drohender Miene und geballten Fäusten auf den Besucher oder eingebildete Gegner losfährt. Soweit der endlose Redestrom überhaupt einen Sinn erkennen läßt, zeigt er als Grundbestandtheile eine Reihe beständig wiederkehrender Wahnvorstellungen, die in Sinnestäuschungen und krankhaften organischen Vorgängen ihren Grund haben und im Verfolge dieses Kapitels nachgewiesen werden sollen. Ab und zu taucht ein deutlicher Gedanke auf, der, wie dies bei Tobsüchtigen immer der Fall ist, die Form einer herrischen Behauptung, gleichsam eines Despoten-Befehls, annimmt. Einen Beweis zu führen versucht Nietzsche nicht einmal. Wenn der Gedanke an die Möglichkeit eines Einwandes in seiner Vorstellung auftaucht, so bewitzelt oder bespöttelt er ihn entwe-

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

der oder verordnet kurz und schroff: „Das ist falsch!“ („Um wie viel vernünftiger ist jene … Theorie, welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird … Gut ist nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit darf [] es als werthvoll im höchsten | Grade, als werthvoll an sich, Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar.“ (Zur Genealogie der Moral, . Aufl., S. .) „Auch dieser Weg der Erklärung ist falsch.“ Punctum! Warum ist er falsch? Wieso ist er falsch? Weil Nietzsche es so befiehlt. Nach Weiterem zu fragen hat der Leser kein Recht.) Ungefähr jedem einzelnen seiner gewaltthätig diktatorischen Dogmen widerspricht er übrigens selbst. Er sagt zuerst Etwas und dann dessen Gegentheil, und Beides mit der gleichen Heftigkeit, meistens in demselben Buche, oft auf derselben Seite. Ab und zu kommt ihm die Selbst-Leugnung zum Bewußtsein und dann schützt er vor, er habe sich unterhalten, er habe sich über den Leser lustig machen wollen. („Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten Falles ‚nach der Gangart des Frosches‘ mandeigagati — ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? — … Was aber ‚die guten Freunde‘ anbetrifft, … so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Mißverständnisses zuzugestehen: — so hat man noch zu lachen; — oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, — und auch zu lachen!“ (Jenseits von Gut und Böse, . Aufl., S. . Und ebenda S. .) „Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichniß. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einherginge?“) Die Beschaffenheit der einzelnen dogmatischen Behauptungen ist sehr bezeichnend. Man muß sich zuerst an Nietzsches Redeweise gewöhnen. Der Irrenarzt hat das allerdings nicht nöthig. Ihm ist diese Art wohlbekannt und vertraut. Er liest häufig Schriften von ähnlichem Gedankengang und Vortrag, freilich in der [] Regel ungedruckte, und er liest sie nicht zu seinem Ver-|gnügen, sondern um die Einschließung des Verfassers in eine Heilanstalt vorzuschreiben. Der Unkundige dagegen wird leicht von dem Getöse der Phrasen verwirrt. Hat er sich aber erst zurechtgefunden, hat er erst einige Uebung darin erlangt, zwischen den Trommeln und Pfeifen der ohrzerreißenden Jahrmarkt-Musik auf das eigentliche Thema zu achten und in dem das deutliche Sehen fast unmöglich machenden Gestöber der hageldicht prasselnden Worte den Grundgedanken wahrzunehmen, so merkt er sofort, daß Nietzsches Behauptungen entweder gleich Kaziken mit Federkrone, Nasenring und Tätowirung herausgeputzte Gemeinplätze so niederträchtiger Art sind, daß eine höhere Tochter sich schämen würde, sie zu einer Stilaufgabe zu verwenden, oder brüllender Wahnsinn, der weit jenseits der Möglichkeit vernünftiger Prüfung und Widerlegung schweift. Ich will aus tausend Beispielen von jeder Gattung nur eine oder zwei Proben geben. „Also sprach Zarathustra“: (. Theil, S. .) „Es war aber gerade da ein Thorweg, wo wir hielten. ‚Siehe diesen Thorweg! Zwerg!‘ sprach ich weiter: ‚der hat zwei Gesichter. Zwei Wege kommen

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hier zusammen: die ging noch Niemand zu Ende. Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus — das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stoßen sich gerade vor den Kopf! — und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: ‚Augenblick‘. Aber wer Einen von ihnen weiter ginge — und immer weiter und immer ferner: glaubst du, Zwerg, daß diese Wege sich ewig widersprechen?‘“ —

Man blase den Seifenschaum dieser Redensarten auseinander. Was sagen sie in Wirklichkeit? Der flüchtige Augenblick der Gegenwart ist der Punkt, wo Vergangenheit und Zukunft sich berühren. Kann man diese Selbstverständlichkeit überhaupt noch einen Gedanken nennen? 

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„Also sprach Zarathustra“: (. Theil, S.  ff.) „Die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht. Laß mich! Laß mich! Ich bin zu rein für dich. Rühre mich nicht an! Ward meine Welt nicht eben | vollkommen? Meine Haut ist zu rein für deine Hände. Laß mich, du dummer tölpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller? Die Reinsten sollen der Erde Herren sein, die Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder Tag … Mein Unglück, mein Glück ist tief, du wunderlicher Tag, aber doch bin ich kein Gott, keine Gottes-Hölle: tief ist ihr Weh. Gottes Weh ist tiefer, du wunderliche Welt! Greife nach Gottes Weh, nicht nach mir! Was bin ich! Eine trunkene süße Leier, — eine Mitternachts-Leier, eine Glocken-Unke, die Niemand versteht, aber welche reden muß, vor Tauben, ihr höheren Menschen! Denn ihr versteht mich nicht! Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nachmittag! Nun kam Abend und Nacht und Mitternacht … Ach! Ach! wie sie seufzt! wie sie lacht, wie sie röchelt und keucht, die Mitternacht! Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene Dichterin! Sie übertrank wohl ihre Trunkenheit? sie wurde überwach? sie käut zurück? — ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte tiefe Mitternacht, und mehr noch ihre Lust. Lust nämlich, wenn schon Weh tief ist: Lust ist tiefer noch als Herzeleid … Weh spricht: ‚Vergeh! Weg, du Wehe!‘ … Lust aber will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich. Weh spricht: ‚Brich, blute, Herz! Wandle, Bein! Flügel, flieg! Hinan! Hinauf! Schmerz!‘ Wohlan! Wohlauf! Oh mein altes Herz: Weh spricht: ‚vergeh!‘ Ihr höheren Menschen … wolltet ihr jemals Ein Mal zweimal, spracht ihr jemals ‚du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!‘ so wolltet ihr Alles zurück! Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, oh so liebtet ihr die Welt, — ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will — Ewigkeit. Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber, will Gräber-Thränen-Trost, will vergüldetes Abendroth — was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beißt in sich, des Ringes Wille ringt in ihr, — … Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

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Und der Sinn dieses tollen Schauers wirbelnder Worte? Dem Schmerze wünscht man ein Ende, der Lust Dauer! Diese erstaunliche Entdeckung ist es, welche Nietzsche in der angeführten Raserei vorträgt! Nun einige offensichtlich wahnsinnige Behauptungen oder Redensarten: |  „Die fröhliche Wissenschaft“: „Was heißt Leben? Leben — das heißt: fortwäh- [] rend Etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben — das heißt: grausam und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns und nicht nur an uns, wird.“ (S. .) Denkfähige Menschen haben bisher immer geglaubt, daß Leben fortwährend Etwas in sich aufnehmen heißt: die Abstoßung des Verbrauchten ist nur

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

eine Begleit-Erscheinung der Aufnahme neuer Stoffe. Nietzsches Satz drückt in geheimnißvoll pythischer Form die Vorstellung des Morgenganges nach einem gewissen Orte aus. Gesunde Menschen verbinden mit dem Begriffe Leben eher die Vorstellung des Eßzimmers als die des heimlichen Kabinets. „Jenseits von Gut und Böse“: „Es ist eine Feinheit, daß Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte — und daß er es nicht besser lernte.“ (S. .) „Rath als Räthsel. — ‚Soll das Band nicht reißen … mußt du erst darauf beißen‘.“ (S. .) Irgend eine Erklärung oder Deutung dieses Tiefsinnes habe ich nicht zu bieten. Die angeführten Stellen geben dem Leser bereits eine Vorstellung von der Schreibweise Nietzsches. Sie ist in dem Dutzend dickerer oder dünnerer Bände, die er veröffentlicht hat, immer dieselbe. Seine Bücher tragen verschiedene, meist bezeichnend übergeschnappte, Titel, aber sie sind ein einziges Buch. Man kann sie während des Lesens verwechseln, man wird es nicht merken. Sie sind eine Folge unzusammenhängender Einfälle, Prosa und Leberreime durch einander, ohne Anfang, ohne Ende. Selten wird ein Gedanke ein wenig entwickelt, selten sind einige Seiten hintereinander durch eine einheitliche Absicht, durch eine folgerichtig gegliederte Beweisführung verbunden. Nietzsche hatte unverkennbar die Gewohnheit, Alles, was ihm durch den Kopf fuhr, mit fiebernder Hast aufs Papier zu werfen, und wenn er einen Haufen beisammen hatte, schickte er die Schnitzel [] in die Druckerei und es gab ein Buch. Er selbst | nennt diesen Gedanken-Kehricht stolz „Aphorismen“ und seine Bewunderer rechnen ihm gerade das Unzusammenhängende seiner Rede als besondern Vorzug an. Wenn von einem Moral-System Nietzsches gesprochen wird, so darf man sich nicht vorstellen, daß er ein solches irgendwo entwickelt hat. Es sind nur durch alle seine Bücher, vom ersten bis zum letzten, Anschauungen über Fragen der Sittlichkeit und über das Verhältniß des Menschen zur Gattung und zur Welt verstreut, die zusammen etwas wie eine  Dr. Hugo Kaatz, Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches. Erster Theil: Cultur und Moral. Zweiter Theil: Kunst und Leben. Dresden und Leipzig, . . Th. S. VI: „Wir sind, zumal da, wo es sich um die tiefsten Gedankenprobleme handelt, an geschlossene, systematische Darstellung gewöhnt … Nichts von alledem bei Nietzsche. Keines seiner Werke bildet ein abgeschlossenes Ganze, keines ist ohne die anderen vollkommen verständlich. Aber auch innerhalb des einzelnen Buches fehlt jeder gegliederte Aufbau. Nietzsche schreibt fast ausschließlich in Aphorismen, die, bald zwei Zeilen, bald mehrere Seiten umfassend, für sich abgeschlossen dastehen und uns selten einen erkennbaren direkten Zusammenhang untereinander aufweisen … Mit stolzer Gleichgiltigkeit dem Leser gegenüber hat es der Autor vermieden, in die selbstgezogene Hecke, welche sein geistiges Schaffen eng umschließt, auch nur eine Lücke zu schneiden. Man muß sich den Zugang zu ihm erkämpfen.“ U. s. w. Nietzsche gibt übrigens selbst über seine Arbeitsmethode eine trotz ihrer scheinbaren Dunkelheit recht deutliche Auskunft, die einem Bekenntniß gleichkommt: „Ich ärgere oder schäme mich alles Schreibens; Schreiben ist für mich eine Nothdurft. — Aber warum schreibst du dann? — Ja, mein Lieber, im Vertrauen gesagt: ich habe bisher noch kein anderes Mittel gefunden, meine Gedanken los zu werden (Die Unterstreichung ist von Nietzsche.) „Und warum willst du sie loswerden? — Warum ich will? Will ich denn? Ich muß.“ (Die fröhliche Wissenschaft. Neue Ausgabe. S. .)

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Friedrich Nietzsche.

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Grundauffassung erkennen lassen. Diese ist das, was man Nietzsches Philosophie  genannt hat. Seine Jünger, z. B. der schon angeführte Kaatz, ferner Zerbst, | Schell-

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wien und Andere, haben dieser angeblichen Philosophie dadurch eine gewisse Form und Einheitlichkeit zu geben gesucht, daß sie aus Nietzsches Büchern eine Anzahl Stellen herausangelten, die einigermaßen mit einander übereinstimmten, und sie zusammenrückten. Nach dieser Methode könnte man freilich auch eine Nietzsche-Philosophie aufstellen, die der von seinen Jüngern angenommenen genau entgegengesetzt wäre. Denn wie gesagt: einer jeden seiner Behauptungen widerspricht Nietzsche an irgend einer Stelle selbst und wenn man sich frech zur Unehrlichkeit entschließt, blos auf die Lehrsätze einer bestimmten Art zu achten und die gegensätzlichen zu übergehen, so kann man nach Belieben eine philosophische Anschauungsweise oder ihr schroffes Gegentheil aus Nietzsche herauslesen. Nietzsches Lehre, die von seinen Jüngern als die orthodoxe verkündet wird, kritisirt die Grundlagen der Moral, untersucht die Entstehung der Begriffe von Gut und Böse, prüft den Werth dessen, was man heute Tugend und Laster nennt, für das Einzelwesen und die Gesellschaft, deutet den Ursprung des Gewissens und sucht eine Vorstellung von den Zielen der Gattungs-Entwickelung, also dem Menschen-Ideal, dem „Uebermenschen“, zu geben. Ich will die Lehre so knapp wie möglich zusammenfassen, meist mit den eigenen Worten Nietzsches, doch ohne das Gegacker seiner wirr abspringenden, unnützen Redensarten. Die herrschende Moral „vergoldet, vergöttlicht, verjenseitigt die unegoistischen, die Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte.“ Aber diese Mitleidsmoral „ist die große Gefahr der Menschheit, der Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, der Wille, der sich gegen das Leben wendet.“ „Wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig. Der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal | in Frage zu stellen. Man hat bisher nicht daran [] gezweifelt, den Guten für höherwerthig als den Bösen anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt, die Zukunft des Menschen eingerechnet. Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im Guten ein Rückgangssymptom läge, eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile niedriger? So daß gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“ Nietzsche beantwortet sich diese Fragen, die er in der Vorrede zu dem Buche „Zur Genealogie der Moral“ aufwirft, indem er seine Vorstellung von der Entstehung der heutigen Moral entwickelt.

 Dr. Max Zerbst, Nein und Ja! Leipzig, .  Robert Schellwien, Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Erscheinungen des modernen Geistes  und das Wesen des Menschen. Leipzig, .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Am Anfange der menschlichen Gesittung sieht er „ein Raubthier, eine prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie.“ Diese „losgelassenen Raubthiere waren frei von jedem sozialen Zwange; in der Unschuld ihres Raubthiergewissens gingen sie als frohlockende Ungeheuer von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Uebermuthe und seelischen Gleichgewichte davon, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei.“ Die blonden Bestien bildeten die vornehmen Rassen. Sie fielen über die minder vornehmen Rassen her, überwanden sie und machten sie zu Sklaven. „Ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt“ (man beachte dieses Wort „organisirt“, wir werden darauf zurückzukommen haben) „mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestalt[] lose, noch schweifende Be-|völkerung legte, gründete den Staat. Jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem Vertrage beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer von Natur Herr ist, wer gewaltthätig in Werk und Geberde auftritt, was hat der mit Verträgen zu schaffen.“ In dem derart entstandenen Staat gab es also eine Herren- und eine SklavenRasse. Die Herren-Rasse schuf zuerst Moralbegriffe. Sie unterschied zwischen Gut und Böse; gut war ihr gleichbedeutend mit vornehm, schlecht mit gemein; als gut empfand sie alle ihre eigenen Eigenschaften, als schlecht die der unterworfenen Rasse. Gut war Härte, Grausamkeit, Stolz, Muth, Verachtung der Gefahr, Freude am Wagniß, äußerste Rücksichtslosigkeit, böse war „der Feige, der Aengstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der Mißtrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich mißhandeln läßt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner.“ Das ist die Herren-Moral. Die Wurzel-Bedeutung der Worte, welche heute den Begriff „gut“ ausdrücken, verräth, was man sich unter „gut“ vorstellte, als noch die Herren-Moral herrschte: „Das lateinische bonus glaube ich als ‚den Krieger‘ auslegen zu dürfen: vorausgesetzt, daß ich mit Recht bonus auf ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum — duellum — duen— lum, worin mir jenes duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine ‚Güte‘ ausmachte.“ Die unterworfene Rasse hat natürlich eine entgegengesetzte, die SklavenMoral. „Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Mißtrauen, er hat Feinheit des Mißtrauens gegen alles ‚Gute‘, was dort geehrt wird. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier [] kommt das Mitleiden, die gefällige, | hilfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral.“

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Eine Zeit lang bestanden die Herren- und die Sklaven-Moral neben, richtiger unter einander. Da geschah etwas Außerordentliches: die Sklaven-Moral erhob sich wider die Herren-Moral, besiegte und entthronte diese und setzte sich an ihre Stelle. Es erfolgte eine neue Bewerthung aller Moralbegriffe. (In seinem irrsinnigen Kauderwälsch nennt Nietzsche dies eine „Umwerthung der Werthe“.) Was früher, unter der Herren-Moral, für gut gegolten hatte, war jetzt böse, und umgekehrt. Schwäche wurde ein Vorzug, Grausamkeit ein Verbrechen, Selbaufopferung, Mitleid mit fremdem Leid, Selbstlosigkeit, eine Tugend. Das ist was Nietzsche den „Sklaven-Aufstand in der Moral“ nennt. „Die Juden haben jenes Wunderstück der Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht. Ihre Propheten haben ‚reich‘, ‚gottlos‘, ‚böse‘, ‚gewaltthätig‘, ‚sinnlich‘ in Eins geschmolzen und zum erstenmale das Wort ‚Welt‘ zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu der es gehört, das Wort für ‚Arm‘ als synonym mit ‚Heilig‘ und ‚Freund‘ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks.“ Der jüdische „Sklaven-Aufstand der Moral“ war eine Rache an der HerrenRasse, die die Juden lange bedrückt hatte, und das Werkzeug dieser ungeheuern Rache war der Heiland. „Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses ‚Erlösers‘, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israels, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft großen Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsamgreifenden und vorausrechnenden Rache, daß Israel selber das eigentliche | Werk- [] zeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und ans Kreuz schlagen mußte, damit ‚alle Welt‘, nämlich alle Gegner Israels unbedenklich gerade an diesem Köder anbeißen konnten? Und wüßte man sich andererseits, aus allem Raffinement des Geistes heraus, überhaupt noch einen gefährlichern Köder auszudenken? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des ‚heiligen Kreuzes‘ gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines ‚Gottes am Kreuze‘, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile des Menschen? Gewiß ist wenigstens, daß sub hoc signo Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphirt hat.“ Ich muß auf diese Stelle die Aufmerksamkeit des Lesers ganz besonders hinlenken und ihn bitten, das Wortgeklapper und Geknarre in Vorstellung umzusetzen. Also: Israel wollte sich an aller Welt rächen und beschloß deshalb, den Heiland ans Kreuz zu schlagen und damit eine neue Moral zu schaffen. Wer war dieses Israel, das den Plan faßte und ausführte? War es ein Parlament, ein Amt, ein Herrscher, eine Volksversammlung? Wurde der Plan zuerst einer allgemeinen Berathung und Beschlußfassung unterzogen, ehe „Israel“ an seine Verwirklichung ging? Man muß sich den Vorgang, den Nietzsche als einen vorbedachten, gewollten und zielbewußten schildert, in allen sachlichen Einzelheiten klar zu vergegenwärtigen suchen, um den ganzen Irrsinn dieser Wortreihen deutlich zu sehen.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Seit dem jüdischen Sklavenaufstande der Moral ist das Leben auf Erden, das bis dahin mindestens für die Starken und Kühnen, für die Vornehmen, für die Herren, eine Wonne gewesen war, eine Qual geworden. Seit jenem Aufstand herrscht Unnatur, in welcher der Mensch sich verkleinert, schwächt, verpöbelt und [] allmälig entartet. Denn der Grundinstinkt des | gesunden Menschen ist nicht Selbstlosigkeit und Mitleid, sondern Selbstsucht und Grausamkeit. „An sich kann ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts ‚Unrechtes‘ sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Eine Rechtsordnung … wäre ein lebensfeindliches Prinzip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts.“ „Man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen der ausbeuterische Charakter abgehen soll. — Das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die ‚Ausbeutung‘ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommenen oder primitiven Gesellschaft an: sie gehört ins Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion.“ | [] Der Grundtrieb des Menschen ist also Grausamkeit. Für diese ist in der neuen Sklavenmoral kein Platz. Ein Grundtrieb läßt sich aber nicht ausrotten. Er bleibt lebendig und fordert seine Rechte. Man hat also eine Reihe von Ablenkungen für ihn gesucht. „Alle Instinkte, welche sich nicht nach Außen entladen, wenden sich nach Innen. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte — die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken — brachten zu Wege, daß alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Ueberfall, am  Diese alberne Sophistik, welche Leben mit Ausbeutung gleichsetzt, habe ich abgefertigt, noch ehe Nietzsche sie in den oben angeführten Stellen, „Zur Genealogie der Moral“, S.  und „Jenseits von Gut und Böse“, S. , vortrug. S. „Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“, . Aufl., S.  und : „Dieses Wort“ (daß Eigenthum Diebstahl sei) „kann man nur dann richtig nennen, wenn man sich auf den sophistischen Standpunkt stellt, daß alles Seiende für sich selbst vorhanden ist und aus der Thatsache seines Daseins sein Recht, sich selbst anzuhören, schöpft. Bei einer solchen Anschauung stiehlt man allerdings den Grashalm, den man rupft, die Luft, die man athmet, den Fisch, den man angelt; aber dann stiehlt auch die Schwalbe, wenn sie eine Fliege schluckt, und der Engerling, wenn er sich in eine Baumwurzel einfrißt; dann ist überhaupt die Natur nur von Erzdieben bevölkert, dann stiehlt überhaupt Alles, was lebt, das heißt, von außen Stoffe, die ihm nicht gehören, in sich aufnimmt und sie organisch verarbeitet, und ein Platinblock, der nicht einmal aus der Luft etwas Sauerstoff entwendet, um sich zu oxydiren, wäre das einzige Beispiel von Ehrlichkeit auf unserer Erdkugel. Nein, Eigenthum, das vom Erwerb, das heißt vom Austausch eines bestimmten Maßes Arbeit gegen ein entsprechendes Maß von Gütern, herührt, ist nicht Diebstahl.“ Wenn man hier überall an Stelle von Diebstahl das von Nietzsche gebrauchte Wort Ausbeutung setzt, so hat man die Antwort auf seine Sophismen.

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Wechsel, an der Zerstörung — Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich  wendend: das ist der Ursprung des ‚schlechten Gewissens‘. Der Mensch, der sich,

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aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Thier, das man ‚zähmen‘ will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniß schaffen mußte — dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des schlechten Gewissens.“ „Jener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen, der das schlechte Gewissen erfunden | hat, um sich weh zu thun, nachdem der natürliche Ausweg [] dieses Wehe-thun-wollens verstopft war“, hat sich auch den Begriff der Schuld und der Sünde gebildet. „Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und SelbstThierquälerei von Jahrtausenden.“ Aber auch alle Rechtspflege, die Bestrafung der „sogenannten“ Verbrecher, die meiste Kunst, namentlich das Trauerspiel, sind Verkleidungen, in denen die Ur-Grausamkeit sich noch zeigen darf. Die Sklavenmoral mit ihrem „asketischen Ideal“ der Selbstunterdrückung und Verachtung des Lebens und mit ihrer qualvollen Erfindung des Gewissens hat zwar den Sklaven gestattet, an ihren Herren Rache zu nehmen, sie hat auch die gewaltigen Raubthier-Menschen gebändigt und den Kleinen und Schwachen, dem Pöbel, den Herdenthieren, bessere Daseins-Bedingungen verschafft, aber der Menschheit im Ganzen hat sie geschadet, indem sie die freie Entwickelung gerade des höchsten Menschentypus hemmte. „Die Gesammt-Entartung des Menschen hinab bis zu dem, was heute den sozialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr ‚Mensch der Zukunft‘ erscheint, — als ihr Ideal! — diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Herdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der ‚freien Gesellschaft‘), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche“ ist das Zerstörungs-Werk der Sklavenmoral. Um die Menschheit zu höchster Pracht zu züchten, muß man zur Natur zurückkehren, zur Herren-Moral, zur Entfesselung der Grausamkeit. „Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Werthgesichtspunkte; an sich schon den erstern für den höherwerthigen zu halten wollen wir der Naivetät englischer Biologen überlassen.“ „Gegenüber der alten Lügen-Losung vom Vorrecht der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniederung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen“ müssen wir „die furchtbare | und [] entzückende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten“ erschallen lassen. „Wie ein letzter Fingerzeig zum andern Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgeborene Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich, Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Uebermensch.“ Der geistig freie Mensch muß „jenseits von Gut und Böse“ stehen; diese Begriffe gibt es für ihn nicht; er prüft seine Triebe und Handlungen auf den Werth,

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den sie für ihn selbst, nicht auf den, welchen sie für die Anderen, die Herde, haben; er thut, was ihm Lust schafft, auch dann, besonders dann, wenn es Andere quält und schädigt, ja vernichtet; für ihn gilt die geheime Lebensregel der alten Assassinen: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt.“ Mit dieser neuen Moral wird die Menschheit endlich den Uebermenschen hervorbringen können: „So finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn ‚autonom‘ und ‚sittlich‘ schließt sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens.“ Dithyrambisch ist derselbe Gedanke in „Zarathustra“ ausgedrückt: „Der Mensch ist böse, — so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. Der Mensch muß besser und böser werden, so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Uebermenschen Besten. Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, daß er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber freue mich der großen Sünde als meines großen Trostes.“ Dies ist die Moral-Philosophie Nietzsches, wie sie sich, unter Vernachlässigung der Widersprüche, aus einzelnen übereinstimmenden Stellen seiner verschiedenen Bücher (namentlich „Menschliches Allzumenschliches“, „Jenseits von Gut und [] Böse“ | und „Zur Genealogie der Moral“) ergibt. Ich will sie einen Augenblick lang ernst nehmen und an ihr Kritik üben, ehe ich ihr die eigenen schnurstracks entgegengesetzten Behauptungen Nietzsches gegenüberstelle. Zuerst die anthropologische Behauptung. Der Mensch soll ursprünglich ein frei schweifendes einsames Raubthier gewesen sein, dessen Urtrieb Selbstsucht und Abwesenheit jeder Rücksicht auf die Artgenossen war. Diese Behauptung widerspricht Allem, was wir von den Anfängen der Menschheit wissen. Die Kjökkenmöddinge oder Küchenabfälle des quaternären Menschen in Dänemark, die Steenstrup entdeckt und erforscht hat, haben stellenweise eine Mächtigkeit von drei Metern und müssen von einer sehr zahlreichen Horde herrühren. Die Lager von Pferdeknochen bei Solutré sind so gewaltig, daß der Gedanke ganz ausgeschlossen ist, ein einzelner Jäger oder selbst eine nicht sehr große Gruppe von verbündeten Jägern habe so viele Pferde an eine Stelle zusammentreiben und tödten können. So weit wir in die Vorgeschichte zurückblicken, zeigt uns jeder Fund den Urmenschen als ein Herdenthier, das sich unmöglich hätte erhalten können, wenn es nicht die Triebe besessen hätte, welche die Voraussetzung des Lebens in Gemeinschaft sind, also Mitgefühl (Sympathie), Zusammengehörigkeitsgefühl und einen gewissen Grad von Selbstlosigkeit. Diese Triebe finden wir schon bei den Affen und wenn sie gerade bei den menschenähnlichsten, dem Orang-Utan und Gibbon, zu fehlen scheinen, so ist dies manchen Forschern ein genügender Beweis, daß diese Thiere entartet und im Aussterben begriffen sind. Es ist also nicht wahr, daß der Mensch zu irgend einer Zeit eine „einsam schweifende Bestie“ gewesen ist. Nun die geschichtliche Behauptung. Zuerst soll bei den Menschen die HerrenMoral geherrscht haben, welcher jede selbstsüchtige Gewaltthat gut, jede Selbstlo-

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sigkeit böse schien. Die umgekehrte Bewerthung der Handlungen und Gefühle soll  das | Werk eines „Sklaven-Aufstandes“ sein. Die Juden sollen das „asketische

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Ideal“, das heißt die Moral der Bekämpfung aller Begierden, der Verachtung aller Fleischeslust, des Mitleids und der Nächstenliebe, erfunden haben, um sich an ihren Bedrückern, den Herren, den „blonden Bestien“, zu rächen. Den Wahnsinn dieser Vorstellung einer bewußten und gewollten Rachehandlung des Judenvolkes habe ich schon oben gezeigt. Aber ist es denn wahr, daß unsere heutige Moral mit ihren Begriffen von Gut und Böse eine Erfindung der Juden ist und daß sie gegen „blonde Bestien“ gerichtet, ein Unternehmen von Sklaven gegen ein Herren-Volk war? Die Hauptlehren der heutigen mit Unrecht christlich genannten Moral sind sechs Jahrhunderte vor der Entstehung des Christenthums im Buddhismus ausgedrückt. Buddha predigte sie, kein Sklave, sondern ein Königssohn, und sie wurden die Sittenlehre nicht der Sklaven, nicht der Unterdrückten, sondern gerade des Herrenvolkes, der Brahmanen, der eigentlichen Ariya. Hier sind einige der buddhistischen Sittenlehren, aus dem indischen „Dhammapada“ und dem chinesischen „Fo-sho-hing-tsan-king“ geschöpft: „Sprich zu Niemand hart.“ (Dhammapada, Vers .) „Laß uns glücklich leben; die nicht hassen, die uns hassen; inmitten derjenigen, die uns hassen, wollen wir frei von Haß weilen.“ (V. .) „Weil er Mitleid mit jedem lebenden Wesen hat, wird ein Mensch Ariya (heilig) genannt.“ (V. .) „Bewache deine Gedanken.“ (V. .) „Gut ist Selbstbeherrschung in Allem.“ (V. .) „Den nenne ich einen Brahmana, der, obschon | frei von jedem [] Vergehen, geduldig Vorwürfe, Fesseln und Schläge erleidet.“ (V. .) „Sei gütig zu Allem, was da lebt.“ (Fo-sho-hing-tsan-king, V. .) „Besiege deinen Feind mit Gewalt, so steigerst du seine Feindschaft; besiege ihn mit Liebe und du erntest keinen nachträglichen Schmerz.“ (V. .) Ist das nun Sklaven- oder Herrenmoral? Ist es die Anschauung schweifender Raubthiere oder die von mitleidigen, selbstlosen Gesellschaftsmenschen? Und diese Anschauung ist nicht in Palästina entstanden, sondern in Indien, gerade unter dem Volke der arischen Eroberer, die eine untergeordnete Rasse beherrschten, in China, wo damals überhaupt keine Eroberer-Rasse über einer unterjochten saß. Selbstaufopferung für Andere, Mitleid und Mitgefühl soll jüdische Sklavenmoral sein. War der heldenmüthige Affe, von dem Darwin nach Brehm erzählt, ein jüdischer Sklave, der sich gegen das Herrenvolk blonder Bestien auflehnte?

 The sacred book of the East. Translated by various Oriental Scholars and edited by F. Max Müller. The Clarendon Press, Oxford. First Series. Vol. X: Dhammapada, by. F. Max Müller, and Sutta-Nipâta, by V. Fausböll. (Eine billigere Ausgabe des „Dhammapada“ ist die von S. Beal. London, .)   The sacred books of the East etc. Vol. XIX: Fo-sho-hing-tsan-king, by Rev. S. Beal.  Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem Englischen übersetzt von J. Viktor Carus. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Stuttgart, . . Band, S. : „… Alle Paviane waren wieder auf die Höhen hinaufgestiegen mit Ausnahme eines jungen, ungefähr sechs Monate alten, welcher laut um Hilfe rufend einen Felsblock erkletterte  und“ (von den Hunden) „umringt wurde. Jetzt kam eines der größten Männchen, ein wahrer Held, nochmals vom Hügel herab, ging langsam zu dem jungen, liebkoste ihn und führte ihn triumphirend weg; — die Hunde waren zu sehr erstaunt, um ihn anzugreifen.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Bei der „blonden Bestie“ denkt Nietzsche offenbar an die Germanen der Wanderzeit. Sie haben ihm die Vorstellung des schweifenden Raubthiers eingegeben, das über schwächere Menschen herfällt, um an ihnen seine Triebe von Blutdurst und Zerstörung wollüstig zu stillen. Dieses Raubthier hat sich nie auf Verträge eingelassen. „Wer gewaltthätig in Werk und Geberde auftritt, was hat der mit Ver[] trägen zu schaffen.“ | Nun denn: die Geschichte lehrt uns, daß die „blonde Bestie“, das heißt der Germane der Wanderzeit, der noch nicht vom „Sklavenaufstand in der Moral“ berührt war, ein starker, aber friedliebender Bauer war, der Krieg führte, nicht um in Mord zu schwelgen, sondern um Ackerland zu erhalten, und der immer zuerst friedliche Verträge zu schließen suchte, ehe er nothgedrungen zum Schwerte griff. Und dieselbe „blonde Bestie“ hat lange, ehe die Kunde vom „asketischen Ideal“ des Juden-Christenthums sie erreichte, den Begriff der Gefolgstreue zur höchsten Kraft entwickelt, das heißt die Anschauung, daß es für einen Menschen ruhmvoll sei, sich ganz des eigenen Ichs zu entäußern, Ehre nur als Abglanz der Ehre eines Andern zu kennen, dem man sich zu Eigen gegeben, und das Leben für den Häuptling zu opfern! Das Gewissen soll die „nach Innen gekehrte Grausamkeit“ sein. Der Mensch, dem Wehthun, dem Quälen und Zerfleischen ein nicht zu unterdrückendes Bedürfniß ist, stillt es an sich selbst, da er es nicht mehr an Anderen befriedigen darf. [] Wenn dies wahr wäre, so müßte der anständige, der tugend-|hafte Mensch, der dem angeblichen Urtrieb des Wehthuns nie durch ein Verbrechen an Anderen ein Genügen gethan, am Heftigsten gegen sich selbst wüthen, er müßte also von allen Menschen das schlechteste Gewissen haben. Umgekehrt müßte der Verbrecher, der seinen Urtrieb nach Außen kehrt, es also nicht nöthig hat, in Selbstzerfleischung Befriedigung zu suchen, im herrlichsten Frieden mit seinem Gewissen leben. Stimmt dies nun mit der Beobachtung überein? Hat man jemals erlebt, daß ein rechtschaffener Mensch, der dem Triebe zur Grausamkeit nie nachgegeben hat, an Gewissensbissen leidet? Sind diese nicht im Gegentheil gerade bei Jenen zu beobachten, die ihrem Triebe nachhingen, die gegen Andere grausam gewesen sind, also jene Sättigung ihrer Gier bereits erlangt haben, welche das böse Gewis-

 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Zweite Auflage. Leipzig, . S. .  Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Erster Band. Aus dem Mittelalter. Leipzig, . S.  ff: „Der römische Consul Papirius Carbo … verbietet den Fremden“ (den Kimbrern und Teutonen!) „den Aufenthalt, weil die Einwohner Gastfreunde der Römer seien. Die Fremden entschuldigen sich, sie haben nicht gewußt, daß die Eingeborenen unter römischem Schutze stehen, und sie sind bereit, das Land wieder zu verlassen … Die Kimbrer suchen nicht den Kampf, sie senden zum Consul Silanus und bitten dringend, ihnen Land anzuweisen, sie wollen dafür den Römern Kriegsdienste thun … Wieder brechen die Fremden nicht in römisches Gebiet ein, sondern sie senden eine Gesandtschaft an den Senat und wiederholen die Bitte um Landanweisung … Zum Führer des andern Heeres sandten jetzt die siegreichen Germanen aufs Neue eine Botschaft, zum dritten Mal suchten sie Frieden, baten um Land und um Saatkorn.“  Zur Genealogie der Moral, S. .

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Friedrich Nietzsche.

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sen ihnen nach Nietzsche gewähren soll? Nietzsche sagt: „Der echte Gewissensbiß ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äußerst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht,“ und glaubt damit einen Beweis für seine Behauptung beigebracht zu haben. Aber die Zuchthäusler haben durch das Verüben von Verbrechen gezeigt, daß bei ihnen der Trieb zum Bösen besonders stark entwickelt ist; im Gefängniß werden sie gewaltsam daran verhindert, sich ihrem Triebe hinzugeben; gerade bei ihnen müßte also die Selbstzerfleischung durch Gewissensbisse außergewöhnlich heftig sein, und doch ist unter ihnen „der Gewissensbiß etwas äußerst Seltenes“! Man sieht, daß die Aufstellung Nietzsches ein delirirender Einfall ist und sonst nichts und daß sie nicht werth ist, auch nur einen Augenblick lang gegen die von allen Moralphilosophen angenommene Deutung des Gewissens, die Darwin geboten hat, ernstlich abgewogen zu werden. | Das philologische Argument. Bonus soll ursprünglich duonus gelautet, also [] den „Mann des Zwistes, der Entzweiung, (duo), den Kriegsmann“ bedeutet haben. Den Beweis für die ältere Form duonus bietet „bellum — duellum — duen-lum.“ Nun kommt duen-lum aber nirgends vor, sondern ist eine freie Erfindung Nietzsches, ebenso wie duonus. Man bewundere diese Methode: er erfindet ein Wort „duonus“, das es nicht gibt, und begründet es mit dem Worte duen-lum, das es ebenso wenig gibt, das ebenfalls aus der Einbildung geschöpft ist. Die Philologie, die Nietzsche da entfaltet, steht auf der Höhe derjenigen, welche die schöne und überzeugende Ableitungs-Reihe alopex — Iopex — pex — pix — pux — fechs — fichs — Fuchs geschaffen hat. Nietzsche ist ungemein stolz auf seine Entdeckung, daß der Begriff der Schuld von dem sehr engen und stofflichen Begriff der Schulden abgeleitet ist. Gesetzt, das wäre richtig. Was hätte er damit für seine Theorie gewonnen? Dies würde nur beweisen, daß der ursprünglich roh sachliche und beschränkte Begriff sich im Laufe der Zeit erweitert, vertieft und vergeistigt hat. Wem ist es je eingefallen, diesen Vorgang zu bestreiten? Wer, der sich auch nur ein wenig in der Sittengeschichte umgethan hat, weiß nicht, daß die Be-|griffe sich entwickeln? Hat [] man denn etwa unter Liebe und Freundschaft in der Urzeit die feinen und vielfältigen Seelenzustände verstanden, welche diese Worte heute für uns ausdrücken? Es

 Zur Genealogie der Moral, S. .  Ch. Darwin, a. a. O. S. : „Sobald die geistigen Fähigkeiten sich hoch entwickelt haben, durchziehen Bilder aller vergangenen Handlungen und Beweggründe unaufhörlich das Gehirn  eines jeden Individuums, und jenes Gefühl des Unbefriedigtseins, welches … unabänderlich die Folge irgend eines unbefriedigten Instinkts ist, wird entstehen, so oft bemerkt wird, daß der andauernde und stets gegenwärtige soziale Instinkt irgend einem andern zu der Zeit stärkern, aber weder seiner Natur nach dauernden, noch einen sehr lebhaften Eindruck zurücklassenden Instinkte nachgegeben hat. Offenbar sind viele instinktive Begierden, wie die des Hungers, ihrer  Natur nach nur von kurzer Dauer und werden, wenn sie einmal befriedigt sind, nicht leicht und nicht lebendig vor die Seele zurückgerufen.“ U. s. w.  Zur Genealogie der Moral, S. .  Zur Genealogie der Moral, S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

mag sein, daß die erste Schuld, deren Menschen sich bewußt waren, die Verpflichtung zur Erstattung eines Darlehns war. Aber auch die Schuld im Sinne einer SachVerpflichtung kann nicht unter „blonden Bestien“, unter „grausamen Raubthieren“ entstehen. Sie setzt bereits ein Vertrags-Verhältniß, die Anerkennung eines Eigenthumsrechts, die Achtung einer fremden Individualität voraus, sie ist nicht möglich, wenn nicht beim Darleiher die Neigung, einem Nebenmenschen gefällig zu sein, und das Vertrauen zu dessen Bereitwilligkeit, die Wohlthat zu vergelten, beim Borger die freiwillige Unterwerfung unter die unangenehme Nothwendigkeit des Bezahlens vorhanden ist. Und alle diese Gefühle sind ja bereits Moral, einfache, aber echte Moral, die richtige „Sklaven-Moral“ der Pflicht, der Rücksicht, des Mitgefühls, der Selbstbeschränkung, nicht die „Herren-Moral“ der Selbstsucht, des Raubes, der grausamen Gewaltthat, der schrankenlosen Begierde! Wenn selbst einzelne Worte wie das deutsche „schlecht“ (schlicht) heute das Gegentheil ihres ursprünglichen Sinnes bedeuten, so erklärt sich dies nicht aus einer fabelhaften „Umwerthung der Werthe“, sondern ungezwungen und einleuchtend aus der Abelschen Theorie des „Gegensinns der Urworte“. Derselbe Laut diente ursprünglich zur Bezeichnung der beiden Gegensätze desselben Begriffs, die nach dem Gesetze der Ideen-Assoziation immer gleichzeitig im Bewußtsein auftreten, und erst im spätern Leben der Sprache wurde das Wort zum ausschließlichen Träger des einen oder des andern der gegensätzlichen Begriffe. Diese Erscheinung hängt mit einer Aenderung in der sittlichen Bewerthung der Gefühle und Handlungen nicht im Entferntesten zusammen. [] Das biologische Argument. Die herrschende Moral soll zwar | die Lebensaussichten der Herdenthiere verbessern, aber gerade der Erzüchtung des höchsten Menschentypus abträglich sein, also im Ganzen die Menschheit schädigen, da sie die Gattung verhindert, sich zur vollkommensten Bildung zu steigern, also ihr mögliches Ideal zu erreichen. Der vollkommenste Menschentypus wäre mithin nach Nietzsche das „prachtvolle Raubthier“, der „lachende Löwe“, der alle seine Begierden ohne Rücksicht auf Gut oder Böse befriedigen könnte. Die Beobachtung lehrt, daß diese Aufstellung ein Blödsinn ist. Alle die geschichtlich bekannten „Uebermenschen“, die ihren Trieben die Zügel schießen ließen, waren entweder von vornherein Kranke oder sie wurden krank. Die berühmten Verbrecher, — und Nietzsche rechnet diese ja ausdrücklich unter die Uebermenschen — zeigten fast ohne Ausnahme die körperlichen und geistigen Stigmate, die sie als Entartete kennzeichneten, also als Krüppel oder Rückschlag-Erscheinungen, nicht als höchste Entwickelungen und Blüthen, und die Cäsaren, deren ungeheuerliche Selbstsucht sich an der ganzen Menschheit mästen konnte, verfielen dem Wahnsinn, den man doch auch schwerlich als einen Idealzustand der Gattung wird bezeichnen wollen. Daß

 Jenseits von Gut und Böse, S. : „Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie. — Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.“

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Friedrich Nietzsche.

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 das „prachtvolle Raubthier“ der Art schadet, daß es zerstört und verwüstet, gibt

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Nietzsche ohne Weiteres zu; aber was liegt an der Art? Sie ist ja nur dazu da, die volle Entfaltung einzelner Uebermenschen zu ermöglichen und deren ausschweifendste Bedürfnisse zu befriedigen. | Allein das „prachtvolle Raubthier“ schadet [] sich selbst, es wüthet gegen sich selbst, es vernichtet sich selbst, und das kann doch unmöglich eine nützliche Wirkung hochgezüchteter Eigenschaften sein! Die biologische Wahrheit ist, daß beständige Selbstzügelung eine Lebensnothwendigkeit der Stärksten wie der Schwächsten ist. Sie ist die Thätigkeit der höchsten, menschlichsten Hirnzentren. Werden diese nicht geübt, so verkümmern sie, das heißt, der Mensch hört auf, Mensch zu sein; der angebliche „Uebermensch“ wird zum Untermenschen, anders gesagt zum Vieh; durch die Lockerung oder Aufhebung der Hemmungs-Vorrichtungen im Gehirn verfällt der Organismus unrettbar der Anarchie seiner Bestandtheile und diese führt mit größter Sicherheit zum Untergang, zu Krankheit, Wahnsinn und Tod, selbst wenn von der Außenwelt gar kein Widerstand gegen die toll gewordene Selbstsucht des zügellosen Individuums erfolgt, was undenkbar ist. Was bleibt nun von dem ganzen System Nietzsches aufrecht? Wir haben es als eine Sammlung verrückter Behauptungen und windiger Redensarten erkannt, die man eigentlich gar nicht ernst anfassen kann, da sie kaum die Festigkeit der Ringelwölkchen einer Zigarre besitzen. Nietzsches Jünger murmeln immer von der „Tiefe“ seiner Moralphilosophie und bei ihm selbst ist das Wort „tief“ und „Tiefe“ ein geistiger Tic, der sich fortwährend aufs Unleidlichste wiederholt. Wenn | man [] sich aber dieser „Tiefe“ mit der Absicht nähert, sie zu ermessen, so traut man

 „Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern zu kommen.“ S. auch: „Das wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist, daß sie sich nicht als Funktion, (sei es des Königthums, fei es des Gemeinwesens) sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, — daß sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen.“ Jenseits von Gut und Böse, S. .  Hier nur einige Beispiele, die leicht (die Zahl buchstäblich, nicht als bildliche Uebertreibung genommen!) verhundertfacht werden könnten: Jenseits von Gut und Böse, S. : „Es ist der Orient, der tiefe Orient …“ S. : „Solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit …“ S. : „Das tiefe Leiden macht vornehm.“ „Eine Tapferkeit des Geschmacks, welche sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt.“ S. : „Irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig ins … Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt.“ S. : „Einen Geruch ebensosehr der Tiefe“ (!) „als des Moders …“ S. : „Still zu liegen wie ein Spiegel, daß sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele.“ S. : „Ich denke oft nach, wie ich ihn“ (den Menschen) stärker, böser und tiefer mache.“ Also sprach Zarathustra, . Theil, S. : „Aber du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen Wunden.“ . Th. S. : „Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern (!!).“ S. : „Und dieß heißt mir Erkenntniß: alles Tiefe soll hinauf — zu meiner Höhe.“ S. : „Sie dachten nicht genug in die Tiefe.“ . Th. S. : „Die Welt ist tief —: und tiefer als je der Tag gedacht hat.“ . Th. S. : „Was spricht die tiefe Mitternacht? … Aus tiefem Traum bin ich erwacht. Die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh. Lust — tiefer noch als Herzeleid. Alle Lust … will tiefe, tiefe Ewigkeit“ u. s. w.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

seinen Äugen kaum. Nietzsche hat keinen einzigen seiner sogenannten Gedanken bis zu Ende gedacht. Keine einzige seiner wilden Behauptungen ist nur fingerbreit unter die alleräußerste Oberfläche geführt, damit sie mindestens dem schwächsten Anblasen widerstehen könne. Die ganze Geschichte der Philosophie verzeichnet wahrscheinlich kein zweites Beispiel, daß man sich erfrecht hätte, derartige Eisenbahnunterhaltungs-Scherze und Theetisch-Schöngeisterei für Philosophie und nun gar für „tiefe“ Philosophie auszugeben. Nietzsche sieht das Moral-Problem gar nicht, um das er doch zehn Bände hindurch herumschwatzt. Vernünftiger Weise kann dieses Problem nur lauten: Können die menschlichen Handlungen in gute und böse getheilt werden? warum sollen die einen gut, die anderen böse sein? was soll den Menschen zwingen, die guten zu thun und die bösen zu unterlassen? Nietzsche thut, als leugnete er die Berechtigung einer Klassifikation der menschlichen Handlungen nach sittlichen Gesichtspunkten. „Nichts ist wahr, Alles [] ist erlaubt“. Es gibt | kein Gut und kein Böse. Es ist ein Aberglaube und ErbVorurtheil, an diesen künstlichen Begriffen festzuhalten. Er selbst steht „jenseits von Gut und Böse“ und er ladet die „freien Geister“, die „guten Europäer“ ein, ihm auf diesen Standpunkt zu folgen. Und gleich darauf spricht dieser „jenseits von Gut und Böse“ stehende „freie Geist“ mit größter Unbefangenheit von den „aristokratischen Tugenden“ und von der „Herrenmoral“. Es gibt also Tugenden? Es gibt also eine Moral, wenn sie auch der herrschenden entgegengesetzt ist? Wie verträgt sich das mit der Leugnung aller Moral? Die Handlungen der Menschen sind also nicht gleichwerthig? Man kann also unter ihnen gute und böse unterscheiden? Nietzsche unternimmt es also, sie zu klassifiziren, die einen als Tugenden, „Aristokraten-Tugenden“, die anderen als Sklaven-Handlungen zu bezeichnen, die für die „Herren, die Befehlenden“ schlecht, also lasterhaft seien — wie kann er da noch behaupten, daß er „jenseits von Gut und Böse“ steht? Er steht ja mitten inne zwischen Gut und Böse, nur daß er sich den albernen Scherz erlaubt, das böse zu nennen, was wir gut heißen, und umgekehrt, eine Geistesthat, zu der wahrhaftig jedes ungezogene und boshafte Kind von vier Jahren fähig ist. Dieses erste und erstaunlichste Nichtbegreifen seines eigenen Standpunktes ist schon ein gutes Beispiel seiner „Tiefe“. Doch weiter. Als einen Hauptbeweis dafür, daß es eine Moral überhaupt nicht gibt, führt er das an, was er „die Umwerthung [] der Werthe“ nennt. Einst soll gut gewesen sein, | was jetzt für schlecht gilt, und umgekehrt. Wir haben gesehen, daß diese Vorstellung eine delirirende und deliri-

 Zur Genealogie der Moral, S. .  Jenseits von Gut und Böse, S. : „Unsere Tugenden? — Es ist wahrscheinlich, daß auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Großväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten.“ S. : „Der soll der Größte sein: … der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden.“ Also: „jenseits von Gut und Böse“ und dennoch „Tugenden“!

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Friedrich Nietzsche.

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rend ausgedrückt ist. Aber gesetzt selbst, Nietzsche hätte Recht: wir wollen einmal auf den Wahnsinn eingehen und annehmen, der „Sklavenaufstand in der Moral“ habe stattgefunden. Was wäre damit für seinen Grundgedanken gewonnen? Eine „Umwerthung der Werthe“ würde nichts gegen den Bestand einer Moral überhaupt beweisen, denn sie läßt ja den Begriff des Werthes selbst gänzlich unangetastet. Danach gibt es Werthe, nur daß einmal diese, dann wieder jene Gattung von Handlungen den Rang von Werthen erhält. Die Thatsache, daß die Anschauungen über das, was sittlich oder unsittlich ist, im Laufe der Geschichte sich geändert haben, daß sie sich fortwährend ändern, daß sie sich auch künftig ändern werden, wird von keinem Sittengeschichtschreiber geleugnet. Ihre Anerkennung ist ein Gemeinplatz geworden. Wenn Nietzsche sie für seine Entdeckung hält, so verdient er einfach, daß ihm ein Dorfschullehrer-Gehilfe papierene Eselsohren aufsetze. Aber wie soll die Entwickelung, die Aenderung der Moralbegriffe der Grund-Thatsache des Vorhandenseins von Moralbegriffen überhaupt widersprechen? Sie widerspricht ihr nicht nur nicht, sie bestätigt sie ja sogar! Sie hat sie ja zur nothwendigen Voraussetzung! Eine Aenderung der Moralbegriffe ist doch nur möglich, wenn es Moralbegriffe gibt, das aber ist ja gerade das Problem: „Gibt es Moralbegriffe?“ Dieser ersten und einzig | wichtigen Frage kommt Nietzsche mit all seinem Wortgesprudel über die [] „Umwerthung der Werthe“ und den „Sklavenaufstand in der Moral“ gar nicht nahe. Er wirft der Sklavenmoral in verächtlichem Tone vor, daß sie eine Nützlichkeits-Moral sei, und er bemerkt nicht, daß er seine „vornehmen Tugenden“, welche die „Herren-Moral“ ausmachen, doch auch nur darum preist, weil sie dem Individuum, dem „Uebermenschen“, zuträglich sind. Ist denn „zuträglich sein“ und „nützlich sein“ nicht ganz genau dasselbe? Ist nicht also die Herren-Moral ganz genau ebenso eine Nützlichkeits-Moral wie die Sklaven-Moral? Und das sieht der „tiefe“ Nietzsche nicht! Und dafür, daß sie die „Nützlichkeitsmoral“ gefunden haben, verspottet er die englischen Moralisten!

 Zur Genealogie der Moral, S. : „Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens“ (durch die „Umwerthung der Werthe“ und den „Sklavenaufstand in der Moral“) „gehört, … daß jene Veränderung keine allmälige, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein  Sprung, ein Zwang.“ Also nicht nur wurde das das Gute, was früher das Böse war, sondern diese „Umwerthung“ fand auch sogar plötzlich statt, sie wurde eines Tages obrigkeitlich angeordnet!  Jenseits von Gut und Böse, S. : „Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral.“  Die fröhliche Wissenschaft, S. : „In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben so hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: — nur ist ihre Funktion eine verschiedene.“  Zur Genealogie der Moral, S. : „Auf dem Grunde aller … vornehmen Rassen ist das Raubthier; … es bedarf für diesen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildniß zurück.“ Das heißt: dies ist zu seiner Gesundheit nothwendig, ihm also zuträglich.  Zur Genealogie u. s. w., S. : „Welchen Unfug aber dieses“ (das demokratische) „Vorurtheil … anrichten kann, zeigt der berüchtigte“ (!) „Fall Buckles. Der Plebejismus des modernen Geistes,  der englischer Abkunft ist, brach da wieder einmal … heraus.“ Jenseits von G. und B., S. : „Es gibt Wahrheiten, die am besten von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden; … auf diesen … Satz wird man gerade jetzt hingestoßen, seitdem der Geist … mittelmäßiger Engländer — ich nenne

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Er glaubt etwas tief Verborgenes, noch von keinem Menschenauge Erblicktes ausgegraben zu haben, wenn er triumphirend | verkündet: „Was Alles Liebe genannt wird. Habsucht und Liebe: wie verschieden empfinden wir bei jedem dieser Worte! Und doch könnte es derselbe Trieb sein … Unsere Nächstenliebe — ist sie nicht ein Drang nach einem Eigenthum? … Wenn wir Jemand leiden sehen, so benutzen wir gern die jetzt gebotene Gelegenheit, Besitz von ihm zu ergreifen; dies thut zum Beispiel der Wohlthätige und Mitleidige; auch er nennt die in ihm erweckte Begierde nach neuem Besitze ‚Liebe‘ und hat seine Lust dabei wie bei einer neuen ihm winkenden Eroberung.“ Ist es wirklich erst noch nöthig, an dieser albernen Oberflächlichkeit Kritik zu üben? Gewiß ist jede, auch die scheinbar selbstloseste, Handlung in einem gewissen Sinne selbstsüchtig, in dem Sinne nämlich, daß ihr Verüber sich von ihr einen Nutzen verspricht und bei der vorausgenommenen Vorstellung von dem erwarteten Nutzen Lustgefühl empfindet. Wer hat dies je geleugnet? Wird es nicht von allen modernen Moralisten ausdrücklich betont? Liegt es nicht schon in der Begründung aller Sittlichkeit als einer Erkenntniß dessen, was nützlich ist? Aber das, worauf es ankommt, ahnt der „tiefe“ Nietzsche wieder einmal nicht. Ihm ist die Selbstsucht ein Gefühl, das den [] Nutzen eines Wesens zum Inhalte hat, welches | er sich vereinsamt in der Welt, von der Gattung losgelöst, ja der Gattung feindlich gegenüberstehend denkt. Dem Moralisten ist die Selbstsucht, die Nietzsche am Grunde aller Selbstlosigkeit entdeckt zu haben glaubt, die Erkenntniß dessen, was nicht dem Individuum allein, sondern auch der Gattung mit ihm nützlich ist; dem Moralisten ist das Wesen, welches der Schöpfer der Erkenntniß vom Nützlichen, folglich auch der Sittlichkeitsgefühle ist, nicht das Individuum, sondern die ganze Gattung; Selbstsucht ist auch dem Moralisten die Moral, aber eine Massen-Selbstsucht der Gattung, eine Selbstsucht der Menschheit gegenüber den nicht menschlichen Mitbewohnern der Erde und gegenüber der Natur. Der Mensch, den der geistesgesunde Moralist vor Augen hat, ist ein solcher, der genug hoch entwickelt ist, um aus der Illusion seiner individuellen Vereinzelung herauszutreten und am Gattungsdasein theilzunehmen, sich als Glied der Gattung zu fühlen, die Zustände des Artgenossen sich vergegenwärtigen, das heißt, mitempfinden zu können. Diesen Menschen nennt Nietzsche freilich mit einem Worte, das er bei allen Darwinisten aufgelesen hat, das er aber []

Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer — in der mittlern Region des europäischen Geschmacks zum Uebergewicht zu gelangen anhebt.“  Die fröhliche Wissenschaft, S. .  S. in meinem Roman Die Krankheit des Jahrhunderts, Leipzig, , . Band S. , die Bemerkungen Schrötters: „Egoismus ist ein Wort. Alles kommt auf die Deutung an. Jedes Lebende strebt nach Glück, das heißt nach Zufriedenheit … Er“ (der gesunde Mensch) „kann nicht glücklich sein, wenn er Andere leiden sieht. Je höher der Mensch entwickelt ist, umso lebhafter ist dieses Gefühl … Der Egoismus dieser Menschen besteht nun darin, daß sie das fremde Leid aufsuchen und es zu lindern streben, wobei sie in der Bekämpfung fremder Schmerzen einfach nach dem eigenen Glücke ringen. Ein Katholik würde vom heiligen Vinzenz a Paulo oder Carlo Borromeo sagen: er war ein großer Heiliger; ich würde von ihm sagen: er war ein großer Egoist.“

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gleichfalls für eine eigene Erfindung zu halten scheint, ein Herdenthier. Er gibt dem Wort einen verächtlichen Sinn. Die Wahrheit ist, daß das Herdenthier, das heißt der Mensch, dessen Ichbewußtsein sich zur Fähigkeit der Aufnahme des Gattungsbewußtseins erweitert hat, die höhere Entwickelungsstufe darstellt, welche Geisteskrüppel und Entartete, die ewig in ihre krankhafte Vereinsamung eingeschlossen bleiben, nicht erklimmen können. Ebenso „tief“ wie seine Entdeckung, daß auch alle Selbstlosigkeit Selbstsucht, ist seine Standrede „an die Lehrer der Selbstlosigkeit.“ „Man nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn | selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für [] uns und die Gesellschaft voraussetzen.“ „Die Tugenden (wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) sind ihren Inhabern meistens schädlich.“ „Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem, — das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selbst nehmen.“ „Die Erziehung … sucht den Einzelnen … zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vortheil, aber ‚zum allgemeinen Besten‘ in ihm und über ihn herrscht.“ Das ist der alte thörichte Einwand gegen den Altruismus, den man seit sechzig Jahren in allen Gossen umherschwimmen sehen kann. „Wenn Jeder selbstlos handeln, sich für seinen Nächsten opfern würde, so wäre der Erfolg der, daß Jeder sich selbst schädigen, die Menschheit also im Ganzen schweren Nachtheil erleiden würde.“ Gewiß, wenn die Menschheit aus vereinzelten, mit einander nicht zusammenhängenden Individuen bestände. Sie ist ja aber ein Organismus, jeder Einzelne gibt an den höhern Organismus immer nur den Ueberschuß seiner Leistungskraft ab und das Gedeihen des Gesammt-Organismus, das er durch seine altruistischen Opfer steigert, kommt ihm ja als sein persönlicher Antheil an dem Gesammtvermögen des höhern Organismus wieder zu Gute! Was würde man wohl zu einem Schlaumeier sagen, der die Feuerversicherung so bekämpfen würde: „Die meisten Häuser brennen nie ab. Der Hausbesitzer, der sich gegen Feuer versichert, zahlt sein Leben lang Prämien und da sein Haus schließlich doch nicht abbrennen dürfte, so hat er sein Geld ohne Nutzen hinausgeworfen; die Feuerversicherung ist mithin schädlich.“ Der Einwand gegen den Altruismus, daß er jeden Einzelnen schädigt, da er ihm Opfer für Andere auferlegt, ist genau von derselben Stärke. | Von der „Tiefe“ Nietzsches und seines Systems haben wir nun wohl genug [] Proben gehabt. Jetzt will ich einige seiner ergötzlichsten Widersprüche nachweisen. Seine Jünger leugnen diese nicht, aber sie suchen sie zu beschönigen. So sagt Kaatz: „Er hatte über so Vieles einen Wechsel der Anschauungen an sich selber erfahren, daß er vor den Menschen des starren Prinzips warnte, die Unehrlich-sein gegen sich selber — für ‚Charakter‘ ausgeben wollen. Bei dem Wandel der Ansich-

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ten, wie er in Nietzsches Werken zu Tage tritt, kann für die Zwecke dieses Buches natürlich nur diejenige Weltanschauung in Betracht kommen, zu der sich Nietzsche schließlich durchgerungen hat.“ Das ist aber bewußte und absichtliche Fälschung der Thatsachen und die Hand des Fälschers soll wie die eines Falschspielers sofort an den Kartentisch festgenagelt werden. Die Widersprüche finden sich nämlich nicht in Werken aus verschiedener Zeit, sondern in demselben Buche, oft auf derselben Seite. Sie sind nicht Erkenntniß-Stufen, von denen die höhere naturgemäß die niedrigere überwunden hat, sondern entgegengesetzte, einander vernünftig ausschließende Anschauungen, die gleichzeitig in Nietzsches Bewußtsein herrschen und die sein Urtheil weder zu versöhnen noch von denen er die eine oder die andere zu unterdrücken vermag. „Also sprach Zarathustra“ (. Theil S. .) heißt es: „Liebt immerhin euern Nächsten gleich euch, aber seid erst solche, die sich selber lieben.“ (S. .): „Und damals geschah es auch …, daß sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt.“ Und: (S. .) „Man muß sich selber lieben lernen — also lehre ich — mit einer heilen und gesunden Liebe: daß man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife.“ Dagegen in demselben [] Buche (. Th. S. .): „Ein Grauen ist uns der entartende Sinn, | welcher spricht: ‚Alles für mich‘.“ Ist dieser Widerspruch durch ein „Sich-Durchringen zu einer schließlichen Weltanschauung“ erklärt? Die entgegengesetzten Behauptungen stehen in demselben Buche, wenige Seiten von einander! Ein anderes Beispiel: („Die fröhliche Wissenschaft“ S. .) „Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, — sie taugt am wenigsten zu Philosophie.“ Und blos vier Seiten später, in demselben Buche: (S. .) „Sind wir nicht … dem Argwohn eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unseren Verehrungen zu Hause waren, … und einer andern Welt, die wir selber sind, … einem Argwohn, der uns Europäer … vor das furchtbare Entweder — Oder stellen könnte: ‚entweder schafft eure Verehrungen ab oder — euch selbst‘.“ Hier leugnet er also oder bezweifelt doch seine Persönlichkeit, wenn auch in fragender Form, bei der der Leser sich aber nicht aufhalten darf, denn Nietzsche „liebt es, seine Gedanken zu maskiren oder hypothetisch auszudrücken und aufgeworfene Probleme mit einem abgebrochenen Satze oder einem Fragezeichen abzuschließen.“ Aber er leugnet seine Persönlichkeit, sein Ich noch viel bestimmter. In „Jenseits von Gut und Böse“ (Vorrede, S. VI.) führt er aus, daß die Grundlage aller bisherigen Philosophen-Bauwerke „irgend ein Volksaberglaube“ war, wie: „der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften.“ Und in demselben Buche (S. .) ruft er: „Wer wäre nicht schon

 Dr. Hugo Kaatz, a. a. O. . Theil, Vorrede, S. VIII.  Robert Schellwien, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Leipzig, . S. .

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Friedrich Nietzsche.

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einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen!“ Also das Ich ein Aberglaube! Des „Sub-|jektiven“ bis zum Sterben satt! [] Und doch soll das Ich „heilig gesprochen“ werden? Und doch ist die „reifste Frucht der Gesellschaft und Sittlichkeit das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleicht“? Und doch „taugt eine sich selbst leugnende Persönlichkeit zu keinem guten Dinge mehr“? Die Leugnung des Ichs, dessen Bezeichnung als Aberglaube, ist umso außerordentlicher, als Nietzsches ganze Philosophie, wenn man seine Ergüsse so nennen darf, nur das Ich zur Grundlage hat, das Ich als das allein Berechtigte, ja als das allein Bestehende anerkennt! Einen zerstörendern Widerspruch werden wir in allen Werken Nietzsches allerdings nicht finden; aber wie unvermittelt die einander aufhebenden Gegensätze in seinem Geiste neben einander stehen, das soll doch noch an einigen anderen Beispielen gezeigt werden. Wie wir gesehen haben, ist seine letzte Weisheit: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt!“ „Im Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen: ‚Thue dies nicht! Entsage! Ueberwinde dich!‘“ „Selbstbeherrschung: Jene Morallehrer, welche … dem Menschen anbefehlen, sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigenthümliche Krankheit über ihn.“ Und nun würdige man diese Sätze: „Durch glückliche Ehesitten ist die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen.“ „Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet.“ „Das wesentliche und unschätzbare an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist.“ | Das Kennzeichen des Uebermenschen ist, daß er allein stehen will, die Einsam- [] keit sucht, die Gesellschaft der Herdenmenschen flieht. („Der soll der Größte sein, der der Einsamste sein kann.“ „Die hohe, unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehen …“ Jenseits von Gut und Böse S. , .) „Die Starken streben ebenso naturnothwendig aus einander, als die Schwachen zu einander.“ (Zur Genealogie der Moral S. .) Dagegen lehrt er an anderen Stellen: „Die längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich einzeln zu fühlen“, (Die fröhl. Wissenschaft S. .) und: „Wir unterschätzen heute mitunter die Vortheile eines Gemeinwesens.“ (Zur Gen. der Moral S. .) Wir? Das ist Verleumdung. Wir schätzen diese Vortheile nach ihrem vollen Werthe. Der allein schätzt sie nicht, der das „Auseinanderstreben“, das heißt die Feindseligkeit gegen das Gemeinwesen und die Verachtung seiner Vortheile, in Ausdrücken der Bewunderung als das Kennzeichen der „Starken“ rühmt.    

Also sprach Zar., . Th., S. : „Das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich.“ Zur Gen. der Moral, S. . Die fröhl. Wissensch., S. . Jens. von G. und B., S. , .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Einmal ist der ursprüngliche vornehme Mensch das frei schweifende prachtvolle Raubthier, die blonde Bestie, dann wieder sind „diese Menschen streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten und andererseits im Verhalten zu einander erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft.“ Ja, wenn das die Eigenschaften der „blonden Bestie“ sind, dann gebe man uns nur rasch eine Gesellschaft „blonder Bestien“! Wie vertragen sich aber „Sitte, Verehrung, Selbstbeherrschung“ u. s. w. mit dem „freien Schweifen“ des prachtvollen Raubthiers? Das bleibt ein ungelöstes Räthsel. Es ist wahr, daß Nietzsche seiner Schilderung, die uns den Mund wässern macht, die Einschränkung hinzufügt: „Sie sind nach Außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubthiere.“ (Zur Geneal. der Mor. S. .) [] Allein | diese Einschränkung ist thatsächlich keine. Jedes gegliederte Gemeinwesen fühlt sich als zusammengehörende Einheit angesichts der übrigen Welt und räumt dem Fremden, dem Auswärtigen nicht dieselben Rechte ein wie den eigenen Gemeingenossen. Recht, Sitte, Rücksicht finden keine Ausdehnung auf das Fremde, es wäre denn, dieses wüßte Furcht einzuflößen und Anerkennung seiner Rechte zu erzwingen. Der Fortschritt der Gesittung besteht aber gerade darin, daß die Grenzen des Gemeinwesens immer weiter gezogen werden, das rechtlose Fremde, das auf Rücksicht keinen Anspruch hat, immer mehr ins Ferne und Fernste hinausgerückt ist. Anfangs gab es nur in der Horde gegenseitige Schonung und Recht, dann dehnte das Zusammengehörigkeitsgefühl sich auf den Stamm, das Land, den Staat, die Rasse aus. Heute gibt es bereits Völkerrecht selbst im Kriege, die Besten unter den Zeitgenossen fühlen sich mit allen Menschen eins, ja halten selbst das Thier nicht mehr für völlig rechtlos, und die Zeit wird kommen, wo nur noch die Naturkräfte das Fremde und Aeußere sein werden, mit dem man nach Bedarf und Willkür schalten, dem gegenüber man das „losgelassene Raubthier“ sein darf. Der „tiefe“ Nietzsche freilich ist nicht im Stande, diesen so einfachen und klaren Sachverhalt zu begreifen. Einmal macht er sich über die „Naivetät“ derjenigen lustig, die den Staat aus einem Vertrag entstehen lassen (Zur Gen. der Mor. S. .), und dann sagt er (dasselbe Buch S. .): „Wenn sie“ (die Starken, die geborenen Herren, die „solitäre Raubthier-Spezies“) „sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine agressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzelgewissens.“ Mit Widerstand oder nicht: ist eine „Verbindung zum Zwecke einer Gesammt-Befriedigung“ nicht eben ein Vertrags-Verhältniß, dessen Annahme Nietzsche, und zwar mit Recht, „eine Naivetät“ nennt? | [] Einmal ist „Agonie etwas, das Mitleid macht“ (Jenseits von Gut und Böse S. .) und eine „Abfolge von Verbrechen scheußlich“ (Zur Gen. der Moral S. .), und dann wird wieder von der „Schönheit“ des Verbrechens gesprochen (Jens. von G. und B. S. .) und darüber geklagt, daß man das „Verbrechen verleumdet.“ (dasselbe Buch S. .)

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Doch genug der Beispiele. Ich möchte mich nicht ins Kleine und Einzelne verlieren, glaube aber bewiesen zu haben, daß Nietzsche jeder einzelnen seiner Grundbehauptungen selbst widerspricht, am entschiedensten der allerersten und wichtigsten, der Behauptung, daß das Ich das einzig Wirkliche, Selbstsucht das einzig Nothwendige und Berechtigte ist. Wenn man sich seine wild hervorgestoßenen, gleichsam herausgeschrieenen Einfälle etwas genauer ansieht, so staunt man über die Fülle von fabelhafter Dummheit und Abc-Schützen-Unwissenheit, die sie in sich schließen. So nennt er (Jens. v. G. u. B. S. .) die Lehre des Kopernikus, „der uns überredet hat, zu glauben, wider alle Sinne, daß die Erde nicht feststeht“, „den größten Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist“. Er ahnt also nicht, daß genaue Beobachtung des gestirnten Himmels, der Bewegungen des Mondes und der Planeten und der Stellung der Sonne im Thierkreise der Lehre des Kopernikus zu Grunde liegt, daß diese Lehre also thatsächlich der Triumph der richtigen Sinneswahrnehmungen über die Sinnestäuschung, anders gesagt der Aufmerksamkeit über die Flüchtigkeit und Zerstreutheit war. Er glaubt, daß „das Bewußtsein sich nur unter dem Drucke des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat“, denn „das bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mittheilungs-Zeichen, womit sich die Herkunft des Bewußtseins selber aufdeckt“. (Die fröhl. Wissensch. S. .) Er weiß also nicht, daß auch Thiere, die nicht sprechen, Bewußtsein haben, daß man auch in Bildern, in Bewegungs-Vorstellungen ohne die | Hilfe eines Wortes [] denken kann und daß die Sprache in der Entwickelung erst sehr spät zum Bewußtsein hinzutritt. Das Drolligste ist, daß Nietzsche sich selbst ganz besonders für einen Psychologen hält und am meisten dafür gelten will! Der Sozialismus stammt nach diesem tiefsinnigen Manne daher, daß „den Fabrikanten und Groß-Unternehmern des Handels bisher jene Formen und Abzeichen der höhern Rasse fehlen, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Geberde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen!! Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt, daß der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimirt — durch die vornehme Form!!“ (Die fröhl. Wiss. S. .) Die Vorstellung „du sollst!“, der Gedanke der Pflicht, der Nothwendigkeit eines bestimmten Maßes von Selbstbeherrschung, ist eine Folge davon, daß es „zu allen Zeiten, so lange es Menschen gibt, auch Menschenherden gegeben hat und immer sehr viel Gehorchende im Verhältniß zur kleinen Zahl der Befehlenden.“ (Jens. v. G. u. B. S. .) Ein minder Denkunfähiger als Nietzsche wird begreifen, daß umgekehrt Menschenherden, Gehorchende und Befehlende überhaupt erst möglich waren, nachdem und weil das Gehirn die Kraft und Fähigkeit erworben hatte, die Vorstellung „du sollst“ auszuarbeiten, das heißt einen Trieb durch einen Gedanken oder ein Urtheil zu hemmen. Der Abkömmling der Mischrassen „wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein“, (Jens. v. G. u. B. S. .) ja der „europäische Weltschmerz, der Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung“; Stände drücken aber „immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus“. (Zur Gen. d. M. S. .) Die berufensten Forscher sind bekanntlich überzeugt, daß die Kreuzung einer Rasse mit einer [] andern beide fortschrittlicher | werden läßt und die „erste Ursache der Entwickelung“ ist. Der „Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom Kampf ums Dasein“ erklärt sich aus der Herkunft Darwins. Seine Vorfahren waren „arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Noth und Enge“. (Die fröhl. W. S. .) Ich darf wohl bei allen meinen Lesern als bekannt voraussetzen, daß Darwin ein reicher Mann und nie zu Erwerb genöthigt war und seine Vorfahren mindestens seit drei oder vier Geschlechtern in Wohlstand gelebt hatten. Ein ganz besonderer Anspruch Nietzsches ist der auf außerordentliche Eigenartigkeit. Seiner „fröhlichen Wissenschaft“ setzt er den Spruch vor: „Ich wohne in meinem eignen Haus, Hab Niemandem nie nichts nachgemacht Und — lachte noch jeden Meister aus, Der nicht sich selber ausgelacht.“

Seine Jünger glauben ihm diese Prahlerei und blöken sie ihm unter Augenverdrehungen im Schafchor nach. Die tiefe Unwissenheit dieser Wiederkäuer-Herde gestattet ihr freilich, an Nietzsches Originalität zu glauben. Da sie nie Etwas gelernt, gelesen oder gedacht hat, so ist ihr natürlich Alles neu und noch nicht dagewesen, was sie im Wirthshaus oder auf Bummelgängen erfährt. Wer aber Nietzsche im Zusammenhange mit den gleichartigen Zeiterscheinungen betrachtet, der erkennt, daß seine angeblichen Neu- und Kühnheiten schmierigste Gemeinplätze sind, welche ein etwas auf sich haltender reinlicher Denker nicht mit der Zange anfassen möchte. | [] Wirklich originell ist Nietzsche allerdings überall, wo er rast; da seine Aussprüche dann überhaupt keinen Sinn, nicht einmal einen Unsinn, enthalten, so kann man sie auch nicht an irgend Etwas knüpfen, was früher gedacht und gesagt worden ist. Wo dagegen in seinen Worten ein Schimmer von Verstand ist, da ist auch ihre Abstammung aus den Paradoxen oder Banalitäten Anderer sofort zu erkennen. Nietzsches „Individualismus“ findet sich vollständig in Max Stirner wieder, einem toll gewordenen Hegelianer, der vor fünfzig Jahren den kritischen Idealismus seines Meisters bis zur ungeheuerlichen Aufblasung der Bedeutung, selbst der grob empirischen Bedeutung, des Ichs übertrieben und ungewollt lächerlich gemacht hat, der schon zu seiner Zeit von Niemand ernst genommen worden und seitdem in die wohlverdiente tiefe Vergessenheit gefallen war, aus der jetzt einige Anarchis-

 C. Lombroso und R. Laschi, Le crime politique et les révolutions. Paris, . . Band S. .

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ten und philosophische Gigerl — denn die Zeithysterie hat auch eine solche Gestalt  geschaffen — ihn auszugraben suchen. Wo Nietzsche das Ich, seine Rechte, seine

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Ansprüche, die Nothwendigkeit, es zu pflegen und zu entwickeln, preist, da wird der Leser, der sich die vorhergehenden Kapitel dieses Buches gegenwärtig gehalten hat, die Phrasen von Barrès, Wilde und Ibsen wiedererkennen. Seine Philosophie des Willens ist Schopenhauer abgeguckt, der überhaupt seinem Denken die Richtung und seiner Sprache die Färbung gegeben hat. Die vollständige Gleichheit seiner Redensarten über den Willen mit der Lehre Schopenhauers ist ihm offenbar selbst zum Bewußtsein gekommen und unheimlich geworden, denn um sie zu verwischen, setzte er seinem Abklatsch eine falsche Nase von eigener Er-|findung [] auf: er bestreitet nämlich, daß das Treibende in jedem Wesen der Wille zur Selbsterhaltung sei; es soll vielmehr der Wille zur Macht sein. Diese Hinzufügung ist die reine Kinderei. Bei niederen Lebewesen ist nie ein „Wille zur Macht“, immer nur ein Wille zur Selbsterhaltung wahrzunehmen und beim Menschen kann dieser angebliche „Wille zur Macht“ von jedem Andern als dem „tiefen“ Nietzsche auf zwei wohlbekannte Wurzeln zurückgeführt werden: auf das Bestreben, alle Organe bis zur Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu bethätigen, was mit Lustgefühlen verbunden ist, oder sich Vortheile zu verschaffen, welche die Daseinsbedingungen verbessern; das Streben nach Lustgefühlen und nach besseren Daseinsbedingungen ist aber nichts Anderes als eine Erscheinungsform des Willens zum Dasein und wer den „Willen zur Macht“ für etwas von diesem Verschiedenes, ja ihm Entgegengesetztes ansieht, der bezeugt einfach seine Unfähigkeit, den Gedanken des Willens zum Dasein auch nur ein klein wenig über die Länge der Nase hinaus zu verfolgen. Nietzsches Hauptbeweis für die Verschiedenheit des Willens zur Macht vom Willen zum Dasein ist, daß jener den Wollenden oft geradezu zur Verachtung und Gefährdung, ja Zerstörung des eigenen Lebens treibt. Dann wäre ja also der ganze Kampf ums Dasein, in welchem man fortwährend Gefahren besteht, oft genug sie sucht, auch ein Beweis, daß der Kämpfende sein Dasein nicht wünscht! Nietzsche wäre allerdings ganz gut fähig, auch dies zu behaupten. Die Entarteten, die wir bisher kennen gelernt haben, erklären, daß sie sich um die Natur und ihre Gesetze nicht kümmern. Nietzsche geht in der Selbstgenügsamkeit nicht so weit wie Rossetti, dem es gleichgiltig ist, ob die Erde sich um die Sonne oder die Sonne um die Erde dreht. Er bekennt offen, daß ihm dies nicht gleichgiltig ist; er bedauert es; es stört ihn, daß die Erde nicht mehr der Weltmittelpunkt und er selbst die Hauptsache der Erde ist. „Seit Kopernikus scheint der Mensch | auf eine schiefe Ebene gerathen, er rollt immer schneller nunmehr aus [] dem Mittelpunkte weg — wohin? ins Nichts? ins durchbohrende Gefühl seines

 R. Schellwien, a. a. O. S. : „Die literarische Thätigkeit der beiden Denker (!) liegt um mehr als dreißig Jahre auseinander, aber, so groß auch ihre Verschiedenheit, ihre Uebereinstimmung ist es nicht minder und in dieser treten die wesentlichen Charakterzüge des prinzipiellen Individualismus um so deutlicher hervor.“

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Nichts?“ Er ist dafür Kopernikus sehr böse. Nicht nur ihm, der Wissenschaft überhaupt: „Alle Wissenschaft ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei.“ (Zur Gen. d. M. S. .) Ist dies nicht der Widerhall der Worte Wildes, der sich darüber beklagt, daß die Natur gegen ihn „so gleichgiltig, so verständnißlos ist“ und daß er ihr „nicht mehr bedeutet als das grasende Vieh“? Auch sonst finden wir den Gedankengang, ja beinahe die Worte Oscar Wildes, Huysmans und anderer Diaboliker und Decadenten bei Nietzsche wieder. Die Stelle in „Zur Gen. der Moral“, (S. .) wo er die Kunst darum rühmt, weil „in ihr die Lüge sich heiligt und der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat“, könnte im Kapitel über „Lügen als schöne Kunst“ von Wildes „Intentions“ stehen, wie umgekehrt Wildes Aphorismen: „Es gibt keine Sünde, ausgenommen Dummheit,“ „ein Gedanke, der nicht gefährlich ist, ist überhaupt nicht werth, ein Gedanke zu sein,“ und sein Lob des Giftmörders Waineright mit Nietzsches „Assassinen-Moral“ und seinen Bemerkungen, daß man das Verbrechen verleumde und „meist nicht Artist genug sei, um das schöne Schreckliche eines Verbrechens zu Gunsten des Thäters zu wenden“, genau übereinstimmen. Man vergleiche auch des Scherzes halber diese Stellen: „Man muß den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen. Gut ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt …“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse S. .) und „Ah! Sagen Sie nicht, daß Sie mit mir übereinstimmen. Wenn Leute mit mir übereinstimmen, so fühle ich immer, daß ich Unrecht haben muß …“ (Oscar Wilde, [] Intentions, S. .) Dies ist wohl mehr als | Aehnlichkeit, nicht wahr? Ganz gleichlautende Sätze aus Huysmans „A rebours“ und aus Ibsen hier nochmals anzuführen versage ich mir, um nicht zu breit zu werden. Dabei ist es nicht zweifelhaft, daß Nietzsche die französischen Decadenten und englischen Aestheten, mit denen er sich so häufig begegnet, nicht kennen konnte, weil seine Bücher zum Theil älter sind als die ihrigen, und daß sie ebenso wenig aus ihm geschöpft haben, weil sie, vielleicht mit Ausnahme von Ibsen, bis vor etwa zwei Jahren nie auch nur seinen Namen gehört haben dürften. Die Aehnlichkeit, ja Gleichheit erklärt sich nicht durch Entlehnungen, sie erklärt sich aus der nämlichen Geistesbeschaffenheit Nietzsches und der anderen ichsüchtigen Entarteten. Besonders drollig ist Nietzsche anzusehen, wenn er sich der Wahrheit gegenüberstellt, um sie für unnöthig zu erklären, ja zu leugnen. „Warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissenheit?“ (Jens. v. G. u. B. S. .) „Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen? Es sind die unwiderlegbaren Irrthümer des Menschen.“ (Die fröhl. Wiss. S. .) „Wille zur Wahrheit — das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“ (Ebendas. S. .) Den Abschnitt dieses Buches, der sich mit der Frage der Wahrheit beschäftigt, betitelt er: „Wir Furchtlosen“ und setzt ihm als Motto das Wort Turennes vor: „Du zitterst, Leichnam? Du würdest noch sehr viel heftiger zittern, wenn du wüßtest, wohin ich dich führe!“ Und welches ist diese fürchterliche Gefahr, in die sich der Furchtlose mit solchen

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Heldengeberden begibt? Die Untersuchung des Wesens und Werthes der Wahrheit. Aber diese Untersuchung ist ja das Abc aller ernsten Philosophie! Und auch die Frage, ob es überhaupt eine objective Wahrheit gibt, ist vor ihm aufgeworfen worden, freilich mit weniger Trompetenblasen, Paukenschlagen und Locken-|schüt- [] teln als Vorspiel, Begleitung und Schluß. Uebrigens ist es in hohem Grade bezeichnend, daß derselbe Drachentödter, der mit solchen Bramarbas-Geberden und Schnarchtönen der Herausforderung gegen „die Wahrheit“ angeht, Demuthslaute unterthänigster Entschuldigung findet, wenn er sich unterfängt, Goethes Vollkommenheit in allen Stücken ganz leise anzuzweifeln. Von der „Schwerflüssigkeit“ und „Langweiligkeit“ des deutschen Stils sprechend, sagt er: (Jens. v. G. u. B. S. .) „Man vergebe mir die Thatsache, daß selbst Goethes Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht.“ Wenn er an Goethe eine ganz schüchterne Kritik übt, bittet er um Vergebung; seine todesverachtende Heldenhaltung hat er nur, wenn er Sittlichkeit und Wahrheit in die Schranken fordert. Das macht, dieser „Furchtlose“ hat die bei Gestörten oft beobachtete Schlauheit, recht gut zu begreifen, daß es für ihn ganz ungefährlich ist, den Schwachköpfen, die seine Gemeinde bilden, den fabelhaftesten philosophischen Widersinn vorzuschwatzen, daß sie dagegen sofort würden empfindlich werden, wenn er gegen ihre ästhetischen Ueberzeugungen oder Vorurtheile anstoßen würde. Selbst im Allereinzelnsten überrascht Nietzsche durch seine wortwörtliche Uebereinstimmung mit den anderen Ichsüchtigen, die wir kennen gelernt haben. Man vergleiche z. B. den Satz, in welchem er „das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihren Augenblick glatten Meeres und halkyonischer Selbstgenügsamkeit, das Goldene und Kalte“ rühmt, (Jens, v. G. u. B. S. .) mit Baudelaires Preis der Unbeweglichkeit und seiner verzückten Schilderung einer metallenen Landschaft, oder die Bemerkungen des Esseintes und die Seitenhiebe, die Ibsen seine Gestalten gegen die Zeitungen führen läßt, mit dem beständigen Schimpfen Nietzsches auf die Zeitungen. Die „großen asketischen Geister“ haben „eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung.“ (Zur Gen. d. M. S. .) Die Ursache | der „nachge- [] rade unleugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes“ liegt „in einer allzu ausschließlichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik.“ (Ebendas. S. .) „Seht mir doch diese Ueberflüssigen! … Sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.“ (Also spr. Zar. . Th. S. .) „Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe, schmutzige Lumpen? Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen! Hörst du nicht, wie der Geist hier zum Wortspiel wurde? Widriges Wort-Spülicht bricht er heraus. Und sie machen noch Zeitungen aus diesem Wort-Spülicht!“ (Ebendas. . Th. S. .) Diese Beispiele könnten unschwer auf das Zehnfache vermehrt werden, denn jede Vorstellung kehrt bei Nietzsche mit einer Hartnäckigkeit wieder, die den geduldigsten Leser mit gesundem Geschmacke wild machen muß.

 S. das Kapitel „Wo ist die Wahrheit?“ meiner „Paradoxe“.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

So sieht es mit der Eigenartigkeit Nietzsches aus. Dieser „originale“ und „tollkühne“ Denker sucht seinen Lesern mit den bekannten Praktiken von AusverkaufsGeschäften den verlegensten Schund größerer Philosophen als funkelnagelneue  Waare anzuschmieren. Seine gewaltigsten Anläufe gelten dem Einrennen offener Thüren. Dieser „Einsame“, dieser „Bewohner der höchsten Berggipfel“ zeigt die Dutzend-Physiognomie aller Decadenten. Er, der fortwährend voll Verachtung von der „Herde“ und dem „Herdenthier“ spricht, ist selbst das allerbanalste Herdenthier. Nur ist die Herde, der er mit Leib und Seele angehört, eine besondere; es ist  die Herde der räudigen Schafe. Einmal hat ihn seine gewöhnliche Schlauheit eines Gestörten einen Augenblick lang verlassen und er hat uns selbst verrathen, wie seine „eigenartige“ Philosophie entstanden ist. Die Stelle ist so bezeichnend, daß ich sie ausführlicher anführen muß:  []

„Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen über den Ursprung | der Moral Etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges“ (!) „Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog — mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war ‚Der Ursprung  der moralischen Empfindungen‘; sein Verfasser Dr. Paul Rée; das Jahr seines Erscheinens . Vielleicht habe ich niemals Etwas gelesen, zu dem ich dermaßen Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir Nein gesagt hätte wie zu diesem Buche: doch ganz ohne Verdruß und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete“ („Menschliches Allzumenschliches“) „nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buches Bezug,  nicht indem ich sie widerlegte— was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen! — sondern wie es einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern.“ (Zur Genealogie der Moral, S. VII.)

Hier hat der Leser den Schlüssel zur „Originalität“ Nietzsches. Sie besteht in der einfachen, kindlichen Umkehrung eines vernünftigen Gedankenganges. Wenn Nietzsche sich einbildet, daß seine wahnsinnigen Leugnungen und Widersprüche ihm selbstständig im Kopfe gewachsen sind, so ist er eben das Opfer einer Selbsttäuschung. Er mag seine Raserei schon im Geiste gehabt haben, ehe er Dr. Rées Schrift gelesen hatte. Aber dann war sie als Widerspruch zu anderen Schriften entstanden, ohne daß er sich dieses Ursprunges so klar bewußt geworden wäre wie nach dem Lesen der Réeschen Arbeit. Treibt er doch die Selbsttäuschung bis zu der unglaublichen Höhe, sich einen „positiven Geist“ zu nennen, nachdem er eben offenherzig bekannt hat, wie er es macht: daß er nämlich nicht „widerlegt“, — das sollte ihm auch schwer geworden sein! — sondern daß er „zu jedem Satz und jedem Schluß Nein sagt“! Diese Erklärung des Ursprungs seiner „eigenartigen“ Moralphilosophie schließt eine Diagnose in sich, die sich selbst dem kurzsichtigsten Auge geradezu aufdrängt: Nietzsches System ist eine Ausgeburt des Widerspruchswahnsinns, wel[] cher die tob-|süchtige Form derselben Geistesstörung ist, deren melancholische

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Friedrich Nietzsche.

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Form der Zweifel- und Verneinungs-Wahnsinn ist, von dem in den früheren Kapiteln die Rede war. Seine „folie des négations“ verräth sich auch in seinen sprachlichen Eigenthümlichkeiten. Er hat im Bewußtsein immer einen Fragedrang, gleichsam ein Fragezeichen. Er liebt kein Wort so sehr wie das Fragewort „wie?“ das er  fortwährend im wunderlichsten Zusammenhang gebraucht, und bedient sich bis zum Ueberdruß der Wendung, daß man zu Dem und Jenem „Nein sage“, daß Der und Jener „ein Neinsager“ sei, eine Wendung, die ihm durch Ideen-Assoziation die entgegengesetzte Wendung „Ja sagen“ und „Jasager“ zu eben so maßlos häufigem Gebrauche nahelegt. Dieses „Nein sagen“ und „Ja sagen“ ist bei ihm | eine wahre []  Paraphasia vesana oder irre Querrede, wie die in der Fußnote vorgeführten Beispiele dem Leser zeigen. Wenn Nietzsche versichert, daß er „ohne Verdruß und Ungeduld“ zu allen Behauptungen Rées „Nein gesagt“ hat, so darf man ihm glauben. Die Zweifel- und Verneinungs-Wahnsinnigen ärgern sich nicht, wenn sie fragen oder widersprechen;  sie thun es unter dem Zwang ihrer Geistesstörung. Aber die Tobsüchtigen unter ihnen haben, wenn sie sich nicht selbst ärgern, doch die bewußte Absicht, die

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 „Mit welchem Zauber faßt sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe der Welt sich hier eingeschifft?“ „Was braucht der Begeisterte den Wein! — Wie? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen?“ „Insofern er diese andere Welt bejaht, wie? muß er nicht damit ihr Gegenstück, diese Welt, verneinen?“ „Um Gott herum wird Alles — wie? vielleicht zur Welt?“ „Ein Pessimist, … der zur Moral Ja sagt … zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich ein — Pessimist?“ „Furcht und Mitleiden: mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe —. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein?“ Ich will es an diesen Beispielen genug sein lassen, bemerke aber ein für allemale, daß ich alle Proben, die ich zur Beleuchtung des Geisteszustandes Nietzsches anführe, leicht verhundertfachen könnte, da die kennzeichnenden Eigenthümlichkeiten hundertemale bei ihm wiederkehren. Dieses lebendigen Fragezeichens, das als Zwangsvorstellung in seinem Geiste immer anwesend ist, wird er sich einmal als eines solchen geradezu sinnlich bewußt. Er nennt (Also spr. Zar. . Th. S. .) die Herrschsucht „das blitzende Fragezeichen neben vorzeitigen Antworten.“ Das hat in diesem Zusammenhange schlechterdings keinen Sinn, es wird aber sofort verständlich, wenn man sich erinnert, daß Irre plötzlich die Vorstellungen, die in ihrem Bewußtsein auftauchen, auszusprechen pflegen. Nietzsche sah offenbar „das blitzende Fragezeichen“ in seinem Geiste und sprach plötzlich und unvermittelt davon.  „Ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte.“ „Ein Pessimismus, der nicht blos Nein sagt, Nein will (!), sondern … Nein thut (!!).“ „Ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Ding.“ „Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Neinsager.“ Dann als ergänzendes Gegenstück: „Schwanger von Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen.“ „Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst.“ (Er fühlt sich als etwas) „wenigstens zum Leben Ja-sagendes.“ „Zu sich Ja sagen dürfen, das ist … eine reife Frucht.“ (Die uninteressirte Bosheit wird von der ursprünglichen Menschheit als Etwas gefühlt,) „zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt.“ „Er wirft alles Nein, das er zu sich selbst … sagt, aus sich heraus als ein Ja.“ Man sieht, wie Nietzsche sein „Nein“ und „Ja sagen“ verwendet. Es steht ungefähr an Stelle aller Zeitwörter, welche Subjekt und Prädikat verbinden. Den Gedanken: „ich bin durstig“, würde Nietzsche so ausdrücken: „Ich sage Ja zum Wasser.“ Statt „ich bin schläfrig“ würde er sagen: „Ich sage Nein zum Wachsein“ oder: „Ich sage Ja zum Bette.“ U. s. w. Das ist die Art, wie Kranke in der unvollständigen Aphasie ihre Gedanken zu umschreiben pflegen.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Anderen zu ärgern. Nietzsche läßt sich hierüber ein Bekenntniß entschlüpfen: „Meine Denkweise erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehe-thun-Wollen, eine Lust am Neinsagen.“ (Die fröhl. Wiss. S. .) Man vergleiche mit diesem Geständniß die Ibsenschen Stellen: „Du warst rücksichtslos! — Im Grunde nur deshalb, um  diese gezierten Wesen beiderlei Geschlechts hier in der Stadt zu ärgern“, und: „Es [] soll etwas geschehen, das all dieser Wohl-|anständigkeit ins Gesicht schlägt.“ (Die Stützen der Gesellschaft, S.  und .) Dem Ursprung einer der „originellsten“ von Nietzsches Lehren, nämlich der Deutung des Gewissens als einer Befriedigung des Grausamkeitstriebes durch  innere Selbstzerfleischung, ist bereits Dr. Hermann Türck in einer vortrefflichen kleinen Schrift nachgegangen. Er erkennt ganz richtig am Grunde dieses irrsinnigen Einfalls den Krankheitszustand der sittlichen Verirrung und fährt fort: „Denken wir uns nun einen derartigen Menschen mit angeborenen Mordinstinkten oder überhaupt mit ‚Anomalien oder Perversität der sittlichen Gefühle‘ (Mendel) zugleich sehr begabt, mit bester Schulung und vorzüglicher Erziehung in angenehmen Verhältnissen und unter der sorgfältigen … Pflege von Frauen aufgewachsen … und schon frühzeitig in eine hervorragende gesellschaftliche Stellung gebracht, so ist es klar, daß die besseren sittlichen Triebe eine solche Stärke gewinnen müssen, daß sie die bestienhafte Zerstörungslust in das tiefste Innere zurückzudrängen und vollständig zu zügeln vermögen, ohne sie doch ganz und gar ertödten zu können. Sie vermag sich allerdings nicht in Thaten zu äußern, aber der Trieb bleibt, da er angeboren ist, bestehen als ein im innersten Herzen gehegter unerfüllter Wunsch, … als eine Sehnsucht, sich … seiner grausamen Wollust hinzugeben. Jede Nichtbefriedigung eines … stark ausgeprägten Triebes aber hat Schmerz und innere Qual zur Folge. Nun sind wir Menschen sehr geneigt, das, wozu wir entschieden Lust haben, auch für naturgemäß gut und gerechtfertigt zu halten, und umgekehrt das, was uns Schmerz bereitet, als schlecht und widernatürlich zu verwerfen. So kann es kommen, daß ein geistreicher, hochgebildeter Mensch, der mit perversen Instinkten … geboren ist und die Nichtbefriedigung des … Triebes als … Qual empfindet, auf den Gedanken verfällt, die Mordlust, die äußerste Selbstsucht … als etwas Gutes, Schönes und Naturgemäßes zu rechtfertigen, die entgegenstehenden besseren sittlichen Triebe aber, die sich in uns als das zeigen, was wir Gewissen nennen, als krankhafte Verirrung zu bezeichnen.“ | []

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Dr. Türck hat Recht, wenn er bei Nietzsche angeborene sittliche Verirrung, die Umkehr der gesunden Triebe in ihr Gegentheil, annimmt. Er begeht aber in der Deutung der Einzelerscheinungen, in denen die Verirrung sich kundgibt, einen  Irrthum, der sich daraus erklärt, daß Dr. Türck anscheinend mit der Irrenheilkunde nicht tiefer vertraut ist. Er nimmt an, daß in Nietzsches Geiste die bösen Triebe mit den ihm durch Erziehung beigebrachten besseren Anschauungen einen harten Kampf kämpfen und daß er die Unterdrückung seiner Triebe durch das Urtheil als Schmerz empfindet. Das ist schwerlich der Sachverhalt. Nietzsche braucht nicht  nothwendigerweise den Wunsch zu haben, Morde und andere Verbrechen zu begehen. Nicht jeder Verirrte („Perverse“) steht unter Zwangs-Antrieben. Die Perversion  Dr. Hermann Türck, Fr. Nietzsche und seine philosophischen Irrwege. Zweite Auflage. Dresden, . S. .

Friedrich Nietzsche.

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 kann ausschließlich auf die Denkthätigkeit beschränkt sein und sich ganz und gar

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in Vorstellungen Genüge thun. Ein Verirrter dieser Art kommt gar nicht auf den Gedanken, seine Vorstellungen in Handlungen umzusetzen. Seine Störung greift nicht auf die Willens- und Bewegungs-Zentren über, sondern treibt blos innerhalb der gedankenbildenden Zentren ihr unheimliches Wesen. Wir kennen z. B. Formen geschlechtlicher Verirrung, in welchen die Kranken niemals den Drang empfinden, sich durch Handlungen zu befriedigen, sondern blos im Geiste schwelgen. Diese erstaunliche Trennung des natürlichen Zusammenhanges zwischen Vorstellung und Bewegung, zwischen Gedanken und That, diese Loslösung | der Willens- und [] Bewegungs-Organe von den Organen des Denkens und Urtheilens, denen sie sonst gehorchen, ist an sich ein Beweis tiefster Zerrüttung der ganzen Denkmaschine. Unkundige weisen gern darauf hin, daß manche Schriftsteller und Künstler in ihrem einwandfreien Leben einen geraden Gegensatz zu ihren Werken bilden, die unsittlich oder widernatürlich sein mögen, und leiten aus diesem Gegensatze die Folgerung ab, daß man nicht berechtigt sei, aus den Werken auf die geistige und sittliche Beschaffenheit ihres Urhebers zu schließen. Diejenigen, die derartige Redensarten machen, ahnen in ihrer Unwissenheit eben nicht, daß es rein geistige Perversionen gibt, die ganz so eine Geisteskrankheit sind wie die Zwangsantriebe der „Impulsiven“. Dies ist sichtlich der Fall bei Nietzsche. Seine Verirrung ist rein geistiger Art und hat ihn schwerlich jemals zu Thaten gedrängt. Es hat also auch in seinem Geiste kein Kampf zwischen den Trieben und der anerzogenen Sittlichkeit stattgefunden. Seine Erklärung des Gewissens hat einen ganz andern Ursprung, als Dr. Türck annimmt. Sie ist eine der so häufig beobachteten irrigen Deutungen einer Empfindung durch das sie wahrnehmende Bewußtsein. Nietzsche bemerkt, daß Vorstellungen grausamer Art bei ihm von Lustgefühlen begleitet, daß sie, wie die Irrenheilkunde sich ausdrückt, „wollüstig betont“ sind. Er hat um dieser Begleitung willen die Neigung, derartige wollüstig empfundene Vorstellungen heraufzubeschwören und schwelgend bei ihnen zu verweilen. Diese Erfahrungen sucht das Bewußtsein dann derart vernünftig zu deuten, daß es annimmt, Grausamkeit sei ein gewaltiger Urtrieb des Menschen, dieser gefalle sich wenigstens in der Vorstellung | grausamer Handlungen, da er sie nicht wirklich begehen dürfe, und das [] schwelgende Verweilen bei Vorstellungen dieser Art nenne er sein Gewissen. Wie

 B. Ball, La folie érotique. Paris, . S. : „In der keuschen Liebe“ (dem Liebeswahnsinn oder der „Erotomanie“ Esquirols) „bleiben die größten Extravaganzen in die Schranken des  Gefühls eingeschlossen, ohne jemals durch die Dazwischenkunft der Sinne entweiht zu werden; ich habe schon Beispiele dieses Deliriums gezeigt, in welchen es bis zu den äußersten Grenzen der Verrücktheit getrieben war, ohne daß sich jemals ein Gedanke darein mischte, der dem Gebiete der platonischen Liebe fremd war.“  Nietzsche spricht an einer Stelle, „Zur Gen. d. M.“ S.  von der „Species der moralischen  Onanisten und Selbstbefriediger.“ Er wendet das Wort zwar nicht auf sich an, es ist aber unzweifelhaft von einer dunkeln Ahnung seines eigenen Seelenzustandes eingegeben.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

ich oben gezeigt habe, sind nach Nietzsche Gewissensbisse nicht die Folge böser Thaten, sondern sie treten bei Menschen auf, die niemals etwas Böses begangen haben. Er verwendet das Wort also unverkennbar in einem von dem üblichen ganz verschiedenen, ihm allein eigenthümlichen Sinne, er bezeichnet damit einfach sein Schwelgen in wollüstig betonten Grausamkeits-Vorstellungen. Die Verirrung aber, in welcher der Kranke bei Handlungen oder Vorstellungen grausamer Art wollüstige Erregung empfindet, ist dem Irrenarzt wohlbekannt. Sie hat in der Wissenschaft einen Namen. Sie heißt Sadismus. Der Sadismus ist die dem Masochismus entgegengesetzte Form der sexualen Perversion. Nietzsche leidet in stärkstem Maße an Sadismus, nur ist dieser bei ihm auf die geistige Sphäre [] allein beschränkt und befriedigt | sich in Gedanken-Schwelgerei. Ich möchte bei diesem widerlichen Gegenstande nicht allzu lange verweilen, will also nur eine ganz kleine Anzahl von Belegstellen anführen, welche zeigen, daß in Nietzsches Denken Bilder der Grausamkeit ohne Ausnahme von Vorstellungen wollüstiger Art begleitet und unterstrichen werden: „Die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie.“ (Zur Gen. d. M. S. .) „Das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust, ‚de faire du mal pour le plaisir de le faire,‘ der Genuß in der Vergewaltigung.“ (Ebendas. S. .) „Treibt es, wie ihr wollt, ihr Uebermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit.“ (Die fröhl. Wiss. S. .) „Der Pfad zum eigenen Himmel geht immer durch die Wollust der eigenen Hölle.“ (Ebendas. S. .) „Wie kommt es nun, daß ich noch Niemand begegnet bin … der die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kannte?“ (Ebendas. S. .) „Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bisher am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden. Wenn der große Mensch schreit—: flugs läuft der kleine hinzu; und die Zunge hängt ihm aus dem Halse vor Lüsternheit.“ (Also sprach Zarath. . Th. S. .) U. s. w. Ich bitte den nicht fachmännischen Leser, auf die Gesellung der unterstrichenen Worte mit denen, welche Böses ausdrücken, ganz besonders zu achten. Diese Gesellung ist weder zufällig noch willkürlich. Sie ist eine psychische Nothwendigkeit, denn

 Dr. R. v. Krafft-Ebing, Neue Forschungen u. s. w. S.  ff.: „Das vollkommene Gegenstück des Masochismus ist der Sadismus. Während jener Schmerzen leiden und sich der Gewalt unterworfen fühlen will, geht dieser darauf aus, Schmerzen zuzufügen und Gewalt auszuüben … Alle Akte und Situationen, die von Sadisten in der aktiven Rolle ausgeführt werden, bilden für den Masochismus in der passiven Rolle den Gegenstand der Sehnsucht. Bei beiden Perversionen schreiten diese Akte von rein symbolischen Vorgängen zu schweren Mißhandlungen fort … Beide sind als originäre Psychopathien seelisch abnormer, insbesondere mit psychischer Hyperaesthesia sexualis, aber nebenher in der Regel auch noch mit anderen Abnormitäten behafteter Individuen zu betrachten … Lust am Schmerzzufügen und Lust am zugefügten Schmerz erscheinen nur wie zwei verschiedene Seiten desselben seelischen Vorganges, dessen Primäres und Wesentliches das Bewußtsein aktiver bzw. passiver Unterwerfung ist.“ Siehe Nietzsche, Also sprach Zar. . Th. S. : „Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!“ Jens. v. G. u. B. S. : „Das Weib verlernt den Mann zu fürchten“ und gibt damit „seine weiblichsten Instinkte preis.“

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 in Nietzsches Bewußtsein kann kein Bild von Bosheit und Verbrechen auftauchen,

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ohne ihn geschlechtlich zu erregen, und er kann keine geschlechtliche Erregung empfinden, ohne daß sofort ein Bild von Gewaltthat und Blut in seinem Bewußtsein erscheint. Die wirkliche Quelle der Lehre Nietzsches ist also sein | Sadismus. Und hier [] will ich eine allgemeine Bemerkung machen, bei der ich nicht lang verweilen will, die ich aber der ganz besondern Aufmerksamkeit des Lesers empfehlen möchte. An dem Erfolg ungesunder Richtungen in Kunst und Schriftthum hat keine Eigenschaft ihrer Urheber einen so großen und bestimmenden Antheil wie deren Sexual-Psychopathie. Alle aus dem Gleichgewicht Gerathenen: die Neurastheniker, Hysteriker, Entarteten, Gestörten, haben die feinste Witterung für Perversionen geschlechtlicher Art und fühlen sie hinter allen Verkleidungen heraus. Sie wissen allerdings in der Regel selbst nicht, was ihnen an gewissen Werken und Künstlern gefällt aber die Untersuchung deckt in dem Gegenstand ihrer Vorliebe immer eine verhüllte Kundgebung irgend einer Psychopathia sexualis auf. Der Masochismus Wagners und Ibsens, das Skoptzenthum Tolstois, die Erotomanie („keuscher Liebeswahnsinn“) der Präraphaeliten, der Sadismus der Diaboliker, Decadenten und Nietzsches werben diesen Schriftstellern und Richtungen unzweifelhaft einen großen, und jedenfalls den aufrichtigsten und fanatischsten, Theil ihrer Gemeinde. Die sexual-psychopathischen Werke erregen die schlummernde und unbewußte, vielleicht auch unentwickelte, obschon im Keime vorhandene, gleichartige Perversion bei den Anormalen und geben ihnen starke Lustgefühle, die sie, meist in gutem Glauben, für rein ästhetische oder geistige halten, während sie thatsächlich geschlechtliche sind. Im Lichte dieser Erklärung werden die bezeichnenden künstlerischen Neigungen der Anormalen, für welche Beweise vorliegen, erst voll verständlich. Auffallend ist die Ver-|wechselung ästhetischer Gefühle mit geschlechtli- [] chen nicht, denn diese beiden Gefühls-Gebiete grenzen nicht nur aneinander, sie decken sich sogar zum größten Theile, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe. Auch am Grunde aller Seltsamkeiten der Tracht, namentlich der weiblichen, verbirgt sich eine unbewußte Spekulation auf irgend eine Sexual-Psychopathie, welche in der jeweiligen Kleidermode Anregung und Reiz findet. Noch nie hat ein Berufener die Moden darauf angesehen. Ich selbst kann mir hier eine so

 Krafft-Ebing, Neue Forschungen u. s. w. S. . (Ein Sexual-Psychopath schreibt:) „Ich interessire mich sehr für Kunst und Literatur. Unter den Dichtern und Schriftstellern ziehen mich am meisten diejenigen an, welche raffinirte Gefühle, eigenthümliche Leidenschaften, ausgesuchte  Eindrücke beschreiben; ein gekünstelter (oder überkünstelter) Stil gefällt mir. Ebenso in der Musik ist mir die nervöse, aufreizende Musik eines Chopin, Schumann, Schubert“ (!) „Wagner u. s. w. am zusprechendsten. Alles was in der Kunst nicht nur originell, sondern bizarr ist, zieht mich an.“ S. . (Ein anderer Kranker:) „Leidenschaftlich liebe ich Musik und bin ein begeisterter Anhänger Richard Wagners, welche Vorliebe ich bei den meisten von uns“ (mit conträrer Sexual Empfindung Behafteten!) „bemerkt habe; ich finde, daß gerade diese Musik unserm Wesen so sehr entspricht.“ U. s. w.  S. das Kapitel „Evolutionistische Aesthetik“ der „Paradoxe“.

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weite Abschweifung von meinem Hauptgegenstande nicht gestatten. Der Stoff sei aber Fachleuten nachdrücklichst empfohlen. Sie werden auf dem Gebiete der Moden merkwürdige psychiatrische Entdeckungen machen! Ich habe dem Nachweise der Unsinnigkeit des sogenannten philosophischen Systems Nietzsches sehr viel mehr Raum gewidmet, als dieser Mann und sein System verdienen. Es hätte genügt, einfach auf die hinreichend ausdrucksvolle Thatsache hinzuweisen, daß Nietzsche, nachdem er bereits früher wiederholt in Irrenhäusern gewesen war, nunmehr seit Jahren als unheilbar Wahnsinniger in der Anstalt des Prof. Binswanger in Jena lebt, „der rechte Mann am rechten Platze.“ Ein Kritiker meint zwar: „Geistige Umnachtung kann möglicherweise das hellste Geisteslicht auslöschen; darum kann ihr Eintreten nicht mit Sicherheit gegen Werth und Richtigkeit dessen geltend gemacht werden, was Jemand vor dem Eintritt jenes [] Unglücks gelehrt hat.“ Darauf ist aber zu erwidern, daß Nietzsche seine | wesentlichen Werke zwischen zwei Aufenthalten im Irrenhause, also nicht „vor“, sondern „nach dem Eintritte jenes Unglücks“ geschrieben hat und daß es immer auf die Art der Geisteskrankheit ankommt, die man als Beweis für die Sinnlosigkeit einer Lehre anruft. Es ist klar, daß Wahnsinn, der durch eine zufällige Verletzung des Kopfes, durch einen Sturz, eine Wunde u. s. w., verursacht wurde, nichts gegen die Richtigkeit dessen beweisen kann, was der Kranke vor seinem Unfalle gelehrt haben mag. Anders aber liegt der Fall, wenn die Krankheit eine solche ist, die unzweifelhaft schon seit der Geburt des Kranken verborgen bestanden hat und die an den Werken selbst mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. Dann genügt es durchaus, festzustellen, daß der Verfasser ein Tollhäusler und sein Werk das Geschmier eines Irrsinnigen ist, und jede weitere Kritik, jedes Bemühen zur vernünftigen Widerlegung der einzelnen Narrheiten wird überflüssig, ja sogar — wenigstens in den Augen des Kundigen — ein wenig lächerlich. Und das ist gerade der Fall Nietzsches: er ist unverkennbar von Geburt an wahnsinnig und seine Bücher tragen auf jeder Seite den Stempel des Wahnsinns. Es mag grausam sein, [] bei dieser Thatsache zu verweilen. Aber es ist eine peinliche, doch nicht | zu umgehende Pflicht, immer wieder auf sie hinzuweisen, da Nietzsche der Urheber

 Dr. Max Zerbst, Nein und Ja! Leipzig, . S. VII: „Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß dieses Büchlein in die Hände derer kommt, welche dem kranken Manne sehr nahe stehen … und welche jede unzarte Behandlung seines Unglücks auf das Tiefste verletzen muß.“ Der Allerletzte, der das Recht hat, über unzarte Behandlung zu klagen und Rücksicht zu fordern, ist doch wohl ein Nietzscheaner, der die „Freude am Weh-thun-wollen“ und die „große Rücksichtslosigkeit“ als Uebermenschen-Vorrecht für sich selbst in Anspruch nimmt! Zerbst nennt seine Schrift eine Antwort auf die von Dr. Hermann Türck, aber sie ist nichts als eine kindisch verstockte und dreiste Wiederholung all der Behauptungen Nietzsches, deren Wahnsinn Dr. Türck nachgewiesen hat. Ueberaus drollig ist, daß Zerbst mit Berufung auf eine schwache Kompilation seitens Türck beweisen will, daß es keine Willenspsychosen gibt. Nun hat Türck mit keinem Worte von einer Willenspsychose Nietzsches gesprochen, wohl aber spricht Nietzsche, Fröhl. Wiss. S. , von „einer ungeheuern Erkrankung des Willens“ und einer „Willens-Erkrankung“. Zerbsts Einwand richtet sich also nicht gegen Türck, sondern gegen seinen eigenen Meister Nietzsche.

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einer geistigen Seuche geworden ist, deren Verbreitung zu hemmen man nur hoffen kann, wenn man den Wahnsinn Nietzsches selbst ins hellste Licht stellt und seine Jünger gleichfalls mit dem Brande zeichnet, der ihnen gebührt: nämlich als Hysteriker und Schwachköpfe. Kaatz behauptet, daß Nietzsches „Geistessaat“ überall „zu Tage zu treten beginnt. Bald ward eine der scharfgeschliffenen Pointen Nietzsches zum Motto einer modernen Tragödie gewählt, bald eine seiner prägnanten Wendungen dem ständigen Sprachgebrauche einverleibt … Heute kann man … kaum einen Aufsatz lesen, welcher das philosophische Gebiet auch nur streift, ohne dem Namen Nietzsches zu begegnen.“ Das ist nun allerdings verleumderische Uebertreibung. Ganz so schlimm ist es nicht. Die einzigen „Philosophen“, die bisher das irrsinnige Gefasel Nietzsches ernst genommen haben, sind die, welche ich oben die Gigerl der Philosophie genannt habe. Aber die Zahl dieser Gigerl wächst in der That unheimlich und ihre Frechheit übersteigt Alles, was man je erlebt hat. Daß unter Nietzsches Aposteln Georg Brandes nicht fehlen darf, ist selbstverständlich. Wir wissen ja, daß sich dieser anschlägige Kopf an jede Erscheinung, in der er eine mögliche Primadonna wittert, heranschlängelt, um als Ruhmes-Impresario sein Profitchen an ihr zu machen. Er hielt in Kopenhagen Vorträge über Nietzsche „und redete begeisterte Worte über diesen deutschen Propheten, für den die Millsche Moral nichts ist als das Krankheits-Symptom einer degenerirten Zeit; diesen | ‚radikalen Aristokraten‘, der alle großen freiheitlichen Volksbewegungen in [] der Geschichte, die Reformation, die französische Revolution, den modernen Sozialismus, zu Sklavenaufläufen herabsetzt und die Behauptung wagt, daß die millionenfachen Millionen der Nationen nur dazu da sind, um ein paar Mal in jedem Jahrhundert die große Persönlichkeit hervorzubringen.“ Robert Schellwien gibt zwar, ehrlicher als andere Nietzsche-Apostel, zu, daß dessen „Lehre“ „auf den vulgären Individualismus schwerlich jemals eine erhebliche Einwirkung gewinnen werde,“ aber er bedauert dies sichtlich, obschon er sie zu den „großen Irrthümern und Einseitigkeiten“ rechnet, und thut, was er kann, um das Geschwätz seines „Propheten“ durch eigenes Geschwätz theils zu erläutern, theils zu kritisiren. Eine Reihe von Nachahmern bemüht sich emsig, Nietzsche abzugucken, wie er sich räuspert und wie er spuckt. Seine Abhandlung „Schopenhauer als Erzieher“ (Unzeitgemäße Betrachtungen, . Stück) hat in „Rembrandt als Erzieher“ eine ungeheuerliche Parodie gefunden. Zwar die sprudelnde Wortfülle und die tollen Gedankensprünge des Tobsüchtigen konnte der schwachsinnige Verfasser dieser Parodie nicht nachahmen. Diese Krankheits-Erscheinung dürfte überhaupt kaum gespielt werden können; aber die Wortwitzelei, die sinnlose Echolalie des Vorbildes

 Dr. Hugo Kaatz, a. a. O. . Th. S. VI.   Ola Hansson, Das junge Skandinavien. Vier Essays. Dresden und Leipzig, . S. .  Robert Schellwien, a. a. O. S. , .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

hat er sich angeeignet und auch den größenwahnsinnigen und verbrecherischen Individualismus Nietzsches sucht er nachzustammeln, so gut seine Mittelchen es gestatten. Ein anderer Schwachsinniger, Albert Kniepf, hat sich hauptsächlich in Nietzsches Vornehmthuerei vergafft und schreitet mit ergötzlichsten Fürsten-Mienen und -Geberden einher. Er nennt sich „einen Menschen höhern Geschmacks [] und feinern Gefühls“, er | spricht verächtlich von dem „profanen Tageslärm der Masse“, sieht „die Welt unter sich“ und sich „über diese Welt der Allermeisten erhaben“, er will nicht „auf die Gasse gehen und seine Weisheit an Jedermann verschwenden“ u. s. w., ganz im Stile Zarathustras, der die höchsten Gipfel bewohnt. Der schon erwähnte Dr. Max Zerbst gibt sich den Anschein, wie Nietzsche sich selbst für furchtbar zu halten und zu glauben, daß seine Gegner vor ihm zittern. Wo er sie sprechen läßt, da legt er ihnen winselnde Töne in den Mund und er genießt mit grausam überlegenem Spotte die Todesangst, die er ihnen einflößt. Bei einem Tobsüchtigen ist diese Haltung natürlich und sie erregt Mitleid. Wenn aber ein Bürschchen wie dieser Dr. Max Zerbst sie annimmt, dann wirkt er unwiderstehlich drollig und erinnert an den „jungen Mann mit den schwachen Beinen“ in Dickens „Pickwickiern“, der „nur an Blut glaubt“ und „Blut will“. Zerbst erdreistet sich, die Worte „Naturwissenschaft“ und „Psycho-Physiologie“ in den Mund zu nehmen. Das ist eine Verabredung unter den Nietzsche-Jüngern: sie geben den wahnsinnigen Wortspeier, den sie anbeten, für einen Psycho-Physiologen und Naturforscher aus! Ola Hansson spricht von Nietzsches „psychophysiologischer Intuition“!! und sagt an anderer Stelle: „Bei Nietzsche, dem modernen, subtilen [] Psychologen, der im höchsten Grade im Besitz der psychophysischen | Intuition“ (nochmals!), „jenes dem Schluß des . Jahrhunderts eigenthümlichen Vermögens ist, alle geheimen Prozesse und Winkelchen sich selbst auszuhorchen und auszuspähen u. s. w.“ Psychophysische Intuition! Sich selbst aushorchen und ausspähen! Man traut seinen Augen nicht. Diese Menschen ahnen also nicht einmal, was Psychophysik ist, sie ahnen nicht, daß sie das genaue Gegentheil der alten Psychologie ist, welche mit „Intuition“ und Introspection, das heißt dem „Sichselbst-aushorchen“ und „Ausspähen“ arbeitete, daß sie mit Vorrichtungen in Laboratorien geduldig zählt und mißt und nicht in sich, sondern auf ihre VersuchsPersonen und Werkzeuge „späht und horcht“! Und solches Geplapper hirnloser Papageien, die zufällig gehörte Worte nachschwatzen, ohne sie zu verstehen, kann

 Albert Kniepf, Theorie der Geisteswerthe. Leipzig, .  Dr. Max Zerbst, a. a. O. S. : „O über diese moderne Naturwissenschaft! Ueber diese modernen Psychologen! — Nichts ist ihnen heilig!“ „Wenn einer, der in der Schule des siechen ‚Idealismus‘ groß geworden ist, sich vor einen solchen grausamen Forscher hinstellt, … dann nimmt dieser gottlose Mensch ein Stückchen Kreide zur Hand“ u. s. w. Er „wendet sich an den verdutzten Idealisten“ und dieser „antwortet etwas kleinlaut“ und „fügt etwas betrübt hinzu,“ worauf „der junge Psycholog mit leichtem Achselzucken erwidert.“ Wohlverstanden: der „grausame,“ der „gottlose,“ der „achselzuckende“ „junge Psycholog“ ist er, Zerbst, der wimmernde „Idealist,“ der „kleinlaut“ und „betrübt“ redet und fragt, ist sein Gegner Dr. Türck!

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Friedrich Nietzsche.

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in dem Deutschland, das die neue Wissenschaft der Psycho-Physiologie geschaffen  hat, kann in dem Vaterlande Fechners, Webers, Wundts laut werden! Und kein

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Berufener hat noch diesen Jungen, deren fabelhafte Unwissenheit nur von ihrer Frechheit überboten wird, mit dem Lineal auf die Finger geschlagen! Aber es ist noch Schlimmeres geschehen, Etwas, wobei wirklich jeder Spaß aufhört. Kurt Eisner, der zwar mit der „Philosophie“ Nietzsches nicht einverstanden ist, findet jedoch, daß er uns „gewaltige Dichtungen hinterlassen“ hat, und versteigt sich zu dem unerhörten Ausspruche: „Nietzsches ‚Zarathustra‘ ist ein Kunstwerk wie ‚Faust‘.“ Die Frage, die sich zu allererst aufdrängt, ist die: hat Kurt Eisner jemals einen Vers des „Faust“ gelesen? Sie wird wohl bejaht werden müssen, denn es ist kaum denkbar, daß heutzutage in Deutschland ein anscheinend des Schreibens und Lesens kundiger Mensch heranwächst, ohne irgend einmal den „Faust“ in die Hände zu bekommen. Dann aber bleibt nur eine andere Frage: was | Kurt Eisner [] wohl vom „Faust“ verstanden haben mag? Das vollkommen sinnlose Wortgeprudel des „Zarathustra“ mit „Faust“ in einem Athem zu nennen ist eine solche Besudelung unseres kostbarsten dichterischen Schatzes, daß man eigentlich, wenn ein nur etwas bedeutenderer Mensch als Kurt Eisner sie verbrochen hätte, eine Bußfeier veranstalten müßte, um die Goethe angethane Schmach zu sühnen, wie die Kirche ein Gotteshaus neu weiht, wenn es durch eine schimpfliche Handlung entheiligt wurde. Nicht nur in Deutschland treibt die Nietzsche-Bande ihren Unfug, sie sucht auch das Ausland heim. Der schon gekennzeichnete Ola Hansson erzählt seinen schwedischen Landsleuten schwärmerisch von „Nietzsches Dichtung“ und von „Nietzsches Mitternacht-Hymne“, T. de Wysewa versichert den Franzosen, die nicht in der Lage sind, die Richtigkeit seiner Behauptungen selbst zu prüfen, daß „Nietzsche der größte Denker und glänzendste Schriftsteller ist, den Deutschland in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat“ u. s. w. Einer Dame jedoch ist es vorbehalten geblieben, in der dreisten Leugnung der offenkundigsten Wahrheit alle männlichen Nietzsche-Jünger spielend zu schlagen. Die Nietzscheanerin Lou Salomé wendet mit einer kühlen Unerschütterlichkeit, welche dem abgehärtetsten Zuschauer den Athem rauben kann, der Thatsache den Rücken, daß Nietzsche seit Jahren als unheilbarer Irrsinniger in eine Irrenanstalt gesperrt ist, und verkündet mit eiserner Stirne, Nietzsche habe aus aristokratischer Weltverachtung des Uebermenschen freiwillig zu schreiben aufgehört und sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Nietzsche ist ein Naturforscher | und Psycho-Phy- [] siolog und Nietzsche schweigt, weil er es nicht mehr der Mühe werth findet, zu

  Kurt Eisner, Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft. Leipzig, .  Ola Hansson, Materialismen i skönlitteraturen. Populärvetenskapliga (wissenschaftliche!) Afhandlingar. Stockholm, ohne Jahreszahl. S. , . In dieser Broschüre bezeichnet Hansson auch den Verfasser von „Rembrandt als Erzieher“ als „genial“!!   Revue politique et littéraire, Jahrg. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

den Herdenmenschen zu sprechen, das sind die Schlagworte, welche die Nietzsche-Bande in alle Welt hinausschreit. Angesichts einer solchen Verschwörung gegen die Wahrheit, die Ehrlichkeit, die gesunde Vernunft genügt es nicht, die Sinnlosigkeit des Nietzscheschen Systems nachgewiesen zu haben, es muß auch gezeigt werden, daß Nietzsche immer wahnsinnig gewesen ist und daß seine Schriften Ausgeburten der Tobsucht (genau der „maniakalischen Exaltation“) sind. Einige Nietzscheaner, die freilich Lou Salomé nicht das Wasser reichen können, bestreiten nicht, daß Nietzsche wahnsinnig ist, aber sie sagen, er sei wahnsinnig geworden, weil er sich zu sehr von den Menschen zurückgezogen, weil er zu lang in der tiefsten Einsamkeit gelebt und weil er aufreibend rasch, schwindelig, unheimlich rasch gedacht habe. Dieser unerhörte Blödsinn konnte durch die ganze deutsche Presse gehen und es fand sich keine einzige Zeitung, die zu bemerken gewußt hätte, daß Wahnsinn niemals die Folge von Einsamkeit und Raschdenken sein kann, sondern daß umgekehrt Hang zur Einsamkeit und schwindelnd rasches Denken die ursprünglichsten und bestbekannten Anzeichen des vorhandenen Wahnsinns sind und daß jenes Geschwätz der Nietzscheaner etwa der Behauptung gleichzustellen wäre, Jemand sei lungenkrank geworden, weil er sehr viel gehustet und Blut gespieen habe! Für Nietzsches „Leutscheu“ haben wir das Zeugniß seiner Lebensschilderer, [] welche merkwürdige Beispiele von ihr anführen. | Sein Raschdenken aber ist eine Erscheinung, welche bei der Tobsucht niemals fehlt. Damit der Laie wisse, was er unter dieser zu verstehen hat, sei ihm das klinische Bild dieser Form des Wahnsinns von der Hand der bewährtesten Meister vorgeführt. Die Beschleunigung des Gedankenablaufs bei der Manie, sagt Griesinger, „ist eine Folge der erleichterten Verknüpfung der Vorstellungen, wo der Kranke schwindelt, fabelt, deklamirt, singt, vociferirt, alle Modi der Entäußerung für Vorstellungen in Dienst stellt, vom Hundertsten ins Tausendste kommt, wo die Gedanken sich überschlagen und überstürzen. Dieselbe Beschleunigung der Vorstellungen findet man bei gewissen Formen der Verrücktheit und bei secundärer psychischer Schwäche ‚mit durch Halluzinationen erwirkter Aktivität‘. Die logischen Verbindungen sind dabei nicht intakt wie bei der raisonnirenden und hypochondrischen Verrücktheit oder die überstürzte Folge der Vorstellungen folgt keinem Gesetz mehr oder aber es reihen sich in überstürzter Hast nur Worte und Laute ohne Sinn … aneinander … So entsteht … eine haltlose Ideenjagd, in deren Strom Alles in bunter

 „Während seines langjährigen Aufenthaltes in der einsamen Gebirgsgegend von Sils Maria … pflegte er … auf einer grün bewachsenen Landzunge zu liegen, die sich in den See erstreckte. Eines Frühlings kehrte er wieder und fand auf dem geweihten“ (!) „Platz eine Bank, auf der triviale Menschen sitzen konnten an dem Ort, den bisher nur seine allergeheimsten Gedanken und Gesichte bevölkert. Und der Anblick dieser allzu menschlichen“ (!) „Einrichtung war genug, ihm den so geliebten Aufenthalt unleidlich zu machen. Er setzte nie wieder seinen Fuß dahin.“ Ola Hansson, angeführt von Dr. Herm. Türck, a. a. O. S. .  Dr. Wilh. Griesinger, a. a. O. S. .

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Flucht fortgerissen wird. Die letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft größere geistige Lebhaftigkeit und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres Zeichen des nahenden Tobanfalles war, wenn der Kranke witzig wurde.“ Noch viel anschaulicher schildert Krafft-Ebing: „Der In-|halt des Bewußtseins [] ist hier“ (bei der „maniakalischen Exaltation“) „Lust, psychisches Wohlsein. Es ist ebenso unmotivirt in den Vorgängen der Außenwelt wie der gegensätzliche Zustand psychischen Schmerzes des Melancholischen und deshalb nur auf eine innere organische Ursache beziehbar. Der Kranke schwelgt hier geradezu in Lustgefühlen und berichtet nach erfolgter Genesung, daß er nie in gesunden Tagen sich so wohl, gehoben, glücklich gefühlt habe wie während seines Krankseins. Diese spontane Lust erfährt mächtige Zuwächse … durch das Innewerden des erleichterten Vonstattengehens des Vorstellens …, durch die intensive Betonung der Vorstellungen mit Lustgefühlen und durch behagliche Gemeingefühle, namentlich im Gebiet der Muskelempfindung … Dadurch erhebt sich vorübergehend die heitere Stimmung bis zur Höhe von Lustaffekten (Ausgelassenheit, Uebermuth), die ihre motorische Entäußerung in Singen, Tanzen, Springen … finden … Der Kranke wird plastischer in seiner Diktion … er ist rascher in seinem Auffassungs-Vermögen und, bei beschleunigter Assoziation, wieder zugleich schlagfertiger, witzig, humoristisch bis zur Ironie. Die Ueberfüllung seines Bewußtseins gibt ihm unerschöpflichen Redestoff und die enorme Beschleunigung seines Vorstellens, bei welchem ganze Zwischenglieder nur mit des Gedankens Schnelle auftauchen, ohne sprachliche Entäußerung zu erfahren, läßt seinen Gedankengang abspringend erscheinen … Er übt immer noch Kritik seinem eigenen Zustand gegenüber und dokumentirt sein Bewußtsein für seinen abnormen Zustand u. A. damit, … daß er geltend macht, daß er ja ein Narr und einem solchen Alles erlaubt sei … Der Kranke kann nicht genug Worte finden, um sein maniakalisches Wohlbefinden, seine ‚Urgesundheit‘ zu schildern.“ Und nun soll jeder einzelne Zug dieses Krankheitsbildes an Nietzsches Schriften nachgewiesen werden. (Ich wiederhole hier die frühere Bemerkung, daß ich mich in der Anführung von | Beispielen nothgedrungen beschränken muß, daß [] aber buchstäblich auf jeder Seite der Schriften Nietzsches Belegstellen derselben Art zu finden sind.) Seine Gemeingefühle oder Leibesempfindungen geben ihm dauernd die Vorstellungen des Lachens, Tanzens, Fliegens, Leichtseins, überhaupt lustigster, mühelosester Bewegung, des Rollens, Strömens, Stürzens ein. „Hüten wir uns, bei dem Worte ‚Tortur‘ gleich düstere Gesichter zu machen …, es bleibt selbst etwas zu lachen.“ „Wir sind vorbereitet … zum Karneval großen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Uebermuth, zur transszendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Weltverspottung … Vielleicht daß, wenn auch

 Dr. R. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Aerzte und Studirende. Vierte theilweise umgearbeitete Auflage. Stuttgart, . S.  ff.

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Nichts von heute sonst Zunkunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat.“ „Ich würde mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Rang ihres Lachens — bis hinauf zu denen, die des goldenen Gelächters fähig sind (!) … Götter sind spottlustig: es scheint sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen.“ „Ach was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, … daß ihr mich niesen und lachen machtet.“ „Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riß.“ „Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man. Auf, laßt uns den Geist der Schwere tödten.“ „Wahrlich, es gibt Keusche von Grund aus: sie sind milder von Herzen, sie lachen lieber und reichlicher als ihr. Sie lachen auch über die Keuschheit und fragen: ‚was ist Keuschheit?‘“ „Wäre er doch in der Wüste geblieben“ („er“ ist Jesus Christus); „vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben gelernt — und das Lachen dazu.“ „Zu groß war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelächtern der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.“ „Leise erbebte und lachte mir heut mein Schild; das ist der Schönheit heiliges Lachen und Beben.“ | [] Wie man sieht, hängt die Vorstellung des Lachens in keinem dieser Fälle mit dem eigentlichen Gedanken logisch zusammen; sie begleitet vielmehr das Denken als ein Grundzustand, als eine dauernd anwesende Zwangsvorstellung, die ihre Erklärung in der tobsüchtigen Erregung der gedankenbildenden Zentren hat. Mit den Vorstellungen des Tanzens, Fliegens u. s. w. verhält es sich ebenso: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstände.“ „Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Tänzer!“ „Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch tanzte: über alle Himmel weg wollte ich tanzen … Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichniß zu reden.“ „Diese selige Sicherheit fand ich noch an allen Dingen: daß sie lieber noch auf den Füßen des Zufalls — tanzen. O Himmel über mir, du Reiner! Hoher! das ist mir nun deine Reinheit, … daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle.“ „Fragt meinen Fuß … wahrlich, nach solchem Takt und Tiktak mag er weder tanzen, noch stille stehn.“ „Und über Allem lernte ich stehn und gehn und laufen und springen und klettern und tanzen.“ „Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen; damit tanzt der Mensch über alle Dinge.“ „O meine Seele, ich lehrte dich ‚Heute‘ sagen wie ‚Einst‘ und ‚Ehemals‘ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen.“ „Nach meinem Fuße, dem tanzwüthigen, warfst du deinen Blick.“ „Wenn meine Tugend eines Tänzers Tugend ist und ich oft mit beiden Füßen in gold-smaragdenes Entzücken sprang“ u. s. w. („Ein mit Schauder empfundener Zustand seiner Seele“:) „Eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen.“ „Bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden, … daß sie nur im Fluge berührt, [] angeblickt, angeblitzt wird?“ „Fliegen allein | will mein ganzer Wille, in dich hinein fliegen.“ „Bereit und ungeduldig zu fliegen, davonzufliegen — das ist nun meine

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Art.“ „Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir, … meine große flügelbrausende Sehnsucht. Und oft riß sie mich fort und hinaus und mitten im Lachen: da flog ich wohl schaudernd, … dorthin, wo Götter tanzend sich aller Kleider schämen.“ „Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen Flügeln in eigne Himmel flog … Wenn meine Bosheit eine lachende Bosheit ist … und wenn das mein A und O ist, daß alles Schwere leicht, aller Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich, das ist mein A und O.“ U. s. w. In den bisherigen Beispielen herrschen Wahnvorstellungen aus der Bewegungs-Sphäre vor. In den folgenden äußern sich Erregungszustände der SinnesZentren. Nietzsche hat allerlei Trug-Empfindungen der Hautnerven (Kälte, Wärme, Angeblasenwerden), des Gesichts (Glanz, Blitz, Helligkeit), des Gehörs (Rauschen, Brausen) und des Geruchs, die er seiner Gedankenflucht beimengt: „Ich bin zu heiß und verbrannt von eigenen Gedanken.“ „Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem.“ „Brütend lag die Sonne meiner Liebe auf mir, im eigenen Safte kochte Zarathustra.“ „Sorgt, daß dort Honig mir zur Hand sei, … guter, eisfrischer Waben-Goldhonig.“ „In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen.“ „Da sitze ich nun … lüstern nach einem runden Mädchenmunde, mehr noch aber nach mädchenhaften, eiskalten, schneeweißen schneidigen Beißzähnen.“ „Denn ich halte es mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade — schnell hinein, schnell hinaus … O! Die große Kälte macht geschwind.“ „Mit dem Sturme, welcher Geist heißt, blies ich über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon.“ „Eishöhle würde ihren Leibern unser Glück heißen und ihren Geistern! Und wie starke Winde wollen wir über ihnen leben … Und | einem Winde gleich [] will ich einst noch zwischen sie blasen.“ „Licht bin ich … aber dies ist meine Einsamkeit, daß ich von Licht umgürtet bin … Ich lebe in meinem eigenen Licht, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.“ „Stumm über brausendem Meere bist du mir heute aufgegangen.“ „Sie errathen nichts vom Brausen meines Glücks.“ „Singe und brause über, oh Zarathustra!“ „Fast zu heftig strömst du mir, Quell der Lust … allzu heftig strömt dir noch mein Herz entgegen.“ „Nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen.“ „Ein Geruch ist oft an ihrer Weisheit, als ob sie aus dem Sumpfe stamme.“ „Ach, daß ich so lange unter ihrem Lärm und üblem Athem lebte. Oh selige Stille um mich! Oh reine Gerüche um mich!“ „Das war der Lug meines Mitleids, daß ich Jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes genug … war … Mit seligen Nüstern athmete ich wieder Berges-Freiheit! Erlöst ist endlich meine Nase vom Geruch alles Menschenwesens!“ „Schlechte Luft! Schlechte Luft! … Daß ich die Eingeweide einer mißrathenen Seele riechen muß!“ „Diese Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt, mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.“ „Dem Gesindel gingen wir aus dem Wege …, dem Krämer-Gestank, … dem übeln Athem.“ „Vor diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt.“ „Oh reine Gerüche um mich! … Diese höheren Menschen insgesammt — riechen sie vielleicht nicht gut?“ U. s. w.

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Seine besondere Färbung erhält Nietzsches Denken, wie diese Proben zeigen, von seinen Sinnestäuschungen und von der Erregung der Zentren, welche Bewegungs-Vorstellungen bilden, die in Folge einer Störung des Mechanismus der Verknüpfungen nicht in Bewegungs-Antriebe umgesetzt werden, sondern reine Vorstellungs-Bilder ohne Einfluß auf die Muskeln bleiben. | [] In der Form läßt Nietzsches Denken die zwei kennzeichnenden Eigenthümlichkeiten der Tobsucht erkennen: das Alleinherrschen der von keiner Aufmerksamkeit, keiner Folgerichtigkeit, keinem Urtheil überwachten und gezügelten IdeenAssoziation und die schwindelige Schnelligkeit des Ablaufs der Denkvorgänge. Sowie in seinem Geiste irgend eine Vorstellung auftaucht, zieht sie sofort alle ihr verwandten Vorstellungen mit ins Bewußtsein und so wirft Nietzsche mit fliegender Hand fünf, sechs, oft acht Synonyme aufs Papier, ohne zu merken, wie entsetzlich überladen und schwülstig seine Schreibweise dadurch wird: „Die Stärke eines Geistes bemißt sich danach, … bis zu welchem Grade er die Wahrheit verdünnt, verhüllt, versüßt, verdumpft, verfälscht nöthig hatte.“ „Wir vermeinen, daß Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, daß alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Spezies ‚Mensch‘ dient als sein Gegensatz.“ „Er weiß, … an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward.“ „Im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Ueberfluß, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag … Dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muß.“ „Es klänge artiger, wenn man uns … eine ausschweifende Redlichkeit nachsagte, nachraunte, nachrühmte.“ „Speie auf die Stadt, … wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düstere, Uebermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt.“ „Wir ahnen, daß es immer abwärts geht, ins Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Gleichgiltigere, Chinesischere, Christli[] chere.“ „Alle diese blassen Atheisten, Anti-|christen, Immoralisten, Nihilisten, Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes.“ U. s. w. Schon an diesen Beispielen muß der aufmerksame Leser bemerkt haben, daß das tumultuöse Herbeistürzen der Worte häufig nach der bloßen Klangähnlichkeit erfolgt. Nicht selten artet das Wortgetümmel in Wortspielerei aus, in den albernsten Kalauer, in die mechanische Gesellung der Worte nach ihrem Klang, ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung. „Wenn diese Wende aller Noth auch Nothwendigkeit heißt.“ „Also brüstet ihr euch — ach, auch noch ohne Brüste.“ „Es gibt viel gläubige Speichel-Leckerei, Schmeichel-Bäckerei vor dem Gotte der Heerschaaren.“ „Speie auf die große Stadt, welche der große Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt.“ „Hier und dort ist nichts zu bessern, nichts zu bösern.“ „Was wollen da weitsichtige, weit-süchtige Augen!“ „Immer liefen bei solchen Zügen — Ziegen und Gänse und Kreuz- und Querköpfe voran!“ „Oh Wille, Wende aller Noth,

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 du meine Nothwendigkeit!“ „So blicke ich über das Gewimmel grauer kleiner Wel-

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len und Willen … hinweg.“ „Dies Suchen nach meinem Heim war meine Heimsuchung.“ „Ward die Welt nicht eben vollkommen? rund und reif? Oh des goldenen runden Reifs!“ „Klafft auch hier der Abgrund? Kläfft auch hier der Höllenhund?“ „Es verdummt, verthiert und verstiert.“ „Leben ist … mindestens, mildestens Ausbeutung.“ „Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte“ u. s. w. Manchmal mißversteht Nietzsche in seinem wild hastigen Denken die aufblitzenden Wortbilder, die in seinem Sprachzentrum ausgearbeitet werden, sein Bewußtsein verhört sich gleichsam, greift bei ihrer Deutung daneben und erfindet wunderliche Neuworte, die an bekannte Ausdrücke anklingen, doch in keinerlei Sinn-Gemeinschaft mit ihnen stehen. Er spricht z. B. von „Hinterweltlern“ (nach „Hinterwäldlern“ gebildet), einem „Kesselbauche“ (er denkt an „Kesselpauke“), „Freudenschaften“ | (er hat „Freundschaften“ schlecht gehört) oder er redet seinen [] Sprachzentren sogar gänzlich unverstandene, nichts bedeutende Laute nach: „Da ging ich zum Thore: Alpa! rief ich, wer trägt seine Asche zu Berge? Alpa! Alpa! Wer trägt seine Asche zu Berge?“ Häufig gesellt er seine Ideen nicht nach dem Wortklange, sondern nach der Aehnlichkeit oder gewohnheitsmäßigen Nachbarschaft der Begriffe, dann entstehen das „analogische“ Denken und die Gedankenflucht, bei der er nach Griesingers Ausdruck „aus dem Hundertsten ins Tausendste kommt“. Vom „asketischen Ideal“ sprechend, führt er z. B. aus, daß die starken und vornehmen Geister sich in die Wüste flüchten, und fügt unvermittelt hinzu: „Es fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kameelen.“ Die Vorstellung der Wüste hat die mit ihr gewohnheitsmäßig gesellte Vorstellung der Kameele unwiderstehlich nach sich gezogen. Ein andermal sagt er: „Man mißversteht das Raubthier und den Raubmenschen, z. B. Cesare Borgia, gründlich; man mißversteht die Natur, so lange man noch nach einer Krankhaftigkeit im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Unthiere und Gewächse sucht. Es scheint, daß es bei den Moralisten einen Haß gegen den Urwald und gegen die Tropen gibt? Und daß der tropische Mensch um jeden Preis diskreditirt werden muß? Warum doch? Zu Gunsten der gemäßigten Zone? Zu Gunsten der gemäßigten Menschen? Der Mittelmäßigen?“ Hier drängt sich ihm bei der Betrachtung Cäsar Borgias der Vergleich mit einem Raubthier auf; dieses macht ihn an die Tropen, die heiße Zone denken, von der heißen Zone kommt er zur gemäßigten, von ihr zum „gemäßigten“ und durch die Klangähnlichkeit zum „mittelmäßigen“ Menschen. „Wahrlich, schon ist nichts mehr von der Welt übrig als grüne Dämmerung und grüne Blitze. Treibt es, wie ihr wollt, ihr Uebermüthigen, … schüttet eure Smaragden hinab in die tiefste Tiefe.“ Die ganz unverständlichen „Smaragden“ sind | durch die Vorstellung der „grünen“ Dämmerung und Blitze ins Bewußtsein geru- [] fen. In diesen und hundert anderen Fällen kann man den Gang der Vorstellungen einigermaßen verfolgen, weil ziemlich alle Kettenglieder der Ideen-Assoziation

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

erhalten geblieben sind. Oft aber sind einige dieser Glieder unterdrückt und dann entstehen für den Leser unbegreifliche und darum verblüffende Gedankensprünge: „Der Leib wars, der an der Erde verzweifelte, der hörte den Bauch des Seins zu sich reden.“ „Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommene und rechtwinkelige.“ „Ich bin höflich gegen sie wie gegen alles kleine Aergerniß; gegen das Kleine stachlich zu sein dünkt mich eine Weisheit für Igel.“ „Das tiefe Gelb und das heiße Roth: so will es mein Geschmack. Der mischt Blut zu allen Farben. Wer aber sein Haus weiß tüncht, der verräth mir eine weißgetünchte Seele.“ „Wir setzten unsern Stuhl in die Mitte — das sagt mir ihr Schmunzeln — und ebenso weit weg von sterbenden Fechtern wie von vergnügten Säuen. Dies aber ist Mittelmäßigkeit.“ „Unser Europa von heute ist … skeptisch … bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke.“ „Gesetzt, daß er“ (der „tapfere Denker“) „sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat.“ (Hier ist ihm sichtlich die mit „Auge“ assoziirte Vorstellung „Ohr“ und „Ohren gespitzt“ verwirrend in die Quere gekommen.) „Schon zuviel ist mirs, meine Meinungen selber zu behalten, und mancher Vogel fliegt davon. Und mitunter finde ich auch ein zugeflogenes Thier in meinem Taubenschlage, das mir fremd ist und das zittert, wenn ich meine Hand darauf lege.“ „Was liegt an meiner Gerechtigkeit? Ich sehe nicht, daß ich Glut und Kohle wäre.“ „Sie lernten vom Meere auch noch seine [] Eitelkeit: ist nicht das Meer der Pfau der Pfauen?“ „Wie Manches heißt jetzt | schon ärgste Bosheit, was doch nur zwölf Schuhe breit und drei Monate lang ist! Einst aber werden größere Drachen zur Welt kommen.“ „Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so mußt du verstehen, noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders aufwärts steigen?“ „Ich sitze hier, die beste Luft schnüffelnd, Paradieses-Luft wahrlich, lichte, leichte Luft, goldgestreifte, so gute Luft nur je vom Monde herabfiel.“ „Ha! Herauf, Würde! Tugend-Würde! Europäer-Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! Noch einmal brüllen, moralisch brüllen! Als moralischer Löwe vor den Töchtern der Wüste brüllen! Denn Tugend-Geheul, ihr allerliebsten Mädchen, ist mehr als Alles Europäer-Inbrunst, Europäer-Heißhunger! Und da stehe ich schon als Europäer, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen! Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt!“ Diese letzte Stelle ist ein Beispiel vollkommener Gedankenflucht. Oft verliert Nietzsche den Faden, weiß nicht mehr, wo er hinaus will, und endet einen Satz, der sich so anließ, als ob er eine Beweisführung werden wollte, mit einer gänzlich abspringenden Witzelei: „Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht, nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: aber zur Fiktion gehört ein Urheber, dürfte dem nicht rund geantwortet werden: warum? Gehört dieses ‚gehört‘ nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gouvernanten (!), aber wäre es nicht an der Zeit, daß die Philosophie dem Gouvernanten-

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Glauben absagte?“ „Einer ist immer zu viel um mich, also denkt der Einsiedler.  Immer einmal eins, das gibt auf die Dauer zwei!“ „Wie nennen sie es doch, was

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sie stolz macht? Bildung nennen sies, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.“ | Manchmal endlich reißt ihm der Zusammenhang der gesellten Vorstellungen [] plötzlich und er bricht mitten in einem Satz ab, um einen neuen zu beginnen: „Denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt daß.“ „Die Psychologen Frankreichs … haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn — genug, sie verrathen etwas damit.“ „Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen … Ausdruck zu verleihen wußten, … statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, daß die uninteressirte Handlung eine sehr interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt — Und die Liebe?“ Das ist die Form, in der Nietzsches Denken vor sich geht und die zur Genüge erklärt, weshalb er nie drei zusammenhängende Seiten, sondern immer nur längere oder kürzere „Aphorismen“ niedergeschrieben hat. Den Inhalt dieser zusammenhanglosen Gedankenflucht bilden eine kleine Anzahl Wahnvorstellungen, die sich mit einer zur Verzweiflung treibenden Eintönigkeit beständig wiederholen. Wir haben Nietzsches intellektuellen Sadismus und seinen Widerspruchs- und Zweifel- oder Frage-Wahnsinn bereits kennen gelernt. Er bekundet überdies Menschen- oder „Leutscheu“, Größenwahn und Mystik. Seine Menschenscheu äußert sich an unzähligen Stellen: „Man liebt seine Erkenntniß nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.“ „Jede Gemeinschaft macht irgendwie, irgendwo, irgendwann — gemein.“ „Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame (!), um die der Geruch stiller Meere weht.“ „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit!“ „Und Mancher, der sich vom Leben abkehrte, kehrte sich nur vom Gesindel ab; … und Mancher, der in die Wüste ging und mit Raubthieren | Durst litt, wollte nur nicht mit schmutzigen Kameeltreibern um die [] Zisterne sitzen.“ Sein Größenwahn tritt nur ausnahmsweise als zwar ungeheuerliche, doch noch klar denkbare Selbstüberhebung auf; in der Regel zeigt er eine starke, ja vorherrschende Beimischung von Mystik und Uebernatürlichkeit. Blos Selbstüberhebung ist es, wenn er sagt: „Was meinen ‚Zarathustra‘ anbetrifft, so lasse ich Niemand als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts genießen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewißheit ehrfürchtig Antheil zu haben.“ Oder wenn er, nachdem er Bismarck kritisirt und verkleinert hat, mit durchsichtiger Anspielung auf sich selbst ruft: „Ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird.“ Dagegen tritt die verborgene mystische Grundvorstellung seines Größenwahns in dieser Stelle bereits deutlich hervor: „Aber irgendwann … muß er uns doch kommen, der

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei —: während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung“ (drei Synonyme für einen Begriff!) „in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe.“ Durch die Ausdrücke „erlösender Mensch“ und „Erlösung“ verräth er die Natur seines Größenwahns. Er bildet sich ein, ein neuer Heiland zu sein, und äfft das Evangelium in der Form und dem Inhalte nach. „Also sprach Zarathustra“ ist ganz von den heiligen Schriften der morgenländischen Völker abgeklatscht. Das Buch [] befleißigt sich einer äußerlichen Aehnlich-|keit mit der Bibel und dem Koran. Es ist in Kapitel und Verse getheilt, die Sprache ist die alterthümliche und seherhafte der Offenbarungs-Schriften („Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er also“); es kommen häufig lange, litaneiartige Aufzählungen und Predigten vor („Ich liebe die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen …; ich liebe den, welcher lebt, damit er erkenne …; ich liebe den, welcher arbeitet und erfindet …; ich liebe den, welcher seine Tugend liebt …; ich liebe den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich zurückbehält“ u. s. w.) und einzelne Abschnitte weisen wörtlich auf gleichartige des Evangeliums hin, z. B.: „Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, … folgten ihm Viele, die sich seine Jünger nannten, und gaben ihm das Geleit. Also kamen sie an einen Kreuzweg: da sagte ihnen Zarathustra, daß er nunmehr allein gehen wolle.“ „Und des Geistes Glück ist dies: gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier.“ „Wahrlich, so sagte er zu seinen Jüngern, es ist um ein Kleines, so kommt diese lange Dämmerung. Ach wie soll ich mein Licht hinüberretten!“ „Dergestalt im Herzen bekümmert ging Zarathustra umher; und drei Tage lang nahm er nicht Trank und Speise zu sich … Endlich geschah es, daß er in einen tiefen Schlaf verfiel. Seine Jünger aber saßen um ihn in langen Nachtwachen“ u. s. w. Von den Kapiteln haben manche die ausdrucksvollen Ueberschriften: „Von der Selbst-Ueberwindung“; „Von der unbefleckten Erkenntniß“; „Von großen Ereignissen“; „Von der Erlösung“; „Auf dem Oelberge“; „Von den Abtrünnigen“; „Der Nothschrei“; „Das Abendmahl“; „Die Erweckung“ u. s. w. Zwar widerfährt es ihm manchmal, daß er gottesleugnerisch sagt: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ichs aus, kein Gott zu sein! Also“ (von ihm unterstrichen!) „gibt es keine Götter;“ aber solche Stellen [] verschwinden neben den unzähligen, in welchen er sich als Gott | bezeichnet: „Du hast die Macht und du willst nicht herrschen.“ „Wer aber meiner Art ist, der entgeht einer solchen Stunde nicht, der Stunde, die zu ihm redet: Jetzo erst gehst du den Weg deiner Größe … Du gehst den Weg deiner Größe: nun ist deine letzte Zuflucht worden, was bisher deine letzte Gefahr hieß. Du gehst den Weg deiner Größe: das muß nun dein bester Muth sein, daß es hinter dir keinen Weg mehr gibt. Du gehst den Weg deiner Größe; hier soll dir Keiner nachschleichen.“ U. s. w. Nietzsches Mystik und Größenwahn offenbart sich nicht blos in seinem einigermaßen zusammenhängenden Denken, sondern auch in seiner allgemeinen Aus-

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drucksweise. Die mystischen Zahlen drei und sieben treten häufig auf. Wie sich  selbst, so sieht er auch die Außenwelt groß, fern, tief und die Worte, welche diese

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Begriffe ausdrücken, wiederholen sich auf jeder Seite, fast in jeder Zeile: „Die Zucht des Leidens, des großen Leidens …“ „Der Süden ist eine große Schule der Genesung.“ „Diese letzten großen Suchenden …“ „Mit den Zeichen des großen Schicksals.“ „Wo er das große Mitleiden neben der großen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die große Verehrung lernen.“ „Schuld ist alles große Dasein.“ „Daß ich den großen Mittag mit euch feiere.“ „Also redet alle große Liebe.“ „Nicht aus euch soll mir die große Müdigkeit kommen.“ „Menschen, welche nichts weiter sind als ein großes Auge, oder ein großes Maul oder ein großer Bauch oder irgend etwas Großes …“ „Mit der großen Liebe lieben, mit der großen Verachtung lieben.“ „Aber du Tiefer, du leidest zu tief.“ „Unerschütterlich ist meine Tiefe, aber sie glänzt von schwimmenden Räthseln und Gelächtern.“ (Man beachte, wie sich in diesem Satze alle Zwangsvorstellungen des Tobsüchtigen zusammendrängen: die Tiefe, der Glanz, der Zweifelwahnsinn, der Lachreiz.) „Alles Tiefe soll hinauf zu meiner Höhe.“ „Sie denken nicht genug in die Tiefe“ u. s. w. Mit der Vorstellung der Tiefe hängt | die des Abgrunds zusammen, die gleichfalls beständig wiederkehrt. Die [] Worte „Abgrund“ und „abgründlich“ gehören zu den häufigsten in Nietzsches Schriften. An seine Bewegungs-Vorstellungen, namentlich an die des Fliegens und Schwebens, knüpfen seine Worte mit „Ueber“ an. („Uebermoralischer Sinn.“ „Uebereuropäische Musik.“ „Kletternde Affen und Ueberheiße.“ „Von der Art hinüber zur Ueberart.“ „Der Ueberheld.“ „Der Uebermensch.“ „Der Ueberdrache.“ „Ueber-Zudringliche und Ueber-Mitleidige“ u. s. w.) Auf einen gewissen Grad von Anxiomanie oder Angstwahnsinn deutet die Beharrlichkeit hin, mit der die Worte „schauerlich,“ „unheimlich,“ „schaudern“, „Graus“ u. s. w. sich in seinen Redestrom drängen. Wie es in der Tobsucht die Regel ist, hat Nietzsche das Bewußtsein der krankhaften Vorgänge in seinem Innern und er spielt an unzähligen Stellen auf den rasend schnellen Ablauf seines Denkens und auf seinen Wahnsinn an: „Jenes echt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft … Das Denken gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal, aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Uebermuthe Nächst-Verwandtes.“ „Der kühne, leichte, zarte Gang und Lauf seiner Gedanken.“ „Wir denken zu rasch … Es ist, als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe herumtrügen.“ „Die ungeduldigen Geister sind es, bei denen eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat.“ „Zu langsam läuft mir alles Reden — in deinen Wagen springe ich, Sturm! … Wie ein Schrei und ein Jauchzen will ich über weite Meere hinfahren.“ „Ueber der Menschheit schwebt fortwährend als ihre größte Gefahr der ausbrechende Irrsinn.“ (Natürlich denkt er an sich, wenn er von der „Menschheit“ spricht.) „Es kommt heute bisweilen vor, daß ein milder mäßiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch | umwirft, schreit, []

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tobt, alle Welt beleidigt und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich.“ (Gewiß „kommt das bisweilen vor“, nicht blos „heute,“ sondern zu allen Zeiten, aber nur bei Tobsüchtigen.) „Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müßtet? Seht, ich lehre euch den Uebermenschen, der ist … dieser Wahnsinn.“ „Jeder gilt das Gleiche. Jeder ist gleich. Wer anders fühlt, geht freiwillig (?) ins Irrenhaus.“ „Diesen Uebermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: bei Allem ist Eins unmöglich — Vernünftigkeit.“ „Meine Hand ist eine Narrenhand. Wehe allen Tischen und Wänden und was noch Platz hat für Narren-Zierrath, Narren-Schmierrath.“ Er entschuldigt auch nach Tobsüchtigen-Art seine Geisteskrankheit: „Zuletzt bliebe noch die große Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren können, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniß und Selbsterkenntniß der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden.“ Endlich fehlt selbst die Tobsuchts-Vorstellung von seiner „Urgesundheit“ nicht: Seine Seele ist „heller stets und stets gesunder“; „wir Argonauten des Ideals“ sind „gesunder als man es uns erlauben möchte, gefährlich gesund, immer wieder gesund“ u. s. w. Das ist, in nothwendig gedrängter Uebersicht, die aus Sinnestäuschungen herrührende besondere Färbung, die Form und der Inhalt von Nietzsches Denken. Und diesen unglücklichen Geisteskranken, dessen Geschreibsel ein einziges langes Irrereden ist, in dessen Schriften aus jeder Zeile die Tobsucht herauskreischt, hat man ernsthaft als „Philosophen“ behandelt, seine Faselei hat man als „System“ dargestellt! Ein Berufsphilosoph, Herausgeber zahlreicher philosophischer Schriften, Dr. Kirchner, hebt in einem Zeitungs-Aufsatz über Nietzsches Schrift: „Der Fall Wagner“ ausdrücklich hervor, daß sie „von geistiger Gesundheit förmlich strotze“, [] ordentliche Hochschullehrer | wie G. Adler in Freiburg und Andere feiern Nietzsche als „kühnen und eigenartigen Denker“ und nehmen mit heiligem Ernst zu seiner „Philosophie“, theils begeistert anerkennend, theils sorgsam begründete Vorbehalte machend, Stellung! Angesichts einer so unheilbar tiefen Geistesstumpfheit kann es nicht Wunder nehmen, wenn der klardenkende und gesunde Theil der heutigen Jugend in vorschneller Verallgemeinerung auf die Philosophie selbst die Verachtung überträgt, welche amtlich bestellte Lehrer der Philosophie verdienen, die sich unterfangen, ihre Schüler in die Geisteswissenschaft einführen zu wollen, und nicht einmal die Fähigkeit besitzen, die zusammenhanglose Gedankenflucht eines Tobsüchtigen von vernünftigem Denken zu unterscheiden! Dr. Hermann Türck kennzeichnet in trefflichen Worten die Jünger Nietzsches: „Diese Weisheit“ („Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“) „aus dem Munde eines moralisch irrsinnigen Gelehrten hat … großen Anklang gefunden bei Leuten, die selbst infolge eines moralischen Defekts einen Widerspruch in sich gegen die Forderungen der Gesellschaft empfinden. Namentlich jenes Geistesproletariat der Groß-

 Dr. Hermann Türck, a. a. O. S. .

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städte jubelt über die neue großartige Entdeckung, daß alle Moral und alle Wahrheit durchaus überflüssig und der Entwickelung des Individuums nur schädlich ist. Sie haben es sich ja immer im Stillen gesagt: ‚Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt‘, und haben auch danach, so weit es irgend anging, gehandelt, aber jetzt dürfen sie es laut und mit Stolz bekennen, denn Friedrich Nietzsche, der neue Prophet, hat diese Maxime als die höchste Lebenswahrheit gepriesen … Nicht die Gesellschaft hat Recht mit ihrer Werthschätzung der Moral, Wissenschaft und echten Kunst, bewahre, sie, die Individuen, die nur ihre selbstsüchtigen, persönlichen Zwecke verfolgen, die nur so thun, als ob ihnen an | Wahrheit gelegen wäre, sie, die Falsch- [] münzer der Wahrheit, jene gewissenlosen Schnell-Feuilletonisten, verlogenen Rezensenten, Literatur-Diebe und Fabrikanten pseudo-realistischer Schundwaare sind die wahren Helden, die Herren der Situation, die wahrhaft freien Geister.“ Das ist die Wahrheit, nur ist es nicht die ganze Wahrheit. Gewiß, die eigentliche Nietzsche-Bande besteht aus geborenen Verbrechern mit Willensschwäche und aus wortklangtrunkenen Einfaltspinseln. Aber außer diesen Galgenvögeln ohne den Muth und die Kraft der verbrecherischen That und den Schwachköpfen, die sich vom Brausen und Rauschen eines Wortschwalls betäuben, gleichsam hypnotisiren lassen, ziehen hinter dem Banner des wahnsinnigen Faselers noch andere Leute her, die anders, und zum Theil milder, beurtheilt werden müssen. Nietzsches Raserei schließt nämlich einige Vorstellungen in sich, die theils an eine weit verbreitete Zeit-Anschauung anklingen, theils den trügerischen Anschein zu erwecken wissen, daß sie bei aller Uebertreibung und irrsinnigen Verdrehtheit des Vortrags doch einen Kern von Wahrheit und Berechtigung enthalten, und diese Vorstellungen erklären es, daß sich ihm Manche anschließen, denen man blos Unklarheit und Kritiklosigkeit vorwerfen darf. Nietzsches Grundgedanke der Rücksichtslosigkeit und viehischen Verachtung aller fremden Rechte, so weit sie einer selbstsüchtigen Begierde im Wege stehen, muß das Geschlecht anheimeln, das unter dem Bismarckschen System herangewachsen ist. Fürst Bismarck ist eine ungeheure Persönlichkeit, die über ein Land hinwegrast wie ein Wirbelsturm des heißen Erdgürtels: sie zermalmt Alles in ihrem verheerenden Laufe und läßt eine weite Vernichtung der Charaktere, Verwüstung der Rechtsbegriffe und Zertrümmerung der Sittlichkeit als Spur zurück. Das System Bismarck bedeutet im Staatsleben eine Art Jesuitismus im Küraß. „Der Zweck heiligt das Mittel“ | und das Mittel ist nicht wie bei den geschmeidigen Söhnen Loyolas [] Schlauheit, Zähigkeit, heimliche Tücke, sondern offene Rohheit, Gewaltthat, Fausthieb und Schwertschlag. Der Zweck, der das Mittel des Jesuiten im Küraß heiligt, mag manchmal ein gemeinnütziger, er wird aber ebenso oft oder noch öfter ein selbstsüchtiger sein. Bei seinem Urheber hat dieses System der ältesten Barbarei immerhin eine gewisse Größe, da es aus einem gewaltigen Willen hervorgeht, der immer mit dem Wagemuth des Helden sich selbst einsetzt und in jeden Kampf mit dem wilden Entschlusse tritt: „Sieg oder Tod!“ Bei den Nachahmern dagegen verkrüppelt es zur „Schneidigkeit“, das heißt zu jener niederträchtigsten und ver-

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ächtlichsten Feigheit, die vor dem Stärkern auf dem Bauche kriecht, aber den gänzlich Entwaffneten, den unbedingt Harmlosen und Schwachen, von dem schlechterdings kein Widerstand und keine Gefahr zu besorgen ist, mit äußerstem Uebermuthe mißhandelt. Die „Schneidigen“ erkennen sich dankbar in Nietzsches „Uebermenschen“ wieder und Nietzsches sogenannte „Philosophie“ ist thatsächlich die Philosophie der „Schneidigkeit“. Seine Lehre zeigt, wie das System Bismarck sich im Kopf eines Tobsüchtigen spiegelt. Nietzsche konnte in keinem andern Zeitalter heraufkommen und Anklang finden als in der Bismarckschen und nach-Bismarckschen Aera. Tobsüchtig wäre er natürlich immer gewesen, wann er auch gelebt hätte, aber sein Wahnsinn hätte nicht die besondere Farbe und Richtung erhalten, die wir jetzt an ihm wahrnehmen. Es widerfährt Nietzsche zwar manchmal, sich darüber zu ärgern, daß „der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums … an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die ‚Schneidigkeit‘ vermißt“, und zu mahnen: „Wir thun gut, unsern alten Ruf als Volk der Tiefe nicht zu billig gegen preußische ‚Schneidigkeit‘ und Berliner Witz und Sand zu veräußern“. [] Aber er verräth an anderen Stellen, was ihn an | der „Schneidigkeit“, auf die er seinen philosophischen Vers macht, eigentlich verdrießt: sie macht zu viel Wesens von dem Offizier! „Sobald er“ (der „preußische Offizier“) „spricht und sich bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackwidrigste Figur im alten Europa — sich selbst unbewußt … Und auch den guten Deutschen unbewußt, die in ihm den Mann der ersten und vornehmsten Gesellschaft anstaunen und sich gern den Ton von ihm angeben lassen“. Das kann Nietzsche nicht zugeben, er, der einsieht, daß es keinen Gott geben könne, da doch sonst er selbst dieser Gott sein müßte! Er kann es nicht dulden, daß „der gute Deutsche“ den Offizier über ihn stellt. Aber von diesem Uebelstand abgesehen, den das System der „Schneidigkeit“ nach sich zieht, findet er Alles daran gut und schön, rühmt es „als Unerschrockenheit des Blickes, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zähen Willen zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln“, und weissagt frohlockend, daß für Europa ein ehernes Zeitalter, ein Zeitalter des Krieges, der Soldaten, der Waffen, der Gewaltthat anbreche. Es ist also natürlich, daß die „Schneidigen“ in Nietzsche ihren eigensten Philosophen begrüßten. Sein „Individualismus“, das heißt seine Ichsucht eines Gestörten, für den die Außenwelt nicht vorhanden ist, mußte außer den geborenen Anarchisten aus Anpassungs-Unfähigkeit auch Diejenigen anziehen, die triebhaft fühlen, daß der heutige Staat zu tief und gewaltthätig in die Rechte des Einzelnen eingreift und von ihm außer den nothwendigen Opfern an Kraft und Zeit auch solche fordert, die er ohne zerstörenden Verlust an Selbstachtung nicht bringen kann: nämlich

 „Jenseits von Gut und Böse“, S. , .  „Die fröhliche Wissenschaft“, S. .  „Jenseits von Gut und Böse“, S. .

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 Opfer des Urtheils, der Erkenntniß, der Ueberzeugung und der Menschenwürde.

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Diese Freiheitsdurstigen glauben in Nietzsche | den Wortführer ihrer gesunden [] Empörung gegen den Staat als Vergewaltiger selbstständiger Geister und als Zerreiber starker Charaktere zu finden. Sie begehen denselben Irrthum, den ich schon bei den gutgläubigen Anhängern der Decadenten und Ibsens nachgewiesen habe, sie sehen nicht, daß Nietzsche den bewußten Menschen mit dem unbewußten verwechselt, daß das Individuum, für welches er volle Freiheit fordert, nicht das erkennende und urtheilende, sondern das blind gierende, um jeden Preis Stillung lüsterner Triebe heischende, daß es nicht das sittliche, sondern das sinnliche ist. Endlich hat auch seine Vornehmthuerei seinen Troß vermehrt. Manche von denen, die ihm nachziehen, verwerfen seine Sittenlehre, begeistern sich aber für Redensarten wie diese: „Es könnte einmal kommen, daß der Pöbel Herr würde … Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt: ‚Adel‘.“ Die Einsicht ist heute weit verbreitet, daß die Gleichheits-Schwärmerei ein schwerer Irrthum der großen Umwälzung war. Man sträubt sich mit Recht gegen eine Lehre, die allen Naturgesetzen zuwiderläuft. Die Menschheit bedarf einer Rangordnung. Sie muß Führer und Vorbilder haben. Sie kann eines Adels nicht entbehren. Aber der Edle, dem die Menschenherde den Platz an der Spitze einräumt, wird sicherlich nicht der „Uebermensch“ Nietzsches sein, der Ichsüchtige, der Verbrecher, der Räuber, der Sklave seiner tollgewordenen Triebe, sondern der Mensch des reichern Wissens, der höhern Erkenntniß, des klarern Urtheils und der festern Selbstbeherrschung. Das Dasein der Menschheit ist ein Kampf, den sie nicht gut ohne Feldherrn führen kann. So lange der Kampf ein solcher der Menschen gegen die Menschen ist, verlangt die Herde einen muskelstarken und hiebgewandten Hirten. In einem voll- | kommenern Zustande, in welchem die ganze [] Menschheit vereint nur noch gegen die Natur kämpft, wählt sie zum Anführer den Mann des reichsten Gehirns, des geschultesten Willens und der gesammeltsten Aufmerksamkeit. Dieser Mann ist der beste Beobachter, aber er ist auch derjenige, der am feinsten und raschesten fühlt, der sich am lebhaftesten die Zustände der Außenwelt vergegenwärtigen kann, also auch der Mann des regsten Mitgefühls und der umfassendsten Theilnahme. Der „Uebermensch“ der gesunden GattungsEntwickelung ist ein wissender und selbstlos liebender Paraklet, kein blutlechzendes „prachtvolles Raubthier“. Das bedenken Diejenigen nicht, die in Nietzsches Aristokratismus ihre eigenen undeutlichen Anschauungen von der Nothwendigkeit führender Adelsnaturen klar ausgedrückt zu erkennen glauben. Nietzsches falscher Individualismus und Aristokratismus kann oberflächliche Leser irreführen. Ihr Irrthum sei ihnen als mildernder Umstand angerechnet. Aber auch wenn man diesen in Betracht zieht, bleibt die Thatsache, daß ein erklärter

  „Also sprach Zarathustra“, . Th. S. .

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Drittes Buch. Die Ich-Sucht.

Tobsüchtiger in Deutschland für einen Philosophen gehalten werden und Schule machen konnte, immer noch eine schwere Schmach für das deutsche Geistesleben der Gegenwart. | []

Entartung. Zweiter Band.

Viertes Buch. Der Realismus.

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Viertes Buch. Der Realismus.

Zola und die Zolaschulen.

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I. Zola und die Zolaschulen.



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Die beiden bisher untersuchten Entartungsformen des Schriftthums und der Kunst, der Mysticismus und die Ichsucht, mußten ausführlich behandelt werden, denn ihre Entwickelungs-Bahn scheint noch eine aufsteigende zu sein und sie sind eifrig an der Arbeit, sich des ästhetischen Gewissens der Zeitgenossen zu bemächtigen. Ueber die dritte, den Realismus oder Naturalismus, kann ich mich ungleich kürzer fassen, aus einem sachlichen und einem persönlichen Grunde. Der sachliche Grund ist der, daß der Naturalismus in seinem Ursprungslande bereits vollkommen überwunden ist und man Leichname nicht bekämpft, sondern begräbt; der persönliche der, daß ich dem Naturalismus in früheren Büchern bereits eingehende Betrachtungen gewidmet habe, deren Schlußfolgerungen ich, soweit sie die Richtung beurtheilen, noch immer aufrecht erhalte und die ich nur insofern mit starken Vorbehalten einschränke, als sie die persönlichen Fähigkeiten Zolas weit überschätzten. Daß der Naturalismus in Frankreich abgethan ist, wird allseitig zugegeben und eigentlich blos von Zola selbst bestritten. „Das neue Geschlecht der Schriftsteller ist schroff antinaturalistisch“, | erklärt Rémy de Gourmont; „es handelt sich nicht [] um einen Vorsatz oder eine Verabredung; es ist kein Losungswort ausgegeben worden; kein Kreuzzug wurde veranstaltet; wir haben uns Jeder einzeln mit Grauen von einem Schriftthum entfernt, dessen Niederträchtigkeit uns erbrechen machte. Und übrigens empfinden wir vielleicht noch weniger Ekel als Gleichgiltigkeit. Ich erinnere mich, daß wir beim vorletzten Roman Zolas unter acht oder zehn Mitarbeitern des Mercure de France“ (einer symbolistischen Zeitschrift) „keinen finden konnten, der die Bête humaine ganz gelesen oder sich bereit gefunden hätte, sie genug aufmerksam zu lesen, um das Buch zu besprechen. Diese Art Bücher und die Methode, die sie eingibt, scheinen uns so alt, so von Anno dazumal. Weit entlegener und veralteter als die verrücktesten Trutzschriften der Romantik.“ Von den Jüngern Zolas, denen, die an seinen „Abenden von Médan“ theilgenommen haben, und dem Nachwuchs, der sich ihm später anschloß, ist kaum einer seiner Richtung treu geblieben. Guy de Maupassant hatte sich, ehe er als unheilbar Wahnsinniger in eine Irrenanstalt gesperrt werden mußte, zuletzt immer mehr dem psychologischen Roman zugewendet. Joris Karl Huysmans haben wir in seiner neuen Häutung als Diaboliker und Decadenten kennen gelernt, der für den Naturalismus nicht genug bittere Worte finden kann. J. H. Rosny schreibt jetzt Romane, welche in der Steinzeit spielen und die Entführung einer kurzschädeligen braunen Vorarierin durch einen langschädeligen, hochwüchsigen und weißhäutigen Arier zum Gegenstande haben. Als Zolas Roman „La Terre“ erschien, hielten

 Paris unter der dritten Republik. Vierte Auflage. Leipzig, . „Zola und der Naturalismus“. Ausgewählte Pariser Briefe. Zweite Auflage, Leipzig, . „‚Pot-Bouille‘ von Zola“.   Jules Huret, a. a. O. S. .  J. H. Rosny, Vamireh. Paris, .

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Viertes Buch. Der Realismus.

fünf seiner Schüler, Paul Bonnetain, der schon genannte Rosny, L. Descaves, P. Margueritte und H. Guiches, es für nöthig, in einer öffentlichen Kundgebung mit [] etwas drolliger | Feierlichkeit gegen die Unflätigkeit jenes Buches Einspruch zu erheben und ihren Meister in aller Form zu verleugnen. Daß die Romane von Zola selbst noch immer sehr starken Absatz finden, wie er mit großem Stolze betont, beweist durchaus nicht, daß seine Richtung noch lebendig ist. Die Menge beharrt länger in den einmal angenommenen Gewohnheiten als die Auslese, die Führenden und Schaffenden. Wenn jene Zola nach wie vor folgt, so haben diese sich doch bereits völlig von ihm abgewendet. Der Erfolg der jüngsten Romane Zolas erklärt sich überdies aus ganz anderen als künstlerischen Gründen. Seine Witterung für das, was die öffentliche Meinung beschäftigt, ist vielleicht der wesentlichste Theil seiner Begabung. Er wählt von vornherein Stoffe, für die er des sachlichen Interesses weiter Kreise sicher ist, sie mögen wie immer behandelt werden. Mit Büchern, welche die Geschichte des Börsen-Zusammenbruchs von  oder des Krieges von  in romanhafter Form erzählen wie „L’Argent“ und „La Débâcle“ — ist heute noch jeder einheimische Schriftsteller von bekanntem Namen sicher, beim französischen Publikum leidenschaftliche Antheilnahme zu erwecken. Und auf die Kundschaft der zahllosen Liebhaber von Zoten und Unflätereien kann Zola ebenfalls rechnen. Dieses Publikum bleibt ihm treu und findet bei ihm, was es sucht. Neue Anhänger wirbt er aber in seinem Vaterlande schon lange nicht mehr und im Auslande nur noch unter denen, die ängstlich jeder Mode, in Halsbinden wie in Büchern, folgen, die aber zu unwissend sind, um bereits erfahren zu haben, daß Zola in Frankreich selbst längst aufgehört hat, die letzte Mode zu sein. Für seine Jünger ist Zola der Erfinder des Realismus im Schriftthum. Das ist ein Anspruch, den eben nur diese über alle Begriffe unwissenden Bursche erheben können, für die die Weltgeschichte erst mit dem Augenblicke beginnt, in welchem sie sich herbeigelassen haben, von ihr Kenntniß zu nehmen. | [] Vor allen Dingen hat das Wort Realismus selbst gar keine ästhetische Bedeutung. In der Philosophie bezeichnet man damit die Anschauung, für welche die Welterscheinung der Ausdruck einer stofflichen Wirklichkeit ist. Auf Kunst und Schriftthum angewendet aber enthält es gar keinen Begriff. Ich habe dies an anderer Stelle („Paris unter der dritten Republik“) ausführlich nachgewiesen und will hier den Gedankengang nur ganz kurz zusammenfassen. Die Bierhaus-Aesthetiker, die einen Realismus und einen Idealismus unterscheiden, erklären jenen als das Bestreben des Künstlers, die Dinge zu beobachten und wahr wiederzugeben. Dieses Bestreben hat aber schlechterdings jeder Schriftsteller. Absichtlich weicht Niemand in seinen Darstellungen von der Wahrheit ab. Und selbst wer es wollte, könnte es nicht, weil dies allen Gesetzen des menschlichen Denkens zuwiderlaufen würde. Denn jede unserer Vorstellungen beruht auf einer Beobachtung, die wir einmal gemacht haben, und auch wenn wir frei erfinden, arbeiten wir nur mit Erinnerungsbildern voraufgegangener Beobachtungen. Wenn trotzdem das eine Werk den Eindruck größerer Wahrheit macht als das

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Zola und die Zolaschulen.

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andere, so ist dies nicht eine Frage dieser oder jener ästhetischen Richtung, son dern ausschließlich eine solche des größern oder geringern Talents. Ein wirklicher

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Dichter ist immer wahr, ein unfähiger Nachahmer ist es nie; jener ist es auch dann, wenn er es verschmäht, in den Einzelheiten stets genau der Wirklichkeit nachzugehen, dieser ist es auch dann nicht, wenn er mit peinlicher Aufmerksamkeit und mit der Methode eines Landmessers an den kleinen Aeußerlichkeiten haftet. Wenn man sich die psychologischen Bedingungen gegenwärtig hält, unter denen ein Kunstwerk zu Stande kommt, so erkennt man sofort die ganze Windbeutelei des sogenannten „Realismus.“ Die Quelle jedes wirklichen Kunstwerks ist eine Emotion. Diese entsteht entweder durch einen Lebensvorgang | in den innern Orga- [] nen des Künstlers oder durch einen Sinneseindruck, den er von der Außenwelt erhält. In beiden Fällen hat der Künstler das Bedürfniß, seiner Emotion im Kunstwerk Ausdruck zu geben. Ist sie organischen Ursprungs, so wird er unter seinen Erinnerungsbildern oder augenblicklichen Sinneseindrücken diejenigen wählen, die mit seiner Emotion zusammenklingen, und sein Kunstwerk aus ihnen gestalten. Ist sie äußern Ursprungs, so wird er zum Kunstwerk hauptsächlich die Erscheinungen der Außenwelt, die Sinnes-Erfahrungen verwenden, die in ihm die nach Gestaltung drängende Emotion wachgerufen haben, und er wird nach den Gesetzen der Ideen-Assoziation ähnliche Erinnerungsbilder mit ihnen verknüpfen. Wie man sieht, ist der Vorgang in beiden Fällen genau derselbe: der Künstler fügt unter der Herrschaft einer Emotion unmittelbare Sinneswahrnehmungen und Erinnerungsbilder zu einem entspannenden Kunstwerke zusammen, nur wiegen, je nachdem die Emotion ihren Ursprung in Sinneswahrnehmungen oder in organischen Vorgängen hat, jene oder diese Bestandtheile vor. Wenn man ungenau reden will, mag man immerhin die Werke, welche die Wirkung einer von der Welterscheinung angeregten Emotion sind, realistische, diejenigen, in welchen sich eine organische Emotion ausdrückt, idealistische nennen. Eine wirkliche unterscheidende Bedeutung wohnt diesen Benennungen aber nicht inne. Bei ganz gesunden Menschen entstehen die Emotionen fast blos durch Eindrücke von der Außenwelt, bei solchen mit mehr oder minder krankhaftem Nervenleben, namentlich bei Hysterikern, Neurasthenikern, Entarteten und Gestörten jeder Gattung, weitaus häufiger durch innere organische Vorgänge. Die gesunden Künstler werden in der Regel Werke liefern, in denen die Wahrnehmung, die krankhaft emotiven solche, in denen das Spiel der Ideen-Assoziation, anders gesagt, die hauptsächlich mit Erinnerungsbildern wirthschaftende Einbildungskraft vorherrscht, und wenn man durchaus an einer falschen | Bezeichnung festhalten will, so wird man sagen dürfen, daß jene [] in der Regel sogenannte realistische, diese sogenannte idealistische Kunstwerke schaffen werden. In keinem Falle ist das Kunstwerk ein treues Abbild der sachlichen Wirklichkeit; das realistische ebenso wenig wie das idealistische; seine Entstehungsgeschichte schließt eine solche Möglichkeit aus. Es ist immer nur die Verkörperung einer subjektiven Emotion. Die Welt im Kunstwerk kennen lernen zu

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Viertes Buch. Der Realismus.

wollen ist ein falsches Beginnen. Wohl aber enthüllt sich für den, der darin zu lesen versteht, das ganze Wesen einer Persönlichkeit. Das Kunstwerk ist niemals eine Urkunde in dem Sinne, den die naturalistischen Schwätzer diesem Worte beilegen, nämlich eine objektive, zuverlässige Darstellung äußerer Vorgänge; es ist aber immer eine Bekenntnißschrift seines Urhebers; es verräth, bewußt oder unbewußt, seine Art zu fühlen und zu denken; es deckt seine Emotionen auf und zeigt, welche Vorstellungen sein Bewußtsein füllen und der nach Ausdruck ringenden Emotion zur Verfügung stehen. Es ist kein Spiegelbild der Welt, aber es ist ein solches der Seele des Künstlers. Man würde vielleicht glauben, daß wenigstens den vorwiegend nachahmenden Künsten, der Malerei und Bildhauerei, ein treues Nachschreiben der Wirklichkeit, also eigentlicher Realismus, möglich sei. Doch selbst dies ist ein Irrthum. Einem bildenden Künstler kann es niemals einfallen, sich vor die Erscheinung hinzusetzen und sie ohne Auswahl, ohne Hervorhebungen und Unterdrückungen wiederzugeben. Weshalb sollte er es denn auch thun? Wenn er einen Anblick nachbildet, so ist es offenbar, weil irgend Etwas an diesem Anblick ihn fesselt oder ihm gefällt, eine Farbenstimmung, eine Beleuchtungs-Wirkung, eine Bewegungslinie. Unwillkürlich wird er den Zug, der ihm den Drang eingegeben hat, den Anblick nachzubilden, betonen und hervorheben und sein Werk wird infolge dessen nicht mehr [] die Erscheinung darstellen, wie sie wirklich war, | sondern wie er sie gesehen hat; es wird also wieder nur ein Zeugniß seiner Emotion, nicht der Abklatsch einer Erscheinung sein. Ganz in der Weise der Dunkelkammer und lichtempfindlichen Platte arbeiten könnte nur ein völlig stumpfer Handwerker, der angesichts der Welterscheinung gar nichts empfinden würde, kein Wohlgefallen, keine Abneigung, kein Verlangen irgendwelcher Art. Es ist aber nicht wahrscheinlich, daß ein so verkümmertes Wesen jemals die Neigung gehabt haben wird, Künstler zu werden, und daß es sich auch nur einigermaßen die zum Künstlerberuf nöthige technische Geschicklichkeit wird haben aneignen können. Und wenn schon den bildenden Künsten durch ihre Natur selbst der wirkliche Realismus, die völlig sachliche Nachahmung der Erscheinung, verwehrt ist, um wie viel mehr der Dichtkunst! Der Maler kann schließlich, wenn er sich und seine Kunst aufs Tiefste erniedrigen will, die Mitwirkung seiner Persönlichkeit an dem Kunstwerk — richtiger an dem Werke, denn von Kunst ist dann nicht mehr die Rede — auf ein äußerst geringes, kaum mehr wahrnehmbares Maß einschränken, sich zu einer bloßen Dunkelkammer machen, seine Gesichtseindrücke möglichst mechanisch auf seine Bewegungsorgane übertragen und sich bemühen, bei dieser Arbeit nichts zu denken und zu fühlen. Sein Bild ist ihm von der Natur selbst gegeben: es ist sein optischer Gesichtskreis. Wenn er also gar keine Wahl üben, gar nichts Eigenes ausdrücken, gar nicht komponiren will, so bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, die Erscheinungen abzuschreiben, welche von der Grenzlinie seines Sehfeldes eingeschlossen werden. Sein sogenanntes Bild ist dann allerdings ein ausdrucksloses Stück Welt, in welchem die Persönlichkeit des Künstlers nur

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noch durch den Rahmen vertreten ist, der es abschneidet, nicht weil die Welterscheinung da wirklich ein Ende hat, sondern weil das Auge des Malers gerade nur so viel und nicht mehr von ihr um-|spannt, aber es ist doch im technischen Sinne [] ein Bild, das heißt eine Malerei, die man an die Wand hängen und betrachten kann. Der Dichter dagegen findet sein Werk nicht in dieser Weise fertig vor. Es ist ihm nicht von der Natur selbst gegeben. Seine Stoffe entwickeln sich nicht im Raum, sondern in der Zeit. Sie liegen nicht neben einander geordnet da, so daß das Auge sie erblickt und von ihnen Alles festhalten kann, was es wahrgenommen hat, sondern sie folgen einander und der Dichter muß ihnen mit eigener Geistesthätigkeit Grenzen anweisen, er muß selbst bestimmen, wo er sie ergreifen und wo er sie fahren lassen soll, wo die Erscheinung für die Zwecke seiner Dichtung anfängt und wo sie endet. Er kann eine Menschenrede nicht mitten in einem Worte beginnen und aufhören lassen, wie etwa Jean Béraud in einem bekannten Bilde die Räder eines Wagens durch den Rahmen mittendurch abschneiden läßt. Er kann kein ausdrucksloses Lichtbild des gleichmäßigen Flusses der Lebens- und Weltereignisse geben. Er muß Stellen dieses Flusses umpfählen und abdämmen. Damit aber tritt er selbst, tritt seine Persönlichkeit entscheidend hervor. Er verräth seine Eigenart. Er läßt seine Absichten, seine Anschauungen, seine Gefühle erkennen. Wenn er uns von einer Million gleichzeitiger Menschengeschicke ein einziges erzählt, so ist es, weil dieses eine ihn aus irgend einem Grunde mehr interessirt hat als die Million. Wenn er uns von dem gewählten Menschen nur einzelne Züge, Gedanken, Gespräche und Handlungen, noch nicht ein Millionstel von denen, die in Wirklichkeit sein Leben ausmachten, mittheilt, so ist es, weil sie ihm aus irgend einem Grunde wichtiger und bezeichnender scheinen als alle übrigen, weil sie nach seiner Meinung etwas beweisen, weil sie einen Gedanken ausdrücken, den nicht die Wirklichkeit gedacht hat, sondern den er, der Dichter, aus der Wirklichkeit herauszulesen glaubt oder in sie hineindeuten möchte. Sein „realistisches“ Werk gibt also immer nur seinen Gedanken, | seine Deutung der Wirklichkeit, sein [] Interesse an ihr, nicht die Wirklichkeit selbst wieder. Wollte der Dichter die Welt phono- und photographisch abschreiben, so wäre sein Werk selbst im rein technischen Sinne nicht mehr eine Dichtung, nicht einmal ein Buch, wie das Werk des nur noch photographirenden Malers im rein technischen Sinne immer noch ein Bild ist; es wäre Etwas, was keine Form, keinen Sinn, keinen Namen hätte; denn mit der Wiedergabe des Lebens eines einzigen Menschen während eines einzigen Tages kann man Tausende von Seiten füllen, wenn man alle seine Empfindungen, Gedanken, Worte, Handlungen als gleichwerthig behandeln, unter ihnen nicht jene Auswahl treffen würde, die bereits Subjektivität des Dichters, also das Gegentheil von „Realismus“ ist. Das Werk des Malers wendet sich überdies an denselben Sinn wie die Welterscheinung selbst und er gibt diese mit denselben Mitteln wieder, mit welchen sie selbst sich dem Sinn enthüllt, mit Licht und Farbe. Gewiß sind die Lichter, Farben und Linien des Malers nicht genau die der wirklichen Erscheinung, man glaubt

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Viertes Buch. Der Realismus.

nur durch eine Illusion die Erscheinung in ihrer Nachbildung zu erkennen; aber diese Illusion ist das Werk so niedriger Hirnzentren, daß selbst Thiere ihrer fähig sind, wie nicht blos die bekannte klassische Anekdote von den Vögeln, die an den Beeren der gemalten Weintrauben von Zeuxis picken wollten, beweist. Der Dichter dagegen wendet sich nicht an die Sinne; richtiger: er wendet sich durch das Gehör oder Gesicht, vor das er mit dem gesprochenen oder geschriebenen Worte tritt, nicht an die Wahrnehmungszentren, wie der bildende Künstler mit seinem Werke es zunächst thut, sondern an die höheren, begriff-, gedanken- und urtheilbildenden, Zentren. Er hat auch kein Mittel, um die sinnliche Erscheinung selbst unmittelbar wiederzugeben, sondern er muß die Erscheinung zuerst in Begriffe umsetzen und er kann uns nur diese Begriffe in sprachlicher, das heißt konventioneller, [] Form | reichen. Das ist aber eine überaus verwickelte und hoch differenzirte Thätigkeit, die vollständig das Gepräge der sie übenden Persönlichkeit trägt. Wenn schon zwei Augen nicht in derselben Weise sehen, um wie viel weniger können zwei Gehirne das vom Auge Gesehene in derselben Weise wahrnehmen und deuten, in vorbestehende Begriffe einfügen, mit Gefühlen und Gedanken assoziiren, in überlieferte Sprachformen kleiden! Die Thätigkeit des Dichters ist also, unvergleichlich mehr noch als die des bildenden Künstlers, eine so wesentlich persönliche, die Verarbeitung von Sinneseindrücken zu Gedanken und die Uebersetzung der Gedanken in Worte ist eine so eigenartig individuelle, so ausschließend subjective, daß auch aus diesem Grunde die Dichtung niemals die Wirklichkeit selbst, das heißt „realistisch“, sein kann. Der psychologischen, der ästhetischen Kritik widersteht der Begriff des sogenannten „Realismus“ nicht. Man könnte ihn vielleicht äußerlich, oberflächlich praktisch zu fassen suchen und etwa sagen: Realismus ist die Methode, bei deren Anregung der Dichter von seinen Wahrnehmungen und Beobachtungen ausgeht und seine Vorwürfe in den Lebenskreisen sucht, die er persönlich kennt, Idealismus die entgegengesetzte Methode, die derjenige Dichter gebraucht, welcher beim Schaffen dem Spiele seiner Einbildungskraft gehorcht und, um deren freies Walten nicht einzuschränken, seine Stoffe aus fernen Zeiten und Ländern oder aus Gesellschaftsschichten holt, von denen er keine unmittelbare Kenntniß, sondern nur Sehnsuchts-, Ahnungs- oder Vermuthungs-Bilder hat. Diese Erklärung scheint verständig und einleuchtend, aber auch sie löst sich bei näherer Betrachtung in blauen Nebel auf. Denn thatsächlich hat die Wahl des Stoffes, hat der Lebenskreis, dem er entnommen oder in den er verlegt ist, gar keine scheidende Bedeutung; es offenbart sich in ihr nicht eine Methode, sondern wieder nur die Persönlichkeit des Dichters. Der Dichter, bei dem die Beobachtung vorherrscht, wird „realistisch“ | [] sein, das heißt Erfahrungen ausdrücken, auch wenn er von Dingen und Menschen zu sprechen vorgibt, die gänzlich außerhalb seiner Beobachtung liegen, und der Dichter, bei dem die mechanische Ideen-Assoziation vorwaltet, wird „idealistisch“ sein, das heißt nur dem Schweifen seiner Einbildungskraft folgen, auch wenn er Verhältnisse darstellen will, die ihm persönlich vertraut sein könnten.

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Nur ein Beispiel für jeden der beiden Fälle. Was gibt es wohl „idealistischeres“ als Märchen? Nun denn, hier sind einige Stellen aus den bekanntesten Märchen von Grimm: „Es war einmal eine Königstochter, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen.“ (Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich.“) „Das Schwesterchen zu Hause aber“ (die Tochter eines Königs, der seine zwölf Söhne verstoßen hat) „ward groß und blieb das einzige Kind. Einmal hatte es große Wäsche, darunter waren auch zwölf Mannshemden. Für wen sind denn diese Hemden? fragte die Prinzessin, meinem Vater sind sie doch viel zu klein. Da erzählte ihr die Wäscherin, daß sie zwölf Brüder gehabt hätte u. s. w. Und wie das Schwesterchen Nachmittags auf der Wiese saß und die Wäsche bleichte, da fielen ihm die Worte der Wäscherin wieder ein u. s. w.“ („Die zwölf Brüder.“) „Der Holzhacker gehorchte und holte sein Kind und gab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß blos Zuckerbrod und trank süße Milch u. s. w. So war es vierzehn Jahre im Himmel, da mußte die Jungfrau Maria eine große Reise machen; eh sie aber weg ging, rief sie das Mädchen und sagte: Liebes Kind, da vertrau ich dir die Schlüssel zu den dreizehn Thüren des Himmelreichs u. s. w.“ („Marienkind“.) Der unbekannte Dichter dieser Märchen verlegt seine Geschichten in Königspaläste oder gar in den Himmel, also in Umgebungen, die er sicher nicht kennt, aber er stattet Menschen und Dinge und sogar die heilige | Jungfrau mit den Zügen aus, die ihm von der Beobachtung her bekannt [] und vertraut sind; aus dem Königsschloß tritt man in den Wald und auf die Wiese hinaus wie aus dem Bauernhof; die Prinzessin läuft allein an den Waldbrunnen, sie besorgt die Wäsche und bleicht sie am Anger wie eine häusliche Bauerndirne; die heilige Jungfrau unternimmt eine Reise und vertraut der Pflegetochter die Schlüssel der Wirthschaft an wie eine reiche Burgfrau; die Märchen sind aus den Erfahrungen eines Bauers heraus gedichtet, der mit treuherzigem Realismus seine eigene Welt schildert und den bekannten Gestalten und Verhältnissen blos andere Namen gibt. Goncourt dagegen, der große, bahnbrechende „Realist“, erzählt in seinem Roman „La Faustin“ eine Geschichte von der Liebschaft zwischen einem Lord Annandale und einer Schauspielerin des Théâtre français, die dem Kritiker Brunetière diese Bemerkungen abnöthigt: „Ich möchte über den Roman des Herrn de Goncourt die Meinung des Herrn Zola haben. Herr Zola, der sich so beredt über den Abenteuer-Roman lustig gemacht hat, über den Roman, ‚wo die Prinzen incognito umherlaufen, alle Taschen voll Diamanten‘, was mag er wohl im geheimen Innern seines Herzens von diesem Lord Annandale denken, der sein Gold mit vollen Händen aus dem Fenster wirft und in seinem Pariser Hôtel von einem Tag auf den andern über etwa fünzig Diener herrscht, ohne den Dienst von Madame mitzurechnen? Herr Zola, der sich so angenehm über den idealistischen Roman, wie er ihn nennt, lustig gemacht hat, über den Roman, ‚wo triumphirende Liebe die Liebenden in die köstliche Welt des Traumes entführt‘, was mag er wohl bei

 Ferdinand Brunetière, Le roman naturaliste. Nouvelle édition. Paris, . S. .

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Viertes Buch. Der Realismus.

sich von der leidenschaftlichen Zärtlichkeit denken, die Herr de Goncourt seinem Engländer für seine Schauspielerin bei-|legt, ‚einer fast vergöttlichten Galanterie, einem sinnlichen Verhältniß im Blauen, einer physischen Liebe in Idealität‘ und wie all der Galimathias lautet, den ich dem Leser erspare?“ Goncourt gibt vor, einen zeitgenössischen Engländer, eine ebensolche Bühnenkünstlerin, Vorgänge aus dem Pariser Leben zu schildern, also Alles Dinge, die er beobachtet haben könnte, die ihm bekannt sein sollten, aber was er von ihnen erzählt, ist so unglaublich, so unmöglich, so noch nie dagewesen, daß man über die kindische Fabel blos die Achsel zucken kann. Der deutsche Märchendichter also, der uns in eine Gesellschaft von Engeln, Heiligen und Königen führt, zeigt uns gesunde, derbe Bauern und Dirnlein, deren Lebenswahrheit durch die ihnen schalkhaft aufgesetzten Fastnachts-Kronen und Heiligenscheine aus Goldpapier nicht im Mindesten beeinträchtigt wird, und der französische Realist, der uns in Pariser Leben und unter Pariser Menschen versetzen will, läßt vor unseren Augen unfleischliche, aus Zigarrenqualm, Sumpfnebel und Rhumflamme gewobene Schemen wallen, die dadurch nicht wirklicher werden, daß er ihnen eine entfernte Aehnlichkeit mit einem Engländer in feinem Gehrock und einer hysterischen Dame in spitzenbesetztem Négligé anzuzaubern sucht. Der Märchendichter ist im Sinne der obigen Erklärung der Realist, der Sittenroman-Verfasser Goncourt der Idealist mit erschwerendsten Umständen. Von welcher Seite wir uns auch dem angeblichen Realismus nähern, wir bekommen niemals einen Begriff zu sehen, sondern immer nur ein leeres Wort. Alle Untersuchungs-Methoden führen uns zu demselben Ergebniß: es gibt in der Dichtung keinen Realismus, das heißt eine unpersönliche, sachliche Abschrift der Wirklichkeit, es gibt nur verschiedene Dichter-Persönlichkeiten. Die Individualität des Dichters ist das allein Entscheidende; der eine empfängt aus der Welterscheinung, der andere aus seinen inneren organischen Vorgängen die Emotionen, die [] ihn zum Schaffen anregen; der eine ist zur Aufmerksamkeit | fähig und beobachtet, der andere ist ein Sklave seiner ungezügelten Ideen-Assoziation; bei dem einen wiegt im Bewußtsein die Vorstellung des Nicht-Ichs, beim andern das Ich vor; ich zögere nicht, es mit einem Worte auszudrücken: der eine ist gesund und in aufsteigender Entwickelung begriffen, der andere mehr oder weniger krankhaft verändert, mehr oder weniger in Entartung versunken. Der gesunde Dichter verflicht Erkenntniß in jedes seiner Werke, es mag Dantes Hölle oder Goethes Faust sein, und wenn man will, mag man dieses Erkenntniß-Element, das nur durch Aufmerksamkeit und Beobachtung errungen werden kann, Realismus nennen. Der entartete Dichter formt immer nur erkenntnißleere Seifenblasen, auch wenn er Beobachtungen vorzutragen behauptet und selbst überzeugt ist, und diesen im besten Falle farbenschillernden, meistens aber blos schmutzigen Schaum einer wirren Gedankenbrandung nennt man häufig mißbräuchlich Idealismus. Man hat dem Realismus noch einen andern, letzten Sinn beigelegt: er soll die grundsätzliche Behandlung niedriger Lebenskreise und alltäglicher Menschen und []

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 Dinge bezeichnen. Danach wären Werke, in denen Arbeiter, Bauern, Kleinbürger

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u. s. w. vorkämen, realistische, solche, in denen sich Götter, Helden, Könige u. s. w. bewegen, idealistische. Ludwig XIV., der nach der bekannten Anekdote beim Anblick der Teniersschen Bauernkneipen-Bilder, die man ihm vorzustellen wagte, ungehalten die Worte der Verachtung fallen ließ: „Man schaffe diese Grotesken weg!“, hätte nicht eine Kunstmethode und Darstellungsmittel, sondern die sein olympisches Auge beleidigende Niedrigkeit des Vorwurfs verurtheilt. Diese Erklärung des Ausdrucks Realismus ist etwas greifbarer als die anderen, aber ich habe nicht erst nöthig, zu zeigen, wie roh äußerlich, wie philosophisch und ästhetisch werthlos sie ist. Denn wir haben oben gesehen, daß man Götter und Könige die schlichtesten Bauern-Gefühle und -Gedanken erleben lassen kann, und um- | gekehrt gibt es Werke genug, in denen über dem Scheitel von Menschen in nied- [] rigster gesellschaftlicher Stellung eine unsichtbare Königskrone oder ein Heiligenschein schwebt. In Gregor Samarows Kolportage-Romanen bewegen sich Kaiser und Könige, die fühlen, denken und sprechen wie Weinreisende von Winkelgeschäften; in Auerbachs Dorfgeschichten sehen wir Bauern, deren Geistes- und Gemüthsleben hochadelig, ja stellenweise halbgotthaft ist. Unwirklich sind die einen wie die anderen, nur spricht aus den einen ein handwerksmäßiger Sensations-Schriftsteller, aus den anderen ein feiner, tief fühlender Dichter zu uns. In George Eliots „Mühle am Floß“ lernen wir einen Bauernknecht Luke und eine Müllerstochter Maggie kennen, die in ihrer Charaktergröße und Sittlichkeit jedem Pantheon Ehre machen würden; in Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeit“ zeigt man uns einen überaus großen und stolzen Marquis Steyne und einen ebensolchen Earl Bareacres, denen kein anständiger Mensch die Hand reichen möchte; die einen wie die anderen sind wahr, nur verrathen jene ein Dichterherz voll Menschenliebe und Mitleid, diese ein von Bitterkeit und Grimm überfließendes Künstlergemüth. Wer ist nun vornehm? Sind es Samarows Kaiser und Könige oder Auerbachs Schwarzwald-Dörfler? Wer ist gering? Sind es Eliots schottische Bauernknechte oder Thackerays mächtige Peers von England? Und welche von diesen Werken soll man als realistisch, welche als idealistisch bezeichnen, wenn der Realismus die Beschäftigung mit niedrigen, der Idealismus die mit hohen Menschen und Verhältnissen bedeuten soll? Einen Sinn kann also eine ernste Untersuchung, die sich bei bloßem Wortgeklingel nicht aufhält, in den Ausdrücken „Realis-|mus“ und „Idealismus“ nicht [] finden. Wir wollen nun sehen, was Zolas Anhänger für seine Eigenthümlichkeit ausgeben, worin er selbst ein Vorbild und Bahnbrecher zu sein behauptet und wie er den Anspruch begründet, einen ganz neuen Abschnitt in der Geschichte des Schriftthums zu verkörpern.

 „Er war ein größerer Prinz als Alle dort, obschon ein regierender Herzog und eine königliche Hoheit, beide mit ihren fürstlichen Gemahlinen, anwesend waren.“ Vanity fair, Tauchnitz edition,  . Band S. .

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Viertes Buch. Der Realismus.

Die Jünger Zolas rühmen seine Beschreibungskunst und seinen „Impressionismus“. Ich mache zwischen beiden einen großen Unterschied. Die Beschreibung sucht die kennzeichnenden Züge der Erscheinung mit allen Sinnen zugleich zu erfassen und in Worten wiederzugeben, der Impressionismus zeigt den Bewußtseinszustand eines Wesens, das von den Dingen blos im Bereiche eines einzigen Sinnes Eindrücke empfangen, sie blos sehen, blos hören, blos riechen würde u. s. w. Die Beschreibung ist die Arbeit eines Gehirns, welches die wahrgenommenen Dinge in ihrem Zusammenhang und Wesen begreift, der Impressionismus die Arbeit eines solchen, welches von der Erscheinung blos die sinnlichen — und zwar die einseitig sinnlichen — Elemente der Erkenntniß, nicht aber die Erkenntniß selbst erhält. Der Beschreibende erkennt in einem Baum einen Baum, mit allen Vorstellungen, die dieser Begriff in sich schließt. Der Impressionist sieht nur eine aus Flecken verschiedenen Grüns zusammengesetzte Farbenmasse vor sich, auf welche die Sonne da und dort blitzende Lichtpunkte und Streifen setzt. Eine ästhetische und psychologische Verirrung sind in der Dichtkunst sowohl die Beschreibung um ihrer selbst willen als auch der Impressionismus, wie gleich in möglichster Kürze nachgewiesen werden soll, aber selbst diese Verirrung hat Zola nicht erfunden, denn lange vor ihm haben die Romantiker und besonders Théophile Gautier die breite, unorganisch in die Dichtung eingesprengte Beschreibung gepflegt und im Impressionismus haben die Brüder Goncourt Zola die Wege gewiesen. [] Die rein sachliche Schilderung der Gegenstände ist Wissen-|schaft, wenn es für Jemand einen Werth hat, von ihnen so viel Anschauung zu erlangen, als sich in Worte ohne Zuhilfenahme des Bildes und der Zahl fassen läßt; sie ist bloße kindische Spielerei und Zeitvergeudung, wenn Niemand ein Interesse hat, bei den geschilderten Gegenständen beschauend zu verweilen, sei es, weil sie allbekannt, sei es, weil sie bedeutungslos sind; sie erhebt sich zur Kunst, bleibt aber eine

 Gottfried Keller hat mit merkwürdiger Vorahnung schon dreißig Jahre, ehe der beschreibungswüthige Realismus in Deutschland zu spuken angefangen, sich über ihn lustig gemacht. S. Die Leute von Seldwyla, . Aufl., Berlin, , . Band S. : „Er“ (der Held der Geschichte „Die mißbrauchten Liebesbriefe“, der plötzlich auf den Gedanken verfällt, Schriftsteller zu werden) „steckte das geschäftliche Notizbuch bei Seite und zog ein kleineres hervor mit einem Stahlschlößchen. Damit stellte er sich vor den ersten besten Baum, besah ihn genau und schrieb: ‚Ein Buchenstamm. Hellgrau mit noch helleren Flecken und Querstreifen. Zweierlei Moos bekleidet ihn, ein fast schwärzliches und dann ein sammetähnlich glänzendes grünes. Außerdem gelbliche, röthliche und weiße Flechten, welche öfter in einander spielen … Vielleicht in Räuberscenen zu verwenden‘. Dann blieb er vor einem eingerammelten Pflock stehen, auf welchen irgend ein Kind eine todte Blindschleiche gehängt hatte. Er schrieb: ‚Interessantes Detail. Kleiner Stab in Erde gesteckt. Leiche von silbergrauer Schlange darum gewunden … Ist Merkur todt und hat seinen Stab mit todten Schlangen hier stecken lassen? Letztere Anspielung mehr für Handelsnovellen tauglich. N. B. Der Stab oder Pflock ist alt und verwittert, von der gleichen Farbe wie die Schlange; wo ihn die Sonne bescheint, ist er mit silbergrauen Härchen besetzt. (Die letztere Beobachtung dürfte neu sein.)‘“ U. s. w.

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Zola und die Zolaschulen.

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untergeordnete Kunstgattung, wenn sie die Worte so gut wählt, daß sie den feins ten Besonderheiten der Gegenstände folgt, und zugleich die Affekte mittönen läßt,

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welche der Wahrnehmende bei seinen Beobachtungen empfindet, wenn also die angewendeten Worte nicht blos den Werth einer zutreffenden Bezeichnung von sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften haben, sondern emotionell gefärbt sind und in Begleitung von Bildern und Gleichnissen auf-|treten. Beispiele dieser Art [] von Schilderungskunst sind alle guten Reisebeschreibungen, von Humboldts „Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent“ bis zu Nachtigals „Sahara und Sudan“, Schweinfurths „Im Herzen Afrikas“ oder de Amicis‘ Büchern über Konstantinopel, Marokko u. s. w. Mit der Dichtkunst hat aber diese Gattung nichts gemein. Die Dichtung hat immer den Menschen, sein Denken und Fühlen zum Gegenstande, auch die Thierfabel, auch die Parabel, die Allegorie, das Märchen, alle die Zwitterformen, in welchen der menschliche Inhalt aller Dichtung verkleidet auftritt, als ein auf Thiere und selbst todte Gegenstände angewandter Anthropomorphismus. Das Sachliche, Schauplatz und Umgebung, haben für die Dichtung nur insofern Bedeutung, als sie sich auf den oder die Menschen beziehen, von denen die Dichtung handelt. Der Dichter kann nur entweder als Zuschauer gedacht werden, der vor seinen Augen sich abspielende menschliche Erlebnisse erzählt, oder als Theilnehmer an diesen Erlebnissen, der sie also aus dem Bewußtsein einer der handelnden Personen heraus mit ansieht und mitfühlt. In beiden Fällen kann er naturgemäß vom Sachlichen nur das wahrnehmen, was im Erlebnisse selbst eine Rolle spielt. Ist er Zuschauer, so wird er sein Auge sicher nicht gleichgiltig im Gesichtskreise umherschweifen lassen, sondern bei dem Schauspiele verweilen, das seine Aufmerksamkeit fesselt und für das er unsere Theilnahme zu erwecken sucht. Steckt er sogar in der Haut eines Betheiligten, so wird er noch viel vollständiger von dem menschlichen Vorgang in Anspruch genommen, an welchem er selbst mitwirkt, und noch viel weniger Neigung übrig behalten, müßig zu gleichgiltigen Anblicken abzuschweifen, die nichts mit seinem gegebenen Seelenzustande zu thun haben und ihn von dem Thun und Fühlen ablenken, in dem er eben begriffen ist. In einer menschlich wahren Dichtung wird also vom Sachlichen immer nur das geschildert werden, was ein gespannter Zuschauer des eigentlichen | Vorganges, der den Inhalt der Dichtung bildet, oder was ein Betheiligter [] davon wahrnehmen kann, das heißt nur das, was sich auf den Vorgang unmittelbar bezieht. Begreift die Schilderung noch Anderes in sich, so ist sie psychologisch unwahr, zerstört Stimmungen, unterbricht Vorgänge, lenkt die Aufmerksamkeit von dem ab, was in der Dichtung die Hauptsache sein muß, und verwandelt diese in ein Machwerk, dem man anmerkt, daß es seinem Schöpfer damit nicht künstlerischer Ernst war, daß es nicht aus einem Bedürfnisse dichterischer Gestaltung einer echten Emotion hervorging. Und eine noch viel schlimmere Verirrung als die abspringende, kaltblütige Beschreibung ist der Impressionismus in der Dichtung. In der Malerei hat er seine Berechtigung. Diese gibt Eindrücke des Gesichtssinnes wieder und der Maler bleibt

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Viertes Buch. Der Realismus.

innerhalb der Grenzen seiner Kunst, wenn er seine rein optischen Wahrnehmungen vorträgt, ohne zu komponiren, ohne eine Anekdote zu erzählen, das heißt ohne einen Gedanken in den wiedergegebenen Anblick hineinzutragen, ohne eine Thätigkeit seiner höchsten, gedankenbildenden, Zentren mit der Thätigkeit der Wahrnehmungszentren zu verknüpfen. Das nach dieser Methode entstehende Bild wird ästhetisch sehr tief stehen, aber es wird ein Bild sein, das sich vertheidigen läßt. Der dichterische Impressionismus dagegen ist ein vollständiges Verkennen des Wesens der Dichtkunst, ist deren Leugnung und Aufhebung. Das Mittel der Dichtkunst ist die Sprache. Diese aber ist eine Thätigkeit, nicht der Wahrnehmungs-, sondern der Begriffs- und Urtheils-Zentren. Die unmittelbare lautliche Gegenwirkung auf Sinneserregungen ist nur der Ausruf. Ohne die Mitarbeit der höchsten Zentren kann sich eine Wahrnehmung lautlich nur durch ein „Ah!“ oder „Oh!“ äußern. Sowie aber der rein emotionelle Thierschrei sich zur grammatikalisch gegliederten, verständigen Menschenrede erhebt, ist auch die rein sinnliche Wahr[] nehmung zum Begriff und Gedanken gesteigert | und es ist durch und durch psychologisch unwahr, die Außenwelt sprachlich so zu schildern, wie wenn sie blos eine Farben- oder Laut-Empfindung auslösen, aber keinerlei Vorstellungen, Gedanken und Urtheile mit erregen würde. Der dichterische Impressionismus ist ein Beispiel jenes Atavismus, den wir als eigenthümlichsten Zug im Geistesleben der Entarteten kennen gelernt haben. Er führt das menschliche Denken zu seinen thierischen Anfängen und die künstlerische Thätigkeit von ihrer heutigen hohen Differenzirung zu ihrem Keimzustande zurück, in welchem alle später auseinander strebenden Künste noch unentwickelt und ungeschieden nebeneinander lagen. Man würdige zum Beispiel diese impressionistischen Schilderungen der Goncourts: „Darüber lastete eine große Wolke, ein schwerer Dunst von dunkel veilchenblauer Farbe, ein Dunst des Nordens … Diese Wolke erhob sich und endete in scharfen Rissen mit einer Helligkeit, in welcher ein wenig Blaßgrün in Rosa erlosch. Dann kam wieder mattgeriebener zinnfarbener Himmel, von Lappen anderer grauer Wolken gefegt … Jenseits der etwas gewiegten Tannenwipfel, unter welchen man den großen Baumgang des Gartens nackt, entlaubt, geröthet, fast karminroth, bemerkte, … umspannte das Auge den ganzen Raum zwischen der Kuppel der Salpetrière und der Masse der Sternwarte: zuerst eine große wie hingewaschene Schattenfläche, Tusche auf rother Grundirung, eine Zone heißer und bituminöser Töne, verbrannt von den Ansengungen des Reifs und jener Winterhitzen, die man auf der Wasserfarben-Palette der Engländer antrifft; dann, in der unendlichen Feinheit eines herabgestimmten Farbentons, erhob sich ein weißlicher Abschnitt, ein milchiger und perlmutterner Qualm, durchlöchert einer Helle neuer [] Bauten u. s. w.“ „Feine Töne einer Greisen-Färbung spielten | auf dem gelblichen und bräunlichen Rosa seiner Gesichtshaut. Durch seine zarten, zerknitterten Ohren, von Fäserchen durchzogene Papierohren, erschien das durchschimmernde

 Edmond et Jules de Goncourt, Manette Salomon. Paris, . S. , , .

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Zola und die Zolaschulen.

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Licht rothgelb.“ „Die Luft, von Wasser gestreift, hatte eine Ueberwaschung mit jenem Blau-Violett, womit die Malerei die Durchsichtigkeit groben Glases nachahmt … Das erste lebhafte Lächeln des Grüns begann auf den schwarzen Zweigen der Bäume, wo man, wie Pinselhiebe, Frühlings-Hintupfungen zu sehen glaubte, welche leichte Anreibungen von grüner Asche hinterließen.“ Das ist das Verfahren des Impressionismus. Der Dichter thut, als wäre er ein Maler, er gibt vor, die Erscheinung nicht als Begriff zu erfassen, sondern als bloße Sinneserregung zu empfinden, er schreibt Farbennamen hin, wie der Künstler Farbenschichten auflegt, und bildet sich ein, er habe nunmehr dem Leser einen besonders starken Eindruck der Wirklichkeit gegeben; das ist aber eine kindische Selbsttäuschung, denn der Leser bekommt doch keine Farben, sondern nur Worte zu sehen, er muß sich die Farben-Namen wie jedes andere Wort in Vorstellung umsetzen und mit demselben Aufwande von Geistesthätigkeit würde er sich einen viel lebhaftern Eindruck verschaffen, wenn man ihm nicht die optischen Elemente der Erscheinung hinter einander schwerfällig aufzählen, sondern die Erscheinung zu einem Begriff fertig verarbeitet vorlegen würde. Zola hat diese Verdrehtheit den Goncourts richtig genug abgeguckt, aber erfunden hat er sie nicht. Eine andere Besonderheit Zolas soll die Beachtung und Wiedergabe des „milieu“, der menschlichen und sachlichen Umgebung der dargestellten Menschen, sein. Nach der Schwelgerei in nichtssagender Beschreibung und nach dem Impressionismus wirkt die Theorie des „milieu“ ungemein spaßhaft, denn sie ist das genaue Gegentheil der psychologischen Theorie, aus welcher Impressionismus und Beschreibungswuth hervorgehen. Der | Impressionist stellt sich der Erscheinung [] als bloßer Sinn, als Photo- oder Phonograph u. s. w., gegenüber. Er verzeichnet Nervenschwingungen. Er versagt sich jedes höhere Verständniß, die Verarbeitung der Wahrnehmungen zu Begriffen und die Einordnung der Begriffe in die Erfahrungen, die in seinem Bewußtsein als allgemeine Erkenntniß vorbestehen. Der Theoretiker des „milieu“ dagegen legt planmäßig das Hauptgewicht nicht auf die Erscheinung, sondern auf deren ursächlichen Zusammenhang, er ist kein Sinn, der wahrnimmt, sondern ein Philosoph, der nach einem System zu deuten und zu erklären versucht. Denn was heißt das, die Theorie des „milieu“? Das heißt, daß der Dichter die Behauptung aufstellt, die Eigenart und Handlungsweise des Menschen sei eine Folge der Einflüsse, welche seine lebendige und todte Umgebung auf ihn ausüben, und daß er sich bemüht, diese Einflüsse und die Art ihrer Wirkung auf den Menschen aufzudecken. Die Theorie selbst ist zwar richtig, aber wieder nicht von Zola erfunden, sondern so alt wie das philosophische Denken selbst. In unserer Zeit hat Taine sie klar gefaßt und begründet und lange vor Zola haben Balzac und Flaubert sie in ihren Romanen anzuwenden gesucht. Und doch ist diese Theorie, die in der Anthropologie und Soziologie höchst fruchtbar ist und den Anstoß zu werthvollen Forschungen gibt, in der Dichtkunst wieder nur eine Verirrung und aus unklarem Denken hervorgehende Verwechselung der Gattungen. Aufgabe des Mannes der Wissenschaft ist es, den Ursachen der Erscheinungen nachzu-

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Viertes Buch. Der Realismus.

gehen; manchmal findet er sie, häufig auch nicht; oft glaubt er sie entdeckt zu haben und genauere Beobachtung lehrt später, daß er sich geirrt hat und seine Annahmen berichtigen muß. Die Erforschung der Bedingungen, unter welchen der Mensch seine verschiedenen körperlichen und geistigen Eigenschaften erwirbt, ist in vollem Gange, aber sie steht erst an ihren Anfängen und hat noch überaus [] wenige ganz sichere Thatsachen | ergeben. Wir wissen nicht einmal, weshalb die eine Menschenrasse hochwüchsig, die andere klein, die eine blauäugig und blond, die andere dunkel an Haar und Auge ist, und das sind doch ungleich einfachere, äußerlichere, zugänglichere Eigenschaften als die feinen Besonderheiten des Geistes und Charakters. Ueber die Ursachen dieser Besonderheiten wissen wir nichts Bestimmtes. Wir können darüber Vermuthungen aufstellen, aber einstweilen haben selbst die einleuchtendsten von diesen noch die Beschaffenheit zwar wahrscheinlicher, aber unerwiesener Annahmen. Und nun will der Dichter auftreten, sich unfertiger wissenschaftlicher Hypothesen bemächtigen, sie mit eigenen phantastischen Einfällen ergänzen und lehren: „Seht ihr, dieser Mensch, den ich euch zeige, ist das geworden, was er ist, weil seine Eltern diese und jene Eigenschaften gehabt, weil er dort und dort gelebt, weil er als Kind diese und jene Eindrücke empfangen hat, weil er so genährt, so erzogen wurde, in solchen Umgang gerathen ist“ u. s. w.? Er thut da Etwas, was nicht seines Amtes ist. Statt künstlerischer Gestaltung versucht er, uns Wissenschaft zu geben, und er gibt uns falsche Wissenschaft, denn er hat von den Einflüssen, die den Menschen wirklich formen, keine Ahnung und was er aus dem „milieu“ als die Ursachen der Besonderheiten des Individuums heraushebt, das ist wahrscheinlich das unwesentlichste und jedenfalls nur ein verschwindend kleiner Theil von dem, was bei der Bildung der Persönlichkeit wirklich bestimmend war. Man erwäge doch, daß über die einzige Frage nach der Entstehung des Verbrechers in den letzten zwanzig Jahren Tausende von Büchern und Broschüren geschrieben worden sind, daß Hunderte von Medizinern, Juristen, Nationalökonomen und Philosophen ersten Ranges ihr die eingehendsten und anstrengendsten Untersuchungen gewidmet haben und daß wir noch weit entfernt sind, mit Sicherheit sagen zu können, welchen Antheil an der Bildung des Verbre[] chertypus die Vererbung, | die gesellschaftlichen Einflüsse, also das „milieu“ im engern Sinne, und unbekannte biologische Besonderheiten des Individuums haben. Und da kommt ein gänzlich unwissender einzelner Schriftsteller und entscheidet mit der herrscherhaften Unfehlbarkeit, die der Verfasser im Bereiche seines Dichtwerks für sich in Anspruch nimmt, eine Frage, welche die Gesammtarbeit eines ganzen Geschlechts berufener Forscher während eines Menschenalters nur um eine ganz kleine Strecke der Lösung näher gebracht hat! Das ist eine Tollkühnheit, die sich blos daraus erklärt, daß der Schriftsteller nicht die leiseste Vorstellung von der Schwierigkeit der Aufgabe hat, an die er sich so leichten Herzens begibt. Wenn trotzdem Balzac und Flaubert gerade mit der Theorie des „milieu“ vortreffliche Werke hervorgebracht zu haben scheinen, so ist dies eine Sehtäuschung.

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Zola und die Zolaschulen.

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Sie haben der Umgebung ihrer Personen (besonders Flaubert in „Madame Bovary“) große Aufmerksamkeit und eingehende Beschreibungen gewidmet und darum empfängt der flüchtige Leser den Eindruck, daß zwischen der Umgebung und dem Sein und Thun der Personen ein ursächliches Verhältniß nachgewiesen sei; denn es ist eine der ursprünglichsten und hartnäckigsten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Denkens, alle neben und nach einander auftretenden Erscheinungen mit einander ursächlich zu verknüpfen. Diese Eigenthümlichkeit ist eine der ergiebigsten Quellen fehlerhafter Schlüsse und sie kann nur durch aufmerksamste Beobachtung, oft nur mit Zuhilfenahme des Versuchs, überwunden werden. In den Romanen Balzacs und Flauberts, in denen das „milieu“ eine so große Rolle spielt, erklärt das „milieu“ thatsächlich nichts. Denn die Personen, die sich in demselben milieu bewegen, sind trotzdem gänzlich verschieden. Jede wirkt auf die Einflüsse des milieu in ihrer eigenen, besondern Weise zurück. Diese Eigenart muß also das Vorbestehende und kann nicht das Ergebniß des milieu sein. Dieses hat höchstens die Be-|deutung einer nächsten, unmittelbarsten Ursache irgend einer Handlung, [] die entfernteren Ursachen dieser Handlung aber liegen in der Eigenart der Persönlichkeit und über diese gibt uns das milieu, das der Dichter schildert, keinen wirklichen Aufschluß. Bei dem Anspruche Zolas und seiner Anhänger, daß seine Romane „Schnitte Leben“, „tranches de vie“ sind, braucht man nicht erst zu verweilen. Wir haben schon oben gesehen, daß Zola nicht entfernt im Stande ist, das wirkliche, ganze Leben in seine Romane einzutragen. Wie alle Dichter vor ihm, so trifft auch Zola eine Auswahl; er gibt von einer Million Gedanken seiner Personen einen; von zehntausend Verrichtungen und Handlungen eine; von den Jahren ihres Lebens Minuten oder gar nur Sekunden; seine angebliche „Schnitte Leben“ ist eine gedrängte, verschobene, nach bestimmten Absichten künstlich geordnete, äußerst lückenhafte Uebersicht über das Leben. Auch er wie alle anderen Dichter trifft seine Auswahl nach besonderen persönlichen Neigungen und der einzige Unterschied ist, daß diese Neigungen, die wir gleich kennen lernen werden, von denen anderer Dichter sehr verschieden sind. Zola nennt seine Romane „menschliche Urkunden“ und „ExperimentalRomane“. Ueber diese beiden Anmaßungen habe ich mich schon vor dreizehn Jahren so ausgesprochen, daß ich dem damals Gesagten auch heute nichts hinzuzufügen habe. Meint er, daß seine Romane ernste Urkunden sind, aus denen die Wissenschaft Thatsachen schöpfen kann? Welch eine Kinderei! Die Wissenschaft kann mit der Erdichtung nichts anfangen. Sie braucht keine erfundenen Menschen und Handlungen, und wenn sie noch so wahrscheinlich erfunden sind, sondern Menschen, die gelebt, und Handlungen, die stattgefunden haben. Der Roman behandelt die Geschicke Einzelner oder höchstens die von Familien, die Wissenschaft braucht Mittheilungen über die | Geschicke der Millionen. Polizeiberichte, [] Steuerlisten, Handelsausweise, Verbrecher- und Selbstmordstatistik, Angaben über Lebensmittelpreise, Löhne, durchschnittliche Lebensdauer der Menschen, das Ver-

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Viertes Buch. Der Realismus.

hältniß der Eheschließungen, der ehelichen und unehelichen Geburten, das sind „menschliche Urkunden“; aus ihnen erfahren wir, wie ein Volk lebt, ob es fortschreitet, ob es glücklich oder unglücklich, ob es rein oder verdorben ist; die Sittengeschichte legt die unterhaltlichen Romane Zolas geringschätzig bei Seite und greift zu den langweiligen statistischen Tafeln, wenn sie Thatsachen braucht. Und eine noch viel sonderbarere Schrulle ist sein „Experimental-Roman“. Das Wort würde beweisen, daß Zola keine Ahnung vom Wesen des wissenschaftlichen Versuches hat, wenn er es in gutem Glauben gebrauchen würde. Er meint, einen Versuch gemacht zu haben, wenn er nervenkranke Personen erdichtet, sie in erdichtete Verhältnisse stellt und erdichtete Handlungen vollführen läßt. Ein wissenschaftlicher Versuch ist eine an die Natur gerichtete verständige Frage, auf welche die Natur, nicht der Frager selbst, die Antwort geben soll. Fragen stellt Zola auch. Aber an wen? An die Natur? Nein; an seine eigene Einbildungskraft. Und diesen Antworten soll eine Beweiskraft innewohnen! Das Ergebniß des wissenschaftlichen Versuchs ist zwingend. Jeder Mensch, der im Besitze seiner Sinne ist, kann es wahrnehmen. Die Ergebnisse, zu denen Zola bei seinen angeblichen „Experimenten“ gelangt, sind objektiv nicht vorhanden; sie bestehen nur in seiner Einbildung; sie sind nicht Thatsachen, sondern Behauptungen, denen Jeder nach seinem Belieben glauben oder nicht glauben kann. Der Unterschied zwischen Versuchen und dem, was Zola mit diesem Worte bezeichnet, ist so groß, daß es mir schwer wird, die mißbräuchliche Verwendung des Ausdruckes auf bloße Unwissenheit oder Denkunfähigkeit zurückzuführen. Ich glaube vielmehr, daß es sich um bewußte, [] planmäßige Bauernfängerei handelt. Zolas Auftreten fällt in | eine Zeit, da in Frankreich noch nicht Mysticismus die Mode war. Damals waren beim schreibenden und schwatzenden Troß Positivismus und Naturwissenschaft die beliebten Schlagworte. Um sich bei dem Haufen zu empfehlen, mußte man vorschützen, Positivist und wissenschaftlich zu sein. Gewürzkrämer, Gastwirthe, kleine Erfinder u. s. w. haben immer und überall die Gewohnheit, ihre Geschäfte oder Erzeugnisse mit einem Namen zu versehen, der an eine herrschende Vorstellung des Publikums anknüpft. Heute empfiehlt sich ein Wirth oder Krämer durch eine Kneipe „zum Fortschritt“ oder durch einen Laden „zum Weltverkehr“ und ein Fabrikant preist seine Waaren als „elektrische Hosenträger“ oder „magnetische Tinte“ an. Wir haben gesehen, daß die Nietzscheaner ihre Richtung als eine „psycho-physiologische“ bezeichnen. Aehnlich gab lange vor ihnen Zola seinen Romanen das Reklame-Schild „zum naturwissenschaftlichen Versuche“. Aber mit Naturwissenschaft und Versuch haben seine Romane ebenso wenig etwas zu schaffen wie die Tinte meines Beispiels mit Magnetismus und die Hosenträger mit Elektrizität. Zola rühmt seine Arbeitsmethode. Alle seine Werke gehen aus der „Beobachtung“ hervor. Die Wahrheit ist, daß er nie „beobachtet“, daß er nie „ins volle Menschenleben hineingegriffen“ hat, sondern stets in der papierenen Welt eingesperrt geblieben ist und alle seine Stoffe aus dem eigenen Gemüthe, alle seine „realistischen“ Einzelheiten aus Zeitungen und kritiklos gelesenen Büchern geholt

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 hat. Ich möchte nur an einzelne Fälle erinnern, in welchen ihm seine Quelle nach-

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gewiesen worden ist. Alle Angaben über das Leben, die Sitten, die Gewohnheiten, die Sprache der Pariser Arbeiter im „Assommoir“ sind der Studie von Denis Poulot „Le sublime“ entlehnt. Das Abenteuer von „Une page d’amour“ ist den Denkwürdigkeiten von Casanova entnommen. Einzelne Züge, in welchen sich der Masochismus oder Passivismus des Grafen | Muffat von „Nana“ kundgibt, hat Zola in einer [] Anführung Taines aus Thomas Otways „Gerettetem Venedig“ gefunden. Die Entbindungsszene in „La joie de vivre“, die Schilderung der Messe in „La faute de l’Abbé Mouret“ u. s. w. sind wörtlich aus einem Lehrbuch der Geburtshilfe und einem Meßbuch ausgeschrieben. Man liest manchmal in den Zeitungen wichtigthuende Darstellungen der „Studien“, denen Zola obliegt, wenn er an einen neuen Roman geht. Diese „Studien“ bestehen darin, daß er dem Börsengebäude einen Besuch abstattet, wenn er über die Spekulation, daß er eine Fahrt auf einer Lokomotive unternimmt, wenn er über das Getriebe auf einer Bahnstrecke, daß er einmal einen Blick in ein zugängliches Schlafgemach wirft, wenn er über die Pariser Cocotten-Wirthschaft schreiben will. Eine solche „Beobachtung“ gleicht der eines Reisenden, welcher in einem Schnellzug durch ein Land fährt. Er kann einige Aeußerlichkeiten wahrnehmen, er kann sich einige Anblicke merken und sie später zu farbenreichen, wenn auch gänzlich unwahren, Beschreibungen verarbeiten, aber er erfährt Nichts von den wirklichen und wesentlichen Eigenthümlichkeiten des Landes und dem Leben und Treiben seiner Bewohner. Wie alle Entarteten ist auch Zola ein vollkommener Weltfremdling. Seine Augen sind nie auf Natur und Menschheit, sondern immer nur in sein eigenes Innere gerichtet. Er hat von Nichts eigene Kenntniß, sondern erwirbt Alles, was er von Welt und Leben weiß, aus zweiter und dritter Hand. Flaubert hat in „Bouvard und Pécuchet“ die Gestalten zweier Dummköpfe geschaffen, die mit nichtsahnender Harmlosigkeit an alle Künste, alle Wissenschaften herantreten und sie zu erwerben glauben, wenn sie das erstbeste Buch über den Gegenstand, das ihnen in die Hand fällt, durchblättern, richtiger mit glotzendem Thierauge überfliegen. Zola ist ein „Beobachter“ von der Gattung der Bou-|vards und Pécuchets und wenn man Flauberts nachgelasse- [] nen Roman liest, möchte man stellenweise beinahe glauben, daß er an Zola, oder doch auch an ihn, gedacht habe, als er die „Studien“ seiner Helden beschrieb. Ich glaube gezeigt zu haben, daß keine von den Eigenthümlichkeiten, die Zolas Methode ausmachen, sich bei ihm zuerst findet. Für alle hat er Vorbilder gehabt und manche von ihnen sind so alt wie die Welt. Der angebliche Realismus, die Beschreibungswuth, der Impressionismus, die Betonung des milieu, die menschliche Urkunde, die Schnitte Leben, sind ästhetische und psychologische Mißverständnisse, aber Zola hat nicht einmal das fragliche Verdienst, selbst auf sie verfallen zu sein. Das einzige, was er erfunden, ist das Wort „Naturalismus“, das er an die Stelle des bis dahin allein gebräuchlich gewesenen „Realismus“ gesetzt hat,

  Brunetière, a. a. O. S. .

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und das Wort „Experimental-Roman“, das gar nichts bedeutet, aber einen kleinen pikanten Beigeschmack von Naturwissenschaft besitzt, der zur Zeit von Zolas Auftreten von seinem Publikum als angenehme Würze empfunden wurde. Das einzig Wahre und Wirkliche, was Zolas Romane enthalten, sind die kleinen Züge, die er den Tagesneuigkeiten der Zeitungen und den Fachwerken nachgeschrieben hat. Aber auch sie werden unwahr durch die Kritiklosigkeit und den Ungeschmack, mit welchen er sie verwendet. Denn damit die der Wirklichkeit entnommene Einzelheit wahr bleibe, muß sie ihr richtiges Verhältniß zur Gesammterscheinung bewahren und das thut sie bei Zola nie. Wenn Zola, um nur zwei Beispiele anzuführen, in „Pot-Bouille“ alle Schändlichkeiten, die er im Laufe von dreißig Jahren aus Erzählungen seiner Bekannten, aus Gerichtsverhandlungen und Tagesneuigkeiten der Zeitungen über äußerlich ehrbar thuende Bürgerfamilien erfahren hat, innerhalb weniger Monate bei den Bewohnern eines einzigen Hauses [] in der Rue de Choiseul sich ereignen läßt oder wenn | er in „La Terre“ alles Böse, was jemals von französischen Bauern oder Landleuten überhaupt bekannt geworden ist, im Charakter und Leben einiger Insassen eines kleinen Dorfes der Beauce vereinigt, so mag er jede Einzelheit mit einem Zeitungsausschnitt oder einer Aufzeichnung belegen können, das Ganze ist doch ungeheuerlich und lächerlich unwahr. Der angebliche Neuerer, der bis dahin unbekannte Methoden des Aufbaus und der Darstellung im Gebiete des Romans erfunden haben soll, ist in Wirklichkeit ein Lehrling der französischen Romantiker, deren sämmtliche Handwerksgriffe er sich angeeignet hat und anwendet und deren Ueberlieferung er im schnurgeraden Gange des geschichtlichen Zusammenhanges ohne Unterbrechung oder Abweichung weiterführt. Am deutlichsten ist dies an den Beschreibungen nachzuweisen, welche zwar nicht die Welt, wohl aber die Anschauung widerspiegeln, die der Dichter von der Welt zu gewinnen vermag. Ich will zum Vergleiche einige bezeichnende Stellen aus Victor Hugos „Notre Dame de Paris“ und aus verschiedenen Romanen Zolas anführen, die dem Leser zeigen werden, daß man Beide, den angeblichen Erfinder des „Naturalismus“ und den äußersten Romantiker, einfach verwechseln kann. „Die Spritze behielt ihren regelmäßigen Athem und ihr Speien einer wundgeschundenen Metallkehle.“ „Der Besen wühlte mit einem gereizten Knurren in den Ecken.“ „Die Kyrie Eleison rieselten wie ein Schauder durch diese Art Stall.“ „Die Kanzel erhob sich einer Uhr mit Gewichten gegenüber, die in einen Nußholzschrank eingeschlossen war und deren dumpfe Schläge die ganze Kirche erschütterten, gleich den Schlägen eines ungeheuern Herzens, das irgendwo, unter den Fliesen, versteckt gewesen wäre.“ „Die Sonnenstrahlen zogen sich langsam vom Pflaster des Platzes zurück und kletterten die steile Schauseite empor, deren tausend Schnitzereien sie auf ihren Schatten hervorspringen machten, während [] die große Kreuzrose gleich einem Cyklopen-Auge | flammte, das von der Hitzestrahlung des Schmiedefeuers entzündet ist.“ „Als der Priester den Altar verließ, … blieb die Sonne allein der Herr der Kirche. Sie hatte sich auf das Altartuch gelegt, die

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Thür des Tabernakels mit leuchtendem Glanz entzündend, die Fruchtbarkeiten des Mai feiernd. Eine Wärme stieg von den Fliesen auf. Die gekalkten Wände, die große Jungfrau, der große Christus selbst, nahmen einen Schauer des Saftes“ (!) „an, wie wenn der Tod durch die ewige Jugend der Erde besiegt wäre.“ „In einer Spalte der Dachrinnen sandten zwei schöne Nelken in Blüthe, vom Hauche der Luft geschüttelt und wie belebt, einander übermüthige Grüße zu.“ „An einem Fenster reckte sich eine große Eberesche, streckte ihre Zweige durch die zerbrochenen Fensterscheiben, spreizte ihre Knospen, wie um ins Innere zu lugen.“ „Gegen Osten jagte der Morgenwind einige weiße Watteflocken über den Himmel, die er aus dem Nebelvließ der Hügel ausgerissen hatte.“ „Die geschlossenen Fenster schliefen. Einige, da und dort, die lebhaft beleuchtet waren, öffneten Augen und schienen gewisse Winkel schielen zu machen.“ „Schon wurde da und dort auf dieser ganzen Fläche von Dächern etwas Rauch ausgespieen, wie durch die Spalten einer ungeheuern Solfatare.“ „Eine elende Guillotine, verstohlen, unruhig, beschämt, die immer zu fürchten scheint, daß man sie bei frischer That ertappt, so schnell verschwindet sie, nachdem sie ihren Streich vollführt hat …“ „Die Blase, dumpf ohne eine Flamme, ohne eine Fröhlichkeit im erloschenen Widerschein ihres Kupfers, fuhr fort, ihren Alkohol-Schweiß rinnen zu lassen, gleich einer langsamen, eigensinnigen Quelle, die auf die Dauer den Saal überschwemmen, auf die Boulevards hinaustreten, das ungeheure Loch Paris überfluten soll.“ „Die Dampfmaschine ging ihren Schritt, ohne Ruh und Rast, und schien ihre Stimme zu erheben, bebend, schnaubend, den ungeheuern Saal erfüllend … Es war wie der Athem des Raumes, ein brennender Athem, | der unter den Balken der Decke den ewigen Dunst ansam- [] melte, welcher hier wogte.“ „An der Zollschranke dauerte das Herdengetrappel in der Kälte des Morgens fort … Diese Menge bewahrte von fern eine kalkige Verwaschenheit, einen Mittelton, in welchem entfärbtes Blau und schmutziges Grau vorherrschten. Manchmal blieb ein Arbeiter stehen, … während rings um ihn die Anderen immer weitergingen, ohne ein Lachen, ohne ein zu einem Kameraden gesagtes Wort, die Wangen fahl, das Antlitz Paris zugekehrt, das sie, einen nach dem andern, durch die mundaufsperrende Straße des Faubourg Poissonnière verschlang.“ „Und in dem Maße, wie er in die Straße tauchte, wimmelten Blinde, Lahme, Krüppel ohne Beine um ihn, auch Einarmige, auch Einäugige, und Aussätzige mit ihren Schwären, die einen aus den Häusern tretend, die anderen aus den kleinen Nebenstraßen, noch andere aus Kellerlöchern, heulend, blökend, kreischend, alle humpelnd, sich schleppend, dem Lichte zustürzend und sich im Schlamme wälzend wie Nacktschnecken nach dem Regen.“ „Der Platz bot … den Anblick eines Meeres, in welches fünf oder sechs Straßen, wie ebenso viele Flußmündungen, jeden Augenblick neue Güsse von Köpfen spieen … Die große Treppe, an der unaufhörlich eine doppelte Strömung hinauf und herab stieg, … rieselte ununterbrochen auf den Platz wie ein Wasserfall in einen See.“ „In der unruhigen Helligkeit der Flamme schienen sie sich zu bewegen. Es waren da Masken, die so aussahen, wie wenn sie lachten, Wasserspeier, die man kläffen zu hören glaubte,

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Salamander, die ins Feuer bliesen, Lindwürmer, die in den Qualm niesten.“ „Es waren nicht mehr die kalten Schaufenster vom Morgen. Jetzt schienen sie wie erhitzt und bebend vom innern Schütteln. Leute betrachteten sie, stillstehende Frauen erdrückten einander vor den Spiegelscheiben, eine ganze Menschenmenge, von Gier verthiert. Und die Stoffe lebten in dieser Leidenschaft der Straße: die [] Spitzen | hatten einen Schauder, sie flossen nieder und verhüllten die Tiefen des Ladens mit einem verwirrenden Anschein von Geheimniß.“ Es wäre ein Leichtes, diese Nebeneinanderstellungen über Hunderte von Seiten auszudehnen. Ich habe mir den kleinen Scherz erlaubt, den angeführten Stellen den Namen des Verfassers nicht beizufügen. Aus der Natur des beschriebenen Gegenstandes wird der besonders aufmerksame Leser vielleicht bei der einen oder andern Stelle errathen haben, ob sie von Hugo oder Zola ist; ich habe es ihm dadurch erleichtern wollen, daß ich die Anführungen aus Victor Hugo blos aus „Notre Dame“ zog; bei den meisten aber wird er sicher nicht wissen, wem er sie zuschreiben soll, so lange ich ihm nicht gesagt habe, daß das ., ., ., ., ., ., . und . Beispiel von Victor Hugo, alle anderen von Zola sind. Zola ist eben durch und durch Romantiker in seinem Verhalten zur Welterscheinung und in seiner Kunstmethode. Er übt beständig in ausgedehntester und intensivster Weise jenen atavistischen Anthropomorphismus und Symbolismus, der eine Folge unentwickelten oder mystisch verworrenen Denkens ist und sich bei Wilden als natürliche, bei Entarteten aller Kategorien als Rückschlags-Form der Geistesthätigkeit findet. Wie Hugo, wie die Romantiker zweiten Ranges, sieht Zola jede Erscheinung ungeheuerlich vergrößert, geheimnißvoll drohend, unheimlich verzerrt. Sie wird ihm wie dem Wilden zum Fetisch, dem er böse, feindselige Absichten zuschreibt. Maschinen sind grause Unthiere, die Vernichtung träumen; Straßen von Paris öffnen Molochsrachen, um Menschenmengen zu verschlingen; ein Modemagazin ist ein angsterregendes, übernatürlich gewaltiges Wesen, das keucht, anzieht, erdrückt u. s. w. Die Kritik hat es, ohne Verständniß für die psychiatrische Bedeutung dieses Zuges, schon lange hervorgehoben, daß in jedem Romane von Zola irgend eine Erscheinung wie eine Zwangsvorstellung herrscht, den Mittel[] punkt des Werkes bildet und | als ein grausiges Symbol in das Leben und Thun aller Personen hineindroht; so im „Assommoir“ der Destillir-Apparat, in „PotBouille“ die „feierliche Treppe“, in „Au bonheur des dames“ der Modebazar, in „Nana“ sogar die Titelheldin selbst, die nicht eine gewöhnliche Dirne ist, sondern „ein Riesen-Ungeheuer mit lastergeschwollener Kruppe, eine fürchterliche VolksVenus, ebenso viehisch dumm wie roh schamlos, eine Art Hindu-Götzen, der blos seine Hülle fallen zu lassen braucht, um Greise und Gymnasiasten festzubannen, und der zeitweise selbst fühlt, wie er Paris und die Welt beherrscht.“ Diesen Symbolismus haben wir bei allen Entarteten, außer bei den eigentlichen Symbolisten und den anderen Mystikern auch bei den Diabolikern und namentlich bei Ibsen,

 Brunetière, a. a. O. S. .

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angetroffen. Er fehlt niemals im Zweifel- oder Verneinungs-Wahnsinn. Der angebliche „Realist“ sieht ebenso wenig wie ein abergläubisch verschüchterter Wilder und wie ein an Sinnestäuschungen leidender Gestörter die nüchterne Wirklichkeit. Er trägt seine Stimmungen in sie hinein. Er ordnet die Erscheinungen willkürlich an, so daß sie eine ihn beherrschende Vorstellung auszudrücken scheinen. Er dichtet den todten Gegenständen märchenhaftes Leben an und gestaltet sie in ebenso viele Kobolde mit Empfindung, Willen, Tücken und Gedanken um, aus den Menschen aber macht er Automaten, durch die irgend eine geheimnißvolle Gewalt, ein Schicksal im antiken Sinne, eine Naturkraft, ein Zerstörungsprinzip, sich kundgibt. Seine endlosen Beschreibungen beschreiben nichts als sein Inneres. Man gewinnt aus ihnen nie ein Bild der Wirklichkeit, denn das Weltbild ist für ihn wie ein frisch gefirnißtes Oelgemälde, dem man bei ungünstiger | Beleuchtung zu nahe steht [] und in dem man nichts unterscheiden kann als eine Widerspiegelung des eigenen Gesichts. Zola nennt seine Roman-Reihe „Natur- und Gesellschafts-Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich“ und sucht damit die doppelte Vorstellung zu erwecken, daß die Rougon-Macquarts eine typische Durchschnitts-Familie des französischen Bürgerstandes sind und daß ihre Geschichte das allgemeine Gesellschafts-Leben Frankreichs zur Zeit Napoleons III. darstellt. Er erhebt es ja ausdrücklich zum Kunstgrundsatze, daß der Romandichter blos beobachtetes AlltagsLeben erzählen soll. Ich selbst habe mich vor dreizehn Jahren von seiner Flunkerei irreführen lassen und seine Romane gläubig als sittengeschichtliche Beiträge zur Kenntniß französischen Lebens hingenommen. Ich weiß das heute besser. Die Familie, deren Geschichte Zola in zwanzig mächtigen Bänden vorträgt, steht gänzlich außerhalb des normalen Alltags-Lebens und sie hat gar keine nothwendige Beziehung zu Frankreich und zum zweiten Kaiserreich. Sie könnte ebenso gut in Patogonien und zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gelebt haben. Er, der sich über die „Idealisten“ als die „Dichter des Ausnahmsweisen, des nie Erlebten“ lustig macht, hat zum Inhalt seines Lebenswerkes das Allerausnahmsweiseste erwählt, was es überhaupt gibt: eine Gruppe von Entarteten, von Wahnsinnigen, Verbrechern, Prostituirten und „Mattoiden“, die durch ihre krankhafte Beschaffenheit außerhalb der Art gestellt sind, die nicht zur regelmäßigen Gesellschaft gehören, sondern von ihr | ausgeschieden werden und mit ihr im Kampfe liegen, die gänzlich [] fremd in ihre Zeit und in ihr Land hineinragen und ihrem Wesen nach Mitglieder

  „Alles ist Geheimniß. Alles ist Schein. Nichts besteht wirklich.“ Worte einer an VerneinungsWahnsinn leidenden Kranken Arnauds. Siehe F. L. Arnaud, Sur le délire des négations. Annales médico-psychologiques, ème Série, Tome , S.  ff.  „Ich möchte die Menschheit auf ein weißes Blatt legen, alle Dinge, alle Wesen, ein Werk, das die ungeheure Arche wäre.“ Zola, Vorrede zur Ausgabe von  der „Faute de l’Abbé Mouret.“  „Werft euch in den banalen Gang des Daseins.“ „Wählt als Helden eine Dutzendpersönlichkeit in der Einfachheit ihres Alltagslebens.“ „Keine hohlen Apotheosen, keine großen falschen Gefühle, fertigen Formeln“ u. s. w. Zola, Le roman expérimental, passim.

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nicht irgend eines gesitteten Volkes der Gegenwart, sondern einer Horde wilder Urmenschen in entlegenen Jahrtausenden sind. Zola behauptet, beobachtetes Leben und selbstgesehene Menschen zu schildern. Er hat thatsächlich nichts gesehen und nichts beobachtet, sondern den Gedanken seines Lebenswerkes, alle Einzelheiten seines Planes, alle Gestalten seiner zwanzig Romane aus einer einzigen papierenen Quelle geschöpft, die bezeichnender Weise allen seinen bisherigen Kritikern unbekannt geblieben ist, weil eben keiner von diesen auch nur die geringste Kenntniß des psychiatrischen Schriftthums besitzt. Es gibt in Frankreich eine Familie namens Kerangal, die aus St. Brieuc in der Bretagne stammt und deren Geschichte seit sechzig Jahren die Jahrbücher der Straf-Rechtspflege und Irrenheilkunde füllt. In zwei Geschlechtsfolgen hat sie bisher, soweit es den Behörden bekannt geworden ist, sieben Mörder und Mörderinen, neun Personen, die einen unsittlichen Lebenswandel führten (eine Freudenhaus-Wirthin, eine Dirne, die zugleich Brandstifterin war, Blutschande trieb und wegen auf offener Straße geübter Unzucht verurtheilt wurde u. s. w.) und zwischendurch einen Maler, einen Dichter, einen Baumeister, eine Schauspielerin, mehrere Blinde und einen Tonsetzer hervorgebracht. Die Geschichte dieser Familie Kerangal hat Zola den Stoff zu sei[] nen sämmtlichen Romanen geliefert. Was ihm das Leben, das er wirklich | kennt, nie geboten hätte, das fand er in den polizeilichen und ärztlichen Berichten über die Kerangals fertig vor: eine üppige Auswahl der abscheulichsten Verbrechen, der ausgefallensten Abenteuer, der tollsten und ausschweifendsten Lebensläufe, durchsetzt mit Kunstneigungen, die das Ganze besonders pikant machen. Wenn irgend ein Hintertreppenroman-Schneider das Glück gehabt hätte, diesen Fund zu machen, so hätte er den Stoff wahrscheinlich pfuscherhaft vergeudet. Zola, mit seiner großen Kraft und düstern Emotivität, hat ihn äußerst wirksam zu verwerthen gewußt. Aber das Gebiet, das er behandelt, ist dennoch das des KolportageRomans, das heißt einer verkommenen Romantik, die ihre Träume nicht, wie die blühende Romantik, in Paläste, sondern in die Spelunken, Gefängnisse und Irrenhäuser verlegt und sich von der Mittelschicht gesunden Lebens ebenso weit entfernt wie diese, nur in entgegengesetzter Richtung, in die Tiefe statt in die Höhe. Aber wenn Zola weit begabter ist als die Verfasser der „Rinaldo Rinaldinis“, der „blutigen Nonnen um Mitternacht“, der „Scharfrichter vom Schreckenstein“ u. s. w., so ist er auch weit unehrlicher als sie. Denn sie räumen wenigstens ein, daß sie höchst wunderbare und einzige Greuel erzählen, während er seine zusammengelesene Verbrecher- und Irren-Chronik für die aus der Beobachtung des Alltagslebens abgeleitete normale Naturgeschichte der französischen Gesellschaft ausgibt.  Die Familie Kerangal ist Gegenstand vieler Arbeiten gewesen und im Fachschriftthum wohlbekannt. Das letzte, was über sie veröffentlicht wurde, ist: Dr. Paul Aubry, Une famille de criminels. Annales médico-psychologiques, Serie , Band , S. . Siehe namentlich S. — den merkwürdigen Stammbaum der Familie, in welchem man sofort den berühmten Stammbaum von Zolas Rougon-Macquarts und Quenu-Gradelles wiedererkennt.

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Durch die Wahl seines Stoffes im Gebiete des Außerordentlichsten und Ausnahmsweisesten, durch den kindlichen oder verrückten Symbolismus und Anthropomorphismus seiner im höchsten Grade unwirklichen Weltbetrachtung stellt sich also der „Realist“ Zola als unmittelbare, geradlinige Fortsetzung der Romantiker dar; seine Werke unterscheiden sich von denen seiner schriftstellerischen Vorfahren blos durch zwei Eigenschaften, die Brunetière gut erkannt hat: durch „Pessimismus und ab-|sichtliche Gemeinheit.“ Diese Eigenthümlichkeiten Zolas geben [] uns auch endlich ein kennzeichnendes Merkmal des sogenannten Realismus oder Naturalismus an die Hand, das wir durch psychologische, ästhetische und literaturgeschichtliche Untersuchung vergebens zu entdecken bemüht waren: der Naturalismus, der mit Natur und Wirklichkeit gar nichts zu schaffen hat, ist Alles in Allem absichtliche Pflege der Schwarzseherei und Unflätigkeit. Der Pessimismus als Philosophie ist ein letzter Rest des urmenschlichen Aberglaubens, welcher den Menschen als Mittelpunkt und Zweck des Weltalls ansah. Er ist eine der philosophischen Formen der Ichsucht. Alle Einwendungen der pessimistischen Philosophen gegen Natur und Leben haben nur einen Sinn, wenn ihre Voraussetzung das Königsrecht des Menschen im Kosmos ist. Wenn der Philosoph sagt: die Natur ist unvernünftig, die Natur ist unsittlich, die Natur ist grausam, was heißt das Anderes als: ich verstehe die Natur nicht und sie ist doch nur dazu da, daß ich sie verstehe; die Natur berücksichtigt nicht meinen Nutzen allein und sie hat doch keine andere Aufgabe, als mir nützlich zu sein; die Natur gewährt mir nur ein kurzes, oft von Schmerzen heimgesuchtes Dasein und es ist doch ihre Schuldigkeit, für die Ewigkeit meines Lebens und beständige Freuden zu sorgen? Wenn Oscar Wilde sich ärgert, daß die Natur zwischen ihm und dem grasenden Rinde keinen Unterschied macht, so lächeln wir über diese Kinderei. Aber haben denn die Schopenhauer, Hartmann, Mainländer, Bahnsen etwas Anderes gethan, als die naive Selbstüberhebung Wildes mit bitterm Ernst zu dicken Büchern aufzublasen? Der philosophische Pessimismus hat die geozentrische Weltanschauung zum Postulat. Er steht und fällt mit der ptolemäischen Lehre. So wie wir uns auf den Standpunkt Koperniks stellen, verlieren wir das Recht, aber auch die Neigung, die Natur mit dem Maße unserer Logik, unserer Moral und unseres | eigenen Vor- [] theils zu messen, und es hat keine Bedeutung mehr, sie unvernünftig, unsittlich oder grausam zu nennen. Die Wahrheit ist ja aber auch, daß der Pessimismus keine Philosophie, sondern ein Temperament ist. „Die organischen Empfindungen“, sagt James Sully, „die aus dem jeweiligen Zustande der Verdauungs-, Athmungs-Organe u. s. w. hervorgehen, scheinen, wie Professor Ferrier kürzlich gezeigt hat, die Unterlage unseres

 Brunetière, a. a. O. S. III.  James Sully, Le pessimisme (histoire et critique). Traduit de l’Anglais par MM. Alexis Bertrand et Paul Gérard. Paris. . S. . Siehe aber auch S. , –,  u. s. w. dieses vortrefflichen  und wahrhaft endgiltigen Buches, das merkwürdigerweise in Deutschland unbekannt geblieben zu sein scheint.

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emotionellen Lebens zu sein. Sind diese Organe gesund und ihre Verrichtungen kräftig, so ist ihr seelisches Ergebniß eine Grundmenge Vergnügen. Ist die Beschaffenheit der Organe ungesund und ihre Thätigkeit schwach oder gehemmt, so ist ihr seelisches Ergebniß eine entsprechende Menge unangenehmer Gefühle.“ Der  Pessimismus ist immer die Form, in welcher Krankheitszustände, in allererster Reihe Nerven-Erschöpfung, dem Kranken zum Bewußtsein kommen, „Taedium vitae“ oder Lebensüberdruß ist ein frühes Vorzeichen des Wahnsinns und begleitet stets die Neurasthenie und Hysterie. Es leuchtet ein, daß ein Zeitalter, das an allgemeiner organischer Ermüdung leidet, nothwendig ein pessimistisches Zeitalter sein  muß. Wir kennen auch die ständige Gewohnheit des Bewußtseins, zu emotionellen Zuständen, von denen es Kenntniß erlangt, aus dem Vorrathe seiner Vorstellungen und nach den Regeln seiner formalen Logik nachträglich einleuchtend scheinende Begründungen hinzuzuerfinden. So entsteht zur pessimistischen Stimmung, die eine Folge der organischen Ermüdung und das Vorbestehende ist, die pessimisti-  sche Philosophie als Hinzudichtung des deutenden Bewußtseins. Der Zustand hat in Deutschland, der spekulativen Neigung und hohen Geistesbildung des deut[] schen | Volkes entsprechend, seine Aeußerung in philosophischen Systemen gesucht. In Frankreich hat er, bei dem vorwiegend ästhetischen Zuge der französischen Volksseele, künstlerische Form angenommen. Zola und sein Naturalismus  sind der französische Gegenwerth unseres Schopenhauer und seines philosophischen Pessimismus. Es entspricht Allem, was wir von den Gesetzen des Denkens wissen, daß der Naturalismus in der Welt blos Rohheit, Niedertracht, Häßlichkeit und Verderbniß sieht. Die Ideen-Assoziation wird bekanntlich von der Emotion stark beeinflußt. Ein Zola, der von vornherein mit unangenehmen organischen  Empfindungen erfüllt ist, nimmt in der Welt blos die Erscheinungen wahr, die mit seiner organischen Grundstimmung zusammenklingen, und die ihr widersprechenden oder von ihr abweichenden bemerkt oder beachtet er gar nicht. Und von den gesellten Vorstellungen, die jede Wahrnehmung in ihm erweckt, behält das Bewußtsein ebenfalls nur die unangenehmen, die zur widerwärtigen Grundstim-  mung passen, und unterdrückt die anderen. Zolas Romane beweisen nicht, daß es in der Welt schlimm bestellt sei, wohl aber, daß Zolas Nervensystem krank ist. Auch seine Vorliebe für das Gemeine ist eine wohlbekannte Krankheitserscheinung. „Die Schwachsinnigen“, sagt Sollier, „lieben es, Unflätigkeiten zu sagen … Das ist eine besondere Neigung, die namentlich bei Entarteten beobachtet wird;  sie ist ihnen so natürlich, wie es bei Geistesgesunden der gute Ton ist.“ Gilles de la Tourette hat den Namen Koprolalie (Mist-Rede) für das zwangsweise Herausplatzen von Flüchen und schmutzigen Redensarten gebildet, das eine von Catrou erschöpfend dargestellte Krankheit, von ihm „Krankheit der krampfhaften Zwangs[] bewegungen“ genannt, kennzeichnet. Zola ist in | sehr hohem Grade mit Koprolalie 

 Dr. Paul Sollier, Psychologie de l’idiot et l’imbécile. Paris, . S. .  Catrou, Etude sur la maladie des tics convulsifs. (Jumping, Latah, Myriachit). Paris, .

Zola und die Zolaschulen.

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behaftet. Es ist ihm ein Bedürfniß, schmutzige Ausdrücke zu gebrauchen, und sein Bewußtsein ist fortwährend von Vorstellungen verfolgt, welche sich auf Koth, Unterleibs-Verrichtungen und was mit ihnen zusammenhängt beziehen. Andreas Verga hat vor Jahren eine Form der Onomatomanie oder des Wort-Wahnsinns beschrieben, die er „mania blasphematoria“ oder Fluch-Wahnsinn nennt. Sie äußert sich darin, daß der Kranke den unwiderstehlichen Drang empfindet, Flüche oder Gotteslästerungen auszusprechen. Auf Zola paßt Vergas Diagnose vollständig. Es ist nur als mania blasphematoria zu deuten, daß er in „La Terre“ einem Kerl, der an Winden leidet, ohne jede künstlerische Nothwendigkeit, ohne damit eine ästhetische Wirkung, sei es der Heiterkeit, sei es der Lokalfarbe, zu beabsichtigen, den Spitznamen Jesus Christus beilegt. Endlich hat er eine auffallende Vorliebe für Rothwälsch, für die Berufssprache der Diebe, Zuhälter u. s. w., die er nicht etwa blos anwendet, wenn er Personen der bezeichneten Art sprechend vorführt, sondern deren er selbst sich bedient, wenn er, der Dichter, zu Schilderungen oder Betrachtungen das Wort nimmt. Diese Neigung zum „Argot“ ist von Lombroso ausdrücklich als ein Entartungs-Merkmal des Verbrechers von Geburt verzeichnet. Die Verworrenheit seines Denkens, die sich in seinen theoretischen Schriften, in seiner Erfindung des Wortes „Naturalismus“, in seinen Vorstellungen vom „Experimental-Roman“ kundgibt, seine triebhafte Hinneigung zur Darstellung von Wahnsinnigen, Verbrechern, Prostituirten und Halbnarren, | sein Anthropomor- [] phismus und Symbolismus, sein Pessimismus, seine Koprolalie und seine Vorliebe für Rothwälsch kennzeichnen Zola hinreichend als höhern Entarteten. Er weist aber außerdem noch einige besonders charakteristische Stigmate auf, welche die Diagnose vollends sicherstellen. Daß er ein Sexual-Psychopath ist, veräth sich auf jeder Seite seiner Romane. Er schwelgt fortwährend in Vorstellungen aus dem Bereiche der niedrigsten Geschlechtlichkeit und flicht sie, ohne die Hineinzerrung irgendwie künstlerisch be-

  Lombroso, L’Uomo delinquente u. s. w. S.  ff.  Richtig sind seine Darstellungen von Verbrechern mit Zwangsantrieb freilich nicht. Laien haben seine Schilderung des Mörders Lantier in „La bête humaine“ sehr bewundert. Der berufenste Beurtheiler jedoch, Lombroso, sagt über diese Gestalt, zu der Zola nach seiner eigenen Erklärung die Anregung im „Uomo delinquente“ gefunden hat: „Zola hat … meiner Ueberzeugung  nach Verbrecher im Leben nicht beobachtet … Seine Verbrechergestalten machen mir den Eindruck des Blassen und Verzeichneten gewisser Lichtbilder, die Porträts nicht nach dem Leben, sondern nach Oelgemälden wiedergeben.“ Le più recenti scoperte u. s. w. Turin , S. .  Dafür, daß Zolas vita sexualis anormal ist, liegen auch andere Zeugnisse als seine Romane vor. Ich habe nicht das Recht, über persönliche Gebrechen eines Lebenden Etwas zu sagen, was  nicht in öffentlichen Druckschriften aller Welt zugänglich ist, ich möchte also nur diese Stelle aus dem „Journal des Goncourt“ anführen, die unter dem . Januar  verzeichnet ist: „Zola ist ganz glücklich, geht ganz auf bei der ausgezeichneten Küche und als ich ihm sage: Zola, sind Sie etwa ein Fresser? — antwortet er: Ja. Es ist mein einziges Laster. Wenn es bei mir zu Hause nicht etwas Gutes zu essen gibt, bin ich unglücklich, ganz unglücklich. Ich habe nur das — das  Andere, das ist für mich nicht vorhanden! Ah! Sie wissen nicht, was ich für ein Leben führe.“ Als Zola nach Goncourts Zeugniß so sprach, war er genau  Jahre alt!

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gründen zu können, in alle Vorgänge seiner Romane. Bilder von Unzucht wider die Natur, Bestialität, Passivismus und sonstigen Verirrungen bevölkern sein Bewußtsein und er begnügt sich nicht damit, bei den betreffenden Handlungen von Menschen lüstelnd zu verweilen, er führt sogar sich paarende Thiere vor (s. das Anfangs-Kapitel von „La Terre“). Besondere Erregung verschafft ihm der Anblick von Frauenwäsche, von der er nie sprechen kann, ohne durch die emotio[] nelle | Färbung seiner Schilderungen zu verrathen, daß die betreffenden Vorstellungen bei ihm wollüstig betont sind. Man würdige etwa folgende Stellen, die leicht vervielfältigt werden können: „Die Spitzen und Wäschestücke, entfaltet, zerknittert, aufs Gerathewohl hingeworfen, machten an ein Volk von Weibern denken, die sich hier in der Unordnung einer plötzlichen Begierde ausgezogen hätten.“ „Alles Weißzeug war herausgeholt und es war hier eine Schwelgerei von Weiß, genug, um eine Truppe frierender Liebesgötter weißzukleiden.“ „Es stand da ein Heer von Gliederpuppen ohne Kopf und Beine, nur Rümpfe an einander gereiht, unter der Seide abgeflachte Puppenbusen von der außer Fassung bringenden Schlüpfrigkeit einer Verkrüppelten (!!); und nahe bei, auf anderen Stöcken, schwellten Pferdehaar- und Glanzstoff-Tournüren diese Besenstiele zu ungeheuern und prall gespannten Kruppen an, deren Umrißlinie eine Spottbild-Unanständigkeit annahm … Da lagen Kamisole, kleine Mieder, Morgenkleider, Schlafröcke, Leinen, Nansuck, Spitzen, lange Gewänder, weiß, frei, dünn, wo man das Sichrängern träger Vormittage, am Morgen nach Nächten der Zärtlichkeit, fühlte … Bei den BrautAusstattungen war es ein unschickliches Auskramen, das aufgedeckte und von unten betrachtete Weib, von der Kleinbürgerin mit schlichtem Linnen bis zur reichen Dame, die in Spitzen gehüllt ist, ein Allen geöffnetes Schlafzimmer, dessen geheime Ueppigkeit, Fältelungen, Stickereien, Spitzen gleichsam zu einer sinnlichen Verderbniß wurden“. Diese Wirkung weiblicher Wäsche auf Entartete, welche mit Sexual-Psychopathie behaftet sind, ist in der Irrenheilkunde wohlbekannt und von Krafft-Ebing, Lombroso und Anderen oft beschrieben worden. | [] Mit seiner Sexual-Psychopathie hängt auch die Rolle zusammen, welche die Geruchs-Empfindungen bei ihm spielen. Das Vorwiegen des Geruchs-Sinnes und dessen Beziehung zum Geschlechtsleben fällt bei vielen Entarteten auf. Düfte gewinnen auch in ihren Werken eine hervorragende Bedeutung. Tolstoi läßt (in

 Zola, Au bonheur des dames. Paris, . S. , , —.  Dr. R. v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis u. s. w. Dritte Auflage. Stuttgart, . Beobachtung , Zippes Fall, S. ; Beobachtung , Passows Fall, S. ; Fußnote zu S. , Lombrosos Fall. In allen drei Beobachtungen suchten die Kranken sich den Anblick und die Berührung von Frauenwäsche zu verschaffen, um sich sinnlich zu erregen. Cesare Lombroso, Le più recenti scoperte ed applicazioni della psichiatria ed antropologia criminale. Con  travole e  figure nel testo. Turin, . S. : „Er hatte immer wollüstige Empfindungen, wenn er Thiere schlachten oder in den Läden Weiber-Unterzeug und Wäsche sah.“ Der Fall, von dem Lombroso hier spricht, ist der eines fünfzehnjährigen Entarteten, den Dr. MacDonald, von der Clark University, beobachtet hat.

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„Krieg und Frieden“) den Grafen Pierre plötzlich den Entschluß fassen, die Prinzes sin Helene zu heiraten, als er auf dem Ball ihren Duft riecht. In der Erzählung

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„Die Kosaken“ spricht er nie vom Onkel Jeroschka, ohne seines Geruches zu gedenken. Wir haben in den früheren Kapiteln gesehen, mit welcher Vorliebe die Diaboliker und Decadenten, Baudelaire, | Huysmans u. s. w., bei Düften, und zwar bei [] übeln Düften, verweilen. Barrès läßt (im „Ennemi des lois“) seine kleine Prinzessin sagen: „,Ich gehe jeden Morgen in den Stall — oh, dieser warme und angenehme kleine Stallgeruch‘ — und sie schnüffelte mit einem reizenden (!) Ausdruck von Sinnlichkeit.“ Goncourt beschreibt (in „La Faustin“), wie die Schauspielerin ihren Lord Annandale zu ihrem Busen riechen läßt: „Riechen Sie; was riechen Sie? sagte sie zu Lord Annandale. — Nun, die Nelke, erwiderte er und genoß sie mit seinen Lippen. — Was noch? — Ihre Haut.“ A. Binet bemerkt, „daß es die Düfte des menschlichen Leibes sind, welche die verantwortlichen Ursachen einer gewissen Anzahl von Ehen waren, die gebildete Männer mit untergeordneten Frauen, ihren Dienstboten, geschlossen haben. Für gewisse Männer ist das Wesentliche an der Frau nicht deren Schönheit, Geist, Charaktergröße, sondern ihr Duft. Das Verlangen nach dem geliebten Duft bestimmt sie, einer alten, häßlichen, lasterhaften, erniedrigten Frau nachzulaufen. Bis zu dieser Höhe gesteigert wird das Wohlgefallen am Duft zu einer Liebeskrankheit.“ Zu einer Krankheit, füge ich hinzu, an der blos Entartete leiden. Die Beispiele, die Binet im Laufe seiner Arbeit anführt und die man dort nachlesen mag, da ich keine Lust habe, sie hier wiederzugeben, beweisen dies zur Genüge und Krafft-Ebing, wenn er auch „die nahen Beziehungen zwischen Geschlechtssinn und Geruchssinn“ betont, stellt doch ausdrücklich fest: „Jedenfalls spielen in physiologischer Breite“ (das heißt innerhalb der Grenzen des gesunden Lebens) „… Geruchswahrneh- | mungen eine sehr untergeordnete [] Rolle“. Auch abgesehen von seiner geschlechtlichen Bedeutung ist die Entwickelung des Geruchssinns bei Entarteten, nicht nur höheren, sondern selbst solchen tiefststehender Art, vielen Beobachtern aufgefallen. So spricht Séguin von „Idio-

 Leo N. Tolstoj, Krieg und Frieden. Berlin, . Erster Theil. S. : „Er fühlte die Wärme ihres Körpers, athmete den Duft des Parfüms … Und in diesem Moment fühlte Pierre, daß Helene nicht nur seine Frau werden konnte, sondern daß sie es werden mußte, daß es nicht anders möglich  war.“ Heinrich III. von Frankreich soll Maria von Cleve geheiratet haben, weil er sich bei der Hochzeit des Königs von Navarra mit Magarethe von Valois mit ihrem schweißdurchnäßten Hemd das Gesicht abwischen wollte und von dem dabei eingeathmeten Dufte so trunken wurde, daß er nicht ruhte, bis er dessen Urheberin heimgeführt hatte. S. Krafft-Ebing, Psychop. sex. u. s. w., S. .  Tolstoj, Gesammelte Werke, II. Band, Berlin, . S. : „Zugleich mit ihm war in die Stube  ein kräftiger, aber nicht unangenehmer Geruch gedrungen“ u. s. w.  M. Barrès, L’ennemi des lois. Paris, . S. .  Edmond de Goncourt, La Faustin. Paris, . S. .  Alfred Binet, Le fétichisme dans l’amour u. s. w. Paris, . S. . An den „Seelenriecher“ G. Jäger wird der deutsche Leser an dieser Stelle von selbst denken, ich brauche ihn also nicht  erst anzuführen.  Dr. R. v. Krafft-Ebing, Psychop. sex. u. s. w., S. , Fußnote, und S. .  E. Séguin, Traitement moral, hygiène et éducation des idiots. Paris, .

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ten, die durch die bloße Witterung, ohne Mitwirkung des Gesichtssinnes, Holzund Steinarten unterschieden, jedoch durch den Geruch und Geschmack von Menschenkoth nicht unangenehm berührt wurden und deren Tastsinn stumpf und ungleich war“. Zolas Fall gehört in diese Reihe. Er zeigt zugleich ein krankhaftes Vorwiegen von Geruchsempfindungen in seinem Bewußtsein und eine Verirrung des Geruchssinns, die ihm die übelsten Düfte, namentlich die aller menschlichen Ausscheidungen, besonders angenehm und sinnlich aufregend erscheinen läßt. Ein Gymnasiallehrer von Montpellier, Léopold Bernard, hat sich der Mühe unterzogen, in einer sehr fleißigen, merkwürdigerweise fast unbekannt gebliebenen Arbeit alle Stellen in Zolas Romanen zusammenzutragen, an welchen er von Gerüchen spricht, und zu zeigen, daß sich ihm Menschen und Dinge nicht, wie normalen Menschen, zunächst als optische und akustische Erscheinungen, sondern als Geruchswahrnehmungen darstellen. Er kennzeichnet alle seine Personen durch ihren Duft. In „La Faute de l’Abbé Mouret“ erscheint Albine „als ein großer Blumenstrauß von starkem Geruche“. Serge war „im Seminar eine Lilie, deren Duft seine Lehrer entzückte“ (!!). Desirée „riecht nach Gesundheit“. Nana „haucht einen Geruch von Leben, eine Allmacht des Weibes aus“. In „Pot-Bouille“ riecht Bachelard „nach [] gemeiner Ausschweifung“, Frau Cam-|pardon „hat einen guten frischen Geruch von Herbstfrüchten“. Im „Ventre de Paris“ riecht Françoise „nach Erde, Heu, freier Luft und freiem Himmel“. In demselben Romane kommt die „Käse-Symphonie“ vor, die bei den Zola-Schwärmern ebenso berühmt ist wie die lustbebende, eingehende Beschreibung des mannigfaltigen Gestanks der Schmutzwäsche in „L’Assommoir“. Den bekannten „Verständnißvollen“ ist dieses Verweilen beim Dufte der Menschen und Dinge natürlich ein Vorzug und eine Vollkommenheit mehr. Ein Dichter, der so gut riecht und durch die Nase so reiche Eindrücke von der Welt empfängt, ist „ein stärker schwingendes Werkzeug der Beobachtung“ und seine Darstellungskunst ist vielseitiger als die derjenigen Dichter, welche die Eindrücke von weniger Sinnen wiedergeben. Warum soll denn auch der Geruchssinn in der Dichtung vernachlässigt werden? Hat er nicht dieselbe Berechtigung wie alle anderen Sinne? Und nun wird darauf flugs eine ästhetische Theorie gebaut, die, wie wir gesehen haben, Huysmans’ des Esseintes veranlaßt, sich eine Duft-Symphonie zu komponiren, und die Symbolisten dazu führt, den Vortrag ihrer Dichtungen auf der Bühne von Gerüchen begleiten zu lassen, welche angeblich dem Inhalte der Verse angepaßt sind. Die „verständnißvollen“ Faseler ahnen wieder einmal nicht, daß sie einfach gegen den Gang der organischen Entwickelung in der Thierreihe schwätzen. Es hängt nicht vom Belieben eines Wesens ab, ob es sich seine Vorstellung von der Außenwelt aus einer Gruppe von Wahrnehmungen dieses oder jenes Sinnes aufbauen will. Es ist in dieser Hinsicht vollständig dem Bau seines Nervensys-

 L. Bernard, Les odeurs dans les romans de Zola. Montpellier, .

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tems unterworfen. Die Sinne, die vorwiegen, sind diejenigen, welche das Wesen  zum Erwerben seiner Erkenntniß benutzt. Die minder oder gar nicht entwickelten

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Sinne helfen dem Gehirn wenig oder gar nicht, die Welt zu erkennen und zu begreifen. Dem Geier und Kondor ist die Welt ein Gemälde, der Fledermaus und | dem [] Maulwurf ist sie ein Tonstück und eine Tastempfindung, dem Hunde ist sie eine Sammlung von Gerüchen. Was nun insbesondere das Riechen betrifft, so hat es seinen Zentralsitz in dem sogenannten Riechlappen des Gehirns, der in dem Maße kleiner wird, in welchem sich der Stirnlappen entwickelt. Je weiter man in der Reihe der Wirbelthiere zurückgeht, umso größer ist verhältnißmäßig der Riech-, umso kleiner der Stirnlappen. Beim Menschen ist der Riechlappen ganz zurückgetreten und der Stirnlappen, der muthmaßliche Sitz der höchsten Geistesverrichtungen, auch der Sprache, wiegt weit vor. Die Folge dieser anatomischen Verhältnisse, die sich unserer Einwirkung entziehen, ist, daß das Riechen an der Erkenntniß des Menschen kaum mehr einen Antheil hat. Er erlangt seine Eindrücke von der Außenwelt nicht mehr durch die Nase, sondern hauptsächlich durch Auge und Ohr. Zu den Begriffen, welche aus einzelnen Bestandtheilen der Vorstellungen gebildet werden, liefern Geruchswahrnehmungen nur einen verschwindend kleinen Beitrag. Düfte können also nur im beschränktesten Maße abgezogene Begriffe erwecken, das heißt höhere und zusammengesetzte Denkthätigkeit und die sie begleitenden Emotionen anregen, eine „Duft-Symphonie“ im Sinne des Esseintes kann folglich auch nicht den Eindruck des Sittlich-Schönen geben, da dieses eine Vorstellung ist, die von den gedankenbildenden Zentren ausgearbeitet wird. Um dem Menschen durch bloße Gerüche abgezogene Begriffe, folgerichtig gegliederte Gedanken und Urtheile einzugeben, um ihn die Welterscheinung, deren Veränderungen und die Ursachen der Bewegung als eine Reihenfolge von Düften erfassen zu lassen, müßte man seinen Stirnlappen unterdrücken und ihm den Riechlappen eines Hundes geben und das geht denn doch über die Fähigkeit „verständnißvoller“ Schwachköpfe hinaus, auch wenn sie ihre alberne Aesthetik noch so fanatisch predigen. Die Riecher unter den Entarteten stellen einen Rückschlag, nicht etwa auf urmenschliche, sondern noch sehr viel | weiter, auf vormenschliche Verhält- [] nisse dar. Ihr Atavismus geht bis zu Thieren zurück, bei welchen, wie noch heute beim Moschusthier, die Geschlechtsthätigkeit unmittelbar durch Riechstoffe angeregt wurde oder die, wie gegenwärtig der Hund, ihre Erkenntniß von der Welt aus der Thätigkeit ihrer Nase gewannen. Der außerordentliche Erfolg, den Zola bei seinen Zeitgenossen gehabt, erklärt sich nicht aus seinen guten Schriftsteller-Eigenschaften, nämlich aus der Wucht und Gewalt seiner romantischen Schilderungen und aus der Heftigkeit und Wahrheit seiner pessimistischen Emotion, die seine Darstellung von Leid und Traurigkeit unwiderstehlich eindrucksvoll macht, sondern aus seinen schlimmsten Fehlern, aus seiner Gemeinheit und Schlüpfrigkeit. Man kann dies durch die sicherste Methode beweisen, durch die der Zahlen. Man sehe sich die Angaben über die bisherige Verbreitung seiner verschiedenen Romane an, wie sie z. B. der neuesten,

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die Jahreszahl  tragenden, Ausgabe des „Assemmoir“ vorgedruckt sind. Es sind abgesetzt worden: von „Nana“ ., von „La Debâcle“ ., von „L’Assemmoir“ ., von „La Terre“ ., von „Germinal“ ., von „La bête humaine“ und „Le Rêve“ je ., von „Pot-Bouille“ ., dagegen von „L’Oeuvre“ ., „La Joie de vivre“ ., „La Curée“ ., „La Conquête de Plassans“ ., von den „Contes à Ninon“ keine . Abdrücke u. s. w. Also: die stärkste Verbreitung haben die Romane gefunden, in denen Unzucht und thierische Rohheit am Heftigsten hervortreten, und der Absatz nimmt mathematisch genau in dem Maße ab, in welchem die von Zola mit der Maurerkelle über sein Werk verbreitete Unrath-Schichte dünner und minder übelriechend wird. Drei Romane scheinen von dieser Regel eine Ausnahme zu bilden: „La débâcle“, „Ger[] minal“ und „Le Rêve“. Ihr hoher Rang im Verzeichniß der Auflage-|Ziffern erklärt sich daraus, daß der erste den er Krieg, der zweite den Sozialismus, der dritte den Mysticismus behandelt. Diese drei Werke wendeten sich an eine Zeitstimmung. Sie schwammen mit einer Modeströmung. Alle anderen aber verdanken ihr Glück den gemeinsten Trieben der Menge, ihrer bestialischen Leidenschaft für den Anblick des Verbrechens und der Wollust. Zola mußte nothwendig Schule machen, einmal wegen seiner buchhändlerischen Erfolge, die das ganze Gesindel der schriftstellerischen Streber und Abschreiber in sein Kielwasser trieben, und dann wegen der Leichtigkeit, mit der seine auffallendsten Eigenthümlichkeiten nachgeahmt werden können. Seine Aesthetik ist jedem Tagedieb zugänglich, der durch Schreibbewegungen seiner unsaubern Hand den Schriftsteller-Beruf entehrt. Nichtssagende, mechanische Herzählung gänzlich gleichgiltiger Anblicke unter dem Vorwande der Schilderung macht Niemand Mühe. Platte Ausschweifung in den rohesten Ausdrücken zu erzählen bringt jeder Bordell-Hausknecht fertig. Das einzige, was noch einige Schwierigkeit bereiten könnte, wäre die Erfindung einer Fabel, der Aufbau eines Gerüstes von Handlung. Aber Zola, der nicht eine Spur von Fabulir-Talent hat, rühmt seinen Mangel als besondern Vorzug und verkündet es als Kunstregel: der Dichter darf nichts zu erzählen haben. Diese Kunstregel paßt den Mistkäfern, die hinter ihm einherkriechen, vortrefflich. Ihre Unfähigkeit wird zu ihrer glänzendsten Eigenschaft. Sie wissen nichts, sie können nichts und haben darum die besondere Eignung zur „Moderne“, wie sie sich ausdrücken. In ihren sogenannten „Romanen“ gibt es keine Menschen, keine Charaktere, keine Schicksale, keine Lagen, keine Begebenheiten, aber das macht ja gerade ihren Werth aus, du bedauernswerther Philister, der du das nicht einsiehst! [] Die Gerechtigkeit erfordert übrigens, unter den Nachahmern | Zolas zwei Gruppen zu unterscheiden. Die eine pflegt hauptsächlich seinen Pessimismus und nimmt ohne Enthusiasmus, ja oft mit merklicher Verlegenheit und geheimem Widerwillen, seine Unfläterei mit in den Kauf. Sie besteht aus Hysterikern und Entarteten, die guten Glaubens sind, die in Folge ihrer organischen Verfassung thatsächlich pessimistisch fühlen und bei Zola die Kunstformel gefunden haben,

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die ihren echtesten Empfindungen entspricht. Zu dieser Gruppe rechne ich einige Dramatiker der Pariser „Freien Bühne“ und die italienischen „Veristen“. Das naturalistische Theater ist das unwahrste, das man bisher gesehen hat, unwahrer selbst als die Operette und die Feerie. Es pflegt nämlich die sogenannten „grausamen Worte“, das heißt Aeußerungen, in welchen die handelnden Personen alle erbärmlichen, ruchlosen und feigen Gedanken und Gefühle offen auskramen, die in ihrem Bewußtsein auftauchen, und übersieht grundsätzlich die ursprünglichste und handgreiflichste Thatsache, daß die weitaus verbreitetste und zäheste Eigenschaft des Menschen Heuchelei und Verstellung ist, daß die Formen der Sitte die Sittlichkeit unabsehbar lang überdauern und daß der Mensch um so ehrbarer thut und seine Niedertracht um so scheinheiliger verbirgt, je schurkischer und gemeiner seine Triebe sind. Die Veristen, unter denen sich manche starke Schriftsteller-Naturen finden, sind eine der überraschendsten und betrübendsten Erscheinungen im Schriftthum der Gegenwart. Man begreift den Pessimismus in dem von schweren Schicksalen heimgesuchten Frankreich, man begreift ihn auch im grau bewölkten, vom Alkoholismus verwüsteten, in den kleinlichsten bürgerlichen Verhältnissen hindämmernden Norden. Auch der Erotismus ist bei der Ueberreizung und Erschöpfung des Pariser Volkes und im skandinavischen Norden als eine allerdings weit über das berechtigte Ziel hinausschießende Auflehnung gegen die eifernde Zucht und den mürrischen Zwang einer freudlosen, fleischabtödtenden Kirchen-|frömmig- [] keit verständlich. Aber wie konnte unter der strahlenden Sonne und dem ewig blauen Himmel Italiens, inmitten eines schönen, fröhlichen, selbst im Sprechen singenden Volkes systematischer Pessimismus (einzelne Kranke wie Leopardi können als Ausnahme natürlich überall auftreten) entstehen und wie kamen Italiener zu einer geisteskranken Lüstelei, da doch in ihrem Lande noch eine Erinnerung an die harmlos derbe Sinnlichkeit der klassischen Welt mit ihren Sinnbildern der Fruchtbarkeit in Tempeln und Feldern lebendig ist und gesunde, natürliche Geschlechtlichkeit dort durch die Jahrhunderte immer das Recht behalten hat, sich naiv in Kunst und Schriftthum zu äußern? Wenn der Verismus etwas Anderes sein soll als ein Beispiel der Verbreitung geistiger Seuchen durch Nachahmung, so erwächst der wissenschaftlichen Kritik Italiens die Aufgabe, dieses sittengeschichtliche Paradoxon zu erklären. Die andere Gruppe der Zola-Nachahmer besteht nicht aus höheren Entarteten, nicht aus Kranken, die sich aufrichtig geben, wie sie sind, und oft mit Talent ausdrücken, was sie fühlen, sondern aus Leuten, die sittlich und geistig auf der Höhe der Zuhälter stehen und statt des Gewerbes dieser Nachtvögel das ungefährlichere und bis jetzt geachtetere von Roman- und Dramen-Schreiben gewählt haben, als die Theorie des Naturalismus es ihnen erreichbar gemacht hatte. Dieses Gezücht hat von Zola blos die Zote übernommen und sie, ihrem Bildungsgrad entsprechend, bis zur Schweinerei ohne Umschweif zurückgeführt. Zu dieser Gruppe gehören die Pariser Berufs-Pornographen, deren Tage- und Wochenblätter, deren Geschichten, Bilder und Theatervorstellungen nach Chiracscher Art den Zuchtpoli-

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zei-Gerichten fortwährend Arbeit geben, die norwegischen Verfasser von Straßen-  dirnen-Romanen und leider auch ein Theil unserer „jüngstdeutschen“ Realisten. Diese Gruppe steht außerhalb des Schriftthums. Sie bildet einen Theil jenes [] Aus-|wurfs der Großstädte, der aus Arbeitsscheu und Gewinnsucht Unsittlichkeit gewerbsmäßig betreibt und dieses Gewerbe in voller Zurechnungsfähigkeit, blos aus Arbeitsscheu und Gewinnsucht, gewählt hat. Zu ihrer Beurtheilung ist nicht  die Irrenheilkunde, sondern die Strafrechtspflege zuständig.

Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

II. Die „jungdeutschen“ Nachäffer.



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Dieses Kapitel fällt eigentlich aus dem Rahmen des Werkes heraus. Man vergesse nicht, daß ich weder eine Literatur-Geschichte schreiben noch landläufige ästhetische Kritik üben, sondern den ungesunden Geisteszustand der Urheber literarischer Moderichtungen nachweisen wollte. Meinem Vorsatz entspricht es nur, mich mit jenen Entarteten oder Wahnsinnigen zu beschäftigen, die ihre Werke aus ihrem eigenen krankhaften Seelenleben heraus schaffen und selbst die künstlerische Formel für ihre Besonderheiten finden, also mit den Führern, die ihren Weg gehen, wie sie wollen oder müssen. Bloße Nachahmer habe ich im ganzen Gange meiner Untersuchung grundsätzlich vernachlässigt, einmal, weil unter ihnen die echten Entarteten nur eine schwache Minderheit bilden, während die große Mehrheit vollkommen zurechnungsfähiges Schwindler- und Schmarotzer-Gesindel ist, und dann, weil selbst die wenigen Kranken unter ihnen nicht zur Klasse der „höheren“ Entarteten gehören, sondern armselige Schwachköpfe sind, die einzeln keinerlei Bedeutung besitzen und höchstens insofern auf flüchtige Erwähnung Anspruch haben, als sie für den Einfluß ihrer Meister auf Gestörte zeugen. Wenn ich trotzdem den „jungdeutschen“ sogenannten „Realisten“ ein eigenes Kapitel widme, während ich auf die italienischen und skandinavischen Zola-Schüler blos mit einigen Worten | hingewiesen habe, so ist es beileibe nicht, weil sie [] etwa bedeutender wären als diese. Im Gegentheil, einzelne italienische „Veristen“, der Däne J. P. Jakobsen, der Norweger Arne Garborg, der Schwede A. Strindberg, so sehr sie auch der wirklichen Eigenart entbehren, haben doch in einem Finger mehr Kraft und Fähigkeit als ganz „Jungdeutschland“ zusammengenommen. Ich verweile bei diesem denn auch nur, weil die Geschichte der Ausbreitung einer geistigen Seuche im eigenen Lande für den deutschen Leser immerhin Bedeutung hat, ferner weil die Art des Auftretens und das Durchdringen dieser Gruppe einige Züge aufweist, in denen man die Zeit-Neurose wiederfindet, endlich weil einzelne ihrer Mitglieder gute Beispiele hochgradiger Hysterie sind: sie haben, bei vollständiger Unfähigkeit und allgemeiner Geistesschwäche, jene bösartige, gesellschaftfeindliche Selbstsucht, jene sittliche Stumpfheit, jenes unwiderstehliche Bedürfniß, die Aufmerksamkeit, es sei mit welchen Mitteln immer, auf sich zu lenken, jene drollige Eitelkeit und Selbstverliebtheit, welche die Krankheit kennzeichnen. Ich verhehle es nicht: in dem Augenblicke, da ich mich der „jungdeutschen“ Bewegung zuwende, habe ich Mühe, mir den kühlen Gleichmuth zu wahren, mit dem ich bisher gegebene Erscheinungen nach einer wissenschaftlichen Methode beobachtete. Als deutscher Schriftsteller empfinde ich tiefe und schmerzliche Beschämung bei dem Anblick dessen, was sich mit grundsätzlicher Nichtbeachtung alles nicht mit seinem Stempel Gezeichneten so lange und so gewaltthätig als das eigentliche, das einzige, das ausschließliche deutsche Schriftthum der Gegenwart — und sogar der Zukunft! — ausposaunt hat, bis ein großer Theil des deut-

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schen Publikums und sogar auch schon das schadenfroh höhnende Ausland es wirklich dafür ansah. | [] Seit der Weimarer Genie-Periode war das deutsche Schriftthum immer das führende in der weißen Menschheit. Wir waren die Erfinder, die fremden Völker die Nachahmer. Wir versorgten die Welt mit Dichtungsformen und mit Gedanken. Die Romantik entstand bei uns und wurde erst Jahrzehnte später in Frankreich, dann über Frankreich in England literarische und künstlerische Mode. Görres, Zacharias Werner, Novalis, Oskar v. Redwitz schufen bei uns den lyrischen Mysticismus und Neo-Katholizismus, bei dem Frankreich eben erst angelangt ist. Unsere vormärzlichen Dichter, die Karl Beck, Georg Herwegh, Freiligrath, Ludwig Seeger, Friedrich v. Sallet, R. E. Prutz u. s. w., sangen schon das Elend, die Empörungen und Hoffnungen der Enterbten, ehe die Walt Whitmans, Morris, Jouys geboren waren, welche man in Amerika, England und Frankreich heute als die Entdecker des vierten Standes für die lyrische Dichtung ansehen möchte. Der Pessimismus verkörperte sich ungefähr gleichzeitig in Italien in Leopardi und bei uns in Nikolaus Lenau mehr als ein Menschenalter, ehe der französische Naturalismus seine Kunst auf [] ihm erbaute. Die sym-|bolische Dichtung schuf Goethe in seinem zweiten Theile des „Faust“ ein halbes Jahrhundert, ehe Ibsen und die französischen Symbolisten die Richtung parodirten. Jede gesunde und jede krankhafte Strömung in der zeitgenössischen Kunst und Dichtung kann auf eine deutsche Quelle zurückgeführt werden, jeder Fortschritt und jeder Verfall auf diesem Gebiete hat in Deutschland seine Anfänge und die philosophische Begründung jeder neuen Denkweise, auch jedes neuen Irrthums, die sich seit hundert Jahren der gesitteten Menschheit bemächtigt haben, ist von Deutschen geliefert worden: von Fichte die Begründung der Romantik, von Feuerbach (fast gleichzeitig mit dem damals weniger beachteten Comte!) die der mechanistischen Weltanschauung, von Schopenhauer die des Pessimismus, von den Hegelschülern Stirner und Marx die der schroffsten Ichsucht und des ebenso schroffen Kollektivismus u. s. w. Und nun erleben wir die Demüthigung, daß ein Haufe verächtlicher Abschreiber die plumpste und roheste Nachfälschung

 „Le Temps“, . Februar : „Das Schriftthum ist gegenwärtig in Germanien von einer unerhörten Bettelhaftigkeit. Von einem Ende des Jahres bis zum andern wird es unmöglich, dort einen Roman, ein Drama, eine Seite Kritik zu entdecken, die werth wären, bezeichnet zu werden. Die Deutsche Rundschau selbst gab dies neulich voll Verzweiflung zu. Nicht nur der Geist und der Stil sind es, die fehlen, Alles ist armselig, leer und platt. Man möchte sich in Frankreich zur Zeit Bouillys glauben … Es scheint selbst die Absicht zu fehlen, sich über eine gewisse Höhe gemeinen Geschreibsels (d’écriture vulgaire) zu erheben. Man ist schließlich einem zeitgenössischen deutschen Schriftsteller schon dafür dankbar, wenn man bei ihm … die leiseste Anstrengung wahrnimmt, … nicht mehr wie ein Gassenkehrer zu schreiben.“ Daß dies das Urtheil eines hämischen Feindes ist, bemerkt jeder Deutsche, der die schriftstellerische Hervorbringung der Zeitgenossen überblickt. Es erklärt und rechtfertigt sich aber daraus, daß zur Zeit nur die „Realisten“ genug Getöse machen, um an gewissen Stellen des Auslandes gehört zu werden, und daß man da sehr froh ist, sie für das ganze deutsche Schriftthum der Gegenwart ansehen zu können.

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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von französischen Machwerken, die alle besseren Geister in Frankreich selbst  bereits überwunden haben und verleugnen, als das „Modernste“, was Deutschland

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hervorbringt, als die Blüthe des deutschen Schriftthums von heute und morgen aushökert, und wir müssen es uns gefallen lassen, daß die ausländischen Kritiker sagen: „Altbackene Moden, die in Frankreich sogar schon von den Dorfschönen verschmäht werden, sieht man in den Schaufenstern Deutschlands als das Allerneueste ausgestellt und vom Publikum gläubig angenommen.“ Die Realisten selbst leugnen natürlich, daß sie Nachplapperer und weit zurückgebliebene Nachhinker sind. Wer aber von Kunst und Dichtung etwas mehr weiß, | als man in einer [] Berliner Realisten-Stammkneipe oder aus einem Sudelblättchen dieser Gesellschaft erfährt, wer die zeitgenössische Bewegung der Geister in ihrem ganzen Umfang überblickt, ohne bei den Grenzen des eigenen Landes stehen zu bleiben, der ist darüber im Klaren, daß der deutsche Realismus als örtliche Erscheinung für Deutschland selbst eine traurige Bedeutung haben mag, für die Weltliteratur aber gar nicht vorhanden ist, weil ihm jede Spur von persönlicher oder nationaler Eigenart fehlt und er dem Chor, in welchem die Stimmen der Menschheit deren Fühlen und Denken ausdrücken, nicht die leiseste neue Note hinzuzufügen hat. So tief stehende Nachäffer wie die deutschen Realisten haben keinen Anspruch darauf, daß man jedem einzelnen von ihnen eine eingehende Betrachtung widme. Man würde sich dadurch in den Augen der Urtheilsfähigen nur lächerlich und außerdem zum Mitschuldigen von Kulissenreißern machen, denen es gleich ist, ob man sie lobt oder tadelt, wenn man sie nur nennt. Und noch andere Gründe mahnen mich zur Vorsicht bei der Wahl der Beispiele, die ich dem Leser zu zeigen gedenke. Ich habe die sichere Ueberzeugung, daß binnen wenigen Jahren die ganze Bewegung bis auf den Namen vergessen sein wird. Die Bursche, die heute die Zukunft des deutschen Schriftthums zu sein behaupten, werden allmälig dahinter kommen, daß das Geschäft, welches sie betreiben, weniger angenehm und einträg-|lich ist, als sie sich vorgestellt haben. Diejenigen von ihnen, in denen []

 Arno Holz — Johannes Schlaf, Die Familie Selicke. Dritte Auflage. Berlin, . S. VI: „Nichts kann uns in der That mehr lächeln machen, … als wenn man uns in seiner Herzensnoth, die nach Schablonen schreit, als Nachtreter der großen Ausländer etikettirt. Möge man es sich daher  gesagt sein lassen … Es wird dereinst erkannt werden: noch nie hat es in unserer Literatur eine Bewegung gegeben, die von Außen her weniger beeinflußt gewesen wäre, die so von innen heraus gewachsen, die mit einem Wort nationaler war, als eben grade diejenige, vor deren weiteren Entwickelung wir heute stehen und die mit unserm ‚Papa Hamlet‘ ihren ersten sichtbaren Ausgang genommen. Die ‚Familie Selicke‘ ist das deutscheste Stück, das unsere  Literatur überhaupt besitzt.“ U. s. w. Diese Stelle diene dem Leser als Muster zugleich des Stils, den diese Bursche schreiben, und des Tons, in welchem sie von sich und ihren Ausscheidungen sprechen.  Die Klage über Geldmangel ist bei den „Jungdeutschen“ eine beständig wiederkehrende Weise: „Du hattest heute wieder nichts zu essen — Dafür aß jeder Straßenstrolch sich satt.“ „Der  höllischen Verdammniß Schrecken ist — Ein Rosengarten unter Frühlingsküssen, — Denk’ ich daran, wie Herz und Seel’ es frißt, — Stündlich der Geldnoth ins Gebiß zu müssen.“ Detlev Freiherr von Liliencron. „Es herrscht das Erz, es herrscht das Gold, — Genie sich bettelnd

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noch ein letzter Rest von Gesundheit und Kraft ist, werden den Weg zu ihren natürlichen Berufen finden und entweder Kellner oder Hausknechte, Nachtwächter oder Hausirer werden und ich fürchte, es würde in diesen ehrbaren Gewerben ihrem Fortkommen schaden, wenn das Andenken an ihre frühere Verirrung, deren sich sonst Niemand mehr erinnern würde, hier festgenagelt bliebe. Die Schwächeren und Fauleren unter ihnen, die sich nicht dazu werden ermannen können, ihren Lebensunterhalt durch eine anständige Beschäftigung zu gewinnen, dürften als Trunkenbolde, Landstreicher, Bettler, vielleicht sogar Zuchthäusler verkommen und wenn ein ernster Leser nach Jahren ihre Namen in diesem Buche antreffen würde, wäre er zum Ausrufe berechtigt: „Was ist das für schlechter Scherz? Was will mir der Verfasser da weismachen? Diese Leute hat es ja nie gegeben.“ Endlich ist ein vollkommen unfähiger After-Schriftsteller an sich ohne jede Bedeutung und erlangt solche erst als Bestandtheil einer Zahl. Er kann also gar nicht kritisch, sondern nur statistisch behandelt werden. Aus allen diesen Gründen werde ich mir aus dem Haufen nur einzelne Gestalten und Werke herausholen, um an ihnen zu zeigen, was der deutsche „Realismus“ wirklich ist. Der Gründer der realistischen Schule ist Karl Bleibtreu. Die Gründung vollzog [] sich in der Weise, daß er eine Broschüre | veröffentlichte, an welcher das Eigenartigste ein knallrother Umschlag mit aufgemalten schwarzen Blitz-Zacken war und die den paukenschlagenden Titel „Revolution in der Literatur“ trug. Bleibtreu machte in dieser Reklameschrift ohne eine Spur von Geist, ohne den leisesten Versuch einer Begründung, aber mit eiserner Stirne eine Reihe geachteter und erfolgreicher Schriftsteller schlecht, schwor große Eide, daß sie todt und begraben seien, und verkündete den Anbruch einer neuen Literatur-Epoche, die bereits eine Anzahl Genies zählte, an deren Spitze er selbst stand. Ueber Karl Bleibtreu als Schriftsteller ist nicht viel zu sagen. Er hat sich auf allen Gebieten versucht und es ist ihm auf allen Gebieten Nichts gelungen. Als Lyriker kennzeichne ihn diese erste Strophe seines Gedichtes „Ahasver“, das Hofmann von Hofmannswaldau an einem seiner schlechtesten Tage geschrieben haben könnte: „Die Sonne sinkt. Du brennendes Orakel, Du Nimbus der Natur, Planeten-Pol! Du Kerze auf der Schöpfung Tabernakel, Des Genius Symbol!“

Als Dramatiker hat er sich an Napoleons Gestalt versündigt und verschiedene Sommertheater-Schauerstücke zusammengefädelt, gegen die gehalten die Dramen der verspotteten und verschollenen Birch-Pfeiffer hohe Meisterwerke sind. In seinen Novellen hat er zuerst Björnson kindlich parodistisch nachgeahmt, dann durch Unzucht etwas Aufmerksamkeit zu erwecken gesucht. Am wenigsten unbekannt

weitertrollt.“ „Eine Tonne Goldes sein zu nennen, — Unerreichbar hehres Menschenziel!“ Karl Bleibtreu. U. s. w.

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sind einige schwülstige, an den Stil schöngeistiger Schustergesellen erinnernde Umschreibungen von Stücken des großen Generalstabswerks über den er Krieg geblieben, die auf die immer rege Theilnahme der Leser für Schlachtenbilder aus der großen Zeit berechnet waren. In unleserlichen Romanen hat er anständige Privatpersonen verleumdet und beleidigt und sich dafür eine Verurtheilung zugezogen. Alles in Allem enthalten seine Bücher, deren er | bereits eine unheimlich [] große Zahl beim widerstrebenden Publikum anzubringen gesucht hat, nicht einen neuen, nicht einen persönlichen Gedanken, nicht eine wirkliche Spiegelung der Gegenwart; sie sind ein Haufe formlosen, verschimmelten Zeuges, in welchem man, besudelt und verdorben, die ausgekehrten Abfälle aller Literaturen der beiden letzten Menschenalter erkennen kann. Aber wenn Bleibtreu als Schriftsteller überhaupt nicht vorhanden ist, so wäre es doch ungerecht, seine große Geschicklichkeit als Macher zu verkennen. In dieser Hinsicht ist „Revolution in der Literatur“ eine mustergiltige Leistung. Mit vollendeter Schlauheit mischte er unter die bewährten Schriftsteller, die er zu Wurstfleisch verhackte, einige seichte Modegrößen, die mit gewaltigen Gladiator-Geberden zu bekämpfen zwar etwas einfältig ist, die aber Niemand gegen lächelnde Geringschätzung in Schutz genommen hätte, und die Anwesenheit dieser unberechtigten Einschleicher in der Gruppe, die er aus der Literatur auszurotten unternahm, konnte seiner Schilderhebung in den Augen flüchtiger Leser einen Schein von Berechtigung geben. Nicht weniger klug waren die Leute gewählt, die er den Lesern als die neuen Genies vorstellte. Mit Ausnahme von zwei oder drei anständigen Mittelmäßigkeiten, für die im Schriftthum eines großen Volks immer ein bescheidenes Plätzchen vorhanden ist, waren es vollständige Nullen, von denen selbst er niemals einen gefährlichen Wettbewerb zu besorgen hatte. Das größte unter seinen Genies ist z. B. Max Kretzer, ein Mann, der im Deutsch eines Kamerun-Negers angebliche „Berliner“ Romane schreibt, von denen der meistgenannte, „Die Verkommenen“, so sehr „Berlinisch“ ist, daß er einfach die Geschichte der Witwe Gras und des Arbeiters Gaudry breitschlägt, die sich  in Paris ereignet hat. Diese Begebenheit, berühmt als das erste Cocotten-Abenteuer, in welchem Schwefelsäure eine Rolle spielte, konnte sich nur in Paris, nur unter den Bedingungen des Pariser Lebens ent-|wickeln. Sie ist spezifisch Pariserisch. Kretzer aber trennte ruhig die [] Pariser Märke heraus, zeichnete sie mit dem Namen „Berlin“ und hatte nun einen „Berliner“ Roman geschaffen, den Bleibtreu als das Ideal „echter“ und „lebenswahrer“ Darstellung pries. Seine neu entdeckten „Genies“, welche an Falstaffs Rekruten Schimmlich, Schatte, Warze, Schwächlich und Bullkalb erinnern, kleidete er in eine Uniform, die er nicht wirksamer wählen konnte. Er zog ihnen nämlich die Tracht der Schillerschen Räuber aus den böhmischen Wäldern an, er gab sie für die Truppe der Rebellen, für Barrikaden-Streiter, für Lützowsche Jäger im Befreiungskampfe gegen Muckerei, Perücken- und Zopfthum und alle Lichtlöscher aus und durfte hoffen, daß ihn die Jugend und die Fortschrittsfreunde für etwas Rechtes halten würden, wenn er an der Spitze seiner so verkleideten armen Krüppel und Knickebeine herangezogen käme.

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Seine Spekulation, obschon vortrefflich geplant und eingeleitet, gelang nur zum Theil. Kaum hatte er sein Fähnlein einigermaßen gegliedert und gedrillt, als es auch schon gegen ihn meuterte und ihn wegjagte. Einen neuen Feldhauptmann wählte es nicht, denn jeder Gemeine wollte selbst der Führer sein und nur die Schwächlichsten und Zagsten in der Rotte erkannten außer dem eigenen noch ein anderes Genie an. Bleibtreu hat bis zum heutigen Tage den Undank der Leute nicht verwunden, die seine Fopperei ernst genommen und sich wirklich für die Genies gehalten hatten, als die er sie, wie er überzeugt war, gefahrlos, ausgetrommelt, und er haucht noch in seiner neuesten Veröffentlichung („Aus einem lyrischen Tagebuch“) seinen Schmerz in den bitteren Reimen aus: „Wozu der lange Kampf? Umsunst! — Und mir erlahmt die Hand. — Hoch Lüge, Dummheit, Narrethei! — Ade, du deutsche Schweinerei! — Graberde löscht den Brand. — Ich war, so lang ich denken kann, — Ein rechter Dummrian. — Ich war kein deutscher Biedermann, — Ich war ein wunder Schwan.“ | [] Begabung hat Bleibtreu den von ihm erfundenen Realisten nicht geben können, wohl aber haben sie ihm einige von seinen Geschäftskniffen abgeguckt. Sie haben sich, um auf Unkundige Eindruck zu machen, als Ehrenmitglieder einige anständige Schriftsteller beigesellt, die man erstaunt ist, in dieser Galere mitfahren zu sehen. So rechnen die Realisten z. B. zu den Ihrigen Theodor Fontane, einen echten Dichter, dessen Romane neben den besten, die gegenwärtig von irgend einem europäischen Schriftthum hervorgebracht werden, ihren Platz behaupten, H. Heiberg, ein starkes, obschon ungleiches, Talent, das nur leider, anscheinend durch äußerliche Umstände, zu hastiger und übermäßiger Arbeit genöthigt ist, gegen welche vielleicht sein künstlerisches Gewissen vergebens Einspruch erhebt, und Detlev von Liliencron, der zwar durchaus kein Genie, aber ein guter, formtüchtiger Lyriker ist und sich neben den Epigonen-Dichtern, einem Hopfen, Lingg, Greif sehen lassen kann. Bei dem hohen Stande, den die deutsche Lyrik, auch nach dem Urtheil des Auslandes die erste der Welt, seit Goethe ununterbrochen eingenommen hat, ist es schon ein großes Lob, wenn man von einem deutschen Dichter sagen kann, er bleibe nicht hinter dem Durchschnitt der letzten siebenzig Jahre zurück. Allerdings ragt Liliencron über ihn auch nicht hinaus und ich sehe nicht, wie man ihn gerechterweise etwa über R. Baumbach stellen kann, gegen den die Realisten Geringschätzung heucheln, wohl weil er es verschmäht hat, sich dem Rudel anzuschließen. Es ist nicht unbegreiflich, daß ein Fontane oder Heiberg sich die aufdringliche Gemeinschaft der Realisten gefallen läßt. Zu Meßdienern, die blos das Weihrauchfaß zu schwingen haben, werden auch in der Kirche manchmal Jungen von der Straße zugelassen. Und die einzige Gegenleistung für die Ernennung zum Realisten honoris causa ist ja in ihrem Falle die schweigende und lächelnde Duldung dieser Blosstellung eines guten Namens. Nur Liliencron glaubt [] sich verpflichtet, seinen neuen Genossen | einige Zugeständnisse zu machen, indem er in seinen letzten Gedichten ab und zu nicht seine, sondern ihre Sprache spricht, z. B.: „Was ist denn los im Schloß? Der Gutsherr liegt im Sterben.“ „Schab

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ab, du schwarzer Schmerz.“ „… er weiß, daß seine Gäule — Ihn auch ohne Ruf und Peitsche — Kennen, daß sie niemals scheuen, — Daß sie brave Kerle sind.“ „Huch“ (!!) „was ist das?“ „Und wir fühlen uns belämmert, — Denn wir hatten uns blamoren, — Gräßlich, gräßlich uns blamoren“ u. s. w. Der Fall Liliencrons beweist immerhin, daß es doch nicht ganz ungefährlich ist, die unverlangte Reklame zweifelhafter Gesellen anzunehmen, und so menschlich es ist, daß man auch pöbelhaftes Lob, auch Ueberschätzung angenehm empfindet, ein feinfühliger Schriftsteller sollte doch nicht, wie Kaiser Vespasian von seinem Harnsteuer-Gelde, von einer Bewunderung dieser Art sagen: „Sie riecht nicht.“ Außer der Einschmuggelung einiger guten Namen unter ihre eigenen haben die Realisten noch einen zweiten Geschäftskniff Bleibtreus sorgsam weiter geübt und gepflegt: die wirksame Verkleidung. Sie legten sich (zuerst in dem lyrischen Sammel-Bande „Jung-Deutschland“, Friedenau und Leipzig, ) den Namen „Jung-Deutschland“ bei, welcher die Erinnerung an die großen und kühnen Neuerer von  und die Vorstellungen von blühender Jugend und Frühling leise mitklingen läßt, und banden sich eine falsche Nase von Modernität vor. Auf diesen Anspruch der Modernität werde ich später zurückzukommen haben. Hier aber sei sofort bemerkt, daß die Realisten, Nachäffer bis ins Mark der Knochen, nicht einmal so viel Selbstständigkeit besitzen, um einen eigenen Namen für sich zu finden, sondern ruhig die Bezeichnung abschrieben, unter der die Heine-, Boerne- und Gutzkow-Gruppe berühmt geworden ist. Als erste Stichprobe des „realistischen“ Schriftthums Jung-Deutschlands will ich den Roman „Im Liebesrausch“ von Heinz | Tovote anführen. Er erzählt die [] Geschichte eines Gutsbesitzers und ehemaligen Offiziers, Herberts von Düren, der eine frühere Kellnerin und Geliebte einer ganzen Anzahl einander ablösender junger Leute, Lucie, kennen lernt, zu seiner Geliebten macht und sich an ihrem Leibe so lange berauscht, bis er sie zu heiraten beschließt, da er ohne sie nicht mehr leben kann. Herbert, der die Vergangenheit von Lucie nur theilweise kennt, führt sie seiner Mutter zu, diese, welche die Beziehungen ihres Sohnes zu der Person bald durchschaut, gibt trotzdem ihre Einwilligung und die Ehe wird geschlossen. In der Berliner Adels- und Offiziergesellschaft, wo das Paar sich eine Weile bewegt, kommt jedoch bald heraus, was Lucie früher gewesen ist, und sie wird von aller Welt „geschnitten“. Herbert hält treu zu ihr, bis er eines Tages zufällig bei einem befreundeten, natürlich „realistischen“, Maler ein Bild entdeckt, das Lucie entkleidet im Seebade darstellt. Herbert schließt folgerichtig genug, daß Lucie dem Maler Modell gestanden hat, und er jagt sie weg. Thatsächlich hat aber der „realistische“ Maler die nackte Gestalt aus der Einbildungskraft geschaffen und ihr nur unwillkürlich Lucies Züge gegeben, weil er in geheimer, ehrerbietiger Bewunderung für sie schwärmt. Nun sucht Herbert die verschwundene Lucie reumüthig wieder auf und entdeckt sie nach herzbrechenden Anstrengungen auf seinem eigenen Gute,

 Heinz Tovote, Im Liebesrausch. Berliner Roman. Sechste Auflage. Berlin, .

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wo sie, ohne daß er es wußte, seit Monaten gelebt hat. Die Versöhnung der Gatten findet unter allseitiger Rührung statt und Lucie stirbt bei gefühlvollen Redensarten, während sie einem Kinde das Leben gibt. Ueber die Albernheit dieser Geschichte will ich kein Wort verlieren. Aber das Wesentliche an einem Roman ist ja auch nicht die Fabel, sondern die Form im [] engern und weitern | Sinne: die Sprache, der Stil, der Aufbau, und diese sollen etwas eingehender geprüft werden. Das Erste und Ursprünglichste, was man von einem Menschen fordern darf, der sich herausnimmt, für das Publikum, also doch wohl auch für die Gebildeten seines Volks, berufsmäßig zu schreiben, ist offenbar, daß er seiner Sprache mächtig sei. Von dem Deutsch Tovotes nun werden folgende Proben eine Vorstellung geben: „Im Restaurant eilten die Kellner mit … belegten Bröten hin und her.“ „Es ist seltsam, wie in einer Großstadt noch Jedermann Vergnügen daran haben kann, eine sich allein befindliche Dame anzugaffen.“ „Ich bin es gewöhnt u. s. w.“ „Zweimal öffnete sie ein verkehrtes Zimmer.“ (Er will offenbar sagen „das unrichtige“.) „Der Hund schlug freudig mit dem Schwanze“ und drei Zeilen darauf: „Das Herz schlug ihm bei dem Gedanken.“ (Wenn er schon die Ausdrücke verwechselt, so hätte er wenigstens sagen müssen: „Das Herz wedelte ihm bei dem Gedanken.“) „Allnächtig lag sie.“ (Statt „allnächtlich“.) „Er preßte die Handballen fest auf die Lider.“ (Der einzige „Ballen“, den die deutsche Sprache an der Handfläche kennt, ist der unter dem Daumen. Von „Handballen“ hat kein Deutscher noch jemals Etwas gehört.) „Er ging die Potsdamer Straße lang.“ „Die dunkeln Möbeln.“ „Falten, die sich eng um Knie und Unterbeine legen.“ (Er meint sichtlich „Unterschenkel“.) „Lucie hatte ihre frische Farbe wieder erhalten.“ (Diese drollige Verwechselung von „erhalten“ mit „bekommen“ trifft man manchmal im Munde Ungebildeter an, die sich recht vornehm ausdrücken wollen und denen „bekommen“ zu gewöhnlich scheint.) „Häufig wurden aus der Umgegend kleine Ausflüge nach hier gemacht.“ „Die nicht mit am Spiel theilnahm.“ „Sie wollte sich ermannen.“ (Es wäre interessant, zu erfahren, wie eine Frau es anfängt, um sich zu „ermannen“.) „Sie war begabt mit jenem Taktgefühl, das echte Zeichen angeborener Vornehmheit.“ | [] Einzelne dieser abscheulichen Sprachfehler sind ziemlich verbreitet (wie „nach hier“ für „hierher“), andere gehören dem Kauderwälsch der rohesten Volksklasse an (wie „Bröte“ für „Brote“, „Möbeln“ für „Möbel“, „lang“ für „entlang“), einige aber hat Tovote nie gehört; sie sind ein Ergebniß seiner eigenen Unkenntniß der deutschen Grammatik. Nun sein Stil. Wenn Tovote beschreibt, so wählt er grundsätzlich zur Bestimmung und Verstärkung des Hauptworts dasjenige Beiwort, welches am selbstverständlichsten im Hauptwort enthalten ist. Hier einige Beispiele dieser unleidlichen Tautologie: „Ein eisiger Januarsturm.“ „In der Friedrichstraße drängten sich leichtgebaute, elegante Equipagen.“ „Verkörperung der lieblichsten Anmuth.“ „Ein langsam schleichendes Fieber.“ (Man kennt also auch „schnelles Schleichen“?) „Eine

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träge Schläfrigkeit.“ „Die im letzten Lichte feurig erglühten.“ „Sie litt grausame Qualen“ u. s. w. Ich bezweifle, daß ein Schriftsteller, der auch nur einige Achtung vor sich, seinem Berufe, seiner Muttersprache, seinen Lesern hat, solche Worte an einander reihen wird. Man braucht in der Jagd nach dem „seltenen und köstlichen Beiwort“ nicht so weit zu gehen wie die französischen Stilkünstler, aber ein solches Zusammenfegen der abgestandensten, unnöthigsten, ausdruckslosesten Beiwörter ist nicht mehr Schriftstellerei, sondern in der That, um mit dem französischen Kritiker zu reden, Straßenkehrer-Arbeit. Eine andere Seite seines Stils ist dessen Einfältigkeit. Tovote erzählt, daß Herbert von Düren sich für die Operette „Der Mikado“ „schon bei ihrem ersten Auftreten lebhaft interessirt hatte. Jetzt, da sie das englische Gewand abgelegt hatte, schien sie ihm noch heimischer zu sein.“ Also er stellt ernsthaft fest, daß eine englische Operette einem Deutschen in deutscher Sprache heimischer schien als auf Englisch! „Plötzlich überkam ihn eine sinnlose Wuth gegen diesen Menschen, der ihn so höflich grüßte, daß er, der sonst die Liebenswürdigkeit selbst gegen Jedermann | war, den Gruß nicht erwiderte und [] sich abwandte.“ Die Nichterwiderung eines Grußes als Aeußerung „sinnloser Wuth“ würde man höchstens beim sanftmüthigen und friedsamen Bardikulieh Bliemchen, nicht aber bei einem ehemaligen Offizier glaublich finden. „Die Pferde ließen traurig die Köpfe hängen und schliefen.“ Daß man traurig oder lustig schlafen könne, ist eine Entdeckung Tovotes. „Gleich Mauern standen die Häuserkolosse an einander gedrängt.“ (Es ist von der Leipziger Straße die Rede.) Gleich Mauern? Man sollte denken, daß Häuser wirklich Mauern haben? Es ist genau, wie wenn Tovote sagen würde: „Gleich Menschen standen die Leute an einander gedrängt.“ Wenn Tovote sich anstrengt, recht schön und erhaben zu schreiben, so kommt Folgendes dabei heraus: „Doch lag in den schlanken, voll ausgeglichenen Linien eine schlummernde Kraft.“ (Was das wohl sein mag, „Linien“, die „schlank“, das heißt nicht untersetzt, und die „voll ausgeglichen“ sind?) „Sie lächelte schon wieder, noch halb unter Thränen, und ihr Antlitz glich einer Sommerlandschaft, die, während noch der Regen auf das Korn niederfällt, schon wieder im hellen Strahle der aus den Wolken auftauchenden Sonne sich badet.“ In der That, das Nächste, woran man bei der Betrachtung eines Gesichtes denken muß, ist eine Sommerlandschaft. „Er fühlte, wie ihre Lippen sich an die seinen klammerten.“ (!!) „Man mußte ihm bei seiner Jugend das unbestreitbare Genie einer lebendigen Auffassung zugeben.“ U. s. w. Tovote sucht den französischen Naturalisten ihre breiten Schilderungen nachzumachen und entrollt Bilder, deren Neuheit, Anschaulichkeit und Kraft man an diesen Proben bewundere: (Schluß einer Theater-Vorstellung.) „Im Parkett klappten die Sitze mit dumpfem Geräusch auf … Man erhob sich, Thüren wurden geöffnet, die Vorhänge zurückgeschoben und langsam leerte sich das Haus, während nur vereinzelte | Zuschauer auf ihren Plätzen blieben.“ „Unaufhörlich, die ganze [] Nacht, flockte der Schnee. In dicken Ballen (!) legte er sich auf die nackten Zweige der Bäume, die zu brechen drohten in winterlicher Kraftlosigkeit. Die Tannen und

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niederen Büsche waren mit einem dichten Schneemantel umkleidet. An dem um die Rosenstöcke gewundenen Stroh klebte der Schnee und formte daraus seltsame Gestalten, lagerte fußhoch auf den Mauern und umhüllte fein die Spitzen der eisernen Gitter. Alle Spuren waren verwischt. Der Wind, der die Flocken vor sich hertrieb, warf sie in alle Vertiefungen hinein, daß alle Ecken und Unebenheiten verschwanden.“ „Sie standen hoch über dem Meere, das sich wie eine unendliche Ebene ringsum dehnte.“ „Die Sonne war untergegangen … Die Wolken, die schwer am Horizonte lagerten, erglühten noch in flammendem Purpurroth, dann gingen sie in Violett über, das sich in farbloses Grau“ (es gibt also auch farbiges Grau?) „verwandelte, bis die Nacht einbrach und alle Farben nach und nach erloschen.“ (Man vergleiche diesen jämmerlichen Versuch, „Impressionismus“ zu heucheln, mit den im vorigen Kapitel angeführten französischen Mustern!) „Die Nacht war völlig hereingebrochen, eine dunkle, tiefschwarze Nacht.“ (Man würdige die Nebeneinanderstellung dieser beiden Beiwörter!) „Nur der Mond hing trübe über den Wassern“ (der Mond in der sowohl „dunkeln“ als auch „tiefschwarzen“ Nacht!) „und der Leuchtthurm warf seine Lichtfluten in die Ferne. Tief zu ihren Füßen rauschte das Meer, dumpf tosend in tausendjährigem (!) Groll, und leckte an den zerklüfteten Felsen.“ Ein „tosender Groll“, der „leckt“, ist kaum ein sehr gefährlicher Groll. „Eine tiefe Wunde über dem Auge behielt sie zeitlebens als kleine Narbe.“ Wenn sie eine „kleine Narbe“ hatte, so behielt sie doch nicht „zeitlebens die tiefe Wunde“! „Hoch über ihnen am blauen Himmel kreiste ein Habicht, mit gespreizten Schwingen seine Kreise ziehend, wie ein schwarzer Punkt in diesem [] Lichtmeer verloren.“ An | einem Habicht, der nur als „ein schwarzer Punkt“ sichtbar ist, kann man unmöglich „gespreizte Schwingen“ unterscheiden. Die Beschreibung eines Gesichtes: „Zwei volle frische Lippen, keusch (!!) hellroth, ein zierliches Näschen, unmerklich aufgeworfen, aber mit schmaler, gerader Linie von der Stirn aus.“ Der Leser versuche es, sich dieses „unmerklich aufgeworfene Näschen“ mit der „schmalen, geraden Linie“ vorzustellen! „Die Maschine des Schnellzugs keuchte durch die gleichförmige Ebene, die wie eine brennende Wüste sich ringsum dehnte. Links und rechts lange Getreidefelder, fruchttragende Acker und grüne Wiesen.“ Getreide, Aecker, Wiesen und doch „brennende“ (?) „Wüste“? „Die halbgeschlossenen Augen mit den weißen Flimmerhäutchen blicken ihn so stier an.“ Es handelt sich nicht etwa um Vogelaugen, deren Nickhaut Tovote aus Unwissenheit mit einem falschen Ausdrucke bezeichnet, sondern um Menschenaugen, an denen er dieses unbegreifliche „Flimmerhäutchen“ entdeckt zu haben vorgibt. Was aus dem Impressionismus und dem Beschreibungs-Tic des Naturalismus unter den Fäusten Tovotes geworden ist, haben wir gesehen. Ich will nun zeigen, wie dieser „Realist“ die Wirklichkeit zu beobachten und wiederzugeben weiß, im Kleinsten wie im Größten. Herbert führt Lucie am ersten Abend ihrer Bekanntschaft in ein Gasthaus und bestellt unter Anderm eine Flasche Burgunder. „Der Kellner … stellte in schwungvollem Bogen die dickbauchige Flasche auf den Tisch.“ Burgunder in „dickbauchigen“ Flaschen! Sie essen Suppe, die in „silbernen Bechern“ (!!)

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unglaublichen Tischgesprächs bildet, und nachdem dieses Abendessen verzehrt worden ist und Lucie sich auch schon eine Zigarette angezündet hat, verlangt sie Austern, die sie denn auch erhält und ißt, indem sie sie „kunstgerecht servirt“. Ich mache sicherlich Niemand einen Vorwurf daraus, daß er nicht weiß, wie eine | Burgunderflasche aussieht und an welcher Stelle einer Mahlzeit Austern gegessen [] werden. Ich bin selbst auch nicht bei Austern und Burgunder aufgewachsen, aber ich war so ehrlich, von diesen guten Dingen erst zu sprechen, als ich ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Auf die unbewußte, mit Neid gemischte Ehrfurcht vor der schwierigen und vornehmen Uebung des Austernessens, die sich in der bewundernden Feststellung des „kunstgerechten“ „Servirens“ (?) der Austern köstlich offenbart, und auf die Hinterwäldler-Ahnungslosigkeit der Anfangsgründe von Lebensart, die darin zu Tage tritt, daß Tovote einen Mann von Welt bei Tische vom Fraße lang und breit reden läßt, sei nur nebenbei hingewiesen. Weiter. Lucies Geliebter ist über Brüssel „von Hâvre nach Aegypten gereist“. Da muß er einen eigenen Dampfer gechartert haben, denn eine regelmäßige Schiffs-Verbindung zwischen Hâvre und Aegypten besteht nicht. Herbert hat auf seinem Schreibtische seit einigen Monaten angefangene Handschriften liegen. „Er wühlte diesen Haufen vergilbter Manuskripte durch.“ Unter Dach und Fach dürfte wohl selbst das schlechteste Holzfaserpapier nicht innerhalb weniger Monate „vergilben.“ Das von Herbert mit aller Sorgfalt für seine Lucie eingerichtete Schlafzimmer hat „blauseidene Vorhänge“ und Sitzmöbel „aus mattrosa Atlas“. Eine so wilde Zusammenstellung wird von besseren Trödlern sogar in ihrem Verkaufsladen vermieden. Ich gebe zu, daß alle diese Schnitzer, obschon ergötzlich, doch klein sind. Sie dürfen aber nicht übersehen werden, wenn ein „Realist“ sie begeht, der mit „Beobachtung“ und „Wahrheit“ aufschneidet. Ernster sind übrigens die Unwahrheiten im Thun und Sein der Menschen. In einem Augenblicke des Kummers läßt Lucie „die Arme auf die Serviette in ihrem Schoße fallen und blickt starren Blickes geradeaus, während sie die Unterlippe leicht zwischen die Zähne nimmt.“ Hat jemals ein Mensch diese Bewegung in dieser Stimmung gemacht oder | machen [] sehen? Wilde Verzückung der Liebe drückt Lucie so aus: „Küsse mich, bat sie ihn, und ihr ganzes Wesen schien in ihm aufgehen zu wollen; — küsse mich!“ Herbert hatte Lucie zuerst auf Helgoland kennen gelernt, wo sie mit einem Engländer Ward lebte und herumtollte, und er hatte sie für die Braut Wards gehalten! Ein deutscher Offizier aus bester Familie, hoher Dreißiger, hat ein Frauenzimmer, das mit einem jungen, reichen Fremden allein im Seebad lebt, für dessen Braut gehalten! Lucie, ein verwahrlostes Kind armer Arbeiter, hat im Umgang mit Ward in weniger als einem Jahre Englisch gelernt, daß man sie überall für eine Engländerin hält, und Klavierspielen, daß sie Operetten-Auszüge vortragen kann u. s. w. Daß er das Radschlagen mit dem Stocke „tourniquet machen“ nennt statt „moulinet“ machen und daß er von „cabinets séparés“ spricht statt von „cabinets particuliers“ will ich ihm nicht anrechnen. Ein deutscher Schriftsteller braucht nicht

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Französisch zu können. Es wäre schon sehr schön, wenn er Deutsch könnte! Freilich wäre es geschmackvoller, nicht mit Brocken einer Sprache flunkern zu wollen, deren man gänzlich unkundig ist. Die Schlüpfrigkeiten, von denen der Roman wimmelt, sind unvergleichlich zahmer als ähnliche Stellen bei Zola, aber sie wirken besonders widerlich, weil sie, bei aller Unfähigkeit Tovotes, sich über das Sauglockenläuten von Handlungsreisenden, die ihre Hotel-Liebesabenteuer erzählen, zu erheben, doch seine heftige Absicht verrathen, recht aufregend, recht raffinirt sinnlich zu sein. Wenn ich bei diesem tief unter der Literatur-Schwelle stehenden Machwerk so lange verweilte, so ist es, weil es für den deutschen Realismus durchaus typisch ist. Die Sprache verstößt gegen die einfachsten Regeln der Grammatik. Kein einziger Ausdruck ist richtig gewählt und bezeichnet wirklich den Gegenstand oder Begriff, [] der dem Leser gezeigt werden soll. | Daß ein Schriftsteller vollends nicht blos richtig, sondern ausdrucksvoll sprechen, daß er Eindrücke und Gedanken neu und stark wiedergeben könne, daß er ein Gefühl für den Werth und feinern Sinn des Wortes haben müsse, davon geht Tovote noch nicht die leiseste Ahnung auf. Die Schilderung ist von einer Schäbigkeit, deren sich der letzte Winkelblatt-Berichterstatter über Polizeiangelegenheiten schämen würde. Es ist Nichts gesehen, Nichts gefühlt, Alles nur ein brummender Widerhall gelesenen Zeugs schlechtester Art. Die „Modernität“ endlich besteht darin, daß die öde Banalität des Vorganges theilweise Berlin zum Schauplatze hat und daß hie und da obenhin von Sozialismus und Realismus gemurmelt wird. Die deutsche Kritik hat in den Siebenziger Jahren mit Recht gefordert, daß der deutsche Roman auf festen Boden gebaut werde, daß er in bekannter Zeit und wirklichem Raume, daß er in der deutschen Hauptstadt unserer Tage spiele. Auf diese Anregung entstand der „Berliner“ Roman der Nachäffer. Das besondere und kennzeichnende Berlinerthum dieses Romans besteht darin, daß der Verfasser jedesmal, so oft er von einer Straße zu sprechen hat, in das bodenlose Erstaunen eines im Panoptikum ausgestellten Hottentoten geräth, weil er in der Straße viele Menschen, viele Wagen und viele Kaufläden entdeckt, und daß er Gelegenheiten sucht, Berliner Straßennamen anzuführen, z. B.: „Das Coupé jagte die Friedrichstraße entlang, unter dem Stadtbahnbogen hindurch, am Centralhotel vorüber … An der Dorotheenstraße mußte der Kutscher die Pferde zügeln, um einen grell klingelnden Pferdebahnwagen vorüber zu lassen … Im nächsten Moment bog das Coupé in kurzem Trabe in die Linden ein.“ Oder: „Der Wagen jagte die Linden entlang … Jetzt unter den breiten, grauen Pfeilern des Brandenburgerthores durch. Die unendliche Charlottenburger Chaussee liegt vor ihnen, aber der Wagen biegt scharf nach links und fährt an dem dunkeln Thiergar[] ten hin.“ Man sieht: das Mittel | liegt im Handbereiche eines jeden Hotel-Lohndieners. Um solches Berlinerthum in einen Sudelroman zu bekommen, braucht der Verfasser blos einen Stadtplan und allenfalls einen Fremdenführer zu besitzen. Die Besonderheit des Großstadtlebens wird durch Stellen wie diese dargestellt: „Zu beiden Seiten des Trottoirs“ (er will sagen: „Auf dem Trottoir an beiden Seiten“)

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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„drängte sich eine dichte Menschenmenge und in der Mitte der Allee, unter den  Bäumen, die ihre ersten Blätter entfalteten, strebte eine zerstreute Schaar, wie die

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unregelmäßigen“ (?) „Wellen einer Flut, aus der Stadt hinaus.“ Oder: „Auf allen Trottoirs eine Völkerwanderung, ein Durcheinanderschieben und hastendes Streben, das auf dem Platze zwischen dem betäubenden Gewirre der Droschken, der Trambahnwagen und der großen, schwerfälligen Omnibusse“ (so!) „mit ihren vollbesetzten Verdecken in ein Rennen und Laufen ausartete, um nicht unter die Räder zu gerathen“ (man beachte dieses Deutsch: ein Streben, das nicht unter die Räder gerathen will!), „um sich auf die Rotunde des Platzes zu retten“ u. s. w. Also das Einzige, was Tovote in Berlin sieht, ist das, was ein Bauernjunge aus Buxtehude bemerkt, der zum erstenmale sein Dorf verläßt und sich vor Verblüffung nicht fassen kann, in der Stadt mehr Menschen und mehr Wagen zu finden als in seiner Dorfgasse. Es ist gerade der Anblick, den der Städter überhaupt nicht mehr wahrnimmt, der einer besondern Schilderung nicht bedarf, weil er im Begriffe „Stadt“, und vollends „Großstadt“, enthalten ist, und der namentlich für Berlin in keiner Weise kennzeichnend ist, da Breslau, Hamburg, Köln u. s. w. ihn ganz ebenso aufzuweisen haben. Der Sozialismus kommt in den „modernen“ Romanen wie Pilatus ins Credo. Tovote erzählt z. B., wie Herbert die durchgegangene Lucie sucht; er kommt dabei auch in die Arbeiter-Viertel Berlins und das ist dem Verfasser ein genügender Anlaß zu dieser schönen Betrachtung: „Ueberall die blaue und | graurothe Blouse des [] Arbeiters, der sich nie unter den Linden zeigte, der hier tagein, tagaus an der keuchenden Maschine stand, am Arbeitstische, wo er jahrzentelang wie im Schlaf dieselben Handgriffe verrichtete, bis die Schwielen der Hände sich zu Eisen verhärteten.“ An die Schwielen der Arbeiter soll der seine Geliebte verzweifelt suchende Herbert oder der für diesen Vorgang unsere Theilnahme erregen wollende Erzähler gedacht haben! Die Gliederpuppen, die im „realistischen“ Romane Scheinbewegungen ausführen und zwischen denen sich die elendsten, vermodertsten HintertreppenromanRührseligkeiten abspielen, sind immer dieselben: ein Edelmann, womöglich ehemaliger Offizier, von dem in nebeligen Ausdrücken versichert wird, daß er sich mit „Arbeiten über den Sozialismus“ beschäftige (welcher Art diese Arbeiten sind, erfährt man nie, es wird nur betheuert, daß sie „sehr wichtig“ sind), eine Kellnerin als Verkörperung des Ewig-Weiblichen und ein realistischer Maler, der Bilder plant oder ausführt, welche bestimmt sind, die Menschheit vollständig umzuwandeln und das tausendjährige Reich auf Erden zu stiften. Das ist das Rezept der „Modernität“ des jungdeutschen Realismus: Anführung von Berliner Straßennamen, Verzückung beim Anblick einiger Droschken und Omnibus, etwas Berliner Dialekt im Munde der handelnden Personen, rohe, geistlose Erotik, schwärmerische Seitenblicke auf Sozialismus und Redensarten über Malerei, wie sie etwa eine reichgewordene Gänse-Nudlerin machen mag, wenn sie sich für etwas Rechtes ausgeben will. Von den drei Gestalten, welche die Träger dieser „Modernität“ sind, ist die Kellne-

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Viertes Buch. Der Realismus.

rin wirklich eigenartig. Das Verdienst, sie gefunden zu haben, gebührt Bleibtreu, der sie zuerst in den Novellen „Schlechte Gesellschaft“ seinem Häuflein zur Bewunderung und Nachahmung vorstellte. Sie ist ein Gemisch aller Fabelwesen, welche die Dichtkunst bisher ersonnen hat: zugleich Chimäre mit Flügeln, Sphinx [] mit | Löwenpranken und Sirene mit Fischschwanz. Sie schließt allen Zauber und alle Gaben, Liebe und Weisheit, Tugend und liebeheißes Heidenthum in sich. An der Kellnerin kann man die Beobachtungsfähigkeit und Gestaltungskraft der deutschen „Realisten“ am genauesten messen. Ist Tovote ein mustergiltiger Vertreter der durchaus nicht kranken, nur über alle Begriffe unfähigen Eindringlinge in das Schriftthum, zu dem sie höchstens als Kolportageroman-Hausirer in Beziehung zu treten berechtigt wären, so lernen wir in Hermann Bahr eine ausgesprochen krankhafte Erscheinung kennen. Bahr ist ein hochgradiger Hysteriker, der um jeden Preis von sich reden machen will und auf den unglücklichen Einfall gerathen ist, dies durch Bücher zu erreichen. Talentlos bis zur Unwahrscheinlichkeit, sucht er durch die verrücktesten Absonderlichkeiten aufzufallen. So nennt er das für seine Art bezeichnendste Buch, das er bisher veröffentlicht hat, „Die gute Schule“, „Seelenstände.“ „Seelenstände?“ fragt der Leser erstaunt. Ja wohl. Er hat nämlich bei den neuen französischen Schriftstellern das Wort „états d’âme“ gelesen und nicht verstanden. Für Jeden, der etwas Deutsch und Französisch kann, bedeutet der Ausdruck „Seelenzustände“. Bahr hat mit Hilfe eines Wörterbuchs herausgebracht, daß „état“ auch „Stand“ heißt, und er hat flott übersetzt: „Seelenstände“. Schade, daß er nicht „Seelenstaaten“ gesagt hat, das wäre noch hübscher gewesen. Die Geschichte, die in den „Seelenständen“ erzählt wird, ist mit Benutzung wenigstens eines Theils des oben mitgetheilten Rezepts angefertigt. Der Held ist nämlich ein österreichischer Maler, der in Paris lebt; eines Tages des Alleinseins müde, gabelt er sich auf der Straße ein Mädchen auf, das zwar unorthodoxer Weise keine Kellnerin, sondern eine Modistin ist, aber doch alle Märchen-Herrlichkeit der [] jungdeutschen Kellnerin | besitzt; er haust eine Weile mit ihr, wird ihrer dann überdrüssig und quält sie so lange, bis sie ihn verläßt und mit einem reichen Neger geht, den sie bestimmt, dem Verlassenen um große Preise Bilder abzukaufen. Diese schöne Geschichte ist der Rahmen, in welchem Bahr die „Seelenstände“ seines Helden sich entwickeln läßt. Bahr ist ein Nachäffer von einer Unerbittlichkeit, die man nur in der schweren Hysterie antrifft. Kein einziger Schriftsteller von einiger Individualität, der ihm vor die Augen gekommen ist, hat seiner Nachäffungs-Wuth entrinnen können. Der Grundgedanke der „Guten Schule“, die Qual eines Malers, der mit der Idee eines seine ganze Seele ausdrückenden Kunstwerks ringt und voll Verzweiflung seine Unfähigkeit erkennt, sie zu verwirklichen, ist aus Zolas „L’Oeuvre“ gehamstert. Alle Einzelheiten hat er sich, wie wir gleich sehen werden, aus Nietzsche, Stirner, Ibsen, den französischen Diabolikern, Decadenten

 Hermann Bahr, Die gute Schule. Seelenstände (!!). Berlin, .

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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und Impressionisten geholt. Aber Alles, was er nachschreibt, wird unter seiner Feder zu einer Parodie von unbezahlbar köstlicher Drolligkeit. Die Qual des Malers ist „der Lyrismus des Rothen. Seine ganze Seele gab darin das Roth, alle seine Gefühle, seine Absichten, seine Wünsche, in klagenden und hoffenden Sonetten; und überhaupt eine völlige Biographie des Rothen, was in ihm geschah und nur überhaupt mit ihm geschehen konnte … Aber im Wirklichen, in den schlichten Tönen des täglichen Lebens vollzog sich dies hohe Lied des Rothen … Es war ein großer wohlgesottener Hummer, in welchem er die Herrschsucht und Gewaltthat des Rothen verleibte“ (für „verkörperte“!), „sein Schmachten an einem Lachs daneben, und das Schelmische und den Frohsinn an vielen Radieschen in heiteren Wechseln. Aber die große, letzte Beichte seiner ganzen Seele hing an einem schwerbauschigen, purpurnen Teppich vom Tische, den Sonne streifte, schmal, aber von desto feurigerer Gluth.“ War schon das | Ringen mit der „Biogra- [] phie des Rothen“ eine Qual, so sollte es ihm noch schlimmer ergehen. Eines Tages „traf ihn der Fluch, hinterrücks, aus einem vortrefflichen, saftigen und sanften Lachs, dem man keine Tücke ansehen konnte, wie er so mit rosigem Schimmer in der üppigen Kräutersauce sich wiegte.“ (Ein gekochter Lachs, der sich wiegte! Das mußte gespenstisch anzusehen sein. Und dieser unheimliche Lachs traf ihn „hinterrücks“, obwohl er vor ihm auf dem Tische stand!) „Aber diese Sauce gerade, diese grüne Kräutersauce, der Stolz des Koches — ja, die war es gewesen. Die hatte ihn geschlagen. Aehnliches hatte er nie gesehen, niemals zuvor, so lange er sich erinnerte, ein milderes und süßeres Grün, so schmachtend und so freudig zugleich, daß man gleich singen und jauchzen mochte. Das ganze Rokoko war darin, nur noch in einer viel gütigeren, sehnsüchtigeren Note. Es mußte auf sein Bild.“ Aber er konnte diese grüne Sauce nie treffen und das war die Tragik seines Lebens. Er „hielt die Wahrheit verschlossen, feige und träge, der einzige, der sie gewähren konnte, er gab es ihnen nicht, den Durst zu löschen, das heilende und erlösende Werk seiner Brust“, nämlich die grüne Sauce! „Einen Riesenbohrer, mit sengender Schraube, hätte er sich ins Fleisch wälzen mögen, … tief, ganz tief, bis ein großes Loch würde, … ein ungeheures Triumphthor seiner Kunst, durch welches die Eingeweide sie herausspeien könnten.“ Daß er seine Kunst in seinen Eingeweiden sucht, kann nicht überraschen, da es sich um grüne Sauce, also eine Speise, handelt. Merkwürdig ist nur, daß er, um seine Kunst aus seinen Eingeweiden ans Tageslicht zu befördern, erst mit einem Bohrer „ein ungeheures Triumphthor“ schaffen will. Das geschieht doch sonst mit viel einfacheren und weniger gewaltsamen Mitteln! Was diesem Ringen mit der grünen Sauce zum Zweck ihrer Bewältigung in einem „heilenden und erlösenden“ Kunst-|werke seine unvergleichliche Komik [] gibt, das ist, daß die ganze Stelle nicht spöttisch, sondern heilig ernst gemeint ist! Bahr kennzeichnet selbst seinen Stil mit diesen Worten: „Ein wilder, fieberischer, tropischer Stil, der nichts mit dem gebräuchlichen Namen in der üblichen Wendung heißt, sondern sich um unerhörte, dunkle, seltsame Wortneuerungen in sonderbarer und gewaltsamer Fügung peinigt.“ Ich will einige Ergebnisse dieser

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Viertes Buch. Der Realismus.

Peinigung anführen, die einen Begriff von Bahrs Sprache und seiner Art, die Dinge zu sehen, geben soll. Die Geliebte des Malers hat „ein zauses Lockenzöpfchen“. Der Maler „zieht die stolze Lanze seines geschmeidigen Spitzbarts aus“. Er gibt „lange Erklärungen, mit Vorschlägen, Einwürfen und Räthen“ (für „Rathschlägen“ !). „Irres Ballen toller Krämpfe.“ „Sie setzte sich auf, … starren, weit hinaus gestielten Blickes.“ „Ohne Ziel, wie die Zigeunerinen laufen, wenn das Blut in ihnen ruft.“ „Er schlürfte mit lauschend ausgestreckten Sinnen diesen Duft von Blumen und Fleisch.“ „Mit kosendem Finger über Hüften und Lenden, schaukelte er leise ihre Nerven.“ „Die Zeilen ihres Busenkorbes (!) schwollen zum Bersten.“ „Aber es fernte (!), wenn er sich legte, der Schlaf, sondern (!) wurde nur, in Stößen und in Frösten, markzerfresserisch, ein gräßliches Wälzen unter grausamen Scheinen.“ „Aber da war sie auf einmal weg … Wie ein Vogel aus der Ruhe stößt. Wie sich ein Stern schneuzt.“ „Alle wüstlingische Karikatur deklamirte er mit jauchzender Begeisterung.“ Die Geliebte des Malers muß nach der Schilderung ein herrliches Wesen sein. Wenn ein Unbekannter sie auf der Straße ansprach, „beschleunigte sie ihren Schritt ein wenig, indem sie, mit hochmüthig aufgezogenen Lidern, das Köpfchen rückwärts zur Seite neigte, und fing, indem sie ungeduldig mit den Fingern schnappte, daß es schnalzte, leise vor sich zu singen an, daß ihm wohl die Lust [] vergehen mußte, in so verlorener | Werbung zu verharren.“ Dieses Benehmen veranlaßt Bahr, sie „ein unnahbar hoheitsvolles Fräulein“ zu nennen. Noch bemerkenswerther als auf der Straße ist sie zu Hause, bei ihrer Morgentoilette. „Oft, wenn sie unter den Grüßen des Morgens, der golden die Hyazinthe ihres Fleisches überschuppte (!!), sich aufrecht vor dem Spiegel flocht, von seinen Begierden umringelt, und langsam mit zupfenden Fingern, die wie rasche Schlangen schimmerten, ganz sachte und beharrlich die verwirrten Wimpern (!), die gesträubten Brauen auszog, netzte, bog, während die Lippen sich in stumme Pfiffe rundeten, zwischen welchen eilig die unruhige Zunge hervorzischelte, ausschnellte, einschmatzte, und dann, mit verschlossenen Lidern, wie unter betender Demuth vorgeneigt, leise, behutsam, innig die Puderquaste, während das Näschen, in der Furcht des Staubes, sich wegspreizte, über die gesenkten Wangen wischte,“ wurde der Maler begreiflicherweise so verliebt, daß er „die Seife von ihren Fingern leckte, den fieberischen Gaumen zu kühlen.“ „Plötzlich aufrecht, auf einem Bein, schnellte sie mit dem Schwunge des andern den Schuh hoch, um ihn durch eine flinke und zuversichtliche Geberde wieder aufzufangen. In dieser anmuthigen Pose verweilte sie.“ „Bald neigte sie sich schmachtend nach sich selber, ganz leise, ganz langsam, wollüstig in der Krümmung der Brüste verweilend, tief in die Kniee, während die Lippen winkten; bald, während die Hüften kreisten, schlich ihr Nacken in schwänischen (!) Bögen buhlerisch gegen ihr folgsames Bild.“ Dabei war ihr Liebhaber so entzückt, „als ob aus tausend Brunnen brandige (!) Ströme durch seine Adern loderten“. Ich denke, es ist nicht nöthig, noch mehr Proben von dieser Irrsinn heuchelnden Redeweise zu geben, die weder in der Bildung und Anwendung der Worte

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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noch im Satzbau der deutschen Sprache angehört. Ich möchte nur noch zeigen, wie weit Bahr in der Nachäffung geht. Hier haben wir Nietzsche: „Aber nur immer: dieses sollte er thun und jenes sollte er | lassen, die gleiche Litanei seit der ersten [] Kindheit, und immer nur sollte und sollte, und was er wollte, das einzig wurde er niemals gefragt, und so, in dieser entsetzlichen Knechtschaft war der ungeheure Drang über ihn gekommen, einmal er selbst zu sein, endlich, und die ungeheure Angst, immer ein anderer zu sein, ewig.“ „Daß Jeder nur aus sich heraus in den Andern drängte, … über ihn zu herrschen! Daß man niemals man selbst sein sollte und durfte, nicht eine selige Stunde, sondern ewig nur auf sich verzichten, sich verwandeln, sich zerstückeln, zur Wollust des Andern … Einsam, einsam — warum wollten sie einen nicht einsam lassen? …“ „Sich die Wüste zu schaffen, die stille, stumme Wüste.“ „Die Anderen hatten nicht dieses Gefühl des Ich, so überschwenglich und maßlos.“ „Den fröhlichen Haß der Menschen und der Welt.“ Hier Ibsen: „Er wollte aufs Land, ja, er selber, genau wie es der andere vorschlug, gewiß. Aber er wollte aufs Land aus freiem Entschlusse, weil es sein Wille war, und nicht auf fremden Vorschlag … Und eher, bevor er fremdem Willen sich beugte, eher verzichtete er noch auf den eigenen lieber; und übrigens, seit es der andere wollte, da war es ihm verdorben, es selber zu wollen.“ Hier Goncourt: „Es war um sie aus schmerzlich Violett und Hellem Golde ein feuchter Schimmer.“ Sein Gefühl war etwas Unfaßliches, „und auch auf gelbem Grunde; schmutzig Gelb, lechzend, verzückt, ermattet, ausröchelnd, verschmachtend, und mit violetten Tönen, aber nur ganz leise.“ „Das war die keusche Wollust. Da hatte er es perlgrau im Gehirn, in schmächtiges Violett hinüber.“ Villiers de l’Isle Adam: „Er mußte die neue Liebe begründen … Im Stile der Elektrizität und des Dampfes, darum handelte es sich. Eine Edison-Liebe … Ja, eine maschinenmäßige Liebe.“ Ein Gemisch von Baudelaire und Huysmans: „Im wogenden Silberstaube des Lichtes erglühte von ihrem Rosenfleisch ein holder, bebender Schein, aus schwarzblauen und hellgrünen | Dämpfen gewoben, welche ihr Flaum ausathmete … Er wollte sie ganz verwüsten [] und entfleischen … Nur Blut, Blut. Da wurde ihm erst gut, wie es herunter striemte (!) … Er machte sich eine Theorie darüber, daß dieses die Fährte nach der neuen Liebe sei: durch die Marter.“ „Da lagerten feuerrothe Wiesen, in lieblichen Hängen verbreitet, … und blaue Vampyre erschlafften, die Hoffnungen. Aber es wandelte, in aufrechtem Stolze und mit kaiserlicher Trauer, eine gewaltige graue Sonnenblume, stumm und fahl, am Arme einer plumpen, dick stinkenden Distel, welche mit breitem, rohem Golde schlepperte (?), weithin.“ „Das wurde für ihn jetzt … die wahre Kunst, die einzige erlösende und beglückende: die Kunst der Gerüche … Aus den blassen, stöhnenden Dämpfen der White Rose, in welchen der Selbstmord siegt, erweckte er die ewige Lehre des Buddha u. s. w.“ Das Weitere liest man besser in der Urschrift, in Huysmans „A rebours“ nach. Auf die nach der Zwangsjacke schreienden, Satyriasis und Sadismus heuchelnden brünstigen Stellen, auf die lustigen Verwechselungen und Falschschreibungen französischer Namen, die dem sich als Pariser aufspielenden Verfasser auf Schritt und Tritt unterlaufen, auf seine

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Viertes Buch. Der Realismus.

häufigen Aeußerungen von Größenwahn sei nur nebenbei hingewiesen. Sie sind nicht wesentlich, aber sie tragen dazu bei, Bahrs Buch zu einer im deutschen Schriftthum bis jetzt einzig dastehenden Kundgebung hysterischer Geistesstörung zu machen. Die meisten jungdeutschen Nachäffer haben sich bisher noch nicht zu den denkmalhaften Leistungen eines Tovote oder Bahr erhoben, sondern sind beim kurzathmigen lyrischen Gedichte stehen geblieben. Eine bequeme Übersicht über ihre Lyrik gewährt der von Bierbaum herausgegebene Sammelband. Einige [] „Gedichte“ dieser Sammlung sind die einfache Niederschrift des | mundfaulen Gequassels eines schneidig thuenden Burschen, der sich am Biertisch im ungeschickt nachgeahmten Fähnrichs-Tone mit einem Trinkkumpan unterhält; z. B. diese Leistung von Arno Holz: („Alter Garten.“) „Ein Faun, der die Flöte bläst. — Ich sehe deutlich seine Finger. — … Auch die rechte“ (Schulter) „sehe ich. — Nur den Kopf nicht. — Der fehlt. — Der ist runtergekollert. — Der liegt seit hundert Jahren schon — Unten im Tümpel. — Plitsch! — ? — Ein Frosch.“ („Schmerz.“) „Vergeben? — Ich? — Dir? — Längst! — Ich thats, noch eh ichs wußte.“ Wenn er besonders leidenschaftlich und pathetisch wird, dann sieht es so aus: („Du.“) „Dich haben, — Dich haben, — Dich endlich mal haben, — Ganz und nackt, — Ganz und nackt! … — Ganz und nackt, — Ganz und nackt! — Und mein Herz — Stand — Still. — Vor Glück, — Vor Glück.“ Die besseren Gedichte der Sammlung klingen wie eine Drehorgel-Übertragung der Heineschen Weise, mit geschmackloser Hervorhebung des platt Sinnlichen. Die „Modernität“ dieser Stücke ist also ungefähr sechzig oder siebenzig Jahre alt. Schlecht kann man sie nicht nennen, sie sind nur gewöhnlich. Bei der hohen Zucht, welche unsere Lyrik seit anderthalb Jahrhunderten erfahren hat, liegt ein ganz annehmbarer Reim-Klingklang jedem Deutschen im Blute. Er ist ihm das Angeborene, eine Erb-Fähigkeit, die man durch die Abstammung von deutschen Eltern erlangt und deren sich jeder Gymnasiast, ja jeder etwas gebildetere Handwerksbursche bewußt wird. Nicht solche Gedichte wie die besseren im „Modernen Musen-Almanach“ zu schreiben ist ein Verdienst, sondern dem natürlichen Drange zu ihrer Niederschrift zu widerstehen. Einige der Mitläufer in der lyrischen Herde haben sich für ihre Nachäffung doch mindestens andere Muster gewählt als den ewigen Heine. Gustav Falke, ein Hamburger, in dessen Vaterstadt Beschäftigung mit englischer Sprache und Literatur Herkommen [] ist, hat vom Präraphaelismus Kunde erhalten und | säuselt rossettisch-mystischästhetisch: („Sonnenblumen.“) „Am Abend zwischen Traum und Wachen — Ich dachte nicht grade an heilige Sachen, — Vor mir der Nazarener stand. — … Hielt eine Blume in der Hand, — Hochstengelig ein goldner Stern — Lehnt an der Schulter unserm Herrn, — Wie frommer Maler Engelsgestalten — Ihre Friedenspalmen halten: — Eine Sonnenblume, voll erschlossen.“ Johannes Schlaf äfft sogar den

 Moderner Musen-Almanach auf das Jahr  herausgegeben von Otto Julius Bierbaum. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. München.

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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 alten Opitz nach: („Papa Opitz.“) „Gleichwie das Taggestirn aus schwarzen Wolken

strahlet — Und rings das Frühlingsfeld mit güldnem Schein bemahlet“ u. s. w. Gesund, vortrefflich und persönlich ist nur Ernst Freiherr von Wolzogen, der sich so vernehmen läßt („Bekenntnisse“): 

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„Mich ärgern die flapsig protzenden Rüden Just so sehr wie die tantenhaft Prüden Ich lache der Gecken, der schniepelig zieren — Halt’ aber sehr auf gute Manieren. Ich liebe die Grünen, die derbfrischen Kleinen, Sie dürfen aber nicht lärmen und greinen. Wer die Ahnen wirft unters alte Eisen, Soll eigene Zeugungskraft erst beweisen.“

Man darf sich wundern, daß Wolzogen mit diesen Gesinnungen sich herbeigelassen hat, in der Gesellschaft dieser „flapsig protzenden Rüden“ zu erscheinen. Der Führer der Herde, Bierbaum, der in München seinen kleinen Bleibtreu spielt und, ein Warwick des jungdeutschen Schriftthums, realistische Genies schafft und absetzt, behauptet mit der die Richtung kennzeichnenden Dreistigkeit, er schreite „Vorwärts, vorwärts — Mitten durch stickige Dunkelheit — Heller Wahrheit entgegen“. Hier einige Proben dieser „hellen Wahrheit“: („Jeanette“ — mit einem n!) „Was | ist mein Schatz? Eine Plättmamsell. — Wo wohnt sie? Unten am [] Gries, — Wo die Isar rauscht, wo die Brücke steht, — Wo die Wiese von flatternden Hemden weht: — Da liegt mein Paradies. — Im allerkleinsten Hause drin, — Mit den Fensterläden grün, — Da steht mein Schatz am Bügelbret, — Hoiho, wie sie hurtig den Bügelstahl dreht, — Gott, wie die Backen glühn.“ Der Leser würdigt hoffentlich die große Wahrheit und Natürlichkeit dieses „Hoiho“ und „Gott“. („Schrei.“) „Mich frißt die Wuth, mich frißt die Gier: — Nach dir, nach dir, nach dir, nach dir! — Es rast mein Blut, es rast mein Hirn: — Nach dir, nach dir, du lachende Dirn! — Krank bin ich vor Liebe an Seele und Leib: — Nach dir, nach dir, du lockendes Weib.“ („Von rothen Backen las ich diesen Spruch.“) „Bauernmädel rundes, — Bauernmädel gesundes, — Bauernmädel schenkelstramm — Haut die ganze Welt zusamm.“ All das ist nur lächerlich und kaum eines Achselzuckens werth. Wahren Schmerz muß man jedoch beim Anblick des Treibens eines der Jungdeutschen empfinden, der mit einem mächtigen lyrischen Talente begnadet war, seine ursprüngliche Begabung jedoch in bodenloser Rohheit verkommen läßt. Karl Henckell hat vielversprechend angefangen. In seinen „Amselrufen“ war wirklich Poesie. In einer spätern Sammlung aber kommen Strophen vor wie diese: „Bauchmast- und Entfettungskuren, — Chic und Chec und Schock, die Huren, — Die Kulthuren der Kultur, — Laster, Lug und Trug die Louis — Rotzten auf die Dichter-

 Otto Julius Bierbaum. Erlebte Gedichte. Zweite Auflage. Berlin, . S. , , , .   Karl Henckell, Diorama. Zürich, . S. , , , .

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pfuis — Der beleidigten Natur.“ Er ist stolz darauf, daß er mit solchem Schweinebehagen in seiner Jauche sühlt, und grinst im Voraus den anständigen Menschen, die sich die Nase zuhalten und den Schritt beschleunigen, wenn sie an seinem Tümpel vorübergehen, höhnisch ins Gesicht: („Vornehme Kritik.“) „Wie werden [] die | reinen, zweihändigen Enten — Das Schmutzbad von sich federn und schütteln! — Wie werden meine anständigen Rezensenten — Moralästhetisch mich rädern und bütteln!“ Er hat nicht nur den Gesittungsmenschen vollständig abgelegt und sich zur Rüpelhaftigkeit eines Busch-Flegels zurückvervollkommt, er hat bei dieser Umwandlung auch das letzte Fünkchen Poesie verloren und leistet Stellen wie die folgende: „In Gelsenkirchen, — Im rothen Rheinland, — Streiken die Grubenleute — Und ist ein gewaltiges Wesen im Gange.“ Das ist nicht etwa der Anfang einer nach Zeilen bezahlten Berichterstatter-Meldung, das sollen Verse sein! Ungefähr auf der gleichen Höhe steht das Gedicht „Moralitäten“, das ich auch darum anführe, weil es einige Selbsterkenntniß verräth: „Sie stecken uns noch tief im Blut, — Die rohen Henkerskniffe, — Der Unterschied von Bös und Gut, — Die sittlichen Begriffe. — Wir sprechen immer noch von Schuld, — Von Sühne und Verbrechen, — Wie wir noch stets von Gottes Huld — Und Strafe Gottes sprechen. — Ich aber weiß, ich bin durch Nichts — Vom Mörder unterschieden — Als durch die Gabe des Gedichts — Und freiern Seelenfrieden.“ Um seinen Anspruch auf „Modernität“ zu begründen, hat Henckell hier, wie man sieht, Nietzsche auf Klapphorn-Reime gezogen. Wenn der jungdeutsche Realismus selbst nichts Anderes verschuldet hätte, als den einen Karl Henckell rettungslos verseucht und verschwärt zu haben, so würde er schon vollauf verdienen, in einem Faß seines eigenen Unraths ersäuft zu werden. Besondere Beachtung verdient Gerhart Hauptmann, der sich bedauerlicherweise ebenfalls unter die „Jungdeutschen“ stecken ließ. Man wird ihn kaum mit diesen verwechseln, denn wenn er ihrer Ästhetik des Gemeinen auch mit einer Leichtblütigkeit Zugeständnisse macht, welche bereits eine beunruhigende Stumpf- | [] heit seines Geschmacks und Künstlergewissens verräth, so unterscheidet er sich doch von ihnen durch einige große Eigenschaften: er besitzt eine saftige, tief gefärbte, mit Ausdruck und Gefühl vollgeladene Sprache, wenn es auch eine Mundart ist, er weiß die Wirklichkeit zu sehen und hat die Kraft, sie in der Dichtung wiederzugeben. Ein endgiltiges Urtheil wird Niemand über den Dreißigjährigen fällen wollen. Man kann nur von seinen Anfängen sprechen und aus ihnen Hoffnungen für seine weitere Entwickelung schöpfen. Was er bisher geleistet hat, das ist erstaunlich ungleich. Diese Arbeiten zeigen neben Eigenart öde Nachahmung, neben hoher künstlerischer Einsicht Unbeholfenheiten und Naivetäten eines Schuljungen und

 „Ich bin ein zukunftwinkender — Poet der Gegenwart.“ „Wir sind die ‚modernen Vandalen‘, — Wir wandeln wuchtig und schwer — In eisenbeschlagnen Sandalen — Die Pfade der Zukunft daher“ u. s. w.

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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neben genialen Aufflügen betrübende Banalitäten. Es läßt sich nicht einmal noch erkennen, ob er Dramatiker oder Erzähler ist. Denn in zweien seiner Stücke, „Vor Sonnenaufgang“ und „College Crampton“, herrscht eine so vollständige Abwesenheit von fortschreitender Handlung, eine so reine, entwickelunglose Zuständlichkeit, wie der Trieb eines von der Natur auf das Theater hingewiesenen Talents sie nie geduldet hätte. Vielleicht steht Hauptmann blos unter dem Bann einer ästhetischen Theorie, aus dem er sich später befreien wird. Er will nämlich das „milieu“ treu und vollständig schildern und verliert darüber die Hauptsache in der Dichtung, die handelnden Personen und ihre Geschicke, aus den Augen. Seine Dramen zerfallen deshalb vielfach in eine Reihe Episoden, die an sich gut beobachtet und charakteristisch sind, aber mit der Handlung nur lose oder gar nicht zusammenhängen, wie in dem Drama „Vor Sonnenaufgang“ das Auftreten des Hopslabär, der abziehenden Magd Marie, der Milch mausenden Kutschenfrau u. s. w., und sie werden dadurch zu Sittenbildern, hören aber gleichzeitig auf, einheitliche Dichtungen zu sein. Wie von den französischen Realisten die übermäßige und | unnütze Betonung [] des milieu, so hat er von Ibsen die Modernitäts-Marktschreierei und den ThesenSchwindel übernommen. Nach dem Muster des norwegischen Dichters klebt er in irgend eine banale, keiner besondern Zeit und keinem besondern Orte ausschließlich angehörende Geschichte plötzlich und unorganisch eine aufdringliche Phrase ein, die dunkel auf die „große Zeit, in der wir leben“, die „gewaltigen Ereignisse, die sich vorbereiten“, u. dgl. anspielen. „Einsame Menschen“ beispielsweise sind der unnöthig anspruchsvolle Titel eines Dramas, das uns einen echt Ibsenschen Idioten zeigt, welcher sich von seiner trefflichen Gattin unverstanden glaubt und sich in eine russische Studentin verliebt, die als Besucherin in seinem Hause weilt. Wie kraftlose Wichte dieser Art zu thun pflegen, möchte er zugleich die Russin besitzen und die Gattin nicht verlieren; er hat weder den Muth, seiner Frau durch offene Lossagung von ihr Herzleid zu bereiten, noch die Kraft, seine pflichtwidrige Leidenschaft zur Fremden zu bezwingen. Er will in seiner Qual sich selbst belügen, sich überreden, daß er für die Russin nur Freundschaft, nur Dankbarkeit für Verständniß und geistige Anregung empfindet; die Russin sieht aber klarer und will das Haus verlassen. Das Ende vom Liede ist, daß der Idiot sich ersäuft. Dieser Vorwurf, das Schwanken eines Schwächlings zwischen zwei Weibern, von denen das eine die Pflicht, das andere das vermeintliche Glück verkörpert, ist so alt wie das Theater selbst. Er hat nichts mit der Zeit zu thun. Modernität kann ihm höchstens angeschwindelt werden. Und in diesem schwächlichen Drama läßt Hauptmann seine Personen folgende tiefsinnige und beziehungsvolle Redensarten machen: „Frl. Anna (die Russin). Es ist eigentlich eine große Zeit, in der wir leben. Es kommt mir vor, als ob etwas Dumpfes, Drückendes allmälig von uns wiche. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor? Johannes (der Idiot). In wie fern? | Frl. []

 Einsame Menschen, Drama. Berlin, . S. .

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Viertes Buch. Der Realismus.

Anna. Auf der einen Seite beherrschte uns eine schwüle Angst, auf der andern ein finstrer Fanatismus. Die übertriebene Spannung scheint nun ausgeglichen. So etwas wie ein frischer Luftstrom, sagen wir aus dem zwanzigsten Jahrhundert, ist hereingeschlagen.“ Dieselbe aufdringliche Modernitäts-Flunkerei bestimmte ihn auch, sein Erstlingswerk „Vor Sonnenaufgang“ zu nennen und als „soziales Drama“ zu bezeichnen. Es ist nicht „sozialer“ als irgend ein anderes Drama und mit „Sonnenaufgang“ in bildlichem Sinne hat es nicht das Geringste zu thun. Es zeigt die Verhältnisse eines schlesischen Dorfes, in welchem die Bauern durch Kohlenfünde auf ihren Gütern Millionäre geworden sind. Der Gegensatz zwischen der Rohheit der Dörfler und ihrem Reichthum gibt gute Possenauftritte; was hat er aber mit der Zeit und ihren Fragen zu schaffen? In die Posse ist ein Thesenstück eingeschachtelt. Der Millionen-Bauer ist ein Trunkenbold. Seine Tochter kann das Laster des Vaters geerbt haben. Deshalb verläßt ein Mann, der sich in sie verliebt und mit ihr verlobt hat, sie schmerzlich entschlossen, als er erfährt, daß der Alte säuft. Diese These ist eine Albernheit. Denn ein Säufer kann wohl seine Verirrung auf seine Kinder übertragen, muß es aber nicht, und in dem gegebenen Falle verräth die doch schon erwachsene Tochter nicht die leiseste Neigung zum Trunke. Die These ist nach dem Vorbilde der Ibsenschen Faseleien ausgetiftelt und ebensowenig aus dem Leben genommen wie der Bräutigam, der seine Liebe einer höchst unsichern Theorie unterordnet. In diesem Manne erkennen wir nämlich unsern alten Freund, den Typus aus dem Roman-Rezept der Realisten, der unbestimmte Anspielungen auf sozialistische Studien macht, die er verfolgen soll, und sich durch diese nebeligen Hinweise als „moderner“ Mensch ausweist. | [] Wahr und stark ist Hauptmann nur, wo er arme, kleine Leute aus der untersten Volksklasse in ihrer eigenen Mundart sprechen läßt. Die Mägde in „Vor Sonnenaufgang“ sind prächtig. Die Amme, die den Säugling einsingt, die Wäscherin Frau Lehmann, die ihr häusliches Unglück klagt, sind weitaus die gelungensten Gestalten in „Einsame Menschen“. Und wenn „Die Weber“ das Beste sind, was er bisher geschaffen hat, so ist es, weil sich hier blos die ärmsten und kleinsten Leute bewegen und weil hier blos Dialekt gesprochen wird. So wie er aber verwickeltere Menschen der gebildeten Klassen auf die Socken stellen soll, Menschen, die nicht hungern und an Geldnoth leiden, die hochdeutsch sprechen, die einen weitern geistigen Gesichtskreis haben, wird er unsicher und flau und greift zum Musterbuch des Realismus, statt die Wirklichkeit als Vorlage zu benutzen.  Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. Sechste Auflage. Berlin, . S. : „In diesen zwei Gefängnißjahren habe ich mein erstes volkswirthschaftliches Buch geschrieben.“ S. : „Die Ikarier — … alle Arbeit und allen Verdienst theilen sie gleichmäßig. Keiner ist arm, es gibt keine Armen unter ihnen.“ S. : „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück Aller … Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt.“ (Wohlverstanden: von diesem berühmten „Kampf“ ist im Stücke selbst nicht die leiseste Spur zu sehen!) S. : „Ich möchte die hiesigen Verhältnisse studiren. Ich will die Lage der hiesigen Bergleute studiren … Meine Arbeit soll vorzugsweise eine deskriptive werden u. s. w.“

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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„Die Weber“ sind das einzige wirkliche Drama unter den fünf, die Hauptmann bisher geschaffen. Viel Handlung ist auch hier nicht vorhanden, aber sie reicht aus und sie schreitet fort. Wir sehen zuerst das tiefe Elend, in dem die Weber verkommen, dann sind wir Zeugen des Erwachens ihrer Wuth über den unleidlichen Zustand und dann entwickelt sich die Leidenschaft vor unseren Augen in steter Steigerung zur Raserei, zum Zerstörungswahnsinn, zum Aufruhr und Straßenkampf mit allen seinen tragischen Folgen. Das Außerordentliche an | diesem [] Drama ist, daß Hauptmann darin mit Hochachtung abnöthigender Genialität die ungeheure Schwierigkeit überwunden hat, uns fortwährend menschlich zu fesseln und zu bewegen, ohne seiner Dichtung einen bestimmten Menschen als Mittelpunkt zu geben, und die Handlung auf eine große Anzahl Personen und in eine Fülle von Einzelzügen zu vertheilen, ohne daß sie jemals aufhört, einheitlich und straff zu sein. Diese peinlich genau beobachteten Züge sind nothwendig von einzelnen Menschen erlebt und doch erwecken sie Spannung, Antheilnahme, Mitleid nicht für den Einzelnen, sondern für eine ganze Menschenklasse. Wir gelangen durch die Emotion zu einer Verallgemeinerung, die sonst nur Verstandesarbeit ist, durch die Dichtung zu einem Gefühle, das sonst nur von der Weltgeschichte erregt wird. Indem er dies möglich macht, erhebt Hauptmann sich weit über den Sumpf öder Nachahmung und schafft eine wirklich neue Form: das Drama, in welchem nicht ein Einzelner, sondern die Menge der Held ist; er erreicht mit Kunstmitteln die Sinnestäuschung, daß wir beständig glauben, die namenlose Million vor uns zu sehen, obwohl natürlich immer nur wenige Individuen auf der Bühne leiden, sprechen und handeln. Neben dieser großen und grundstürzenden Neuerung sind in dem Stücke noch andere ästhetische Hauptfragen überwältigend schön und schlicht gelöst. Wir haben da ein Drama ohne Liebe und damit den Beweis, daß auch mit anderen menschlichen Gefühlen als nur dem Geschlechtstriebe das Gemüth des Lesers aufs Gewaltigste erschüttert werden kann. Das Stück ist ferner ein merkwürdiger Beitrag zu der ganz neuen „Psychologie der Menge“, mit der Sighele, Fournial u. A. sich beschäftigt haben, und es gibt ein durchaus richtiges Bild von dem Delirium und den Sinnestäuschungen, | die sich des Einzelnen in [] einem aufgeregten Haufen bemächtigen und seinen Charakter und alle seine Triebe nach dem Vorbilde der in der Regel verbrecherischen Führer umgestalten. Es enthält endlich einen in der ganzen mir bekannten Weltliteratur nicht so vollendet anzutreffenden Beweis, daß auch mit dem Ekelhaften, wenn es richtig verwendet ist, Schönheitswirkung erzielt werden kann. Ein armer Weber, der seit zwei Jahren kein Fleisch gegessen hat, läßt von einem Kameraden ein ihm zugelaufenes nettes Hündchen schlachten, da er dazu selbst nicht das Herz hat, und seine Frau brät es ihm. Er kann seine Gier nicht bemeistern und fängt an, aus der Bratpfanne heraus zu schlingen, fast ehe das Fleisch noch gar geworden ist. Aber sein Magen

  Scipio Sighele, La folla delinquente. Turin, . Fournial, Essai sur la psychologie des foules. Lyon, .

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Viertes Buch. Der Realismus.

verträgt den Leckerbissen nicht und er muß ihn zu seiner Verzweiflung wieder von sich geben. Der Zug ist an sich höchst unappetitlich. Aber er wird hier schön und tief bewegend, denn er kennzeichnet mit unvergleichlich tragischer Kraft das Elend der bejammernswerthen Hungerleider. Dieses Stück, scheinbar so realistisch in dem Sinne, den die oberflächlichen Schwätzer diesem Worte beilegen, ist als Ganzes der überzeugendste Widerspruch gegen die Theorie des Realismus. Denn es ist unglaublich, daß alle Züge, welche | [] die entsetzliche Lage der Weber kennzeichnen, sich gerade in die eine Mittagsstunde und in das eine Zimmer beim Fabrikanten Dreißiger zusammengedrängt haben sollen, und es ist, wenn nicht völlig unmöglich, doch höchst unwahrscheinlich, daß die mörderische Soldatenkugel gerade den Weber Hilse getödtet haben wird, den einen gottvertrauenden, in sein Geschick ergebenen Mann, der ruhig bei seiner Arbeit geblieben ist, als alle Anderen zur Plünderung und zum Straßenkampf stürzten. Da hat der Dichter nicht „reales“ Leben wiedergegeben, sondern den Stoff, den er sich durch die Beobachtung des Lebens erworben, frei verwendet, um seinen persönlichen Gedanken künstlerisch zu versinnlichen. Sein Gedanke war, für eine bestimmte Form von Menschenelend unser Mitleid so heftig, wie er es selbst empfindet, zu erregen. Zu diesem Zwecke sammelte und fügte er mit sicherer Künstlerhand in einen engen Rahmen, was im Leben wohl über Monate oder Jahre und weite Strecken vertheilt war, und lenkte den Flug einer blind unbewußten Kugel so, daß sie wie ein vernünftiger Bösewicht ein besonders ruchloses Verbrechen beging und dadurch unser Mitgefühl mit den armen Webern zu unleidlicher Entrüstung steigerte. Das Stück zeigt uns also Gedanken und Absichten des Dichters, es zeigt uns seine Art, die Wirklichkeit zu sehen und zu deuten, es läßt uns die Gefühle erkennen, welche das Schauspiel der Welt in ihm erweckt, es ist also eine im höchsten Maße subjektive Dichtung, das heißt das Gegentheil einer „realistischen“ Abbildung des Thatsächlichen, die nothwendig photographisch objektiv sein müßte. Wie ist es möglich, daß der seine Mittel mit so feinem Geschmack und kluger Berechnung der Wirkung verwendende Künstler zugleich solche Naivetäten begeht wie etwa diese Bühnen-Anweisungen in „Vor Sonnenaufgang“: „Frau Krause, im Begriffe, sich zu setzen, erinnert sich, daß das Tischgebet noch nicht gesprochen [] ist, und faltet mechanisch, doch ohne ihrer Bosheit | im Uebrigen Herr zu sein, die Hände.“ „Es ist der Bauer Krause, welcher wie immer als letzter Gast das Wirths-

 Gerhart Hauptmann, Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren. Zweite Auflage. Berlin, . S. : „Bertha. Wo is denn Vater? (Der alte Baumert hat sich stillschweigend entfernt.) Mutter Baumert. Ich weeß nich, wo a mag hinsein. Bertha. Is etwan, das a das Fleescherne nimehr gewehnt is?! Mutter Baumert (außer sich, weinend). Nu da seht irsch, nu da seht irsch! Da bleibts n noch ni amal. Da wird a das ganze bissel scheenes Essen wieder von sich geben. Der alte Baumert (kommt wieder, weinend vor Ingrimm). Nee, nee! mit mir is bald gar alle. Mich habn se bald a so weit! Hat man sich amal was gutes dergattert, da kann mas ni amal mehr bei sich behaltn. (Er sitzt weinend nieder auf die Ofenbank.)“

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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haus verlassen hat.“ „Er umarmt sie mit der Plumpheit eines Gorillas“ u. s. w. Wie  soll ein Schauspieler es anfangen, den Zuschauer bei seiner Plumpheit gerade an

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einen Gorilla denken zu machen oder ihm zu zeigen, daß er das Wirthshaus „wie immer“ als Letzter verläßt? Und besonders: wie ist es zu erklären, daß derselbe Hauptmann, der die „Weber“ geschaffen hat, nach dieser stolzen Dichtung die Novellen „Der Apostel“ und „Bahnwärter Thiel“ schreiben konnte? Hier fallen wir in die unterste Tiefe der jungdeutschen Unfähigkeit zurück. Der Gedanke Unsinn und Nachahmung, von Lebenswahrheit kein Schimmer und die Sprache, die, wo Hauptmann sie mundartlich schreibt, so eigenartig und lebendig ist und jede leiseste Schattirung des Gedankens so genau wiedergibt, banal und hudelig zum Weinen. Ueber den „Apostel“ ist kein Wort zu verlieren. Ein offenbar geisteskranker Schwärmer geht in morgenländischer Prophetentracht durch die Straßen von Zürich und wird von der Menge für Christus gehalten und angebetet. Das ist die ganze Geschichte. Sie ist so vorgetragen, daß man nie weiß, wo Träume des „Apostels“, wo Wirklichkeiten erzählt werden. Seine Gedanken und Gefühle sind ein Widerhall von Nietzsche. Unverkennbar ist „Zarathustra“ Hauptmann zu Kopfe gestiegen und es hat ihn nicht ruhen lassen, ehe er von diesem Blödsinn einen zweiten Aufguß hergestellt hat. „Bahnwärter Thiel“ hat seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes verloren. Dienstlich stets vom Hause abwesend, muß er, um dem Kind eine Pflegerin zu geben, eine zweite Frau heiraten. Die Stiefmutter, die dem Gatten bald ein eigenes Kind gebiert, behandelt das mutterlose schlecht. Trotz der Warnung | Thiels Iäßt sie eines Tages das Stiefkind auf der Bahnstrecke ohne [] Aufsicht und es wird vom Zuge überfahren. Darauf ermordet Thiel in der Nacht seine Frau und sein Kind zweiter Ehe mit einer Axt aufs Gräßlichste und wird als Tobsüchtiger in eine Irrenanstalt geschafft. Aus der Schilderung Thiels nur einige Züge: „Im Dunkel … wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle. Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden Bahnzügen unterbrochen, und gerieth hierbei in eine Extase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Todte leibhaftig vor sich sah.“ „Die“ (Telegraphen-) „Stange am Südende des Reviers hatte einen besonders vollen und schönen Akkord … Der Wärter wurde weihevoll gestimmt, ähnlich wie in der Kirche. Zudem unterschied er mit der Zeit eine Stimme, die ihn an seine verstorbene Frau erinnerte. Er stellte sich vor, es sei ein Chor seliger Geister, in den sie ja auch ihre Stimme mische, und diese Vorstellung erweckte in ihm eine Sehnsucht, eine Rührung bis zu Thränen.“ Jungdeutschland spricht von Auerbach verächtlich, weil er empfindsame Bauern geschildert hat. Ist auch nur ein einziger Schwarzwäldler Auerbachs so zucker- und rosenwässerig sentimental wie dieser Bahnwärter des „Realisten“ Hauptmann, der sich an die Telegraphenstange lehnt und von ihrem Tönen zu Thränen gerührt wird? Auch die Stelle,

 Gerhart Hauptmann, Der Apostel. Bahnwärter Thiel. Novellistische Studien. Berlin, .

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(S. —.) wo gezeigt ist, wie Thiel beim Anblick seines Weibes in verliebte Erregung geräth („eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte“), hat Hauptmann aus Zolas Romanen und nicht aus der Beobachtung deutscher Bahnwärter geschöpft. Oder wollte er überhaupt einen Geisteskranken schildern, der dies immer war, lange ehe seine Tobsucht zum Ausbruch kam? Dann hat er das Bild sehr falsch gezeichnet. | [] Und der Stil in diesem unglücklichen Buche! „Die Kiefern … rieben quietschend ihre Zweige aneinander“ und „ein lautes Quietschen, Schnarren, Rasseln und Klirren“ (von einem gebremsten Zug) „durchdrang weithin die Abendstille.“ Ein und dasselbe Wort, um die Geräusche sich an einander reibender Baumzweige und eines gebremsten Zuges zu bezeichnen! „Zwei rothe, runde Lichter“ (einer Lokomotive) „durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungethüms die Dunkelheit.“ „Die Sonne … im Aufgehen gleich einem ungeheuern blutrothen Edelstein funkelnd.“ „Der Himmel, der wie eine riesige, makellos blaue Kristallschale das Goldlicht der Sonne auffing.“ Und noch einmal: „Der Himmel wie eine blaßblaue, leere Kristallschale.“ Der Mond hing „einer Ampel vergleichbar, über dem Forst.“ Wie kann ein Schriftsteller, der vor sich Achtung hat, solche Gleichnisse gebrauchen, deren sich ein schreibender Schneidergeselle schämen würde? Auch sonst unzählige Liederlichkeiten: „Vor seinen Augen schwimmt es durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich.“ Diese glänzen nicht gelb, sondern bläulich. „Seine gläsernen Pupillen bewegten sich unaufhörlich.“ Diese Erscheinung hat noch nie Jemand gesehen. „Die Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein zwischen die Wipfel hinein.“ Das Gebein ist der Theil des Körpers, der nicht verwest. „Das fließende Blut war das Zeichen des Kampfes.“ In der That ein zuverlässiges Zeichen! Selbst an groben Verstößen gegen die Sprachlehre fehlt es nicht, ich will aber annehmen, daß dies Druckfehler sein mögen. Wenn Gerhart Hauptmann ehrliche Freunde hat, so ist es ihre heilige Pflicht, ihm das Gewissen zu schärfen. Er, der gezeigt hat, wie Bedeutendes er leisten kann, hat nicht das Recht, gedankenlos zu sudeln wir der erstbeste „jungdeutsche“ Pfuscher. Er muß streng gegen sich sein und sich bemühen, immer der Künstler zu bleiben, der er in den „Webern“ gewesen ist. [] Hauptmanns Erfolge haben Arno Holz und Johannes | Schlaf nicht ruhen lassen und die Beiden haben sich zusammengethan, um sein „Vor Sonnenaufgang“ nachzuahmen. Aus ihrem vereinten Bemühen ist die „Familie Selicke“ hervorgegangen, ein Drama, in dem ebenfalls gar nichts geschieht, in dem ebenfalls der Alkoholismus behandelt wird und die Personen ebenfalls mundartlich sprechen. Für die „Modernität“ ist ein Kandidat der Theologie angestellt, der ein Freidenker geworden ist, übrigens aber trotzdem eine Pastorstelle annehmen will. Ich erwähne dieses nichtssagenden Machwerks blos, weil die Realisten es als eine ihrer Großthaten anzuführen pflegen. So sehen die jungdeutschen Realisten aus, zu denen ich, wie gesagt, den einen wirklichen, berechtigten Schriftsteller Gerhart Hauptmann nicht rechnen möchte.

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Sie können nicht deutsch, sie sind unfähig, das Leben auch nur zu bemerken, geschweige denn zu verstehen, sie wissen nichts, lernen nichts, erfahren und erleben nichts, sie haben nichts zu sagen, weder ein echtes Gefühl noch einen persönlichen Gedanken auszudrücken, aber sie schreiben immer zu und ihr Geschreibsel gilt weiten Kreisen für das einzige deutsche Schriftthum der Gegenwart und Zukunft. Sie äffen die abgestandensten Moden des Auslandes nach und wollen Neuerer und Originalgenies sein. Sie hängen vor ihren Kramladen das Schild: „Zur Modernität“ und man findet bei ihnen nichts als die abgelegten Hosen der ältesten Dutzendschriftsteller. Man braucht aus Allem, was sie bisher veröffentlicht haben, nur die paar Zeilen zu streichen, in welchen von den dunkeln sozialistischen „Studien“ oder „Arbeiten“ des Helden gemunkelt wird, und es bleibt ein elender Quark ohne Farbe, Geschmack und Beziehung zu Zeit und Raum übrig, den schon vor fünfzig Jahren ein etwas gewissenhafter Redakteur als gar zu verschimmelt unter den Tisch geworfen hätte. Sie wissen das ganz gut und um denen zuvorzukommen, die ihnen ihren Schwindel vorhalten würden, schreiben sie ihn keck den von ihnen begeiferten anständigen | Schriftstellern zu. So wagt Hans Merian zu sagen: [] „Spielhagen gibt sich den Anschein, als ob er die Grundideen und Konflikte seiner Romane aus den unsere Gegenwart bewegenden großen Zeitfragen schöpfe. Bei näherer Betrachtung löst sich aber auch diese ganze Herrlichkeit in eitel Spiegelfechterei auf.“ Und: „Den in neuester Zeit in Realismus machenden Romanfabrikanten à la Paul Lindau machen wir den falschen, unechten Realismus zum Vorwurf.“ Und derselbe Hans Merian findet Max Kretzers und Karl Bleibtreus Realismus echt, ihre nach Berlin geschmuggelten Pariser Cocottengeschichten und Abenteuer mythischer Kellnerinen „aus den großen Zeitfragen geschöpft“! Bleibtreu, dessen einzige Fähigkeit die für die Reklame ist, der nur mit den überwältigendsten Reklamekünsten sein realistisches Jungdeutschland gegründet hat, singt mit frommem Augenaufschlag: „Der Säugling kreischt aus dem Reklamewindel: — O bitte, bitte, etwas Presseschwindel, — Der Pöbel immerdar verehrt die Suada der Pathosschwätzer!“ Ist das nicht die Methode der Leute, die vor einem Schutzmann ausreißen und im Laufen am lautesten schreien: „Haltet den Dieb“? Die jungdeutsche Bewegung ist ein unvergleichliches Beispiel jener literarischen Bandenbildung, die ich im ersten Buche beschrieben habe. Sie begann mit einer Gründung in aller Form. Ein Mann warf sich zum Hauptmann auf und warb Spießgesellen, um mit ihnen in die böhmischen Wälder zu ziehen. Der Zweck war derselbe, den jede andere Verbrecherbande, die Maffia, die Mala vita, die Mano negra u. s. w. verfolgt: Wohlleben ohne Arbeit durch Plünderung der Reichen und Brandschatzung der eingeschüchterten Armen, Begünstigung der Rachehandlungen einzelner Mitglieder an Persönlichkeiten, | die sie beneiden, hassen oder fürch- [] ten, straflose Befriedigung des durch Sitte und Gesetz eingeengten Hanges zur

 Hans Merian, Die sogenannten „Jungdeutschen“ in unserer zeitgenössischen Literatur. Zweite Auflage. Leipzig, ohne Jahreszahl. S. , .

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Viertes Buch. Der Realismus.

Unzucht und zu Missethaten. Wie die Mala vita u. s. w. beschönigt auch diese Bande ihr Treiben durch Schlagworte, die ihr die Gunst oder doch die Nachsicht der urtheillosen und leicht gerührten Menge werben sollen. Die Briganten behaupten immer, daß sie vom Wunsche geleitet seien, die Ungerechtigkeiten des Schicksals nach Möglichkeit gut zu machen, indem sie den Reichen ihren Ueberfluß nehmen, um die Noth der Armen damit zu lindern. Ebenso gibt diese Bande vor, daß sie die Sache, der Wahrheit, der Freiheit und des Fortschrittes — mit unflätigen Liebesgeschichten von Kellnerinen und Straßendirnen! — vertheidigt. Man wird ihr Mitglied durch förmliche Aufnahme und nach Bestehung bestimmter Proben. Man muß zuerst einen anerkannten und verdienten Schriftsteller öffentlich mit Unrath bewerfen. Bei dem Vorherrschen der gemeinen und schlechten Emotionen in den Mitgliedern der Bande macht es ihnen mehr Vergnügen, einen Beneideten verunglimpft zu sehen, als selbst gelobt zu werden. Dann muß der Bewerber Einen oder Einige von der Bande als Genies anbeten und zuletzt hat er in Vers oder Prosa den Beweis zu liefern, daß er ebenfalls in der Sprache eines Zuhälters Gedanken eines Strolches und Empfindungen eines Stinkthiers auszudrücken wisse. Sind diese drei Proben gut bestanden, so wird man in die Bande aufgenommen und für ein Genie erklärt. Wie die Räuberbanden ihre Schlupfwinkel, ihre Hehler und ihre geheimen Bundesgenossen oder „Affiliirten“ in der bürgerlichen Gesellschaft haben, so besitzt die Bande ihre eigenen Blätter, ihre bestimmten Verleger, die ihr — wenigstens anfangs — Alles abnahmen, und geheime Einverständnisse mit Kritikern anständiger Zeitungen. Ihr Einfluß reicht sogar bis in die Fremde hinüber, eine Erscheinung, die bei der Bandenbildung häufig beobachtet und von Lombroso aus[] drücklich festgestellt | wird. „Die Mattoiden“, sagt er, „sind, im Gegensatz zu den Genies und Wahnsinnigen, durch Gemeinsamkeit der Interessen und des Hasses verbunden; sie bilden eine Art Freimaurerei, die umso mächtiger ist, als sie weniger regelmäßig ist; sie ist gegründet auf das Bedürfniß, der Lächerlichkeit zu widerstehen, die ihnen allen gemein ist und sie unerbittlich überall hin verfolgt, und ihren natürlichen Gegensatz, das Genie, zu entwurzeln oder wenigstens anzufeinden; sie hassen sich unter einander, aber sie stehen doch für einander ein.“ Wer auf einer Warte steht, die einen etwas weiten Umblick gewährt, der kann leicht die Arbeit der Sendboten dieser internationalen Freimaurerei beobachten. Der schon erwähnte T. de Wyzewa, der den Franzosen Nietzsche als den bedeutendsten Schriftsteller vorstellt, welchen Deutschland in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hervorgebracht hat, spricht in der „Revue bleue“ und dem „Figaro“ von Conrad Alberti als dem „Dichter“, der das deutsche Schriftthum des zwanzigsten Jahrhunderts beherrschen werde. Die Winkelblättchen der Symbolisten und Instrumentisten, die „Revue blanche“ und der „Mercure de France“, übersetzen die „Erlebten Gedichte“ von O. J. Bierbaum, aus denen ich Proben mitgetheilt habe. Andererseits legt O. E. Hartleben sogenannte „Gedichte“ des belgischen Symbolis-

 C. Lombroso et R. Laschi, Le crime politique etc. . Band S. .

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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ten Albert Giraud, „Pierrot lunaire“, dem deutschen Publikum vor und H. Bahr  sabbert verzückt über die Pariser Mystiker. Ola Hansson schwärmt vor den deut-

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schen Lesern von den nordischen Realisten und verkündet in Schweden die frohe Botschaft des jungdeutschen Realismus u. s. w. Ihr Treiben hat der Bande selbst nicht viel genützt, aber es hat im deutschen Schriftthum schweren Schaden angerichtet. Sie übte auf die jungen Leute, die in den letzten sieben oder | acht Jahren hervorgetreten sind, nothwendig eine unheil- [] volle Anziehung aus. Wenn man die ungeheuern Schwierigkeiten erwägt, die sich dem Neuling entgegenstellen, welcher ohne Verbindungen, ohne Beschützer und Förderer, ganz auf sich selbst angewiesen, den Marterweg zum schriftstellerischen Erfolge antritt, so wird man es begreiflich finden, daß die Auftretenden das Verlangen haben mußten, sich einer Gesellschaft anzuschließen, die eine mächtige Gliederung, eigene Zeitschriften und Verleger und ein bestimmtes Publikum besaß und stets bereit war, für ihre Angehörigen mit der Unbedenklichkeit und den Kampfgewohnheiten von Messerstechern einzutreten. Als Mitglied der Bande war man aller Mühsal des Beginns enthoben. Nur die allerstärksten Talente, wie z. B. Hermann Sudermann, verschmähten es, sich den Kampf durch solche Bundesgenossen zu erleichtern. Die Anderen ließen sich gern in die Bande einreihen. Die Folge davon war, daß gänzlich unberechtigte Bursche zum Schriftstellern verlockt wurden, die nie vor das Publikum gelangt wären, wenn es die besonderen Ablagerungsstellen nicht gegeben hätte, wo jeder Müll angefahren werden durfte, und daß andere, vielleicht nicht ganz unbegabte, Zeitschriften und Verleger für Kindereien fanden, deren Erscheinen im Druck vor der Bildung der Bande undenkbar gewesen wäre. Die Einen warfen sich auf das berufsmäßige Schreiben in einem Alter, in welchem sie noch lange hätten lernen müssen, und blieben dadurch unwissend, unreif und oberflächlich, die Anderen gewöhnten sich eine Lotterigkeit und Schlumperei an, in die sie nie versunken wären, wenn sie, in Ermangelung der ihnen von der Organisation der Bande gebotenen Bequemlichkeiten, sich einiger Zucht hätten unterwerfen und ihre Fähigkeit sorgsam ausbilden müssen. Der Bestand dieser literarischen Maffia begünstigte die Nachäffer gegen die Selbstständigen, die Rotte gegen die Einsamen, die Schmierer gegen die Künstler und die Unflätigen gegen die Feinfühligen so stark, daß ein Wettbewerb fast nicht | mehr möglich wurde. Das [] wuchernde Aufschießen läppischer, knabenhafter und roher Machwerke ist das Ergebniß dieser Pflege der Unfähigkeit und Unreife und dieser Prämie auf die Gemeinheit. Ich möchte die zerstörende Wirkung der Bande nur an einem Falle nachweisen. Man erinnert sich vielleicht des Darmstädter Gymnasiasten, der unter dem Decknamen Hans G. Ludwigs schrieb und sich  im Alter von  Jahren tödtete. Er hatte damals schon seit zwei Jahren in den amtlichen Zeitschriften Jungdeutschlands realistische Genies beweihräuchert und idiotische Novellen veröffentlicht und er beging Selbstmord, weil ihm, wie er schrieb, „dieses verfluchte Winkelleben“, das heißt die Pflicht, in der Schule regelmäßig zu lernen und zu arbeiten, „die Kraft brach.“ Viele Gymnasiasten schreiben albernes Zeug und schi-

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Viertes Buch. Der Realismus.

cken es den Blättern. Da es aber nicht gedruckt wird, so kommen sie allmälig zur Besinnung, der Kopf wird ihnen nicht verdreht und sie bilden sich nicht ein, daß sie viel zu gut dazu sind, Aufgaben zu machen und sich für Schulprüfungen fleißig vorzubereiten. Ludwigs wäre vielleicht von seiner Thorheit geheilt worden, er würde heute vielleicht leben und ein nützlicher Mensch werden können, wenn ruchlose Redaktionen realistischer Zeitschriften nicht seine Faseleien gedruckt, ihn von seinen Studien abgelenkt und seine krankhafte Knabeneitelkeit zu Größenwahn gesteigert hätten. Daß dieser Einbruch mit bewaffneter Hand in das Schriftthum, um ein Nietzschesches Wort zu gebrauchen: dieser Sklavenaufstand in der Literatur, bis zu einem gewissen Maße gelingen konnte, das findet seine Erklärung in den deutschen Zuständen. Eine Versumpfung war nach  in unserm Schriftthum thatsächlich eingetreten. Dies konnte auch nicht anders sein. Das deutsche Volk hatte seine ganze Kraft anspannen müssen, um seine Einheit in furchtbaren Kriegen zu erringen. Man kann aber nicht zugleich Weltgeschichte in größtem Stil machen [] und ein blühendes Kunstleben führen, sondern nur das eine oder | das andere. Im Frankreich Napoleons I. hießen die berühmtesten Schriftsteller Abbé Delille und Népomucène Lemercier. Das Deutschland Wilhelms I., Moltkes und Bismarcks konnte keinen Goethe und Schiller hervorbringen. Die Sache erklärt sich ganz unmystisch. Das Volk gewinnt aus den gewaltigen Ereignissen, die es erlebt und an denen es mitwirkt, einen Maßstab, gegen den gemessen alle Kunstwerke zusammenschrumpfen, und die Dichter und Künstler, und zwar gerade die begabtesten und gewissenhaftesten unter ihnen, fühlen sich gedrückt und entmuthigt, oft ganz gelähmt, durch die doppelte Erkenntniß, daß ihr Volk ihre Arbeiten nur zerstreut und obenhin verfolgt und daß ihre Schöpfungen an die Größe der vor ihren Augen ablaufenden geschichtlichen Vorgänge unmöglich hinanreichen können. In diese kritische Zeit vorübergehender geistiger Erschlaffung fiel das Auftreten der jungdeutschen Bande und es kam ihr sehr zu Statten, daß auch die anständigen und vernünftigen Leute ihre Angriffe auf viele der damals regierenden Senatoren der Literatur, wenn sie auch ihre Form verurtheilten, als berechtigt anerkennen mußten. Der andere und wichtigere Grund aber ist die Anarchie, die gegenwärtig im deutschen Schriftthum herrscht. Unser Literaturstaat ist nicht regiert und nicht vertheidigt. Er hat keine Obrigkeit und keine Polizei und darum kann eine kleine, aber entschlossene Bande von Missethätern in ihm nach Willkür schalten. Unsere Meister kümmern sich nicht um den Nachwuchs, wie dies früher Brauch war. Sie haben keinen Sinn für die Pflicht, den Erfolg und Ruhm ihnen auferlegen. Man mißverstehe mich nicht. Nichts kann mir ferner liegen als der Gedanke, die Literatur in eine Zunft zu verwandeln und von den Angelangten zu verlangen, daß sie Lehrlinge und Gesellen heranziehen. (Thatsächlich bildet jedes neue Geschlecht sich unbewußt ja doch an den Werken der geistigen Ahnen.) Aber sie dürfen nicht [] gleichgiltig sein gegen das, was nach ihnen kommt. | Sie sind die geistigen Führer

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Die „jungdeutschen“ Nachäffer.

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des Volkes. Sie besitzen dessen Ohr. Ihnen liegt es ob, den Auftretenden die Anfänge zu erleichtern und sie beim Publikum einzuführen. Dadurch würde vielerlei erreicht werden: Stetigkeit der Entwickelung, die Ausbildung einer LiteraturÜberlieferung, Achtung und Dankbarkeit für die Alten, frühe strenge Unterdrückung der gänzlich Unberechtigten, Ersparung der Kraft, die der junge Schriftsteller heute an das Durchbrechen der Eischale vergeuden muß. Aber unsere Literaturgrößen haben hierfür kein Verständniß. Jeder denkt nur an sich und ist auf die Mit- und Nachstrebenden grimmig eifersüchtig. Keiner sagt sich, daß im geistigen Konzert eines großen Volkes für Dutzende verschiedener Künstler reichlich Platz ist, von denen jeder sein eigenes Instrument spielt. Keiner erwägt, daß nach ihm doch noch neue Talente geboren werden, daß er dies doch nicht verhindern kann und daß er sich selbst ein besseres Alter bereitet, wenn er denen, die doch seine Nachfolger in der Gunst der Leser sein werden, die Wege ebnet, statt sie ihnen bissig versperren zu wollen. Wer von uns hat je ein Wort der Aufmunterung von den Literaturgrößen empfangen? Wem von uns haben sie Antheilnahme und Wohlwollen bekundet? Keiner von uns schuldet denn auch irgend Einem von ihnen das Geringste, keiner fühlt sich verpflichtet, ihnen gerecht zu werden und für sie einzutreten, und als die Bande nach Raufboldart über sie herfiel, um sie wegzuprügeln und sich selbst an ihre Stelle zu setzen, da erhob sich keine Hand zu ihrer Vertheidigung und es rächte sich grausam an ihnen, daß sie vereinzelt gelebt und gewirkt hatten, geheim feindselig gegen einander, schroff abwehrend gegen den Nachwuchs, gleichgiltig gegen den Geschmack des Volkes, so weit er sich nicht ausschließlich ihren eigenen Werken zuwendete. Und wie wir keine Gerusia haben, so fehlt es uns auch an jeder kritischen Polizei. Ein Rezensent kann das elendeste Zeug anpreisen, er kann das höchste Meisterwerk todtschweigen | oder in den Koth ziehen, er kann als den Inhalt eines [] Buches Dinge angeben, von denen darin nicht die leiseste Andeutung zu finden ist, Niemand zieht ihn zur Verantwortung, Niemand brandmarkt seine Unfähigkeit, seine Schamlosigkeit oder Verlogenheit. Ein Publikum aber, das von seinen Geronten nicht geführt und berathen, von seinen kritischen Schutzleuten nicht behütet wird, ist die vorbestimmte Beute aller Marktschreier und Schwindler. |

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Viertes Buch. Der Realismus.

Entartung. Zweiter Band.

Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert.

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Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert.

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I. Prognose.



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Die lange und leidvolle Wanderung durch das Krankenhaus, als das wir, wenn nicht die ganze gesittete Menschheit, so doch die obere Schichte der GroßstadtBevölkerung kennen gelernt haben, ist vollendet. Wir haben die mannigfaltigen Verkörperungen beobachtet, welche die Entartung und Hysterie in der Kunst, Dichtung und Philosophie der Gegenwart annehmen. Als die Hauptkundgebungen der geistigen Zerrüttung unserer Zeitgenossen haben sich uns auf diesen Gebieten dargestellt: der Mysticismus, welcher der Ausdruck des Unvermögens zur Aufmerksamkeit, zu klarem Denken und zur Beherrschung der Emotionen ist und auf Schwächung der höchsten Hirnzentren beruht, die Ich-Sucht, die eine Folge schlecht leitender Sinnesnerven, stumpfer Wahrnehmungs-Zentren, der Verirrung der Triebe aus Begierde nach genügend starken Eindrücken und des starken Ueberwiegens der organischen Empfindungen über die Vorstellungen ist, der falsche Realismus, der von verworrenen ästhetischen Theorien ausgeht und sich durch Pessimismus und unwiderstehliche Hinneigung zu schlüpfrigen Vorstellungen und gemeinster, schmutzigster Ausdrucksweise kennzeichnet. In allen drei Richtungen finden wir dieselben letzten Bestandtheile wieder: ein Gehirn, das nicht im Stande ist, regelrecht zu arbeiten, daher Willensschwäche, Unaufmerksamkeit, | Vorherr- [] schaft der Emotion, Mangel an Erkenntniß, Abwesenheit von Mitgefühl, fehlende Antheilnahme an Welt und Menschheit, Verkümmerung des Begriffes von Pflicht und Sittlichkeit. Klinisch einander ziemlich unähnlich, sind diese Krankheitsbilder doch nur verschiedene Aeußerungen eines einzigen Grundzustandes, der Erschöpfung, und müssen vom Irrenarzt in die allgemeine Gruppe der Melancholie eingereiht werden, welche die psychiatrische Erscheinungsform eines erschöpften Zentral-Nervensystems ist. Oberflächliche oder unehrliche Beurtheiler haben mir die Behauptung angedichtet, daß Entartung und Hysterie Ausgeburten der Gegenwart seien. Der aufmerksame und gutgläubige Leser wird mir bezeugen, daß ich einen solchen Unsinn nie ausgesprochen habe. Hysterie und Entartung hat es immer gegeben. Aber sie traten früher vereinzelt auf und erlangten keine Wichtigkeit für das Leben der ganzen Gesellschaft. Erst die tiefe Ermüdung, welche das Geschlecht erfuhr, an das die Fülle der jäh über es hereinbrechenden Erfindungen und Neuerungen unerschwingliche organische Anforderungen stellte, schuf die günstigen Bedingungen, unter welchen jene Siechthümer sich ungeheuer ausbreiten und zu einer Gefahr für die Gesittung werden konnten. Gewisse Kleinlebewesen, welche tödtliche Krankheiten erregen, z. B. der Cholera-Bazillus, sind wohl auch immer vorhanden gewesen, Seuchen verursachen sie aber erst, wenn Umstände eintreten, welche ihrer Vermehrung starken Vorschub leisten. Ebenso beherbergt der Körper beständig Schmarotzer, die ihm erst schaden, wenn ein anderer Spaltpilz in ihn eingebrochen ist und Verheerungen angerichtet hat. Wir sind z. B. immer von Staphylound Strepto-Kokken bewohnt, aber der Influenza-Bazillus muß zuerst als Vorfrucht

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Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert.

erscheinen, damit sie üppig wuchern und tödtliche Eiterungen hervorrufen. So wird das Ungeziefer der Nachäffer in Kunst und Schriftthum erst gefährlich, wenn [] eigenartige, | Sonderwege wandelnde Wahnsinnige den durch Ermüdung geschwächten Zeitgeist vorher vergiftet und widerstandsunfähig gemacht haben. Wir stehen nun mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzer Pest von Entartung und Hysterie und es ist natürlich, daß man allseitig ängstlich fragt: „Was soll weiter werden?“ Diese Frage nach dem Ausgange tritt an den Arzt in jedem schweren Fall heran und so heikel und gewagt, so unwissenschaftlich es namentlich auch ist, weissagen zu wollen, er kann sich dennoch der Nothwendigkeit nicht entziehen, eine Prognose zu stellen. Ganz Willkür, ganz blindes Rathen ins Blaue ist sie übrigens nicht und sorgfältigste Beobachtung aller Anzeichen, unterstützt durch Erfahrung, gestattet einen in der Regel richtigen Schluß auf die künftige Entwickelung des Uebels. Es ist möglich, daß die Seuche ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Wenn sie noch heftiger werden, noch weiter und tiefer um sich greifen sollte, so würden einzelne Erscheinungen, die man schon jetzt als Ausnahmen oder erst angedeutet wahmimmt, sich gewaltig vermehren und folgerichtig entwickeln und andere, die gegenwärtig nur bei den Insassen von Irrenanstalten vorkommen, zu AlltagsGewohnheiten ganzer Bevölkerungsklassen werden. Das Leben könnte dann etwa folgendes Bild darbieten: Jede Großstadt hat ihren Klub der Selbstmörder. Neben diesem bestehen Klubs für gegenseitige Ermordung durch Erwürgen, Hängen oder Erstechen. An Stelle der heutigen Wirthshäuser thun sich besondere Anstalten für Aether-, Chloral-, Naphtha- und Haschisch-Genuß auf. Die Zahl der Personen, die an Verirrungen des Geschmacks und Geruchs leiden, ist so groß geworden, daß es sich lohnt, für sie Läden einzurichten, wo sie aus reichen Gefäßen Unrath aller Art schlürfen [] und in | einer Umgebung, die ihren Schönheitssinn und ihre Gewohnheiten der Bequemlichkeit nicht verletzen, Verwesungs- und Kothduft einathmen können. Es bilden sich eine Menge neuer Berufe heraus: der Beruf der Verabreicher von Morphin- und Cocain-Einspritzungen, der von Eckenstehern, die an Platzscheu Leidende an Straßenkreuzungen und beim Ueberschreiten von Plätzen führen, der von Begleitern, die durch kräftiges Jasagen Zweifelwahnsinnige zu beruhigen haben, wenn sie einen Angstanfall bekommen u. s. w. Die weit über das heutige Maß hinaus gewachsene nervöse Reizbarkeit hat die Nothwendigkeit gewisser Schutzmaßregeln erkennen lassen. Nachdem es sich häufig ereignet hat, daß aufgeregte Personen, die einem plötzlichen Zwangsantrieb nicht widerstehen konnten, aus ihren Fenstern mit Windbüchsen, oder sogar ohne den Versuch der Heimlichkeit in offenem Ueberfall, Gassenjungen todtgeschossen haben, die schrille Pfiffe oder grundlose Gellquietsche ausgestoßen, daß sie in fremde Wohnungen, wo von Anfängern Klavierspiel oder Gesang geübt wurde, eingedrungen sind und Metzeleien angerichtet, daß sie Dynamit-Anschläge auf Pferde-

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Prognose.

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bahnwagen ausgeführt haben, deren Schaffner läutete oder pfiff, ist es gesetzlich  verboten worden, auf der Straße zu pfeifen und zu grölzen, für Klavier- und

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Gesangsübungen sind eigene Gebäude hergestellt worden, die so eingerichtet sind, daß aus ihrem Innern kein Ton nach außen dringt, das öffentliche Fuhrwerk darf kein Geräusch machen und gleichzeitig ist auf den Besitz von Windbüchsen die schwerste Strafe gesetzt. Da das Bellen von Hunden in der Nachbarschaft viele Leute zum Wahnsinn und Selbstmord getrieben hat, dürfen diese Thiere in der Stadt nur gehalten werden, wenn sie durch Zerschneidung des Recurrensnervs stumm gemacht worden sind. Eine neue Preßgesetzgebung verbietet den Zeitungen auf das Strengste ausführliche Berichterstattung über Gewaltthaten oder Selbstmorde unter eigenthümlichen Umständen. Die Redakteure | werden für alle strafba- [] ren Handlungen verantwortlich gemacht, die in Nachahmung ihrer Schilderungen begangen werden. Die Sexual-Psychopathien aller Art sind so allgemein und so mächtig geworden, daß die Sitten und Gesetze sich ihnen haben anpassen müssen. Sie treten schon in den Moden zu Tage. Die Masochisten oder Passivisten, welche die Mehrheit aller Männer bilden, kleiden sich in eine Tracht, die in Farbe und Schnitt an die weibliche erinnert. Die Weiber, welche den Männern dieser Gattung gefallen wollen, tragen Männerkleider, Monocle, Sporenstiefel und Reitpeitsche und zeigen sich auf der Straße nur mit dicken Zigarren im Munde. Die Forderung der Leute mit konträrer Sexual-Empfindung, daß Personen des gleichen Geschlechts einen gesetzlichen Ehebund schließen können, ist erfüllt, da sie zahlreich genug gewesen sind, um eine Mehrheit von Abgeordneten ihrer Richtung zu wählen. Sadisten, Bestiale, Noso- und Nekrophile u. s. w. finden geregelte Gelegenheit, ihren Hang zu befriedigen. Schamhaftigkeit und Zucht sind ausgestorbener Aberglaube der Vergangenheit, der nur noch als Atavismus und bei den Bewohnern entlegener Dörfer vorkommt. Lustmord wird als Krankheit betrachtet und durch einen wundärztlichen Eingriff behandelt u. s. w. Die Fähigkeit, aufmerksam und gesammelt zu sein, hat so stark abgenommen, daß der Schulunterricht höchstens zwei Stunden täglich und kein öffentliches Vergnügen, wie Theater, Konzerte, Vorträge u. s. w., länger als eine halbe Stunde dauert. Im Lehrplan ist übrigens die Geistesbildung fast ganz unterdrückt und den Leibesübungen der weitaus größte Theil der Zeit eingeräumt und auf der Bühne gefallen nur Darstellungen unverhüllter Erotik und blutiger Verbrechen, zu welchen | sich überall freiwillige Opfer herandrängen, die sich die Wonne verschaffen [] wollen, unter dem Händeklatschen entzückter Zuschauer zu sterben. Die alten Religionen haben nicht mehr viel Anhänger. Dagegen gibt es in großer Anzahl Spiritisten-Gemeinden, die an Stelle von Priestern Weissager, Todtenbeschwörer, Zauberer, Stern- und Handliniendeuter u. s. w. unterhalten.

 Dr. R. v. Krafft-Ebing, Neue Forschungen u. s. w. . Aufl. S. , . Desselben Psychopathia sexualis u. s. w. . Aufl. S. .

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Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert.

Bücher der heutigen Art sind längst nicht mehr Mode. Man druckt nur noch auf schwarzes, blaues oder goldfarbenes Papier in anderer Farbe einzelne, unzusammenhängende Worte, oft auch nur Silben, ja sogar blos Buchstaben oder Zahlen, die eine sinnbildliche Bedeutung haben, welche man aus der Farbe des Papiers und Drucks, aus der Form des Papiers, aus der Größe und Art der angewendeten Schrift errathen soll. Die Schriftsteller, die nach Volksthümlichkeit haschen, erleichtern das Verständniß dadurch, daß sie der Schrift symbolische Arabesken beifügen und das Papier mit einem bestimmten Duft tränken. Doch gilt dies bei den Feinschmeckern und Kennern für gewöhnlich und ist wenig geschätzt. Einige Dichter, die nur noch einzelne Buchstaben veröffentlichen oder deren Werke farbige Blätter sind, auf denen gar nichts steht, erregen die größte Bewunderung. Es gibt Gesellschaften, die sich ihre Auslegung zur Aufgabe machen, und ihre Begeisterung ist so fanatisch, daß sie einander häufig mörderische Massenkämpfe liefern. Es wäre leicht, dieses Bild noch weiter auszuführen, an dem kein einziger Zug erfunden ist, dessen sämmtliche Einzelheiten vielmehr aus den strafrechtlichen und irrenärztlichen Fachschriften und aus der Beobachtung der Eigenthümlichkeiten von Neurasthenikern, Hysterikern und Mattoiden gesammelt sind. Das wäre in einer nahen Zukunft die Verfassung der gesitteten Menschheit, wenn die Ermüdung, die Nervenerschöpfung und die durch sie bedingten Krankheiten und Entartungen weitere Fortschritte machen würden. | [] Wird es dazu kommen? Nun denn: nein, ich glaube es nicht. Aus einem Grunde, der schwerlich einen Einwand gestattet: weil die Menschheit noch nicht an das Ende ihrer Entwickelung gelangt ist, weil die Ueberanstrengung von zwei oder drei Geschlechtsaltern ihre ganze Lebenskraft unmöglich erschöpft haben kann. Die Menschheit ist nicht greisenhaft. Sie ist noch jung und der Jugend ist ein Augenblick der Ueberanstrengung nicht tödtlich, sie erholt sich von ihr wieder. Die Menschheit gleicht einem ungeheuern Lavastrom, der breit und tief aus dem Krater eines unablässig thätigen Vulkans bricht. Die äußerste Schichte zerfällt in kalte, glasige Schlacken, aber unter dieser todten Rinde fließt die Masse in lebendiger Glut rasch und gleich dahin. So lange die Lebenskraft eines Einzelwesens wie einer Gattung nicht vollständig aufgebraucht ist, macht der Organismus Anstrengungen, sich thätig oder leidend anzupassen, indem er schädliche Bedingungen zu ändern sucht oder sich so einrichtet, daß die nicht zu ändernden ihm möglichst wenig schaden. Entartete, Hysteriker, Neurastheniker sind nicht anpassungsfähig. Sie sind deshalb bestimmt, zu verschwinden. Sie gehen unrettbar daran zu Grunde, daß sie sich zur Wirklichkeit nicht zu stellen wissen. Sie sind verloren, ob sie nun allein auf der Welt sind oder ob es neben ihnen noch Gesunde, oder Gesündere, oder mindestens Heilbare gibt. Sie sind verloren, wenn sie allein sind: denn gesellschaftfeindlich, unaufmerksam, ohne Urtheil und Voraussicht, sind sie zu keiner nützlichen Einzelanstren-

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Prognose.

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gung und noch weniger zu einer gemeinsamen Arbeit fähig, welche Gehorsam, Zucht und regelmäßige Pflichterfüllung fordert. Sie vergeuden ihr Leben in einsamer, unfruchtbarer ästhetischer Schwelgerei und entnervendes Genießen ist das Einzige, wozu ihre in voller Rückbildung begriffenen Organe noch zu gebrauchen sind. Wie Fledermäuse in alten Thürmen so hausen sie im stolzen Bau | der von [] ihnen fertig vorgefundenen Gesittung, aber sie selbst bauen nichts Neues und sie können keinen Verfall aufhalten. Sie schmarotzen an der Arbeit, welche die voraufgegangenen Geschlechter für sie aufgehäuft haben, sowie aber das Erbe aufgezehrt ist, müssen sie elend verhungern. Aber noch sicherer und rascher sind sie verloren, wenn sie nicht allein auf der Welt sind, sondern neben ihnen noch Gesunde leben. Denn dann haben sie den Wettkampf ums Dasein zu kämpfen und es bleibt ihnen keine Zeit, in allmäligem Verfall an ihrer eigenen Schaffensunfähigkeit zu Grunde zu gehen. Der Normalmensch mit klaren Sinnen, folgerichtigem Denken, nüchternem Urtheil und kräftigem Willen sieht, wo der Entartete tappt, er plant und handelt, wo dieser schwummert und träumt, er verdrängt ihn ohne Anstrengung von allen Stellen, wo die Lebensquellen der Natur sprudeln, und im Besitze aller Güter dieser Erde, läßt er dem ohnmächtigen Entarteten höchstens aus verächtlichem Mitleid das Obdach des Krankenhauses, der Irrenanstalt und des Gefängnisses. Man denke sich Nietzsches faselnden Zarathustra sammt seinen Papp-Löwen, Adlern und Schlangen aus der Spielwaarenhandlung, oder den nachtwachenden, nüsselnden und schleckernden des Esseintes der Dekadenten oder Ibsens „einsam mächtigen“ Stockmann und selbstmordlüsternen Rosmer im Kampfe mit Menschen, die früh aufstehen und nicht vor Sonnenuntergang ermüden, die einen hellen Kopf, einen guten Magen und stramme Muskeln haben — es ist ein Anblick zum Lachen. Die Entarteten müssen also erliegen, denn sie können sich weder den Bedingungen der Natur und Gesittung anpassen noch sich im Kampf ums Dasein gegen die Gesunden behaupten. Die Gesunden aber, und die tiefen Massen des Volkes schließen ihrer noch ungezählte Millionen in sich, werden sich rasch und leicht den Verhältnissen anbequemen, welche die neuen Erfindungen der Menschheit geschaffen haben. Die organisch ent-|schieden Unzulänglichen in dem Geschlechte, [] das von diesen Erfindungen überrumpelt worden ist, fallen aus, sie werden hysterisch und neurasthenisch, zeugen Entartete und in diesen endet ihr Stamm, die Kräftigeren aber, obschon sie zuerst auch verwirrt und müde geworden sind, erholen sich allmälig, ihre Nachkommen gewöhnen sich an die raschere Gangart, welche die Menschheit annehmen mußte, und bald wird ihr langsames Athmen, ihr ruhiger Herzschlag beweisen, daß es sie keine Anstrengung mehr kostet, Schritt zu halten und flott mitzukommen. Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird

  B. A. Morel, Traité des dégénérescences etc. Paris, . S. , Fußnote: „Der Zustand der Entwickelungshemmung und die Unfruchtbarkeit sind die wesentlichen Kennzeichen der am letzten Ziele der Entartung angelangten Wesen.“

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also wahrscheinlich ein Geschlecht sehen, dem es nicht schaden wird, täglich ein Dutzend Geviertmeter Zeitungen zu lesen, beständig an den Fernsprecher gerufen zu werden, an alle fünf Welttheile zugleich zu denken, halb im Bahnwagen oder Flugnachen zu wohnen und einem Kreise von zehntausend Bekannten, Genossen und Freunden gerecht zu werden. Es wird inmitten der Millionenstadt Behagen zu finden wissen und mit seinen riesenstarken Nerven den kaum zu zählenden Anforderungen des Lebens ohne Hast und Aufregung entsprechen können. Sollte die neue Gesittung der Menschheit jedoch entschieden unerschwinglich, sollten selbst die Stärksten der Gattung ihr auf die Dauer nicht gewachsen sein, dann werden die nachgeborenen Geschlechter auf andere Weise mit ihr fertig werden: sie werden sie einfach aufgeben. Denn die Menschheit hat ein sicheres Vertheidigungsmittel gegen Neuerungen, welche ihrem Nervensystem zerstörende Anstrengung auferlegen, den Misoneismus, jene triebhafte, unüberwindliche Abneigung gegen den Fortschritt und seine Mühsal, die Lombroso eingehend stu[] dirt | und mit einem Namen versehen hat. Der Misoneismus schützt den Menschen gegen Aenderungen, deren Plötzlichkeit oder Umfang ihm gefährlich werden würde. Seine einzige Form ist aber nicht der Widerstand gegen die Aufnahme des Neuen, er kann auch in einer andern Gestalt auftreten, als Vernachlässigung und allmälige Ausscheidung der Erfindungen, welche an den Menschen zu harte Anforderungen stellen. Wir sehen Wilde, die aussterben, wenn die Gewalt der Weißen es ihnen unmöglich macht, sich gegen die Gesittung zu verschließen, aber wir sehen auch solche, die sich beeilen, den ihnen aufgenöthigten Bildungs-Steifkragen frohlockend abzureißen und wegzuwerfen, so wie der Zwang aufhört. Ich erinnere nur an die von Darwin ausführlich erzählte Geschichte des Feuerländers Jemmy Button, der als Kind nach England gebracht und dort erzogen worden war, in Lackstiefeln und Handschuhen, vom sonstigen Modeanzug nicht zu sprechen, nach seiner Heimat zurückkehrte, kaum dort angelangt aber all den fremden Bildungszauber abstieß, für den er nicht reif war, und wieder ein Wilder unter Wilden wurde. In der Völkerwanderung bauten die Barbaren Blockhäuser im Schatten der Marmor-Paläste der von ihnen besiegten Römer und behielten von deren Einrichtungen, Erfindungen, Künsten und Wissenschaften gerade nur so viel, wie ihnen leicht und angenehm erträglich war. Das Bestreben, alles Unverdauliche auszustoßen, hat die Menschheit heute wie je. Wenn die folgenden Geschlechter finden werden, daß der Gang des Fortschrittes für sie zu rasch ist, so werden sie ihn nach einiger Zeit gemüthsruhig aufgeben. Sie werden nach ihrem eigenen Behagen [] schlendern oder stehen bleiben. | Man wird Briefbestellungen ausfallen, Bahnstrecken eingehen lassen, den Fernsprecher aus den Wohnungen abschaffen und nur allenfalls für Staatszwecke beibehalten, man wird die Wochenblätter den täglichen

 C. Lombroso et R. Laschi, Le crime politique u. s. w. . Band S.  ff.  Ch. Darwin, Reise eines Naturforschers um die Welt. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Stuttgart, . S.  ff.

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Prognose.

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Zeitungen vorziehen, aus der Großstadt auf das Land zurückkehren, den Moden wechsel verlangsamen, den Inhalt des Tages und Jahres vereinfachen und den

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Nerven wieder einige Ruhe gönnen. Die Anpassung wird also in jedem Fall erfolgen, entweder durch Steigerung der Nervenkraft oder durch Verzicht auf die Errungenschaften, die dem Nervensystem zu viel zumuthen. Was nun die Zukunft der Kunst und des Schriftthums betrifft, mit denen diese Untersuchungen sich besonders beschäftigen, so läßt sie sich mit ziemlicher Deutlichkeit voraussehen. Ich widerstehe der Versuchung, einen allzu fernen Zeitpunkt ins Auge zu fassen. Ich würde sonst vielleicht beweisen oder doch sehr wahrscheinlich machen können, daß im Geistesleben weit vor uns liegender Jahrhunderte Kunst und Dichtung nur noch einen sehr kleinen Platz einnehmen werden. Die Psychologie lehrt uns, daß die Entwickelung vom Trieb zur Erkenntniß, von der Emotion zum Urtheil, von der schweifenden zur geregelten Ideenassoziation geht. An die Stelle der Gedankenflucht tritt Aufmerksamkeit, an die der Laune der vom Verstande geleitete Wille. Die Beobachtung besiegt also die Einbildungskraft immer mehr und der künstlerische Symbolismus, das heißt das Hineintragen irriger persönlicher Deutungen in die Welterscheinung, wird immer mehr vom Verständniß der Naturgesetze verdrängt. Andererseits gibt uns auch der bisherige Gang der Gesittung eine Vorstellung von dem Lose, das der Kunst und Dichtung in einer sehr fernen Zukunft vorbehalten sein dürfte. Was ursprünglich die wichtigste Beschäftigung der geistig voll entwickelten Männer, der reifsten, besten und klügsten Glieder der Gesellschaft gewesen ist, das wird allmälig zu einem untergeordneten Zeitvertreib und zuletzt zum Kinderspiel. Der Tanz war einst | eine überaus [] bedeutungsvolle Angelegenheit. Er wurde bei festlichen Anlässen von den angesehensten Kriegern des Stammes unter feierlichen Zeremonien, nach Opfern und Anrufung der Götter, als eine Staatshandlung erster Ordnung ausgeführt. Heute ist er nur noch ein flüchtiges Vergnügen der Frauen und Jünglinge und später wird der Kinderreigen die letzte atavistische Erinnerung an ihn sein. Fabel und Märchen waren einst die höchste Hervorbringung des menschlichen Geistes. In ihnen drückten sich die geheimste Weisheit des Stammes und seine kostbarsten Ueberlieferungen aus. Heute stellen sie eine Literatur-Gattung dar, die nur noch für die Kinderstube gepflegt wird. Der Vers, der durch Rhythmus, Bildlichkeit des Ausdrucks und Reim dreifach seinen Ursprung aus den Erregungen der rhythmisch arbeitenden untergeordneten Organe, aus der Ideen-Assoziation nach äußeren Aehnlichkeiten und aus derjenigen nach dem Gleichklange verräth, war ursprünglich die einzige Form der Schriftwerke; heute ist er nur noch für rein emotionelle Darstellungen gebräuchlich, für alle anderen Zwecke aber durch die Prosa überwunden und beinahe schon zu einer atavistischen Redeweise geworden. Vor unseren Augen vollzieht sich die Zurücksetzung des Romans, den die ernsten und hochgebildeten Männer kaum mehr ihrer Aufmerksamkeit würdigen und der sich immer ausschließlicher an die Jugend und die Frauen wendet. Aus allen diesen Beispielen ist wohl zu schließen, daß nach einigen Jahrhunderten Kunst und Dichtung reine

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Atavismen geworden und nur noch vom emotionellsten Theile der Menschheit, den Frauen, der Jugend, vielleicht sogar der Kindheit, gepflegt sein werden. Doch wie gesagt: über ihre so entfernten Schicksale will ich nicht mehr als diese flüchtigen Andeutungen wagen und mich an die weit sicherere nächste Zukunft halten. In allen Ländern wiederholen ästhetische Theoretiker und Kritiker die Phrase, [] daß die bisherigen Formen der Kunst über-|wunden und unbrauchbar seien und daß etwas ganz Neues, von allem Bekannten völlig Verschiedenes sich vorbereite. Wagner sprach zuerst vom „Kunstwerke der Zukunft“ und Hunderte unfähiger Nachäffer lallen ihm das Wort nach. Manche von diesen wollen sogar sich und der Welt weismachen, daß irgend eine ausdruckslose Banalität oder anspruchsvolle Eselei, die sie zusammengebastelt haben, dieses Kunstwerk der Zukunft sei. Aber dieses ganze Gerede von Sonnenaufgang, Morgenroth, Neuland u. s. w. ist nur Gefasel denkunfähiger Entarteter. Die Vorstellung, daß morgen früh um halb acht plötzlich ein ungeheures, nicht geahntes Ereigniß eintreten, daß nächsten Donnerstag mit einem Schlag eine vollständige Umwälzung vor sich gehen werde, daß eine Offenbarung, eine Erlösung, der Anbruch einer neuen Zeit bevorstehe, wird bei Geisteskranken sehr häufig beobachtet; sie ist ein mystisches Delirium. Die Wirklichkeit kennt derartige jähe Umschwünge nicht. Selbst die große Umwälzung Frankreichs, obschon unmittelbar das Werk einiger Gestörten wie Marat und Robespierre, drang, wie Taine nachgewiesen hat und der weitere Gang der Geschichte bewies, nicht weit in die Tiefe und änderte mehr die Aeußerlichkeiten als die innersten Verhältnisse des französischen Gesellschafts-Organismus. Alle Entwickelung geht allmälig vor sich, der nächste Tag ist die Fortsetzung des voraufgegangenen, jede neue Erscheinung wird von einer ältern geboren und bewahrt die Familienähnlichkeit mit ihr. „Man möchte sagen“, bemerkt Renan mit mildem Spotte, „daß die jungen Leute weder die Geschichte der Philosophie noch den Prediger gelesen haben. ‚Was gewesen ist, das wird sein‘.“ Die Kunst und Dichtung von morgen wird in allen wesentlichen Punkten so sein wie die von heute und gestern und das krampfhafte Suchen nach neuen Formen ist nichts anderes als hysterische [] Eitelkeit, kulissenreißerische Narrheit | und Marktschreierei. Sein einziges Ergebniß war bisher die Kinderei von Deklamationen mit farbiger Licht- und wechselnder Duftbegleitung und von atavistischen Schattenspielen und Pantomimen, und es wird auch künftig nichts Ernsteres hervorbringen. Neue Formen! Sind die alten nicht so schmiegsam und dehnbar, daß sie für jedes Gefühl und jeden Gedanken Raum haben? Hat ein wirklicher Dichter jemals irgend eine Schwierigkeit gefunden, das, was in ihm wogte und hervorzubrechen verlangte, in die bekannten und bewährten Formen zu gießen? Hat die Form überhaupt die scheidende, vorbestimmende und einschränkende Bedeutung, welche Duseler und Stümper ihr beimessen? Die Form des lyrischen Gedichts geht von der Geburtstags-Reimerei des auf Bestellung arbeitenden, sich im Anzeigetheil der  Ernest Renan, Feuilles détachées. Paris, . Vorrede.

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Prognose.

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Zeitungen ankündigenden „Volks- und Gelegenheits-Dichters“ bis zu Schillers „Lied von der Glocke“; die dramatische Form schließt zugleich den „Geschundenen Raubritter“ und Goethes „Faust“ in sich; die epische umfaßt die „Jobsiade“ und die „Göttliche Komödie“, Heinz Tovotes „Im Liebesrausche“ und Thackerays „Vanity fair.“ Und da meckert man nach „neuen Formen“? Diese werden den Unfähigen kein Talent geben und die Begabten wissen auch innerhalb der alten Formen etwas Rechtes zu schaffen. Das Wichtigste ist immer, daß Jemand etwas zu sagen habe. Ob er es dann lyrisch, dramatisch oder episch thut, ist unwesentlich und auch das Bedürfniß, aus diesen Formen herauszutreten und irgend etwas Blitzblaues zur Einkleidung seiner Gedanken zu erdifteln, wird er schwerlich empfinden. Die Geschichte der Kunst und Dichtung lehrt uns überdies, daß seit dreitausend Jahren neue Formen nicht gefunden wurden. Die alten sind durch die Beschaffenheit des menschlichen Denkens selbst gegeben. Sie könnten sich nur ändern, wenn die Form unseres Denkens eine andere würde. Eine Entwickelung findet natürlich statt, aber sie betrifft Aeußerlichkeiten, nicht das innerste Wesen. Die | Malerei findet z. B. nach dem Wand- das Staffelei-Bild, die Bildhauerei nach dem [] freistehenden Werke das Hoch- und dann das bereits nicht unbedenklich in das Gebiet der Malerei hinübergreifende Flach-Relief, das Drama gibt das Uebernatürliche auf und lernt straffern, knappern Vortrag, das Epos verläßt die rhythmische Rede und bedient sich der Prosa u. s. w. In solchen Einzelheiten wird die Entwickelung auch weiter sichtbar bleiben, aber an den Grundlinien der verschiedenen Ausdrucksweisen menschlicher Emotion wird sich Nichts ändern. Jede Erweiterung der gegebenen künstlerischen Rahmen hat bisher in der Einbeziehung neuer Stoffe und Gestalten, nicht in der Erfindung neuer Formen bestanden. Es war ein Fortschritt, als Petronius an Stelle der Götter und Helden, die bis dahin allein das Epos bevölkerten, im „Gastmahl des Trimalchio“ AlltagsGestalten des zeitgenössischen römischen Lebens in die erzählende Dichtung einführte oder als die Niederländer des . Jahrhunderts für die Malerei, die nur religiöse, mythologische oder Haupt- und Staats-Vorgänge kannte, die Welt der Kirmessen, Volksfeste und Bauernschenken entdeckten. Quevedo und Mendoza, die das fahrende Volk in dem „picaresken“ Roman, dem Vorbild unserer Grimmelshausenschen Schriften, darstellten, Richardson, Fielding, Rousseau, die statt außerordentlicher Abenteuer die Gefühle und Seelenregungen schlichter Durchschnittsmenschen zum Gegenstand ihrer Romane machten, Diderot, der im „Natürlichen Sohn“ und „Familienvater“ (Lessing übersetzt „Hausvater“) Personen des Bürgerstandes auf die stolze Schaubühne Frankreichs stellte, welche bis dahin kleine Leute nur als Lustspiel- und Possenfiguren, im ernsten Drama aber blos Könige und vornehme Herren gekannt hatte, erfanden sicherlich keine neuen Formen, aber sie gaben den alten Formen einen von dem überlieferten verschiedenen Inhalt. Einen Fortschritt dieser Art beobachten wir nun auch in der Dichtung und Kunst unserer Tage. Sie hat den Proletarier | kunst- und literaturfähig gemacht. Sie [] zeigt den Arbeiter nicht als rohe oder lächerliche Gestalt, nicht zur Erzielung einer komischen oder abstoßenden Wirkung, sondern als ernstes, unserer Theilnahme

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würdiges, häufig tragisches Wesen. Das ist eine Bereicherung der Kunst, ganz so wie es früher die Einbeziehung der Spitzbuben und Abenteurer, einer Clarissa, eines Tom Jones, einer Julie („Neue Heloise“), des Werther, der Constance („Natürlicher Sohn“) u. s. w. in den Kreis ihrer Darstellungen war. Freilich, wenn manche Wirrköpfe daraufhin ausrufen: „Die Kunst von morgen wird sozialistisch sein!“ so reden sie einen bodenlosen Unsinn. Der Sozialismus ist eine Anschauung von den Gesetzen, welche die Erzeugung und Vertheilung der Güter bestimmen sollten. Damit hat die Kunst nichts zu schaffen. Sie kann nicht Parteipolitik treiben. Es ist auch nicht ihres Amtes, Lösungen wirthschaftlicher Fragen zu finden und vorzuschlagen. Ihre Aufgabe ist, die ewig menschlichen Ursachen der sozialistischen Bewegung, das Leiden armer Menschen, ihre Sehnsucht nach Glück, ihren Kampf gegen feindliche Gewalten in der Natur und im Gefüge der Gesellschaft, ihren gewaltigen Auftrieb aus der Tiefe in einen höhern geistigen und sittlichen Luftkreis, darzustellen. Wenn sie diese Aufgabe erfüllt, wenn sie den Proletarier zeigt, wie er lebt und leidet, wie er fühlt und strebt, so erweckt sie in uns eine Emotion, welche die Mutter von Plänen zur Aenderung, zur Umgestaltung und Besserung wird. Dadurch, daß die Kunst solche fruchtbare Emotionen und durch diese die Absicht der Heilung von Schäden anregt, arbeitet sie am Fortschritt mit, nicht aber durch sozialistische Deklamation und vielleicht noch weniger durch Ausmalung von Bildern des Staats und der Gesellschaft der Zukunft. Bellamys Machwerk „Looking backward“ steht außerhalb der Kunst und Bücher dieses Schlags wird das . Jahrhundert sicherlich nicht bevorzugen. Die Proletarier-Verherrlichung eines [] Henckell, der vor dem vierten | Stande ekelhaftern Byzantinismus treibt, als ein schweifwedelnder Schranze es jemals vor einem Könige gethan hat, ist gänzlich unbrauchbar zur Erweckung von Antheilnahme und Mitgefühl für den Arbeiter. Auch von unwahren Süßlichkeiten wie Ludwig Fuldas „Verlorenes Paradies“ oder Ernst von Wildenbruchs „Haubenlerche“ ist irgend eine echte und nützliche Emo Ludwig Fulda, Das verlorene Paradies. Schauspiel in drei Aufzügen. Stuttgart, . S. : „Mühlberger. Rieke — Rieke — komm heraus! … Rieke. O Jott! Wollen sie mir fortschicken? Mühlberger. Hier is meine Dochter — die soll an die frische Luft — an die frische Luft — Rieke. Vater, laß los — ick muß arbeeten. Mühlberger (mit leidenschaftlicher Entschlossenheit). Nee, nich mehr arbeeten — nich mehr — nie mehr — An die frische Luft sollste — mein Kind — mein jutet, kranket Kind. (Er hält sie umschlungen. Pause. Niemand von den Anwesenden kann sich dem Eindruck dieser Episode entziehen.)“ Das sagt der Verfasser wohl! Ich glaube nicht, daß diese empfindsamen Redensarten auf irgend Jemand den geringsten Eindruck machen. Man beachte bei dieser Gelegenheit, wie selbst der begabte, durchaus nicht zu den „jungdeutschen Realisten“ gehörende Fulda von ihrem Toben genug eingeschüchtert ist, um ebenfalls in der Anwendung der Berliner Mundart „Modernität“ zu suchen.  Ernst von Wildenbruch, Die Haubenlerche. Schauspiel in vier Akten. Berlin, . S. : „August … Arbeit erbaut die Welt, darum muß man sie um ihrer selbst willen thun, darum muß man sie lieben! … Und Sie — wenn ich Sie an Ihrer Bütte habe stehen sehen — mit der Schöpfform in der Hand — daß die Filze nur so flogen — na, hab ich mir gedacht, das ist mal Einer, der hat seine Bütte lieb! … Ilefeld. Herr Aujust — als wär ick mit ihr verheirat’ jewesen, mit meiner Bütte — so is es jewesen! August. Und da lassen Sie sie stehn, damit irgend ein Anderer drüber herkommt? Was soll ich der Bütte denn sagen, wenn sie nach Paul Ilefeld fragt? Ilefeld

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Prognose.

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 tion nicht zu erwarten. Eine tapfere Frau wie Minna Wettstein-Adelt, die sich als

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Tagelöhnerin in eine Fabrik aufnehmen | läßt und schlicht erzählt, was sie da [] erlebt hat, ein wackerer Mann mit gesundem Sinn und warmem Herzen wie Göhre, der nach eigener Erfahrung das Dasein eines Fabrikarbeiters schildert, auch ein Gerhart Hauptmann mit den beobachteten Einzelheiten der „Weber“ thun mehr für das Proletariat als alle Zolas mit ihrem leeren Theoretisiren in „Germinal“ und „L’Argent“, als alle Morris’ mit ihren hochtrabenden Reimereien über den edeln Arbeiter, der unter ihrer Feder zu einem Zerrbild des vielbelachten „edeln Wilden“ der ältern Urwald-Romantiker geworden ist, und namentlich als alle die Sudler, die in ihren Quark sozialistische Redensarten als „moderne“ Würze einstreuen. „Onkel Toms Hütte“ der Beecher-Stowe hat nicht gegen die Sklaverei gepredigt und keine Vorschläge zu ihrer Abschaffung zum Besten gegeben. Aber das Buch hat Millionen weinen und die Negersklaverei als eine Schmach Amerikas empfinden gemacht und dadurch zur Negerbefreiung wesentlich beigetragen. Die Kunst und Dichtung kann für die Proletarier das thun, was Frau Beecher-Stowe für die Neger der Vereinigten Staaten gethan hat. Mehr kann und wird sie nicht thun. Nicht selten stößt man gegenwärtig auf die Phrase: „Die Kunst und Dichtung der Zukunft wird wissenschaftlich sein.“ Diejenigen, welche dies sagen, machen ungemein stolze Mienen und halten sich unverkennbar für überaus fortschrittlich und „modern“. Ich frage mich aber vergebens, was wohl den Sinn jener Worte sein mag. Bilden sich die Leutchen, die es mit der Wissenschaft so gut meinen, etwa ein, daß die Bildhauer künftig Mikroskope aus Marmor aushauen, die Maler den Blutumlauf malen, die Dichter die Lehrsätze des Euklid | in reichen Reimen vortra- [] gen werden? Wohlgemerkt: Wissenschaft wäre selbst das noch nicht, sondern nur mechanische Beschäftigung mit dem äußerlichen Apparat der Wissenschaft. Aber sicherlich wird selbst das nicht geschehen. In der Vergangenheit war eine Verwechselung von Kunst und Wissenschaft möglich. In der Zukunft ist dies undenkbar. Zu einer solchen Verquickung hat sich die menschliche Geistesthätigkeit schon zu hoch entwickelt. Kunst und Dichtung haben Emotion, Wissenschaft hat Erkenntniß zum Inhalt. Jene sind subjektiv, diese ist objektiv. Jene arbeiten mit der Einbildungskraft, das heißt der von der Emotion gelenkten Ideenassoziation, diese arbeitet mit der Beobachtung, das heißt der Ideenassoziation, welche durch Sinneseindrücke bestimmt wird, deren Erwerbung und Verstärkung die Aufmerksamkeit besorgt. Gebiete, Stoffe und Methoden der Kunst und der Wissenschaft sind so verschieden, theilweise auch so gegensätzlich, daß ihre Durcheinanderwirrung einen Rückschritt um Jahrtausende bedeuten würde. Richtig ist nur eins: die Bilder,

(setzt sich schwer nieder, wischt sich mit der Hand die Augen.)“ Alle Arbeiter, die ich kenne, würden bei dieser grotesken Rede Lachkrämpfe bekommen.  Frau Dr. Minna Wettstein-Adelt,  / Monate Fabrikarbeiterin. Eine praktische Studie. Zweite Auflage. Berlin, .   Kand. Paul Göhre, Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie. .—. Tausend. Leipzig, .

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die aus der alten anthropomorphischen Anschauung hervorgewachsen sind, die Anspielungen auf verschollene Zustände und Vorstellungen, die Fritz Mauthner „todte Symbole“ genannt hat, all das wird aus der Kunst verschwinden. Ich glaube, es wird im . Jahrhundert keinem Maler mehr einfallen, Bilder wie Guido Renis Aurora im Rospigliosischen Palaste zu malen, und ein Dichter wird Gelächter erregen, wenn er den Mond voll Liebesgrams in das Kämmerlein eines hübschen Mädchens blicken lassen wird. Der Künstler ist ein Kind seiner Zeit, die herrschende Weltanschauung ist auch die seine und bei all seiner Neigung zum Atavismus sind seine Ausdrucksmittel doch die, welche ihm die zeitgenössische Bildung an die Hand gibt. Grobe Verstöße gegen die allbekannten Lehren der Wissenschaft wird die Kunst künftig gewiß mehr vermeiden als bisher, aber Wissenschaft wird sie nicht sein. [] Die Lustgefühle, die der Mensch von der Kunst empfängt, | entspringen aus der Befriedigung von drei verschiedenen organischen Neigungen oder Tendenzen. Er bedarf der Anregung, welche ihm die Abwechselung bietet; er freut sich, Urbilder in Nachahmungen zu erkennen; er vergegenwärtigt sich die Gefühle der Nebenmenschen und empfindet sie mit ihm. Die Abwechselung findet er in Werken, welche ihn in Lagen versetzen, die von den ihm bekannten und geläufigen völlig verschieden sind. Das Lustgefühl des Erkennens gewähren ihm sorgfältige Nachbildungen der ihm vertrauten Wirklichkeit. Seine Sympathie läßt ihn an jeder stark und deutlich ausgedrückten Emotion des Künstlers unter lebhaften eigenen Emotionen theilnehmen. Es wird auch künftig wie bisher Liebhaber für Werke der Einbildungskraft geben, welche den Leser oder Betrachter in ferne Zeiten und Länder versetzen oder ihm außerordentliche Abenteuer erzählen, andere werden die Werke vorziehen, in welchen die treue Beobachtung des Bekannten vorherrscht, die Feinfühligsten und Entwickeltsten werden sich nur der Werke freuen, in denen sich ihnen eine Seele mit ihrem tiefsten Fühlen und Denken offenbart. Die Kunst der Zukunft wird weder romantisch allein, noch realistisch allein, noch individualistisch allein sein, sondern nach wie vor sowohl durch die Anekdote zur Neugierde, als auch durch die Nachahmung zur Freude am Erkennen als auch durch die Veräußerlichung der Persönlichkeit des Künstlers zur Sympathie sprechen. Zwei Bestrebungen, die schon seit geraumer Zeit mit einander im Wettstreite liegen, werden muthmaßtich in der Zukunft noch heftiger um die Vorherrschaft ringen: die Beobachtung und das freie Walten der Einbildungskraft, kürzer, allerdings auch ungenauer, gesagt: Realismus und Romantik. Die guten Künstler werden ohne Zweifel in Folge ihrer höhern geistigen Entwickelung immer mehr geneigt und fähig sein, die Welterscheinung richtig zu sehen und richtig wiederzugeben. [] Die Menge aber wird ebenso zweifellos in der Zukunft von den Künstlern | etwas Anderes als ein Bild der durchschnittlichen Weltwirklichkeit fordern. Bei den Schaffenden wird der Drang zum Realismus, bei den Empfangenden das Bedürfniß nach Romantik bestehen. Denn — und das scheint mir ein wichtiger Punkt — die Kunst wird im folgenden Jahrhundert die Aufgabe haben, auf die Menschen jenen

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Prognose.

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Reiz der Abwechselung zu üben, den die Wirklichkeit nicht mehr gewähren wird  und auf den das Gehirn nicht verzichten kann. Alles, was man „malerisch“ nennt,

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verschwindet nothwendig immer mehr von der Erde. Die Gesittung wird immer gleichmäßiger. Das Unterscheidende wird von denen, die es als Merkmal an sich tragen, als Unbequemlichkeit empfunden und beseitigt. Ruinen sind eine Wonne für die Augen des Fremden, den Einheimischen aber stören sie und er räumt sie aus dem Wege. Der Reisende ist empört, die Schönheit Venedigs durch Dampfboote entheiligt zu sehen, für den Venezianer aber ist es eine Wohlthat, daß er um zehn Centesimi weite Strecken rasch zurücklegen kann. Bald wird die letzte Rothhaut Gehrock und Zylinderhut tragen, das vorschriftmäßige Stationsgebäude wird an der Großen Mauer von China und unter den Palmen von Tuggurt in der Sahara seine Tünche und seine nüchterne Form zeigen und Macaulays berühmter Maori wird nicht vor den Ruinen Westminsters stehen, sondern eine schundige Nachbildung des Westminster-Palastes wird den Maoris als Parlamentsgebäude dienen. Der eine Yosemite-Park, den die Nordamerikaner voll weiser Voraussicht unberührt in seiner vorweltlichen Wildheit erhalten wollen, wird dem Bedürfniß der Menschheit nach Neuem, Anderem, Malerischem, Romantischem nicht genügen und sie wird von der Kunst verlangen, was ihr die gewaschene, gekämmte und geschniegelte Gesittung nicht mehr bieten wird. Ich kann nun meine Prognose in wenige Worte zusammenfassen. Die Zeithysterie wird nicht dauern. Die Völker werden sich von ihrer heutigen Ermüdung erholen. Die | Schwachen, die Entarteten werden untergehen, die Starken sich den [] Errungenschaften der Gesittung anpassen oder diese ihrem eigenen organischen Vermögen unterordnen. Die Verirrungen der Kunst haben keine Zukunft. Sie werden verschwinden, wenn die gesittete Menschheit ihren Erschöpfungszustand überwunden haben wird. Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts wird in allen Punkten an die der Vergangenheit anknüpfen, aber sie wird eine neue Aufgabe zu erfüllen haben: die, in die Einförmigkeit des Kulturlebens anregende Abwechselung zu bringen, eine Wirkung, die wohl erst viele Jahrhunderte später die Wissenschaft allein bei der großen Mehrheit der Menschen zu üben im Stande sein wird.

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Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert.

II. Therapie.

Ist es möglich, die Genesung der obersten Bildungsschichten von der heutigen Erkrankung ihres Nervensystems durch geeignete Behandlung zu beschleunigen? Ich glaube es ernstlich und deshalb allein habe ich die gegenwärtige Arbeit unternommen. Für so kindlich hält mich hoffentlich Niemand, daß ich mir einbilde, Entartete zur Vernunft bringen zu können, wenn ich ihnen noch so unwiderleglich und überzeugend nachweise, daß sie geisteskrank sind. Wer von Berufs wegen mit Irrsinnigen viel zu thun hat, der weiß, daß es gänzlich aussichtlos ist, sie durch Ueberredung oder Gründe zur Anerkennung der Unwirklichkeit und Krankhaftigkeit ihrer Wahnvorstellungen bewegen zu wollen. Das Einzige, was man erreicht, ist, daß sie im Arzt entweder einen Feind und Verfolger sehen und ihn grimmig hassen, oder daß sie ihn für einen verständnißunfähigen Dummkopf halten und belächeln. Den Fanatikern der irrsinnigen Moderichtungen in Kunst und Schriftthum, die, ohne eigentlich geisteskrank zu sein, doch an der Grenze des Wahnsinns stehen, predigt man ebenfalls vergebens, daß sie sich für Verirrung und Aberwitz begeistern. Sie glauben es nicht und können es nicht glauben. Denn die Werke, deren Tollheit jeder Vernünftige auf den ersten Blick erkennt, gewähren ihnen thatsäch[] lich Lustgefühle. Sie sind ein | Ausdruck ihrer eigenen geistigen Verdrehtheit und der Perversion ihrer eigenen Triebe, die Halbnarren gerathen beim Lesen oder Betrachten dieser Werke in eine Erregung, die sie für eine ästhetische halten, während sie thatsächlich eine wollüstige ist, und diese Empfindung ist eine so echte und unmittelbare, sie sind ihrer so sicher, daß sie sich nur ärgern oder Mitleid empfinden können, wenn man ihnen klar machen will, daß die Werke keinen Genuß bieten, sondern Ekel und Verachtung hervorrufen. Es ist möglich, einem Gewohnheitstrinker zu beweisen, daß Absinth schädlich ist, aber es ist schlechterdings unmöglich, ihn zu überzeugen, daß er schlecht schmeckt. Ihm schmeckt er nämlich wirklich verführerisch schön. Der irrenheilkundige Kritiker hat gut dem Gestörten versichern: „Dieses Buch, dieses Bild sind abscheuliche Delirien“, der Gestörte wird in gutem Glauben antworten: „Delirien? Das mag sein. Aber abscheulich? Das lasse ich mir nicht weismachen. Ich weiß das besser. Sie erregen mich tief und wonnig und nichts, was Sie sagen, kann machen, daß sie dies nicht thun!“ Die heftiger Zerrütteten gehen noch Weiter und sagen einfach: „Wir fühlen in allen Nerven die Schönheit dieser Werke; Sie fühlen sie nicht; umso schlimmer für Sie. Statt einzusehen, daß Sie ein verständnißloser Barbar und stumpfsinniger Philister sind, wollen Sie uns unsere gewissesten Empfindungen abstreiten. Der Einzige, der hier delirirt, sind Sie.“ Die Sittengeschichte lehrt zum Ueberdruß, daß Verrücktheiten lodernde Begeisterung erwecken und auf Jahrhunderte oder Jahrtausende eine unüberwindliche Herrschaft über das Denken und Fühlen von Millionen erlangen, weil sie einem bestehenden Triebe eine wenn auch ungesunde Befriedigung gewähren.



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Gegen das, was dem Menschen Lustgefühle gibt, kommen die Einwendungen des Verstandes nicht auf. Diejenigen Entarteten, bei denen die geistige Zerrüttung eine zu tiefe ist, müssen ihrem unerbittlichen Schicksal über-|lassen werden. An ihnen ist nichts zu [] retten und zu bessern. Sie werden eine Zeit lang rasen und dann untergehen. Für sie ist dieses Buch offenbar nicht geschrieben. Es ist aber zu erreichen, daß die Zeitkrankheit nach dem ausgezeichneten Ausdrucke der deutschen Heilkunde „auf ihre anatomische Nothwendigkeit beschränkt wird“, und dieses Ziel muß mit allen Kräften angestrebt werden. Denn heute folgen den Entartungsrichtungen außer denen, die durch ihre organische Verfassung hierzu unerlösbar verurtheilt sind, auch Viele, die nur der Mode und gewissen schlauen Täuschungen zum Opfer fallen, und diese Verführten kann man auf richtige Bahnen hinüberzuleiten hoffen. Würde man sie dagegen unthätig den Einwirkungen der graphomanischen Narren und ihrer schwachsinnigen oder ruchlosen kritischen Trabanten überlassen, so wäre eine noch weit raschere und heftigere Ausbreitung der geistigen Seuche die nothwendige Folge dieser Pflichtversäumniß und die gesittete Menschheit würde sich viel schwerer und langsamer von der Zeitkrankheit erholen, als es bei richtiger und entschlossener Bekämpfung des Uebels möglich wäre. Für die leicht Erkrankten und Gesunden, die sich von listig ausgesonnenen Schlagworten bethören lassen oder die aus Maulaffen-Gedankenlosigkeit dorthin eilen, wo sie Zulauf sehen, war es vor Allem nothwendig, den Nachweis zu führen, daß die ästhetischen Moderichtungen ein Ergebniß der Geisteskrankheit von Entarteten und Hysterikern sind. Gewisse Kritiker glaubten mich bis zur Sprachlosigkeit einzuschüchtern, indem sie sagten: „Wenn die angeführten Kennzeichen ein Beweis von Entartung und Geisteskrankheit sind, dann ist die Kunst und Dichtung überhaupt, auch diejenige, die man bisher ohne Vorbehalt bewundert hat, das Werk von Verrückten und Degenerirten, denn auch bei ihnen sind die Merkmale der Entartung anzutreffen.“ Darauf erwidere ich: wenn die wissenschaftliche Kritik, welche das Kunstwerk nach den Lehren der Psychologie und Psychiatrie | prüft, [] zu dem Ergebniß führen sollte, daß alle Kunstthätigkeit krankhaft ist, so würde das noch immer nichts gegen die Richtigkeit meiner kritischen Methode beweisen. Es wäre nur eine neue Erkenntniß gewonnen. Sie würde zwar eine holde Täuschung zerstören und Vielen schmerzlich sein, aber die Wissenschaft darf nicht vor der Erwägung stehen bleiben, daß ihre Ergebnisse angenehme Irrthümer vernichten und die Bequemen aus behaglichen Denkgewohnheiten aufscheuchen. Der Glaube ist wohl noch eine andere Majestät als die Kunst, er hat der Menschheit auf einer gewissen Stufe ihrer Entwickelung noch andere Dienste geleistet, sie anders getröstet und erhoben, ihr andere Ideale gegeben und sie sittlich anders gefördert wie selbst die größten künstlerischen Genies; die Wissenschaft hat dennoch nicht gezögert, den Glauben für einen subjektiven Irrthum des Menschen zu erklären, sie würde also noch viel weniger Bedenken tragen, die Kunst als etwas Krankhaftes zu bezeichnen, wenn die Thatsachen sie hiervon überzeugen würden. Ueberdies

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braucht nicht alles Krankhafte häßlich und schädlich zu sein. Der Auswurf eines Lungenleidenden ist ganz so eine krankhafte Absonderung wie die Perle. Macht es die Perle häßlicher, macht es den Auswurf schöner, daß beide Stoffe denselben Ursprung haben? Das Wurstgift ist die Ausscheidung einer Bakterie, der AethylAlkohol die eines Hefepilzes. Bedingt die gleiche Entstehungsweise den gleichen Genußwerth einer vergifteten Wurst und eines Glases alten Rheinweins? Es würde durchaus nichts für Tolstois „Kreutzersonate“ oder Ibsens „Rosmersholm“ beweisen, wenn anerkannt werden müßte, daß Goethes „Werther“ an unvernünftigem Erotismus leidet und die „Göttliche Komödie“ oder „Faust“ symbolische Dichtungen sind. Aber der ganze Einwand geht ja aus einem Verkennen der einfachsten biologischen Thatsachen hervor. Zwischen Krankheit und Gesundheit besteht kein Wesens-, sondern nur ein Mengen-Unterschied. Es gibt nur eine Art von Lebensthä[] tigkeit der Zellen und Zellensysteme oder Or-|gane. Sie ist dieselbe in Krankheit und Gesundheit. Nur ist sie manchmal gesteigert und manchmal verlangsamt und wenn diese Abweichung von der Regel den Zwecken des Gesammt-Organismus schädlich ist, so nennen wir sie Krankheit. Da es sich bei dieser um ein Mehr oder Weniger handelt, so ist ihre Grenze auch nicht scharf zu ziehen. Aeußerste Fälle erkennt man natürlich leicht. Wer aber will mit Sicherheit bestimmen, an welchem genauen Punkte die Abweichung von der Norm, das heißt der Gesundheit, beginnt? Das wahnsinnige Gehirn arbeitet nach ganz denselben Gesetzen wie das vernünftige, nur gehorcht es diesen Gesetzen unvollkommen oder übertrieben. Bei jedem Menschen besteht z. B. die Neigung, Sinneseindrücke falsch zu deuten. Krankhaft ist sie nur, wenn sie außerordentlich stark auftritt. Der Reisende im Bahnwagen glaubt zu bemerken, daß die Landschaft an ihm vorbeijagt, während er stillsitzt. Der Verfolgungswahnsinnige bildet sich ein, daß man ihm üble Gerüche zubläst oder elektrische Ströme auf ihn schleudert. Beide Vorstellungen beruhen auf Sinnestäuschungen. Sind beide darum Anzeichen der Verrücktheit? Der Reisende und der Paranoiker begehen denselben Denkfehler und trotzdem ist jener völlig geistesgesund und dieser geisteskrank. Man mag also ruhig feststellen, daß gewisse Eigenthümlichkeiten, wie starke Emotivität, der Hang zum Symbolismus, das Vorherrschen der Einbildungskraft, bei allen echten Künstlern anzutreffen sind. Deshalb brauchen doch noch lange nicht alle Entartete zu sein. Erst die Uebertreibung dieser Eigenthümlichkeiten macht sie zur Krankheit. Der einzige Schluß, den ihr regelmäßiges Auftreten bei den Künstlern rechtfertigen würde, wäre der, daß die Kunst, ohne schon eine eigentliche Krankheit des Menschengeistes zu sein, doch eine beginnende, leise Abweichung von der vollen Gesundheit ist, und gegen diesen Schluß würde ich mich nicht auflehnen, umso weniger, als [] er den eigentlichen Entarteten | und ihren ausgesprochen krankhaften Werken in keiner Weise zu Gute käme. Mit dem Nachweise, daß Mystik, Ichsucht und Realisten-Pessimismus Formen der Geistesstörung sind, ist es aber nicht gethan. Man muß diesen Richtungen auch alle bestechenden Masken abreißen, in denen sie auftreten, und ihr wirkliches Antlitz in seiner grinsenden Nacktheit zeigen.

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Sie wollen gegenüber der gesunden Kunst, die sie als schimmelig und alterthümlich verspotten, die Jugend darstellen. Eine übelberathene Kritik ist ihnen thatsächlich auf den Leim gegangen und betont immer höhnisch ihre Jugend. Welche Ungeschicklichkeit! Als ob es irgend einer Anstrengung der Welt gelingen könnte, das Wort jung, diesen Inbegriff alles Blühenden und Frischen, diesen Anklang an Morgenroth und Frühling, seines Zaubers zu entkleiden und in einen Tadel oder Schimpf zu verwandeln! Die Wahrheit ist aber, daß die Entarteten nicht nur nicht jung, sondern daß sie unheimlich greisenhaft sind. Greisenhaft ist ihre gallige Verleumdung der Welt und des Lebens, greisenhaft ihr Lallen, Faseln, Irrereden und Fadenverlieren, greisenhaft ihr unvermögendes Lüsteln und ihre Gier nach allen Anreizungen der Erloschenen. Jung ist hoffen, jung ist einfach und natürlich lieben, jung ist sich der eigenen Kraft und Gesundheit und aller Menschen und der Vögel in der Luft und der Käferchen im Grase freuen und von diesen Zügen ist bei den jugendheuchelnden morschen Entarteten auch nicht einer anzutreffen. Sie führen den Namen der Freiheit im Munde, wenn sie ihr faules Ich als ihren Gott ausrufen, und nennen es Fortschritt, wenn sie das Verbrechen preisen, die Sittlichkeit leugnen, dem Trieb Altäre bauen, die Wissenschaft verhöhnen, ästhetisirende Tagedieberei als einzigen Lebenszweck hinstellen. Aber ihre Anrufung der Freiheit und des Fortschrittes ist freche Lästerung. Wie kann von Freiheit die Rede sein, wenn der | Trieb allmächtig sein soll? Man denke doch an den Grafen Muffat [] in Zolas Nana: „Manchmal war er ein Hund. Sie warf ihm ihr parfümirtes Taschentuch in die Ecke und er mußte nachlaufen, auf allen Vieren, um es mit den Zähnen zu holen. ‚Bring, Cäsar, na warte, du Faulpelz! Schön, Cäsar, artig! Aufwarten!‘ Und er liebte die Erniedrigung, er schwelgte im Genuß, ein Vieh zu sein, er wollte noch tiefer sinken, er schrie: ‚Schlage doch zu! Wau! Wau! Ich bin toll! Hau mich doch!‘“ Das ist die Freiheit eines „Emanzipirten“ im Sinne der Entarteten! Er darf ein Hund sein, wenn sein toll gewordener Trieb ihm befiehlt, ein Hund zu sein! Und wenn der „Emanzipirte“ Ravachol heißt und sein Trieb zum Verbrechen ihm befiehlt, ein Haus mit Dynamit in die Luft zu sprengen, so hat der friedliche Bürger, der in diesem Hause schläft, die Freiheit, aufzufliegen und als blutiger Regen von Fleischfetzen und Knochensplittern wieder zur Erde zu gelangen. Fortschritt ist nur durch Steigerung der Erkenntniß möglich, diese aber ist die Arbeit des Bewußtseins und Urtheils, nicht des Triebes. Den Gang des Fortschrittes kennzeichnet die Erweiterung des Bewußtseins und die Einschränkung des Unbewußten; die Kräftigung des Willens und die Schwächung der Zwangsantriebe; die Erhöhung der Selbstverantwortlichkeit und die Unterdrückung der rücksichtslosen Selbstsucht. Wer den Trieb zum Herrn des Menschen macht, der will nicht Freiheit, sondern schmachvollste, niedrigste Sklaverei, Knechtung der Einsicht des Individuums durch seine thörichtsten und selbstzerstörendsten Begierden, Knechtung des brünstigen Mannes durch die wahnsinnigste Laune einer Freudendirne, Knechtung des Volkes durch einige stärkere und gewaltthätige Persönlichkeiten. Und wer die

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Lust über die Zucht und den Zwangsantrieb über die Selbstzügelung setzt, der will nicht den Fortschritt, sondern die Umkehr zur ältesten Thierheit. [] Umkehr, Rückfall, das ist überhaupt das wirkliche Ideal | dieser Bande, die sich untersteht, von Freiheit und Fortschritt zu sprechen. Sie will die Zukunft sein. Das ist einer ihrer Hauptansprüche. Das ist eins der Mittel, mit denen sie die meisten Gimpel fängt. Wir haben aber in allen einzelnen Fällen gesehen, daß sie nicht die Zukunft, sondern die verschollenste, fabelhafteste Vergangenheit ist. Die Entarteten lallen und stammeln statt zu sprechen. Sie stoßen einsilbige Schreie aus, statt grammatikalisch und syntaktisch gegliederte Sätze zu bauen. Sie zeichnen und malen wie Kinder, die mit unnützen Händen Tische und Wände beschmutzen. Sie machen Musik wie die gelben Menschen Ostasiens. Sie mischen alle Kunstgattungen durch einander und führen sie zu den Urformen zurück, die sie hatten, ehe die Entwickelung sie differenzirt hat. Jeder Zug an ihnen ist atavistisch und wir wissen ja überhaupt, daß Atavismus eines der ständigsten Merkmale der Entartung ist. Lombroso hat überzeugend nachgewiesen, daß auch viele Eigenthümlichkeiten des von ihm beschriebenen Typus geborener Verbrecher Atavismen sind. Schnellfertige Kritiker glaubten einen sehr schlauen Einwand gefunden zu haben, als sie ihm mit selbstgefälligem Lächeln diese Kritik entgegenhielten: „Der Trieb zum Verbrechen soll zugleich Entartung und Atavismus sein. Diese beiden Behauptungen schließen einander aber aus. Entartung ist eine krankhafte Verfassung; der beste Beweis dafür ist, daß der entartete Typus sich nicht fortpflanzt, sondern ausstirbt. Atavismus ist Rückkehr zu frühen Zuständen, die nicht krankhaft gewesen sein können, da die Menschen, die in jenen Zuständen gelebt, sich entwickelt haben und fortgeschritten sind. Rückkehr zu einem, wenn auch entlegenen, so doch gesunden Zustand kann aber unmöglich Krankheit sein.“ Dieses ganze Gerede hat seine Wurzel in dem hartnäckigen Aberglauben, welcher in der Krankheit einen von der Gesundheit im Wesen verschiedenen Zustand sehen will. Es ist ein gutes [] Beispiel der Verwirrung, die ein Wort in unklaren oder unwissenden | Köpfen anrichten kann. Es gibt in der Wirklichkeit keine Thätigkeit und kein Verhalten des lebenden Organismus, die man an sich als „Gesundheit“ oder „Krankheit“ bezeichnen könnte. Sie werden es jedoch im Hinblick auf alle Verhältnisse und Zwecke des Organismus. Ein und derselbe Zustand kann sehr wohl einmal Krankheit und einmal Gesundheit sein, je nach dem Augenblick, in welchem er auftritt. Die Hasenscharte ist eine richtige, gesunde Erscheinung an der menschlichen Frucht in ihrer sechsten Lebenswoche. Sie ist eine Verkrüppelung beim neugeborenen Kinde. Im ersten Lebensjahre kann das Kind nicht gehen. Warum? Etwa weil seine Beine zu schwach sind, um es zu tragen? Durchaus nicht. Die bekannten Untersuchungen des Dr. L. Robinson an  neugeborenen Kindern haben bewiesen, daß sie im Stande sind, sich mit den Händen an einem Stabe bis zu dreißig Sekunden frei hängend zu halten, eine Leistung, welche eine Muskelkraft voraussetzt, die im Verhältniß ebenso bedeutend ist wie die der Erwachsenen. Nicht aus Schwäche können sie nicht gehen, sondern weil ihr Nervensystem noch nicht

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gelernt hat, die Thätigkeit der verschiedenen Muskelgruppen so zu regeln und zusammenzustimmen, daß eine zweckmäßige Bewegung zu Stande kommt; die Kinder können noch nicht „koordiniren“. Unfähigkeit zur Koordination der Muskelthätigkeit nennt die Medizin Ataxie. Diese ist also beim Kinde der natürliche und gesunde Zustand. Und ganz dieselbe Ataxie ist schwere Krankheit, wenn sie beim Erwachsenen, als Hauptmerkmal der Rückenmarks-Entzündung, auftritt. Die Gleichheit der krankhaften Ataxie des Rückenmärkers und der gesunden Ataxie des Säuglings ist eine so vollständige, daß Dr. S. Frenkel eine Behandlung der Rückenmark-Leidenden auf sie gründen konnte, die wesentlich darin besteht, daß die Kranken wie Kinder von | Neuem gehen und stehen lernen. Man sieht also, daß [] ein Zustand zugleich krankhaft und doch die bloße Wiederkehr eines ursprünglich vollkommen gesunden Verhaltens sein kann, und es war ein sträflich leichtsinniger Vorwurf, als man Lombroso des Widerspruchs zieh, weil er im verbrecherischen Triebe zugleich Entartung und Atavismus sah. Das Krankhafte an der Entartung besteht eben darin, daß der degenerirte Organismus nicht die Kraft hat, die von der Gattung bereits erreichte Höhe der Entwickelung zu erklimmen, sondern an irgend einem frühen oder späten Punkte unterwegs stehen bleibt. Der Rückfall des Entarteten kann bis zur schwindelerregendsten Tiefe gehen. Wie er körperlich bis zur Stufe der Fische, ja der Gliederthiere und selbst der geschlechtlich noch nicht differenzirten Wurzelfüßer hinabsinkt, wenn er durch Spaltbildungen am Oberkiefer die sechstheiligen Lippen der Käfer, durch Halsfisteln die Kiemenbögen gerade der allerniedrigsten Fische, der Selachier, durch überzählige Finger (Polydaktylie) die vielstrahligen Flossen der Fische, vielleicht sogar die Borsten der Würmer, durch Hermaphroditismus die Ungeschlechtlichkeit der Rhizopoden wiederholt, so erneuert er geistig im besten Falle, als höherer Entarteter, den Typus des Urmenschen der ältern Steinzeit, im schlimmsten Falle, als Idiot, den eines weit vormenschlichen Thiers. Das ist es, worüber wir die Urtheilsschwachen oder Unerfahrenen mit allen Mitteln und unermüdlich aufzuklären haben. Die schönen Namen, welche die Entarteten, ihre Nachäffer und ihre kritischen Reisläufer sich beilegen, sind Lüge und Betrug. Sie sind nicht die Zukunft, sondern eine unabsehbar entlegene Vergangenheit. Sie sind nicht der Fortschritt, sondern die grauenhafteste Reaktion. Sie sind nicht die Freiheit, sondern die schmachvollste Sklaverei. Sie sind nicht die Jugend und das Morgenroth, sondern die erschöpfteste Greisenhaftigkeit, die sternlose Winternacht, das Grab und die Verwesung. Alle gesunden und sittlichen Menschen haben die heilige | Pflicht, sich an dem [] Werke der Beschützung und Rettung der noch nicht zu tief Erkrankten zu betheiligen. Nur wenn Jeder seine Schuldigkeit thut, kann die geistige Seuche eingedämmt werden. Es ist nicht angebracht, blos die Achseln zu zucken und verächtlich zu

  Dr. S. Frenkel, Die Therapie atactischer Bewegungsstörungen. Münchener medizinische Wochenschrift. Nr. , .

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lächeln. Während die Gleichgiltigen sich damit trösten, daß „kein Vernünftiger diesen Blödsinn ernst nimmt“, thun Wahnsinn und Verbrechen ihr Werk und vergiften ein ganzes Geschlecht. Die Mystiker, besonders aber die Ichsüchtigen und die unflätigen Pseudo-Realisten, sind Gesellschaftsfeinde schlimmster Art. Die Gesellschaft muß sich unbedingt gegen sie vertheidigen. Wer mit mir glaubt, daß die Gesellschaft die natürliche, organische Form der Menschheit ist, in der allein sie leben, gedeihen und sich zu höheren Geschicken weiterentwickeln kann, wer die Gesittung für ein Gut hält, das Werth hat und vertheidigt zu werden verdient, der muß unerbittlich den Daumen auf das gesellschaftfeindliche Ungeziefer drücken. Wer mit Nietzsche für das „frei schweifende lüsterne Raubthier“ schwärmt, dem rufen wir zu: „Hinaus aus der Gesittung! Schweife fern von uns! Sei lüsternes Raubthier in der Wildniß! Genüge dir! Ebne dir Wege, errichte dir Hütten, kleide und nähre dich, wie du kannst! Unsere Straßen und Häuser sind nicht für dich gebaut, unsere Webstühle haben keine Stoffe für dich, unsere Aecker sind nicht für dich bestellt. Alle unsere Arbeit ist von Menschen gethan, die einander schätzen, auf einander Rücksicht nehmen, einander gegenseitig helfen und ihre Selbstsucht zum gemeinen Wohle zu zügeln wissen. Für das lüsterne Raubthier ist bei uns kein Platz und wenn du dich unter uns wagst, so schlagen wir dich unbarmherzig mit Knüppeln todt.“ Und noch entschiedener gilt es, gegen die kothlöffelnde Schweinebande der berufsmäßigen Pornographen Partei zu nehmen. Diese haben keinen Anspruch auf [] das Maß von Mitleid, das man den eigentlichen Entarteten als Kranken immer-|hin gönnen mag, denn sie haben ihr niederträchtiges Gewerbe frei gewählt und betreiben es aus Gewinnsucht, Eitelkeit und Arbeitsscheu. Die systematische Aufreizung der Lüsternheit bringt dem einzelnen Menschen den schwersten Schaden an der leiblichen und geistigen Gesundheit und eine aus geschlechtlich überreizten Individuen bestehende Gesellschaft, die keine Selbstbeherrschung, keine Zucht, keine Scham mehr kennt, geht dem sichern Untergang entgegen, da sie zu stumpf und schlaff ist, um noch größere Aufgaben erfüllen zu können. Der Pornograph verseucht die Quellen, aus denen das Leben der künftigen Geschlechter fließt. Keine Arbeit ist der Gesittung so mühselig geworden wie die der Bändigung der Lüsternheit. Der Pornograph will uns um die Frucht dieser härtesten Anstrengung der Menschheit bringen. Für ihn dürfen wir keine Schonung haben. Die Polizei kann uns nicht helfen. Der Staatsanwalt und Strafrichter sind nicht die richtigen Beschützer der Gesellschaft gegen Verbrechen mit der Feder und dem Stifte. Sie mischen in ihr Vorgehen zu viel Rücksicht auf Interessen, die nicht immer, nicht nothwendig die der gebildeten und sittlichen Menschen sind. Der Gendarm hat so oft im Dienste einer bevorrechteten Klasse, der unleidlichen Ueberhebung der Aemter, des Unfehlbarkeits-Dünkels von Ministern und sonstigen Regierungsmännern, des unwürdigsten Byzantinismus und des dümmsten Aberglaubens einschreiten müssen, daß er den Menschen nicht entehrt, dem er die schwere Hand auf die Schulter legt. Darauf aber kommt es an: der Pornograph

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muß mit Ehrlosigkeit gebrandmarkt sein und ein Strafurtheil des Richters hat nicht  mit Sicherheit diese Wirkung.

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Die Verurtheilung von Werken, welche auf Unzucht spekuliren, muß von Männern ausgehen, an deren Vorurteilslosigkeit, Geistesfreiheit, Verständniß und Unabhängigkeit Niemand zweifelt. Das Wort solcher Männer würde auf das | Volk [] von tiefer Wirkung sein. Es besteht bereits ein „Männerbund zur Bekämpfung von Unsittlichkeit“. Leider läßt er sich nicht auschließlich von der Sorge um die sittliche Gesundheit und Reinheit der Menge und namentlich der Jugend leiten, sondern von Erwägungen, welche der Mehrheit des Volkes Vorurtheile scheinen. Der Männerbund fahndet auf Unglauben fast noch mehr als auf Unzüchtigkeit. Ein freies Wort gegen die Offenbarung und die Kirche stößt ihm größern Abscheu ein als eine Zote. Dieser engherzige Konfessionalismus ist daran schuld, daß sein Wirken weniger segensreich ist, als es sein könnte. Aber trotzdem können wir uns diesen „Männerbund“ zum Vorbild nehmen. Thun wir, was er thut, aber thun wir es ohne Muckerei. Hier ist eine große und dankbare Aufgabe z. B. für die neue „Gesellschaft für ethische Kultur“. Sie möge sich zur freiwilligen Wächterin über die Sittlichkeit des Volkes machen. Die Pornographen werden natürlich versuchen, sie zu verspotten. Aber der Hohn wird ihnen bald genug in der Kehle stecken bleiben. Ein Verein, dem die Führer und Lehrer des Volkes, Professoren, Schriftsteller, Abgeordnete, Richter, hohe Beamte angehören, hat die Macht, einen unwiderstehlichen Boycott zu üben. Die „Gesellschaft für ethische Kultur“ möge es unternehmen, die künstlerische und schriftstellerische Hervorbringung auf ihre Züchtigkeit zu prüfen. Ihre Zusammensetzung bürgt dafür, daß die Prüfung nicht kleinlich, nicht zimperlich und augenverdreherisch geschehen würde. Ihre Mitglieder haben Bildung und Geschmack genug, um die Unbedenklichkeit eines sittlich gesunden Künstlers von der niedrigen Spekulation eines schreibenden Ruffians zu unterscheiden. Wenn eine solche Gesellschaft, der gerade im Hinblick auf diese Thätigkeit die besten Männer des Volkes beitreten würden, nach ernster Untersuchung und im Bewußtsein schwerer Verantwortlichkeit von einem Menschen sagen würde: „Er ist ein Verbrecher!“ und von einem Werke: „Es ist eine Schande für unser Land!“ | so wären Werk und Mensch vernichtet. Kein anständiger Buchhänd- [] ler würde das gerichtete Buch führen, kein anständiges Blatt es erwähnen oder seinem Verfasser Zugang zu seinen Spalten gestatten, keine anständige Familie den Gebrandmarkten in ihr Haus lassen und die heilsame Furcht vor diesem Schicksale würde sehr bald das Erscheinen solcher Bücher wie Bahrs „Gute Schule“ verhüten und es den „Realisten“ abgewöhnen, mit einer Verurtheilung wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit wie mit einer Auszeichnung Staat zu machen. Auch die Irrenärzte haben noch nicht ihre Pflicht begriffen. Es ist Zeit, daß sie vor die Front treten. „Es ist ein Vorurtheil“, sagt Bianchi sehr richtig, „daß die

 A. G. Bianchi, La patologia del genio e gli scienziati italiani. Milano, . S. .

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Psychiatrie in einem Heiligthum gleich dem von Mekka verschlossen gehalten werden muß.“ Rückenmarkschnitte in Chromsäure härten und mit neutrophiler Lösung färben ist ganz verdienstlich, aber damit sollte die Thätigkeit eines Professors der Irrenheilkunde nicht erschöpft sein. Es ist auch nicht genug, daß er nebenbei Rechtsbeflissenen einige Vorträge hält und in Fachzeitschriften Beobachtungen veröffentlicht. Er spreche zur Masse der Gebildeten, die weder Aerzte noch Rechtskundige sind! Er kläre sie in allgemeinen Zeitschriften und in zugänglichen Vorträgen über die Hauptthatsachen der Irrenheilkunde auf! Er zeige ihnen die Geistesstörung der entarteten Künstler und Schriftsteller und belehre sie darüber, daß die Modewerke geschriebene und gemalte Delirien sind! Er wird zwar nur zu wiederholen haben, was ich hier gesagt habe, aber er darf dies nicht aus Hochmuth unterlassen. Das deutsche Volk glaubt an eine hohe Obrigkeit. Rang und Titel sind in seinen Augen wichtige Empfehlungen. Es wird die von mir dargestellten Thatsachen sofort anerkennen und beherzigen, wenn sie ihm von Geheimräthen und [] Professoren | bestätigt werden. In allen anderen Abtheilungen der Heilkunde hat man begriffen, daß Hygiene wichtiger ist als Therapie und daß die öffentliche Gesundheit mehr von Vorbeugung als von Behandlung zu erwarten hat. Nur der Psychiater denkt bei uns noch nicht an die Hygiene des Geistes. Es ist Zeit, daß er seinen Beruf auch nach dieser Richtung hin übe. Ein Maudsley in England, ein Charcot, ein Magnan in Frankreich, ein Lombroso, ein Tonnini in Italien haben weiten Volkskreisen Verständniß für die dunkeln Erscheinungen des Geisteslebens beigebracht und Kenntnisse verbreitet, die es in jenen Ländern unmöglich machen würden, daß ausgesprochene Verfolgungswahnsinnige Einfluß auf Hunderttausende stimmberechtigter Bürger gewinnen, wenn sie auch noch nicht verhindern konnten, daß die Kunst der Entarteten in Mode komme. Blos in Deutschland hat bis jetzt kein namhafter Psychiater dieses Beispiel befolgt. Hier ist Versäumtes nachzuholen. Volksthümliche Darstellungen aus der Feder von Fachmännern, die sich dem Leser durch angesehene Amts-Stellung empfehlen, würden viele Geistesgesunde davon abhalten, sich den Entartungs-Richtungen anzuschließen. Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte: Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen dieser Schmarotzer. Wir besonders, die es uns zur Lebensaufgabe gemacht haben, alten Aberglauben zu bekämpfen, Aufklärung zu verbreiten, geschichtliche Ruinen vollends niederzureißen und ihren Schutt wegzuräumen, die Freiheit des Individuums gegen den Druck des Staates und der gedankenlosen Philister-Routine zu vertheidigen, wir müssen uns entschlossen dagegen wehren, daß elende Streber sich unserer theuersten Losungsworte bemächtigen, um mit ihnen Bauernfängerei zu treiben. [] Die „Freiheit“ und | „Modernität“, der „Fortschritt“ und die „Wahrheit“ dieser Bursche sind nicht die unsrigen. Wir haben nichts mit ihnen gemein. Sie wollen Schwelgerei, wir wollen Arbeit. Sie wollen das Bewußtsein im Unbewußten ersäu-

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fen, wir wollen das Bewußtsein stärken und bereichern. Sie wollen Gedankenflucht und Faselei, wir wollen Aufmerksamkeit, Beobachtung und Erkenntniß. Daran mag Jeder die echten Modernen erkennen und von den Schwindlern, die sich  Moderne nennen, sicher unterscheiden: wer ihm Zuchtlosigkeit predigt, der ist ein Feind des Forschrittes, und wer sein Ich anbetet, der ist ein Feind der Gesellschaft. Diese hat Nächstenliebe und Opferfähigkeit zur ersten Voraussetzung und der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer Bezwingung des Thiers im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung, immer feinern Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühls.  Die Emanzipation, für die wir wirken, ist die des Urtheils, nicht die der Begierden. Um es mit einem tiefdröhnenden Worte der Schrift zu sagen (Matth. , ): „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Ende.

Anhang

Editorische Notiz Die hier vorliegende Fassung folgt der 1892/3 im Verlag Carl Duncker, Berlin, erschienenen Erstausgabe von Entartung. – Die Orthographie des Originals wurde beibehalten: „Pensionsfreundinen“, „drapirt“, „Nothwendige“ etc. – Unterschiedliche Schreibformen von Substantivkomposita (mit oder ohne Bindestrich) wurden belassen: „Ideen-Assoziation“ / „Ideenassoziation“, „Bewußtseinsschwelle“ / „Bewußtseins-Schwelle“ etc. Dieses gilt auch für Werktitel: Kreutzersonate / Kreutzer-Sonate. – Fehlender accent grave und accent aigu wurden ergänzt: „Peladan“ → Péladan, Mendes → Mendès – Unterschiedliche Schreibweisen von Personennamen wurden belassen: Turgenjeff / Turgenjew; fehlerhafte Personennamen wurden nicht korrigiert: z. B. Tabaraud / Tarabaud, hier erfolgt ein Verweis im Kommentar. – Gelegentlich abweichende Schreibweisen desselben Wortes wurden angeglichen: „Mystizismus“ / „Mysticismus“ / „Mistizismus“ → Mysticismus, „Entwickelung“ / „Entwicklung“ → Entwickelung etc. – Einmalige orthographische Fehler wurden korrigiert: „Chrakter“ → Charakter; „Giftmöder“ → Giftmörder etc. – Fehlende Bindestriche wurden ergänzt: „Kraft und Muthlosigkeit“ → Kraft- und Muthlosigkeit etc. – Gelegentlich abweichende Schreibweisen der Umlaute von Majuskeln wurden vereinheitlicht: „Überzeugung“ / „Ueberzeugung“ → Ueberzeugung, etc. – Irrtümlich eingefügte Wörter wurden getilgt: „ein Schriftthum von vor den sudanesischen Griots“ → ein Schriftthum von den sudanesischen Griots. – Die Zeichensetzung wurde in der Regel beibehalten. Korrigiert wurden wiederholte Unstimmigkeiten im Schlusspunkt eines zitierten Satzes (fin de siècle.“ → „fin de siècle“. etc.) und einmalige Zeichensetzungsfehler. – Abkürzungen in den Zitatnachweisen wurden vereinheitlicht: „a. a. O. S. xx / a. a. O., S. xx“ → a. a. O. S. xx. – Durch Sperrung oder geänderte Schriftart vorgenommene Hervorhebungen im Original wurden in der Neuedition kursiv wiedergegeben. – Irrtümlich vergessene Anführungszeichen wurden ergänzt, irrtümlich angeführte getilgt. – Die graphische Präsentation von freigestellten Zitaten wurde vereinheitlicht; zitierte Verse / Textausschnitte erscheinen in der Neuedition einzeilig im Schriftbild des Originals. – Die Wiedergabe von Zahlen wurde vereinheitlicht: „1000“ / 1.000 → 1.000. – Überflüssige Spatien wurden entfernt, fehlende eingefügt. – Aus dem Druck heraus gefallene oder unleserliche Buchstaben wurden ergänzt.

Kommentar Werktitel und Gedichttitel wie auch fremdsprachige Zeitschriftentitel, Zitate oder Organisationen wurden jeweils in Klammern stehend sinngemäß übersetzt. Das heißt: Es wurde darauf verzichtet, bereits im Umlauf befindliche Übersetzungen anzuführen. Von Nordau vorgenommene Übersetzungen fremdsprachiger Werktitel, Gedichttitel und Zitate wurden im Original wiedergegeben. Werke erwähnter Wissenschaftler, Philosophen, Dichter, Musiker oder Bildender Künstler wurden nur dann aufgenommen, wenn Nordau diese zitiert oder wenn er diese gelesen/gesehen/oder von denen er gehört haben könnte. Werktitel, die nach Entartung erschienen sind, wurden nur in Ausnahmefällen aufgenommen. Dieses gilt auch für biographische Daten. Inhaltsangaben von literarischen Werken wurden nur dann geleistet, wenn sie von Nordau nicht oder nur oberflächlich oder sinnentstellend oder falsch referiert wurden. Fehlende Zitatnachweise in Entartung wurden ergänzt. Da Nordau z. T. zitiert hat, ohne dem genauen Wortlaut des Originals zu folgen, können die nachgewiesenen Textstellen in den Originalen im Wortlaut von den zitierten Textstellen in Entartung abweichen. Dieses gilt auch für Nordaus z. T. ungenaue Übersetzungen, die nicht im Wortlaut mit den autorisierten Übersetzungen übereinstimmen müssen. Zitatnachweise dienen also der Orientierungshilfe, spiegeln aber im Vergleich mit dem (z. T. kryptischen) Zitat in Entartung auch die Arbeitsweise Nordaus wider. Die einzelnen Kommentierungen wiederholen zur schnelleren Orientierung des Lesers Namen, Lebensdaten und Übersetzungen, auch wenn diese bereits in vorhergehenden Lemmata genannt wurden.

Entartung. Von Max Nordau 5,6 Carl Duncker] Carl Friedrich Wilhelm Duncker (1781–1869), dt. Verleger. Nach dem Tod des Partners ab 1828 Alleininhaber des Verlags. Zu den ersten Autoren gehören die dt. Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Ernst Theodor Amadeus (eigtl. Ernst Theodor) Hoffmann (1776–1822) u. Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué (1777–1843). Ab 1832 Hg. der Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831). Konzentration dennoch auf wissenschaftl., insb. histor. Werke. Verleger der Litterarischen Zeitung, der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik u. der Jahrbücher der deutschen Geschichte. Seit 1824 im Vorstand des Börsenvereins der deutschen Buchhändler, zw. 1828 u. 1831 Vorsitzender.

Erster Band. Statt eines Vorwortes. 7,2 Lombroso] Cesare Lombroso (1835–1909), ital. Arzt u. Kriminologe, v. 1863 bis 1872 Psychiater in Pavia, Pesaro u. Reggio Emilia, ab 1774/5 Professor der gerichtl. Medizin in Pavia, ab 1876 in Turin. Ausführl. s. → Nachwort. 7,6 Morel] Bénédict Augustin Morel (1809–1873), frz. Psychiater. Sein Hauptwerk Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’ espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives (1857) (dt., „Abhandlung über die phys., intellektuellen u. moral. Entartungen des Menschengeschlechts u. die Gründe, die die verschiedenen krankhaften Abweichungen hervorbringen“), beeinflusst wesentl. das medizin. Denken des 19. Jh.s. Ausgangspunkt seines anthropolog. Grundgedankens ist der „type primitif“ o. „type normal“, ein gesunder, ursprüngl. Mensch, der infolge v. Vergiftung (Infektionen, Alkoholmissbrauch etc.), Milieu, krankhaftem Temperament, „moral. Erkrankung“, angeborener o. erworbener Schäden, eine „Entartung“ erleide. Morel prägt eine Vorstellung der Entartung als eines v. Generation zu Generation fortschreitenden Prozesses. Die letzte Stufe der Entartung führe stets zu Sterilität. Morels Ätiologie wird zu Beginn des 20. Jh.s durch Oswald Bumke (1877–1950) in seiner Schrift Über nervöse Entartung (1912) v. a. in den Grundannahmen der Vererbung u. des negativen Einflusses der modernen Kultur widerlegt. Weitere einschlägige Publikationen Morels, die N.s Ausführungen stützen sollen: Du delire emotif. Nevrose du Systeme nerveux ganglionaire visceral (dt., „Über das empfindsame Delirium. Neurose des ganglionären viszeralen Nervensystems“), Du délire panophobique des aliénés gémisseurs (dt., „Über das panphob. Delirium der wahnsinnigen Nörgler [wörtl.: Wehklagenden]“). 7,7 Entartung] Zur Begriffsgeschichte s. → Nachwort. 8,56 Blutzeugenschaft] Bez. für die Bereitschaft v. Menschen, für ihren Glauben o. ihre Überzeugung in den Tod zu gehen. 8,63 Graphomanen] Gr., γράφω, dt., „schreiben“ u. gr., μανία, dt., „Raserei“, „Wahnsinn“. Lombroso unterscheidet „geisteskranke Genies“ u. „Geisteskranke mit poet. Genie“. In einer Grauzone findet sich die Gruppe der „mattoidi“ (in der dt. Ausgabe „Halbirre“), an denen Lombroso das Krankheitsbild der „Graphomanen“ entwickelt, die sich durch pseudoliterar., häufig mit prophet. Anspruch verbundene, sich in Wortspielen ausdrückende u. mit graph. Besonderheiten ausgestattete Vielschreiberei auszeichnen. 8,70 willkürlich] Der Diskurs über „Entartung“ ist geknüpft an den des „Willens“. Während der gesunde Mensch Nordau zufolge über seinen Willen verfügt, zeichnet sich der Kranke durch Willenlosigkeit aus. Dadurch ist er erstens nicht mehr in der Lage, seiner Triebhaftigkeit Herr zu werden, also Sitte u. Moral zu

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genügen, u. wird zweitens v. Ideen-Assoziationen → 60, 151 überschwemmt, verliert also eine realist. Sicht auf die Welt. Ausführl. s. → Nachwort. Vgl. →31, 193 Abulie; 31, 203 willenslos; 33, 264 Willensschwäche; 63, 275 freiwillige; 66, 393 willensstark; 66, 397 Willensstärke; 66, 402 Willensschwäche oder Willenlosigkeit; 64, 114 mit Hilfe des Willens; 76, 823 unwillkürliches; 76, 822 Bewegungs-Tic (unwillkürliches Zucken); 77, 23 Willkürliches; 82, 334 Willkür; 130, 931 unwillig; 157, 352 Lebenswillen; 159, 260 willig; 178, 237 moralische Wille; 187, 569 Willenskraft. 8,78 Max Nordau] S. → Nachwort.

Erstes Buch. Fin de Siècle. I. Völkerdämmerung. 13,1 Völkerdämmerung] Neologismus N.s, analog zu „Götterdämmerung“ (altnord., „ragnarök“), vgl. → 14,52, in der nord. Mythologie die Sage v. Untergang der Götter. Der letzte Teil der Ragnarök beschreibt das Entstehen der neuen Welt. N. impliziert mit seiner Wortneuschöpfung das Ende der „Entartung“ u. das Aufdämmern einer neuen Welt infolge seiner Schrift. 13,3 „fin-de-siècle“] Bez. n. heutigem Verständnis die Epoche v. den achtziger Jahren des 19. Jh.s bis zum Ersten Weltkrieg. Kennz. ist eine mentale Befindlichkeit, die sich in einer tiefen Verunsicherung bemerkbar macht, hervorgerufen durch techn. Neuerungen u. soziale Umwandlungen u. zu neurasthen. Zuständen u. einem diffusen Gefühl des „zu-Ende-gehens“ führt. Ausführl. s. → Nachwort. 13,6 Sprachforschung] In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s Ausdruck für die professionelle Beschäftigung mit Sprache. Seit 1852 gibt es die Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung, seit 1874 den Verein für niederdeutsche Sprachforschung. Vmtl. liegt N.s Verständnis eine spezielle Prägung durch Jacob Grimms (1785–1863) Ausspruch zugrunde, „Sprachforschung ist zugleich Geschichtsforschung“ (Geschichte der deutschen Sprache, Leipzig 1848). 13,6 Sittengeschichte] Befasst sich mit der histor. Entwicklung der Gebräuche u. Sitten innerhalb einer Kultur; einen deutl. Schwerpunkt bildet die moral. Verfassung. N. bezieht sich vmtl. auf den dt. Altphilologen u. Kulturhistoriker Ludwig Friedlaender (1824–1909): Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, 3 Bde. (1862–1871). 13,10 Seelenzustandes] N. verwendet den Begriff im Sinne v. „Gemütszustand“, „Stimmung“ o. „Seelenlage“. Gemeint ist die augenblickl. psych. Disponiertheit des Menschen (z. B. euphorisch, bedrückt, reizbar). Der österr. Schriftsteller, Dramatiker, Theater- u. Literaturkritiker Hermann Anastas Bahr (1863–1934) spricht zur gleichen Zeit in seinem Roman Die gute Schule (1890) u. im Essay Die Überwindung des Naturalismus (1891) v. „Seelenstände(n)“. Begriff entlehnt v. „état d’âme“ (dt., „Seelenzustand“, „Gemütslage“) v. Paul Bourget (1852–1935) Essais

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de psychologie contemporaine (dt., „Abhandlungen über zeitgenöss. Psychologie“) N. bezichtigt Bahr einer falschen Übersetzung. Vgl. zu Bahr auch → 508, 562. 13,24 Anthropo- oder Zoomorphismus] A.: „Vermenschlichung“ (gr., ἄνϑρωπος, dt., „Mensch“ u. gr., μορφή, dt., „Form“, „Gestalt“). Bez. die Übertragung menschl. Eigenschaften o. menschl. Verhaltens auf Nicht-Menschliches, z. B. attributiv: „der lächelnde Mond“. – Z.: „Entmenschlichung“ (gr., ζῷον, dt., „Tier“, „Lebewesen“) bez. die Darstellung v. Menschen o. Göttern in Tierform o. mit Tierattributen versehen. 13,28 das vierzehnte Jahrhundert der mohamedanischen Welt] Die islam. Zeitrechnung beginnt mit dem 1. Muharram 1 AH = 16. Juli 622, der Hidschra, Auswanderung des Propheten Mohammeds aus Mekka. Das Jahr 1891 christl. Zeitrechnung entspricht dem Jahr 1308/9 islam. Zeitrechnung. 13,29 siebenundfünfzigste Jahrhundert der Juden] Der jüd. Kalender zählt die Jahre ab dem Zeitpunkt der bibl. Schöpfung der Welt, der auf das Jahr 3761 v. Chr. berechnet wird. Das Jahr 1891 entspricht dem Jahr 5651/2 des jüd. Kalenders. 14,45 „fin de race“] Frz., dt., „Ende der Rasse“. Der Begriff geht möglicherweise auf den Philosophen, Historiker u. Kritiker Hippolyte Taine (1828–1893) zurück. N. T. sind die Menschen bestimmt durch Rasse (frz., „race“), Milieu (frz., „milieu“) u. Zeit (frz., „temps“). Beim schöpfer. Menschen kommt eine spezif. Individualität („Genialität“) hinzu. 14,52 Götterdämmerung] Urspr., „Ragnarök“ (dt., „Schicksal der Götter“; altnord. „regin“, dt., „Gott“, altnord. „rök“, dt., „Ursache“), die Sage v. Untergang der Götter (Weltuntergang) in der Nord. Mythologie. Der Begriff „Götterdämmerung“ bez. den vierten Teil der Tetralogie v. Richard Wagners (1813–1883) Der Ring des Nibelungen → 183, 382; 183, 386; 193, 837. 14,58/9 des Jahres 1000 / chiliastischer Schrecken] Gr., χίλιοι, dt., „tausend“, adj. „chiliastisch“. Im urspr. Sinn der Glauben an die Wiederkunft Jesu Christi u. das Aufrichten seines tausend Jahre währenden Reichs n. der Offenbarung des Johannes 20,1–10. Allgem. Bez. für den Glauben an das nahe Ende der gegenwärtigen Welt. 14,67 der ergreifenden Abendroth-Schwermuth eines Faust] Johann Wolfgang Goethes (1749–1832): Faust. Eine Tragödie (1808), 1. Szene, Nacht. „Die Nacht scheint tiefer tief einzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht; / Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen; / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht.“ 14,75 Neid des greisen, reichen Wüstlings] Möglicherweise bezieht sich N. hier auf die Memoiren v. Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798). Aufgegriffen z. B. in: Karl Ferdinand Fröhlich [Johann Conrad Friederich], Ein deutscher Casanova (1848–1849); Lucian Herbert [Julius Anton Gundling], Casanova, Chevalier v. Seingalt (1874). Das Motiv ist aber auf dt. u. frz. Bühnen, v. a. in Komödien beliebt. 14,78 Decamerone] Il Decamerone (ca. 1349–1353) (ital., gr., δέκα, dt., „zehn“; gr., ἡμέρα, dt., „Tag“), Sammlung v. 100 Novellen („Zehn-Tage-Werk“, bestehend aus 10 × 10 Novellen) v. Giovanni Boccaccio (1313–1375). Die Rahmenerzählung

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schildert eine Gruppe v. sieben Mädchen u. drei jungen Männern, die sich im Frühjahr 1448 auf der Flucht vor der Pest in ein zwei Meilen vor Florenz liegendes Landhaus zurückzieht. Um sich zu zerstreuen, wird jeden Tag ein König bzw. eine Königin gewählt, der/die das Thema des Tages vorgibt, zu dem jeder eine Geschichte zu erzählen hat. 14,80 „das adelige Nest“ von Turgenjeff] Russ. Drorjanskoe gnezdo (1859) (dt., „Ein Adelsnest“), Roman v. Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883), russ. Schriftsteller. Schauplatz der Handlung ist ein Gutshof im mittleren Russland zw. 1842 bis 1850. Die Handlung hat die Pointe darin, dass Fjodor Lawretzkij u. Lisa Kalitin nicht zueinander finden, obwohl sie zueinander gepasst hätten. – Lisa wird v. Wladimir Panschin umworben, erteilt ihm aber eine Absage. Lawretzkij lebt mit seiner Frau Warwara Pawlowa im Ausland, bis er ihre Untreue bemerkt u. allein n. Haus zurückkehrt, wo die Liebe zw. ihm u. Lisa erwacht. Plötzl. kehrt seine Frau zurück, die aufgrund einer Falschmeldung einer Pariser Zeitung als tot galt. Er schenkt ihr eines seiner Güter, verliert damit Lisa. Warwara Pawlowa geht nach Petersburg, wo Panschin bereits auf sie wartet, dem sie sich unterworfen hat. So bleiben Lawretzkij u. Lisa in Entsagung zurück. Innerhalb dieses Geschehens ist das Klavierspiel des dt. Musiklehrers Christopher Theodor Gottlieb Lemm die lyr. Folie: Innerlichkeit als Gegenkraft zur politisierten, rücksichtslosen Umwelt. 15,90 Alvings Todesschrei nach „der Sonne, der Sonne“] Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten (norweg., Gengangere. Et familjedrama i tre akter, 1881) v. Henrik Ibsen (1828–1906), norweg. Schriftsteller mit großem Einfluss auf die dt. Naturalisten. „Zur Sonne …“ als „Todesschrei“ zu bez., ist missverständl., da hier ledigl. der Ausbruch des Wahnsinns gekennz. wird. 15,102/107 Ein König / Fin-de-siècle König] Theaterstück in 4 Akten Fin de siècle der frz. Schriftsteller Francis de Jouvenot (Lebensdaten unbek.) u. Henry Jean Charles Micard (1849–unbek.) (Pseudonyme Henry de Fleurigny u. Henry de SaintCyr). Ua. 17. 4. 1888 in Paris. 15,108 Ein Bischof] Nicht ermittelbar. 15,118 Der Mörder Pranzini] Henri-Jaques (frz., für Enrico) Pranzini (1856– 1887), ital. Krimineller, ersticht in der Nacht zum 17. März 1887 bei einem Raubüberfall in Paris drei Frauen, wird gefasst u. am 31. August 1887 durch die Guillotine hingerichtet. 15,120 H. Micard und F. de Jouvenot] S. → 15, 102. 16,127 Ein Amerikaner] Am 8. November 1865 führt der amerik. Aeronaut Thaddeus Sobieski Constantine Lowe (1832–1913) die erste Flitterwochen-Ballonfahrt für Dr. John F. Boynton (1811–1890) u. seine Verlobte durch. Start in Manhattan, Landung 20 km nördl. in Mt. Vernon (NY). 16,130 Ein chinesischer Gesandtschafts-Attaché] Vmtl. der chin. Diplomat Tcheng-Ki-Tong (1851–1907), Mitglied der chin. Botschaft in Berlin u. Paris, Verfasser mehrerer Bücher in frz. Sprache. 16,136 Ein Quartaner] Vmtl. ein v. N. paraphrasierter Witz, wie er am Ende des 19. Jh.s in den Tagesgazetten häufig zu finden ist.

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16,141 Zwei Fräulein aus guter Familie] Zur Quelle s. → 16, 136. 16,150 zotenhaft] Unanständig. Zote, unanständiger Witz. 16,152 „demi-monde“] Frz., dt., „Halbwelt“. Le demi-monde (1855), Drama v. Alexandre Dumas d. J. (auch Dumas fils) (1824–1895), frz. Schriftsteller. 16,162 Barnum] Phineas Taylor Barnum (1810–1891), amerik. Zirkuspionier u. Politiker. Sammler eines aufsehenerregenden Kuriositätenkabinetts. 16,164 fin-de-siècle-Fälle] Hier v. N. erstmals als Oberbegriff für jegl. Missachtung v. „Anstand u. Sitte“ verwendet, dem hohen Gut der „überlieferte[n] Zucht“ gegenübergestellt. 17,175 Phänomenismus] Eigtl. Phänomenolismus; (gr., φαινόμενον, dt., „ein sich Zeigendes“) im 19. Jh. philosoph. Richtung, die die Erscheinung zum Gegenstand der Erkenntnis erklärt. N. verwendet den Begriff populist. für eine Erkenntnisform, die der sichtbaren Oberfläche verbunden bleibt. 17,186 Interregnum] Lat., inter, dt., „zw.“ u. lat., regnum, dt., „Herrschaft“. „Zwischenregierung“ / „Übergangsregierung“. 17,201 wie in Orakeln der Pythia] Orakel, Form der Weissagung, die der Auslegung bedarf (im Gegensatz zur Prophezeiung). Pythia, weissagende Priesterin im Apoll-Tempel v. Delphi (Orakel v. Delphi). 17,204 Maulaffen] Kopfförmige Halter aus Ton, in deren „Maul“ Kienhölzer (Brennscheite aus Nadelholz) gesteckt werden. Seit dem 15. Jh. in der Bedeutung v. Gaffer, „einer, der mit offenem Maul dasteht u. gafft“. Heute noch gebräuchl. in der Redewendung „Maulaffen feilhalten“. 17,208 Krakatoa] Krakatau, Vulkaninsel in der Sunda-Straße zw. den indones. Inseln Sumatra u. Java; am 27. August 1883 Ausbruch des Vulkans mit verheerenden Zerstörungen. 18,222 rudimentärsten] Lat., rudimentum, dt., „Anfang“, „erster Versuch“. In der Biologie „verkümmert“, „unvollständig entwickelt“; umgangsspr., „in Ansätzen vorhanden“. 18,229 Ohnets Romane] Georges Ohnet [Georges Hénot] (1848–1918), populärer frz. Journalist u. Schriftsteller. Romanzyklus Les batailles de la vie (dt., „Die Schlachten des Lebens“), vielgelesen, aber v. d. Kritik als Trivialliteratur geschmäht. 18,229 Symbolisten] 1892 erklärt Hermann Bahr (1863–1934), „dass der neue Symbolismus von heute und der überlieferte Symbolismus von einst nichts mit einander zu schaffen haben“ („Studien zur Kritik der Moderne“, in: Hermann Bahr. Kritische Schriften IV, hg. v. Claus Pias, 2005, 31). Bahr definiert den überlieferten Begriff als Verfahren der Darstellung „unsinnlicher Dinge durch sinnliche Zeichen“ (ebd.), den modernen Begriff als Versuch, durch sinnl. Mittel „die Nerven in jene Stimmungen [zu] zwingen, wo sie von selber nach dem Unsinnlichen greifen“ (ebd. 32) u. die Verwendung v. Symbolen „als Stellvertreter und Zeichen nicht des Unsinnlichen, sondern von anderen ebenso sinnlichen Dingen“ (ebd.). Die Technik des Lyrikers, ein Gefühl, eine Stimmung o. einen Zustand des Gemüts auszudrü-

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cken, beschreibt Bahr so: „Der Künstler kann eine ganz andere Ursache, ein anderes äußeres Ereignis finden, welche seinem Zustande ganz fremd sind, aber welche das nämliche Gefühl, die nämliche Stimmung erwecken und den nämlichen Erfolg im Gemüthe bewirken würden.“ (ebd. 32f.) – Auch N. differenziert „alten“ u. „neuen“ Symbolismus, seine Beobachtungen gleichen denen v. Bahr; das theoret. Verständnis des neuen Symbolismus fehlt indessen. – Die heutige Forschung sieht im Symbolismus ein uneinheitl. literar. Phänomen (Verzicht auf objektive Beschreibung). Ausgehend v. Charles Baudelaire (1821–1867), der in seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal (dt., „Die Blumen des Bösen“) synästhet. wahrgenommene Realität ledigl. als Verweis auf ein einheitl. Sein hinter den Erscheinungen darstellt, greift u. a. Mallarmé (1842–1898) diesen Ansatz auf: Sprache wird aus der alltägl. Kommunikation herausgelöst u. geformt zu einem „verdunkelte[n] dichterischen Sage[n]“ (s. → Nachwort, Fritz, 414), durch das eine eigenständige, absolute Welt evoziert wird. Demgemäß korreliert diese absolute Welt mit dem Nichts, wodurch auch die Worte ihre Zeichenfunktion verlieren u. in einer poésie pure (dt., „reine Poesie“) aufgehen; durch die Verabsolutierung der Dichtung wird die „Einheit der Idee“ (ebd., 418) ins menschl. Subjekt verlagert. An Mallarmés Konzept orientieren sich in Deutschland Stefan George (1868–1933), Rainer Maria Rilke (1875–1926) u. Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), was bei letzterem die sog. Chandos-Krise (1901/1902) auslöst, formuliert in dem Essay Ein Brief. 18,229 Mascagnis „Bauernehre“] Cavalleria rusticana (1890), Oper v. Pietro Mascagni (1863–1945), ital. Komponist. 18,229 Wagner-Schülern] Wilhelm Richard Wagner (1813–1883), dt. Komponist. Um 1890 ist bereits ein „Wagnerismus“ zu beobachten, der bis zum Ersten Weltkrieg anhalten wird u. eine enthusiasmierte Anhängerschaft bez. (vgl. → Nachwort). 18,233 Freiluftmalern] Anhänger der Freilichtmalerei o. Pleinairmalerei (frz., „en plein air“, dt., „unter freiem Himmel“). Malerei bei natürl. Lichtverhältnissen in freier Natur. Begr. im 19. Jh. in England v. John Constable (1776–1837) u. Richard Parkes Bonington (1802–1828); durch die frz. Impressionisten etabliert, v. a. JeanBaptiste Camille Corot (1796–1875), Jean-François Millet (1814–1875), Camille Pissarro (1830–1903), Pierre-Auguste Renoir (1841–1919), Giovanni Segantini (1858– 1899), Claude Monet (1840–1926).

II. Symptom. 19,6 wie eine Rafaelische Magdalena Doni] Raffael, auch Raffael da Urbino, Raffaello Santi Raffaello Sanzio o. Raphael (1483–1520), ital. Architekt u. Maler der Hochrenaissance. Gemeint ist hier das Porträt der Maddalena Doni, geb. Strozzi (um 1506), Gattin des Kaufmanns Agnolo Doni. Heute hängt das Bild in der Galeria Palatina im Palazzo Pitti, Florenz.

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19,7 wie Julia, Tochter des Titus] Titus Flavius Vespasianus (39–81), gen. Titus, zweiter röm. Kaiser der flavischen Dynastie; Julia (Lebensdaten unbek.) entstammt der zweiten Ehe (seit 65 n. Chr.) mit Marcia Furnilla (Lebensdaten unbek.), v. der s. Titus wohl aus polit. Gründen trennt. 19,7 Plotina, die Gattin des Trajan] Pompeia Plotina (zw. 62/72–122), Ehefrau des Marcus Ulpius Traianus (53–117), gen. Trajan, v. 98 bis 117 röm. Kaiser. 19,10 Gentile Bellini] (um 1429–1507), Maler u. Medailleur aus Venedig, Schüler seines Vaters Jacopo Bellini (um 1400–1470/71). Werke geprägt durch Feinlinigkeit, perspektiv. Bildaufbau u. Plastizität. Ab 1474 Auftragswerke für den Senat Venedigs, u. a. Porträts der Dogen, z. B. Bildnis des Dogen Mocenigo 1480 (Museo Correr, Venedig). 1479 geadelt durch Friedrich III. (1415–1493). 19,11 Botticelli] Sandro Botticelli, eigtl. Alessandro di Mariano di Vanni Filipepi (1445–1510), ital. Maler u. Zeichner der Frührenaissance, Schüler Fra Filippo Lippis (bis 1467). Ab 1470 eigene Werkstatt. Zahlr. Meisterwerke u. a. Geburt der Venus (1486), Urteil des Paris (1485–87) u. Zeichnungen zu Dantes La Divina Commedia (1482–1503) (dt., „Göttliche Komödie“). 19,11 Mantegna] Andrea Mantegna (1431–1506), ital. Maler u. Kupferstecher der Frührenaissance. Zahlr. Fresken für Kirche u. Adel in Mantua, Padua, Verona u. Rom. Bes. Merkmale, perspektiv. Verkürzung, Monumentalisierung u. starke Farbkontraste. Berühmtestes Beispiel Beweinung Christi (um 1490). 19,14 Polyphonie] Gr., πολύς, dt., „viel“ u. gr., φωνή, dt., „Stimme“. „Mehrstimmigkeit“. 19,21 Sombrero] Hut, Schattenspender, abgel. v. span., „sombra“, dt., „Schatten“; breitkrempige, aus Filz o. Stroh hergestellte Kopfbedeckung. 19,22 Weltausstellung von 1889] Pariser Weltausstellung 1889, frz., „Exposition universelle de Paris de 1889“; 10. Weltausstellung (Kunst, Industrie, Kolonien, Militär). Wahrzeichen wird der Eiffelturm. 19,24 Sammtbarett] Samtbarett. Flache, runde o. eckige Kopfbedeckung aus Samt ohne Schirm o. Krempe. Entstanden im 15. Jh. Urspr. Erkennungsmerkmal gebildeter Stände. 19,29 Peplos] Gr., πέπλος, kunstvoll geschlungenes, bodenlanges, mit einem Gürtel gehaltenes Gewand aus schwerem Stoff gr. Frauen in der Antike. 19,31 Katharina von Medicis] Caterina Maria Romula de’ Medici (1519–1589); Prinzessin v. Urbino; Heirat mit König Heinrich II.; ab 1547 Königin v. Frankreich. Auf ihren Befehl werden in der Nacht v. 23. z. 24. August 1572, der Bartholomäusnacht (auch ‚Pariser Bluthochzeit‘ gen.), tausende Pariser Hugenotten ermordet. 19,32 Maria Stuart] (1542–1587); 1542 bis 1567 als Maria I. Königin v. Schottland sowie durch ihre Ehe mit Franz II. v. 1559 bis 1560 Königin v. Frankreich. 19,33 Schildereien Memlings] Hans Memling, auch Jan van Mimmelynghe, Johannes Memmelinc o. Memlinc, (n. 1430–1494), niederl. Maler dt. Herkunft. Werke: (meist großformatige) Portraits u. Altar- bzw. Andachtsbilder. 19,37 Rococo] Rokoko (frz., „rocaille“, dt., „Gestein“ u. frz., „coquilles“, dt., „Muscheln“); Stilepoche der europ. Kunst zw. Barock u. Klassizismus (ca. 1730–ca.

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1780). Im Wesentl. Dekorationsstil (Möbel, Tapeten, Metallgräte, Porzellanplastik); Hauptmotiv ist die Rocaille (muschelförmiges Ornament); überbordende, muschelförmige Verzierungen. 19,41 Apokalypse] Gr., ἀποκάλυψις, dt., „Enthüllung“, „Offenbarung“. Im religiösen Sprachgebrauch synonym für „Zeitenwende“, „Weltuntergang“, „Gottesgericht“ u. Vision des katastrophalen „Endes der Geschichte“. 19,41 Triptychon] Gr., τρίπτυχος, dt., „dreifach gefaltet“, „aus drei Lagen bestehend“. Dreigeteiltes Werk, häufig Altar, dessen Mitteltafel mit den bewegl. Seitenflügeln verdeckt werden kann. 20,46 Kate Greenaway] Catherine Greenaway (1846–1901), engl. Aquarellmalerin, Illustratorin v. Kinderbüchern. 20,52 Cabriolet-Hut] Enganliegende, häufig mit Nackenschutz versehene, unter dem Kinn zu schließende Mütze aus Stoff o. Leder zum Schutz gegen Fahrtwind. 20,55 schoppärmelig] V. schoppen: sich aufbauschen, pludern, Falten werfen, sich wölben. 20,56 Empire-Dame] Frz., „empire“, v. lat., imperium, dt., „Kaiserreich“. Bes. im Ersten Kaiserreich 1804–1814 (Napoléon Bonaparte) vorherrschende Strömung des Klassizismus mit dekorativer, repräsentativer Tendenz. Empiremode mit schlichten Schnitten, strengen Linien, hohen Taillen, schweren u. steifen Kostümen aus Samt mit aufwendigen Stickereien. 20,61 Monocle- und Gardenia-Idioten] Monokel (frz., „monocle“, zu spätlat., monoculus, dt., „einäugig“, zu gr., μόνος, dt., „einzig“, „allein“ u. lat., oculus, dt., „Auge“), dt., „Einglas“. Aus einem Glas bestehende Sehhilfe, die am Auge eingeklemmt wird. – Gardenien (Gardenia): Pflanzengattung innerhalb der Familie der Rötegewächse (Rubiaceae), eine Gardeniablüte wird zur Dekoration des Anzugs getragen. Hier Sinnbilder des Dandys. 20,65 Lucius Verus] Lucius Aurelius Verus, auch Lucius Ceionius Commodus, Lucius Aelius Commodus, Lucius Aelius Aurelius Commodus (130–169), zusammen mit Mark Aurel (121–180) v. 161 bis zu seinem Tod röm. Kaiser. 20,67 eines japanischen Kakemono] Hochformatiges mit Tusche o. Wasserfarben bemaltes Rollbild aus Papier- o. Seidenbogen, das oben u. unten durch einen Rundstab gefasst wird, mit religiösen buddhist. Motiven, Kalligraphien, Landschafts- u. Naturdarstellungen versehen. 20,68 Knebelbart Heinrichs IV.] K.: Kombination aus Kinnbart u. gezwirbeltem Schnurrbart. – H.: Heinrich IV. v. Navarra (frz., „Henri IV“, „Henri le Grand“) (1553– 1610), v. 1589 bis zu seiner Ermordung König v. Frankreich. 20,69 wilden Schnauzbart eines F. Brun’schen Landsknechts] Franz Isaac Brun (um 1535–1610/20), in Straßburg tätiger Kupferstecher der Renaissance. Werke, auf die N. anspielt, u. a. Landsknecht (1559), Der Landsknecht mit dem großen Schwert (1559), Der Landsknecht mit der großen Trommel (1559). 20,70 Rembrandt] Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669), bed. niederl. Maler, Zeichner u. Radierer des Barock. Historien-, Landschaftsbilder u. Por-

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träts, v. a. Selbstportraits. Meisterschaft in der Gestaltung realist. Mimik, die auch innere Vorgänge sichtbar werden lässt, u. der Kontrastierung v. Licht u. Schatten. 20,83 Firnißtage des Pariser Marsfeld-Salons] Firnißtag, v. frz., „vernis“, dt., „Lack, Firnis“. Urspr. Tag vor der Ausstellungseröffnung, an dem die Gemälde zum Zwecke der Konservierung mit einem transparenten Schutzanstrich versehen werden. Heute „Vernissage“, Eröffnung einer Ausstellung. – Marsfeld-Salon, Verkaufsausstellung 1890 im Palais-Arts auf dem Marsfeld, weltweit bedeutendster Kunstmarkt. 21,85 Royal Academy] Royal Academy of Arts, London, wichtigste Kunstinstitution in Großbritannien für Malerei, Bildhauerei u. Architektur. Gründung 1768, erster Vorsitzender Sir Joshua Reynolds (1723–1792), bekannter u. durch sein künstler. u. kunsttheoret. Wirken einflussreicher engl. Maler. 21,97 ein gothischer Ritterssaal] Goth.: v. ital., „ gotico“, dt., „fremd“, „ barbarisch“. Stilepoche in der Zeit v. ca. 1140–ca. 1500, in der Architektur als „Spitzbogenstil“ bek., unterstreicht den repräsentativen Charakter v. Gebäuden u. Inneneinrichtungen. 21,99 circassischen Narghilehs] C. v. Circassier, heute Tscherkessier, ethn. Gruppe im Nord-Kaukasus. – N., engl., „narghile“, dt., „Nargileh“, „Shisha“, „Wasserpfeife“. 21,102 Streitkolben] Schlag- bzw. Wuchtwaffe aus metallenem o. hölzernem Schaft mit einem Schlagkopf aus Stein o. Metall. 21,102 Radschloßpistolen] Schlanke (militär.) Schusswaffe (ca. 1517 erfunden) mit komplexer Mechanik. Reichweite ca. 30 Meter. 21,104 Gobelins] Kunstvoll gestaltete, fein gewebte Bildteppiche. 21,106 Morris’schen Tapeten] William Morris (1834–1896), engl. Dichter, Architekt, Maler, Kunstgewerbler, Drucker u. Sozialreformer. 1861 mit Freunden der Präraffaelitischen Bruderschaft Gründung einer Firma für Möbel, Wanddekoration u. Glasgemälde. Bek. durch aufwendige Stofftapeten mit floralen u. vegetabilen Mustern („Artischocke“). Gründer des Arts and Crafts Movement mit dem Ziel, das Kunsthandwerk als vollwertige Kunstrichtung zu etablieren. 1891 Eröffnung der Kelmscott Press Druckerei, bedeutender Einfluss auf die Buchkunst. Wegbereiter des Jugendstils. 21,110 Renaissance-Sessel] R.: Frz., dt., „Wiedergeburt“. Stilepoche des 15. u. 16. Jh.s. Erstmals Verwendung des Begriffs (ital., „rinascita“ o. „rinascimento“) 1550 v. dem ital. Maler u. Künstlerbiographen Giorgio Vasari (1511–1574), um die Überwindung der mittelalterl. Kunst zu charakterisieren. In den ersten Jz.en des 19. Jh.s ins Frz. übernommen zur Kennzeichnung einer kulturhistor. Epoche des Übergangs v. Mittelalter zur Neuzeit. Maßgebende Prägung des Begriffs durch den Historiker Jacob Burckhardt (1818–1897) in Die Kultur der Renaissance in Italien (1860). 21,113 Boule-Schränken] André-Charles Boulle (1642–1732), frz. Kunstschreiner Ludwigs XIV. B. fertigt u. a. für Schloss Versailles u. den Louvre Prunkmöbel u.

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Innendekorationen. Kennz. der sog. Boullemöbel sind techn. aufwendige Einlegearbeiten aus Metall-, Schildpatt- o. Elfenbein mit feuervergoldeten Bronzebeschlägen (sog. Boulletechnik). 21,116 Tanagrafigürchen] Gebrannte Frauenfiguren der Antike aus Terrakotta in sitzender o. stehender Haltung v. 15 bis 35 cm Höhe aus der böotischen Stadt Tanagra in Zentralgriechenland. Glücksbringer o. Grabbeigaben. 21,117 Limoges-Platte] L.: Stadt im Département Haute-Vienne in Zentralfrankreich, seit 1771 bek. für Porzellanmanufakturen. 21,119 Putzscheere] 1. Lichtschere, scherenförmiges Werkzeug zum Abschneiden des verkohlten Dochtes bei Kerzen; 2. bei Seidenwebern Schere zum Entfernen v. Fasern. 21,119 ziselirt] Form der Metallverarbeitung zur Verzierung v. Möbeln, Waffen o. Schmuckgegenständen, bei der das Metall nicht geschnitten, sondern über eine weiche Unterlage getrieben o. gedrückt wird, so dass Linien u. Reliefs entstehen. 21,123 Boudoir] Frz., „boudoir“, v. frz., „bouder“, dt., „schmollen“. Urspr. ein kleiner, elegant eingerichteter Rückzugs-Raum der Dame des Hauses. Später allgemeiner Ausdruck für das Ankleidezimmer. 22,137 Bibelots] Frz., dt., „Nippes“, „Krimskrams“. 22,140 Schalcken’sche Lichtwirkungen] Godfried Schalcken (1643–1706), niederl. Maler, Portraitmaler (zumeist Genrebilder), Radierer u. Zeichner. Zahlr. Werke, bei denen künstl. direkte o. indirekte Lichtquellen (Kerzen) das Sujet ausleuchten. 22,148 nach dem Beispiele Balzacs in einer weißen Mönchskutte] Der frz. Schriftsteller Honoré de Balzac (1799–1850) trug als Arbeitskleidung symbol. eine weiße Mönchskutte. 22,149 nach dem Muster Richepins] Jean Richepin (1849–1926), frz. Schriftsteller, Dramatiker u. Lyriker. Ab 1871 Mitglied des Dichterkreises „Cercle des poètes Zutiques“ (dt., „Dichterkreis Zutiques“) um Paul Verlaine (1844–1896) u. Arthur Rimbaud (1854–1891); Arbeit am Album Zutique, einer Sammlung v. 24 Parodieversen v. grobem u. obszönem Charakter. 22,155 in den Möbeln Carabins] François Rupert Carabin (1862–1932), elsäss. Photograph, Kunstschreiner u. Bildhauer, u. a. mit Édouard Manet (1832–1883), Claude Monet (1840–1926) u. Edgar Degas (1834–1917) befreundet. Wegbereiter moderner dekorativer Kunst. 1884 Gründung der „Société des artistes indépendants“ (dt., „Gesellschaft unabhängiger Künstler“). Ab 1920 Direktor der „École des Arts décoratifs de Strasbourg“ (dt., „Hochschule für dekorative Künste in Straßburg“). 22,159 Pilaster] Vorspringender Wandpfeiler mit Basis u. Kapitell. Gliederungselement an Fassaden mit o. ohne Tragfunktion. 22,161 der Generaldirektor der Dante‘schen Hölle] Dante Alighieri (1265–1321), La Divina Commedia (dt., „Die Göttliche Komödie“, um 1308–1321); Schilderung einer Reise durch die drei Reiche des Jenseits, Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) u. Paradiso (Paradies). Korrekt müsste es bei N. heißen: „Wenn es in der Dante’schen Hölle einen Generaldirektor gäbe, dann ...“.

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22,163 Alpdrücken] Veraltet für „Alptraum“. 22,167 Besnard’s Frauen] Paul-Albert Besnard (1849–1934), frz. Maler des Impressionismus. 1874 Prix de Rome. Die 17 Tafeln umfassende Gemäldedekoration für die Vorhalle der Pariser Pharmazeutenschule (1883–1888) gilt als Hauptwerk jener Jahre. Frauendarstellungen zunächst lichtüberflutet u. pastellfarbig, in späteren Werkphasen Studien zu Stimmungswerten des Lichtes auf verschiedenen Oberflächen u. in verschiedenen Beleuchtungssituationen. 1887 Ernennung zum „Chevalier de la Légion d’Honneur“ (dt., „Ritter der Ehrenlegion“). 23,173 Puvis de Chavannes] Pierre Cécile Puvis de Chavannes (1824–1898), frz. Maler. Zahlr. großformatige, meist allegor. Wanddekorationen in öffentl. Gebäuden in Paris (u. a. Sorbonne u. Panthéon). 23,174 durchqualmten Carrière’s] Eugène Carrière (1849–1906), frz. Porträtmaler u. Lithograph. Darstellungsweise düster u. schemenhaft, die Motive eher verhüllend als hervorhebend. 23,175 bebenden Rolls] Alfred Philippe Roll (1846–1919), frz. Maler, Anhänger einer dem Naturalismus nahen Freilichtmalerei mit breitem Themenspektrum, u. a. zu sozialen Fragen Streik der Kohlenarbeiter (1880) u. Die Arbeit (1885), Genreszenen u. Landschaften. Mit „bebenden Rolls“ charakterisiert N. den spontanen, konturlos scheinenden, auf Wirkung zielenden Farbauftrag. 23,176 Manet-Schüler] Édouard Manet (1832–1883), frz. Maler, bedeutender Wegbereiter der Malerei der Moderne. N. bezieht sich hier wohl auf die Maler, die sich in ihrer Art u. Weise zu malen, an M. orientieren bzw. v. ihm beeinflusst werden. Zu nennen sind hier v. a. Edgar Degas (1834–1917), Claude Monet (1840– 1926), Alfred Sisley (1839–1899) u. Pierre-Auguste Renoir (1841–1919). M. steht in Kontakt mit den Impressionisten, sieht sich selbst jedoch nie als Impressionist u. beteiligt sich nicht an deren Gruppenausstellungen. 23,178 Archaisten] Latinisiert v. gr., ἀρχαῖος, dt., „alt“, „ehemalig“. Vertreter einer geistigen o. künstler. Haltung, die sich an einer frühzeitl., meist antiken Epoche orientiert. 23,180 Orchestration] In der Musik Verteilung der Stimmen einer musikal. Komposition auf einzelne Instrumente. Hier i. S. v. „üppiger Kolorierung“ der Gemälde Besnards. 23,184 Henri Martin’s „Jeder mit seiner Chimäre“] Henri Martin (1860–1943), frz. Maler des Post- o. Neo-Impressionismus. Bezug zu „Chacun sa chimère“ (dt., „Jeder seine Chimäre“), Prosagedicht v. Charles Baudelaire (1821–1867), sechstes Gedicht der Sammlung Le Spleen de Paris (ou Petits poèmes prose) (dt. „Der Spleen v. Paris [o. kleine Prosagedichte]). Martin stellt den Inhalt des Baudelaire’schen Prosagedichts in Form eines Gemäldes dar, dem er den gleichen Titel gibt. 23,186 Jean Bérauds „Christus und die Ehebrecherin“] Jean Béraud (1849– 1935), frz. Jurist u. Maler. Frauen-Porträts aus der reichen Pariser Gesellschaft u. Darstellung alltägl. Szenen aus dem Pariser Leben. Das angesprochene Gemälde La Madeleine chez le Pharisien (dt., „Magdalena im Haus des Pharisäers“, Musée

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d’Orsay, Paris), hier als „Christus und die Ehebrecherin“ betitelt, löst im Salon 1891 durch die Übertragung eines bibl. Motivs in eine zeitgenöss., realist. Szene einen Eklat aus. 23,190 Raffaellis Schnapsbrüdern und Gurgelabschneidern] Jean-François Raffaëlli (1850–1924), frz. Maler, Radierer, Lithograph, Illustrator u. Bildhauer. Zunächst Landschaftsmalerei, später hauptsächl. Genrebilder einfacher Menschen aus den Pariser Vororten. 23,201 Coda] Ital., dt., „Schwanz“, bez. den ausklingenden u. häufig das Thema zusammenfassenden Teil eines Musikstücks. 23,203 „Tristan und Isolde“] Das Musikdrama Tristan und Isolde wird am 10. Juni 1865 im Königlichen Hof- u. Nationaltheater in München ua. S. → WagnerKapitel. 23,203 „Parsifal“] Das Bühnenweihfestspiel Parsifal wird am 26. Juli 1882 im Festspielhaus in Bayreuth ua. S. → Wagner-Kapitel. 23,204 Bruneaus „Traum“] Louis Charles Bonaventure Alfred Bruneau (1857– 1934), frz. Komponist u. Musikkritiker. Le Rêve (dt., „Der Traum“), Libretto v. Louis Gallet, n. einem Roman v. Émile Zola, Lyr. Drama in vier Akten, Ua. am 18. Juni 1891 im Théâtre Favart in Paris. 23,204 Symphonien von Cäsar Franck] César Auguste Jean Guillaume Hubert Franck (1822–1890), frz. Komponist mit dt.-belg. Wurzeln; bed. Lehrer u. Organist. 1871 Mitbegr. der Société Nationale de Musique (dt., „Nationale Gesellschaft für Musik“) u. später deren Präsident. 24,211 Schlußkadenz] V. lat., cado, dt., „fallen“; bez. die Abfolge v. Akkorden, bezogen auf eine Grundtonart. In Solokonzerten auch Begriff für das freie Fantasieren über Motive des vorgetragenen Stückes an einer v. Komponisten bez. Stelle. 24,222 endlosen Triolengängen] Triole: v. lat., tri-, dt., „dreifach“. Vielfache Wiederholung v. Dreiergruppen v. Noten, bei denen drei Zeiteinheiten zu zwei Einheiten zusammengefasst werden. 24,229 Tantalus-Stimmungen] T.: lat., Tantalus, in der gr. Mythologie Urvater der Tantaliden. Um die Allwissenheit der Götter zu prüfen, setzt er ihnen seinen getöteten Sohn als Mahl vor u. wird dafür mit unendl. Qualen (Tantalosqualen) in der Unterwelt bestraft. – T.-St.: hier i. S. v. „starke Eindrücke“. 24,233 Eau de Lubin] Parfum des Hauses Lubin. 1798 v. Pierre François Lubin (1774–1853) gegr. u. sehr bald weltbek. 24,236 Die Koth Dichtung Zolas] Émile François Zola (1840–1902), frz., dem Naturalismus zuzuordnender Schriftsteller u. Journalist. Ab 1869 (bis 1893) konzipiert Z. seine Romane als Teile eines Zyklus m. d. Titel Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire (dt., „Die R.-M. Die Natur- u. Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“). Die insgesamt 20 Romane behandeln das Schicksal zweier Familien, jener der Bourgeoisie zugeordneten Familie Rougon u. jener der Unterschicht angehörenden Familie Macquart, so dass die genet. Anlagen (z. B. die Neigung zum Alkoholismus), die Bedeu-

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tung der sozialen Herkunft (Bürgertum o. Unterschicht) u. die histor. u. ökonom. Lebensumstände als bestimmend erkennbar sein sollen. – Die medizin.-sozialgeschichtl. Perspektive Z.s ist dem Denken N.s verwandt; dessen wütende Aggression gegen Z. ist eher mit Blick auf den Darstellungsmodus zu verstehen, der Alkoholismus, Gemeinheit, Krankheit u. Sexualität auf eine für manchen Zeitgenossen schockierend drast. Weise preisgibt. Die Leitideen der Vordenker der Arbeiterbewegung Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865), Charles Fourier (1772–1837) u. Karl Marx (1818–1883) sind in Germinal (1885) zum Unmut N.s zu erkennen u. dort in ihrer grundsätzl. Berechtigung am Schicksal der Protagonisten nachgewiesen. 24,240 Naturalismus] Begriff zunächst zwanglos u. beliebig konvertierbar mit „Realismus“. Ende der achtziger Jahre etabliert, wird er durch Hermann Bahrs (1863–1934) Verkündung seines Endes (1891) in Die Überwindung des Naturalismus (1891) auch literarhistor. gebräuchl. N. bez. heute eine gesamteurop. literar. Strömung der letzten Jz.e des 19. Jh.s. Impulse, jeweils völlig anders konzipiert, liefern für die dt. Autoren v. a. die Romane Iwan Sergejewitsch Turgenjews (1818–1883), Lew Nikolajewitsch Tolstois (1828–1910) u. Fjodor Michailowitsch Dostojewskis (1821–1881), die experimentellen Sozialromane Émile Zolas (1840–1902), sowie i. e. S. die gesellschaftskrit. Dramen Henrik Ibsens (1828–1906) u. August Strindbergs (1849–1912). Der N. in Deutschland gilt als Radikalisierung des Realismus. Ziel der dt. Naturalisten ist es, auf der Grundlage empirischer bzw. naturwissenschaftl. Erkenntnisse mit objektiven Abbildungsverfahren (Kunst = Natur-X; „Sekundenstil“) v. a. die Determiniertheit des Menschen durch „milieu“ (dt., „Milieu“), „race“ (dt., „Rasse“) u. „temps“ (dt., „Zeit“) (Taine) u. seine soziale Wirklichkeit zu zeigen. Mit dem N. beginnt n. dem Verständnis seiner Vertreter die „Moderne“, wie sie in einem gleichnamigen Essay 1886 v. dem Germanisten Eugen Wolff (1863–1929) in den Thesen der Freien litterarischen Vereinigung ‚Durch!‘ verkündet wird. Bereits um 1890 verliert der N. an Einfluss. 24,247 Priapus] Lat., Priapus Sohn des Dionysos u. der Aphrodite, Gott der Fruchtbarkeit u. Beschützer des Viehs. Sinnbild für Exzesse u. Potenz. 24,248 Sodom / Lesbos / Ritter Blaubarts Schlosse] S.: myth. Stadt im Alten Testament, die wg. der Sünden ihrer Einwohner durch Gottes Zorn vernichtet wird (Gen 18 + 19). – L.: ostägäische gr. Insel, Sitz der bedeutendsten Dichterin des klass. Altertums, Sappho (n. 630–um 570 v. Chr.), berühmt für ihre erot. Gedichte, in denen sie auch die gleichgeschlechtl. Liebe besingt. – R. B.: Märchen vom frauenmordenden Ritter mit dem blauen Bart. 24,249 Justine des „göttlichen“ de Sade] Justine ou les Malheurs de la vertu (1787) (dt., „Justine o. die Unglücke der Tugend“), Roman v. Donatien Alphonse François Marquis de Sade (1740–1814), frz. Schriftsteller. Wiederholter Gefängnisaufenthalt wg. des Vorwurfs polit. Straftaten u. unmoral. Lebensführung. Namensgeber des Sadismus, einer Sexualpräferenz, bei der Freude o. Befriedigung an den Qualen, der Demütigung o. Unterdrückung anderer Menschen empfunden wird.

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Einfluss u. a. auf Baudelaire (1821–1867), der S. als Muster-Bsp. aufführt, um das Böse zu verstehen. Publikationen z. T. mit pornograph. Illustrationen. Werke u. a. Aline et Valcour, ou le Roman philosophique (1795) (dt., „Aline u. Valcour o. der philosoph. Roman“); Les cent-vingt journées de Sodom, ou l‘école du libertinage (1785) (dt., „Die 120 Tage v. Sodom o. die Schule der Ausschweifung“); La philosophie dans le boudoir (1795) (dt., „Die Philosophie im Boudoir“); Histoire de Juliette, ou les Prospérités du Vice (1796) (dt., „Geschichte Juliettes o. das Gedeihen des Lasters“). 25,256 Hypnotismus] Gr., ὕπνος, dt., „Schlaf“. In der gr. Mythologie der Gott des Schlafes. Unter Hypnose wird ein Mensch in einen schlafähnl. Zustand bzw. in Trance versetzt. Vorformen der Hypnose sind bereits im 18. Jh. in der magnet. Methode Franz Anton Mesmers (1734–1815) (Mesmerismus) zu sehen. Als Verfahren weiterentwickelt durch James Braid (1795–1860). Induktion des hypnot. Schlafs durch Fixierung eines pendelnden o. festen Gegenstandes (Braidismus). Ausübung der Hypnose i. S. einer therapeut. Maßnahme durch den Neurologen Jean-Martin Charcot (1825–1893), der die erhöhte Erinnerungsfähigkeit unter Hypnose feststellt u. zum Erkennen u. zur Verarbeitung seel. Konflikte, insbes. hyster. Phänomene nutzt. In den neunziger Jahren durch Hippolyte Bernheim (1840–1919) zu einer anerkannten Heilmethode entwickelt. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, 710, bez. den H. als die „Wissenschaft, die sich mit den dem Schlafe verwandten Zuständen befaßt, bei denen die Willenstätigkeit eine Hemmung erfährt und oft eine deutliche Störung (Ausschaltung oder Einengung) des Bewußtseins besteht. Einen hypnotischen Zustand (Hypnose) wußten bereits die alten indischen Fakire und mittelalterliche religiöse Extatiker durch Konzentration ihres Blickes oder ihrer Gedanken zu erzeugen. Der durch gewisse Striche erzeugte magnetische Schlaf (s. Magnetische Kuren) sowie der Somnambulismus mit dem angeblichen Hellsehen (Clairvoyance, s. Somnambulismus) stellen analoge Erscheinungen dar. Aber erst der englische Arzt James Braid (s. d.) machte seit 1841 den H. zum Gegenstand eines genauern Studiums. Seine Beobachtungen gerieten fast in völlige Vergessenheit, obwohl einige Chirurgen die Hypnose, um Schmerzlosigkeit bei Operationen zu erzeugen, verwerteten. (…)“. 25,256 Telepathie] Gr., τῆλε, dt., „fern“, „weit“ u. gr., πάθη, dt., „Leiden“. Angebl. Fähigkeit, räuml. u. zeitl. entfernte Vorgänge wahrzunehmen. Auch Bez. für Übertragung v. Informationen zw. Lebewesen ohne erkennbares Medium. Im allgem. Sprachgebrauch Begriff für Gedankenübertragung o. Gedankenlesen. 25,256 Somnambulismus] Lat., somnus, dt., „Schlaf“ u. lat., ambulo, dt., „wandern“. Somnambulie, dt., „Wandeln im Schlaf“, auch „Nachtwandeln“ genannt. Psych. Dämmerzustand, in dem ein Schlafender auch komplexere Handlungen vollziehen kann, ohne beim Erwachen eine klare Erinnerung zu haben. 25,258 esoterische Romane] Gr., ἐσωτερικός, dt., „innerl.“, „dem inneren Bereich zugehörig“. Auf spitituelle Thematik ausgerichtete Romane.

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25,259 Magie] Gr., μαγεία, dt., „Zauberei“, „Blendwerk“, bez. Beeinflussung v. Ereignissen, Lebewesen u. Gegenständen auf nicht erklärbare Art u. Weise. 25,259 Kabbala] Hebr., dt., „Überlieferung“. Jüd. Geheimlehre u. Mystik zw. dem 12. u. 17. Jh., sowie esoter. u. theosoph. Bewegungen im Judentum überhaupt (kein einheitl. System). 25,259 Fakirismus] Fakir, arab., dt., „Armer“, frommer Asket u. Bettler in islam. Ländern. Durch das Liegen auf sog. Fakir-Betten, mit großen Nägeln gespickten Brettern, erwerben sich die Fakire den Ruf, Verwundung ausschließen u. Schmerzzustände ausschalten zu können. N. zufolge werden die physikal. Begründungen solcher Vorgänge v. der Bevölkerung nicht erkannt u. der F. deshalb als „Wunder“ interpretiert. 25,259 Astrologie] Gr., ἄστρον, dt., „Stern“ u. gr., λόγος, dt., „Lehre“. „Sternkunde“, Methode, aus den Positionen v. Himmelskörpern Ereignisse u. Schicksale vorhersagen u. Charaktere deuten zu können. Grundlage der Astrologie ist die Erstellung eines Horoskops der Tierkreiszeichen. 25,261 Ibsen] Henrik Johan Ibsen (1828–1906), norweg. Schriftsteller u. Dramatiker. Gilt als Vorbild für die Schriftstellergeneration der Naturalisten. Vgl. → ausführl. Eintrag im Kapitel „Ibsenismus“ u. → Nachwort. 25,262 Maeterlinck] Maurice Polydore Marie Bernard Graf Maeterlinck (1862– 1949), belg. Dramatiker u. Schriftsteller frz. Sprache. Gilt mit seinen Bühnenwerken u. seiner Lyrik als einer der wichtigsten Vertreter des Symbolismus. LiteraturNobelpreis 1911. Bedeutung v. a. durch das Schauspiel Pelléas et Mélisande (Ua. 16. Mai 1893 am Théâtre des Bouffes-Parisiens, Paris). 25,262 Shakespeare] William Shakespeare (1564–1616), bedeutendster engl. Dramatiker, auch Lyriker u. Schauspieler. Seine Dramen zeichnen sich insbes. durch ihre selbstreflexive Problematisierung gattungstheoret. u. rhetor. Fragen aus. Sh.s Dramen werden v. a. während des „Sturm u. Drang“ als beispielgebend für die Abkehr v. der Regelpoetik u. die Dramentauglichkeit des Individuums (statt des Typus) verstanden; häufig liegen ihnen histor. Stoffe zugrunde. Zu den bed. Dramen Shakespeares zählen u. a. Romeo and Juliet (1597) Julius Caesar (1599); Hamlet, Prince of Denmark (1603); Othello (1604); King Lear (1605); Macbeth (1623) u. A Midsummer-Night’s Dream (1600). 25,262 Nietzsche] Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900), dt. Philosoph, Dichter u. klass. Philologe. Vgl. das → Nietzsche-Kapitel u. → Nachwort. 25,264 „Kreutzersonate“] Russ., Krejcerova sonata (1887/89 entstanden), Erstveröfftlg. 1890 in dt. Übersetzung, in Russland 1891 erschienen. Novelle des russ. Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910) (s. → ausführl. das Kapitel „Tolstoismus“ u. → Nachwort). Kern der Novelle ist die Erzählung des Protagonisten Posdnyschew, der trotz seines sinnl. Begehrens die körperl. Liebe mit seiner Frau aufgibt, als diese fünf Kinder geboren hat. Fortan widmet diese sich persönl. Neigungen, insbes. dem Klavierspiel. Als sie mit einem jungen Geiger die Kreutzer-

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sonate v. Ludwig van Beethoven einübt, packt den Ehemann die Eifersucht, der Streit eskaliert u. er tötet seine vermeintl. untreue Ehefrau. – N. bedient sich unterschiedl. Schreibweisen, „Kreutzer-Sonate“, „Kreuzersonate“ o. „Kreutzersonate“. Das Titelblatt des Erstdrucks des dem frz. Geiger Rodolphe Kreutzer (1766–1831) gewidmeten Werks Ludwig van Beethovens (1770–1827) enthält die Bez. „R. Kreuzer“. 25,266 Jouy] Jules Théodore Louis Jouy (1855–1897), frz. Lyriker mit Neigung zu makabren Sujets. Bekanntheit erlangt J. v. a. durch Chansons, die polit. Themen ansprechen, u. a. Chansons de l’année (dt., „Lieder des Jahres“) (1888) oder Chansons de bataille (1889) (dt., „Kampfeslieder“). 25,266 Bruant] Aristide Bruant (1851–1925), frz. Kabarettsänger, Komödiant, Schriftsteller u. Nachtklubbesitzer. Bek. durch die Darstellungen Henri de Toulouse-Lautrecs (1864–1901), die B. als Mann mit schwarzem Mantel u. rotem Schal zeigen. 25,266 Mac Nab] Maurice Mac-Nab (1856–1889), frz. Dichter u. Chansonnier. Bek. durch „Reklame-Chansons“ im Cabaret „Le Chat Noir“ im Pariser Bezirk Montmatre. 25,266 Xanroff] Xanrof, Pseudonym v. Leon Alfred Fourneau (1867–1953), frz. Chansonnier im „Le Chat Noir“ (dt., „Die schwarze Katze“), Schriftsteller, Dramatiker u. Journalist. Das Pseudonym ist ein Palindrom v. lat., fornax, dt., „Ofen“. 25,266 „sehr distingué“] Frz., dt., „sehr vornehm“. 25,268 Baccara] Glückspiel mit sechs Blättern frz. Spielkarten à 52 Blatt, also 312 Blatt. 25,269 Oberammergauer Bauernmysterien] Oberammergauer Passionsspiele. V. den Einwohnern Oberammergaus dargestellte Szenen aus den letzten Tagen im Leben Jesu. 1634 erstmalige Aufführung als Einlösung eines Gelübdes n. einer überstandenen Pestepidemie. Seit 1680 zehnjähriger Rhythmus. 25,270 Verlaine’s Anrufungen der heiligen Jungfrau] Aus dem Gedichtband Sagesse (dt., „Weisheit“) v. Paul Marie Verlaine (1844–1896), frz. Dichter, gefeiertes Mitglied der Dichtergruppe Parnassiens. Enge Freundschaft mit Arthur Rimbaud (1854–1891). Bildet den Übergang zu den Décadents (dt., „Dekadente“), die ihn zum Anführer wählen. 25,278 Bild, das den an seinem „Requiem“ arbeitenden Mozart darstellt] N. spricht die im 19. Jh. verbreiteten Gemälde an, die den sterbenden Mozart zeigen. Vmtl. bezieht sich N. auf ein Werk des ungar. Malers Mihály von Munkácsy (1844– 1900): Mozart Directing His Requiem on His Deathbed (1885) (dt., „Mozart dirigiert sein Requiem auf dem Sterbebett“). Zu Mozart → 181, 292. 25,281 Ein Musiker geht einen Schritt weiter] Der Theaterraum ist im 19. Jh. zumeist in ein Halbdunkel gehüllt. Wagners Anliegen dagegen ist es, eine starke Verdunklung des Theaterraumes durchzuführen, um die Aufmerksamkeit auf das Geschehen auf der Bühne zu lenken. Während der ersten Bayreuther Aufführung des Rheingold kommt es zu einem unbeabsichtigten vollständigen Ausfall der neu-

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artigen Gasbeleuchtung mit totaler Finsternis. Dieser Bruch mit der Theaterpraxis wird beibehalten. 25,286 Der Dichter Haraucourt] Edmond Haraucourt (1856–1941), frz. Lyriker u. Schriftsteller, publ. unter dem Pseudonym Sire de Chambley 1882 La légende des sexes, poèmes hystériques et profanes (dt., „Die Legende der Geschlechter. Hyster. u. profane Gedichte“). 25,287 Sarah Bernhardt] Eigtl. Marie Henriette Rosine Bernardt (1844–1923), frz. Schauspielerin. Gefeierte Darstellerin des 19. u. beginnenden 20. Jh.s. Beinamen „la voix d‘or“ (dt., „die goldene Stimme“) u. „la divine“ (dt., „die Göttliche“). S. B. gilt unter Zeitgenossen als exzentr. u. launenhaft. 25,291 Im Theater wird eine Brause aufgestellt] Die Szene geht vmtl. zurück auf die Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins (1871) des dt. Physikers Kurd Laßwitz (Pseudonym: Velatus) (1848–1910), der als Urheber des dt. Science-Fiction gilt, diese aber zu kritisierenden u. lehrenden Zwecken einsetzt u. der im 19. Jh. viel gelesen wird. Seine Werke spiegeln die gedankliche Nähe des Autors zu dem dt. Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) u. dem dt. Physiker u. Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner (1801–1887) wider. – Bei Laßwitz heißt es im dritten Kapitel der Erzählung (Die Rache im Odoratorium): „Das Odoratorium, die Stätte für öffentliche Geruchs-Aufführungen, war zu Konzertsaal und Theater als ein unentbehrlicher Erholungsort getreten. Es war das berühmteste und besuchteste Odoratorium der Stadt, für welches Aromasia dauernd engagiert war. An einem Tage wie dem heutigen, an welchem man Aromasias Auftreten angekündigt hatte, wurde die Kasse schon am Morgen von dichten Mengen Riechbegieriger belagert, zumal es in der Natur der Ododik lag, dass die Odoratorien nur für eine verhältnismäßig geringe Zahl von Zuriechern gebaut werden konnten. So hatte die Aufsichtsbehörde genug zu tun, um die allzu kunsteifrigen Luftvelozipedisten zurückzuhalten, welche durchaus über die Köpfe der Harrenden hinweg in das Ausgabefenster dringen wollten. / Eine Stunde vor Beginn des odoratorischen Konzerts – wie diese Verbindungen von Ododionspiel und Musik hießen – waren Eintrittskarten bereits nicht mehr zu erhalten.“ – In den achtziger u. neunziger Jahren des 19. Jh.s experimentieren kleine Pariser Szene-Theater, v. a. jene, die sich dem Naturalismus verschrieben haben, mit olfaktor. Einsätzen, um „Lebensechtheit“ auf der Bühne zu suggerieren u. die „vierte Wand“ aufzuheben. 25,293 Dichtung von annähernd dramatischer Form] N. bezieht sich vmtl. auf eine Aufführung des Lyrikers u. Dramatikers Paul Fort (1872–1960) im 1890 eröffneten „Théâtre d’art“ (dt., „Theater der Kunst“) in Paris. F. versucht, im Sinne einer „symbolist. Dramaturgie“, Texte auf die Bühne zu bringen, die als eher ungeeignet gelten; exemplar. hierfür steht im März 1891 die Ua. v. La fille aux mains coupées (dt., „Das Mädchen mit Schnitten an den Händen“) des symbolist. Dramatikers Pierre Quillard (1864–1912). Die Schauspieler rezitieren ihren Text mit monotoner Stimme hinter einem Vorhang, so dass mittels einer schwachen Beleuchtung ledigl. ihre Schatten erkennbar sind.

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25,298 Ernst Eckstein] Friedrich Ludwig Adolf Ernst Eckstein (1845–1900), dt. Journalist, Publizist, einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gründerzeit. Mitarbeit u. a. am Almanach Deutsche Dichterhalle. Verfasser kom. Epen (z. B. Venus Urania, 1872) u. histor. Romane (z. B. Die Claudier, 1881) u. Hg. der Sammlung Humoristischer Hausschatz für das deutsche Volk (6 Bd., 1877/8). Mit dem Verweis ist möglicherweise Anonymus [Ernst Eckstein], Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Von einem alten Musikfreund, Leipzig 1893, gemeint. 26,309 ätherisch] Gr., αἰθέριος, dt., „himml.“. Veraltet für „himml.“, „durchsichtig“, „engelhaft“, „zerbrechl.“.

III. Diagnose. 27,3 Philister] Urspr. bibl. Volk u. Gegner Israels. Später in der Studentensprache Bez. für Nicht-Studenten, Spießbürger. 27,15 „decadenter Werke“] Frz., „décadence, über lat., cado, dt., „fallen“, „sinken“. Als Décadence werden im Allgemeinen histor. Entwicklungen bez., die mit der Vorstellung des Verfalls u. der Verkommenheit verbunden werden. Im Besonderen Bez. für eine Entwicklungsrichtung der europ. Literatur seit Mitte des 19. Jh.s. Montesquieus (1689–1755) Considérations sur la grandeur et décadence des Romains (1734) (dt., „Betrachtungen über die Größe u. die Dekadenz der Römer“), das die Literatur als Symptom u. Promotor des allgemeinen Verfalls denunziert, dient als Vorlage für jenes Argumentationsmuster, in dem die Debatte über Kunst mit der Frage der sittl. Degeneration verbunden wird. Genau einhundert Jahre n. Montesquieus Schrift vollzieht der frz. Literaturhistoriker Désiré Nisard in Études de moeurs et de critique sur les poètes latins de la décadence (1834) (dt., „Studien zu Sitten u. Kritik über die lateinischen Dichter der Dekadenz“) eine Parallelisierung v. spätlat. Dichtung u. romant. Poesie seiner Zeit u. glaubt hier wie da die gleichen Dekadenzphänomene zu entdecken. Nisard führt jene Symptome als Nachweis der Dekadenz an, die N. zur Beglaubigung der Entartung dienen: Faszination gegenüber Erscheinungen des Verfalls, Perversität, überbordende Phantasie, Hang zum Detail, manirierte Bild- u. Wortwahl. 1857 bestätigt Charles Baudelaire im Vorwort seiner Poe-Übersetzung die v. Nisard ermittelten Befunde, wertet diese allerdings positiv als Ausdruck der Poesie der Moderne. 27,18 der Degeneration oder Entartung und der Hysterie] N. formuliert hier erstmals eine begriffl. Definition, wobei Degeneration u. Entartung synonym verwendet werden u. einen ererbten Defekt darstellen, Hysterie dagegen als individuelle o. bereits kulturell präformierte Befindlichkeit verstanden wird. D.: lat., de- u. genus, dt., „ent“, „Art“, „Geschlecht“; Synonym für „Entartung“; Mitte des 19. Jh.s v. a. auf erbl. bedingte Krankheiten angewandter Begriff, der formale, strukturelle u. funktionelle Abweichungen v. der Norm beschreibt. H.: gr., ὑστέρα, dt., „Gebärmutter“. Im Corpus Hippocraticum wird Hysterie auf die Wanderung des Uterus

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im Körper zurückgeführt. Als histor. Bez. unterschiedl. Bedeutungen. Charcot beschreibt H. als Folge angeborener Degeneration u. behauptet, dass die in der H. übl. Anfälle bestimmten Mustern folgen. Berühmt sind seine öffentl. Vorführungen u. photograph. dokumentierten Beispiele der in den Zustand der Hypnose versetzten hyster. Patientinnen im Pariser Nervenkrankenhaus Hôpital de la Salpêtrière. An diesen sog. „Dienstagsvorlesungen“ nehmen auch viele Intellektuelle u. Künstler teil. N. den Begr. der Psychoanalyse Joseph Breuer (1842–1925) u. Sigmund Freud (1856–1939) (Studien über Hysterie, 1905) ist die H. begr. in traumat. gelebten sexuellen Vorgängen u. Phantasien. Heute vorwiegend Sammelbez. für Symptome, die nicht auf körperl. Ursachen zurückgeführt werden können. 27,19 Neurasthenie] Gr., νεῦρον, dt., „Sehne“, „Faser“, gr., ἀσθένεια, dt., „Schwäche“. Bedeutungswandel v. wertungsfreien Krankheitsbild der Nerven zum negativ konnotierten Begriff für (kollektive) Nervenschwäche. Ende des 19. Jh.s sind N., Nervosität u. Nervenerschöpfung bereits Modewörter, mit denen Ärzte u. Laien diffuse psych. Symptome diagnostizieren: Ermüdung, reizbare Schwäche, Kopfschmerzen, Impotenz, Neuralgie, Konzentrations- u. Leistungsmangel, hypochrondr. Ängstlichkeit. Die N. wird in florierenden Sanatorien behandelt, in denen sich auch zahlreiche Schriftsteller u. Künstler einfinden. 1880 erscheint George Miller Beards (1839–1883) American Nervousness (dt., „Amerikan. Nervosität“), der die N. allerdings als Kulturleistung hervorhebt; in Richard von Krafft-Ebings (eigtl. Richard Fridolin Joseph Freiherr Krafft von Festenberg auf Frohnberg) (1840–1902) Abhandlung über gesunde und kranke Nerven (1885) o. Nervosität und neurasthenische Zustände (1895) u. Wilhelm Erbs (1840–1921) Über die wachsende Nervosität unserer Zeit (1893) erscheint die N. unter negativen Vorzeichen. Ausführl. Vgl. → Nachwort. 27,32 Graf Chorinsky] Gustav Graf Chorinsky jun. (1832–1873) wird 1868 in München wg. „Meuchelmordes“ zu 20 Jahren Freiheitsstrafe u. anschließendem lebenslangen Landesverweis verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass er gemeinsam mit seiner Geliebten, der ungar. Stiftstochter Julie Malvine Gabriele Ebergenyi von Telekes (1842–1872) den Mord an seiner geschiedenen Gattin Matthilde Gräfin Chorinsky, geb. Ruef, geplant hat. Die Tat wird v. Ebergenyi im Oktober 1867 tatsächl. ausgeführt, Ebergenyi dafür bei ihrem Prozess in Wien ebenfalls zu einer 20-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, der sie sich n. vier Jahren „im Zustande geistiger Umnachtung“ durch Freitod entzieht. Zur Berichterstattung über den Fall: Der Strafprocess wider Julie Ebergényi von Telekes (angeklagt des Giftmordes, begangen an der Gräfin Mathilde Chorinsky-Ledske). Schlussverhandlung bei dem Landesgerichte in Wien v. 22. April 1868 (1868). 28,60 „Stigmate“ oder Brandmarken] Pl., Sing., Stigma, gr., στíγμα, dt., „Stich“, „Punkt“, „Fleck“, „Merkmal“. Ein S. bez. urspr. das v. myst. Erfahrungen u. Visionen begleitete Auftreten der Wundmale Christi am Körper eines lebenden Menschen, die sich nicht medizin. behandeln lassen u. nicht heilen. Ferner stellt es das Auftreten figuraler Symbole (Kreuze, Blumen, Dornenkronen etc.) o. Dermo-

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graphen dar, die religionsgeschichtl. als Auszeichnung Gottes zu verstehen sind. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s setzt sich die Auffassung des Stigmas als Anzeichen hyster. o. autosuggestiver o. parapsycholog. Ursachen durch. Heute Ausdruck für Vulnerabilität o. Brandmarkung als Markierung sozialer Ausgrenzung, also Produkt v. Diffamierungen u. Diskriminierungen. Stigmatisierte Menschen sind Leidende, die durch Krankheit o. Andersartigkeit gekennz. u. v. der Gesellschaft diskreditiert werden. N. folgt Morel in dessen Grundannahmen, wendet sich aber hier ausdrückl. gegen eine moral. Bewertung des Stigmas als Anzeichen einer Strafe infolge einer Schuld, also im Sinne eines Schandmals. Damit lehnt er die negative, diskreditierende Auffassung v. Stigmata ab, ohne auf den theolog. Ursprung des Stigmatisierten als Ausgezeichnetem zurückzukehren. Insofern kann er sich auch gegen Lombrosos Theorie der „geborenen Verbrecher“ aussprechen u. sie als „Unter-Abtheilung der Entarteten“ bez. 28,70 Syn- und Polydaktylie] S.: gr., σύν‚ dt., „zusammen“ u. gr., δάκτυλος, dt., „Finger“. Angeborene anatom. Fehlbildung der Finger o. Zehen in Form v. Verwachsungen bzw. Nichttrennung der Glieder. P.: gr., πολύς, dt., „viel“ u. gr., δάκτυλος, dt., „Finger“, anatom. Besonderheit der Hände o. Füße, die mehr als fünf Finger o. Zehen aufweisen. 28,76 Féré] Charles Féré (1852–1907), frz. Mediziner. Enger Freund Alfred Binets (1857–1911). Einschlägige Forschungen u. Publikationen zu Psychopathologie, Degeneration, Hysterie, Sexualität u. Kriminalität. Werke u. a. Sensation et Mouvement, études expérimentales de Psycho-Mécanique (1887) (dt., „Empfindung u. Bewegung: experimentelle Studien zur Psycho-Mechanik“); Le Magnétisme animal (mit Alfred Binet, 1887) (dt., „Der tier. Magnetimus“); Dégénérescence et criminalité (1888) (dt., „Degeneration u. Kriminalität“); La Pathologie des émotions (1892) (dt., „Die Pathologie der Emotionen“). 28,79 Urheber aller fin-de-siècle-Bewegungen] Künstlern u. Literaten wird hier erstmalig eine aktive Rolle im Prozess der „Entartung“ zugewiesen. 29,99 Maudsley] Henry Maudsley (1835–1918), engl. Psychiater, hebt biolog. Faktoren bei kriminellen Handlungen hervor, prägt den Begriff der „moral insanity“, v. N. vielfach als „moral. Irresein“ verwendet. 29,99 Ball] Benjamin Ball (1834–1893), frz. Psychiater. Inhaber des ersten u. 1877 neugegr. Lehrstuhls für Geisteskrankheiten am Sainte-Anne-Hospital in Paris. Im Jahre 1881 ruft er die Zeitschrift L’Encéphale (dt., „Das Gehirn“) ins Leben. Im Diskurs um die med. Themen des chron. Wahns u. dessen Klassifizierung ist seine Meinung prominent. Werke u. a.: Leçons sur les maladies mentales (dt., „Lektionen über die geistigen Erkrankungen“) (1883), Folie érotique (dt., „Erotischer Wahn“) (1888); Du délire des persécutions ou Maladie de Lasègue (dt., „Über den Verfolgungswahn od. Lasègue-Krankheit“) (1890). 29,100 Magnan] Jacques Joseph Valentin Magnan (1835–1916), frz. Psychiater. Forscht u. a. über Alkoholismus u. Epilepsie. Verfasser anerkannter Studien u. a. Recherches sur les centres nerveux. Pathologie et physiologie pathologique (1876)

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(dt., „Forschungen über die Nervenzentren. Pathologie u. patholog. Physiologie“) u. Des anomalies, des aberrations et des perversions sexuelles (1885) (dt., „V. Anomalien, Abweichungen u. sexuellen Perversionen“). 29,106 Geistesphysiognomie] Neologismus N.s. Physiognomik: gr., φύσις, dt., „Natur“, „Gestalt“, gr., γνώμη, dt., „Erkenntnis“. Bez. einen mim. oder auch gest. Ausdruck eines Menschen, oder auch allgemein dessen Gesicht, demzufolge auf seel. Eigenschaften oder geistige Fähigkeiten geschlossen werden kann. 29,123 Krafft-Ebing] Richard Fridolin Joseph Freiherr Krafft von Festenberg auf Frohnberg, gen. von Ebing (1840–1902), dt.-österr. Psychiater u. Rechtsmediziner. Das Hauptwerk Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung: eine klinisch-forensische Studie (1886) widmet sich überwiegend dem Sexualverhalten, das in Abweichung v. der (heterosexuellen) Norm als Perversion deklariert wird. Weitere Werke u. a.: Die Melancholie: Eine klinische Studie (1874); Die progressive allgemeine Paralyse (1894); Nervosität und neurasthenische Zustände (1895). 30,135 Emotivität] Lat., emotio, dt., „Fortbewegen“. Erhöhte Gemütserregbarkeit, Affektivität, unbegr. Stimmungswechsel. 30,156 Jacques Roubinovitch] (1862–1950), frz. Psychiater, v. a. Untersuchungen zur Hysterie bei Männern. Hystérie mâle et dégénérescence (1890) (dt., „Männl. Hysterie and Degeneration“). Einschlägige Publikationen u. a.: Les variétés classiques de la folie en France et en Allemagne (1896) (dt., „Klass. Arten des Wahnsinns in Frankreich u. Deutschland); La mélancolie (1897) (dt., „Die Melancholie“); Aliénés et anormaux (1910) (dt., „Geisteskranke u. Abnorme“). 30,159 Legrain] Paul-Maurice Legrain (1860–1939), frz. Psychiater u. radikaler Gegner jegl. Alkoholkonsums. 1897 Gründung der „Union française antialcoolique“ (UFA) (dt. „Anti-alkoholische frz. Union“). N. bezieht sich auf Legrains Dissertation Du délire chez les dégénérés (1886) (dt., „Über den Wahn bei Entarteten“), deren zentrale Thesen er in Entartung ausarbeitet. 30,162 Henry Colin] (1860–1930), frz. Arz, Schüler Jean-Martin Charcots. 1890 Dissertation Essai sur l’état mental des hystériques (dt., „Versuch/Essay über den Geisteszustand Hysterischer“). Zitat: „Deux grands faits dominent toute l’existence du dégénéré héréditaire: l’obsession et l’impulsion, toutes deux irrésistibles.“ (51). 30,164 Westphal] Carl Friedrich Otto Westphal (1833–1890), dt. Neurologe u. Psychiater. 1869–1889 Direktor der Klinik für Neurologie der Charité, beschreibt erstmals die Pseudosklerose, eine vererbte Krankheit, die zu Kupferansammlungen im Körper führt u. u. a. das zentrale Nervensystem schädigt. Forschungen auch zu Agoraphobie (exakte Beschreibung 1872), Nervenpathologie, Homosexualität u. Zwangsvorstellungen. Werke u. a.: Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1871–72), 3, 138–161; Ueber einige durch mechanische Einwirkung auf Sehnen und Muskeln hervorgebrachte Bewegungs-Erscheinungen (Knie-, Fußphänomen), in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1875), 5, 803–834; Eigentümliche mit Einschlafen verbundene

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Anfälle in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1877), 7, 631–635; Ueber eine dem Bilde der cerebrospinalen grauen Degeneration ähnliche Erkrankung des centralen Nervensystems ohne anatomischen Befund, nebst einigen Bemerkungen über paradoxe Kontraktionen, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (1883) 14, 87–134; Psychiatrische Abhandlungen (1892). 31,175 Widerwillens gegen sich selbst] Affektive Störung, auch Antipathie gegen sich selbst genannt, wird in der Psychologie auf ein beschädigtes Selbstvertrauen als Folge permanenter Frustration (z. B. bei emotionaler u. psych. Vernachlässigung) o. übertrieben hoher Anforderungen an das Selbst zurückgeführt. Häufig auch Folge einer Depression. 31,186 Melancholikers] Melancholie, gr., μέλας, dt., „schwarz“, gr., χολή, dt., „Galle“. Gilt seit der Antike als Zustand seel. Schwermut o. Traurigkeit ohne erkennbaren äußeren Anlass. N. Hippokrates (um 460–um 370 v. Chr.) ist die M. eines der vier Temperamente des Menschen. In einem Aristoteles (384–322 v. Chr.) zugeschriebenen Fragment wird die Melancholie als Voraussetzung für den „göttlichen Wahnsinn“ gedeutet; dieser Gedanke beeinflusst die Genieästhetik des 18. u. 19. Jh.s. 31,193 Abulie] Gr., ἀβουλία, dt., „Ratlosigkeit“, „Unbesonnenheit“. Schwächung der hemmenden o. der dirigierenden Funktion des Willens, verbunden mit einer übermäßigen Steigerung der automat. Tätigkeit o. einer Schwäche der Sensibilität; (patholog.) Unfähigkeit, eine Willensintention auszuführen; Unfähigkeit der Entschließung o. der Ausführung des Entschlusses. 31,196 Spinoza] Baruch de Spinoza (1632–1677), niederl. Philosoph mit sephard. Vorfahren. Sp. ist dem Rationalismus zuzurechnen. Mitbegr. der modernen Bibelkritik. 32,212 Quietismus] Lat., quietus, dt., „ruhig“. Sonderform der christl. Theologie, Mystik u. Askese. Hier negativ verwendet mit Bezug auf Nietzsche als Weiterführung der Willenlosigkeit: „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“ Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?. 32,216 Schopenhauer] Arthur Schopenhauer (1788–1860), dt. Philosoph. Hier Bezug auf die Textstelle: „Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhismus den Vorzug vor anderen (Religionen) zugestehn“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Kap. 17). 32,216 Hartmann] Karl Robert Eduard von Hartmann (1842–1906), dt. Philosoph. In seinem Hauptwerk, Philosophie des Unbewußten (1869), auf das sich N. hier bezieht, versucht H. mit Bezug auf Schopenhauer u. Hegel das Unbewusste als Synthese v. Willen u. Vorstellung, Realem u. Idealem, Unlogischem u. Logischem zu beschreiben. N. missversteht H., wenn er ihn als Vertreter des Quietismus deutet. 32,243 Charcot] Jean-Martin Charcot (1825–1893), frz. Neurologe. 1872 ordentl. Professor für patholog. Anatomie an der Universität Paris. 1882 Einrichtung des weltweit ersten Lehrstuhls für Krankheiten des Nervensystems am Hôpital Salpêtrière in Paris. Psychopatholog. Studien u. Dokumentationen über die Hysterie. Ein-

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fluss auf die Entwicklung der Psychiatrie u. der Psychoanalyse durch seinen Schüler Sigmund Freud (1856–1939). 33,270 Mysticismus] Gr., μυστικός, dt., „geheimnisvoll“ u. -ισμός, Suff. z. Bez. e. Tätigkeit o. deren Ergebnis. Myst. Gebaren, Neigung zur Mystik, zum Mystischen. Hier i. S. einer Lebenshaltung verstanden, die die Annäherung an das Transzendente durch intuitive Erkenntnis, rituelle Praktiken o. Kontemplation bis hin zur unio mystica, der geheimnisvollen Vereinigung mit dem Transzendenten anstrebt. N. führt den Begriff polem. ein u. kritisiert die seiner Ansicht n. unklare, irrationale u. religiös-schwärmerische Ausdrucks- u. Denkweise der Mystiker. 33,272 Delirium] Lat., deliro, dt., „aus der Furche geraten“. Ätiolog. unspezif. hirnorgan. Syndrom mit schwerer Bewusstseinstörung, die sich in Sinnestäuschung, Wahnvorstellungen u. Halluzinationen zeigen kann. 34,303 Lasègue] Ernest-Charles Lasègue (1816–1883), frz. Arzt. Vorlesungen über Krankheiten des Gehirns u. der Nerven. L. beschreibt 1873 die heute als „Anorexia nervosa“ bez. Essstörung als „Anorexia hysterica“. 34,329 J. F. Nisbet] John Ferguson Nisbet (1851–1899), engl. Psychiater. Vollst. Titel der gen. Schrift: The insanity of genius and the general inequality of human faculty: physiologically considered (1891) (dt., „Die Krankheit des Genies u. die allgemeine Ungleichheit der menschl. Fähigkeiten: physiolog. betrachtet“). 34,330 Falret] Jean-Pierre Falret (1794–1870), frz. Psychiater; Schüler v. Philippe Pinel (1745–1826) u. Jean Étienne Dominique Esquirol (1772–1840). 1822 Mitbegr. der berühmten Irrenanstalt Vauvres. 1851–1867 Direktor des Nervenkrankenhauses Hôpital de la Salpêtrière. Werke u. a.: De l’hypochondrie et du suicide: considérations sur les causes, sur le siège et le traitement de ces maladies, sur les moyens d’en arrêter le progrès et d’en prévenir le développement (1822) (wörtl.: dt., „Über die Hypochondrie u. den Suizid: Betrachtungen über die Ursachen, über den Sitz u. die Behandlung dieser Krankheiten, über die Mittel ihren Fortschritt aufzuhalten u. ihrer Entstehung vorzubeugen“); De la folie circulaire ou forme de maladie mentale caracterisée par alternative régulière de la manie et de la melancholie (1851) (dt. „Über den zirkulären Wahnsinn [im Sinne einer bipolaren Störung] u. Form der Geisteskrankheit, charakterisiert durch einen regelmäßigen Wechsel v. Manie und Melancholie“); De la non-existence de la monomanie (1854) (dt. „Über die Nicht-Existenz der Monomanie [auf einen Gegenstand bezogene zwanghafte Verhaltensweise]“). 35,358 Tarabaud] M. Tabaraud (!) (Vorname u. Lebensdaten unbek.), frz. Psychiater. 1888 mit der Arbeit Des rapports de la dégénérescence mentale et de l’hystérie (dt., „zu den Beziehungen v. geistiger Entartung u. Hysterie“) promoviert. 36,385 Axenfeld] Auguste Axenfeld (1825–1876), frz. Psychiater, Professor an der Sorbonne, Chefarzt im Hôpital Baujon. A. behandelt zahlr. Kunstschaffende u. deren Angehörige, so z. B. Adèle Hugo u. Gustave Flaubert. 36,386 Richer] Paul Marie Louis Pierre Richer (1849–1933), frz. Maler, Bildhauer, Arzt u. Anatom. Schüler Charcots, später enge Zusammenarbeit mit diesem.

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Professor für Anatomie an der Ecole nationale supérieure des beaux-arts. Urheber zahlr. künstler. Darstellungen der Krisensymptome psych. erkrankter Menschen. 36,386 Gilles de la Tourette] Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette (1857–1904), frz. Neurologe u. Rechtsmediziner. Zunächst Forschungen über die Hypnose u. zu medizinrechtl. Aspekten der Hypnose. 1884 Studie an neun Patienten mit kompulsiven Tics (frz., tic, dt., „nervöses Zucken“). 1885 erste Beschreibung des n. ihm benannten Gilles-de-la-Tourette-Syndroms, eine sich meist i. d. Kindheit o. im Jugendalter manifestierende Erkrankung mit unklarer Krankheitsursache. Symptome, plötzl. Zuckungen im Bereich des Gesichts u. des Halses sowie zwanghaftes Ausstoßen v. Schreien o. Fäkalausdrücken. 36,408 Suggestion] Lat., suggero, dt., „zuführen“. Beeinflussung einer Vorstellung o. Empfindung, ohne dass die Manipulation bewusst wahrgenommen wird. In der Medizin als „Neurypnology“ (dt., „Neurohypnotismus“) eingeführt v. schott. Neurologen James Braid (1795–1860), später zu Hypnose verkürzt. – N. verwendet den Begriff, um die Beeinflussbarkeit u. Willensschwäche der „Entarteten“ zu charakterisieren. 36,415 Paul Michaut] (1860-unbek.), frz. Arzt, Dissertation Contribution à l’étude des manifestations de l’hystérie chez l’homme (1890) (dt., „Beitrag zur Erforschung der Ausdrucksformen der Hysterie beim Mann“). 37,423 Suggestibilität] Fähigkeit zur Suggestion → 36, 408. 38,463 „Oniomanie“] Gr., ὤνιος, dt., „käufl.“ u. gr., μανία, dt., „Wahn“. Psych. Zwangsstörung, die sich in übermäßigem Warenkonsum äußert. 38,468 Paralytiker] Gr., παράλυσις, dt., „Auflösung“, „Gliederlähmung“. An progressiver Paralyse Leidender, Erscheinungsform der Neurosyphilis mit neurolog. Ausfällen. 38,471 Vortragsweise gewisser neuerer Maler] Vertreter des Impressionismus, Stilrichtung in der Bildenden Kunst ab Mitte 19. Jh., löst die dargestellten Gegenstände in Licht u. atmosphär. Phänomene auf. Namensgebend das Gemälde Impression – soleil levant (1872) (dt. „Impression/Eindruck – aufgehende Sonne“) v. Claude Monet (1840–1926). Erste Gruppenausstellung der Impressionisten 1874. 38,472 Punktirer] Pointillisten, die das Sujet in kleine regelmäßige Tupfer reiner Farben auflösen; der Gesamt-Eindruck entsteht durch Farbmischung im Auge des Betrachters. 38,472 Mosaisten] Bei N. impressionist. Maler, die Bilder wie Mosaiken zusammenfügen. Die Sujets werden in horizontale u. vertikale Strukturen zerlegt, deren wechselnde Farbtöne wie Mosaiken wirken. 38,472 Zitterer und Flimmerer] Die impressionist. Malweise löst Gegenstände, Konturen u. Flächen zugunsten v. Farbstimmungen auf, deren Farben so zusammengefügt werden, dass sie den Eindruck v. Unschärfe hervorrufen. 38,473 Grau- und Fahlfärber] Die Impressionisten vermeiden starke Kontraste v. Licht u. Schatten. Zusammen mit der Aufhellung der Farbpalette entsteht gelegentl. der Eindruck v. Fahlheit.

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38,477 Nystagmus] Gr., νυστάζω‚ dt., „dösen“, „schlummern“. Bez. die unkontrollierbaren, rhythm. Bewegungen eines Organs, in der Regel jedoch der Augen (Augenzittern). 38,480 Fliegenden Blätter] Bez. für das humorist.-satir., reich illustrierte Wochenblatt, 1845 bis 1944 in München im Verlag Braun & Schneider erschienen. 38,498 „Achromatopsie“] Gr., ἀχρώματος, dt., „farblos“, gr., ὤψ, dt., „Auge“. Erkrankung des Auges mit vollständiger o. fast vollständiger Farbenblindheit. 39,509 peripherische] Gr., περιφερής, dt., „sich herumdrehend“, „rund“. Am Rand einer Sache o. e. Aspektes gelegen. 39,512 Amblyopie] Gr., ἀμβλύς, dt., „stumpf“, „schwach“ u. gr., ὄψις, dt., „Sehen“, umgangsspr. Schwachsichtigkeit; eine auf unzureichender Entwicklung des Sehsystems beruhende mangelhafte Sehschärfe, die nur unzureichend durch eine Sehhilfe korrigiert werden kann. 39,516 Binet] Alfred Binet (1857–1911), frz. Psychiater, gilt als Begr. der Psychometrie (Theorie u. Methode des psycholog. Messens). B. entwickelt gemeinsam mit dem Arzt Théodore Simon (1873–1961) den Binet-Simon-Test, der zur Ermittlung der Intelligenz v. Kindern dient, u. experimentelle Methoden zur Messung geistiger Leistungsfähigkeit, etwa des Gedächtnisses. Publikation u. a.: Etudes de psychologie expérimentale, 1888 (dt., „Studien über experimentelle Psychologie“). 39,520 „depressiv“] v. lat., deprimo‚ dt., „niederdrücken“. Affektive Störung, die sich u. a. in Hoffnungslosigkeit u. Stimmungstrübung äußert. 39,520 „inhibirend“] v. lat., inhibeo, dt., „unterbinden“, „anhalten“. Hier i. S. v. „hemmend“. 39,521 dynamogen] Gr., δύναμις dt., „Kraft“, gr., γεννάω, dt., „erzeugen“. Krafterzeugend. 39,535 Halb-Trauer-Farbe] Violett gehört zu den liturg. Farben, ist Sinnbild für Verwandlung, Übergang u. Buße u. wird in der Fastenzeit vor Ostern u. in der Adventszeit getragen. Alternativ zu Schwarz auch als Farbe der Trauer bei kirchl. Begräbnisfeiern u. zu Allerseelen. 41,592 ästhetische Schule] Künstler-Gemeinschaften wie die Freie litterarische Vereinigung ‚Durch!‘ (1886) widersprechen N.s Vorstellung v. Künstler als einem individuellen Genie. 41,610 Zwangsvorstellung] Auch Zwangsgedanken, -ideen o. -befürchtungen. Psych. Erkrankung, die sich in immer wiederkehrenden Gedanken äußert. Unterschiedl. Symptombilder, die v. Kranken jedoch meistens erkannt u. als störend empfunden werden. Z. gehören mit den Zwangshandlungen (Waschzwang, Kontrollzwang, Zählzwang etc.) zu den Zwangsstörungen. 41,628 Régis] Emmanuel Jean-Baptiste Joseph Régis (1855–1918), frz. Psychiater, Schüler v. Charcot. Zahlr. Publikationen zu Degeneration u. dem Einfluss tox. Wirkungen auf die geistige Gesundheit des Menschen. In seinen Studien über Neurosen u. Hysterie wendet er sich später gegen die Theorien Freuds.

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43,671 Janhagel] Veralteter Ausdruck für „Pöbel“, „unterste Gesellschaftsschicht“; vmtl. aus dem Norddeutschen abgeleitet v. d. erfundenen Namen „Jan Hagel“. 43,683 die kleine Kuhmagd Bernadette] Dem einfachen Bauernmädchen Bernadette Soubirous (1844–1879) erscheint in einer Grotte nahe dem Pyrenäendorf Lourdes am 11. Februar 1858 die heilige Jungfrau Maria. 43,687 Goncourt] Gemeint sind hier die Brüder Edmond Louis Antoine Huot de Goncourt (1822–1896) u. Jules Alfred Huot de Goncourt (1830–1870), frz. Schriftsteller. Das Tagebuch (Le Journal des Goncourts) gilt als einmaliges kulturkrit. Dokument, da es zunächst nicht für die Publikation vorgesehen ist. Es wird v. den Brüdern ab 1851 geführt u. v. Edmond n. Jules’ Tod (1870) allein fortgesetzt. 44,716 „Gigerl“] Österr. Synonym für „feiner Pinkel“, „Lackaffe“, „Fatzke“, „Snob“.

IV. Aetiologie. 45,10 Opium] Rausch- u. Betäubungsmittel, das aus den Samen des Schlafmohns (Papaver somniferum L.) gewonnen wird. 45,10 Haschisch] Arab., hashish, dt., „Gras“, „Heu“. Wird aus ind. Hanf (Cannabis sativa) gewonnen u. getrocknet als Marihuana bez. Weit verbreitetes Rauschmittel. 45,10 Arsenik] Auch Arsenoxid; chem. Verbindung des Arsens mit Sauerstoff. Als Mordgift berüchtigt. Im 19. Jh. als Stimulans verwendet (Arsenikesser). 45,11 mutterkornhaltiges Brod] Mutterkorn, längl., kornähnl. Dauerform des Mutterkornpilzes (Claviceps purpurea), wächst in den Ähren v. Roggen u. einigen anderen Getreidegattungen. Die Bez. Mutterkorn resultiert aus der früheren Verwendung als Abtreibungsmittel, da die Inhaltsstoffe Wehen auslösen. Der Mutterkornpilz produziert giftige Alkaloide, die zu Symptomen wie Darmkrämpfen, Halluzinationen u. Absterben v. Fingern u. Zehen aufgrund v. Durchblutungsstörungen führen können. 45,12 Sumpffieber] Auch Wechselfieber; veraltet für Malaria. 45,12 Syphilis] Auch Lues, Lues venerea, harter Schanker. Durch sexuelle Handlungen o. im Geburtsvorgang übertragene Infektionskrankheit, die durch das Bakterium Treponema pallidum verursacht wird. Bei chron. Verlauf kommt es im Endstadium zur Zerstörung des zentralen Nervensystems. Durch die Vergabe v. Antibiotika heilbar. 45,12 Tuberkulose] Kurz TBC (v. lat., tuberculum, dt., „kleine Entzündungen“), früher auch „Schwindsucht“. Bakterielle Infektionskrankheit, die am häufigsten die Lunge befällt. 45,12 Kropfkrankheit] Knotige o. gleichmäßige Vergrößerung der Schilddrüse infolge einer zu geringen Jodzufuhr durch Trinkwasser u. Nahrung.

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45,19 Unzen] Lat., unica, dt., „ein Zwölftel“; Gewichteinheit; umgerechnet ca. 28,35 Gramm. 45,20 Quart] Altes dt. Hohlmaß aus dem angloamerik. Maßsystem mit variierenden Mengenvorgaben. So entspricht z. B. im Königreich Preußen ein Quart 114,5 Zentiliter. 45,22 Josef Körösi] József Kőrösy (1844–1906), ungar. Statistiker. Zuerst im Versicherungsfach tätig, 1868 Mitglied der statist. Landesrats, 1870 erster Direktor des neugegr. Statist. Bureaus der Stadt Pest. Arbeiten u. a. über Mortalität, Krankheiten, Finanzen, Armut u. Todesursachen. Hg. der Kommunalstatistischen Monatshefte (1873ff.). 1896 in den Adelsstand erhoben. 45,24 Goschen] George Joachim Goschen, 1. Viscount Goschen (1831–1907). Mitglied des Unterhauses des brit. Parlaments, Minister, Schatzkanzler u. Botschafter. 45,25 J. Vavasseur] Mögl. Jean Baptiste Ernest Raoul Vavasseur (1822–unbek.). 46,52 in einem Zustande beständiger Nervenerregung] → 27, 19. 46,54 Maremmen] Ital., Maremma, Landstrich an der Küste des Tyrrhen. Meeres, umfasst die südl. Toskana u. Nord-Latium. 46,56 Malaria] Ital., „mala aria“ o. „mal’aria“, dt., „schlechte Luft“. Auch „Sumpffieber“ o. „Wechselfieber“. Krankheit, die in den Tropen u. Subtropen durch den Stich einer weibl. Anopheles-Stechmücke (Moskito) übertragen wird. 46,78 Brouardel] Paul Camille Hippolyte Brouardel (1837–1906), frz. Rechtsmediziner u. Pathologe. 1873 Leitung des Hôpital Salpêtrière u. des Hôpital SaintAntoine. Ab 1873 Professor für Forensik an der Académie nationale de Médecine (dt., „Nationale Akademie für Medizin“). 1899 Wahl zum Präsidenten der Association française pour l’avancement des sciences (dt., „Frz. Verband für das Fortkommen der Wissenschaften“). 48,143 Prof. A. W. von Hofmann 1890] August Wilhelm von Hofmann (1818– 1892), dt. Chemiker. Studium u. Promotion bei Justus v. Liebig (1803–1873). Professuren in Bonn, London u. Berlin. 1867 Mitbegr. u. erster Präsident der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Ab 1886 erster Präsident der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. Erarbeitung der ersten Synthesen v. Anilinfarbstoffen, Begr. der Teerfarbenchemie. Forschungen über organ. Stickstoffverbindungen. Biograph bedeutender Chemiker (Zur Erinnerung an vorangegangene Freunde, 1888). 48,166 Dr. Otto Bähr] (1817–1895), dt. Politiker u. Jurist. Das Buch, erste Auflage 1884, schildert das Leben in Kassel um 1826. 49,197 Umwälzung in Chile] Vmtl. ist gemeint der chilen. Bürgerkrieg 1891, der durch heftige Konflikte zw. dem wirtschaftsfreundl. Staatspräsidenten José Manuel Balmaceda (1840–1891), dessen instabiler Regierung u. dem Kongress ausgelöst wird. Nachdem der Kongress 1890 die Zustimmung zum Haushalt verweigert hat u. es diesem gelingt, die einflussreiche Marine auf seine Seite zu ziehen, kommt es im darauffolgenden Jahr zum Krieg, der mit dem Sieg der Kongresspartei endet. Balmacedas verübt Suizid.

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49,197 Buschkrieg in Deutsch-Ostafrika] Vmtl. die Schlacht bei Lula-Rugaro am 17. August 1891: Im Zuge der Eroberung v. Deutsch-Ostafrika als kolonialem Gebiet erleiden dt. Truppen eine Niederlage gegen Hehe-Krieger (auch Wahehe), obgleich sie militär. besser ausgerüstet sind. Rund 270 dt. Soldaten, unter ihnen der Kommandeur, Emil von Zelewski (1854–1891), fallen. Der Niederlage v. LulaRugaro folgen bis Juli 1898 Kämpfe gegen die Hehe. Evtl. bezieht sich N. aber auch auf lokalgeschichtl. Vorgänge wie den Kampf dt. Truppen 1890–1893 gegen die Residenz des Ntemi, eines spirituellen Führers der Stadt Unyanyembe, Iseke, wobei die dt. Truppen im August 1892 wg. Munitionsmangel einen Rückschlag zu verz. haben. 49,197 Gemetzels in Nord-China] Vmtl. gemeint sind die Unruhen in der ostmongol. Provinz Jeho. Durch eine Hungersnot in der Gegend um die Stadt Ch’aoyang, der die chin. Regierung nicht zu begegnen weiß, kommt es im Herbst 1891 zu Aufständen. Die Aufstände dehnen sich bis auf die Gebiete Kharatsin, Tümet, Onguihut, Naiman u. Bagharin aus u. richten sich nicht nur gegen chin. Beamte, sondern auch gegen die dort lebenden Christen, deren Kirchen teilweise verbrannt u. deren Priester getötet werden. Chines. Regierungstruppen setzen sich militär. gegen die Aufständischen zur Wehr. 49,198 Hungersnoth in Rußland] 1891/1892 kommt es in zahlr. Landstrichen Russlands zu Missernten, woraus Hungersnöte u. Choleraepidemien resultieren, denen die Regierung hilflos gegenübersteht. Das hat eine Krisenstimmung in der Bevölkerung u. Streiks der Fabrikarbeiter zur Folge. 49,198 Straßenputsches in Südspanien] In der Nacht des 8. Januar 1892 kommt es in Andalusien zu einem Aufstand anarchist. motivierter Landarbeiter u. Bauern, die die Stadt Jerez de la Frontera besetzen. Der Aufstand wird niedergeschlagen. 49,199 Weltausstellung in Nordamerika] Engl., „Centennial International Exhibition“, aus Anlass des hundertjährigen Bestehens der Vereinigten Staaten v. Amerika unter dem Namen „International Exhibition of Arts, Manufactures, and products of the Soil and Mine“ in Philadelphia, Pennsylvania, 10. Mai bis 10. November 1876. Zu den zum ersten Mal gezeigten Produkten gehören Alexander Graham Bells (1847–1922) Telefon, die „Typographic Machine“ (Schreibmaschine) der Waffenfirma Remington u. „Heinz Ketchup“ (Henry John Heinz Company). 49,204 Charles Richet] Charles Robert Richet (1850–1935), frz. Mediziner. Neben der Untersuchung der Wärmeregulierung tier. Organismen Arbeit an Blutseren gegen Tuberkulose u. an der als Anaphylaxie bez. heftige Reaktion des menschl. Immunsystems auf chem. Reize. 1913 Nobelpreis für Medizin. 49,206 Mulhall] Michael George Mulhall (1836–1900), engl. Statistiker u. Journalist. Verfasser des Dictionary of Statistics (1884) (dt., „Statist. Lexikon“). Erweiterte Neuauflage 1892 u. d. Titel The Dictionary of Statistics. 49,206 Herrn von Stephans Reichtagsrede vom 4. Februar 1892] Heinrich von Stephan (1831–1897), Generalpostdirektor des Deutschen Reiches, Staatssekretär

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des Reichspostamts u. Mitglied des Preuß. Staatsrates. Reichstagsrede v. 4. Februar 1892 zur Entwicklung des nationalen u. internationalen Postverkehrs. 50,243 Die Stärksten konnten allerdings mitkommen] Übernahme des Schlagworts „Survival of the Fittest“, das das Überleben der Individuen mit der besten Anpassung an ihren Lebensraum bez. Prägung des Begriffs 1864 durch den brit. Sozialphilosophen Herbert Spencer (1820–1903). Übernahme durch Charles Darwin (1809–1882) in der fünften englischspr. Auflage seines Werkes „Die Entstehung der Arten“ (engl., On the Origin of Species) v. 1869 in Ergänzung zu seiner zum Terminus gewordenen Definition „natural selection“ (dt., „natürl. Auslese“). 51,275 „Eisenbahn-Rückenmark“] Engl., „railway-spine“. Bez. für posttraumat. Symptome bei Opfern v. Eisenbahnunfällen. Eine Vielzahl v. Medizinern sucht im 19. Jh. bei unverletzten aber hyster. Überlebenden v. Eisenbahnunglücken n. der Ursache der seel. Traumatisierung u. glaubt, dass es sich dabei um ein morpholog. Substrat im kontusionsverletzten Rückenmark handelt. Beginn der Geschichte der traumat. Neurose. 51,275 „Eisenbahn-Gehirn“] Engl., „railway-brain“. Vgl. → 51, 275. 51,289 G. André] Grégoire André (Lebensdaten unbek.), frz. Psychiater. 52,295 Sir James Crichton-Browne] (1840–1938), engl. Psychiater. C.-B. widmet sich Untersuchungen zum Zusammenhang zw. psych. Störungen u. Gehirnverletzungen u. der Geisteskrankheiten vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie. 52,308 Mr. Critchett] George Critchett (1817–1882), engl. Chirurg, seit 1876 Augenarzt u. Professor der Augenheilkunde. 52,314 Dr. Lieving] Nicht ermittelbar. 52,330 napoleonischen Kriege] Sammelbez. für die v. Kaiser Napoleon I. (1769–1821) u. den europ. Machtrivalen geführten Kriege zw. 1800 u. 1815. 53,347 „Belagerungs-Wahnsinn“, folie obsidionale] Mehrmonatige Belagerung v. Paris durch dt. Truppen während des Dt.-Frz. Krieges (1870–1871). Die Ereignisse führen n. N. bei der mental geschwächten Bevölkerung zu verstärkter Zerrüttung, die der als „fin de siècle“ bez. Stimmung entscheidenden Auftrieb geben. 54,377 Sie reden vom Sozialismus] Verweis auf den polit.-gesellschaftl. Diskurs n. 1890. Seit der Entlassung des sozialistenfeindl. Reichskanzlers Otto von Bismarck durch Kaiser Wilhelm II. wird die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die sich seit 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nennt, zu einer Massenbewegung. Ihr wird seit der Rücknahme der restriktiven Sozialistengesetze eine verstärkte öffentl. Wahrnehmung zuteil. 54,390 Darwinismus] Evolutionstheorie v. Charles Robert Darwin (1809–1882), engl. Naturforscher. Hauptwerk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) (dt., „Über die Entstehung der Arten im Tier- u. Pflanzen-Reich durch natürl. Züchtung, o. Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampf um’s Dasein“). Das Werk bez. einen Wendepunkt in der Geschichte der modernen Biologie, es definiert die natürl. Selektion als wichtigsten Mechanismus in der Evolution.

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Zweites Buch. Der Mysticismus. I. Psychologie des Mysticismus. 58,45 Halluzination] Gr., ἀλύω, dt., „verwirrt sein“, lat., hallucinor, dt., „sich einer Täuschung hingeben“. Gestörte Sinneswahrnehmungen, die dazu führen, dass physikal. nicht nachweisbare Objekte gesehen o. akust. nicht messbare Laute gehört werden. Ursachen können psych. Störungen, Alkoholmissbrauch u. -entzug, Drogeneinnahme u. -entzug, Schlafentzug, sowie chem. Vergiftungen sein. 58,57 Das bewusste Denken] In der komplexen Nervenzellenstruktur der Großhirnrinde, lat., cortex cerebri (v. N. „graue Hirnrinde“ genannt) liegt das Zentrum der bewussten Verarbeitung v. Sinnesreizen; es ist zuständig für bewusstes Handeln u. für die neuronalen Prozesse des Gedächtnisses u. des Lernens. 58,79 Mossos Versuche] Angelo Mosso (1846–1910), ital. Mediziner u. Physiologe; Gegner der Vivisektion (nichttherapeut. Eingriff am lebenden Objekt zur wissenschaftl. Forschung o. Erprobung v. Operationsmethoden). Begr. der experimentellen Humanphysiologie, Analyse motor. Funktionen u. Beziehungen zw. Physiolog. u. psych. Phänomenen, Forschungen zur Atemphysiologie u. höhenklimat. Respiration, Versuche zur Physiologie v. Herz u. Kreislauf. N. könnte sich hier auf Mossos Sulla circolazione del sangue nel cervello dell’ uomo (1879) (dt., „Über den Kreislauf des Blutes im menschlichen Gehirn“) beziehen. 58,79 Trepanation] Frz., „trépan“, dt., „Bohrmeißel“. Operative Verfahren, bei denen v. Knochen umschlossene Räume mechan. geöffnet werden, insb. die Schädeldecke. 59,113 Versuche Ferriers] David Ferrier (1843–1928), engl. Neurologe; arbeitet bei Hermann von Helmholtz (1821–1894) u. bei Wilhelm Wundt (1832–1920) in Heidelberg, die sich als Physiker mit sensor. Physiologie beschäftigen. F. widmet sich der Funktion des Gehirns u. der Lokalisation v. Hirnerkrankungen, später der forens. Medizin. Bedeutende Publikationen: The Localisation of Cerebral Disease (1878) (dt., „Die Lokalisierung der Gehirnkrankheiten”); The Functions of the Brain (1876) (dt., „Die Funktionen des Gehirns“); Principles of Forensic Medicine (1888) (dt., „Prinzipien der forens. Medizin”). 59,121 A. Herzen] Alexander Herzen (1839–1906), russ. Physiologe, Sohn des Schriftstellers u. Revolutionärs gleichen Namens (1812–1870), Professor an der medizin. Fakultät Lausanne. N. bezieht sich hier auf Le cerveau et l’activité cérébrale au point de vue psychophysiologique (1887) (wörtl.: „Das Gehirn u. die Gehirnaktivität aus psychophysiologischer Sicht“). 60,135 was Goethe meint] Zitat aus Goethes Faust, Erster Teil, Szene Studierzimmer (2): Mephistopheles: „Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen, / Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen. / Mein teurer Freund, ich rat’ Euch drum / Zuerst Collegium Logicum. / Da wird der Geist Euch wohl dressiert, / In spanische Stiefeln eingeschnürt, / Daß er bedächtiger so fortan / Hinschleiche die Gedankenbahn, / Und nicht etwa die Kreuz und Quer / Irrlichteliere hin und her. / Dann

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lehret man Euch manchen Tag, / Daß, was Ihr sonst auf einen Schlag / Getrieben, wie Essen und Trinken frei, / Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei. / Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik / Wie mit einem Weber-Meisterstück, / Wo ein Tritt tausend Fäden regt, / Die Schifflein herüber hinüber schießen, / Die Fäden ungesehen fließen, / Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. / Der Philosoph, der tritt herein / Und beweist Euch, es müsst’ so sein: / Das Erst’ wär’ so, das Zweite so, / Und drum das Dritt’ und Vierte so; / Und wenn das Erst’ und Zweit’ nicht wär’, / Das Dritt’ und Viert’ wär’ nimmermehr. / Das preisen die Schüler allerorten, / Sind aber keine Weber geworden. / Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, / Sucht erst den Geist heraus zu treiben, / Dann hat er die Teile in seiner Hand, / Fehlt leider! nur das geistige Band. / Encheiresin naturae nennt’s die Chemie, / Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.“ 60,140 Die Fähigkeit der Erinnerung] Die Gedächtnisbildung erklärt man sich heute durch synapt. Plastizität, d. i. die Fähigkeit v. Nervenzellen, sich dynam. miteinander zu verknüpfen (bei N. „Marsch-Gewohnheit der Nervenzellen“ bzw. „Ideen-Assoziation“ genannt). 60,151 Ideen-Assoziation] Unwillkürl. (simultane o. sukzessive) Verbindung v. Vorstellungen u. Empfindungen im Bewusstsein, im Gegensatz zu deren willkürl. Verknüpfung durch das Denken u. die produktive Phantasie. 60,155 Wundt] Wilhelm Wundt (1832–1920), dt. Physiologe, Psychologe u. Philosoph. Werke u. a. Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervencentren (1871) u. Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden Wissenschaftlicher Forschung. 1. Band: Erkenntnislehre. 2. Band: Methodenlehre (1880/1883). 60,157 Laura Bridgman] Laura Dewey Bridgman (1829–1889), seit früher Kindheit taubblind; erkennt die Verbindung v. tastbarem Wort u. gegenständl. Bedeutung. Pionierin des Fingeralphabets für Gehörlose. 61,195 Komplementär-Farbe] Auch Ergänzungsfarbe. Begriff aus der Farbenlehre. Bez. Farbvalenzen, die sich bei additiver Mischung zu Weiß, bei subtraktiver Mischung zu Schwarz (o. sehr dunkler Farbe) ergänzen. 61,198 K. Abel] Carl Abel (1837–1906), dt. Linguist, Verfasser komparativer Lexikographien. Auf die Schrift Über den Gegensinn der Urworte (1884) bezieht sich später auch Freud. A.s zentrale These ist, dass in der Periode, „in welcher der Mensch seine Begriffe zu bilden begann“ (2), ein Wort zwei gegensätzl. Bedeutungen aufwies. 62,207 James Sully] (1842–1923), engl. Psychologe, ab 1881 Beobachtungen an Kindern. Begr. der Entwicklungspsychologie in England, Anhänger der Assoziationspsychologie. Einschlägige Publikationen u. a.: Illusions: A psychological study (1881) (dt., „Die Illusionen: Eine psycholog. Untersuchung“). Teacher’s Handbook of Psychology (1892) (dt., „Handbuch der Psychologie für Lehrer“); Studies of Childhood (1896) (dt., „Untersuchungen über die Kindheit“). 63,275 Th. Ribot] Théodule Armand Ribot (1839–1916), frz. Psychologe u. Philosoph.

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64,325 Dr. Morat] Jean Pierre Morat (1846–1920), frz. Mediziner u. Physiologe, Forschungen zum Nervensystem. Werke u. a.: Recherches expérimentales sur le système nerveux vaso-moteur (1884) (dt., „Experimentelle Untersuchungen über das vasomotor. Nervensystem“) u. Traité de physiologie, 5 Bde. (1899–1918) (dt., „Abhandlung über die Physiologie“). 65,349 Ciliar-Muskeln] Auch „corpus ciliare“ (von lat., corpus, dt., „Körper“ u. lat., ciliare, dt., „bewimpert“). Abschnitt der mittleren Augenhaut, dient der Aufhängung der Linse u. deren Akkommodation, der dynam. Anpassung der Brechkraft des Auges; wesentl. Funktion für deutl. Sehen. 66,403 Alexander Starr] Vmtl. Moses Allan Starr (1854–1932), amerik. Neurologe, Prof. in New York. Der frz. Psychologe u. Philosoph Théodule Armand Ribot (1839–1916), auf dessen Ausführungen sich N.s Übersetzung bezieht, weist in La psychologie de l’attention (1888) (dt., „Die Psychologie der Aufmerksamkeit“) auf St.s Studien zu Gehirnverletzungen in Brain, The journal of mental science, Vo. 8, Nr. 4, 1886, 569–570, hin. 69,527 Vte E. M. de Vogué] Marie-Eugène-Melchior, Vicomte de Vogüé (1848– 1910), frz. Diplomat, Orientalist u. Schriftsteller, aufsehenerregende Artikelserie in der Revue des Deux Mondes (dt., „Zeitschrift der zwei Welten“) über die Bedeutung russ. Romane. Le roman russe (dt., „Der russ. Roman“), nicht wie bei N. 1888, sondern 1886 erschienen, betont v. a. den Weltrang v. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828–1910) u. Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881). 69,540 Joubert] Joseph Joubert (1754–1824), frz. Moralist u. Essayist. Werke u. a. Recueil de pensées de M. Joubert (1838) (dt., „Gedanken, Versuche u. Maximen“), Correspondance (1850) (dt., „Korrespondenz“). 69,540 Charles Morice] (1860–1919), frz. Dichter u. Essayist, Schüler v. Stéphane Mallarmé (1842–1898), Theoretiker der Avantgarde u. des Symbolismus. Werke u. a.: Demain, questions d’esthétique (1888) (dt., „Morgen, ästhet. Fragen“); Paul Verlaine (1888); La Littérature de tout à l’heure (1889) (dt., „Die Literatur v. eben“); Du sens religieux de la poésie (1893) (dt., „Über den religiösen Sinn der Poesie). 70,558 Traumbuch] Beispiele, Anonymus, Des Griechischen Philosophen Artemidori grosses und vollkommenes Traum-Buch: nebst einer Erinnerung Philipp Melanchtons vom Unterschied der Träume und angehängtem Berichte, was von Träumen zu halten sey (1554, Nachdruck 1753); Carl Augustus Bruckman, Das UniversalTraumbuch: Oder Der vollständige Traum-Ausleger aller Arten v. Träumen, Alphabetmässig eingerichtet. Ausgezogen aus den Schriften von Aristotel Artimedorus Lord Bacon Baxter Hooker (1821); Pauline Wildermuth, Universal-Volks-Traumbuch: Reichhaltigste Sammlung von Traum-Deutungen, unter Hinzuziehung der glücklichen Lotterie-Nummern, welche der Traum zu spielen empfiehlt (1880); Friedrich Wilhelm Martin Nickel, Traumbuch, oder die Nachtseite des Seelenlebens: Mit Beispielen aus dem Leben (1887). 70,559 Die Prophezeiung des Mönchs von Lehnin] „In der Mittelmark an der Havel, etwa zwei Meilen von Potsdam, liegt das jetzige Schloß und Amt Lehnin;

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dasselbe war ehedem ein berühmtes Kloster, in welchem mehrere Chur- und Markgrafen von Brandenburg begraben liegen. Daselbst lebte einst ein durch seinen heiligen Wandel und seine Gelehrsamkeit hochberühmter Mönch (zw. 1272–1339), Namens Hermann, der in schlechten lateinischen Reimversen die künftigen Schicksale seines Klosters besang und dabei natürlich auch das Schicksal aller folgenden preußischen Fürsten mit berührte, insoweit dasselbe mit der Zukunft des Klosters in Verbindung stand und von demselben abhing. Ueber die Geschichte dieser Prophezeiung giebt es nun aber zwei verschiedene Berichte. N. dem einen wäre dieselbe bei der Einziehung des gedachten Klosters (1542) in fremde Hände gerathen, bis der Churbrandenburgische Rath, Erasmus von Seidel, der durch seine glückliche Vertheidigung der Jülich’schen Erbfolge für das Churbrandenburgische Haus in ihren Besitz gelangte und sie als geheimen Schatz in seinem Hause verwahrte und erst gegen das Ende der Regierung des Churfürsten Friedrich Wilhelm Andern mittheilte. Eine andere Sage erzählt, diese Prophezeiung sei in den letzten Jahren des genannten Churfürsten, als derselbe einst in das auf der Stelle des verfallenen Klosters erbaute Schloß gekommen, um sich in der Umgebung desselben mit der Reiherbeitze zu belustigen, daselbst in einer alten Mauer aufgefunden worden“. (In: Sagenbuch des Preußischen Staates, Bd. 1, 1868, 1–5, des Literaturhistorikers u. Sagenforschers Johann Georg Theodor Grässe (1814–1885)). 70,565 von der Erziehung, dem Unterricht] Abgrenzung des privaten Bereichs der Anleitung u. Formung v. Menschen („Erziehung“) gegenüber der durch öffentl. Institutionen geregelten Einflussnahme („Unterricht“). 70,568 Naturforscher] Als Naturforscher gelten im 19. Jh. v. a. Carl Vogt (1817– 1895), Jakob Moleschott (1822–1893) u. der einflussreiche Ludwig Büchner (1824– 1899), dessen Werk Kraft u. Stoff (1855) hohe Auflagen erreicht. N. bez. mit dem Begriff die Vertreter eines extremen Materialismus, die die „Seele“ ledigl. als Gehirnfunktion betrachten, Materie u. Geist gleichsetzen u. einen „mystischen“ Monismus (Erklärung der Welt basierend auf einem einzigen Grundprinzip) pflegen, der Gott wiederum mit der Natur gleichsetzt. 70,570 der unglückliche Zöllner] Johann Karl Friedrich Zöllner (1834–1884), dt. Physiker u. Professor für physikal. Astronomie, veranstaltet ab 1777 spiritist. Séancen, in denen er die Existenz der vierten Dimension beweisen will. Seine in den Wissenschaftlichen Abhandlungen (1878–81) publ. Versuche werden scharf kritisiert, er selbst wird als geisteskrank denunziert. 70,576 perpetuum mobile] Lat., dt., „ein sich ständig Bewegendes“; mechan. Konstruktion, die, einmal in Gang gesetzt, dauerhaft in Bewegung bleibt, ohne dass ihr v. außen Energie zugeführt wird. 70,578 Astronom] Wissenschaftler, der sich der Astronomie (gr., ἀστρονομία, dt., „Beobachtung der Sterne“, v. gr., ἄστρον, dt., „Stern“ u. gr., νόμος, dt., „Gesetz“), der Wissenschaft v. den Gestirnen u. der Erforschung der Himmelskörper widmet. 70,578 Astrologen] Menschen, die sich der nicht naturwissenschaftl. fundierten spekulativen Astrologie (gr., ἄστρον, dt., „Stern“ u. gr., λόγος, dt., „Lehre“; dt.,

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„Sternkunde“) verschreiben u. aus den Positionen v. Himmelskörpern Ereignisse, Schicksale u. Charaktere deuten u. vorhersagen. 70,578 Alchemisten] Alchemie, urspr. Zweig der Naturphilosophie, die die Natur in ihrer Gesamtheit beschreiben u. in ihren einzelnen Strukturen verstehen will. Im populären Verständnis Umwandlung v. unedlen Metallen in Gold (Goldsynthese) u. in andere Edelmetalle (Edelmetallsynthese). 71,585 Sympathikus] Teil des vegetativen Nervensystems; zusammen mit dem Parasympathicus verantwortl. für die Regulation der Organtätigkeit. 72,663 Gérard de Nerval] Pseudonym für Gérard Labrunie (1808–1855), frz. Schriftsteller der Romantik; Le Rêve et la Vie (1855) (dt., „Der Traum u. das Leben“), beschreibt die Gratwanderung zw. Traum u. Wirklichkeit, bedeutsam für Charles Baudelaire (1821–1867) u. die Surrealisten. Mitarbeit an literar. Zeitschriften. (N.s Übersetzung „den kleinsten Käfern“ ist nicht korrekt, frz., „insectes“, dt., „Insekten“). 73,684 fixen Idee] V. lat., fixus, dt., „unabänderl.“ u. lat., idea, dt., „Idee“; Friedrich Wilhelm Hagen (1814–1888), dt. Psychiater, unterscheidet in Studien auf dem Gebiete der aerztlichen Seelenkunde, 1870, 39–85, zw. „gewissen Gedankenkreise[n]“, die mit unwiderstehl. Gewalt immer wiederkehren, u. sich ohne psych. Erkrankung in Richtung auf gewisse Ideen fixieren, u. „fixen Ideen Geistesgestörter“ als krankhafte Wahnideen. 73,689 Ekstase] Gr., ἔκστασις, dt., „Außersichgeraten“, „Verzückung“. Begriff der Religionswissenschaft u. der Psychologie, Sammelbez. für psych. Ausnahmezustände, die v. den Betroffenen als dramat. Erweiterung des Bewusstseins beschrieben werden, in deren Folge der Eindruck entsteht, „außer sich“ o. „nicht bei sich“ zu sein. 74,715 heiligen Therese] Teresa v. Ávila, geboren als Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada (1515–1582), Karmelitin u. Mystikerin, 1614 selig-, 1622 heiliggesprochen. Die Verzückung der Heiligen Theresa (auch Die Entrückung der Heiligen Theresa) ist eine zw. 1645 u. 1652 entstandene, 3,5 m hohe Frontalskulptur des ital. Barockbildhauers Giovanni Lorenzo Bernini (1598–1680). Bei Richard von KrafftEbing (1840–1902), Psychopathia sexualis (1886), wird das Werk als Bsp. für die Verwandtschaft v. Religion, Wollust u. Grausamkeit angeführt. 74,716 Mohamed] Mohammed (ca. 570–632), eigtl. Mohammed ibn ’Abd Allah ibn ’Abd al-Muttalib ibn Haschim ibn ’Abd Manaf al-Quraschi, Religionsstifter des Islam. Im Koran finden sich mehrere Beschreibungen v. ekstat. Zuständen. 74,716 Ignaz von Loyola] Ignatius von Loyola (1491–1556), geb. als Iñigo López Oñaz de Recalde y Loyola, Mitbegr. u. Gestalter der später auch als Jesuitenorden bezeichneten Societas Jesu SJ, dt., „Gesellschaft Jesu“, 1609 selig-, 1622 heiliggesprochen. 74,736 Blödsinn] Lat., stupiditas. Veraltet für einen hohen Grad v. Geistesschwäche teils angeboren, teils erworben infolge v. Krankheiten (z. B. paralyt. Irresein) o. Alter (seniler B.). Drei Formen, 1. Dummheit, 2. Stumpfsinnigkeit (die

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neben der Dummheit auch Gefühllosigkeit u. Willenlosigkeit aufweist) 3. Kretinismus o. Idiotismus, bei dem die geistigen Fähigkeiten ganz erloschen scheinen. 74,740 Schwachsinn] Veraltete Bez. für angeborene od. frühzeitig erworbene geistige Störung. Unterschiedl. Schweregrade; leichte (veraltet: Debilität), mittelgradige (veraltet: Imbezillität) bis schwerste Behinderung (veraltet: Idiotie), Beeinträchtigung v. Kognition, Sprache, sozialen Fähigkeiten u. Motorik; Ursachen genet., traumat., tox. (z. B. Alkoholembryopathie), infektiös (z. B. Embryopathia rubeolosa) od. sozial (Deprivation). 74,750 Alle Beobachter] N. könnte damit meinen Adolf Kußmaul, Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache (1877); Johann Spielmann, Diagnostik der Geisteskrankheiten: für Ärzte u. Richter (1855); Sigismund Conradi, „Ueber die Sprache der Irren“, in: Wiener medizinische Zeitschrift XVIIL 70, 1868; Carl Spamer, „Ueber Aphasie und Asymbolie nebst Versuche einer Theorie der Sprachbildung“, in: Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten, Bd. 6, Heft 2, 1876, 496–542. 75,761 Echolalie] Gr., ἠχώ, dt., „Schall“, „Widerhall“ u. gr., λάλη, dt., „Geschwätz“. Zwanghaftes Nachsprechen gehörter Worte, auch Echosprache genannt. 75,765 Wortspiel] Witzige Zusammenstellung ähnl. lautender Wörter, so dass sich Mehrdeutigkeiten o. Sinnumkehrungen ergeben. 75,779 Dr. G. Ballet] Gilbert Ballet (1853–1916), Neurologe, Psychiater u. Medizinhistoriker; Prof. an der medizin. Fakultät Paris. Publikationen u. a. Le langage intérieur et les formes cliniques de l’aphasie (1886) (dt., „Die innere Sprache u. die klin. Formen der Aphasie“); L’hypnotisme et la suggestion (1887) (dt., „Der Hypnotismus u. die Suggestion“). 75,786 „Rembrandt als Erzieher“] Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (1890). Hauptwerk des dt. Schriftstellers u. Kulturkritikers August Julius Langbehn (1851–1907). Pädagog. intendierte, antisemit. u. im nationalist.-völk. Geist verfasste Schrift, beeinflusst die dt. Jugendbewegung. Langbehn setzt gegen die zeitgen. Kunst Rembrandt als klass. Leitbild v. Kultur u. Erziehung. L. bezieht sich bei dieser Glorifizierung auf eine Studie des Museumsgründers Wilhelm Bode (1845–1929) a. d. Jahr 1883 (Studien zur Geschichte der holländischen Malerei). Durch die Art seiner Malerei stelle Rembrandt, so Bode, zw. dem Menschen u. seiner Umgebung einen emotionalen Bezug her, der dem Zustand der Menschlichkeit zuträgl. sei. Als Metapher für Prozess u. Zustand dieser Malerei wird v. Bode das sog. „Helldunkel“ verwendet. L. nimmt Gedanken Bodes auf u. erweitert diese, um daraus schließl. volkstüml. u. nationalist. Gesellschaftskonzepte abzuleiten. 76,797 Sollier] Paul Sollier (1864–1933), frz. Psychologe u. Neurologe, Beschäftigung mit neurolog. Syndromen, Hysterie, Erinnerung, Emotionen, Idiotismus; behandelnder Arzt v. Marcel Proust (1871–1922). Publ. u. a. Psychologie de l’idiot et de l’imbécile (1890) (dt., „Psychologie des Idioten u. des Imbecillen“) u. Le problème de la mémoir: essai de psycho-mécanique 1898–99 (1900) (dt., „Das Problem der Erinnerung: Essay über Psychomechanik 1898–99“).

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76,804 „Blague“] Frz., dt., „Witz“. 76,805 „Boulevard-Esprit“] B., frz., dt., „Flanierstraße“; – E., frz., dt., „Geist“. Im übertrag. Sinne das geistige Niveau der Klatschpresse. 76,822 Bewegungs-Tic (unwillkürliches Zucken)] Muskelbewegungen, die ohne bzw. gegen den Willen eines Individuums auftreten.

II. Die Präraphaeliten. 77,6 mäandrischen Bahnen] Mäander v. gr., Fluss Μαίανδρος, dt., Maiandros. Abfolge v. mehreren Flussschlingen, hier i. S. v. „verschlungenen Bahnen“. 79,102 die Urheber und Fortsetzer der „präraphaelitischen Bewegung“ in England] Präraphaelitische Bruderschaft, engl., „Pre-Raphaelite Brotherhood PRB“. Gründung 1848 durch die Maler William Holman Hunt (1827–1910), Sir John Everett Millais (1829–1896) u. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882). V. der spätmittelalterl. ital. Freskomalerei begeisterte Künstlerbewegung. Ablehnung der akadem. Malerei in der Nachfolge Raffaels. Naturalist., detailgetreue Sujets, flächige Wirkung, kräftige Farben. Die Kritik an der PRB geht auf unkonventionelle Kompositionen zurück, v. a. auf die Darstellung „realer“, nicht idealisierter Modelle in der Rolle religiöser Gestalten. S. → Nachwort. 79,104 Dante Gabriel Rossetti] (1828–1882), engl. Lyriker u. Maler, Sohn eines Dante-Forschers u. Professor für Ital. am Londoner King’s College. 1841 Eintritt in die Drawing Academy v. Henry Sass (1788–1844). 1847 Eintritt auf Probe in die Royal Academy. 1848 Privatunterricht bei Ford Madox Brown (1821–1893). Ab den 70er Jahren drogenabhängig. R. gilt als treibende Kraft der Präraphaeliten, er dominiert die zweite Phase des Präraphaelitismus u. lenkt die Aufmerksamkeit auf pseudo-mittelalterl. Themen, sowie auf einen bestimmten Typus weibl. Schönheit. Stark v. John Keats (1795–1821) Werk beeinflusst. 79,105 Holman Hunt] William Holman Hunt (1827–1910), engl. Maler. 1842 Aufnahme auf Probe in die Royal Academy. 1848 Ausstellung seines Werkes St. Agnesabend (1848, London, Guildhall Art Gallery), das als erstes präraphaelit. Gemälde überhaupt gilt. Eng befreundet mit John Everett Millais (1829–1896). 79,105 Millais] John Everett Millais (1829–1896), engl. Maler. 1863 Wahl in die Royal Academy. Ende der 1860er Jahre große Popularität u. a. durch Buchillustrationen, Historien-, Genrebilder, Gesellschaftsszenen u. Portraits. Zahlr. intern. Auszeichnungen. 1885 geadelt. 79,107 F. G. Stephens] Eigtl. Frederic George Stephens (1828–1907), 1861–1901 Kunstkorrespondent der Literaturzeitschrift Athenaeum; Mitglied der Präraphaelitischen Bruderschaft. Später Abkehr v. der Malerei u. literar. Tätigkeit. 79,108 James Collinson] (1825–1881), engl. Maler. Entdeckung durch Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) u. Mitglied der Präraphaelitischen Bruderschaft.

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79,108 Thomas Woolner] (1825–1892), engl. Bildhauer. Mitglied der Präraphaelitischen Bruderschaft. W. versucht, die Ziele der Gruppe auch auf die Bildhauerei zu beziehen. 79,108 im Frühling 1849] Ausstellung der Gemälde v. William Holmann Hunt (1827–1910) u. John Everett Millais (1829–1896) in der Royal Academy. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) stellt dagegen ausdrückl. gegen den Willen „der Brüder“ in der jurylosen Free Exhibition aus, um seine antiakadem. Haltung zum Ausdruck zu bringen. – N. unterschlägt die Parteinahme John Ruskins 1851 für die Präraphaeliten, insb. für Millais, die zu einer verstärkten Akzeptanz der Werke führt. 79,125 Burne Jones] Sir Edward Coley Burne-Jones, 1. Baronet (1833–1898), engl. Maler u. Glasmaler, bed.er Zeichner (Bleistift u. Tusche). Vertreter der Präraphaelitischen Bruderschaft. Zusammenarbeit mit William Morris (1834–1896) im Bereich Buchschmuck u. Textildesign. 79,125 Madox Brown] Ford Madox Brown (1821–1893), engl. Maler, wird den Präraphaeliten zugerechnet, gehört aber nicht zur Bruderschaft. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882) nimmt bei ihm ab 1848 Privatunterricht. 80,129 Algernon Charles Swinburne] (1837–1909), engl. Lyriker. Themen wie anti-christl. Einstellungen, Todessehnsucht, Sadomasochismus, lesb. Phantasien. Kontakt zur Präraphaelitischen Bewegung. Berühmt durch die klass. Tragödie Atalanta in Calydon (1865). Skandal wg. Darstellung sadomasochist. Erotik in den radikalen Poems and ballads (1866) (dt., „Gedichte u. Balladen“). Bewunderer Charles Baudelaires (1821–1867) u. Victor Hugos (1802–1885). Höhepunkt der polit. Lyrik in den republikan. Songs before sunrise (1871) (dt., „Lieder vor Sonnenaufgang“) u. Songs of two nations (1875) (dt., „Lieder zweier Nationen“). Als Dramatiker bek. durch die Maria-Stuart-Trilogie Chastelard (1865); Bothwell (1874) u. Mary Stuart (1881). 80,131 F. Hüffer] Francis Hueffer, geb. als Franz Hüffer (1845–1889), dt.-engl. Musiker, Librettist, Kritiker u. Hg. Mütterlicherseits Enkel v. Ford Madox Brown (1821–1893) Vater des Schriftstellers Ford Madox Ford (1873–1939). 80,156 Geist der französischen Enzyklopädisten] Hg. u. Mitarbeiter der großen frz. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, (dt., „Enzyklopädie o. ein durchdachtes Wörterbuch über die Wissenschaften, Künste u. Handwerke“), Paris 1751–1780 unter Leitung v. Denis Diderot (1713–1784) erschienen. Hier als Teil der aufklärer. Philosophie des Rationalismus verstanden, der den Menschen als primär v. Vernunft bestimmt betrachtet. Vgl. auch → 81, 173 u. → 81, 189. 82,223 Friedrich Rothbart] Friedrich I., gen. Barbarossa (um 1122–1190), aus dem Adelsgeschlecht der Staufer. 1147–1152 als Friedrich III. Herzog v. Schwaben. 1152–1190 röm.-dt. König. 1155–1190 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (lat., Sacrum Romanum Imperium). 82,223 Walther von der Vogelweide] (um 1170–um 1230), einer der bedeutendsten deutschspr. Lyriker des Mittelalters. Populär v. a. durch seine Minnelieder.

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Einer der zwölf alten Meister der Meistersinger. Umfangreich überliefertes Werk, zum größten Teil verz. im Codex Manesse (Große Heidelberger Liederhandschrift). 82,224 Voltaire] Eigtl. François Marie Arouet (1694–1778), frz. Schriftsteller u. Philosoph. Gilt als einer der einflussreichsten Autoren der frz. u. europ. Aufklärung (le siècle de Voltaire). Bis 1729 Exil in Großbritannien, Arbeit an den Lettres philosophiques (dt., „Philosphische Briefe“), in denen die liberalen brit. Verhältnisse den Zuständen in Frankreich gegenübergestellt werden. In Essay sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à nos jours (1756) (dt., „Versuch über die allgemeine Geschichte u. über die Sitten u. den Geist der Nationen v. Karl dem Großen bis in unsere Tage“) fordert V. v. der Geschichtsschreibung, durch Quellenstudium u. -kritik n. Exaktheit zu streben. Daneben Autor vieler Theaterstücke, Erzählungen u. geschichtsphilosoph. Werke. Populär ist das Werk „Candide oder der Optimismus“ (frz., Candide ou l’optimisme, 1759), das den dt. Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) u. dessen Lehre v. der besten der denkbaren Welten verspottet. 82,228 Die patriotische Seite der Romantik] Der nationale Gedanke führt dazu, Formschönheit im Gegensatz zur Klassik nicht in der Antike, sondern beispielsweise im tradierten Liedgut des Volkes und des Mittelalters zu suchen; die Sammlung Des Knaben Wunderhorn, die hg. v. Clemens Brentano (1778–1842) u. Achim von Arnim (eigtl. Carl Joachim Friedrich Ludwig von Arnim) (1781–1831) in Heidelberg 1806 erscheint, trägt dem Rechnung wie auch die starke MittelalterRezeption duch die Romantiker, wie sie sich z. B. in der von Ludwig Tieck (1773– 1853) besorgten Anthologie Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, neu bearbeitet und herausgegeben von Ludewig Tieck, mit Kupfern, Berlin 1803, niederschlägt oder auch in Friedrich von Hardenbergs (auch: Novalis, 1772–1801) Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (1802) zeigt. Einige Erzählungen der Spätromantik stehen im Dienst des polit. Selbstverständnisses der Autoren u. zeigen das Ressentiment gegen die Frz. Revolution. Dieser auch als „polit. Romantik“ bez. Strömung werden in der Forschung jene Texte z. B. Joseph v. Eichendorffs (1788– 1857) Das Schloss Dürande (1835), u. Clemens Brentanos (1778–1842) Die Schachtel mit der Friedenspuppe (1835) zugeordnet, in denen die Romantiker auf aktuelle histor. Ereignisse reagieren, v. a. auf die Französische Revolution u. ihre Auswirkungen, die Besetzung Deutschlands durch Napoleon (1769–1821), die wirtschaftl. Depression im Gefolge der österr. u. preuß. Niederlagen gegen Napoleon, sowie die Politik der Restauration n. dem Wiener Kongress 1815. 82,230 Die Brüder Schlegel] August Wilhelm von Schlegel (1767–1845), dt. Literaturhistoriker, Philosoph, Schriftsteller, Übersetzer u. Indologe. Karl Wilhelm Friedrich v. Schlegel (1772–1829), dt. Schriftsteller, Philosoph, Kritiker, Literaturhistoriker u. Übersetzer. Die Brüder Schlegel gelten als Begr. der Jenaer Frühromantik. Karl Wilhelm konvertiert 1808 zum Katholizismus gemeinsam mit seiner Frau Dorothea Friederike (1764–1839), Tochter des Moses Mendelssohn (1729–1786), die zuvor schon wg. ihrer Heirat v. Judentum zum Protestantismus konvertierte.

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82,231 Der Anfang aller Poesie ist] Zitatcollage. 1. „Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen […], für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter]“. Friedrich Schlegel, „Rede über die Mythologie“ (1800); 2. „Die Willkür des Dichters leidet kein Gesetz über sich.“ Friedrich Schlegel, „Äthenäums-Fragment Nr. 116“ (1798). 82,247 „Unser Gottesdienst”] Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (1777–1811), bedeutender dt. Dramatiker, Lyriker, Erzähler u. Publizist. Zitiert aus dem Brief an Wilhelmine von Zenge (1780–1852), Leipzig, v. 21. Mai 1801: „(...) [Nirgends fand ich mich aber tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der katholischen Kirche, wo die größte, erhebenste Musik noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst ist keiner.] Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. [Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Inbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt – Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihn niederzuwerfen, und zu weinen – Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden] (...).“ 83,252 Monstranz] Lat., monstro, dt., „zeigen“. In der Liturgie ein mit Gold u. Edelsteinen verziertes Schaugefäß für eine Hostie. 83,254 Adam Müller] Adam Heinrich Müller (1779–1829), ab 1826/7 Ritter v. Nitterdorf, dt. Philosoph, Staatstheoretiker u. Diplomat. 1805 zum Katholizismus konvertiert. 83,254 Zacharias Werner] Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768–1823), dt. Lyriker u. Dramatiker der Romantik. 1811 zum Katholizismus konvertiert. Ab 1814 kath. Priester u. Prediger. Freundschaft mit E. T. A. Hoffmann (1776–1822). Werke u. a. Die Söhne des Thals, (1803–1804), Das Kreuz an der Ostsee (1806), das Schicksalsdrama Der vierundzwanzigste Februar (1808, Ua. 1810 am Hoftheater in Weimar), Martin Luther oder die Weihe der Kraft. Eine Tragödie, vom Verfasser der Söhne des Thales (1807), Die Weihe der Unkraft. Ein Ergänzungsblatt zur deutschen Haustafel; cum notis variorum, die besser sind als der Text (1814). 83,254 Graf Stolberg] Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg (1750–1819), dt. Lyriker, Übersetzer u. Jurist. 1800 zum Katholizismus konvertiert. 83,259 Um ein Menschenalter] Die Bestimmung des Zeitrahmens epochaler Schulen bleibt stets vage. So beschreibt die dt. Romantik einen Zeitraum v. etwa drei Jz.en (ca. 1800–ca. 1830). Die frz. Romantik setzt ca. 20 Jahre später mit Alphonse Marie Louis Prat de Lamartines (1790–1869) Méditations poétiques (1820) (dt., „Poetische Meditationen“) ein. 83,269 Halbschlummerzeit, die auf Waterloo folgte] Letzte Schlacht Napoleon Bonapartes bei Waterloo am 18. Juni 1815. Ende des Ersten Frz. Kaiserreichs. Ernennung Louis Napoleons zum Kaiser Napoleon III. 1852. Niederlage im Dt.-Frz. Krieg

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u. Absetzung 1870. Ende des Zweiten Kaiserreichs. Es folgt die Dritte Republik. N. meint mit H. vmtl. den Zeitraum zw. 1815 u. 1870. 83,276 Frau von Stael] Anne Louise Germaine, Baronne de Staël-Holstein (1766–1817), frz. Schriftstellerin. 1803–1807 ausgedehnte Reisen n. Weimar, Berlin u. Wien, Zusammentreffen mit führenden Intellektuellen u. Künstlern. 1807 mehrmonatige Italienreise mit ihrem Mentor August Wilhelm Schlegel (1767–1845). Ihre bekannteste Schrift De l’Allemagne (dt., „Über Deutschland“), in der ein idealisiertes kunst-, literatur- u. philosophiebegeistertes Deutschland skizziert wird, prägt die Vorstellung v. Deutschland als dem Land der Dichter u. Denker. 1810 Verbot der Publikation durch die Zensur unter Napoleon, 1813 Veröfftlg. in London, 1815 in Deutschland. 83,277 theils früh ins Französische übersetzten A. W. von Schlegel] Die 1808 in Wien gehaltenen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (publ. 1809– 11) erscheinen 1814 in frz. Übersetzung Cours de littérature dramatique, 2 Bde. 83,287 Victor Hugo] Victor-Marie Hugo (1802–1885), frz. Schriftsteller. Gilt bis heute als produktivster Dichter Frankreichs u. als Begr. der antiklassizist. Ästhetik. 83,287 „Die Burggrafen“] Frz., Les burgraves (1843), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). 83,288 „Cromwell“] (1827), fünfaktiges, romant. Versdrama (Tragödie) v. Victor Hugo (1802–1885). Das Drama gilt wg. des enormen Umfangs lange Zeit als unspielbar u. wird erst 1956 ua. Das Vorwort („Préface de Cromwell“), ein poetolog. Manifest der Romantik, begr. die Bekanntheit dieses Stücks. 83,288 „Maria Tudor“] (1833), Drama v. Victor Hugo (1802–1885), übersetzt v. Georg Büchner (1813–1837). 83,289 „Lucrezia Borgia“] Frz., Lucrèce Borgia (1833), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Vorlage für die Oper Lucrezia Borgia (1833) v. Domenico Gaetano Maria Donizetti (1797–1848). 83,289 „Angelo“] Frz., Angelo, tyran de Padoue (1834), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Vorlage für die Opern Il giuramento (1837) (dt., „Der Schwur“) v. Saverio Mercadante (1795–1870), Der Improvisator (1902) v. Eugen d’Albert (1864–1932) u. La Gioconda (1876) (dt., „Die Mona Lisa”) v. Amilcare Ponchielli (1834–1886). 83,289 „Ruy Blas“] (1838), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Vorlage für die Oper Ruy Blas (1869) v. Filippo Marchetti (1831–1902). 83,289 „Hernani“] Frz., Hernani, ou l’Honneur castillan (1830) (dt., „Hernani o. die kastil. Ehre“), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Die Aufführung löst die „Schlacht um Hernani“ (frz., „Bataille d’Hernani“) v. 25. Februar 1830 aus, einen der größten Theaterskandale in Paris. Während der Ua. kommt es zu verbalen Streitereien u. handfesten Tumulten im Publikum zw. Anhängern des klass. Theaters u. Anhängern einer moderneren Form (Romantiker). H. begr. das frz. romant. Drama. Vorlage für die Oper Ernani (1844) v. Giuseppe Verdi (1813–1901). 83,289 „Marion Delorme“] (1831), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Vorlage für die Oper Marion Delorme (1885) v. Amilcare Ponchielli (1834–1886).

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83,289 „Der König unterhält sich“] Frz., Le roi s’amuse (1832), Drama v. Victor Hugo (1802–1885). Vorlage für die Oper Rigoletto (1851) v. Giuseppe Verdi (1813– 1901). 83,291 „Notre-Dame de Paris“] (1831), (dt., „Notre-Dame v. Paris“), histor. Roman v. Victor Hugo (1802–1885), u. d. Titel „Der Glöckner von Notre Dame” mehrfach verfilmt. 83,292 „Han d’Islande“] (1823), (dt., „Han aus Island“), Roman v. Victor Hugo (1802–1885). 84,293 „Miserables”] Frz., Les Misérables (1862), (dt., „Die Elenden“), Roman v. Victor Hugo (1802–1885). 84,293 „1793“] Frz., Quatre-vingt-treize (1874) (dt., wörtl.: „Dreiundneunzig“), Roman v. Victor Hugo (1802–1885). 84,300 ziselierten und damascirten] Z.: frz., ciseau, dt., „Meißel“. Form der Metallbearbeitung mit Hammer u. Punzen, so dass Linien u. reliefplast. Formen getrieben o. gedrückt werden. – D.: Waffenschmiedekunst, in der mehrere Eisenschichten ineinander u. miteinander verschmolzen werden (Damaszener Klinge). – N. Cellinis Autobiografie (zumindest der v. Goethe übersetzten Version) hat auch dieser „damascirte“ (türk.) Dolche nachgeahmt u. angefertigt. Vgl. → 84, 300. 84,300 das Gift in Benvenuto Cellinischen Bechern] Benvenuto Cellini (1500– 1571), ital. Bildhauer u. Goldschmied des Manierismus. Goethe übersetzt 1798 C.s Biographie u. d. Titel Das Leben des Benvenuto Cellini sehr frei ins Deutsche. 84,306 Theophile Gautiers] Théophile Gautier (1811–1872), frz. Schriftsteller. G. schließt sich 1829 dem Literatenkreis Cénacle an. Zur Ua. v. Hugos Hernani erscheint er in einem provozierenden, weil im Theater unangemessenen, roten Wams – dem „gilet rouge“ – u. beteiligt sich als Claqueur lautstark an den Tumulten (s. „Hernani“ → 83, 289). Ab 1836 als Journalist tätig. Freundschaft mit dem frz. Schriftsteller Gérard de Nerval (eigtl. Gérard Labrunie) (1808–1855). Erste Gedichtsammlung 1830. Turbulentes Leben im Pariser Künstlermilieu, ausgedehnte Reisen n. Italien u. Spanien. G.s Sammlung Émaux et Camées (1852) (dt., „Emaillen u. Schmucksteine“) kündigt künstler. bereits die Bewegung des Parnass an. 84,307 Alfred de Mussets] Alfred de Musset (1810–1857), frz. Lyriker, Epiker u. Dramatiker der Romantik, krisenreiche Liebesbeziehung mit George Sand (1804– 1876). 84,310 wie Herkules in der Thespiden-Nacht] Der Mythologie n. heiratet Herkules auf Attika die fünfzig Töchter des Königs Thespios, die Thespiaden, in einer Nacht u. wird darauf Vater v. fünfzig Söhnen. 84,312 Gladiator] Lat., gladius, dt., „Kurzschwert“: Berufskämpfer im antiken Rom. 84,312 Don Juan] Don Juan (span.) o. Don Giovanni (ital.), archetyp. Verkörperung des Frauenhelden, grundlegender Topos der europ. Dichtung. 84,312 Monte Christo-Vorstellungen] Vollst. frz. Titel Le Comte de MonteCristo: (dt., „Der Graf v. Monte Christo“) zw. 1844 u. 1846 Fortsetzungsroman in

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der Zeitschrift Le Journal des Débats politiques et littéraires (dt., „Zeitschrift für polit. u. literar. Debatten“) v. Alexandre Dumas d. Ä. (1802–1870). Der Held, Edmond Dantès, wird n. der Frz. Revolution auf der Höhe seines berufl. u. privaten Glücks Opfer einer Intrige, verbringt vierzehn Jahre unschuldig in Kerkerhaft im Château d’If, einer Festungsinsel vor der Küste v. Marseille, flieht durch einen selbstgegrabenen Tunnel in die Freiheit u. übt in seiner neu geschaffenen Identität als Graf v. Monte Christo incognito unerbittl. Rache an denen, die sein Lebensglück zerstört haben. 84,314 Wämser] Pl., Sing., Wams. Veralteter Ausdruck für ein Bekleidungsstück in Form einer wattierten Weste. 84,314 spanische Mäntel] Auch „Schandmantel“ o. „Schandtonne“. Aus Holz gefertigtes, innen mit Blech ausgeschlagenes Instrument für Ehrenstrafen. 84,316 Bratenrocks] Im 19. Jh. scherzhafte Bez. für einen Gehrock (eine doppelreihige knielange Jacke aus dunklem Tuch für Herren), da diese zu festl. Anlässen getragen wird. 84,319 In England waren die Geschicke der Romantik] N.s Rezeption der engl. Romantik bezieht sich v. a. auf das maler. Œuvre v. William Blake (1757–1827), vornehml. Darstellungen myst. Visionen. Joseph Mallord William Turners (1775– 1851) dramat. Landschaften dagegen sind eher als Träger v. Seelenzuständen zu bez. 85,343 die Beda uns in seiner Erzählung von König Edwins Bekehrung] Die Bekehrung König Edwins (um 584–632/3) durch den Heiligen Paulinus (bis 644) wird v. dem Benediktinermönch Beda Venerabilis (672/673–735) in der Historia Ecclesiastica gentis Anglorum (1. Drittel des 8. Jh.s) (dt., „Kirchengeschichte des Volkes der Engländer“) als Musterbeispiel für Königsbekehrungen dargestellt. 85,345 G. Freytag] Gustav Freytag (1816–1895), dt. Literaturwissenschaftler u. Schriftsteller des Bürgerlichen Realismus (Soll und Haben, 3 Bde., 1855; Die Ahnen, 6 Bde., 1872–1880). Bilder aus der deutschen Vergangenheit (4 Bde., 1859–1867) gilt als eines der beliebtesten dt. Geschichtswerke des 19. Jh.s (32 Auflagen), Die Technik des Dramas (1863) ist bis heute ein literaturwiss. Werk ersten Ranges. In der Schrift Der Streit über das Judentum in der Musik wendet F. sich gegen den Antisemitismus Richard Wagners (1813–1883). Kritiker weisen F. in Soll und Haben antisemit. Tendenzen nach. 85,346 H. Taine] Hippolyte Adolphe Taine (1828–1893), frz. Kunsttheoretiker u. Kulturphilosoph. Mitarbeiter der beiden damals bedeutendsten wissenschaftl. Zeitschriften Frankreichs, der Revue des Deux Mondes (dt., „Zeitschrift der zwei Welten“) u. dem Journal des Débats politiques et littéraires (dt., „Zeitschrift für polit. u. literar. Debatten“). Mitglied der Académie française (1878). Rezeption u. Verbreitung seiner Theorien durch die Naturalisten. T. versteht den Menschen als determiniert durch Vererbung, Milieu u. histor. Situation („race“, „milieu“, „temps“). 85,358 Induktionsphilosophie] Lat., induco, dt., „hineinführen”. Methode, bei der v. Besonderen o. Einzelnen auf etwas Allgemeines, Gesetzmäßiges geschlossen

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wird. Des Weiteren könnte N. auch auf John Stuart Mills (1806–1873) Hauptwerk A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation (1843) (dt., „System der deduktiven u. induktiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre u. der Methoden wissenschaftlicher Forschung“) verweisen. Mill behauptet darin, dass alle deduktiven Wissenschaften induktive sind (Kapitel 4–7 im zweiten Buch). 85,359 Spiritismus] Lat., spiritus, dt., „Geist“. Bez. eine moderne Form der Geisterbeschwörung, insbes. der Totenbeschwörung, bei der sich die Toten sinnl. bemerkbar machen sollen. S. → Nachwort. 85,359 Lord Bacon] Francis Bacon, auch Lordkanzler Baron Baco von Verulam (1561–1626), engl. Philosoph u. Staatsmann. Gilt als Wegbereiter des Empirismus. 85,359 Harvey] William Harvey (1578–1657), engl. Arzt u. Anatom. Entdecker des Blutkreislaufs; Pionier der modernen Physiologie. 85,359 Newton] Sir Isaac Newton (1643–1727), engl. Naturforscher u. Philosoph. Formuliert in der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (dt., „Mathemat. Prinzipien der Naturphilosophie“) Gravitations- u. Bewegungsgesetze als Grundlage der klass. Mechanik. 85,360 Locke] John Locke (1632–1704), engl. Philosoph. L. repräsentiert mit George Berkeley (1685–1753) u. David Hume (1711–1776) das Zeitalter der brit. Aufklärung u. des Empirismus, einer erkenntnistheoret. Richtung, welche aufgrund v. Sinnes-Erfahrungen Erkenntnisse ableitet. 85,360 F. St. Mill] John Stuart Mill (1806–1873), liberaler engl. Philosoph u. Ökonom. Formuliert das „Freiheitsprinzip“ des Individuums, das vom Staat nur bei drohender Gefahr eingeschränkt werden darf. M. gilt als Begr. des Utilitarismus; seine Werke zählen zu den Grundlagen der klass. Nationalökonomie. 85,360 Bunyan] John Bunyan (1628–1688), engl. Baptistenprediger u. Schriftsteller. Da B. sich nicht der anglikan. Staatskirche unterstellt, wird er für Jz.e seines Lebens inhaftiert. B. schreibt den Klassiker The Pilgrim’s Progress from This World to That Whish is to Come (1678) (dt., „Die Pilgerreise zur seligen Ewigkeit”), ein christl. Erbauungsbuch. 85,360 Berkeley] George Berkeley (1685–1753), irischer anglikan. Theologe u. Philosoph der Aufklärung u. des Empirismus. Die Hauptlinie der engl. Philosophie im 18. Jh. verläuft v. John Locke (1632–1704) über George Berkeley (1684–1753) zu David Hume (1711–1776). Berkeley bestimmt die Beziehungen zw. Bewusstsein, Erkenntnis u. Außenwelt neu mit der lat. Problemformel esse est percipi (dt., „Sein ist Wahrgenommen-Werden“) u. erläutert dies insbesondere in seinem Hauptwerk „Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“ (A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, 1700, 1734). Materie lässt sich nicht denken ohne ein Bewusstsein, das sie als Gegenstand („idea“) wahrnimmt. 1734 Veröfftlg. einer krit. Betrachtung der Grundlagen der Wissenschaft The analyst: or a discourse addressed to an infidel mathematician (dt., „Der Analytiker: o. ein Diskurs an einen ungläubigen Mathematiker“).

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85,360 Milton] John Milton (1608–1674), brit. Dichter u. Staatsphilosoph der Aufklärung. Seine Schrift Areopagitica: A Speech of Mr. John Milton for the liberty of unlicens’d printing. To the Parlament of England (1644) (dt., „Areopagitica. Eine Rede v. Mr. John Milton für die Freiheit v. Vorzensur. An das Parlament v. England“) ist ein Plädoyer gegen die Zensur, die er mit der Inquisition gleichstellt. 85,360 Puritaner] Anhänger der Puritanismus. V. 16. bis 18. Jh. Bewegung im heutigen Großbritannien u. in den Vereinigten Staaten, die für Reformen der Kirche n. calvinist. Grundsätzen eintritt. Der Name leitet sich aus dem Engl., „to purify“, dt., „reinigen“, ab u. bezieht sich auf das Anliegen der Reformer, die Kirche v. röm.-kath. Lehren zu reinigen. 85,361 Quäker] Anhänger des Quäkertums; Mitglieder der Religious Society of Friends (dt., „Religiöse Gesellschaft der Freunde“) im England des 17. Jh.s; eschatolog. Erweckungsbewegung. Die Bez. ist abgeleitet v. urspr. Spottnamen für die Mitglieder (engl., „to quake“, dt., „beben“, „zittern“), vmtl. infolge der ihnen zugeschriebenen bes. Gottesfürchtigkeit. 86,381 Oxforder Bewegung] Engl., Oxford movement. Bez. die Bemühungen innerhalb der anglikan. Kirche, kath. Dogmen u. frühkirchl. Ausrichtungen vermehrt Geltung zu verschaffen (Anglokatholizismus). 86,381 Wyseman] Nicholas Patrick Stephen Kardinal Wiseman (1802–1865), engl. kath. Theologe, erster röm.-kath. Erzbischof u. Kardinal in England n. der Reformation. 86,382 Newman] John Henry Kardinal Newman (1801–1890), Pfarrer an der Universitätskirche in Oxford u. Dozent der Theologie in der Kirche v. England; Konversion zur röm.-kath. Kirche. Am 19. September 2010 v. Papst Benedikt XVI. selig gesprochen. 86,383 Pusey] Edward Bouverie Pusey (1800–1882), engl. Theologe u. Initiator einer streng katholisierenden Ausrichtung in der engl. Hochkirche, des n. ihm benannten Puseyismus. 86,385 „Revival-“Versammlungen] Engl., „revival“, dt., „Wiederbelebung“, „Erneuerung“; „Erweckung“. Auch „Christian Revival“. Protestant. Erneuerungsbewegung n. einer als Phase des Niedergangs empfundenen Zeit. Historiker unterscheiden mehrere Phasen solch religiöser Begeisterung, v. denen die zweite Phase in den v. N. genannten Zeitraum fällt. Im amerik. Raum als „Great Awakening“ bez. 86,386 Heilsarmee] 1865 ruft William Booth (1829–1912) die Christian Revival Association, (dt., „Christl. Erweckungsgesellschaft“) ins Leben, die sich ab 1870 Christian Mission (dt., „Christl. Mission“) nennt. Ziel ist, das Evangelium in Versammlungen u. Gottesdiensten vor verrufenen Kneipen, auf öffentl. Plätzen, Straßen u. in Gassen zu verkünden. Um die Arbeit effektiver gestalten zu können, nimmt die Missionsbewegung paramilitär. Züge an. 1878 erhält die Organisation den Namen The Salvation Army (dt., „Die Heilsarmee“). 86,404 Quattrocento-Malern] Ital., „quattrocento“, dt., „vierhundert“, ital., „millequattrocento“, „1400“. Kunsthistor. die Zeit der Frührenaissance in Italien.

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86,405 John Ruskin] (1819–1900), engl. Schriftsteller, Sozialphilosoph, Kunsthistoriker u. Maler. 1843–1860 Veröfftlg. des mehrbd. Werkes Modern Painters, in dem R. naturgetreue Wiedergabe fordert. Ab 1869 Professor in Oxford für Kunstgeschichte. Besondere Bedeutung sieht R. im „Evangelium der Schönheit“, worunter er eine Kombination v. Politik, Wirtschaft u. Kunst versteht. R. vertritt den Anspruch, handwerkl. Arbeit als schöpfer. Wert zu betrachten u. verteidigt die Präraphaeliten 1851 in zwei Leserbriefen in der Times, deren neue, exakte Malweise (Truth of nature) er mit derjenigen v. Albrecht Dürer (1471–1528) vergleicht. 86,410 Großinquisitoren] Auch „Generalinquisitoren“. Im Mittelalter Vertreter der kirchl. Inquisition mit besonderen territorialen Befugnissen u. ab dem 13. Jh. Vorsteher der Inquisition für ein Land. 86,410 Torquemada] Tomás de Torquemada (1420–1498), span. Dominikanermönch, erster Großinquisitor Spaniens. 87,429 Milton in der Beschreibung der Hölle] John Milton (1608–1674) veröfftl. 1667 Paradise Lost (dt., „Das verlorene Paradies“), ein episches Gedicht in Blankversen, das die Geschichte der Versuchung v. Adam u. Eva durch den Teufel, des Sündenfalls, der Vertreibung aus dem Garten Eden u. des apokalypt. Höllensturzes der Engel erzählt. 87,431 „Zug des Pilgers“] Zweibändiges Werk The Pilgrim’s Progress from This World to That Whish is to Come (1678/84) (dt., „Die Pilgerreise zur seligen Ewigkeit“) v. John Bunyan (1628–1688). 87,433 Kapitäns Cook] James Cook (1728–1779), engl. Seefahrer; berühmt wg. seiner drei Seereisen in den Pazif. Ozean, auf denen er zahlr. Inseln entdeckt u. kartographiert. 87,433 Burton] Sir Richard Francis Burton (1821–1890), engl. Orientalist, Afrikaforscher u. Übersetzer; Mitglied der Royal Geographical Society (RGS) in London. 87,438 „Modern Painters“] 1843–1860 erschienenes Werk v. John Ruskin (1819–1900), vgl. → 86, 405. 87,440 Scholastik] Lat., scholasticus, dt., „schulisch“, „rhetorisch“. Wissenschaftl. Denkweise u. Methode der theolog. Beweisführung in der lateinischspr. Gelehrtenwelt des Mittelalters. 87,440 „Magd der Gottesgelahrtheit“] N. verweist hier auf die alte Scholastik, die im Zuge ihrer Entwicklung v. 11. bis zum 15. Jh. v. a. durch die reziproke Beziehung v. Religion u. Philosophie geprägt ist. Urspr. stellt die Scholastik eine rationale Beschäftigung mit dem christl. Glauben dar. Diese krit. Auseinandersetzung mit dem Christentum stößt bei Kirchenvertretern auf Widerstand. Während die Scholastiker auf eine gewissermaßen unvoreingenommene Betrachtung der Dinge aus sind, sieht die christl. Tradition die Philosophie als der Religion stets untergeordnete Disziplin an, als eine, wie auch N. sie nennt, Magd der Gottesgelahrtheit. In philosoph. u. anthropolog. Forschungsliteratur ist diese Metapher verbreitet, vgl. hier insbes. Kant: „Auch die Theologie muß sich von der Philosophie kontrollieren und kritisieren lassen, wenn sie (als Fakultät) auch nicht selbst philoso-

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phisch verfährt. Man kann allenfalls der theologischen Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen, wobei doch noch immer die Frage bleibt, ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt, wenn man sie nur nicht verjagt oder ihr den Mund zubindet.“ (Rudolf Eisler, Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften/Briefen und handschriftlichem Nachlaß, 2008, 533 [online-Version]). 88,464 Cimabue] Eigtl. Cenni di Pepe (um 1240–um 1302), ital. Maler u. Mosaizist; einer der wichtigsten Vertreter der mittelalterl. Malerei in Europa. 88,464 Giotto] Eigtl. Giotto di Bondone (um 1266–1337), ital. Maler, Architekt u. Mosaizist. Arbeiten u. a. in Rom (Hochaltar St. Peter), Neapel, Mailand u. insbes. in Padua u. Florenz. Einrichtung einer großen Werkstatt, um alle anstehenden Aufträge erfüllen zu können. Kontakte zu den humanist. Kreisen Paduas. 88,481 Fra Angelicos] Fra Angelico (auch bek. als Beato Angelo, dt., „der gesegnete Engelsgleiche“), geb. als Guido da Pietro (zw. 1386 u. 1400–1455), ital. Maler; Einflüsse got. Meister, aber auch durch Maler der Frührenaissance, z. B. Massaccio (1401–1428); 1423 Nachweis der Mitgliedschaft im Dominikanerorden in Fiesole. In der Folgezeit Arbeiten (Fresken etc.) in verschiedenen Klöstern. Arbeiten im Auftrag der Medici u. Strozzi, sowie in Rom für die Päpste Eugen IV. (1383– 1447) u. Nikolaus V. (1397–1455). 88,482 Ghirlandajos] Domenico Ghirlandaio, eigtl. Domenico di Tommaso Curradi di Doffo Bigordi (1449–1494), florent. Maler der Frühenaissance. Neben Sandro Botticelli (1445–1510) führende Persönlichkeit unter den Florentiner Malern. Zu den bekanntesten Werken G.s zählt seine Beteiligung an der Ausschmückung der Wandgemälde der Sixtinischen Kapelle im Vatikan, bei der er mit Sandro Botticelli (1445–1510), Luca Signorelli (ca. 1441–1523) u. Perugino (um 1445/48– 1523) zusammenarbeitet. Am Ende seiner Schaffenszeit befasst sich Ch. hauptsächl. mit der Mosaiktechnik. 88,482 Pollajuolos] Antonio Pollaiuolo, eigtl. Antonio di Jacopo d’Antonio Benci (um 1432–1498), ital. Maler, Kupferstecher u. Bildhauer. P. gilt als einer der vielseitigsten u. einflussreichsten Künstler in Florenz in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s. P. richtet sein Augenmerk als Maler auf die Anatomie der dargestellten Körper u. deren Bewegungsabläufe. 89,523 Mona Lisa des Lionardo] La Gioconda (dt., „Die Heitere“), entstanden um 1503–1506, ben. n. der Florentiner Kaufmannsgattin Lisa del Giocondo. Berühmtestes Gemälde Leonardo da Vincis (1452–1519). – L.: Ital., Leonardo da Vinci (eigtl. Leonardo di ser Piero, auch Lionardo) (1452–1519), ital. Maler, Bildhauer, Architekt u. Universalgelehrter. 89,530 im Stile von Neu-Ruppin] Neu-Ruppin, nordwestl. v. Berlin gelegene, brandenburg. Stadt. 1787 durch einen Brand fast völlig zerstört; 1787–1803 konsequenter Wiederaufbau n. einem Grundriss im frühklassizist. Stil. 90,548 Schilderei] Eigtl. Bemalung eines Schildes, bez. ein zur Ausschmückung dienendes größeres Gemälde i. S. v. Reklametafel.

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90,548 Hieroglyphe] Gr., ἱερός, dt., „heilig“, gr., γλυφή, dt., „Eingegrabenes“; Bilderschrift. 90,548 demotische Schrift] Gr., δημοτικός, dt., „volkstüml.“; eine aus dem Hieratischen abgeleitete, etwa 650 v. Chr. bis 450 n. Chr. im Alten Ägypten v. rechts n. links geschriebene Schrift. Auf dem 196 v. Chr. entstandenen Stein v. Rosette ist eine Dankadresse des Priesterkollegiums v. Memphis an König Ptolemaios V. (210 v. Chr.–180 v. Chr.) in drei Schriften (Altgr., Demotisch, Hieroglyphen) eingemeißelt; anhand dieses Steins entziffert der frz. Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion (1790–1832) 1822 die Hieroglyphen. 90,550 die Schriftgelehrten von Theben] Th.: ägypt. Stadt am Nil. N. bezieht sich hier vmtl. auf das Theban. Alphabet (auch Engelsschrift, Engelsalphabet, Alphabet des Honorius o. Hexenalphabet), ein Schriftsystem unbek. Herkunft. Erwähnung durch Agrippa v. Nettesheim (1486–1535) in den Libri tres de occulta philosophia (dt., „Drei Bücher der verborgenen Philosophie“). 91,586 Cinquecentisten] Ital., „cinquecento“, dt., „fünfhundert“. Bez. für die ital. bildenden Künstler u. Schriftsteller des 16. Jh.s (Raffael, Michelangelo, Tizian, Benvenuto Cellini, etc.). 93,689 Armenbibel] Auch Biblia pauperum. Bilderbibel des späten Mittelalters mit Szenen aus dem Neuen Testament, die v. Szenen aus dem AT umrahmt sind, so dass auf jedes Ereignis im NT ein (o. mehrere) Ereignisse des AT.s vorausdeuten (Typus u. Antitypus). Der Begriff „Armenbibel“ bezieht sich auf die ärmeren Geistlichen, die sich keine vollständige Bibel leisten konnten, u. die Armen, denen die Heilsgeschichte bildl. veranschaulicht wurde. 93,692 Villons] François Villon (1431–ca. 1463), geb. vmtl. unter dem Namen François de Montcorbier o. François des Loges. Bedeutendster frz. Dichter des Spätmittelalters. In seinen satir. Balladen u. parodist. Testamenten thematisiert er eindrucksvoll Hoffnung, Liebe, Hass, Enttäuschung u. Tod. 93,697 „Ballade“] Ausschnitt aus François Villons (1431–ca.1463) Gedichtsammlung Le Testament (dt., „Das Testament“). N. gibt die dritte Strophe eines urspr. titellosen, in der Übersetzung v. Carl Fischer (François Villon: Sämtliche Werke. Zweisprachige Ausgabe. Hg. u. aus dem Frz. übersetzt v. Carl Fischer. 2. revidierte Auflage, München 2002, 99) allerdings mit „Ballade als Gebet an die himmlische Jungfrau“ übertitelten Gedichts wieder. „Ich dummes armes altes Weib auf Erden, / ich laß die ganze Lesekunst dahin. / In meiner Kirche will zum Trost mir werden / das Bild vom Paradis mit Harfen drin / und das der Hölle für den Sündensinn: / hier wär mir Heil beschieden, dort die Qual. / Gib, hohe Göttin, Freuden allzumal, / der Sünder muß um deine Gnade werben / in Zuversicht ohn Falsch und Fehl und Fall: / dran glaube ich im Leben und im Sterben. //“ 94,721 Holman Hunts „Todessschatten“] William Holman Hunts (1827–1910) Gemälde Shadow of Death (dt., „Schatten des Todes“), entstanden 1870–1873, heute Manchester City Art Gallery, Manchester. 95,752 Ed. Rod] Édouard Rod (1857–1910), französischspr. Autor aus der Schweiz, stark v. Arthur Schopenhauer (1788–1860) beeinflusst.

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95,758 Carbonaro] Mitglied der Carbonari; wichtiger Geheimbund, der an der ital. Einigungsbewegung des Risorgimento in den ital. Staaten des 19. Jh.s beteiligt ist. 95,767 „The blessed damozel“] (dt., „Das selige Mädchen“), eines der berühmtesten Gedichte Dante Gabriel Rossettis (1828–1882), 1850 in der v. der „Präraphaelitischen Bruderschaft“ hg. Zeitschrift The Germ (dt., „Der Keim“) erstmals veröfftl. Illustration des Gedichtes durch den Autor 1875–1878 (heute im Fogg Museum of Art, Harvard University, Cambridge, Massachusetts). 95,780 „Purgatorio“] Der Läuterungsberg; zweites der drei Reiche aus Dante Alighieris (1265–1321) La Divina Commedia (dt., „Göttliche Komödie“) (um 1307 begonnen). 95,780 „Manibus o date lilia plenis“] Dt., „Bringt Lilien ihm mit gefüllten Händen“. Urspr. aus der Aeneis des Vergil, Aeneis, 6, 880ff. Dante verwebt diesen Vers in der Divina Commedia mit dem sakralen Begrüßungswort des Hohen Liedes (dt., „Benedictus qui venis“), um Beatrice zu verherrl.: „’Benedictus qui venis,’ riefen alle / U., ringsumher u. drüber Blumen streuend, / ’Manibus o date lilia plenis’.“ 95,781 anglonormännischen] Anglonormann. Sprache (romanz, franceis o. fraunceis), roman. Sprache der normann. Oberschicht n. der Eroberung Englands im Jahre 1066. 95,781 „damozel“] Mittelengl., v. altfrz., „damoiselle“, dt., „junges Mädchen“. 96,810 Uhland singt das „Lob des Frühlings“] Ludwig Uhland (1787–1862), dt. Lyriker. „Lob des Frühlings“ (1811). 97,859 „clings“] Engl., „to cling“, dt., „klammern“, „festhalten“. 98,889 Zähren] Veraltet für „Tränen“. 98,914 Thomas von Aquino] Thomas von Aquin (um 1225–1274), ital. Theologe, Dominikanermönch, Philosoph u. Kirchenlehrer, studiert bei Albertus Magnus (um 1200–1280) in Paris u. Köln. Bed. Vertreter der Scholastik, deren Denken er nachhaltig prägt. 98,915 doctor angelicus] Lat., dt., „engelsgleicher Lehrer“, Ehrentitel v. Thomas von Aquin. 98,918 Häckels Natürliche Schöpfungsgeschichte] Ernst Heinrich Philipp August Haeckel (1834–1919), dt. Zoologe, Anatom u. Philosoph; macht die Theorien v. Charles Darwin in Deutschland populär u. baut sie zu einer allgemeinverständl. Abstammungslehre aus. Hauptwerke: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft (1868); Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie (1899). 99,920 Molekel] Altern. Bez. zu „Molekül“, v. lat., moles, dt., „Masse“. Teilchen, das durch eine chem. Verbindung zusammengehalten wird, in verschiede-

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nem Grade Stabilität aufweist u. aus mindestens zwei gleichartigen o. aus ungleichartigen Atomen besteht. 99,923 Helmholtz] Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821–1894), dt. Physiker u. Physiologe; 1847 Formulierung des „Energieerhaltungssatz(es)“ (Über die Erhaltung der Kraft); 1852 Messung der Geschwindigkeit v. Nervenreizen. 1882/ 3 Beschäftigung mit der Thermodynamik chem. Vorgänge. 1850 Erfindung des Ophthalmoskops (Augenspiegel) zur Untersuchung der Retina (dt., „Netzhaut“) u. des Augenhintergrundes; 1851 Erfindung des Ophthalmometers zur Bestimmung der Krümmungsradien der Cornea (dt., „Augenhornhaut“); 1857 Entwicklung des Telestereoskops. 1863 Publ. der Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. 99,923 William Thompson] (1775–1833), engl. Philosoph u. Sozialreformer. Einfluss auf Karl Marx (1818–1883). 99,929 Hader] Veraltet für „Streit“, „Zwietracht“, „Zwist“. 99,944 Kehrreime] Wiederholung v. textl. oder musikal. überwiegend ident. Versen bzw. Zeilen o. Melodiefolgen am Schluss einer Strophe o. zw. zwei Strophen. 99,951 Armensünderblume] Wiss., Cichorium intybus, dt., „Wegwarte“. Heilpflanze aus der Familie der Korbblütler, himmelblaue zarte Blüten, wächst bevorzugt an Wegrändern. Volkstüml. „Arme-Sünder-Blume“. 99,951 Heines Gedicht „Am Kreuzweg wird begraben“] Christian Johann Heinrich Heine (1797–1856), dt. Lyriker u. Journalist; Gedicht Nr. LXII im Zyklus Lyrisches Intermezzo (1823) u. im Buch der Lieder (1827): „Am Kreuzweg wird begraben / Wer selber sich brachte um; / Dort wächst eine blaue Blume, / Die Armesünderblum’. / Am Kreuzweg stand ich und seufzte; / Die Nacht war kalt und stumm. / Im Mondschein bewegte sich langsam / Die Armesünderblum.“ 100,961 „Troy town“] (dt., „Die Stadt Troja“); Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882); geschrieben im Sommer 1869; veröfftl. 1870 in Rossettis Gedichtband Poems. Kehrreim „O Troy’s down, Tall Troy’s on fire!“ (dt., „Oh, Troja ist gefallen, das hoch gewachsene Troja brennt!“). 101,1003 „Eden bower“] (dt., „Eden“); Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828– 1882); begonnen im August 1869; erstmals veröfftl. 1870 in Rossettis Gedichtband Poems. 101,1015 „Stratton water“] (dt., „Stratton-Flut”); Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882); entstanden 1854; erstmals veröfftl. 1870 in Rossettis Gedichtband Poems. 101,1016 „My sister’s sleep“] (dt., „Der Schlaf meiner Schwester”); Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882); entstanden 1847; erstmals gedruckt in der 29. Ausgabe v. The New Monthly Belle Assemblée: A Magazine of Literature and Fashion (dt., „Die neue monatl. schöne Versammlung: Ein Magazin für Literatur u. Mode“) im September 1848. Im Januar des Jahres 1850 wird es in der Zeitschrift The Germ (dt., „Der Keimling“) u. d. Titel „Songs of One Household No. 1“ (dt., „Lieder eines Haushalts Nr. 1“) erneut abgedruckt, bevor es in Rossettis Gedichtband Poems 1870 aufgenommen wird.

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101,1022 „A new years burden“] „A New-Year’s Burden“ (dt., „Die Last eines neuen Jahres”), Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882), 1870 erstmals im Gedichtband Poems veröfftl. 101,1023 „Beauty“] (dt., „Schönheit“); Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882); veröfftl. im Gedichtband Poems (1870). 101,1027 „The song of the bower”] (dt., „Das Lied der Gartenlaube“); auch „Bocca Baciata“ betitelt, Gedicht v. Dante Gabriel Rossetti (1828–1882). Ebenfalls Titel eines Gemäldes v. Rossetti. Heute werden Gedicht u. Bild oftmals als zusammenhängendes u. -gehörendes Werk betrachtet. Wahrscheinl. entsteht das Gedicht sogar erst n. der Vollendung des Gemäldes. Datierung des Gedichts deswegen auf 1860, des Gemäldes (heute Museum of Fine Arts, Boston) auf 1859. 102,1059 „Diabolismus“] Substantiv. Ableitung v. „diabolisieren”; gr., δɩάβολος, dt., „Teufel“. Teilsynonym mit „Satanismus“. In der Literatur auch verwendet als Bez. für die Darstellung des Grausamen, Bösen u. Hässl. S. → Nachwort. 102,1060 Baudelaire] Charles Baudelaire (1821–1867), frz. Schriftsteller, v. a. Lyriker. Hauptwerk Les Fleurs du mal (dt., „Die Blumen des Bösen“), eine Gedichtsammlung, die in der Zeit v. 1857 bis 1868 entsteht. Starke Wirkung u. a. auf Paul Verlaine (1844–1896), Stéphane Mallarmé (1842–1898) u. Jean Nicolas Arthur Rimbaud (1854–1891) in Frankreich u. Stefan George (1868–1933) in Deutschland. 102,1066 „A Christmas carol“] (dt., „Ein Weihnachtslied”); Gedicht v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), 1866 veröfftl. in Poems and Ballads, First Series. Angeregt wohl durch ein Gemälde Dante Gabriel Rossettis mit gleichem Titel. 102,1066 „Three damsels in the Queen’s chamber …“] (dt., „Drei Fräulein im Zimmer der Königin”). Zitat des Eingangsverses v. „A Christmas Carol“ (1866) v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909). 103,1082 „The masque of queen Bersabe“] Vollst. Titel „The masque of queen Bersabe“ – A Miracle Play“: (dt., „Ein Aufzug v. Königin Bersabe. Ein Mysterienspiel“). Gedicht v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), 1866 veröfftl. in Poems and Ballads, First Series. 103,1083 Mirakel-Spiel] Lat., miraculum, (dt., „Wunder“); frz. Bez. für ein geistl. Drama aus dem 11. bis 18. Jh., das seinen Stoff einer Legende entnimmt; entspricht dem dt. Legendenspiel. 103,1087 „Anactoria“] Gedicht v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), 1866 veröfftl. in Poems and Ballads, First Series. 103,1096 „Before dawn“] (dt., „Vor Tagesanbruch“); Gedicht v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), 1866 veröfftl. in Poems and Ballads, First Series. 103,1101 „Des Königs Tochter“] „The King’s Daughter“; Gedicht v. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), 1866 veröfftl. in Poems and Ballads, First Series. 105,1168 Wenn Heine singt] Bezug auf das um 1832 entstandene Gedicht „Seraphine XIV“ aus der Sammlung Neue Gedichte v. Heinrich Heine (1797–1856). 105,1201 Zolas „Assommoir“] (dt., „Der Totschläger“), Roman v. Emile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1876. Vgl. ausführl. → 479, 672.

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105,1204 in Ibsens „Gespenstern“] Norweg., Gengangere. Et familjedrama i tre akter, Drama v. Henrik Ibsen (1828–1906). Vgl. → 339, 48. 106,1213 Schüler Chaucers] Geoffrey Chaucer (um 1343–1400), engl. Schriftsteller, berühmt geworden als Verfasser der Canterbury Tales (ca. ab 1387) (dt., „Die Canterbury-Erzählungen“). 106,1214 Francesca und Paolo-Episode] Italiens berühmtestes Liebespaar des 13. Jh.s, Francesca da Rimini, geb. da Polenta (1255–1285), u. Paolo Malatesta (um 1246–1285). Dante Alighieri (1265–1321) lässt Francesca u. Paolo in der La Divina Commedia (dt., „Göttliche Komödie“) im Inferno V (Fünfter Höllengesang) büßen. 106,1215 „Guenevere“] The Defence of Guenevere (1858) (dt., „Die Verteidigung Guineveres“); Gedicht bzw. gleichnamige Sammlung v. 30 Gedichten, v. William Morris (1834–1896). 106,1225 „Earthly Paradise“] Urspr. ein in den 1860er Jahren begonnenes buchkünstler. Großprojekt v. William Morris (1834–1896). Geplanter Zyklus v. 24 Geschichten (zwei für jeden Monat) in Anlehnung an mittelalterl. Textsammlungen wie die Canterbury Tales v. Geoffrey Chaucer (um 1343–1400). Als Illustrator kann Morris den Maler Edward Burne-Jones (1833–1898) gewinnen. Dieser soll für den Zyklus ca. 500 Zeichnungen u. Illustrationen anfertigen. Dazu kommt es nie. Der Text erscheint unillustriert (nur ein Holzschnitt wird beigefügt) in den Jahren 1868 bis 1870. 106,1239 „Canterbury tales“] S. → 106, 1213. 106,1242 ein so gesunder Dichter wie Tennyson] Alfred Tennyson, Erster Baron Tennyson (1809–1892), engl. Lyriker. T.s Gedichte thematisieren oft die engl. Mythologie u. Geschichte. T. wird N.s Einschätzung zum Trotz v. der „Präraphaelitischen Bruderschaft“ als Vorlage genutzt. 107,1248 „poet laureate“] Lat., poeta laureatus, dt., „lorbeergekrönter Dichter“. 107,125 „Idylls of the kings”] Eigtl: Idylls of the king. Gedichtzyklus v. Alfred Tennyson, 1. Baron Tennyson (1809–1892) über die Artus-Sage (engl., „King Arthur“) (1856–1885).

III. Die Symbolisten. 108,11 Erfolg-Flibustier] Urspr. wohl abgel. aus ndl., „vlieboot“, dt., „leichtes, zweimastiges, niederl. Handelsboot“, daraus ndl., „vrijbuiter“, dt., „Freibeuter“ als Bez. für Piraten, die im 18. Jh. die Karibik unsicher machen. Dann frz. „filibustier“, dann span. „filibustero“. N. meint hier den Filibuster: Im Senat der Vereinigten Staaten wird als Filibuster die Taktik einer Minderheit bez., durch Dauerreden eine Beschlussfassung durch die Mehrheit zu verhindern o. zu verzögern. Der Filibuster geht auf die röm. Tradition der Ermüdungsrede zurück. 108,13 Quai St. Michel] Quai Saint-Michel; an der Seine gelegene Flaniermeile gegenüber der Île de la Cité zw. Pont Saint Michel u. Petit Pont.

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108,17 Emile Goudeau] Émile Goudeau (1849–1906), frz. Romancier u. Journalist, Initiator des literar. Clubs Les Hydropathes (dt., „Hydropathen“), gründet mit Rodolphe Salis (1851–1897), frz. Maler u. Graphiker, der als Inhaber des Kabaretts Le Chat Noir (dt., „Die schwarze Katze“) am Montmartre bek. wird, das erste literar. Kabarett („cabaret artistique“). 108,19 Maurice Rollinat] (1846–1903), frz. Lyriker; Mitglied des Zirkels Les Hydropathes; Erfolg u. Popularität durch die makabren Gedichte Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“), in der Faszination für Tod u. Verwesung dominieren. Der frz. Schriftsteller Jules Amédée Barbey d’Aurevilly (1808–1889) begrüßt die Ernsthaftigkeit u. die Tiefe dieses „Diabolismus“. Die späteren Werke oszillieren zw. satan. Inspiration wie L’Abîme (1886) (dt., „Der Abgrund“), Les Apparitions (1896) (dt., „Die Erscheinungen“) u. folklorist. Tendenzen wie z. B. Paysages et paysans (1899) (dt., „Landschaften u. Bauern“). 108,21 „die Hydropathen“] Gr., ὕδωρ, dt., „Wasser“, sowie gr., πάθη‚ dt., „Leid“, „Schmerz“, „Affekt“. Hydropathie: Fachbegriff aus der Biologie, der die Eigenschaft v. Molekülen beschreibt, entweder hydrophob (wassermeidend, gr., ὕδωρ, dt., „Wasser“ u. gr., φόβος, dt., „Furcht“), hydrophil (wasserliebend, gr., ὕδωρ, dt., „Wasser“ u. gr., φίλος, dt., „Freund“) o. amphiphil (sowohl wassermeidend als auch -liebend, gr., ἀμφί, dt., „auf beiden Seiten“ u. gr., φίλος, dt., „Freund“) zu sein. Hier: der v. Émile Goudeau (1849–1906) gegr. Literaturzirkel Les Hydropathes, deren Mitglieder vorgeben, den Anblick des Wassers zu scheuen. 108,22 „Hydrotherapie“] Gr., ὕδωρ, dt., „Wasser“, sowie gr., θεραπεία, dt., „Huldigung“, „Pflege“. Anwendung v. Wasser zur Behandlung chron. o. akuter Beschwerden als Heilmethode, zur Vorbeugung, zur Stabilisierung v. Körperfunktionen wie Abhärtung u. zur Rehabilitation bzw. Regeneration. 108,23 „Nevropathen“] Gr., νεῦρον, dt., „Bogensehne“, „Faser“, gr., πάθη ‚ dt., „Leid“, „Schmerz“, „Affekt“. Histor.: an Neurose u. Neurasthenie Erkrankte. Neuropathie heute Sammelbegriff für Erkrankungen des peripheren Nervensystems, d. h. des Nervensystems außerhalb des Gehirns u. des Rückenmarks. 108,28 „Lutèce“] Lat., Lutetia; französisierter röm. Name v. Paris. Hier aus De la Nouvelle Rive gauche (1882) (dt., „Vom neuen linken Ufer [der Seine]“) hervorgegangene, polit. u. literar. Wochenzeitschrift des symbolist. Milieus (bis 1886). Redakteure u. a. Paul Verlaine (1844–1896), Paul Adam (1862–1920) u. Jean Moréas (eigtl. Ioánnis A. Papadiamantópoulos) (1856–1919). Dort publizierte Artikel beeinflussen v. a. Charles Baudelaire (1821–1867) u. Edgar Allan Poe (1809–1849). Zunächst krit. Haltung gegenüber Autoren wie Stéphane Mallarmé (1842–1898) u. Arthur Rimbaud (1854–1891). Ab 1884 vermehrt Publikation symbolist. Texte v. Henri de Régnier (1864–1936), Ernest Raynaud (1864–1936) u. Charles Vignier (1863–1934). 108,31 François I.] Das „François I“ bez. ein am Boulevard Saint-Michel in Paris gelegenes Café, in dem sich v. a. dem Symbolismus nahestehende Literaten treffen, u. a. Paul Verlaine (1844–1896) u. Jean Moréas (1856–1910).

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108,35 Kaaba] Arab.‚ al-Kaʿba‘, dt., „Kubus“, „Würfel“; quaderförmiges Gebäude im Innenhof der Al-Haram-Moschee in Mekka, Saudi-Arabien. Gilt als das erste islam. Gotteshaus u. ist das zentrale Heiligtum des Islam. 108,38 Jean Moreas] Jean Moréas, eigtl. Ioánnis A. Papadiamantópoulos (1856–1910), frz. Dichter griech. Herkunft; führende Persönlichkeit des Symbolismus. 18. September 1886 Veröfftlg. des Manifestes Le symbolisme (dt., „Der Symbolismus“) in der Literaturbeilage der Zeitung Le Figaro. 108,39 Mathias Morhardt] (1863–1939), frz. Journalist u. Kunstkritiker im Umkreis der Symbolisten. 109,41 Laurent Tailhade] (1854–1919), frz. Schriftsteller u. Übersetzer aus dem erweiterten Kreis der Symbolisten; v. Théodore de Banville (1823–1891) beeinflusst; Neigung zu satir. Gewalt u. Anarchie; bek. durch Pamphlete. Literar. Beginn im Umfeld der Parnassiens. Später Annäherung an die Décadents (die „Dekadenten“) u. die Symbolisten; regelmäßiger Austausch u. a. mit Paul Verlaine (1844–1896), Maurice Barrès (1862–1923) u. Jean Moréas (1856–1910). 109,44 Wie die Gueusen der Niederlande] Auch Geusen, eigtl. Spottname (v. frz., „gueux“, „Bettler“). Name einer Verbindung niederl. Edelleute, die mit der span. Herrschaft unter Philipp II. (1527–1598) unzufrieden sind u. gegen die geplante Einführung der Inquisition protestieren. 109,56 „Logorrhöe“] Logorrhoe. Gr., λόγος, dt., „Wort“ u. gr., ῥέω, dt., „fließen“, zwanghafter Rededrang eines Menschen. 109,63 Guaita] Marquis Stanislas de Guaita (oft auch: Guaïta) (1861–1897), frz. Lyriker, Kabbalist u. Okkultist. Strikte Ablehnung des Rationalismus u. Begeisterung für schwarze Magie u. Satanismus. Experimente mit Kokain, Haschisch u. Morphium, wahrscheinl. mit Todesfolge. Weitere einschlägige Publ.: La Muse noire (1882) (dt., „Die schwarze Muse“); Le Temple de Satan (1891) (dt., „Der Tempel Satans“). 109,65 „Bouquinisten“ des Quais] Altbuchhändler, die ihre Stände u. Kästen am Quai de Conti an den Ufermauern der Seine in Paris eingerichtet haben. 109,71 Renan] Joseph Ernest Renan (1823–1892), frz. Schriftsteller, Archäologe, Historiker, Orientalist u. Religionswissenschaftler. Hauptwerk: Histoire des origines du christianisme (dt., „Geschichte der Ursprünge des Christentums“, 7 Bände, 1863–1883, davon Bd. 1 Vie de Jésus, dt., „Das Leben Jesu“, 1863). 109,71 Shelley] Percy Bysshe Shelley (1792–1822), engl. Dichter der Romantik, geschätzt v. a. aufgrund der Unkonventionalität u. besonderen Klanglichkeit seiner Gedichte. 109,78 Ciborium] Lat., dt., „Trinkbecher“; in der kath. Kirche mit einem Deckel versehenes liturg. Gefäß zur Aufbewahrung der konsekrierten Hostie. 109,79 Spencer] Herbert Spencer (1820–1903), engl. Soziologe, der die Prinzipien der Evolutionstheorie n. Darwin (engl., „survival of the fittest“, dt., „Überleben des Bestangepassten“) erstmals auf die Gesellschaft anwendet. Publ.: Principles of Sociology (1874) (dt., „Die Principien der Soziologie“); The principles of

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Biology (1864–1867) (dt., „System der synthet. Philosophie: Die Principien der Biologie“); The principles of Psychology (1870–1872) (dt., „System der synthet. Philosophie: Die Principien der Psychologie“). 109,79 Auguste Comte] Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (1798– 1857), frz. Philosoph, Religionsgründer, Begr. der Soziologie u. Mathematiker. 1822 Veröfftlg. der Schrift Plan de travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société (dt., „Plan der wissenschaftl. Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind“), grundlegendes Werk der Philosophie des Positivismus. 110,104 der Gaul des Göpels] Gaul, Bez. für ein altes, minderwertiges Pferd. Göpel, abgel. v. Gepel (16. Jh.) altsorb., gybadło, dt., „Bewegungswerkzeug“. Bez. für eine v. Zugtieren (hier) o. Menschen bewegte Vorrichtung zum Erzeugen einer Antriebskraft, mit deren Hilfe Lasten gehoben u. Maschinen betrieben werden. 110,112 „Chanson des Gueux“] (dt., „Lied der Bettler“). Verssammlung v. Jean Richepin (1849–1926). Vollst. Titel: La chanson des Gueux. Édition définitive. Revue et augmentée d’un grand nombre de poèmes nouveaux, d’une préface inédite et d’un glossaire argotique. Illustrée d’un portrait de l’auteur par E. de Liphart (1881) (dt., „Das Lied der Bettler. Ausgabe letzter Hand. Überarbeitet u. erweitert um zahlr. neue Gedichte, ein unveröfftl. Vorwort u. ein Stichwort-Glossar. Illustriert mit einem Porträt des Autors v. E. v. Liphart“). 110,114 Baumbachs „Liedern eines fahrenden Gesellen“ und „Spielmannsliedern“] Rudolf Baumbach (1840–1905), dt. Lyriker u. Romancier. Weitere bekannte Werke neben Lieder eines fahrenden Gesellen (1878) sind die Spielmannslieder (1881) und Von der Landstraße (1882). Das Gedicht „Der Wagen rollt“ (1879), später u. d. Titel „Hoch auf dem gelben Wagen“ vertont (1922), wird ein populäres Volkslied. 110,115 Schillers „Pegasus im Joch“] „Pegasus im Joche“ (1795), satir. Gedicht v. Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759–1805), 1802 geadelt, dt. Dichter, Philosoph u. Historiker. Beginnend mit den Versen: „Auf einen Pferdemarkt – vielleicht zu Haymarket, / Wo andre Dinge noch in Waare sich verwandeln, / Bracht’ einst ein hungriger Poet / Der Musen Roß, es zu verhandeln. (…).“ 111,128 Stéphane Mallarmé] (1842–1898), frz. Lyriker. Hauptvertreter des Symbolismus u. einer der wichtigsten Wegbereiter der modernen Lyrik. 1862 Sprachaufenthalt in England mit dem Ziel, Edgar Allan Poe (1809–1849) besser verstehen zu können. Kontakt zu Frédéric Mistral (1830–1914) u. zu der literar. Bewegung der Félibrige (Kunstwort; Bez. für eine Gruppe provencal. Dichter um Mistral). Initiiert durch Théodore de Banville (1823–1891) entstehen v. ca. 1865–1867 L’après-midi d’un faune (1876) (dt., „Der Nachmittag eines Fauns“) u. L’après-midi d’un faune. Églogue par Stéphane Mallarmé (1887) (dt., „Nachmittag eines Fauns. Ekloge v. Stéphane Mallarmé“), ein Langgedicht in 110 Alexandrinern. Enger Freund v. Edouard Manet (1832–1883) u. Victor Hugo (1802–1885). Übersetzung v. Poes Gedicht „The Raven“ (dt., „Der Rabe“) ins Französische. Bekanntheit durch Joris-Karl Huysmans (eigtl. Charles Marie Georges Huysmans) (1848–1907) À rebours (1884) (dt., „Gegen den Strich“).

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111,151 Schmied von Jüterbock] Der Schmied von Jüterbog, Volksmärchen, v. Ludwig Bechstein (1801–1860), Deutsches Märchenbuch (1845). Ein Schmied verspielt durch die falsche Wahl bei drei gewährten Wünschen seine Erlösung. 111,163 Jules Huret] (1863–1915), frz. Journalist, bek. durch seine Interviews mit Schriftstellern. Hier: Enquête sur l’évolution littéraire. Conversations avec M M. Renan, de Goncourt, Émile Zola, Guy de Maupassant, Huysmans, Anatole France, Maurice Barrès, Jules Lemaître, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Jean Moréas, Saint-Pol-Roux-le-Magnifique, Maurice Maeterlinck, Octave Mirbeau, Rosny, Joseph Caraguel, Bonnetain, Abel Hermant, Leconte de Lisle, Catulle Mendès, François Coppée, Vacquerie, Claretie, etc., etc. Lettres de Jean Richepin, Ponchon, Édouard Rod, Joséphin Péladan, etc., etc. (1891) (dt., „Untersuchung über die literar. Entwicklung. Gespräche mit den Herren Renan, de Goncourt, Émile Zola, Guy de Maupassant, Huysmans, Anatole France, Maurice Barrès, Jules Lemaître, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Jean Moréas, Saint-Pol-Roux-le-Magnifique, Maurice Maeterlinck, Octave Mirbeau, Rosny, Joseph Caraguel, Bonnetain, Abel Hermant, Leconte de Lisle, Catulle Mendès, François Coppée, Vacquerie, Claretie, etc., etc. Briefe v. Jean Richepin, Ponchon, Édouard Rod, Joséphin Péladan, etc. etc.“). 112,195 „neokatholischen“] N. der Abkehr v. Katholizismus infolge der Aufklärung wendet sich v. a. die frz. Jugend erneut dem Nicht-Rationalen, hier dem Symbolischen, zu. Diese neue Form metaphys. Orientierung bez. N. als „Neokatholizismus“. 114,254 „Le devoir présent“] Werk des frz. Schriftstellers u. Philosophen Paul Desjardins (1859–1940), (dt., „Die gegenwärtige Pflicht“) v. 1892. Mit diesem auf einer Artikelserie im Journal des Débats politiques et littéraires (dt., „Zeitschrift für polit. u. literar. Debatten“) beruhenden Werk gibt D. eine Antwort auf Edouard Rods (1857–1910) Werk Les idées morales du temps présent (dt., „Die moral. Ideen der jetzigen Zeit“) v. 1891, in dem er acht bedeutende zeitgenöss. Persönlichkeiten, u. a. Émile Zola (1840–1902), Arthur Schopenhauer (1788–1860), Leo Tolstoi (1828– 1910), in ihrem moral. Denken zu charakterisieren versucht. Am Ende dieser als Manifest anzusehenden Schrift schlägt D. die Gründung einer „Société de secours moral“ (dt., „Gesellschaft moral. Hilfe“), der späteren „Union pour l’action morale“ (dt., „Union für moral. Handeln“), vor. Darin enthaltene Grundprinzipien sind ein Bekenntnis zu Humanität, das v. a. auf der Bereitschaft, dem eigenen guten Willen zu folgen, basiert. Diejenigen, die dies nicht tun, bez. D. als „les négatifs“ (dt., „die Negativen“), u. a. Charles Marie René Leconte de Lisle (1818–1894), Émile Zola (1840–1902), Charles Darwin (1809–1882); diejenigen, die ihrem guten Willen folgen entsprechend als „les positifs“ (dt., „die Positiven“), u. a. Sully Prudhomme (1839–1907), Alfred Jules Émile Fouillée (1838–1912), Jules Lachelier (1832–1918). 114,254 Paul Desjardins] (1859–1940), frz. Philosoph u. Schriftsteller. Interesse an der moral. Entwicklung der Gesellschaft. 1892 Gründung der Union pour l’action morale (ab 1906 „Union pour la vérite“) (dt., „Vereinigung für moral. Handeln / Vereinigung für die Wahrheit“).

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114,260 F. Paulhahn] Frédéric Paulhan (1856–1931), frz. Philosoph. Hier: Le nouveau mysticisme (1891) (dt., „Der neue Mysticismus“). Weitere einschlägige Schrift: Les hallucinations veridiques et la suggestion mentale (1892) (dt., „Die wahrheitsgetreuen Halluzinationen u. die mentale Suggestion“). 114,275 Spektral-Analyse] 1. Atom- u. Molekülphysik: Analyse der Wellenlängenabhängigkeit der Absorption elektromagnet. Strahlung durch Atome o. Moleküle bzw. Absorption der Emission elektromagnet. Strahlung durch angeregte Teilchen. 2. Astronomie: Analyse der Spektren astronom. Objekte. Mit Hilfe der S. kann nicht nur die chem. Zusammensetzung der Objekte bzw. die ihrer Atmosphäre ermittelt werden, die spektroskop. gewonnenen Daten der Elemente liefern auch direkte Hinweise auf die physikal. Bedingungen wie Dichte, Druck u. Temperatur. 115,289 Geo- und Paläontologie] G.: gr., γῆ, dt., „Erde“, sowie gr., λόγος, dt., „Lehre“. Wissenschaft v. Struktur, Aufbau u. Zusammensetzung der Erde, ihrer Entwicklungsgeschichte u. der sie formenden Entstehungsprozesse. – P.: gr., παλαιός, dt., „alt“, sowie gr., ὄν, dt., „das Seiende“, sowie gr., λόγος, dt., „Lehre“: Wissenschaft v. den in Sedimentgesteinen vorkommenden Resten vorzeitl. Lebewesen (Fossilien). 115,290 Bio- und Embryologie] B.: gr., βίος‚ dt., „Leben“, sowie gr., λόγος‚ dt., „Lehre“. Wissenschaft v. den Lebewesen, ihrer Entstehung, Organisation u. Entwicklung u. Gesetzmäßigkeiten in Strukturen u. Prozessen. – E.: gr., ἔμβρυον, dt., „ungeborene Leibesfrucht“. Teilgebiet der Entwicklungsbiologie, das sich mit der Entwicklung der befruchteten Eizelle u. des daraus entstehenden Fötus beschäftigt. 115,294 Chronographie] Gr., χρόνος, dt., „Zeit“, sowie gr., γραφή, dt., „Schrift“. Geschichtsschreibung n. der zeitl. Abfolge. 115,294 Augenblicks-Photographie] Neologismus N.s. Im Kontext der Verdienste der Wissenschaft, die N. aufzählt, findet sich u. a. neben der Chronographie auch die A., hier i. S. v. „Photographie des Augenblicks“. Die erste Photographie („Heliographie“, v. gr., ἥλιος, dt., „Sonne“ u. gr., γραφή, dt., „Schrift“) wird auf das Jahr 1826 datiert, als Joseph Nicéphore Niépce (1765–1833) n. Versuchen mit einer Camera obscura schließl. mit einer Kamera, die zwei Bikonvexlinsen enthält, Naturaufnahmen macht. Zu mehr Praktikabilität verhilft der Photographie Niépces Geschäftspartner Louis Daguerre (1787–1851), n. dem die sog. „Daguerreotypie“ benannt ist. 115,317 Du Bois-Reymond] Emil Heinrich du Bois-Reymond (1818–1896), dt. Physiologe u. theoret. Mediziner. Gilt als Begr. der experimentellen Elektrophysiologie. 115,317 „Ignorabimus!“] Lat., „ignoramus et ignorabimus”, dt., „Wir wissen es nicht u. wir werden es nicht wissen“. Ausspruch v. du Bois-Reymond auf der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher u. Ärzte in Leipzig 1872 als Ausdruck einer skept. Grundhaltung gegenüber der Deutungshoheit der Naturwissenschaften: „Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst

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gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ‚Ignoramus’ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: ‚Ignorabimus‘.“ (Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Reden von Emil de Bois-Reymond in zwei Bänden, 1. Bd., Leipzig 1912, 464). 117,376 Asepsie] Frz., dt., „Asepsis“, v. gr., ἀ-, verneinendes Präfix u. gr., σῆψις; dt., „Fäulnis“, „Gärung“, „Verdauung“, bez. in der Medizin den Zustand der Keimfreiheit. 117,377 Chamberland’sche Filter] Röhrenartiger, poröser Porzellanfilter zum Entkeimen v. Flüssigkeit, ben. n. dem Erfinder (1884), dem frz. Bakteriologen Charles-Édouard Chamberland (1851–1908). 117,411 Gehlen] Adolph Ferdinand Gehlen (1775–1815), dt. Chemiker. Bei Versuchen mit Arsenwasserstoff u. Blausäure erleidet G. eine akute Vergiftung u. stirbt. 117,412 Arsenwasserstoff] Summenformel AsH3, hochgiftiges chem. Gas. 117,413 einen Croce und Spinelli] Joseph Crocé-Spinelli (1845–1875), frz. Erfinder u. Ballonfahrtpionier. Bei einer Testfahrt 1875 erleidet Crocé-Spinelli in einer Höhe v. 8.600 Metern eine Asphyxie (gr., ἀσφυξία, dt., „Aufhören des Pulsschlags“) u. stirbt. 118,414 Ehrenberg] Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876), dt. Naturwissenschaftler, Begr. der Mikrobiologie. 118,415 Hyrtl] Josef Hyrtl (1810–1894), österr. Anatom. 1837 Professor an der Karls-Universität Prag. 1874 wg. zunehmender Sehschwäche Niederlegung des Lehramtes. 118,415 Corrosiv-Präparate] Lat., corrodo, dt., „zernagen“. Ätz- o. Auflösungsmittel. N. bezieht sich vmtl. auf die Schrift Die Corrosions-Anatomie und ihre Ergebnisse (1873) v. Josef Hyrtl (1810–1894). 118,419 Archimedes] (um 287–212 v. Chr.), bedeutender gr. Mathematiker, Ingenieur u. Physiker. 118,420 Marcellus] Marcus Claudius Marcellus (um 268–208 v. Chr.), einer der röm. Generäle im Zweiten Punischen Krieg. Eroberer v. Syrakus u. mehrmaliger Konsul. Einer seiner röm. Soldaten tötet Archimedes. 118,423 Prometheus] Gr., Προμηθεύς, dt., „der Vorausdenkende“, Held der gr. Mythologie, der als Titan den Göttern das Feuer stiehlt u. es als Kulturstifter den Menschen überbringt; er wird daraufhin v. Zeus gefangen genommen u. zur Strafe an einen Felsen gekettet. Jeden Tag reißt ihm ein Adler die Leber heraus, die bis zum nächsten Tag nachwächst. Schließl. wird er v. Herakles befreit. – Der Prometheus-Mythos ist ein wiederkehrender Topos in der Literatur (Aischylos, Goethe, Shelley, Nietzsche). 118,438 Seitenstücke zu dem typischen Falle Charcots] Charcot demonstriert vor einem internationalen Auditorium im Hôpital Salpêtrière in Paris klin. Fälle v. Hysterikerinnen, die er im hypnotisierten Zustand befragt. S. auch → 25, 256.

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118,451 Hypothese der Brüder Janet] Pierre Janet, eigtl. Pierre-Marie-Félix Janet (1859–1947), frz. Psychiater u. Psychotherapeut. Prägt den Begriff Dissoziation als „Desintegration u. Fragmentierung des Bewusstseins“ (L’automatisme psychologique, 1889, dt., „Der psychologische Automatismus“). Studiert zunächst Philosophie, wendet sich nebenher der Medizin zu, unter dem Einfluss Jean-Martin Charcots (1825–1893) besonders Hypnose u. Suggestion. Ab 1895 Lehre der experimentellen u. vergleichenden Psychologie am Collège de France. Gegenüberstellung v. zwei Formen der Geistestätigkeit: der psycholog. Automatismus (frz., „activité d’automatisme“) u. die Kraft zur Synthese (frz., „activité de synthèse“). Kernstück seiner Lehre ist eine Theorie über psych. Spannung (frz., „tension psychologieque“), heute: „dissoziative Identitätsstörung“ o. „multiple Persönlichkeitsstörung“. – Jules Janet (1861–1940), Urologe. Die Brüder arbeiten bei Experimenten zur Hypnose zusammen. 119,483 drei Ideale] Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit: Frz., „liberté“, „égalité“, „fraternité“). Nachträgl. zur Parole der Frz. Revolution bestimmt; Wahlspruch der Dritten Republik in Frankreich n. 1871. 120,509 Assignaten] Pl., v. frz., „assignation“, dt., „Zuweisung“, auch. „gerichtl. Vorladung“, während der Frz. Revolution verwendetes Papiergeld. 120,517 Sintflut von 1789] Hier v. N. als Metapher für den Beginn der Frz. Revolution 1789 gebraucht. 120,519 Briefadels] Urspr. durch einen Adelsbrief (auch Adelsdiplom) in den dt. Adelsstand erhobene Bürgerliche o. ausländ. Adelige. 121,543 Glaubens-Mimicry] M.: engl., „mimicry“, dt., „Tarnung“, „Nachahmung“. Form der Tarnung im Tierreich. 121,547 Jesuiten-Mittel- und Hochschulen] J.: Mitglieder der kath. Ordensgemeinschaft „Gesellschaft Jesu“, 1534 v. Ignatius v. Loyola (1491–1656) gegr. Neben den drei übl. Gelübden (Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam) verpflichten sich die J. zu einem besonderen Gehorsam gegenüber dem Papst. J. ist zunächst ein Spottname, wird dann aber v. der Ordensgemeinschaft übernommen. Die J. bauen v. a. das europ. Bildungssystem aus, bereits zu Beginn des 18. Jh.s gibt es zahlr. Schulen. Eine Besonderheit ist, dass an ihnen über zeitgenöss. Literatur debattiert werden kann, ohne Zensur o. Inquisition fürchten zu müssen. 121,548 Mitgliedschaft des Jockey-Klubs] Maßgebl. elitärer, meist aristokrat. Club der Pariser Bourgeoisie, gegr. 1834. 121,549 schwarze Freimaurerei] Internationale in sog. Logen organisierte Bewegung, deren Augenmerk auf der individuellen Ausbildung ihrer geheimgesellschaftl. Bruderschaftsmitglieder in sozialem Miteinander u. in gesellschaftl., den Einzelmenschen achtender Solidarität liegt. Der „Bau“ des einzelnen Freimaurers gliedert sich in logenübergreifende Grade: in jene des Lehrlings, des Gesellen u. des Meisters u. darauf aufbauend in Hochgradsysteme, die durch verschiedene Farben gekennz. sind (weiße, grüne, schwarze u. rote Grade). So gibt es z. B. in schott. Logen eine schwarze Gestaltung des Ritusortes durch Verhängungen der Wände u. Möbel u. auch den Brauch schwarzer Kleidung.

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121,560 Louis Le Cardonnel] (1862–1936), frz. Dichter; 1896 Priesterweihe. 121,561 Henri de Régnier] Henri François Joseph de Régnier, Pseudonym Hugues Vignix (1864–1936), frz. Lyriker u. Romancier im Umkreis des Symbolismus u. der Parnassiens. 122,591 Feuilleton-Romanen] Leichte unterhaltende Fortsetzungsromane in der Massenpresse mit kommerziellen Erwägungen zur Steigerung der Auflage. Aufgrund des schnellen Produktionsprozesses u. mangelnder inhaltl. Tiefe haftet ihnen der Ruf künstl.-literar. Oberflächlichkeit an. 122,591 Tausendsassa] Umgangsspr. Bez. für eine Person, die sich durch vielfältige Begabungen auszeichnet. 123,645 Paul Adam] (1862–1920), frz. Schriftsteller. Gegen Ende der 80er Jahre des 19. Jh.s Publikationen in symbol. Zeitschriften wie Le Symboliste (dt., „Der Symbolist“) u. La Vogue (dt., „Die Beliebtheit“, auch: „Die Gunst des Publikums“). Mitbegr. des Journals Le Carcan (dt., „Der Pranger“). 123,647 Remy de Gourmont] (1858–1915), frz. Schriftsteller; Mitbegr. u. lange Zeit Mitarbeiter der Zeitschift Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“); Lyriker, Romancier u. Theoretiker des Symbolismus. 123,649 Saint-Pol-Roux] Eigtl. Paul-Pierre Roux (1861–1940), frz. Dichter. Ab 1885 Beginn seiner literar. Tätigkeit im Umkreis der Symbolisten. 123,655 Schabernak] Veraltet für „Streich“. 123,661 Gustav Kahn] Gustave Kahn (1859–1936), frz. Schriftsteller. Ausbildung an der École nationale des chartes (dt., „Hochschule für das Urkundenwesen“) u. der École des langues orientales (dt., „Hochschule für oriental. Sprachen“). Ab 1880 Publikation v. Artikeln in Zeitschriften wie La Revue Moderne et Naturaliste (dt., „Die moderne u. naturalist. Zeitschrift“) u. L’Hydropathe (dt., „Jemand, den das Wasser krank macht“). N. vierjährigem Afrika-Aufenthalt 1886 Gründung der Wochenzeitschrift La Vogue (dt., „Die Beliebtheit“, auch: „Die Gunst des Publikums“). Hier Veröfftlg. eines Großteils seiner Gedichte, die sein erstes Werk Les Palais Nomades (1887) (dt., „Die nomad. Paläste“) bilden. In Zusammenarbeit mit Jean Moréas (1856–1910) u. Paul Adam (1862–1920) Hg. der polit.-literar. Zeitung Le Symboliste (1886) (dt., „Der Symbolist“). In der Lyrik Verwendung des freien Verses (als dessen Erfinder K. sich sieht). Ab 1897 mit Catulle Mendès (1841–1909) Veranstalter der sog. „Matinées des Poètes“ (dt., „Die Dichter-Matinéen“) u. a. im Odéon, um die symbolist. Dichter einer breiteren Öffentlichkeit bek. zu machen. 124,677 Jules Lemaître] (1853–1914), frz. Lyriker, Dramatiker u. Theaterkritiker. Bekannte Werke: Impressions de théâtre (10 Bde., 1888–1896) (dt., „Theaterimpressionen“), Les contemporains (7 Bde., 1885–96) (dt., „Die Zeitgenossen“). 124,683 Josephin Péladan] Joséphin Péladan (1858–1918) frz. Okkultist. Schriftsteller u. Mitbegr. der Rosenkreuzer. Gründet 1888 mit Marquis Marie-Victor Stanislas de Guaita den „Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix“ (dt., „Kabbalist. Rosenkreuzerorden“). Unter dem Namen Sâr Mérodak ist P. anschließend Großmeister dieses Ordens. 1892 Gründung eines eigenen Rosenkreuzerordens, „Ordre

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de la Rose-Croix Catholique et esthétique du Temple et du Graal“ (dt., „Orden des kath. Rosenkreuzes u. Ästhetik des Tempels u. des Grals“). Zahlr. okkult. Romane, u. a. des 21bändigen Décadence-Zyklus La Décadence Latine (dt., „Die lateinische Dekadenz“), v. dem bis zur Publikation v. Entartung elf Bde. erschienen sind: Le Vice Suprème (1884) (dt., „Das höchste Laster“); Curieuse (1886) (dt., „Weibl. Neugier“; wörtl.: „neugierig“); L’Initiation (1887) (dt., „Sentimentale Einweihung des Weibes“; wörtl.: „Initiation“) ; A Coeur Perdu (1888–1992) (dt., „Das tote Herz“; wörtl.: „Zu verlorenem Herz“); Istar (1888) (vmtl. „Ischtar“, im babylon.-assyr. Pantheon ist I. die allgem. Bez. für eine Göttin der Liebe, des Geschlechtslebens u. Herrin des Krieges); La Victoire du Mari (1889) (dt., „Der Sieg des Gatten“); Coeur en Peine (1890) (dt., „Herz in Schmerz“); L’Androgyne (1891) (dt., „Der Androgyn“); La Gynandre (1891) (dt., „Gynandria“); Le Panthée (1892) (bez. ein v. Substantiv Panthéon abgeleitetes Adjektiv, P. verwendet diesen Ausdruck i. S. v. „oberster/ höchster Gott“, frz., „dieu suprême“); Typhonia (1892). 124,685 Jules Bois] Henri Antoine Jules Bois (1868–1943), frz. Romancier, Dramaturg u. Essayist; Schriften zur Esoterik. 124,690 Auguren] Pl., Sing., augur. Röm. Priester, deren Aufgabe es ist, aus dem Flug der Vögel zu deuten, ob ein geplantes Vorhaben das Wohlgefallen der Götter findet. 124,698 Joseph Caraguel] (1855–unbek.), frz. Schriftsteller. Publikationen u. a. Le Boul’Mich’ (1884) (dt., „Der Boulevard Saint-Michel“); Les Barthozouls (1887) (dt., „Die Barthozouls“). 124,705 Pierre Quillard] (1864–1912), frz. Dichter des Symbolismus. 1886 zusammen mit Ephraïm Mikhaël (1866–1890) u. Saint-Pol-Roux (eigtl. Paul-Pierre Roux) (1861–1940) Gründung der Zeitschrift La Pléiade (dt., „Das Siebengestirn“). Hier Veröfftlg. v. La fille aux mains coupées (1886) (dt., „Das Mädchen mit Schnitten an den Händen“), ein in Versform verfasstes Mysterienspiel in zwei Bildern. Ab 1891 Gedichte, Prosatexte, literar. Studien u. Kritiken im Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“), so u. a. über Stéphane Mallarmé (1842–1898), Anatole France (1844–1924), Émile Zola (1840–1902), Charles-Marie Leconte de Lisle (1818– 1894) u. Paul Adam (1862–1920). An der Seite v. Zola Engagement in der sog. Dreyfus-Affäre. 125,707 Gabriel Vicaire] Eigtl. Louis-Gabriel-Charles Vicaire (1848–1900), frz. Schriftsteller u. Jurist. Zählt zur Dichtergruppe Parnassiens. 125,720 harte Behandlung ist seit Pinel] Philippe Pinel (1745–1826), ab 1794 leitender Arzt im Hôpital Salpêtrière. P. gilt als erster Psychiater, der Behandlungen v. Kranken ohne Zwangsmaßnahmen durchsetzt. 126,769 „Symbol“] N. demonstriert hier, dass er nur die Definition des Begriffs als ein materielles Zeichen für eine Idee gelten lässt. Gleichwohl ist ihm die Definition der Symbolisten vertraut. 127,793 Aman-Jean] Edmond François Aman-Jean (1858–1936), frz. Maler. Begr. der Kunstausstellungen im Salon des Tuileries.

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127,797 mongolische Physiognomie] Mongolismus: Veraltete Bez. für das Aussehen v. Menschen mit dem Down-Syndrom, auch Trisomie 21. Genet. Mutation, bei der das 21. Chromosom dreifach vorliegt; führt bei Betroffenen zu verminderter Leistungsfähigkeit. 127,801 „Ecrit en 1875“] (dt., „1875 geschrieben“); dem frz. Dichter Edmond Lepelletier (1846–1913) gewidmetes Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896); erschienen in der Sammlung Amour (1888) (dt., „Liebe“). 127,809 „Un conte“] (dt., „Ein Märchen“); dem frz. Dichter Joris-Karl Huysmans (1848–1907) gewidmetes Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896); erschienen in der Sammlung Amour (1888) (dt., „Liebe“). 127,814 schales (fadasse!)] Ausruf aus dem Gedicht „Un conte“ v. Paul Verlaine (1844–1896). Pejorative Form des frz. Adjektivs „fade“, dt., „fade“, „ohne Würze“. Zus. mit dem vorangestellten Attribut „schales“ tautolog., i. S. v. „geistlos“, „abgeschmackt“ u. „langweilig“. 127,815 seine Verurtheilung] 1873 wird Paul Verlaine (1844–1896) n. Schüssen auf Jean Nicolas Arthur Rimbaud (1854–1891) zu zwei Jahren Haft verurteilt. 1885 Haft u. Geldstrafe wg. Mordversuchs an der Mutter. 127,821 „Les coquillages“] (dt., „Die Muscheln“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896); erschienen in der Sammlung Fêtes galantes (1869) (dt., „Galante Feste“) (1869). 127,822 „Fille“] (dt., „Mädchen“), eigtl. „Filles“ (dt., „Mädchen“, Pl.); eine in der Gedichtsammlung Parallèlement (1889) (dt., „Parallel“) erschienene Abfolge v. sechs Gedichten v. Paul Verlaine (1844–1896). 127,822 „Auburn“] (dt., „Kastanienbraun“). Gedicht Paul Verlaines (1844– 1896), das in der Gedichtsammlung Parallèlement (1889) (dt., „Parallel“) als vierter Teil der Gedichtfolge „Filles“ (1886) erscheint. 127,823 geschlechtliche Ausschweifung] Gemeint ist hier Verlaines Homosexualität. 127,824 paroxystischer Säufer] Gr., παροξυσμός, dt., „Anreizung“, „Aufregung“, „Erbitterung“. Der Paroxysmus bez. die Phase einer Krankheit, in der die Symptome am stärksten hervortreten. Hier i. S. v. extremer Alkoholiker. 128,831 „les breuvages exécrés“] Paul Verlaine (1844–1896) spricht im letzten Vers der dritten Strophe (insgesamt sieben Strophen) des vierten Gedichts seiner Gedichtsammlung La bonne chanson (dt., „Das gute Lied“) (1870 gedruckt; erst 1872 im Verkauf) v. den v. N. hier zitierten „breuvages exécrés“ (dt., „verabscheute (Heil-)Tränke“). Die dritte Strophe lautet im frz. Original: „[…] Arrière aussi les poings crispés et la colère / À propos des méchants et des sots rencontrés; / Arrière la rancune abominable! arrière / L’oubli qu’on cherche en des breuvages exécrés! […]“. (dt., „Auch dahinter sind die steifen Fäuste und die Wut / Wegen der begegneten Bösen und Narren; / Hinter dem scheußlichen Groll! Hinter / Dem Vergessen, das man in verabscheuten Tränken sucht!“)

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128,831 „La bonne chanson“] (dt., „Das gute Lied“). 1870 bei Lemerre veröfftl. Gedichtsammlung v. Paul Verlaine (1844–1896) mit 21 Gedichten ohne Titel, seiner Ehefrau gewidmet. 128,842 („un seul Pervers“; „Sagesse“)] U. s. P.: Korrekt „au seul Pervers“. N. spielt hier auf einen Vers aus Paul Verlaines (1844–1896) Gedichtsammlung Sagesse (1881) (dt., „Weisheit“, „Vernunft“) an (Teil 1, Gedicht XXIV „L’âme antique était rude et vaine …“, Vers 44): „Bons et doux, sauf au seul Pervers“ (dt., „[…] gut u. sanft, außer an den einzigen Verworfenen“). S.: (dt., „Weisheit“, „Vernunft“) (1881); bei Palmé veröfftl. Gedichtsammlung v. Paul Verlaine (1844–1896), seiner Mutter gewidmet. 128,862 aus zweien bezeichnende Strophen] N. bezieht sich im ersten Zitat auf das erste Gedicht „Ô mon Dieu, vous m’avez blessé d’amour …“ (dt., „Oh, mein Gott, Sie haben mich aus Liebe verletzt …“) des zweiten Teils der Gedichtsammlung Sagesse (dt., „Weisheit“, „Vernunft“) (1881) v. Paul Verlaine (1844–1896). Dabei zitiert er die ersten fünf Strophen sowie die letzten vier Verse des 15 Strophen (u. einen typograph. abgesetzten letzten Vers) umfassenden Gedichts in wörtl. Übersetzung u. fasst den Mittelteil (Strophen 6–14) zusammen. Beim zweiten Gedicht, auf das N. hier Bezug nimmt, handelt es sich um das sich im zweiten Teil in ebendieser Gedichtsammlung anschließende Gedicht „Je ne veux plus aimer que ma mère Marie …“ (dt., „Ich will nicht mehr lieben außer meine Mutter Marie …“). N. zitiert die Strophen eins bis drei (des insgesamt sechs Strophen umfassenden Gedichts) in wörtl. Übersetzung. 129,888 Base] Veraltet für „Cousine“. 129,898 Anatole France] Eigtl. François Anatole Thibault (1844–1924), frz. Schriftsteller. Durchbruch 1881 mit dem Roman Le Crime de Sylvestre Bonnard, membre de l’Institut (dt., „Das Verbrechen Sylvestre Bonnards, Mitglied des Instituts“). Auszeichnung mit dem Prix de l’Académie française (dt., „Preis der Académie française“). 1921 Nobelpreis für Literatur. 129,900 „Zirkulärer“] Erkrankung, bei der sich Erregungs- u. Ermattungszustände regelmäßig abwechseln u. so eine sich zirkulär wiederholende Emotionsstruktur bilden. In der medizin. Fachsprache Frankreichs verweist der Begriff „La folie circulaire“ (dt., „der zirkuläre Wahn“) auf eine period. auftretende Wahnvorstellung. 129,911 Marandon de Montyel] Évariste Marandon de Montyel (1851–1908), frz. Psychiater am Hôpital de Ville-Évrard in Neuilly-sur-Marne. Zahlr. Publikationen zu Wahnstörungen, sexuellen Störungen, Obsessionen, Drogenmissbrauch u. anthropolog. Kriminalistik (z. B. Pyromanie). 130,929 „Grotesques“] (dt., Sing., „Die Groteske“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) a. d. Jahr 1866. Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (dt., „Saturn. Gedichte“). 130,941 „Autre“] (dt., „Sonstiges“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) a. d. Jahr 1889. Teil der Gedichtsammlung Parallèlement (dt., „Parallel“).

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130,945 König Ludwig II. von Bayern] N. spielt an auf ein Ludwig II. v. Bayern (1845–1886) thematisierendes Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) a. d. Jahr 1886, „À Louis II de Bavière“. Dort wird der bayer. König als der „einzig wahre König dieses Jh.s“ („[…] le seul vrai roi de ce siècle […]“, Vers 1) bez. Das Gedicht ist Teil der Gedichtsammlung Amour (1888). Nachdem der bayerische König Ludwig II. im Juni 1886 in Starnberg umgekommen ist, bittet Édouard Dujardin (1861–1949) Paul Verlaine um ein dem bayer. Monarchen gewidmetes Gedicht, das in der Revue wagnérienne (dt.. „Das Wagner-Journal“) unter dem Titel „La Mort de S.M. le Roi Louis II de Bavière“ (dt., „Der Tod Seiner Majestät des Königs Ludwig II. von Bayern“) am 8. Juli 1886 erstmals veröffentlicht wird. 131,956 „rabâchage“] Frz., dt., „ständiges Wiederholen“, „Drill“. 131,963 „Crépuscule du soir mystique“] (dt., „Dämmerung des myst. Abends“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) a. d. Jahr 1866. Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (1866) (dt., „Saturn. Gedichte“). 131,965 „Promenade sentimentale“] (dt., „Empfindsamer Spaziergang“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896). Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (1866) (dt., „Saturn. Gedichte“). 131,967 „Onomatomanie“] Gr., ὄνομα, dt., „Name“, „Benennung“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“; Zwangsstörung, die sich im unablässigen Suchen n. vergessenen Begriffen u. Namen o. zwanghaften Rezitieren sich aufdrängender Wörter äußert. In der Regel zwangsneurot. Symptom. 131,968 „Nuit du Walpurgis classique“] (dt., „Klass. Walpurgisnacht“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896); Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (1866) (dt., „Saturn. Gedichte“). 131,969 „Sérénade”] (dt., „Serenade“); Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896); Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (1866) (dt., „Saturn. Gedichte“). 131,970 „Ariettes oubliées“] (dt., „Kleine vergessene Arien“); Gedichtserie v. Paul Verlaine (1844–1896), a. d. Jahr 1874. Teil der Gedichtsammlung Romances sans paroles (dt., „Romanzen ohne Worte“). 131,978 „Chevaux de bois“] (dt., „Holzpferde“); vollständiger Titel „Bruxelles. Chevaux de bois“ (dt., „Brüssel. Holzpferde“); Gedicht v. Paul Verlaine (1844– 1896); viertes Gedicht der Gedichtserie Paysages belges (dt., „Belg. Landschaften“); Teil der Gedichtsammlung Romances sans paroles (1874) (dt., „Romanzen ohne Worte“). Dt., „Dreht euch, dreht euch, ihr Holpferdchen all, / Dreht euch hundert-, tausendmal ohn Ruh, / Dreht euch oft u. dreht euch immerzu, / Dreht euch, dreht euch beim Oboenschall.“ 131,983 In einem wirklich reizvollen Gedicht] N. bezieht sich auf das sechste Gedicht („Le ciel est, par-dessus le toit, / Si bleu, si calme!“) des dritten Teils der Gedichtsammlung Sagesse (dt., „Weisheit“, „Vernunft“) (1881) v. Paul Verlaine (1844–1896). 131,986 „Amour“] (dt., „Liebe“). Gedichtsammlung v. Paul Verlaine (1844– 1896) a. d. Jahr 1888. In den Folgezeilen zitiert N. aus dem XI. Gedicht, Vers 9

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bis Vers 11, der Gedichtserie „Lucien Létinois“: „Les fleurs des champs, les fleurs innombrables des champs, / Plus belles qu’un jardin où l’Homme a mis ses tailles, /Ses coupes et son goût à lui, – les fleurs de gens! – / Flottaient comme un tissu très fin dans l’or des pailles //“. (dt., „Die Blumen der Felder, die unzähligen Blumen der Felder, / Schöner als ein Garten, wo der Mensch seinen Schnitt angesetzt hat / Seinen eigenen Zuschnitt u. seinen eigenen Geschmack, – die Blumen der Leute! – flatterten wie ein sehr feiner Stoff im Gold der Halme. //“). 131,990 „Pierrot Gamin“] (dt., „Der kleine Pierrot“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) aus der Gedichtserie „Lunes“( dt., „Monde“). Zuerst erschienen am 14. September 1886 in der Zeitschrift Le Décadent (dt., „Der Dekadente“). N. gibt hier die erste Strophe wieder; (dt., „Das ist nicht Pierrot aus Gras / nicht mehr als Pierrot aus [einer/einem] Garbe/Gebinde / Das ist Pierrot, Pierrot, Pierrot / Pierrot [der] Lausbube, Pierrot [der] Bengel / Der (Nuss-)Kern außerhalb der Schale [eigtl. „Schote“] / Das ist Pierrot, Pierrot, Pierrot.//“. 132,1000 „Mains“] (dt., „Hände“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896) aus der Serie „Lunes“ (dt., „Monde“) (frz., „Ah! si ce sont des mains de rêve, / Tant mieux, – ou tant pis, – ou tant mieux. “). Das Gedicht wird v. Verlaine n. dem Tod seiner Mutter verfasst u. im August 1887 fertiggestellt. Es erscheint erstmals u. d. Titel „Mes mains“ (dt., „Meine Hände“) am 10. November 1888 in der Zeitschrift La Cravache (dt., „Die Reitpeitsche“). 132,1015 „Art poëtique“] Das Gedicht, (dt., „Dichtkunst“) v. Paul Verlaine (1844–1896), wird zu einer Art Manifest des Symbolismus; es entsteht während der Haftzeit 1874. Zunächst findet es Eingang in Cellulairement (dt., „Zellenförmig“) (1874), dann erscheint es 1881 am Ende eines Briefes an Léon Valade (1842–1884) u. schließl. in der Zeitschrift Paris-Moderne (10. November 1882). Im Titel klingt der Bezug zu De arte poetica (14 v. Chr.) (dt., „Über die Dichtkunst“) des röm. Dichters Horaz (65–8 v. Chr.) an. 132,1019 „Sans rien en lui qui pèse ou qui pose“] Dt., „[die Musik], in der nichts ist, das wiegt oder das posiert“ (Orientierung an der N.schen Übersetzung). Vierter Vers des Gedichts „Art Poétique“ (1874) (dt., „Dichtkunst“) v. Paul Verlaine (1844–1896) aus der Gedichtsammlung Jadis et Naguère (1884) (dt., „Vormals u. einst“). 132,1032 „la Pointe assassine“] Teil des siebzehnten Verses „Fuis du plus loin la Pointe assassine“ (dt., „Fliehe [so weit wie möglich] vor der mörderischen (Haar-)Spitze“) des Gedichts „Art Poétique“ (1874) (dt., „Dichtkunst“) v. Paul Verlaine (1844–1896) aus der Gedichtsammlung Jadis et Naguère (1884) (dt., „Vormals u. einst“). 132,1037 „Chanson d’automne“] (dt., „Herbstlied“). Gedicht v. Paul Verlaine (1844–1896). Teil der Gedichtsammlung Poèmes saturniens (1866) (dt., „Saturn. Gedichte“). 133,1045 „Avant que tu ne t’en ailles“] (dt., „Bevor du weggehst“). Gedicht der Gedichtsammlung La bonne chanson (1870) (dt., „Das gute Lied“) v. Paul Ver-

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laine (1844–1896) mit 21 Gedichten ohne Titel, die er seiner Ehefrau Mathilde Mauté de Fleurville widmet. 133,1045 „Il pleure dans mon cœur“] (dt., „Es weint in meinem Herzen“). Gedicht der Gedichtserie Ariettes oubliées (1874) (dt., „Vergessene kleine Arien“), Teil der Gedichtsammlung Romances sans paroles (1874) (dt., „Romanzen ohne Worte“). 133,1063 „Ueber allen Gipfeln ist Ruh“] Erster Vers aus dem Gedicht „Ein Gleiches“ v. Johann Wolfgang Goethe; entstanden am 6. September 1780: „Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.“ 133,1064 Der Fischer] Kurze, vierstrophige Ballade v. Johann Wolfgang Goethe a. d. Jahr 1779. „Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, / ein Fischer saß daran, / sah nach dem Angel ruhevoll, / kühl bis ans Herz hinan. / Und wie er sitzt und wie er lauscht, / teilt sich die Flut empor; / aus dem bewegten Wasser rauscht / ein feuchtes Weib hervor. (…)“. 133,1064 „Freudvoll und leidvoll“] „Clärchens Lied“ aus Egmont (1788) v. Johann Wolfgang Goethe, 3. Aufzug, 2. Szene: „Freudvoll / Und leidvoll, / Gedankenvoll sein, / Hangen / Und bangen / in schwebender Pein, / Himmelhoch jauchzend, / zum Tode betrübt – / Glücklich allein / Ist die Seele, die liebt. (…)“ 133,1079 epileptoiden] Gr., ἐπίληψις, dt., „Ergreifen“ „Beanspruchung einer Sache“, „Fallsucht“. Auch „epileptoform“, dem epilept. Anfall ähnl. Allgemeines Zeichen v. Hirnschädigung durch Erkrankungen. Hier i. S. v. Ursache v. Verbrechen. 134,1119 Paul Hervieu] Paul Ernest Hervieu (1857–1915), frz. Romancier (z. B. Flirt, 1890), Satiriker (Peints par eux-mêmes, 1893, dt., „Von ihnen selbst gemalt“), u. Dramatiker des Naturalismus, z. B. mit dem nach Meyers Großes KonversationsLexikon, Band 9. Leipzig 1907, 242 so bez. „Verleumdungsdrama“ Les paroles restent (1892) (dt., „Die Worte bleiben“). Später für Frauenrechte eintretende Dramen. 135,1123 ,Exhibitionismus‘] Lat., exhibeo, dt., „wahrnehmen lassen“, „vernehmbar machen“. Verhaltensstörung in Form einer Störung der Sexualpräferenz, bei der die betreffende Person es als erregend empfindet, v. anderen Personen unbekleidet o. bei sexuellen Aktivitäten beobachtet zu werden. 135,1131 „Les dieux de la Grèce“] (dt., „Die Götter Griechenlands“). Gemeint ist vmtl. die 1880 v. Stéphane Mallarmé (1842–1898) veröfftl. Schrift Les dieux antiques. Nouvelle mythologie illustrée d’après George W. Cox et les travaux de la science moderne, à l’usage des lycées, pensionnats, écoles et des gens du monde (1880) (dt., „Die antiken Götter. Neue Mythologie illustriert n. George W. Cox u. die Arbeiten der modernen Wissenschaft, zum Gebrauch für Gymnasien, Pensionate, Schulen u. der Leute von Welt“), die auf A Manuel of Mythologie in the form of question and answer (dt., „Ein Handbuch der Mythologie in Form v. Fragen u. Antworten“) des Historikers George William Cox (1827–1902) beruht. 135,1131 „L’après-midi d’un Faune“] (1876) (dt., „Der Nachmittag eines Fauns“); bedeutendes symbolist. Rollengedicht v. Stéphane Mallarmé (1842–1898)

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im Versmaß des Alexandriners (104 Verse). Aus Gründen der Kompositionsumstände u. des Inhalts häufig mit Hérodiade (1864–1887) in Verbindung gebracht. Themat. oszilliert „L’après-midi d’un Faune“ in seiner mytholog. Darstellung zw. Realität u. Imagination. 135,1134 (Mallarmé ist Lehrer des Englischen an einem Pariser Gymnasium)] Mallarmé erhält im Jahre 1864 die Lehrerlaubnis für das Englische. Zunächst in Tournon tätig, n. Stationen in Besançon u. Avignon ab 1871 am „Lycée Fontanes“ in Paris. 135,1139 Lessing läßt Conti in der Emilia Galotti sagen] Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), bedeutender dt. Dichter, Dramatiker u. Literaturtheoretiker der Aufklärung. Begr. (im dt.-spr. Raum) einer dramenpoet. innovativen Konzeption des „Bürgerlichen Trauerspiels“. Krit.-ästhet. u. philosoph. Schriften u. a.: Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759); Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei u. Poesie (1766); Wie die Alten den Tod gebildet (1769) Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780). Dramen: Miß Sara Sampson (1755), Minna von Barnhelm (1763), Emilia Galotti (1772), Nathan der Weise (1779). – Emilia Galotti (Ua. 1772), bürgerl. Trauerspiel in fünf Aufzügen v. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Hier: 1. Aufzug, vierter Auftritt: „Und doch bin ich wiederum sehr zufrieden mit meiner Unzufriedenheit mit mir selbst. – Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! – Aber, wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen: darauf bin ich ebenso stolz, und stolzer, als ich auf alles das bin, was ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin; daß es aber meine Hand nur nicht immer ist. – Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden? (…)“ 135,1143 In einer Zeit überschäumenden Gründungsschwindels] Zeit eines enormen wirtschaftl. Aufschwungs infolge der Industrialisierung etwa v. 1860 bis zum großen Börsenkrach v. 1873. Die „Gründerzeit“ wird bis zum Jahr 1914 datiert. 135,1153 Senegal-Neger] N. vergleicht hier den frz. Dichter Stéphane Mallarmé (1842–1898) mit den „Zauberer[n] der Senegalneger“, denen Verehrung entgegen gebracht wird, die auf Täuschung und Suggestion beruht. Als S. bez. N. die Einwohner der damaligen frz. Kolonie u. des heute autonomen (seit 1960) Staates Senegal in Westafrika. Die Bez. „Neger“ leitet sich etymolog. v. lat., niger, dt., „schwarz“, ab u. wird schließl. ab dem 18. Jh. v. frz. „nègre“ zur Bez. der Bewohner Schwarzafrikas ins Deutsche übernommen. Heute gilt der Begriff als diskriminierend. 135,1157 Fetisch] V. lat., facticius‚ dt., „nachgemacht“, „künstl.“, franz., „fétiche“; port., „feitiço“, dt., „Zauber(mittel)“. Gegenstand, dem eine bestimmte (zumeist religiös o. sexuell motivierte) Verehrung zuteil wird. 135,1159 Kalebasse] Ein aus der ausgehöhlten u. getrockneten Hülle eines Flaschenkürbisses hergestelltes Gefäß. Überwiegend zur Aufbewahrung u. zum Transport v. Flüssigkeiten bestimmt.

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136,1172 Satyr-Ohren] Satyre u. Silene, in der gr. Mythologie ausgelassene u. lüsterne Gefolgsleute des Dionysos in Menschengestalt, ausgestattet mit Pferdeschwanz u. -ohren (oft auch -hufen). 136,1172 Hartmann] Robert Hartmann (1831 o. 1832–1893), dt. Naturforscher, ab 1873 Professor der Anatomie an der Universität in Berlin (heute Humboldt-Universität). 136,1173 Frigerio] (Vollst. Name u. Lebensdaten unbek.), ital. Mediziner. Publikationen u. a. L’oreille externe, étude d’anthropologie criminelle (1888) (dt., „Das äußere Ohr, Studie zur Kriminalanthropologie“). 136,1174 atavistische] Lat., atavus, dt., „Ahnherr“, „Urahne“. Als Atavismus wird ein Rückfall in überholte o. überwundene Verhaltensweisen bez. o. das Auftreten v. anatom. Merkmalen bei Organismen, die eigtl. für ihre Vorfahren typisch waren. Umgangspr. abwertende Bez. für Gefühle, Gedanken o. Handlungen, die einem früheren, primitiven Stadie zur Menschheit entsprechen. 136,1182 „Les Syrtes“] Lat., Syrtis, dt., „Sandbank im Meer“. Im Besonderen Name zweier Sandbänke an der Nordküste v. Afrika. Die Große Syrte östl. u. die Kleine Syrte westl. v. Tripolis. – Gedichtband v. Jean Moréas (eigtl. Ioannis Papadiamantopoulos) (1856–1910) aus den Jahren 1883–1884. Mit der Wahl des Titels beabsichtigt Moréas, die (Schiffs-)Brüche seines Herzens u. seine moral. Erfahrungen an den Riffen der Laster u. Sünden metaphor. auszudrücken. Der Band ist nicht, wie der Titel vermuten lässt, allein v. dunklen Gedanken getragen, sondern vereint Erinnerungen, Träumereien u. auch Liebesverse. 136,1183 „Les Cantilènes“] Frz., „cantilène“, dt., „Singsang“. Bez. für eine meist langsam vorgetragene Melodie o. Gesangsfolge in einer mehrstimmigen Komposition. Zweiter Gedichtband v. Jean Moréas (1856–1910), in dem er die Tradition mittelalterl. Legenden u. Lieder aufnimmt (1886). 136,1183 „Le Pélerin passionné“] (1891) (dt., „Der leidenschaftl. Pilger“). Gedichtband v. Jean Moréas (1856–1910), in dem er die Theorien der symbolist. Bewegung umsetzt. Anatole France (eigtl. François Anatole Thibault) (1844–1924) bez. ihn in Anlehnung an den Dichterkreis um Pierre de Ronsard (1524–1585) als Stern einer neuen Pléiade (dt., „Siebengestirn“). 136,1195 „Romanismus“] V. der ital. Renaissance u. dem Manierismus beeinflusste Richtung der europ. Kunst außerhalb Italiens, v. a. der niederl. Malerei des 16. Jh.s. Typisch für den R. ist die Verwendung mytholog. Motive u. Aktmalerei. Die Vertreter des R.s studieren oft in Italien, meist in Rom, Venedig u. Florenz u. werden daher auch „Italianisten“ genannt. Verbreitung findet der R. v. a. durch Graphiken. Als Hauptvertreter des R. gelten Jan Gossaert (um 1478–1532), Bernard van Orley (1491 o. 1492–1542), Jan van Scorel (1495–1562), Michiel Coxcie (1499– 1592), Martin van Heemskerck (1498–1574), Jan van Hemessen (1500-um 1566), Lambert Lombard (1505 o. 1506–1566), Anthonis Mor (zw. 1512 u. 1520–1576 o. 1577), Frans Floris de Vriendt I. (1517–1570) u. Pieter Pourbus (1523–1584). 137,1213 Charles Vignier] (1863–1934), frz. Schriftsteller u. Lyriker schweizer. Herkunft. Schüler v. Paul Verlaine, Freund v. Stephane Mallarmé. Mithg. vieler

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Zeitschriften (Lutèce, Modern Life, The Journal Contemporary, Vogue). Spezialist für asiat. u. oriental. Kunst. N. nimmt v. a. Bezug auf V.s Gedichtsammlung Centon (1886). Lat., centum, dt., „hundert“. Bez. für ein literar. o. musikal. Werk, das sich aus angeliehenen Stücken zusammensetzt; auch Flickwerk o. Potpourri. 137,1215 Adrien Remacle] (1849–1916), v. 1885 bis 1886 Leiter der frz. Literaturzeitschrift La Revue contemporaine (dt., „Die zeitgenöss. Zeitschrift“), währenddessen Édouard Rod (1857–1910) den Posten des Chefredakteurs bekleidet. 137,1216 René Ghil] René François Ghilbert (genannt René Ghil) (1862–1925), frz. Dichter u. Literaturtheoretiker. Nennt sich „Instrumentalist“. Verfasst zw. 1886 u. 1888 Le Traité du Verbe, (dt., „Abhandlung über das Verbum“), ein an die musikal. Praxis des Orchestrierens angelehntes poet. Verfahren der Anordnung v. Vokalen, Diphtongen u. Konsonanten n. den Klangfarben v. Instrumenten u. n. Gemütslagen. 137,1219 Kauderwälsch] Auch „Kauderwelsch“. Abwertende Bez. für ein schwer verständl. Gemisch aus mehreren Sprachen. Etymolog. unklar. Zunächst als Kauder- o. Kuderwelsch bezeugt. Früh auf die Rätoromanen (die Welschen v. Chur, also Churerwelsch) bezogen worden, vgl. bei Luther; doch ist unsicher, ob das Wort tatsächl. als ‚Churerwelsch‘ zu erklären ist. Mögl. ist auch ein Anschluss an kauder, v. fnhd. „kauten“, „käuten“, dt., „tauschen“, „kaufen“, „verkaufen“, dann würde sich die Bez. auf eine (wohl jiddisch geprägte) Händlersprache beziehen, K. dann i. S. v. „zum Kauf überreden“ „schwatzen“. 137,1225 Parnaß] 2.455 Meter hoher Gebirgsstock in Zentralgriechenland. In der gr. Mythologie Sitz der Musen. 137,1230 „Agnes“] Eigtl. „Agnès“. Erstes Gedicht aus der Gedichtsammlung Le pèlerin passionné (dt., „Der leidenschaftl. Pilger“) v. Jean Moréas (1856–1910) a. d. Jahr 1891. 138,1252 „Lieder“] Drei Gedichte (das n. der Reihenfolge der Anordnung fünfte, sechste u. siebte Gedicht) aus Jean Moréas’ (1856–1910) Gedichtsammlung Le pèlerin passionné (dt., „Der leidenschaftl. Pilger“) sind mit dem gleichlautenden Titel „Chanson“ überschrieben. Im Folgenden zitiert N. sowohl das erste als auch das zweite dieser als „Lieder“ übertitelten Gedichte in Gänze. 138,1268 Hofmann von Hofmannswaldau] Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679), dt. Lyriker, Anführer der sog. Zweiten Schlesischen Schule u. Wegbereiter des dt. Marinismus, einem kunstvollen, mit Metaphern u. Bildern ausgestatteten Stil n. dem ital. Barockdichter Giambattista Marino (1569– 1625). Kennz. der Lyrik: erot.-laszive Anspielungen n. antiken Vorlagen. 138,1271 Strymon] Fluss in Südwestbulgarien u. Nordgriechenland. 138,1271 Araxes] Antiker Name des Flusses Aras. Mit 1.072 km Länge der längste Nebenfluss der Kura in Vorderasien, die ins Kaspische Meer mündet. 138,1272 Tanais] Antiker Name des Flusses Don in Südwestrussland. 138,1272 Pitane] Antike Stadt mit zwei Häfen beim heutigen Çandarlı an der westtürk. Küste. Gilt in der Mythologie als Gründungsstätte der Amazonen.

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138,1273 Hermus] Heute „Gediz“. Fluss in der Westtürkei. 138,1274 Gaza] In der Antike bedeutende Hafenstadt. Heute größte Stadt im Gazastreifen. 138,1281 Jules Laforgue] (1860–1887), frz. Dichter des Symbolismus. Ab 1881 Tätigkeit in Berlin als Vorleser für Augusta Marie Luise Katharina von SachsenWeimar-Eisenach (1811–1890), Ehefrau Kaiser Wilhelms I. (1797–1888). 1887 Rückkehr n. Paris. Werke u. a. Les complaintes (1885) (dt., „Die Klagelieder“); Imitation de Notre-Dame la lune (1886) (dt., „Imitation von Notre-Dame la lune“) u. Le Concile féerique (1886) (dt., „Das zauberhafte Konzil“). Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften wie La Gazette des Beaux Arts (dt., „Die Gazette der schönen Künste“), Le Revue Indépendante (dt., „Die unabhängige Zeitschrift“), Le Décadent (dt., „Der Dekadente“), La Vogue (dt., „Die Beliebtheit“, „Die Gunst des Publikums“), Le Symboliste (dt., „Der Symbolist“) u. La Vie Moderne (dt., „Das moderne Leben“). 138,1283 „Pan et la Syrinx“] Pan et la Syrinx ou l’invention de la flûte à sept tuyaux (dt., „Pan u. die Syrinx o. die Erfindung der siebenrohrigen Flöte“). Novelle v. Jules Laforgue (1860–1887). Erschienen 1887 in La Revue indépendante (dt., „Die unabhängige Zeitschrift“). 139,1301 Edmond About] Edmond François Valentin About (1828–1885), frz. Schriftsteller, Kunstkritiker u. Feuilletonist. Beiname „neuer Voltaire“. 139,1301 Marabut] Auch Marabout o. Marab(o)u, im Volksislam ein Heiliger, zumeist in Westafrika. Steht häufig in der Tradition des Sufismus, der islam. Mystik. 139,1302 „Der Becher von Thule“] Hier Bezug auf ein titelloses Gedicht v. Charles Vignier (1863–1934), das 1886 in der Gedichtsammlung Centon erscheint: „Dans une coupe de Thulé / Où vient pâlir l’attrait de l’heure / Dort le sénile et dolent leurre / de l’ultime rêve adulé. / Mais des cheveux d’argent filé / Font un voile à celle qui pleure / Dans une coupe de Thulé / Où s’est éteint l’attrait de l’heure. / Et l’on ne sait quel jubilé / Célèbre une harpe mineure / Que le hautain fantôme effleure / D’un lucide doigt fuselé! … / Dans une coupe de Thulé … //“. 139,1315 Louis Dumur] (1860–1933), frz. Lyriker, Dramatiker u. Romancier. Werke u. a. die Gedichtsammlungen La Néva (dt., „Die Neva“) (1890) u. Lassitudes (1891) (dt., „Müdigkeiten“, „Verdrossenheiten“), sowie der Roman Albert (1890). 139,1317 Hieratische] Gr., ἱεϱατικός, dt., „priesterl.“, „heilig“. 139,1317 Matrone] Lat., matrona, dt., „Frau v. Stand“, „Familienmutter“, „ehrbare Ehefrau“, „vornehme Dame“, „Herrin“, Beiname der Göttin Juno als Beschützerin der Frauen. Bez. für eine Frau reiferen Alters. 139,1326 „Ouïs!] (dt., „Höre! Höre, die Nackten oben u. Nackten, wo / sie den immensen Flügel schlagen, der sich biegt / u. wenn [luft]leer / u. auf die großen Blütenblätter in trockenerer Luft- / (und dazu kommt, dass der schwere, langsame Gewachsene zirpt und / [denjenigen] kitzelt, der die Luft verlangsame, die dauert, und! / Gewachsen, irrend und voller Erweckungen, Klage und Glanz! Die trockene

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Vollkommenheit) / und auf die großen bewegten Blütenblätter / Als ein eifernder Flug unterging, der schrillt … / (sanfte Sprünge werden nicht mehr zu den Meeren gelangen …“). 140,1345 Edouard Dubus] (1864–1895), frz. Okkultist u. Symbolist. D. ist an der dritten (Wieder-) Gründung der Zeitschrift Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“) (1890) beteiligt, für die er in der Folge arbeitet. Zudem Mitarbeit u. a. an der Zeitschrift Scapin littéraire, artistique et théâtrale (1885) (dt., „Literar., künstler. u. theatral. Scapin“). Hauptwerk: Quand les violons sont partis (1892) Vgl. → 140, 1346. 140,1346 „Als die Fiedeln abgezogen waren“] Quand les violons sont partis (1892). Gedichtsammlung v. Edouard Dubus (1864–1895). 140,1346 „Müdigkeiten“] Frz., Lassitudes, 1891 erschienener Gedichtband v. Louis Dumur (1860–1933). 140,1347 „Die nomadischen Paläste“] Frz., Les Palais Nomades, 1887 erschienene Sammlung eines Großteil der Gedichte v. Gustave Kahn (1859–1936), zuvor publiziert in der Wochenzeitschrift La Vogue (dt., „Die Beliebtheit“) (1886). 140,1347 Maurice du Plessis] Maurice du Plessys (eigtl: Sylvain François Maurice Flandre-Noblesse) (1864–1924), frz. Dichter. 140,1347 „Die Haut des Marsyas“] Frz., La Peau de Marsyas, Gedichtsammlung v. Maurice du Plessys (1864–1924). Posthume Veröfftlg. 1997. N. Anatole Baju (1861– 1903) kündigt Maurice du Plessys einen mit La Peau de Marsyas betitelten Gedichtband im Umfeld v. Jean Moréas (1856–1910) (vmtl. als Teil der École romane, dt., „Roman. Schule“) an. Das Feuilleton kolportiert diese Ankündigung u. d. Titel La Peau de Moréas (dt., „Die Haut v. Moréas“). Vmtl. hat N. durch seine guten Kontakte in die Pariser Literatenkreise v. dieser Ankündigung erfahren. Genaue Datierung nicht mögl. 140,1347 Ernest Raynaud] Ernest Gabriel Nicolas Raynaud (1864–1936), frz. Lyriker u. Schriftsteller. Literar. Vorbild Paul Verlaine, der R. zur Publikation in der Zeitschrift Lutèce (dt., „Lutetia“; früherer Name v. Paris) verhilft. Wegbereiter der ersten Ausgabe des Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“); dort Zusammenarbeit mit Edouard Dubus (1864–1895), Louis Dumur (1860–1933) u. Julien Leclercq (1865–1901). Gemeinsam mit Maurice du Plessys (1864–1924) u. Raymond de La Tailhède (1867–1938) Mitarbeiter bei der v. Jean Moréas (1856–1910) u. Charles-Marie-Photius Maurras (1868–1952) gegr. L’École Romane (1891) (dt., „Die roman. Schule“). 140,1347 „Weltliches Fleisch“] Frz., Chairs profanes, 1888 erschienene Gedichtsammlung v. Ernest Gabriel Nicolas Raynaud (1864–1936). 140,1348 „Das Zeichen“] Frz., Le Signe, 1887 erschienene Gedichtsammlung v. Ernest Gabriel Nicolas Raynaud (1864–1936). 140,1348 „Stellen“] Frz., Sites, 1887 erschienene Gedichtsammlung v. HenriFrançois-Joseph de Régnier (1864–1936).

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140,1349 „Episoden“] Frz., Épisode, Gedichtsammlung v. Henri-FrançoisJoseph de Régnier (1864–1936) zw. 1886–1888. 140,1349 „Die Beleuchtungen“] Frz., Les Illuminations, 57 Gedichte umfassende Gedichtsammlung v. Arthur Rimbaud (1854–1891) a. d. Jahr 1886. 140,1349 Albert Saint Paul] Albert Saint-Paul (1861–1946): frz. Dichter u. Literaturkritiker im Umfeld der Pariser Symbolisten. Mitarbeit u. a. an den Zeitschriften Wallonie (dt., „Wallonien“), Vogue (dt., „Beliebtheit“, auch: „Gunst des Publikums“), Plume (dt., „(Schreib-)Feder“), Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“). 1887 Bekanntschaft mit Stéphane Mallarmé (1842–1898), u. Teilnahme an den diensttägl. Treffen im Hause Mallarmé u. a. mit Francis Vielé-Griffin (1864– 1937), Henri de Régnier (1864–1936) u. Villiers de l’Isle-Adam (1838–1889). 1889 begegnet S.-P. Stefan George (1868–1933) in Paris u. macht ihn mit dem Symbolismus u. den symbolist. Dichtern bekannt. Werke u. a. Les Encensoirs (dt., „Die Räucherschalen“) (1885), Scènes de Bal (dt., „Ballszenen“) (1889), Pétales de nacre (dt., „Perlmuttblütenblätter“) (1891). 140,1349 „Die Schärpe der Iris“] Frz., „L’écharpe d’Iris“. Gedicht v. Albert Saint-Paul (1861–1946), frz. Dichter des Symbolismus. Entstehungszeit u. Erstdruck konnten nicht nachgewiesen werden. In einer Lyrik-Anthologie v. 1911 (Toutes les lyres [anthologie critique des poètes contemporains]) ist am Ende des Eintrags über Albert Saint-Paul (283) das Vorhaben des Dichters (ASP) erwähnt, dass dieser „demnächst“ eine Neuedition seiner Gedichte, darunter bisher Unveröffentliches, unter dem Titel L’ Écharpe d’Iris plane. 140,1350 Vielé-Griffin] Francis Vielé-Griffin (1864–1937), im US-Bundesstaat Virginia geb. französischspr. Lyriker des Symbolismus. Erste Verse in der Zeitschrift Lutèce (dt., „Lutetia“; früherer Name v. Paris), die dann in Cueille d’avril (1886) (dt., „Herbsternte“) zusammengetragen werden. V. 1890–92 mit u. a. Paul Adam (1862–1920) u. Bernard Lazare (1865–1903) Hg. der Zeitschrift Les entretiens politiques et littéraires (dt., „Die polit. u. literar. Unterredungen“), die vielen Symbolisten zu Bekanntheit verhilft. Charakterist. Verwendung des sog. „vers libre“, des freien Verses. 140,1350 „Ancäus“] Frz., Ancaeus. Poème dramatique (dt., „A. Dramatisches Gedicht“), Gedichtsammlung (1885–1887) v. Francis Vielé-Griffin (1864–1937). 140,1350 „Centon“] Frz., Centon, Gedichtsammlung (1886) v. Charles Vignier (1863–1934). 140,1360 Delepierre] Octave Delepierre (1802 o. 1804–1879), belg. Schriftsteller, der sowohl in frz. als auch in engl. Sprache publiziert; u. a. unter dem Pseudonym „M. Audé“. Gemeinsam mit Pierre-Gustave Brunet (1805–1896) benutzt er das kollektive Pseudonym „Les frères Gébéodé“ (dt., „Die Brüder Gébéodé“) zur Publikation der Bibliothèque bibliophilo-facétieuse (dt., „Bibliophil-scherzhafte Bibliothek“) (1852–1856). Hier: Histoire littéraire des fous (1860) (dt., „Literaturgeschichte der Irren“). 140,1361 Philomnestes] Philomneste junior. Pseudonym v. Pierre Gustave Brunet (1805–1896) frz. Bibliograph, Historiker u. Verleger. Tätigkeit als Übersetzer

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aus dem Lateinischen, Dt. u. Engl. ins Französische. Zusammenarbeit mit Octave Delepierre (1802 o. 1804–1879), unter diesem Namen. Hier: Les fous littéraires: essai bibliographique sur la littérature excentrique, les illuminés, visionnaires, etc. (1880) (dt., „Die literar. Verrückten: bibliograph. Versuch über die exzentr. Literatur, die Illuminierten, Visionäre etc.“). 141,1381 Galimathias] Wort mit unsicherer Etymologie. Eventuell v. lat., gallimathia, dt., „Hühnerweisheit“ zur Bez. v. Streithähnen, aus lat., gallus, dt., „Hahn“ u. gr., μάθησις, dt., „Wissenschaft“. Hier im Sinne einer konfusen, wirren u. unverständl. Rede o. Schrift. 141,1391 Edgar Poe] Edgar Allan Poe (1809–1849), amerik. Schriftsteller. Entscheidende Impulse für die Genres Horrorgeschichte, Science Fiction u. Kriminalliteratur, insb. durch The Fall of the House Usher (1839) (dt., „Der Fall des Hauses Usher“) u. The Murders in the Rue Morgue (1841) (dt., „Die Morde in der Rue Morgue“). Als Lyriker Vorbildfunktion für die Symbolisten u. die moderne Dichtung, z. B. The Raven (1845) (dt., „Der Rabe“). 141,1392 Carlyle] Thomas Carlyle (1795–1881), schott. Essayist u. Historiker, der mit einer Geschichte der Frz. Revolution (The French Revolution, A History, 1837) u. einer Biographie Friedrichs II. in Erscheinung tritt (History Of Friedrich II Of Prussia, 1858). Gilt als Vermittler dt. Literatur in England durch Essays u. Übersetzungen der Literatur der Romantiker u. durch seine Übersetzung v. Goethes Wilhelm Meister (William Meister’s apprenticeship, 3. Bd., 1825), sowie einer Schiller-Biographie (Life of Schiller, an examitation of his works, 1825). 141,1392 Claude Bernard] (1813–1879), frz. Physiologe u. Mediziner. Entdeckt die Funktion der Pankreas (Bauchspeicheldrüse) u. Leber bei Verdauungsvorgängen u. ebnet so den Weg für die Entdeckung der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus). Beschreibt 1878/79 die Bedeutung des „Milieu intérieur“ (dt. „Inneres Milieu“) für die Aufrechterhaltung des Lebens. B.s Bedeutung, deshalb wird er an dieser Stelle genannt, ist begr. in der Experimentalmedizin, das physilog. Laboratorium ist n. B. Ausgangspunkt aller wissenschaftl. Forschung u. Erkenntnis, das Krankenhaus dagegen nur Ort der Beobachtung. 141,1392 Berthelot] Vmtl. Marcelin (auch: Marcellin) Pierre Eugène Berthelot (1827–1907), frz. Politiker u. Chemiker, beschäftigt sich mit der Synthese v. organ. Verbindungen u. der Thermochemie. 142,1420 Alexandriner] Zwölf- o. dreizehnsilbiger Jambus mit einer Diärese n. der sechsten Silbe bzw. dem dritten Versfuß. 142,1420 Cäsur] Lat., caesura, dt., „Verseinschnitt“, „Zäsur“. Einschnitt innerhalb eines Verses, durch den ein Versfuß durch ein Kolon (gr., κῶλον, dt., „Glied“) gespalten wird. Im Gegensatz dazu fallen in der Diärese (gr., διαίρεσις, dt., „Trennung“, „Spaltung“) Versfuß u. Kolon zusammen. 142,1421 Hiatus] Lat., dt., „Öffnung“, „offener Rachen“. In antiker Dichtung u. Kunstprosa verpöntes Aufeinandertreffen v. zwei Vokalen am Wortende u. Anfang des folgenden Wortes, z. B. „da aber“.

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142,1422 männlicher und weiblicher Reime] Gemeint sind Kadenzen, lat., cadere, dt., „fallen“. Form des Versausgangs v. der letzten Haupthebung an in akzentuierter Dichtung, männl. o. stumpfe Kadenz = einsilbig o. zweisilbig mit kurzer Stammsilbe, weibl. o. klingende Kadenz = zweisilbig mit langer Stammsilbe. 142,1423 „freien Vers“] Auch frz., „Vers libre“. Gereimte Zeilen v. unterschiedl. Hebungszahl bei gleichen Versfüßen, freie Zäsuren u. Reimschemata mit o. ohne Strophenform o. Verszeilen ungleicher Füllung ohne metr. Reglung, teils durch Reimbildung, teils durch Assonanz gebunden. 142,1424 unreinen Reim] Reimbildung mit mangelnder, nur annähernder Gleichheit der Konsonanten u. Vokale, z. B. „Ach neige, / du schmerzensreiche“ (Goethe, Faust, Erster Teil, V. 3586/7). 142,1427 Prosodie] Gr., προσῳδία, dt., „Hinzusingen, „Betonung“, „Vortrag“; Lehre v. Metrum u. Reim. 142,1431 Goethes „Prometheus“] Zw. 1772 u. 1774 verfasste Hymne Goethes aus der Sturm u. Drang-Phase in freien Versen (erschienen 1789). „Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst, / Und übe, dem Knaben gleich, / Der Disteln köpft, / An Eichen dich und Bergeshöhn! […]“. 142,1431 „Mahomets Gesang“] 1772/73 verfasstes hymn. Gedicht Goethes aus der Sturm u. Drang-Phase in freien Versen (ersch. 1789): „Seht den Felsenquell, / Freudehell, / Wie ein Sternenblick; / Über Wolken / Nährten seine Jugend / Gute Geister / Zwischen Klippen im Gebüsch. […]“. 142,1431 „Harzreise im Winter“] 1777/78 verfasstes hymn. Gedicht Goethes in freien Versen (Erstdruck 1789): „Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem Fittich ruhend / Nach Beute schaut, / Schwebe mein Lied. […]“ 142,1431 Heines „Nordsee-Cyklus“] Genau genommen zwei Nordsee-Zyklen. Entstanden 1826/27. Erstdruck in: Reisebilder, Erster bzw. Zweiter Teil, 1826/27. 142,1436 Anapästen] Sing., Anapäst. Gr., ἀνάπαιστος, dt., „zurückschlagend“, „zurückprallend“. Dreiteiliger Versfuß, bei dem auf zwei kurze unbetonte Silben eine betonte Silbe folgt. 142,1436 Jamben] Sing., Jambus. Gr., ἴαμβος, Etymologie unklar. Zweiteiliger Versfuß, bei dem auf eine kurze unbetonte Silbe eine betonte Silbe folgt. 142,1436 Spondäen] Sing., Spondeus. Gr., σπονδεῖος, dt., „zum Opfertrank gehörig“, „getragener Versfuß beim Opfergesang“. In der antiken Metrik ein Versfuß mit zwei aufeinander folgenden betonten Silben. 142,1449 „Les Gammes“] (1887) (dt., „Die Tonleitern“, bei N. „die Saklen“). Werk des amerik., meist frz. schreibenden Lyrikers Stuart Fitzrandolph Merrill (1863–1915). Gehört zu den Symbolisten. Neben Les Gammes (1887) weitere berühmte Gedichtsammlungen Les Fastes (1891) (dt., „Der Prunk“) u. Petits Poèmes d’Automne (1895) (dt., „Kleine Herbstgedichte“). 142,1449 „Les Cantilènes“] (1886) (dt., „Die Klagelieder“). Werk des symbolist. Dichters Jean Moréas (1856–1910). 142,1450 „Glocken in der Nacht“] Frz., Cloches en la nuit (1889). Gedichtsammlung v. Adolphe Retté (1863–1930); frz. Lyriker des Symbolismus.

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142,1450 „Romanzen ohne Worte“] Frz., Romances sans paroles. Gedichtsammlung v. Paul Verlaine (1844–1896) a. d. Jahr 1873. 143,1468 Professor Garners Beobachtungen] Richard Lynch Garner (1848– 1920), amerik. Zoologe. Forschung über die Sprache der Affen (The Speech of Monkeys, 1892). 143,1493 selbst das erste Selbstgespräch in Goethes „Iphigenie”] Eingangsmonolog aus Iphigenie auf Tauris (1786), Versdrama v. Johann Wolfgang Goethe (Prosafassung 1779, 1787 als Versdrama): „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel / Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines, / Wie in der Göttin stilles Heiligtum, / Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, / Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, / Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. / So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen / Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe; / Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd. / Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten, / Und an dem Ufer steh ich lange Tage, / Das Land der Griechen mit der Seele suchend; / Und gegen meine Seufzer bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. / Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern / Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram / Das nächste Glück vor seinen Lippen weg, / Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken / Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne / Zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo / Sich Mitgeborne spielend fest und fester / Mit sanften Banden / aneinanderknüpften. / Ich rechte mit den Göttern nicht; allein / Der Frauen Zustand ist beklagenswert. / Zu Haus u. in dem Kriege herrscht der Mann, / Und in der Fremde weiß er sich zu helfen. / Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg! / Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet. / Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück! / Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen / Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar / Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt! / So hält mich Thoas hier, ein edler Mann, / In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest. / O wie beschämt gesteh ich, daß ich dir / Mit stillem Widerwillen diene, Göttin, / Dir, meiner Retterin! Mein Leben sollte / Zu freiem Dienste dir gewidmet sein. / Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe / Noch jetzt auf dich, Diana, die du mich, / Des größten Königes verstoßne Tochter, / In deinen heil’gen, sanften Arm genommen. / Ja, Tochter Zeus’, wenn du den hohen Mann, / Den du, die Tochter fordernd, ängstigtest, / Wenn du den göttergleichen Agamemnon, / Der dir sein Liebstes zum Altare brachte, / Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich / Nach seinem Vaterland zurückbegleitet, / Die Gattin ihm, / Elektren und den Sohn, / Die schonen Schätze, wohl erhalten hast: / So gib auch mich den Meinen endlich wieder, / Und rette mich, die du vom Tod errettet, / Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode!“ 143,1495 Hottentottisch] Adjektiv, abgel. v. Nomen Hottentotten: Eigenbez. der Khoikhoin, dt., „Menschen der Menschen“; Hirtennomaden im südlichsten Afrika. Hier rassist. abwertend i. S. v. „ungeordnet“, „zügellos“. 144,1501 „Les voyelles“] (dt., „Die Vokale“). Sonett des frz. Dichters Arthur Rimbaud (1854–1891). Entstehung ca. 1872 in Paris. Innerhalb des Gesamtwerks

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prominent wg. des Einflusses auf die Literatur der Folgezeit. Das Sonett nimmt die schon v. Voltaire (1694–1778) behandelten Beziehungen zw. Farben u. Musik wieder auf. 144,1510 Paroxysmen] Sing., Paroxysmus. Gr., παροξυσμός, dt., „Anregung“, „Erregung“, „Aufregung“. In der Geologie: Eruptionsphase bei Vulkanausbrüchen. In der Medizin: Anfälle, Fieberschübe, Ausbrüche v. Krankheitssymptomen. Allgemein: Moment höchster Intensität, Höhepunkt. 144,1511 Ovationen] Sing., Ovation. V. lat., ovatio, dt., „kleiner Triumph“, „Zustimmung“. In der Regel gebraucht i. S. v. „tosender Beifall“. 144,1516 Francis Poictevin] (1854–1904), frz. Schriftsteller. P.s Reiseberichte u. Romane sind Traumgeschichten, die dem Prosagedicht näher sind als der narrativen Literatur. Derniers Songes (dt., „Letzte Träume“) stammt a. d. Jahr 1888. 144,1521 Theorie des Farbenhörens] Neigung der Symbolisten zur Synästhesie (gr., συναισϑάνομαι, dt., „mitempfinden“ o. „zugleich wahrnehmen“). Bez. hauptsächl. die Kopplung zweier o. mehrerer phys. getrennter Bereiche der Wahrnehmung. 144,1528 Suarez de Mendoza] François Ferdinand Dominique Suarez de Mendoza (1852–unbek.), frz. Augen-, Hals-Nasen-Ohrenarzt u. Neurologe. Vollständiger Titel der zit. Schrift: L’audition colorée. Étude sur les fausses sensations secondaires psychologiques et particulièrement sur les pseudo-sensations de couleurs associées aux perceptions objectives des sons (1890) (dt., „Das Farbhören. Studie über die falschen sekundären psycholog. Empfindungen u. insb. über die Pseudo-Empfindungen v. den mit objektiven Klangwahrnehmungen verknüpften Farben“). 145,1553 L. Hoffmann, den Goethe in seiner „Farbenlehre“] Christoph Ludwig Hoffmann (1721–1807), dt. Arzt. Bedeutsames Reformwerk zur Medizinalordnung. Goethe widmet Hoffmann ein Kapitel in Zur Farbenlehre, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 6. Abteilung. Achtzehntes Jahrhundert, u. bezieht sich darin auf Hoffmanns Werk Versuch einer Geschichte der malerischen Harmonie überhaupt und der Farbenharmonie insbesondere mit Erläuterungen aus der Tonkunst und vielen praktischen Anmerkungen (1786). 145,1558 Protoplasma] Gr., πρῶτος, dt., „der erste“ u. gr., πλάσμα, dt., „das Gebildete“, „Geformte“; heute nicht mehr gebräuchl. u. teilweise uneinheitl. verwendete Bez. für die innere, gelartige flüssige Masse aller lebenden Zellen inklusive Zellkern. 145,1563 Siphon] Auch Sipho o. Siphe. Gr., σίφων, dt., „Röhre“, „Heber“, „Spund“. Bez. ein röhrenförmiges Organ bei unterschiedl. Gruppen v. Weichtieren (Mollusca). 145,1563 Pholas dactylus] Muscheltier in auffallend gestreckter Form. 145,1568 Ganglien] Sing., Ganglion. Gr., γαγγλίον, dt., „Geschwulst“; Nervenknoten, eine Gruppe zusammenliegender Nervenzellkörper, in Wirbeltieren v. Bindegewebe u. Knochen eingekapselt u. am Rückenmark o. Gehirn angesiedelt. (sen-

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sor. Ganglien u. Ganglien des Sympathikus) o. unmittelbar an o. in den inneren Organen (Ganglien des Parasympathikus). 147,1622 Wigman] Schreibfehler N.s, korrekt: Wirgman, s. die Textstelle bei Lombroso: „Es gab auch einige dieser Sonderlinge, die, wie Wirgman, zum Drucke ihrer Werke eigens das Papier mit mehreren Farben auf derselben Seite geschmückt anfertigen ließen. Dies vermehrte natürlich die Kosten der Veröffentlichung des Werkes ins Ungeheurliche. Für einen Band mit vierhundert Seiten zahlte Wirgman zweitausendzweihundert Pfund Sterling. Filon bestrich jede Seite des von ihm verfaßten Buches mit einer verschiedenen Farbe.“ (Cesare Lombroso, Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte, Leipzig 1887, 233.) – Gemeint ist vmtl. Theodore Blake Wirgman (1848–1925), engl. Maler u. Illustrator aus dem Umkreis des Präraphaeliten Edward Burne-Jones, der wiederum im Bereich Buchdruck u. Textildesign eng mit William Morris zusammenarbeitet. 147,1624 Barbey d’Aurevilly] Jules Amédée Barbey d’Aurevilly (1808–1889), frz. Schriftsteller, Literatur- u. Kulturkritiker. Monarchist u. überzeugter Katholik, Moralist, Kritiker der Moderne. 147,1630 Denn der Naturalismus] N. meint hier die naturalist. Romane v. Edmond Louis Antoine Huot de Goncourt, die dieser n. dem Tode seines Bruders schreibt: La Fille Élisa (1878) (dt., „Das Mädchen Elisa“), die Geschichte einer Straßendirne, La Faustin (dt., „Die Faustin“) (1882) u. Chérie (1885) (dt., „Liebling“). 148,1669 Hugues Le Roux] (1860–1925), frz. Journalist, Schriftsteller u. Senator der Dritten Republik.

IV. Der Tolstoismus. 149,2 Graf Leo Tolstoi] Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910), adliger Schriftsteller des russ. Realismus, den N. im Folgenden v. a. unter dem Aspekt v. dessen Hinwendung zu religiösen u. moral. Fragen ab 1881 betrachtet u. weniger als Dichter. 149,13 Weltanschauung] S. → Nachwort. 149,21 Turgenjew] Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883), russ. Schriftsteller. Einer der bedeutendsten Vertreter des russ. Realismus neben Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–181), Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812–1891) u. Tolstoi. Publ. u. a: Zapiski ochotnika (1847–1852) (dt., „Aufzeichnungen eines Jägers“); Faust (1856) (dt., „Faust“); Pervaja ljubov’ (1860) (dt., „Erste Liebe“); Otcy i deti (1862) (dt., „Väter u. Söhne“); Dym (1867) (dt., „Rauch“). 149,25 prometheisch] Vgl. Prometheus → 118, 423. 149,29 „Krieg und Friede“] Histor. Roman v. Tolstoi, der die russ. Zeitgeschichte v. 1805 (Beginn des dritten Koalitionskrieges gegen Frankreich) bis 1812 (Scheitern v. Napoleons Russlandfeldzug) u. weitere acht Jahre im Epilog aus der

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Perspektive des russ. Adels nachzeichnet. Russ. Erstausgabe 1868/69 Vojna i mir (dt., „Krieg und Frieden“). 149,33 Polygraphie] Gr., πολύς, dt., „viel“ u. γϱαφή, dt., „Schrift“, „Zeichnung“. Hier i. S. v. Quantität u. Vielfalt des literar. Stoffes. 150,63 Lichtbild] Veraltete Bez. für „Photographie“. 151,88 Nihilismus] Lat., nihil, dt., „nichts“. Verneinung der Gültigkeit aller gesellschaftl., metaphys. u. moral. Werte. Populär wird der Begriff durch Turgenjew, der ihn 1862 in Väter und Söhne als Bez. für Anhänger sozialrevolutionärer Ideen gebraucht. Friedrich Nietzsche (1844–1900) greift den Begriff auf, als er in Jenseits von Gut und Böse (1886) seine allgemeine Kritik der abendländ. Werte vorträgt. 151,110 „Anna Karenina“] Roman v. Tolstoi (1877/78). Das umfangreiche Epos dreht sich in verschiedenen Handlungssträngen um Ehe u. Moral des russ. Adels. A. K. gehört zu den klass. Ehebruchsromanen der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, mit dem Unterschied, dass Tolstoi im Gegensatz zu Gustave Flaubert (Madame Bovary), Theodor Fontane (Effi Briest) u. Kate Chopin (The Awakening) seine Heldin nicht rechtfertigt, sondern verurteilt. Anna verlässt ihre Familie aufgrund ihrer Liebe zu Rittmeister Wronskij, verstößt damit gegen die v. Tolstoi propagierte arterhaltende Ethik u. wirft sich schließl. unter einen fahrenden Güterzug (allegor. zu lesen: das Nützliche überrollt das Schöne). Als Hauptgestalt der „unglückl. Familie“, die im Zentrum des Romans steht, wird Anna mit den „glückl. Ehefrauen“ ihres gesellschaftl. Umfeldes kontrastiert, was zu grundsätzl. Überlegungen über Sitte u. Sittlichkeit führt. 151,113 Franz Bornmüller] (1825–1890), dt. Literaturwissenschaftler. Schriftleiter am Bibliographischen Institut. Hg. der Werke Gotthold Ephraim Lessings (1729– 1781) als fünfbändige Ausgabe im Rahmen v. „Meyers Klassiker-Ausgaben“ (1884). 151,118 „Kreutzer-Sonate“] Vgl. → 25, 264. 152,131 „Die Kosaken“] Novelle v. Tolstoi. Russ. Erstveröfftlg. (russ., „Kazaki“) 1863 in der Zeitschrift Russkij vestnik (dt., „Der russische Bote“). In ihr steht die Idee der Selbstaufopferung im Mittelpunkt. Der Gegensatz zw. Zivilisation (Moskau) u. Natur (Kaukasus) wird ganz im Sinne Rosseaus gestaltet. Olenin, die Hauptperson, gelangt als Junker einer Infanteriekompanie in den Kaukasus, wo die Kosaken am Terek die russ. Grenzlinie gegen die zahlr. Überfälle des am jenseitigen Ufer des Flusses wohnenden mohammedan. Bergvolks der Tschtschenen verteidigen. Olenin verspürt den Wunsch, bei den Kosaken zu bleiben, macht aber, nicht nur aufgrund seiner unglückl. Liebe zum Kosakenmädchen Marjana, die Erfahrung, dass er in dieser Welt nicht leben kann u. kehrt zurück in die Zivilisation, obwohl er überzeugt ist, dass auch hier „alles falsch“ ist. 152,142 „Meine Beichte“] Russ., Ispoved’. Vstuplenie v nenapečatannomu sočineniju (zuerst Genf 1884; das Werk soll 1882 in Russland erscheinen, wird aber v. der kirchl. Zensur verboten; erst 1906 vollst. russ. Ausgabe, kursiert aber vorher handschriftl. u. hektographiert), (dt., „Beichte. Einleitung zu einem unveröfftl.

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Werk“). Die Beichte ist neben dem Traktat Čto takoe iskusstvo? (1897/1898) (dt., „Was ist Kunst?“) die bedeutendste publizist. Arbeit Tolstois, worin er sein Leben schildert mit Blick auf den rechten Glauben, der v. der derzeitigen Kirche in Russland nicht vermittelt werde, wodurch es zu egoist. Lebenszielen komme wie z. B. bei ihm selbst. Die Beichte wird so zu einem Protokoll einer Selbstfindung, mit der Tolstoi selbstkrit. u. missionar. zugleich eine Vorbild-Funktion beansprucht. Alle weiteren Schriften Tolstois, die Lebensführung betreffend, stehen im Horizont der Beichte. 152,143 „Mein Glaube“] Russ., Čem moja vera? (1885) (dt., „Worin besteht mein Glaube?“). Fortführung der Beichte. 152,143 „Kurze Darlegung des Evangeliums“] Russ., Kratkve izloženie Evangelija (1890). 152,143 „Vom Leben“] Russ., O žizni (1888). Traktat über Leben, Tod u. Liebe, worin Tolstoi v. Menschen fordert, sich nicht v. Wort Gottes leiten zu lassen, sondern ewig u. ausschließl. v. der menschl. Vernunft. 152,163 Zweckbegriff in der Natur] Einige Philosophen, wie Baruch de Spinoza (1632–1677) o. Ernst Haeckel (1834–1919), sehen in der Natur blinde Kausalität wirken u. verneinen die Existenz v. zielgerichteten Zweckursachen der Natur. Andere, wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), versuchen, Kausalität (Mechanismus) u. Teleologie (Zweckverwirklichung) zu versöhnen. N. schließt sich hier den antiteleolog. Überlegungen an. 154,229 Lebensräthsel] Schlagwort der monistischen Weltanschauung, die die Welt umfassend zu erklären versucht, z. B. bei Ernst Haeckel (1834–1919), bei ihm später als „Welträtsel“ bek. geworden (Die Welträthsel, 1899). Auch beliebt als Titel für Romane o. v. Abhandlungen, z. B. Johannes Moser, Das Lebensräthsel und der Materialismus: eine naturphilosophische Studie (1887). 154,230 eudämonistischen] Gr., εὐδαιμονία, dt., „Glück“, „Wohlstand“. Eudämonismus, Philosophie, die das Glück ins Zentrum allen Denkens u. Handelns stellt, so z. B. in Aristoteles’ (384–322 v. Chr.) Nikomachischer Ethik. 154,239 Fürst Bismarck] Otto Eduard Leopold Fürst von Bismarck-Schönhausen (1815–1898), erster Reichskanzler des Deutschen Reiches 1871 bis 1890. Das vermeintl. Bismarck-Zitat findet sich nur bei N., aber nicht in einer wortgleichen Bismarck-Äußerung. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass N. kompiliert bzw. paraphrasiert. Fundstellen, an denen sich Bismarck zur eigenen Gottesfurcht äußert, gibt es zahlreiche; es ist aber nicht ohne weiteres möglich, jene Stelle zu benennen, auf die sich N. möglicherweise beruft. 155,260 Walstatt] Veraltet für „Schlachtfeld“. 157,348 „Physiognomischen Fragmente“] Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (4 Bde. 1775–78), vieldiskutiertes Hauptwerk v. Johann Caspar Lavater (1741–1811), in dem er versucht, v. der äußeren Erscheinung (Gesichtszüge u. Körperformen) auf den Charakter des Menschen zu schließen. Mit der Theorie dieser „Physiognomik“ trägt Lavater wesentl. zur Popularität des Schattenrisses bei.

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157,349 Jean Pauls] Jean Paul, eigtl. Johann Paul Friedrich Richter (1763–1825), dt. Schriftsteller der Spätromantik u. des Biedermeier. Namensänderung aufgrund seiner Bewunderung für Jean-Jaques Rousseau (1712–1778). Iron. Humorist i. d. Nachfolge Laurence Sternes (1713–1768). Werke u. a.: Die unsichtbare Loge. Eine Biographie (1793), Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle (1793), Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Biographie (1795), Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (1796–97), Flegeljahre. Eine Biographie (1804–05). 157,349 Maria Wuz] Name des Schulmeisterleins in Jean Pauls (1763–1845) Erzählung Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (1793), das so arm ist, das es sich seine Bücher selbst schreibt, neben Friedrich Schillers Die Räuber u. Kants Kritik der reinen Vernunft auch Lavaters Physiognomische Fragmente, s. → 157, 348. 157,351 Lavaters] Johann Caspar Lavater (1741–1801), Schweizer Pfarrer, Philosoph u. Schriftsteller. S. → 157, 348. 157,364 Pantheismus] Gr., πᾶν, dt., „alles“, gr., θεός, dt., „Gott“, gr., -ισμός, dt. Suffix zur Bez. e. Tätigkeit o. deren Ergebnis. 158,406 mausen] V. Subst. „Maus“. 1. meist beschönigend o. scherzhaft gebraucht i. S. v. „heiml. an sich nehmen“, „jemandem etwas wegnehmen“. 2. Veraltet für „Mäuse fangen“. 3. Veraltet i. S. v. „etwas heiml. tun“, in Anspielung auf einen Ehebruch. 160,489 „Albert“] Russ., Al’bert (1858). Die Erzählung schildert die künstler. Genialität eines verkommenen Geigers, der nur noch in Kaschemmen auftritt u. im Alltag versagt. Der wohlhabende Delessow nimmt den Künstler bei sich auf, der aber nun unglücklicher ist als zuvor. 161,519 „Aus dem Tagebuche des Fürsten Nechljudow, Luzern“] Russ., Iz zapisok knjazja D. Nechljudova (1857). Im vornehmen Hotel „Schweizerhof“ in Luzern tritt ein Triroler Straßenmusikant auf u. bettelt bei reichen Zuhörern um Geld. Sein Hut aber bleibt leer. Graf Nechljudow lädt den Vagabunden daraufhin unter den spött. Augen des Personals zu einem Abendessen im noblen Hotel ein u. stellt dazu grundsätzl. Überlegungen über den Zustand der westeurop. Kultur an. 162,573 Krakehl] Auch Krakeel. Umgangsspr. abwertende Bez. für Streit, Lärm. Etymologie unsicher: kurz nach 1550 nachgewiesen; Ursprünge möglicherweise ital., „gargagliata“, dt., „vielstimmiger Lärm“ o. mhd., ‚kragelen‘, dt., i. S. v. „wie Krähen schreien“ o. niederl., „kräkeln“, dt., „krächzen“. 162,576 der auf glühenden Kohlen sitzt] Umgangsspr. Paraphrase für „sich in Furcht u. Unruhe befinden“. 163,590 ruchloser Selbstling] Veraltet für „gewissenloser Egoist“. 163,622 E. Halpérine-Kaminsky] Ely Halpérine-Kaminsky (eigtl. Ilia HalpérineKaminsky) (1858–1936), russischstämmige frz. Übersetzerin, v. a. der Werke Leo

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Tolstois (Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi ) (1829–1910) u. Iwan Sergejewitsch Turgenjews (1818–1883). 164,633 Vers Matthäi] Vgl. Matthäus. 5, 28. 164,647 „Eheglück“] Russ., Semjnoe sčastie (1859). N. N.s. Übersetzung der frz. Ausgabe Le Roman du Marriage (1889) auch Roman der Ehe, vgl. → 171, 937: Im Dt. auch u. d. Titel Familienglück. 164,663 Michel Delines] Eigtl. Mikhail Osipovich Ashkinazi (1851–1914), in Russland geb., frz. Journalist, Schriftsteller u. Übersetzer. 165,675 „Die Früchte der Bildung“] Russ., Plody prosveščenija (1891) (dt., auch: „Die Früchte der Aufklärung“). Komödie, in der Tolstoi, ähnl. wie schon in der Erzählung „Luzern“, das Verhältnis der oberen Schichten zum Volk kritisch herausarbeitet. Schauplatz ist das Moskauer Haus des reichen Gutbesitzers Swesdinzew. Um ihn gruppiert Familienmitglieder u. ein kleiner Kreis v. Bekannten aus der höheren Gesellschaftsschicht, unter ihnen Professor Krugoswetlow, der, wie Swesdinzew, für den Spiritismus schwärmt. Das einfache Volk wird v. der Dienerschaft u. drei Bauern aus Kursk repräsentiert, die vom Gutsherrn Land kaufen wollen, was dieser ablehnt, bis er vom Dienstmädchen Tanja trickreich während einer spiritist. Sitzung dazu gebracht wird, den v. den Bauern vorgelegten Kaufvertrag zu unterzeichnen. Den einzigen großen Monolog spricht Professor Krugloswetlow über den Spiritismus. 165,689 Bouvard und Pécuchet] Frz., Bouvard et Pécuchet (1881). Nicht zu Ende geführter Roman des frz. Schriftstellers Gustave Flaubert (1821–1880). Er handelt v. den beiden Pariser Büroangestellten François Denys Bartholomée Bouvard u. Cyrille Romain Juste Pécuchet, die sich dilettierend in den Wissenschaften u. Künsten versuchen. 165,690 Flauberts] Gustave Flaubert (1821–1880), frz. Schriftsteller. Werke u. a.: Madame Bovary (1856), L’Éducation sentimentale (1869) (dt., „Die Erziehung der Gefühle“). Anklage wg. Verletzung der öffentl. Moral, aber Freispruch. 165,693 Kruboys] Kru: Sprach- u. Bevölkerungsgruppe in Westafrika; Angehörige der Ethnie, die z. B. als Schiffsjungen, auf europ. Schiffen arbeiteten, „crew boys“. 165,697 Tingel-tangel-Sängerin] Abwertende Bez. für eine wandernde o. im Varieté auftretende Kleinkünstlerin. 165,707 „Was soll man thun?“] Russ., Tak čto že nam delat’? (1886) (dt., „Bekenntnisse. Was sollen wir denn tun?“). Unter dem vorangestellten Motto aus der Bergpredigt (Matthäus 6, 19–25, 31–33) sowie Matthäus 19, 24 widmet sich Tolstoi den Lebensbedingungen der armen Leute in der Stadt. 166,726 Horaz] Eigtl. Quintus Horatius Flaccus (65 v. Chr.–8 v. Chr.), röm. Dichter. Wirkmächtig durch die Satiren, Epoden, Oden u. Episteln. – Hier vermtl. Verwechselung mit Vergil (70 v. Chr.–19 v. Chr.), dessen Lehrgedicht Georgica (dt., „Gedicht v. Landbau“) Ackerbau, Obst- u. Weinanbau, Viehzucht u. Imkerei thematisiert.

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166,726 Rousseau] Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), frz.-schweiz. Philosoph, Naturforscher, Komponist, Pädagoge u. Schriftsteller der Aufklärung. R. verfasst für die Encyclopédie Denis Diderots (1713–1784) die musikwissenschaftl. Artikel. Die 1749 i. d. Zeitschrift Mercure de France (dt., „Merkur Frankreichs“) gestellte Preisfrage der Académie de Dijon: Le Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs? (dt., „Hat die Wiedereinführung der Wissenschaften u. Künste seinen Beitrag dazu geleistet, die Sitten zu veredeln?“) führt 1755 zur Schrift Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (dt., „Abhandlung über den Ursprung u. die Grundlagen der Ungleichheit zw. den Menschen“), i. d. R. die Frage eindeutig verneint u. damit eine fundierte Zivilisationskritik verbindet. 1752 Ua. seiner Oper Le Devin du village (dt., „Der Dorfwahrsager“). Als Romancier v. a. durch Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) (dt., „Julie o. die neue Heloise“) bek., als Staatstheoretiker durch Du contrat social ou principes du droit politique (1762) (dt., „Vom Gesellschaftsvertrag o. v. den Prinzipien des Staatsrechtes“), als Pädagoge durch Émile ou De l’éducation (1762) (dt., „Emile o. Über die Erziehung“). 166,729 Rückkehr zur Natur] An Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Discours sur les sciences et les arts (1750) (dt., „Abhandlung über die Wissenschaften u. die Künste“) anknüpfende Lebensreformbewegung, die ab Mitte des 19. Jh.s in Deutschland u. der Schweiz in großer Vielfalt gegen Industrialisierung u. Materialismus gerichtete Reformbestrebungen entwickelt mit dem Ziel, ein natürl. Leben zu führen. 166,741 Brodbaum] Brotfruchtbaum, trop., immergrüner Baum mit grünen schweren Früchten. 167,769 Rod] Édouard Rod (1857–1910), frz- Literaturwissenschaftler. Publikationen u. a., La course à la mort (1885) (dt., „Der Wettlauf zum Tod“), Les idées morales du temps présent (1891) (dt., „Die moral. Ideen der Gegenwart“), Études sur le 19. siècle (1892) (dt., „Studien zum 19. Jh.“), Nouvelles études sur le 19. siècle (1899) (dt., „Neue Studien zum 19. Jh.“). 167,781 aszetische] Aszetik: Gr., ἀσκητής, dt., „jmd. der sich in etwas übt“. Theolog. Disziplin, die sich mit Askese befasst. 167,783 Raphael Löwenfeld] (1854–1910), dt. Slavist, Gründer des Berliner Schiller-Theaters. Hg. des Tolstoischen Werkes in dt. Übersetzung ab 1891. Wirkmächtige Tolstoi-Biografie Leo N. Tolstoj: Sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung (1892). 169,836 Kowalewski] Pavel Ivanovich Kovalevskij (1850–1923), russ. Mediziner. Prof. an einer Poliklinik in Charkow, Russland, (vmtl. Psychiater). Werke u. a.: Sur la curabilité de la démence (1886) (dt., „Über die Heilbarkeit des Schwachsinns“). 169,838 Griesinger] Wilhelm Griesinger (1817–1868), einer der bedeutendsten dt. Psychiater u. Internisten. Zunächst ao. Professor für allgemeine Pathologie, Materia medica u. Geschichte der Medizin in Tübingen, 1849 in Kiel ordentl. Professor für Pathologie u. Therapie, 1850 Leibarzt des Vizekönigs v. Ägypten u. Direktor

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der Medizin. Schule in Kairo, 1854 o. Professor an der Medizinischen Klinik in Tübingen, ab 1860 in Zürich. Dort Betreuung des Kantonhospitals u. der Irrenanstalt, 1865 Ruf an den neugegr. Lehrstuhl für Psychiatrie in Berlin. Werke u. a. Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (1845, Neuauflage 1861 mit der deutl. Befürwortung zwangfreier Behandlung v. Patienten in der Psychiatrie); Gesammelte Abhandlungen (2 Bd., 1872). 170,914 Paul Moreau (de Tours)] (1844–1908), frz. Psychiater u. Kriminologe. Publ. u. a.: Des aberrations du sens génésique (1877) (dt., „Die Aberrationen des Zeugungssinns“); De la contagion du suicide (1875) (dt., „Die Ansteckung des Selbstmords“); De la folie jalouse, 4 Bde. (1877–1887) (dt., „Über den Eifersuchtswahnsinn“). 171,937 „Roman der Ehe“] Vgl. → 164, 647. Russ., Semejnoe sčastie (1859). N.s Übersetzung der frz. Ausgabe Le Roman du Marriage (1889). 171,953 erotomanische] Gr., ἐρωτομανία, dt., „rasende Liebe“. Krankhaft übersteigertes sexuelles Verlangen. 171,954 dipsomanische] Gr., δίψα, dt., „Durst“, u. gr., μανία, dt., „Raserei“. Unter period. Trunksucht Leidender. 172,963 Skoptzi] Skopzen: russ., „skopec“, dt., „Eunuch“, „Kastrat“, auch „Weiße Tauben“ gen. (russ., „belye golubi“), russ. religiöse Gruppierung v. a. im 19. Jh. Rituelle Verstümmelung der äußeren Genitalien u. der weibl. Brust, um die als sündhaft wahrgenommene Sexualität zu überwinden. 173,1012 Herrn von Egidys] Christoph Moritz von Egidy (1847–1898), dt. königl. Preuß. Offizier, Moralphilosoph. Großer Erfolg mit Ernste Gedanken (1890), weitere Werke u. a. Das einige Christentum (1891) u. Ernstes Wollen (1891).

V. Der Richard-Wagner-Dienst. 174,18 Richard Wagnerei] Unbestimmter Begriff, wird aber noch abwertender verwendet als „Wagnerismus“, „Wagnérisme“ (frz.) o. „Wagnerism“ (engl.). Er bez. 1. im Gegensatz zur kenntnisreichen, reflektierten Begeisterung für die Kunst Richard Wagners (1813–1883) (Wagnerianertum) eine vorwiegend, aber nicht ausschließl. außermusikal. Rezeption; 2. ein histor. Phänomen, beginnend in den sechziger Jahren mit Blütezeit in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jh.s. 174,34 Ferdinand Praeger] Ferdinand Christian Wilhelm Praeger (1815–1891), dt. Komponist u. Schriftsteller. Gemeint ist hier Wagner as I knew Him (1892) (in der dt. Ausgabe Wagner, wie ich ihn kannte, Leipzig 1892). 175,43 „Bayreuther Blätter“] 1872 übersiedelt Wagner n. Bayreuth. 1874 bezieht er mit Cosima das Haus Wahnfried. 1875 Fertigstellung des Festspielhauses. 1876 erste Bayreuther Festspiele mit der vollst. Aufführung der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. 1877 wird Hans Paul Freiherr von Wolzogen (1848–1938), dt. Redakteur, Hg. u. Librettist, v. Wagner n. Bayreuth geholt, wo von Wolzogen v. 1878 bis 1938 die Zeitschrift Bayreuther Blätter redigiert u. ediert. Die Zeitschrift entwickelt sich

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zum Zentralorgan der Kunst- u. Lebensanschauung Richard Wagners; so werden u. a. dessen letzte Aufsätze erstmals dort veröfftlt. N. dem Tod des Komponisten 1883 dominiert von Wolzogen den sog. „Wahnfried-Kreis“, der das Werk Wagners mit pseudoreligiöser Relevanz aufzuladen versucht. 1928 gehört v. Wolzogen zu den Unterzeichnern des Gründungsmanifestes des antisemit., völkisch gesinnten Kampfbunds für deutsche Kultur. 175,50 „Gesammelten Schriften und Dichtungen“] Leipzig, 1871–1873, 1883 (Neuaufl. 1976). 175,56 „Das Kunstwerk der Zukunft“] (1850) Eine v. drei (neben Die Kunst und die Revolution, 1849 u. Oper und Drama, 1852;) Zürcher Kunstschriften Wagners, die einen geschlossenen Zusammenhang bilden: Die Kunst und die Revolution formuliert die geschichtsphilosoph. Grundlagen der Wagnerschen Ästhetik. Das Kunstwerk der Zukunft entfaltet eine allgemeine ästhet. Theorie, in deren Mittelpunkt das v. Wagner entworfene Modell einer neuen Einheit der Künste, das „Gesamtkunstwerk“, steht. 175,60 Oper und Drama“] (1852), die Schrift konkretisiert die Vorstellung des „Gesamtkunstwerkes“ als Ästhetik des musikal. Dramas. In diesem letzten u. umfangreichsten der drei Werke dominieren die literatur-, kunst- u. musiktheoret. Erörterungen. 175,60 „Das Judenthum in der Musik“] Schon zu Lebzeiten umstrittenste, antisemit. Schrift Wagners, 1850 in Neue Zeitschrift für Musik unter Pseudonym K. [Karl] Freigedank erschienen. 1869 veröfftlt. Wagner unter eigenem Namen eine stark erweiterte Fassung als Monographie, die zentral gegen Giacomo Meyerbeer (eigtl. Jakob Liebmann Meyer Beer, dt. Komponist u. Dirigent, 1791–1864) gerichtet ist. 175,60 „Ueber Staat und Religion“] (1864). Gehört in den Zusammenhang weltanschaul. Schriften Wagners. Einerseits versucht Wagner hier, die „politischen und namentlich die revolutionären und anarchistischen Revolutions- und Kunstschriften zu verharmlosen“, andererseits hält er am polit. Kern seiner Ästhetik fest“ (Richard-Wagner-Handbuch, 541). Wagner setzt Hoffnungen in Ludwig II., die gesellschaftl. Bedeutung der Theaterreform anzuerkennen. Urspr. im Auftrag Ludwigs II. geschrieben u. nicht für den Druck bestimmt, aber später im achten Band der Gesammelten Schriften und Dichtungen veröfftlt. 175,61 „Ueber die Bestimmung der Oper“] Vollst., Ueber die Bestimmung der Oper. Ein akademischer Vortrag (1871). Gilt als Rückgriff auf Oper und Drama sowie auf die Festschrift Beethoven (1870). Wagner fasst hier die Idee des musikal. konzipierten Dramas zusammen u. nimmt eine Neubewertung der beiden Formen des neuzeitl. Schauspiels vor. 175,61 „Religion und Kunst“] Späte Hauptschrift Wagners, erschienen (1880) in den Bayreuther Blättern. Assoziativ gehaltene Schrift, in der Wagner die Summe der „Weltanschauung“ der letzten Jahre zieht, die in die Kernthese mündet, „erst wenn die Religion ganz Kunst geworden ist, hat sich ihr Wesenskern voll entfaltet“ (Richard-Wagner-Handbuch, 551).

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177,127 Moses von Michel Angelo] Zw. 1513 u. 1515 entstandene u. in der Kirche San Pietro in Vincoli al Colle Oppio in Rom beheimatete Skulptur des ital. Malers, Bildhauers u. Architekten Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni (1475–1564). Die Skulptur ist Teil des Grabmals für Papst Julius I. (1443–1513) u. bek. für die Darstellung des Moses mit Hörnern auf dem Kopf. Diese sind auf einen Übersetzungsfehler der Vulgata aus dem Hebräischen zurückzuführen, die zur Zeit Michelangelos „gehörnt“ statt „glänzend“ übersetzte. 177,151 Psychophysik] Aus wissenschaftshistor. Sicht eine der ältesten psycholog. Fragestellungen, die sich mit gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zw. subjektivem psych. Erleben u. quantitativen, also objektiv messbaren, physikal. Reizen beschäftigen. Grundlegende Forschungen v. Ernst Heinrich Weber (1795–1878), dt. Physiologe u. Anatom, zur Mechanik des menschl. Ganges u. zur Sensorik in der Haut des Menschen. P. wird 1860 v. Gustav Theodor Fechner (1801–1887) als Teilgebiet der experimentellen Psychologie etabliert. Bisweilen auch als Teilgebiet der Wahrnehmungspsychologie bzw. Sinnesphysiologie betrachtet, befasst sich z. T. auch mit ästhet. Fragen. 178,175 Ur-Gallerte] G.: mtllat., galatina, lat., gelatus, dt., „gefroren“, „geronnen“. Zähe, zitternde u. durchscheinende Masse v. pflanzl. o. tier. Stoffen. 179,245 aufs Gerathewohl] Umgangsspr. Redensart i. S. v. „nicht systematisch“, „auf gut Glück“ o. „ohne die Folgen zu kennen“. 180,285 „Was ist deutsch?“] (1878). Aufsatz v. Wagner. Entstehung im Umkreis der Essay-Sammlung Deutsche Kunst und Politik. Kernpunkt ist „die berühmte maximenhafte Definition des ‚Deutschen‘‚ daß alles Schöne und Edle nicht um des Vorteils, ja selbst nicht um des Ruhmes und der Anerkennung willen in die Welt tritt: (…); und nur, was in diesem Sinne bewirkt wird, kann zur Größe Deutschlands führen’“ (Richard-Wagner-Handbuch, 547). 180,288 Beethoven] Ludwig van Beethoven (1770–1827), dt. Komponist. Ab 1795 beginnendes Gehörleiden, ab 1818 taub. B. legt die Krise im sog. Heiligenstädter Testament (1802) nieder. Dennoch ist die Schaffensphase bis 1812 sehr produktiv, in ihr entstehen sechs der neun Sinfonien. Das Werk zeichnet sich aus durch ein universales Schaffen v. a. Sinfonien, Klaviersonaten, Messen, Sonaten, wobei jedes Werk eine charakterist. Physiognomie besitzt. Einfluss der Ideale der Frz. Revolution u. der Gestalt Napoleons auf das Schaffen. 181,305 Pfahlbürger mit Glatze und Schmeerbauch] Pf.: v. mhd., paelburgere; Bewohner, die zw. den Mauern einer Stadt u. der nächsten Landwehr angesiedelt sind, einerseits Außenbürger, andererseits Schutzgenossen mit bürgerähnl. Rechten. Sch.: eigtl. Schmerbauch, v. ahd., smëro, mhd., smër, Schmer, Fett, mit schmieren verwandt. Synonym für Dickwanst, Fettbauch. 181,308 Squenz, Schnock, Zettel, Flaut, Schnauz und Schmächtig] Im Orig. Peter Quince, Nick Bottom, Francis Flute, Robin Starveling, Tom Snout, Snug: Handwerkerfiguren in William Shakespeares (1564–1616) A Midsummer Night’s Dream (1595 o. 1596 entstanden, vor 1600 aufgeführt) (dt., „Ein Sommernachtstraum“).

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181,309 „Pyramus und Thisbe“] Babylon. Liebespaar, das sich aufgrund seiner verfeindeten Familien nicht sehen darf. Bei einem heiml. Treffen kommt es zu einem folgenschweren Irrtum, der für beide mit dem Suizid endet: P. nimmt an, dass T. v. einem Löwen zerrissen ist u. stürzt sich ins Schwert; T. tut es ihm aus Verzweiflung über seinen Tod nach. Ihr Blut netzt einen Maulbeerbaum, dessen urspr. weiße Beeren fortan rot sind. Die Asche des Paares wird in einer Urne beigesetzt, um ihren Wunsch, zusammen zu sein, zu erfüllen. Der Mythos v. P. u. T. wird zuerst in den Metamorphosen des röm. Dichters Ovid (43 v. Chr. – wohl 17 n. Chr.) erwähnt. 182,337 Anarchist] Anhänger des Anarchismus, v. gr., ἀναρχία, dt.‚ „Herrschaftslosigkeit“, „Gesetzlosigkeit“. Der A. lehnt jegl. Form der Herrschaft u. Hierachie im menschl. Zusammenleben ab u. verteidigt die uneingeschränkte Freiheit des Individuums. 182,372 Vergleiche] Mit der hier zit. Passage will N. die Anarchie exemplifizieren u. nachweisen, die er Wagner unterstellt. Wagner stellt die Selbstregulierung menschl. Zusammenlebens heraus unter der alles bedingenden gemeinsamen Erkenntnis, das Richtige zu tun. Die Semantik v. Anarchie beinhaltet in diesem Kontext also keinesfalls Chaos, sondern Organisation. Um der besseren Kontextualisierung willen sei die v. N. zit. Passage im Textzusammenhang wiedergegeben: „[Wenn unsere heutigen Kirchweihfeste hauptsächlich durch die hierbei abgehaltenen, n. ihnen sich benennenden sogenannten ,Kirmesschmäuse‘ beliebt und anziehend geblieben sind, so glaubte ich das mystisch bedeutsame Liebesmahl meiner Gralsritter dem heutigen Operpublikum nicht anders vorführen zu dürfen, als wenn ich das Bühnenfestspielhaus diesmal zur Darstellung eines solchen erhabenen Vorgangs besonders geweiht mir dachte. Fanden hieran konvertierte Juden, von denen mir christlicherseits versichert wurde, daß sie die unduldsamsten Katholiken abgäben, vorgeblichen Anstoß, so hatte ich mich dagegen allen denen nicht weiter hierüber zu erklären, welche im Sommer dieses Jahres zur Aufführung meines Werkes sich um mich versammelten. Wer mit richtigem Sinne und Blicke den Hergang alles dessen, was während jener beiden Monate in den Räumen dieses Bühnenfestspielhauses sich zutrug, dem Charakter der hierin sich geltend machenden produktiven wie rezeptiven Tätigkeit gemäß zu erschaffen vermochte, konnte dies nicht anders als mit der Wirkung einer Weihe bezeichnen, welche ohne irgendeine Weisung, frei über alles sich ergoß. Geübte Theaterleiter frugen mich n. der bis für das geringste Erfordernis jedenfalls auf das genaueste organisierten Regierungsgewalt, welche die so erstaunlich] [Bei N. eingefügt „Dies“ (die] sichere Ausführung aller [szenischen, musikalischen wie dramatischen] Vorgänge auf, über, unter, hinter und vor der Bühne [„] leiste[te; worauf ich gutgelaunt erwidern konnte, daß dies] die Anarchie [leiste,] indem ein jeder [täte, was er wolle, nämlich] [bei N. im Indikativ: „thut, was er will, nämlich (!)] das Richtige. Gewiß war es so: ein jeder verstand das Ganze und den Zweck der erstrebten Wirkung des Ganzen. Keiner glaubte sich zu viel zugemutet, niemand zu wenig sich geboten. Jedem war das

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Gelingen wichtiger als der Beifall, welchen in der gewohnten mißbräuchlichen Weise vom Publikum entgegenzunehmen als störend erachtet wurde, während die andauernde Teilnahme der uns zuziehenden Gäste als Zeugnis für die Richtigkeit unserer Annahme von dem wahren Werte unserer Leistungen uns erfreuete.“ (Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden. Zehnter Band. Hg. mit Einleitung, Anmerkungen u. Registern versehen v. Wolfgang Golther. Berlin u. a. 1888, 297–298). 182,372 „Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882“] Rückblickende Kommentierung der unter Wagners Gesamtleitung richtungweisenden Aufführungsprinzipien bei der Ua. des Parsifal: Fragen des Gesangs, der Gestik, Bewegungsabläufe, Kostüme u. Dekoration. Wagner plädiert für maßvolle Zurückhaltung, Sparsamkeit u. Einfachheit. 183,381 Hanslick] Eduard Hanslick (1825–1904), dt. Musikhistoriker u. Jurist. Gilt als einer der einflussreichsten Musikkritiker des 19. Jh.s, der mit seinen Kritiken in der Wiener Musikzeitung, der Wiener Zeitung u. der Presse die Haltung des Publikums gegenüber Komponisten, Orchestern u. Musikern seiner Zeit stark beeinflusst. Zunächst begeisterter Anhänger Wagners, später erbitterter Kritiker. Hauptwerk: Vom Musikalisch-Schönen (1854). In der zweiten Auflage der Schrift Das Judentum in der Musik (1869) stilisiert sich Wagner zu einem hilflosen Opfer des internationalen Judentums u. einer weltweiten „Judenagitation“. Neben anderen wird auch H. verunglimpft u. sein Hauptwerk als reine Zweckschrift des „Musikjudentums“ denunziert (Richard-Wagner-Handbuch, 576). 183,382 „Rheingold“] Das Rheingold, Oper v. Richard Wagner. Bildet zusammen mit Die Walküre, Siegfried u. Götterdämmerung den ersten Teil („Vorabend“) der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Ua. am 22. September 1869 im Königl. Hofu. Nationaltheater München. Eröffnung der ersten Bayreuther Festspiele am 13. August 1876 mit Rheingold. 183,382 „Siegfried“] Oper v. Richard Wagner, bildet zusammen mit den drei Musikdramen Das Rheingold, Die Walküre u. Götterdämmerung den dritten Teil („der zweite Tag“) der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Ua. am 16. August 1876 im Bayreuther Festspielhaus. 183386 „Walküre“] Die Walküre, Oper v. Richard Wagner. Bildet zusammen mit Das Rheingold, Siegfried u. Götterdämmerung den zweiten Teil („der erste Tag“) der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Ua. am 26. Juli 1870 im Königl. Hof- u. Nationaltheater München. 183,392 Tristan und Isolde] Heldenpaar aus dem gleichnamigen Musikdrama Wagners (n. Wagner „Handlung in drei Aufzügen“). Ua. am 10. Juni 1865 im Königl. Hof- u. Nationaltheater in München. 183,393 „Parsifal“] Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen. Letztes musikdramat. Werk v. Richard Wagner, n. Wagners Verfügung ausschließl. Aufführung im Bayreuther Festspielhaus. Ua. im Festspielhaus Bayreuth am 26. Juli 1882. 183,401 Lupanar-Vorgängen] Lat., lupanar, dt., „Bordell“ v. lat., lupa, dt., „Wölfin“, „Dirne“. Das Lupanar v. Pompeji ist eines der bekanntesten der Antike.

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184,447 Paul Aubry] (1858–1899), frz. Mediziner. Publikationen u. a: La contagion du meurtre, étude d’anthropologie criminelle (1888) (dt., „Die Ansteckung des Mordes, kriminalanthropolog. Studie“); Documents de criminologie rétrospective (1895) (dt., „Retrospektive der kriminolog. Literatur“; wörtl.: „Dokumente retrospektiver Kriminologie“). 185,474 Lehren des Katechismus] Spätl., „catechizare“, dt., „im Christentum unterrichten“ v. gr., κατηχέω, dt., „unterweisen“, „verkündigen“. Erste Verwendung des spätlat. Substantivs „catechismus“ durch Augustinus v. Hippo (354–430) für die mündl. Taufkatechese im Jahr 413. Bedingt durch die Kirchenspaltungen ist der Katechismus später in den einzelnen Konfessionen jeweils ein Handbuch für die Unterweisung in den Grundfragen des christl. Glaubens. Berühmt u. wirkungsstark sind der Kleine u. der Große Katechismus Luthers u. der reformierte Heidelberger Katechismus. 185,487 Zend-Religion] Z.: mittelpers. Wort für „Interpretation“ bzw. „Kommentar“, häufig mit Bezug zu dem Avesta, der heil. Schrift des Zoroastrismus. N. dem namensgebenden Stifter Zarathustra entsteht diese monotheist., in der Frühzeit auch dualist. ausgeprägte Religion vmtl. zw. 1800 v. Chr. u. 600 v. Chr. in Baktrien im Hochland Ostpersiens u. verbreitet sich im zentralasiat. Raum. 186,520 Der Fall Tannhäuser] Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Romantische Oper in drei Akten v. Richard Wagner. Ua. am 19. Oktober 1845 im Königlich Sächsischen Hoftheater (der heutigen Semperoper) in Dresden. N. meint hier die Erlösung des zw. geistiger (verkörpert in Elisabeth) u. körperl. Liebe (verkörpert in Venus) zerrissenen Helden durch den Opfertod Elisabeths, nachdem T. aus Rom ohne die erhoffte Absolution heimgekehrt ist. 186,521 Der Fall im Fliegenden Holländer] Der Fliegende Holländer. Romantische Oper in drei Aufzügen v. Richard Wagner. Ua. am 2. Januar 1843 im Königlich Sächsischen Hoftheater (der heutigen Semperoper) in Dresden. Der „fliegende Holländer“ muss bis zum Jüngsten Tage auf dem Meer herumirren, es sei denn, er wird durch die „Treue eines Weibes“ erlöst. Da der Teufel nicht an die Treue eines Weibes glaubt, gestattet er dem Holländer, jedes siebte Jahr an Land zu gehen u. zu versuchen, eine Frau zu finden, die ihn erlöst. Er behält in seiner Prognose recht, bis der Holländer in Senta eine Frau findet, die ihm „treu ist bis in den Tod“. Um diesen Schwur zu halten, stürzt sie sich ins Meer u. erlöst den Holländer v. seinem Fluch. 186,523 Der Fall Kundry] K. ist die geheimnisvolle Helferin der Gralsritter in Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal (1882). Weil sie Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung verhöhnt hat, sucht sie Erlösung v. ihrer Schuld, wird aber v. heimtück. Zauberer Klingsor immer wieder als Instrument der Verlockung missbraucht. Erst wenn ein Jüngling ihr widerstehe, fände sie Erlösung. Bei einem Verführungsversuch Parsifals stößt dieser sie zurück. Als Parsifal als neuer Gralskönig n. langer Zeit endl. wieder den Gral enthüllt u. aus der Höhe eine weiße Taube als Zeichen göttl. Gnade auf ihn herabschwebt, sinkt K. v. ihrem Fluche erlöst tot zu Boden.

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186,524 Der Fall in den Meistersingern] Die Meistersinger von Nürnberg, Oper v. Richard Wagner. Ua. am 21. Juni 1868 im Königlichen Hof- u. Nationaltheater München. N. meint hier das v. Walther von Stolzing, Hans Sachs, David (dem Lehrbuben v. Hans Sachs), Eva (Veit Pogners Tochter) u. Magdalene (Evas Amme u. Braut Davids) gesungene Quintett, 3. Akt, 4. Szene, das mit Evas Arie beginnt: „Selig, wie die Sonne meines Glückes lacht / Selig, wie die Sonne / Morgen voller Wonne, / selig mir erwacht; / Traum der höchsten Hulden, / himmlisch Morgenglühn: / Deutung euch zu schulden, / selig süß Bemühn! – […]“. 186,525 Der Fall Isoldens] In Wagners Musikdrama Tristan und Isolde stirbt Tristan in den Armen Isoldes. Isolde sinkt mit einer Vision, in der sie sich mit Tristan auf ewig vereint sieht, entseelt über seine Leiche. 3. Akt, 3. Szene: „Mild und leise / wie er lächelt, / wie das Auge / hold er öffnet – / seht ihr’s, Freunde? / Säht ihr’s nicht? / Immer lichter / wie er leuchtet, / Sternumstrahlet / hoch sich hebt? / Seht ihr’s nicht? / Wie das Herz ihm / mutig schwillt, / voll und hehr / im Busen ihm quillt? / Wie den Lippen, / wonnig mild, / süßer Atem / sanft entweht? / Freunde! Seht! / Fühlt und seht ihr’s nicht? – / Höre ich nur / diese Weise, / die so wunder- / voll und leise, / Wonne klagend, / Alles sagend, / mild versöhnend / aus ihm tönend / in mich dringet, / auf sich schwinget, / hold erhallend / um mich klinget? / Heller schallend, / mich umwallend, / sind es Wellen / sanfter Lüfte? / Sind es Wolken / wonniger Düfte? / Wie sie schwellen, / mich umrauschen, / soll ich atmen, / soll ich lauschen? / Soll ich schlürfen, / untertauchen? / Süß in Düften / mich verhauchen? / In dem wogenden Schwall, / in dem tönenden Schall, / in des Welt-Atems / wehendem All –, / ertrinken, / versinken –, / unbewußt –, / höchste Lust!“ 186,527 Der Fall in den Nibelungen] Korrekt: „des Nibelungen“. Im Schatten der Welt-Esche, Inbegriff der heiligen Ordnung, entspringt die Quelle der ewigen Weisheit, als ein kühner Gott, Wotan, herantritt, um aus der Quelle zu trinken u. aus der Esche einen Ast zu schlagen, um daraus einen Speer zu formen. Die Esche krankt u. vergeht. Das ist die Vorgeschichte des Rings. Im 3. Akt des letzten Teils („Götterdämmerung“) beschließt Brünnhilde, Siegfried in den Tod zu folgen. Sie lässt einen Scheiterhaufen für Siegfried errichten, zieht Siegfried den Ring vom Finger u. reitet mit ihrem Pferd Grane ins Feuer hinein. Die Welt ist vom Fluch, der auf dem Ring lastet, erlöst. Darauf tritt der Rhein über seine Ufer u. die Rheintöchter holen sich zurück, was ihnen gehört: den Ring. Der Fluch ist beendet durch Brünnhildes Liebe. Doch auch das Ende der Götter ist besiegelt, denn die Flammen des Scheiterhaufens entzünden Walhall, den Wohnsitz der Götter. Eine neue, ungewisse Weltordnung bricht an. 187,579 „Hans im Glück“] Märchen aus den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm (Jacob Grimm, 1785–1863, u. Wilhelm Grimm, 1786–1859) in der Zweitauflage v. 1819. Der naive Hans erhält als Lohn für sieben Jahre Arbeit einen kopfgroßen Klumpen Gold, den er im Glauben, sein Glück zu machen, gegen ein Pferd eintauscht, dieses gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen

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eine Gans, die Gans gegen einen Schleifstein mitsamt einem einfachen Feldstein. Als er aus einem Brunnen trinken will, fallen sie hinein. Hans ist v. aller Erdenschwere befreit: „So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne.“ 188,593 Pharisäers] Hebr., eigtl. „der Abgesonderte“. Seit dem 2. Jh. jüd. Gruppierung gelehrter Laien im Gegensatz zur Tempelaristokratie der Sadduzäer. Im Neuen Testament häufig Herabwürdigung als Heuchler. Umgangsspr. Bez. für einen hochmütigen, heuchler. Menschen. 188,593 wo die Sünderin dem Heilande] Lukasevangelium 7, 36–50. 189,646 psalmodiren] Psalmodie: gr., ψαλμός, dt., „Saitenspiel“, „Loblied“. Gesungener Vortrag v. Psalmen des Alten Testaments, Cantica (hymn. Gebetstexten aus dem AT u. NT) u. sonstigen Bibeltexten. 189,647 Introitus] Lat., dt., „Einzug“, „Amtsantritt“, „Eingangsgebet“; Teil der Heiligen Messe der röm.-kath. Kirche u. in der Folgezeit der Gottesdienste der anglikan. u. luther. Kirchen. Psalm o. Psalmverse, der / die beim festl. Einzug des Zelebranten (lat., celebro, dt., „feiern“, „überschwängl. preisen“) meist v. Chor o. diesem selbst gesungen wird / werden. 189,648 Confiteor] Lat., dt., „ich bekenne“. Allgemeines o. persönl. Schuldbekenntnis. Im kath. Gottesdienst ein in die Liturgie eingebettetes Gebet während der Heiligen Messe o. in der Komplet (Nachtgebet) n. der Eröffnung o. ein Priestergebet vor dem Gottesdienst. Im protestant. Bereich in vier liturg. Hauptformen vorhanden: zu Beginn eines Hauptgottesdienstes, zu Beginn eines Bußgottesdienstes, als Bußgebet der Gemeinde n. der Predigt u. als Vorbereitungsgebet der Gemeinde für die Abendmahlsfeier. 189,648 Offertorium] Lat., offerro, dt., „anbieten“, „darbringen“. Liturg. Gesang zur Bereitung v. Brot u. Wein bei der Heiligen Messe. 189,650 Konsekration] Lat., consecro, dt., „etwas weihen“, „etwas heiligen“. Liturg. Handlung, die die Überführung einer o. mehrerer Personen o. Sachen in den sakralen Bereich vornimmt. 189,650 Kommunion] Gr., κοινωνία, lat., communio, dt., „Gemeinschaft“, „Teilnahme“, auch „Heilige Kommunion“. Der Begriff geht zurück auf 1. Kor 10,16: „Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist’s: So sind wir viele ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben.“ Gemeint ist das Spenden u. Empfangen v. Brot u. Wein, die den Leib u. das Blut Jesu Christi repräsentieren. 189,651 „Ite, missa est“] Lat., dt., „Geht, sie (= die Kirche) ist gesendet worden!“ o. „Gehet hin in Frieden!“. Das Wort „Messe“ leitet sich aus diesem Entlassungsruf der latein. Liturgie ab. 189,652 Konstantin dem Großen] Flavius Valerius Constantinus (zw. 270 u. 288–337), v. 306 bis 337 röm. Kaiser; n. der Auflösung der Tetrarchie (gr., τετραρχία, dt., „Viererherrschaft“) u. dem Erringen der Alleinherrschaft (324) bekennt er sich als erster röm. Kaiser zum Christentum.

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189,665 Liturgie] Gr., λειτουργία, dt., „Dienst für die Gemeinde“, „öffentl. Amt“. Bez. die Gesamtheit u. Abfolge der religiösen Zeremonien u. rituellen Handlungen des Gottesdienstes. 189,666 Biblia pauperum] Lat., dt., „Armenbibel“. Bilderbibel des späten Mittelalters mit Szenen aus dem NT, die v. Szenen aus dem AT umrahmt sind, so dass auf jedes Ereignis im NT ein (o. mehrere) Ereignisse des AT vorausdeuten (Typus u. Antitypus). Der Begriff „Armenbibel“ bezieht sich auf die ärmeren Geistl., die sich keine vollständige Bibel leisten konnten, u. die geistig Armen, denen die Heilsgeschichte bildl. veranschaulicht wurde. 189,667 Hochamt] Lat., „sacrum summum“ o. „Missa solemnis“; in der Röm.kath. Kirche feierl. Form der Heiligen Messe an Sonn- u. Feiertagen. 190,670 Ministranten] Lat., ministro‚ dt., „dienen“, „ausführen“; Messdiener, Altardiener. 190,684 Astarte] Gemahlin des Gottes Baal. In dieser Polarität das empfangende, gebärende Prinzip, aber auch Göttin des Krieges. 190,684 Kali Bhagawati der Inder] Indische Göttin, im Sanskrit wörtl. „die Schwarze“; in der ind. Ikonographie wird sie als furchterregend dargestellt. 190,696 Sphinx] Mask. (ägypt.,) o. fem. (gr.,), Figur der ägypt. u. gr. Mythologie. Ägypt.: Figur mit dem Körper eines männl. Löwen u. einem Statuenkopf, auch Widder-, Sperber- o. Falkenkopf. Häufig Darstellung eines Pharao als Sonnengott Horus o. Bewacher eines Tempeleingangs. Gr. Mythologie: Sphinx (gr., σφίγγω, dt., „schnüren“, „würgen“) auf einem Berg in der Nähe Thebens sitzender unheilvoller Dämon der Zerstörung, der Reisenden ein Rätsel aufgibt. (Frage: „Was ist es, das eine Stimme hat u. vierbeinig, zweibeinig u. dreibeinig wird?“ Antwort: „Der Mensch“.) Können diese es nicht lösen, werden sie erwürgt u. gefressen. Nachdem Ödipus das Rätsel gelöst hat, stürzt sich die Sphinx v. ihrem Felsen in den Tod. 190,702 in den weißglühenden Armen Belits] Istar, bei den Babyloniern-Assyrern als Göttin des Abendsterns auch unter dem Namen Belit verehrt. 190,703 Elisabeth, Elsa, Senta, Gutrune] Frauenfiguren aus Wagners Opern, die sich durch Milde, Tugend, Liebe u. Aufopferungsbereitschaft für den geliebten Mann auszeichnen. E. aus dem Tannhäuser, E. v. Brabant aus dem Lohengrin, S. Tochter des norweg. Seefahrers Daland im Fliegenden Holländer, G. aus der Götterdämmerung. 191,720 den brünstigen Mann] Das v. Wotan gezeugte u. seit der Kindheit getrennte Zwillingspaar Siegmund u. Sieglinde erkennt sich wieder. Beide entbrennen in heftiger Leidenschaft u. zeugen in inzestuöser Vereinigung Siegfried. (Erster Aufzug der Walküre). 191,735 die Zerstörerin aber wächst] Eine Walküre, auch Schlacht- o. Schildjungfer, ist in der nord. Mythologie eine der Botinnen des Göttervaters Odin (südgerman. Wodan), die die Gefallenen v. Schlachtfeld n. Walhall geleiten. In Wagners Walküre sind das die neun Töchter Wotans: Brünnhilde (deren Mutter die allwissende Erdgöttin Erda ist), Helmwige, Gerhilde, Ortlinde, Waltraute, Siegrune, Roßweiße, Grimgerde, Schwertleite.

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191,742 Waberlohe] In der german. Mythologie ein undurchdringl. Feuerwall. Eine W. des Feuergottes Loge umgibt den Felsen, auf dem Wotan seine Lieblingstochter Brünnhilde in tiefen Schlaf versetzte, bis ein furchtloser Held den Feuerring durchschreiten u. sie erwecken könne. Erst im dritten Aufzug des Siegfried wird die W. v. Siegfried durchschritten u. Brünnhilde wieder aufgeweckt. 193,796 de profundis] Lat., dt., „aus den Tiefen“. 193,817 chlorophylhaltigen] Chlorophyll: gr., χλωρός, dt., „grünl.“, „gelbgrün“ u. gr., φύλλον, dt., „Blatt“, das natürl. Blattgrün. Organismen, die über Chlorophyll verfügen (z. B. Pflanzen), können unter Einwirkung v. Sonnenlicht organ. Substanzen aus anorgan. Stoffen aufbauen. 193,820 Schmarotzerpflanze] Pflanzl. Organismen, die sich auf Kosten eines Wirtes ernähren. 193,823 Rafflesia] Südostasiat. Pflanzengattung; bildet die größte Blüte im Pflanzenreich; lebt als sog. Vollschmarotzer mit Ausnahme der Blüten vollständig innerhalb ihrer Wirtspflanze. 193,827 isländischen Sögur] Gattung der isländ. Sagaliteratur (Íslendingasögur). Inspiration u. Quelle für den Ring des Nibelungen. 193,827 Heldengedichten Gottfrieds von Straßburg] (unbek.–um 1215), bedeutender deutschspr. Dichter des Mittelalters. Sein um 1210 entstandener u. Fragment gebliebener Versroman Tristan gilt als wichtigste Bearbeitung des Tristan-u.-IsoldeStoffes. 193,827 Wolfram von Eschenbachs] (um 1160 bis 1180–um 1220), als Autor des Versromans Parzival einer der bedeutendsten deutschspr. Dichter des Mittelalters. 193,828 Wartburgkrieg-Sängers der manessischen Handschrift] Der fiktive Sängerkrieg am Hof des Landgrafen Hermann I. um 1200 findet im Codex Manesse (Große Heidelberger Liederhandschrift, ca. 1300–1340) der Miniatur zufolge zw. folgenden Sängern statt: Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach, Reinmar der Alte, Der tugendhafte Schreiber, Heinrich von Ofterdingen und Klingsor von Ungarland. 193,832 „Rienzi“] Rienzi, der letzte der Tribunen, große trag. Oper in fünf Akten v. Richard Wagner. Literar. Vorlage Rienzi, the Last of the Roman Tribunes, Roman v. Edward Bulwer-Lytton (1803–1873). Ua. am 20. Oktober 1842 am Königlichen Sächsischen Hoftheater Dresden. Histor. Vorbild des Helden ist Cola Rienzo (1313–1354), der als Sohn eines Gastwirts v. Volk zum Tribun gewählt wird u. an seiner Hybris scheitert. Aus diesem Sujet formt Wagner „einen Kosmos, der durchwaltet ist v. Wirken weltgeschichtlicher, religiöser, sozialer u. privater Mächte“ (Richard-Wagner-Handbuch, 234). 193,834 des ewigen Juden] Auch „wandernder Jude“ o. „Ahasver“; Figur aus christl. Legenden des Spätmittelalters. Urspr. beschrieben als Mensch unbek. Herkunft, der über Christus auf dessen Weg zur Kreuzigung spottet u. dafür v. diesem dazu verdammt wird, bis zu seiner zu erwartenden Wiederkehr zum Jüngsten

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Gericht durch die Welt zu wandern, ohne jemals sterben zu dürfen. Das anonym erschienene deutschspr. Volksbuch vom Ewigen Juden (1602) macht diesen ewig Umherirrenden zum Juden u. gibt ihm den Namen Ahasveros. 194,837 Herodias-Sage] H. (8 v. Chr.–n. 39 n. Chr.), Tochter des jüd. Prinzen Aristoboulos (um 35 v. Chr.–7 v. Chr.); Enkelin Herodes des Großen (um 73 v. Chr.– 4 v. Chr.). In erster Ehe mit ihrem Onkel Herodes Boethos (auch Herodes Philippos I.) (ca. 22 v. Chr.–unbek.) verheiratet. Aus dieser Ehe geht die Tochter Salome hervor, die, angestachelt durch ihre Mutter (die sich an Johannes, der sie abwies, rächen will), für einen Schleiertanz das Haupt Johannes des Täufers gefordert haben soll. 194,844 Hexensabbath] Auch „Teufelstanz“; in der frühen Neuzeit Vorstellung v. geheimen nächtl. Treffen v. Hexen mit dem Teufel auf dem Hexentanzplatz. 194,856 „Tasso“] Torquato Tasso (Erscheinungsjahr 1790); Schauspiel in fünf Aufzügen v. Johann Wolfgang Goethe, Ua. am 16. Februar 1807 in Weimar. Am Beispiel des ital. Dichters Torquato Tasso (1544–1595) werden die Rolle eines Dichters in einer höf. Gesellschaft u. seine Liebe zu einer gesellschaftl. höher gestellten Prinzessin thematisiert. Das Drama wird der dt. Klassik zugeordnet. 194,861 Häckerling] Kleingeschnittenes Stroh, Häcksel (Tierfutter o. Streu). 194,875 Harnische] Frz., „harnais“, dt., „Gurtwerk“, „Zaumzeug“; die den Körper bedeckenden Rüstungen der Ritter. 194,875 Brokate] Brokatstoff, schweres, festes u. gemustertes Textil aus Seide o. Zellwolle, in das auch Gold- o. Silberfäden eingewoben werden können (Goldo. Silberbrokat). 195,882 Nestroy] Johan Nepomuk Nestroy (1801–1862), österr. Dramatiker u. Schauspieler des Alt-Wiener Volkstheaters. N.s Stücke zeichnen sich auf der Oberfläche durch triviale Handlung, die immer wieder durch sog. Couplets unterbrochen werden, u. Neigung zu Kalauern aus. Damit verbunden ist allerdings eine beißende Zeitkritik, insb. an Scheinmoral u. Heuchelei. 195,887 Tieck] Johann Ludwig Tieck (1773–1853), Pseudonyme Peter Leberecht u. Gottlieb Färber, frühromant. dt. Schriftsteller, Übersetzer u. Hg. Werke u. a.: die Novellensammlung Phantasus. Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen. 3 Bde. (1812–1816), Poetisches Journal (1799) u. die Sammlung Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, neu bearbeitet und herausgegeben von Ludewig Tieck, mit Kupfern (1803). 195,888 La Motte Fouqué] Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué, Baron de Saint-Surin, Seigneur de la Greve (1777–1843), Pseudonym Pellegrin u. a. L. T. Frank, dt. Dichter der Romantik. Bek. v. a. durch das Märchen Undine (1811), v. ihm zum Libretto umgearbeitet u. v. E. T. A. Hoffmann (1776–1822) vertont (Ua. 1816). 195,888 Johann Friedrich Kind] (1768–1843), dt. Schriftsteller. Verfasser der Libretti für Carl Maria v. Webers Oper Der Freischütz u. das Schauspiel Das Nachtlager von Granada (Vorlage zur Oper v. Conradin Kreutzer (1780–1849).

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195,901 Nietzsche (im „Fall Wagner“)] S. → Kommentar im Nietzsche-Kapitel und → Nachwort. 195,903 „Magnetiseur“] Heilkundiger, der mit Magnetismus behandelt. Geht auf den dt. Arzt Franz (auch Friedrich) Anton Mesmer (1735–1815) zurück, Begr. des sog. Mesmerismus. In seiner Schrift De planetarum influxu (1766) behauptet er den Einfluss der Planeten auf das menschl. Nervensystem u. entwickelt daraus die Theorie v. der heilenden Beeinflussung v. natürl. Strahlen der Magnete auf menschl. u. tier. Organismen. Weitere Werke u. a. Sendschreiben an einen auswärtigen Arzt über die Magnetkur (1775); Allgemeine Erläuterungen über den Magnetismus und den Somnambulismus. Als vorläufige Einleitung in das Natursystem (1812). Mesmers Heilmethode wird in der dt. u. frz. Fachwelt heftig kritisiert u. z. T. zum Betrug erklärt. Gleichwohl hat sie großen Einfluss auf esoter. Zirkel u. parapsycholog. Therapieformen. 196,928 Ludovico Moro] Ludovico Maria Sforza (1452–1508), genannt ital., „il Moro“, dt., „der Dunkelhaarige”, „der Dunkelhäutige“, ab 1494 Herzog v. Mailand. Fördert v. a. Leonardo da Vinci (1452–1519). 196,928 Isabella von Aragon] Isabella v. Aragón (um 1243–1271), v. 1270–1271 Königin v. Frankreich. 196,928 Cäsar Borgia] Cesare Borgia (1475 o. 1476–1507), Herzog v. Valentinois u. der Romagna, Fürst v. Andria u. Venafro, Graf v. Diois, Herr v. Piombino, Camerino u. Urbino, Gonfaloniere u. Feldhauptmann der Kirche (1475/1476–1507), ital. Feldherr, Kardinal u. Erzbischof. C. B. gilt als Beispiel eines machtgierigen, kaltblütigen Tyrannen, der es zu ästhet. Größe bringt. In Nietzsches Ecce homo erscheint C. B. als Typus des Übermenschen; in Oscar Wildes (1854–1900) The Picture of Dorian Gray dient er der Hauptfigur als Vorbild. 196,928 Karls VIII.] Frz., Charles VIII, „l’Affable“ o. „le Courtois“, dt., „Karl der Freundliche“ o. „der Höfische“ (1470–1498), 1483–1498 König v. Frankreich. 196,929 Ludwigs des XII.] (1462–1515), 1498–1515 König v. Frankreich. 196,929 Franz des Ersten] Frz., „François Ier, le Roi-Chevalier“, dt., „Franz I., der Ritterkönig“, (1494–1547), 1515–1547 König v. Frankreich. 197,975 Ferd. Hiller] Ferdinand Hiller (1811–1885), dt. Komponist, Musikpädagoge u. Dirigent. Ab 1850 Leiter des Gürzenich-Orchesters u. des Konservatoriums der Stadt Köln, der heutigen Hochschule für Musik u. Tanz. 197,975 R. Schumann] Robert Schumann (1810–1856), bedeutender dt. Komponist u. Pianist der Romantik; verheiratet mit der Pianistin u. Komponistin Clara Schumann (1819–1896), geb. Wieck. Durch eine Versteifung der rechten Hand infolge exzessiver Selbstversuche am Klavier, durch Suizidversuche u. Aufenthalte in Nervenheilanstalten überschattete Biographie. 197,985 Rubinstein] Anton Grigorjewitsch Rubinstein (1829–1894), russ. Komponist, Dirigent u. virtuoser Pianist. 197,992 „Wagner in Bayreuth“] „Richard Wagner in Bayreuth“ (1876). Viertes Stück in Friedrich Nietzsches (1844–1900) Unzeitgemäße Betrachtungen. Gilt als einer

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der ersten bedeutenden Beiträge zur Wagner-Kritik. Die Ausführungen zeigen eine zunehmende Distanz zu Wagner, stehen aber noch im Zeichen der Würdigung. Kernpunkte sind die Feststellung der Ausgangssituation Wagners als die eines „Dilettantisierens“, die Kennzeichnung als „Gegen-Alexander“ u. eine Art „Aeschylus redivivus“ (lat., redivivus, dt., „wiederauferstanden“; Aischylos (525 v. Chr.– 456 v. Chr., gr. Tragödiendichter), sowie die Begründung der Wiederkehr des myth.musikal. Dramas in der Erkrankung der Sprache. 198,1010 Leitmotiv] Wiederkehrendes Motiv (kleinste erkennbare strukturelle Einheit) in einem Werk o. im Gesamtwerk eines Autors, Komponisten o. Künstlers o. epochaler Schulen. Obwohl Wagner v. a. in Bezug auf den Ring des Nibelungen stets v. „musikal. Erinnerungsmotiven“ spricht, soll der Redakteur u. Hg. der Bayreuther Blätter, Hans v. Wohlzogen (1848–1938), diesen Begriff für die charakterist. Tonfolgen in Wagners Tetralogie geprägt haben. 199,1049 Schönbartspiel] Schönbart, Veraltet aus mhd., schemebart, schembart, eigtl. „bärtige maske“. Synonym für „Larve“, „Maske“. Sch.: auch „Fastnachtsspiel“ o. „Maskenspiel“. 199,1067 Corpsstudenten] Frz., „corps“, dt., „Körper(schaft)“; Mitglieder einer Band u. Mütze tragenden, Mensuren fechtenden student. Verbindung. 199,1067 Renommirköter] Renommieren, frz., „renom“, dt., „guter Ruf“, „Berühmtheit“; Köter, abwertend für „Hund“. Hier i. S. v. angeberisch. 199,1071 Volapük] Bez. für eine zw. 1879–1880 v. dem Pfarrer, Lyriker u. Philanthropen Johann Martin Schleyer (1831–1912) entwickelte Mischsprache zur besseren Verständigung zw. versch. Völkern. V., gebildet aus den engl. Wörtern „world“ u. „speak“ = „Sprache der Welt“ o. „Weltsprache“. 199,1075 H. von Wolzogen] Vgl. → 175, 43. 199,1080 Feuerländer] Bewohner v. Feuerland, span. „Tierra del Fuego“, Inselgruppe an der Südspitze Südamerikas. 199,1081 Sanders] Daniel Hendel Sanders (1819–1897) dt. Lexikograf, Sprachforscher, Übersetzer u. Schriftsteller. Werke u. a. Wörterbuch der deutschen Sprache (3 Bd., 1859–1865); Handwörterbuch der deutschen Sprache (1869); Geschichte der deutschen Sprache u. Litteratur bis zu Goethes Tod (1879); Großes deutsch-englisches Wörterbuch (1889); Fremdwörterbuch (1891). 201,1150 Rezitativ] Lat., recito, dt., „vorlesen“, „rezitieren“; deklamierender Gesang in Opern, Kantaten o. geistigen Werken. In der ernsten Oper, der ital. Opera seria, ist das Rezitativ bis Mitte 19. Jh. Trägerin u. Erzählerin der Bühnenhandlung, im Gegensatz zur Arie, die solist. die Gesangskünste in den Vordergrund stellt. 201,1152 Lyra] Gr., λύρα, ein aus dem 9. Jh. v. Chr. aus der Familie der Jochlauten (Leiern) stammendes Saitenzupfinstrument. 202,1197 Kontrapunkt] Lat., punctus contra punctum, dt., „Note gegen Note“, seit der Renaissance u. v. a. im Barock wichtiger musiktheoret. Begriff, bez. eine Tonfolge, die gleichzeitig mit einer gegebenen Melodie erklingt. Hier in einfacher Bedeutung i. S. v. Gegenstimme.

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203,1217 Cervantes] Miguel de Cervantes (1547–1616), span. Schriftsteller. Neben dem Don Quijote (341, 140), dem span. Nationalepos, Verfasser der Novelas ejemplares (1613) (dt., „Moral. Novellen“, auch „Exemplar. Novellen“). 203,1223 Epigone] Gr., ἐπίγονοι, dt., „Nachgeborene“; Nachkommen der sieben Helden gegen Theben; hier i. S v. „an das Original nicht heranreichende Nachahmer“. 203,1245 Die Chöre der Neunten Symphonie] 9. Symphonie in d-Moll, op. 125, letzte vollendete Symphonie Ludwig van Beethovens (1770–1827). Als erstes Werk der Gattung Symphonie setzt sie im vierten, dem Finalsatz, zusätzl. zum Orchester Gesangssolisten u. einen großen gemischten Chor ein; als Textgrundlage fungiert die Ode an die Freude (1785) v. Friedrich Schiller (1759–1805). 203,1250 Bileams Esel] Balaams Esel (auch Bileam und die Eselin) (1626); Gemälde v. Rembrandt van Rijn (1606–1669); Darstellung der bibl. Geschichte des Hebräers Balaam u. seines sprechenden Esels; heute: Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris. 204,1260 javanesischer Gamelang-Begleitung] Korrekt „Gamelan“, bez. einen traditionellen Musikstil bzw. ein Musikinstrumentenensemble auf Java. 205,1319–20 „Jerichorosen“] Auch „Echte Rose v. Jericho“ (Anastatica hierochuntica). Wüstenrose aus der Familie der Kreuzblütengewächse (Brassicaceae). Vorkommen in den Wüstengebieten v. Israel, Jordanien, der Sinai-Halbinsel u. vereinzelt in Nordafrika. (Asteriscus maritimus, Asteracea) Korbblütler aus der Familie der Asterngewächse. Dt., „Goldtaler“, „Küstenstrandstern“. Vorkommen im Mittelmeerraum u. Norafrika. 205,1333 Fürstin Metternich] Pauline Clementine Marie Walburga Fürstin von Metternich-Winneburg zu Beilstein, geb. Gräfin Sándor von Szlavnicza (1836–1921), Inhaberin eines bedeutenden literar. Salons in Paris; eng befreundet mit Kaiser Napoléon III. (1808–1873) u. Kaiserin Eugénie (1826–1920). Ihr zuliebe setzt sich der Kaiser für Werke Richard Wagners ein; 1861 kommt es so zur Aufführung des Tannhäuser an der Pariser Oper. 205,1334 Graf Sandor] Graf Moric Sándor de Szlavnicza (1805–1878), verheiratet mit Prinzessin Leontine Adelheid Maria Pauline von Metternich-Winneburg (1811–1861). In der Gartenlaube, Heft 2, 25, 28, 29–31, wird Sándor als ein in Pest allseits bekannter tollkühner Reiter beschrieben, der bereits Mitte des 19. Jh.s zum Mythos geworden ist: „Graf Moritz Sándor, geboren im Jahre 1805, gehört einer der ersten und reichsten ungarischen Magnatenfamilien an. Von frühester Jugend war Reiten seine größte Leidenschaft und namentlich setzte er stets einen besonderen Ehrgeiz darein, solche Pferde zu tummeln, welche kein Anderer zu besteigen wagte. Es begünstigte ihn dabei ein sehr kräftiger Körper von vollendet schönem Ebenmaß, wenngleich nur von Mittelgröße, und ein unerschütterbares Nervensystem, das in den gefährlichsten Lagen ihn niemals die Geistesgegenwart verlieren ließ. Seine Kaltblütigkeit ist zum Sprüchwort geworden. Sándor war eine merkwürdige Natur. Niemals ist Wein oder sonst ein geistiges Getränk über seine Lippen

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gekommen, trotzdem sein Grafensitz in Bajna sich durch verschwenderischste Gastfreundschaft sogar in Ungarn einen Namen gemacht hat. Dagegen war es ihm eine Leichtigkeit, Tage lang Hunger und Durst zu ertragen oder zwanzig Stunden hindurch ununterbrochen seinen berühmten Sechserzug zu fahren, dessen Pferde so scharf in die Hand gingen, daß sie den Wagen mehr mit den Zügeln, als den Strängen zu ziehen schienen und starke Männer die Führung kaum zwei Stunden lang auszuhalten vermochten.“ 206,1337 Franz Liszt] Eigtl. (ungar.) Ferencz Liszt (1811–1886), virtuoser Pianist, Komponist u. Dirigent; Vater v. Cosima Francesca Gaetana (1837–1930), der zweiten Ehefrau Richard Wagners. 206,1346 A. Gleizès] Jean-Antoine Gleïzès (1773–1843), frz. Schriftsteller u. Verfechter des Vegetarismus. 206,1351 Heinrich Porges] (1837–1900), tschech.-österr.-dt. Chorleiter u. Musikkritiker. Ab 1863 redigiert er mit dem dt. Musikkritiker u. -wissenschaftler Karl Franz Brendel (1811–1868) in Leipzig die Neue Zeitschrift für Musik. 1867 beruft ihn König Ludwig II. auf Vorschlag Wagners n. München. 206,1352 E. von Hagen] Edmund von Hagen (1850–1907), dt. Schriftsteller, verfasst mehrere Schriften zu Richard Wagners (1813–1883) Werk, so u. a. Ueber die Dichtung der ersten Scene des „Rheingold“ von Richard Wagner: Ein Beitrag zur Beurtheilung des Dichters (1876). In dieser ausführl. Analyse der ersten Szene des Rheingold (1853–54) untersucht H. Vokabular, Grammatik, syntakt. Konstruktionen u. weitere literar.-sprachl. Aspekte. 206,1353 Ludwig II.] Otto Friedrich Wilhelm von Bayern (1845–1846), König von Bayern, gen. Märchenkönig. Gilt als leidenschaftl. Bauherr v. Schlössern („Neuschwanstein“). Bekannt als Bewunderer u. Mäzen v. Richard Wagner. 207,1382 Karl Augusts] Karl (o. Carl) August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757–1828), ab 1758 Herzog, ab 1815 Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. Goethe trifft am 7. Nov. 1775 auf Einladung der Herzogs in Weimar ein u. tritt in die Dienste des Hofes. 1782 erwirkt der Herzog für Goethe den Adelsbrief. 207,1401 Die Wirkungen des Krieges auf die Nerven der Theilnehmer] N. führt hier posttraumat. Belastungssyndrome bei Kriegsteilnehmer an, eine Forschungsrichtung, die Ende des 19. Jh.s noch keine Aufmerksamkeit erfahren hat. Für die medizinhistor. Forschung sind seine Ausführungen daher v. großer Bedeutung. 208,1425 nach moralischem „shock”] Hier i. S. v. starker seel. Erschütterung. 208,1436 Biwack] Frz., „bivouac“‚ dt., „Feldlager“, „Nachtlager“; urspr. Nachtlager im Freien, aber auch Zeltlager o. Hüttendorf. 208,1461 Holbeinschen Mutter Gottes in Darmstadt] Hans Holbein d. Jüngere (1497/8–1543), bedeutender dt. Maler, Buchillustrator u. Zeichner der Renaissance. Die Darmstädter Madonna (auch Madonna des Bürgermeisters Meyer) vereint die Bildtypen des Stifterbildes, Andachtsbildes, der Schutzmantelmadonna u. der Sacra conversazione (Jesus, die Madonna u. zwei Heilige in ruhiger Unterhaltung). Seit 2012 in Schwäbisch Hall.

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209,1477 Antisemitismus] Antonym zu „Semitismus“. Bez. die Ablehnung bzw. Diffamierung v. Juden u. des Judentums. 209,1479 „persécuté persécuteur“] Frz., dt., „ein verfolgter Verfolger“. 209,1481 Hypochonder] Gr., ὑποχόνδριον, dt., „die oberen Därme unterhalb des Brustbeins“. Bez. eine psych. Störung, bei der die Patienten unter ausgeprägten Angstvorstellungen leiden, eine gravierende Erkrankung zu haben, ohne dass sich dafür ein objektiver Nachweis finden ließe. 209,1481 Staatshämorrhoidarier] Hämorrhoiden, gr., αἱμόρροια, dt., „Blutfluss“, „Blutsturz“. Knotenförmige Erweiterungen der Arterien im Enddarmbereich, die zu Juckreiz u. Blutungen führen können. Hier i. S. einer abwertenden Unterstellung, Staatsdiener seien aufgrund ihrer überwiegend sitzenden Tätigkeit für dieses Leiden prädestiniert. 209,1483 Jägers Flanell-Leibchen] Gustav Jäger (1832–1917), dt. Mediziner u. Zoologe, Verfechter einer gesundheitsfördernden Wirkung v. Baumwolle u. Wolle. Entsprechende Reformkleidung vertreibt er selbst. Ihm krit. gegenüberstehende Zeitgenossen verleihen ihm den Beinamen „Woll-Jäger“. 209,1484 Vegetarier] Menschen, die weder Fleisch noch Fisch verzehren. 209,1484 Kneipps Wasserbegießungen] Sebastian Anton Kneipp (1821–1897), dt. Priester u. Hydrotherapeut (gr., ὕδωρ, dt., „Wasser“ u. gr., θεραπεία, dt., „Pflege“, „Heilung“). Namensgeber für die Kneipp-Medizin (Wasserkuren mit Wassertreten u. Begießungen mit kaltem Wasser zur Förderung der Durchblutung u. Abhärtung). 209,1486 „Zoophilie“] Gr., ζῷον, dt., „Lebewesen“, „Tier“ u. gr., φιλία, dt., „Freundschaft“, „Liebe“. Bez. die Vorliebe für sexuelle Handlungen mit Tieren. 209,1489 anti-vivisektionistischen Wahnsinn] Bewegung gegen den operativen Eingriff am lebenden Menschen ohne therapeut. Absicht. 209,1490 Chauvinismus] Ableitung v. Namen des legendären Rekruten Nicolas Chauvin (geboren um 1790–unbek.), der angebl. in der Armee v. Napoléon (1769– 1821) dient u. dabei siebzehnmal verwundet wird. Im post-napoleon. Frankreich erscheint seine Einsatzbereitschaft nicht mehr bewunderungswürdig, sondern dient als Zielscheibe des Spotts in Vaudeville-Komödien (Pariser Theatergenre mit Gesang u. Instrumentalbegleitung); als Theaterfigur findet er z. B. in dem Stück La Cocarde tricolore, épisode de la guerre d’Alger (1831) (dt., „Die dreifarbige Kokarde, Episode des Algerienkriegs“) der Brüder Charles-Théodore (1806–1872) u. Jean-Hippolyte (1807–1882) Cogniard auf die Bühne. Der Begriff „Chauvinismus“ steht für einen übertriebenen Nationalismus. 209,1490 der edle Kaiser Friedrich] Friedrich III., Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl v. Preußen (1831–1888), seit 1861 preuß. Kronprinz; im Dt. Krieg 1866 u. im Dt.-Frz. Krieg 1870/71 mehrfach siegreicher Heerführer; im Dreikaiserjahr 1888 für 99 Tage bis zu seinem Tod dt. Kaiser u. König v. Preußen. Von seiner aus dem engl. Königshaus stammenden Mutter Viktoria u. seinem Lehrer Ernst Curtius in liberalerem Geist erzogen, gerät er 1863 im dän.-preuß. Streit um Schleswig u.

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Holstein in Gegnerschaft zum preuß. Ministerpräsidenten Otto v. Bismarck. F. ist anglophil, gilt als leutselig u. denkt weniger chauvinist. u. nationalist. als viele Zeitgenossen. In seinen letzten Wochen soll er die Devise „Lerne leiden, ohne zu klagen“ geprägt haben. „In seinen Ansprachen an die akademische Jugend hat Friedrich Wilhelm oft und gern den Wünschen und Hoffnungen Ausdruck gegeben, die für die innere Erstarkung des deutschen Vaterlandes in seiner Brust lebten. Er wußte ihren Patriotismus aufs glühendste zu entflammen, sie aber auch vor Ueberhebung und kleinlichem Chauvinismus zu warnen.“ (Müller-Bohn, Hermann, „Friedrich III.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 49 (1904), 1–93 [online-Version]). 209,1497 des Terenzschen „Homo sum“] Publius Terentius Afer (zw. 195 u. 184–159 o. 158 v. Chr.), Komödiendichter der röm. Antike. „Homo sum, humani nil a me alienum puto.“ (Heautontimoroumenos, V. 77, Ua. 163 v. Chr.) (dt., „Ich bin ein Mensch u. meine, daß mir nichts fremd ist, was Menschen betrifft.“). 209,1499 Antisemit Stöcker] Adolf Stoecker (1835–1909), dt. evangel. Theologe u. kaisertreuer Hofprediger. Gründet in Konkurrenz zu den Sozialdemokraten 1878 die Christlich-Soziale-Arbeiterpartei (CSAP), mit der er für Christentum, Kaiser u. Vaterland eintritt. N. dem Scheitern folgen aufsehenerregende Auftritte als antisemit. Demagoge, v. a. mit seiner Rede „Das moderne Judentum in Deutschland“, in der er Juden als charakterl. arbeitsscheu, geldgierig u. betrüger. denunziert. Zw. 1880 bis 1890 maßgebl. an der judenfeindl. „Berliner Bewegung“ beteiligt. N. den Worten v. Bismarck der „bedeutendste Antisemit“. 1890 v. Wilhelm II. zum Rücktritt als Hofprediger genötigt, dadurch Abschwächung v. St.s tagespolit. Einfluss, aber Fortwirken seiner antisemit. Ideen in judenfeindl. „Volksversammlungen“. In der NS-Diktatur als Vorbild dargestellt. 209,1499 Phraseologie] Wissenschaft, die sich mit festen Wortverbindungen o. Sprichwörtern beschäftigt. Hier i. S. v. abgeschmackten Phrasen (gr., φράσις, dt., „Rede“, „Ausdrucksweise“). 209,1500 Legrand du Saulle] Henri Legrand du Saulle (1830–1886), frz. Psychiater, Schüler v. Morel. Gilt als Spezialist für Phobien u. Zwangshandlungen, sowie für forens. Psychiatrie. Einschlägige Publikationen wie Le délire des persécutions (1871) (dt., „Der Verfolgungswahn“) u. Les hystériques (1882) (dt., „Die Hysteriker“). 210,1528 Mystiker des jüdischen Blutopfers] Antisemit. Vorurteil einer angebl. Tötung christl. Kinder im Mittelalter zu rituellen Zwecken anlässl. des Pessachfestes. 210,1541 „Deutsche Kunst und deutsche Politik”] Kulturpolit. bzw. -krit. Essaysammlung Wagners (Süddeutsche Presse 1867, separat 1868), die in ein Plädoyer des „deutschen Geistes“ als Stifter der „Nation“ münden, gilt als Variante der Wagnerschen Kunstutopie u. seiner Vorstellungen v. der gesellschaftl. Bedeutung der Theaterreform; zunächst bestimmt für Ludwig II. (Richard-Wagner-Handbuch, 543f.).

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210,1544 „Offenes Schreiben an Herrn Ernst von Weber, Verfasser der Schrift: Die Folterkammern der Wissenschaft”] In den Bayreuther Blättern 1879 veröfftl., Separatdruck 1880. Der Beitrag unterstützt den Protest des dt. Physiologen u. Anatom Ernst von Webers (1795–1878) gegen die Vivisektion. Wagner wendet sich gegen das „Gespenst der Wissenschaft“, „welches in unsrer entgeisterten Zeit vom Seziertische bis zur Schießgewehrfabrik sich zum Dämon des einzig für staatsfreundlich geltenden Nützlichkeitskultus aufgeschwungen hat“. Bekenntnis im Schopenhauerschen Sinne zum „Mitleid“ = „Mitleiden“ als der „einzige(n) wahre(n) Grundlage aller Sittlichkeit“, welche das „Nützlichkeitsdogma“ überwinden kann. (Richard-Wagner-Handbuch, 549). 211,1560 maurischen Flächendekoration] Mauren, in Nordafrika beheimatete Berberstämme, deren Architektur auffallende Dekorelemente aufweist (Flechtbänder, Rauten, Sechsecke, Sterne etc.) u. auf die Antike zurückgehende Mosaiken. 211,1562 „Kef“] Arab., „Kejf“, dt., „Befinden“. Im osman. türk. Wohlbefinden aus träger Ruhe, Gefühl der Behaglichkeit. K. halten, sich beschaul. Ruhe hingeben, Siesta halten; keinen K. haben: sich unbehagl., unwohl fühlen. 211,1567 „Sursum – Bum-Bum“] S.: Lat., dt., „aufwärts“, „in die Höhe“; lat., Sursum corda, dt., „Erhebt die Herzen!“. In Nietzsches Der Fall Wagner: „Sursum! Bumbum!“ Lautmaler. Parodie des frommen „empor!“, das Nietzsche in zeitkrit. Absicht häufiger verwendet („immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend“ o. „Unser Zeitalter des großen BumBum“, s. Nietzsche-Kommentar. Der Fall Wagner. Götzendämmerung, hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Berlin u. Boston 2012, 100). 211,1577 Friedrich Wilhelm I.] Friedrich Wilhelm I., König in Preußen u. Markgraf v. Brandenburg, Erzkämmerer u. Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches (1688–1740), auch „Soldatenkönig“, regiert Preußen v. 1713 bis 1740. Vater Friedrichs des Großen (1712–1786). 212,1588 Sadowa] Schlacht bei Sadowa; in Frankreich gebräuchl. Name der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 während des Deutschen Krieges (urspr. als Preuß.-Dt. Krieg bez.), die zum Sieg Preußens über Österreich u. Sachsen führt. 212,1588 Sedan] Schlacht v. Sedan am 1. September 1870 im Dt.-Frz. Krieg. Der Ausgang des Krieges wird durch diese Schlacht vorentschieden: Kapitulation der frz. Truppen u. Gefangennahme des frz. Kaisers Napoléon III. am 2. September. 212,1597 Hamlet sticht nach der Tapete] The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (1603), eine der bekanntesten u. am häufigsten aufgeführten Tragödien v. William Shakespeare (1564–1616), hier Akt III, Szene IV, in der Hamlet irrtüml. Polonius durch den Vorhang ersticht. 212,1608 „Es ist abscheulich“] Zitat nicht nachweisbar. Vmtl. eine Kompilation o. Paraphrasierung, die die Aneignung Wagners in der frz. Kultur n. der Reichsgründung demonstrieren soll. V. a. Stéphane Mallarmé (1842–1898), durch den in der Revue Wagneriénne (dt., „Wagner-Journal/Zeitschrift“) erschienenen Artikel Rêverie d’un poète français (dt., „Träumerei eines frz. Dichters“), u. Péladan (vgl.

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→ 219, 227), der später in Le Théâtre complet de Wagner, les onze opéras, scène par scène (dt., „Das vollständige Theater Wagners, die elf Opern, Szene für Szene“) (1895) die elf Musikdramen detailliert analysiert u. zuvor in seinen Romanen zur Untermalung okkulter Vorgänge (z. B. in La victoire du mari, dt., „Der Sieg des Gatten“) Wagnersche Musik einsetzt, werden zu Apologeten des dt. Komponisten (s. → Nachwort). 212,1623 „Troubadour“] Il trovatore (1853), dt., „Der Troubadour“, Oper in vier Akten v. Giuseppe Verdi (1813–1901). 212,1628 Krethi und Plethi] Kreter u. Philister; bez. im 2. Buch Samuel 8, 18 einen Teil der Streitmacht Davids, das aus Angehörigen der Kreter u. Plether (Philister) bestand: „Benaja, der Sohn Jojadas, war über die Kreter und Pleter gesetzt; die Söhne Davids aber waren Minister.“ V. Luther eher abfällig übersetzt mit „Crethi und Plethi“. Heute verstanden als „einfaches Volk“ o. „Gesindel“, ähnl. „Hinz und Kunz“. 213,1633 Hadschi] Ehrentitel für einen Muslim, der erfolgreich die Pilgerfahrt n. Mekka absolviert hat. 213,1635 Sprichwörter von dem frommen Manne] „Wenn einer einmal in Mekka gewesen ist, so nimm dich vor ihm in acht; hat er diese Reise zweimal gethan, so habe nichts mit ihm zu schaffen; ist es dreimal geschehen, so begieb dich aus seiner Nachbarschaft.“ ([anonym], Aus schweren Tagen; Drei Erzählungen für das deutsch-amerikanische Christenvolk ausgewählt u. bearbeitet, St. Louis 1883, 266). 213,1649 Antiphonie] Gr., ἀντίφωνος, dt., „entgegentönend“, „antwortend“; Gegengesang o. Wechselgesang; besonders in der älteren Kirchenmusik. 213,1653 Bayreuther Festspielhaus] Richard-Wagner-Festspielhaus, n. Entwürfen v. Wagner 1872–1875 auf dem sog. Grünen Hügel in Bayreuth v. Otto Brückwald (1841–1917) errichtet.

VI. Parodieformen der Mystik. 214,29 die Seeschlange] Vmtl. sind mit dem Verweis auf die Rezeption in „festländischen Zeitungen“ die im 19. Jh. populären Horrorgeschichten um Menschen- u. tierverschlingende Seeschlangen gemeint, ähnl. der Kracke in Jules Vernes Vingt mille lieues sous les mers (1869 u. 1870) (dt., „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“). Viel gelesen wird auch das Märchen v. Hans Christian Andersen (1805– 1875) Den store Søslange (1871) (dt., „Die große Seeschlange“). Die wissenschaftl. Neugier befriedigt 1892 der ndl. Zoologe Anthonie (Antoon) Cornelis Oudemans (1858–1943) mit seinem Werk The great Sea-Serpent (dt., „Die große Seeschlange“). 214,29 der fliegende Holländer] Sage v. fliegenden Holländer. Ihr zufolge gelingt es dem niederl. Kapitän Bernard Fokke nicht, das Kap der guten Hoffnung

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zu umrunden. Er verflucht Gott u. ist daraufhin verdammt, für immer mit seinem Geisterschiff auf den Weltmeeren zu kreuzen. Jedem, der diesem Schiff mit den blutroten Segeln begegnet, ist Unglück vorherbestimmt. 214,36 „trance“] Lat., transeo, dt., „hinübergehen“, „überschreiten“. Schlafähnl. Bewusstseinszustand, ggf. mit erhöhter u. intensivierter Wahrnehmung, Unterscheidung zw. hypnot., spiritueller, traumat., drogen- u. schmerzinduzierter T. 215,46 Kerner] Justinus Andreas Christian Kerner (ab 1850: von Kerner) (1786– 1862), dt. Arzt u. Schriftsteller. Beschäftigung mit spiritist., okkultist. u. somnambulist. Fragen. K. nimmt die somnambule Patientin Friederike Hauffe (1801–1829) einige Zeit bei sich auf, behandelt sie n. der Magnetotherapie v. Franz Anton Mesmer u. publ. seine Beobachtungen in Die Seherin von Prevorst (2 Bde., 1829). Besonderes Interesse für sog. „Klecksographien“, aus Tintenklecksen auf gefalteten Papieren gefertigte Bilder, denen er durch ergänzende Federstriche einen narrativen Charakter gibt. 215,48 „Hermannsschlacht“] Drama in fünf Akten v. Heinrich von Kleist; verfasst 1806, gedruckt 1821, ua. 1860. In der Rezeption des 19. Jh.s i. S. eines übersteigerten dt. Nationalismus gedeutet. 215,51 Maximilian Perty] Joseph Anton Maximilian Perty (1804–1884), dt. Entomologe (Insektenkundler), Naturphilosoph u. selbsternannter Seelenforscher. Werke u. a. Die mystischen Erscheinungen in der menschlichen Natur (1861); Blicke in das verborgene Leben des Menschengeistes (1869) u. v. a. Der jetzige Spiritualismus u. verwandte Erfahrungen der Vergangenheit u. Gegenwart. Ein Supplement zu des Verfassers „Mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur“ (1877). 215,55 Freiherr Karl von Prel] Carl Freiherr du Prel, auch Karl Freiherr du Prel oder Baron Carl du Prel (1839–1899), dt. Philosoph u. Autor okkultist. Themen. Widmet sich den menschl. Bewusstseinszuständen während des Traumes, der Hypnose u. spiritist. Séancen. Einschlägige Publikationen z. B. Studien aus dem Gebiet der Geheimwissenschaften, 2 Bde. (1890/1891). 216,88 „La clé des songes“] Frz., dt., „Der Träumeschlüssel“. 216,89 „Paroissien“] Frz., dt., „Gemeindemitglied“. 216,98 „Annales des sciences psychiques“] Vollst. Titel: Annales des sciences psychiques. Recueil d’observations et d’experiences (dt., „Jahrbücher der psych. Wissenschaften. Sammlung v. Beobachtungen u. Versuchen“) (1891–1919). 216,113 A. de Rochas „Le états profonds de l’Hypnose“] Eugène Auguste Albert de Rochas d’Aiglun (1837–1914), frz. Offizier u. Schriftsteller. Publikationen zu histor., militär., naturwissenschaftl. u. parapsycholog. Themen. Les États profonds de l’hypnose (dt., „Die Tiefenzustände der Hypnose“) erscheint 1892. 216,113 C. A. de Bodisco „Traits de lumière”] Constantin-Alexandrowitch de Bodisco (1871–1906), russ. Offizier. Vollst. Titel des bei N. genannten Werkes: Traits de lumière: recherches psychiques. Dédiées aux incrédules et aux égoistes (1888–

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1892) (dt., „Eigenschaften des Lichts: Psych. Forschungen. Gewidmet den Ungläubigen u. Egoisten“). 217,136 Seit zwölf Jahren] Akadem. Arbeiten zum Phänomen der Hypnose ab ca. 1880. Einschlägige Publ. u. a. Adolf Ferdinand Weinhold (1841–1917), Hypnotische Versuche. Experimentelle Beiträge zur Kenntniss des sogenannten thierischen Magnetismus. Ergänzung und Berichtigung der im III. Theile von Zöllner’s wissenschaftlichen Abhandlungen veröffentlichten Mittheilungen (1879); Rudolf Peter Henrich Heidenhain (1834–1897), Der sogenannte thierische Magnetismus, Physiologische Beobachtungen (1880) u. Georg Heinrich Schneider (1831–1919), Die psychologische Ursache der hypnotischen Erscheinungen (1880). 217,157 das Reisen auf Fausts Zaubermantel] Goethes Faust; Erster Teil, V. 1122–1125: „Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein! / Und trüg’ er mich in fremde Länder, / Mir sollt’ er, um die köstlichsten Gewänder, / Nicht feil um einen Königsmantel sein.“ 218,192 Papus] Gérard Analect Vincent Encausse (1865–1916), bedeutender frz. Theosoph u. Esoteriker. Anhänger der Rosenkreuzer u. der Martinisten, Hg. der okkultist. Zeitschrift Traité méthodique de science occulte (dt., „Method. Abhandlung der okkulten Wissenschaft“). Mitgliedschaft im „Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix“ (dt., „Kabbalist. Rosenkreuz-Orden“). Mitbegr. der Zeitschrift L’Initiation (dt., „Die Einführung“); 1890 Gründung der Gemeinschaft Groupe indépendant d’étude ésoterique (dt., „Unabhängige Gruppe für esoter. Studien“). Einschlägige Publikationen Traité élémentaire de science occulte (1888) (dt., „Grundlegende Abhandlung der okkulten Wissenschaft“); Le Tarot des Bohémiens, clef absolue des sciences occultes (1889) (dt., „Tarot der Zigeuner, unbedingter Schlüssel der okkulten Wissenschaften“); Traité méthodique de science occulte (1891) (dt., „Method. Abhandlung der okkulten Wissenschaft“); La science des mages et ses applications théoriques et pratiques. Petit résumé de l’occultisme (1892) (dt., „Die Wissenschaft der Magier u. ihre theoret. u. prakt. Anwendungen: kurze Zusammenfassung des Okkultismus“). 218,195 Nekro- und Chiromantie] Gr., νεκρός, dt., „Toter“, „Leiche“, gr., χείρ,, dt., „Hand“ u. gr., μαντεία, dt., „Weissagung“. Totenbeschwörung u. Handlesen. 218,197 Adolf Franck] Adolphe Franck (1809–1893), frz. Jurist u. Philosoph. 1840 als Professor der Philosophie am Collège Charlemagne n. Paris, 1844 Mitglied des Instituts u. Professor der klass. Sprachen am Collège de France, 1852 Lehrstuhl für Natur- u. für Völkerrecht am Collège de France. Hauptwerke: La kabbale ou La philosophie religieuse des Hébreux (1843) (dt., „Die Kabbala o. die Religionsphilosophie der Hebräer“) sowie als Hg. des Dictionnaire des Sciences Philosophiques (6 Bde, 1843–49) (dt., „Wörterbuch der philosophischen Wissenschaften“). 218,203 Nicolaus Flamel] Nicolas Flamel, auch Nicholas Flamel (wahrscheinlich 1330–um 1413 oder 1418), frz. Schriftsteller. Gilt als einer der größten Alchemisten, posthume Zuschreibung einiger berühmter Traktate. Der Legende zufolge soll F. den Stein der Weisen gefunden u. Unsterblichkeit erlangt haben.

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218,204 Ernest Bosc] (1837–1913), frz. Architekt, Schriftsteller u. Theosoph. Werke u. a.: Dictionnaire de l’art, de la curiosité et du bibelot (1883) (dt., „Wörterbuch für Kunst, Kuriositäten und Nippes“); Isis dévoilée, ou L’égyptologie sacrée: hiéroglyphes, papyrus, livres d’Hermès, religion, mythes, symboles, psychologie (1891) (dt., „Entschleierte/Enthüllte Isis, oder die geheiligte Ägyptologie: Hieroglyphen, Papyrusrolle, hermetische Bücher, Religion, Mythen, Symbole, Psychologie“); Dictionnaire d’orientalisme, d’occultisme et de psychologie ou dictionnaire de la science occulte (1896) (dt., „Wörterbuch des Orientalismus, des Okkultismus und der Psychologie oder Wörterbuch der geheimen Wissenschaft“). Traité thé orique et pratique du haschich, des substances psychiques, et des plantes magiques: cannabis, plantes narcotiques, anesthé siques, herbes magiques, opium, morphine, é ther, cocaïne, formules et recettes diverses, bols, pilules, pastilles, é lectuaires, opiats (1895) (dt., „Theoretische u. praktische Abhandlung zum Haschisch, psychischen Substanzen u. magischen Pflanzen: Cannabis, narkotische Pflanzen, Anästhetika, magische Kräuter, Opium, Morphin, Ether, Kokain, verschiedenartige Formeln und Rezepte [„recette“ eigtl. „Back-/Kochrezept“], große Pillen, Pillen, Pastillen, medizinische Tränke, Opiate.“). 219,212 Nehor] Les Mages et le Secret magique (dt., „Die Magier u. das mag. Geheimnis“) erscheint 1891 unter diesem Hagionym bzw. Allonym. Nehor ist im Buch Mormon, der heiligen Schrift der Mormonen (Buch Alma 1:2–15), ein Priester, der eine eigene Kirche gründet. Er wird schließl. wg. des Mordes an Gideon hingerichtet. 219,215 chaldäischen Mobeds] Chaldäer, Volk des Altertums in Südmesopotamien, dem Zweistromland zw. Euphrat u. Tigris. – Mobed: zoroastr. Geistlicher. S. auch → 185, 486 u. 219, 231. 219,222 Sirius-Bewohnern] S.: Hundsstern, Aschere oder Canicula. Doppelsternsystem (zwei sehr nah beieinander stehende Sterne) des Sternbildes „Großer Hund“, auffällige Sternenkonstellation am südl. Himmel während des Winters. 219,228 „Sar“] Vgl. → 221, 296. 219,231 Zarathustra] Auch Zoroaster (ungewisse Lebensdaten zweites o. erstes Jahrtausend v. Chr.); lehrte als alt-iran. Priester. Im 19. Jh. philosoph.-literar. gestaltet in Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885) v. Friedrich Nietzsche (1844–1900). 219,231 Pythagoras] Pythagoras v. Samos (um 570–nach 510 v. Chr.), gr. Philosoph u. Mathematiker. 219,232 Orpheus] Myth. Sänger- u. Dichtergestalt mit der Macht, Bäume u. Felsen zu bewegen u. wilde Tiere zu zähmen. O. steigt n. dem Tod seiner Gattin Eurydike in den Hades hinab u. rührt durch seinen Gesang Persephone, die Göttin der Unterwelt, so dass sie ihm gestattet, die geliebte Frau zur Oberwelt zurückzuführen, wenn er sich bis dahin nicht n. ihr umblicke. Dieses gelingt nicht, u. O. muss allein auf die Erde zurückkehren, wo ihn drei Jahre später Mänaden, rasende, berauschte Weiber im Gefolge des Dionysos, zerreißen.

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219,232 Tempelritter] Lat., „Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis“, dt., „Arme Ritterschaft Christi u. des salomon. Tempels zu Jerusalem“; Angehörige des Templerordens (auch die Templer, Tempelritter o. Tempelherren). Der n. dem ersten Kreuzzug (1096–1099) um 1118 gegr. Templerorden vereint als erster die Ideale des Mönchtums mit denen des adligen Rittertums. 219,232 Rosenkreuzer] Auch Rosenkreutzer, Mitglieder einer myst., okkulten, ordensähnl. Gesellschaft Anfang des 17. Jh.s, überzeugte Vertreter v. Alchemie, Kabbala u. Hermetik. Anonymes Manifest Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt. Beneben der Fama Fraternitatis, Deß löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europä (1614). 219,234 Atlaswämser] Atlas: arab., dt., „fein“, „glatt“. Gewebe mit glänzender Oberfläche u. stumpfer Unterseite. Wams: urspr. Unterjacke der fränk. Panzerreiter. Seit dem 13. Jh. ziviles Bekleidungsstück ähnl. der heutigen Weste. 219,236 assyrischer Haartracht] Langer, diagonal auf die Schultern herabfallender Haarknoten; entspricht der assyr. Mode im 8 Jh. v. Chr. 219,244 Pentagrammen] Sing., Pentagramm: gr., πεντάγραμμος, dt., „mit fünf Strichen“. Bez. für die regelmäßige Form eines fünfzackigen Sterns. 219,244 Komthure] Pl., Sing., Komtur: lat., commendator, dt., „derjenige, der empfiehlt“, „Förderer“. 1. Bei geistl. Ritterorden Benennung der Ritter, deren Aufgabe in der Verwaltung v. Ordensgütern liegt. 2. Bez. den Rang n. den Großkreuzen, also den zweithöchsten Rang eines Ritters. 219,245 „Großpriore“] Pl., lat., prior, dt., „der Vordere”, „der Frühere“ G. stehen in der Hierarchie unter den Ordensmeistern des Malteser- oder Johanniterordens, ihnen obliegt die Verwaltung einer Region. 219,245 „Archonten“] Pl., Sing., Archon: gr., ἄρχω, dt., „der Erste sein“, „herrschen“; auch „Archont“. Höchste Amtsträger in der griechischsprach. Antike u. im Mittelalter. 219,246: Aestheten] Gr., αἰσθητός, dt., „sinnlich wahrnehmbar“. Personen, die einen stark ausgeprägten Sinn für Schönheit, kultivierte Gepflegtheit u. für Künstlerisches besitzen. 219,246 „Postulanten“] Lat., postulo, dt., „fordern“. 219,246 „Grammatiker“] Grammatik: gr., γράμμα, dt., „Buchstabe“. G.: jemand, der die Grammatik beherrscht. Heute Bez. für systemat. Sprachbeschreibung. 219,247 Alexander Seon] Alexandre Séon (1855–1917), frz. Maler, Illustrator u. Dekorateur im Umkreis der Symbolisten. 220,252 „Magnifici“] Lat., dt., „Großartige“, spätröm. aristokrat. Rang unter Kaiser Justinian I. (482–565) innerhalb der viri illustres (dt., „hervorragende Männer“). 220,252 „Pairs“] Pair, frz., v. lat., par, dt., „ebenbürtig“, „gleich“. Bez. seit dem 13. Jh. Hochadelige in Frankreich mit polit. Privilegien. In England ist „Peer“ ein Angehöriger des brit. Hochadels.

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220,253 „Synnoede“] Gr., συννοέω, dt., „mit dem Verstand erfassen“, „erwägen“, „verstehen“. Hier als Anredeformel für Joséphin Péladans (1858–1918) Vertraute gebraucht, um ihre Übereinstimmung auf höherer, nicht-empir., rein geistiger Ebene zu signalisieren. 220,255 „Ad Rosam per Crucem, ad Crucem per Rosam, in ea, in eis gemmatus resurgam.“] Lat., dt., „Zur Rose durch das Kreuz, zum Kreuz durch die Rose, in ihr (der Rose), in ihnen (der Rose u. dem Kreuz) werde ich als Edelstein wieder auferstehen.“ 220,257 „Amen. Non nobis, Domine, non nobis, sed nonominis tui gloriae solae.”] Lat. Wendung der Rosenkreuzer, dt., „So sei es. Nicht für uns, Herr, nicht für uns, sondern allein um der Ehre deines Namens willen.“ – Vgl. Psalm 115,1: „Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre um deiner Gnade u. Treue willen.“ 220,260 „Ethopöen“ / „Ethopoet“] Gr., ἔθος, dt., „Sitte“ u. gr., ποιέω, dt., „machen“. Ausführl. Beschreibung v. Moral, Sitten u. Gebräuchen eines Volkes oder des Temperaments u. Charakters einer Person; z. B. Charaktere des Theophrastos von Eresos (um 371–287 v. Chr.) o. Suetons (Gaius Suetonius Tranquillus, um 70–122 n. Chr.) De vita caesarum, dt., „Über das Leben der Caesaren“. Péladan will an diese Tradition anknüpfen. Vgl. Joséphin Péladan, La Décadence latine (Éthopée) (1886–1925, 21 Bände) (dt., „Die lat. Dekadenz. Ethopöen.“). 220,261 „Eumolpöen”] Erzählungen v. Eumolpos. E. gilt in der gr. Sage als Stifter der eleusin. Mysterien; seine Nachkommen erben die Priesterwürde in Eleusis; dort werden die Fruchtbarkeitsgottheiten Demeter u. Kore verehrt. 220,263 Vignette] Frz., dt., „Abzeichen“, „Randverzierung“, v. frz., vigne, dt., „Rebe“, bez. das Etikett einer Weinflasche; auch synonym für Aufkleber oder Siegel gebraucht. Bez. später für ornamentale oder bildl. Verzierung im Druckwesen verwendet (Titelblattvignette, Kapitelvignette). 220,271 Anton von Larochefoucauld] François VI., Duc de La Rochefoucauld (1613–1680), frz. Schriftsteller v. a. aphorist. Texte; gilt als einer der ältesten der frz. Moralisten. 220,275 Elenktik] Gr., ἐλέγχω, dt., „überführen“, „widerlegen“; Kunst des Überführens oder Beweisens. 220,280 Neophyt] Gr., νεόφυτος, dt., „frisch gepflanzt“, „Neuling“. Bez. einen durch die Taufe in die christl. Gemeinschaft oder in einen kult. Bund neu Aufgenommenen. 220,282 Arcanum] Lat., arcanus, dt., „geheim“, „heiml.“, das Geheimnisvolle, das Geheimnis, das nur Eingeweihten enthüllt werden darf. 220,283 Samas] Šamaš, in der akkad. u. babylon. Mythologie der Sonnengott, der Gott des Wahrsagens u. der Gerechtigkeit. 220,283 Jah El] Abk. für Jahwe u. Elohim, hebrä. Namen für Gott. 220,286 Sin] Hebr., dt., Schin, einundzwanzigster Buchstabe des hebrä. Alphabets.

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221,293 „Schéma de Concordance”] C.; frz., dt. „Übereinstimmung”. Alphabet. Verzeichnis aller in einem Buch vorkommenden Wörter u. Begriffe oder Vergleichstafeln. Konkordanzschema: Schema der Begriffsfeldkombination. 221,296 Diathese] Gr., διάθεσις, dt., „Herstellung der Ordnung“, „Anordnung“, „Zustand“. 221,297 Merodack] Péladan nennt sich „Sâr Mérodak“. Vgl. → 222, 334. 221,298 Entität] Unsichere Etymologie, vmtl. v. lat., esse, dt., „sein“; bez. das Dasein im Unterschied zum Wesen eines Dinges, das Seiende. 221,298 Alta] Fiktive Person aus Joséphin Péladans (1858–1918 Romanreihe La Décadence latine (dt., „Die lateinische Dekadenz“), an der ein ganzes menschl. Leben mit seinen Sitten u. Leidenschaften dargestellt werden soll. In einigen Figuren sind Freunde des Autors wiederzuerkennen. In A. ist Abbé Calixte Mélinge als esoter. Geistlicher dargestellt. 221,298 Courtenay] Fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. C.: Sinnbild des Schicksalsmenschen, er tritt im ersten, Le vice suprême: diathèse morale et mentale de la décadence latine (1884) (dt., „Das äußerste/höchste Laster: sittl. u. geistige Diathese der latein. Dekadenz“) übertitelten Roman auf. 221,301 Androgyne] Androgynie: gr., ἀνήρ, dt., „Mann“, gr., γυνή, dt., „Frau“; Mensch, der weibl. u. männl. Merkmale vereinigt. 221,301 Gynander] Gr., γυνή, dt., „Frau“; gr., ἀνήρ, dt., „Mann“; ein Individuum, das in seinen phänotypisch (Erscheinungsbild) männl. Anteilen auch genotypisch (Erbbild) männl. u. in seinen phänotypisch weibl. Anteilen auch genotypisch weibl. ist. Die Verteilung der männl. u. weibl. Bezirke bei Gynander ist mosaikartig, häufig ist eine Verteilung, bei der die eine Körperhälfte männl., die andere weibl. ist (Halbseitenzwitter). 221,305 orphisches Prinzip] Orphiker: Glaubensgemeinschaft der gr. Antike, die sich auf die myth. Gestalt des Sängers u. Dichters Orpheus beruft, in dem sie den Urheber sog. Orphischer Texte sehen, die sich mit der Weltentstehung (Kosmologie) u. dem Fortleben der Seele n. dem Tod des Körpers (Seelenlehre) beschäftigen. O. P.: Die Seele, einmal freigesetzt, muss sich erneut mit einem anderen Körper verbinden. Dadurch kommt es zu einer Seelenwanderung. Die endgültige Freisetzung der Seele bzw. ihr glückl. Verbleiben im Jenseits, ist mögl., wenn ein bestimmter Erlösungsweg beschritten ist. Dieser geht zurück auf Orpheus, der in die Unterwelt steigt, um dort seine verstorbene Gattin Eurydike zu finden u. auf die Erdenwelt zurückzuführen. Trotz des Misslingens gilt Orpheus als Religionsstifter, da dieser aus der Totenwelt zurückkehrt, über diese Auskunft erteilen u. somit den Weg der Erlösung beschreiben kann. 221,300 L. d’Este] Prinzessin Léonora d’Este, fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. Sie tritt im ersten, Le vice suprême: diathèse morale et mentale de la décadence latine übertitelten Roman auf. L. ist das Sinnbild der schönen Adligen aus der Zeit der Renaissance.

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221,300 Coryse] Fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. Sie tritt im ersten, Le vice suprême: diathèse morale et mentale de la décadence latine übertitelten Roman auf. C. ist das Sinnbild des jungen Mädchens. 221,301 La Nyne] Fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. Er/Sie tritt im ersten, Le vice suprême: diathèse morale et mentale de la décadence latine übertitelten Roman auf. N. ist das Sinnbild eines Zwitterwesens, das seiner Natur entspr. sowohl männl. als auch weibl. Eigenschaften aufweist. 221,301 Dominicaux] Im Original Les dominicaux (dt., wörtlich: „Die Sonntäglichen“), Personenkollektiv aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. Es tritt im ersten, Le vice suprême: diathèse morale et mentale de la décadence latine übertitelten Roman auf. D. sind die jeweiligen Sinnbilder der Sünden. 221,306 Nebo] Fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. N. tritt im zweiten, Curieuse: phénoménisme clinique collectif parisien (dt., „[Die] Neugierige: klin.-kollektiver Pariser Phänomenismus“) (1885) übertitelten Roman auf. N. ist eine mysteriöse Figur. 221,307 Paula] Im Original Paule, fiktive Person aus Péladans einundzwanzigteiliger Romanreihe La Décadence latine. Sie tritt im zweiten, Curieuse: phénoménisme clinique collectif parisien übertitelten Roman auf. Wie Léonore d’Este ist sie eine Prinzessin. 221,308 Prisma] Gr., πρίω, dt., „zersägen“, „zerschneiden“; geometr. Körper. Hier i. S. v. „Aufspaltung“ gebraucht, analog zur farbigen Aufspaltung v. Licht durch ein Prisma. 221,313 „Konkordanz“] Lat., concordo, dt., „übereinstimmen“, „in Eintracht leben“. Alphabet. Verzeichnis der in einem Buch vorkommenden Wörter u. Begriffe, insbes. als Bibelkonkordanz; hier i. S. v. „Inhaltsangabe“. 221,322 „Astralwesen“] Gr., ἄστρον, dt., „Stern“; nicht physikal. o. materiell zu bestimmende, übersinnl. Träger der seel. Kräfte u. des Bewusstseins. 222,334 Merodak Beladan] Vgl. Jesaja 39, 1: „Zu jener Zeit sandte MerodakBaladan, der Sohn Baladans, der König von Babel, Brief u. Geschenk an Hiskia; denn er hatte gehört, daß er krank gewesen u. wieder gesund geworden war.“ 222,339 Alabaster] Häufig vorkommende Form v. Calciumsulfat. Opt. Ähnlichkeit mit Marmor. In der Antike beliebtes Material für Statuen. 222,339 Niniveh-Palaste] Ninive: mesopotam. Stadt am Tigris, gegr. ca. 2000 v. Chr. Im Altertum glanzvolle Bedeutung als religiöses, kulturelles u. administratives Zentrum; auf dem Hügel Koyunjuk liegen die Ruinen der bekanntesten Paläste aus jener Zeit. 222,351 „konträre Sexualempfindungen“] Bez. für Bisexualität oder Homosexualität. Im Bereich der Sexualpathologie (wozu die „konträren Sexualempfindungen“ bei N. gehören) u. der forens. Psychiatrie gelangt Richard von Krafft-Ebing

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(1840–1902) zu großer Berühmtheit mit seinem Werk Psychopathia sexualis (1886), in dem er die Homosexualität als neuropsychopath., vererbbare Störung definiert. Das bedeutet, dass K.-E. die Homosexualität zu den Krankheiten zählt (womit sie pathologisiert wird), die sich dem Willen des „Betroffenen“ entziehen u. somit unter die Straffreiheit (wofür K.-E. plädiert) fallen. 222,360 in „analogischem Denken”] Gr., ἀναλογία, dt., „das richtige Verhältnis“, „Übereinstimmung“. N. beschreibt die Dichtung Joséphin Péladans (1858– 1918) als eine aus Analogieschlüssen bestehende. Vmtl. spielt er auf die Typenhaftigkeit v. Péladans Figuren in dessen Romanzyklus La décadence latine (ab 1884) an, deren Komposition auf Analogieschlüssen in Bezug auf die reale Welt beruht. 223,413 „Le fantome du crime“] (dt., „Das Gespenst des Verbrechens“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 223,415 F. Desmoulin] Eugene Louis Doyen Fernand Desmoulin (1853–1914), frz. Maler. Enge Freundschaft mit Dichtern seiner Zeit. Hang zum Spiritualismus. 224,422 „L‘amante macabre”] (dt., „Die makabre Geliebte”). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,427 „Mademoiselle Squelette“] (dt., „Fräulein Skelett“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,431 „La morte embaumée“] (dt., „Die einbalsamierte Tote“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,435 „Le mauvais mort“] (dt., „Der üble Tote“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,437 Verschlingen menschlicher Ausscheidungen] Auch Koprophagie, psych. Störung; gr., κόπρος, dt., „Kot“, „Unrat“ u. gr., φαγεῖν, dt., „essen“. 224,439 „Nekrophilie“] Gr., νεκρός, dt., „tot“ u. gr., φιλία, dt., „Liebe“, „Zuneigung; „Liebe zu Toten“; psych. Störung der Sexualpräferenz. 224,440 „Les Luxures “] (dt., „Die Begierden “). Kapitelüberschrift in: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,449 „La Maniaque“] (dt., „Die Manische“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 224,455 „La Chambre“] (dt., „Die Kammer“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,461 „La bibliothèque“] (dt., „Die Bibliothek“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,468 „La peur“] (dt., „Die Angst“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,470 Der lebendig Begrabene] Frz.; „L’enterré vit“ (dt., „Der Begrabene lebt“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,470 Selbstgespräch Troppmanns] Frz. Le Soliloque de Troppmann. Der Fall des wg. achtfachen Mordes hingerichteten Jean-Baptiste Troppmann (1848–1870) sorgt für großes Aufsehen in der zeitgenöss. Presse. Vgl. Charles Lachaud Maurin, Prozess Troppmann (1870). Iwan Turgenjew wohnt der Hinrichtung bei u. veröfftl. einen Bericht.

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225,471 der verrückte Henker] Frz., „Le bourreau monomane“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,472 das Ungeheuer] Frz., „Le monstre“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,472 der Wahninnige] Frz., „Le fou“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,472 der Kopfschmerz] Frz., „La céphalalgie“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,472 die Krankheit] Frz., „La maladie“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,472 die Tollwüthige] Frz., „L’enragée“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,473 die todten Augen] Frz., „Les yeux morts“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,473 der Abgrund] Frz., „La gouffre“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,473 die Thräne] Vmtl. frz., „Les larmes“ (dt., „Die Tränen”). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,473 die Angst] Frz., „La peur“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 der langsame Todeskampf] Frz., „Les agonies lentes“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 die Beerdigung] Vmtl. frz., „L’enterrement d’une fourmi“ (dt., „Die Beerdigung einer Ameise“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 der Sarg] Vmtl. frz., „L’ensevelissement“ (dt., „Die Grablegung“). In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 das Todtengeläut] Frz., „Les glas“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 die Fäulnis] Frz., „La putréfaction“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,474 das Lied des Geköpften] Frz., „Rondeau du Guillotiné“. In: Maurice Rollinat, Les Névroses (1883) (dt., „Die Neurosen“). 225,477 Dostojewski] Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) bildet mit Iwan Turgenjew (1818–1883) u. Lew Iwan Tolstoi (1828–1910) das Dreigestirn des russ. Romans. 1849 wird D. als Teilnehmer an den Zusammenkünften des revolutionären Petraschewski-Kreises verhaftet u. zum Tode verurteilt, auf dem Richtplatz n. einer Scheinhinrichtung zu vier Jahren Zuchthaus u. anschließendem Militärdienst in Sibierien begnadigt. Im sibir. Zuchthaus erlebt er reuelose Schwerverbrecher u. wird unter dem Einfluss der einzig erlaubten Lektüre des NT.s zum missionar. Christen. Nach der Rückkehr ins literar. Leben Anfang der sechziger Jahre tritt D. als Verteidiger der zarist. Ideologie an die Öffentlichkeit. Im festen Referenzraum

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v. Kriminologie u. Christentum schafft er sich einen Rahmen, in den er die Konzeption seiner fünf Romane einzeichnet, die D.s Weltruhm begr.: Prestuplenie i nakazanie (1866) (dt., „Schuld u. Sühne“, auch „Verbrechen u. Strafe“), Idiot (1868), Besy (1873) (dt., „Die Dämonen“) Podrostok (1876) (dt., „Der Jüngling“), Brat’ja Karamazovy (1880/1) (dt., „Die Brüder Karamasow“). 225,490 „Panophobie“] Panphobie oder Pantophobie, gr., πᾶν, dt., „all“, „ganz“, „gesamt“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“. Bez. die krankhaft übersteigerte Furcht vor allen Dingen. 225,490 „Anxiomanie“] Lat., anxius, dt., „ängstl.“, „besorgt“, gr., μανία, dt., „Wahn“, „Raserei“. 226,506 Maurice Maeterlinck] Graf Maurice Polydore Marie Bernard Maeterlinck (1862–1949), belg. Schriftsteller u. Dramatiker frz. Sprache. Gilt mit seinen lyr. Werken u. Dramen als einer der wichtigsten Vertreter des Symbolismus. 1911 Nobelpreis für Literatur. 226,509 „Treibhaus“] Frz., „Serre chaude“ (1889). In: Maurice Maeterlinck: Serres chaudes (1889) (dt., „Heiße Treibhäuser“). 226,531 „Glasglocken“] Frz., „Cloches de verre“. In: Maurice Maeterlinck: Serres chaudes (1889) (dt., „Heiße Treibhäuser“). 227,549 „Seele“] Frz., „Âme“. In: Maurice Maeterlinck: Serres chaudes (1889) (dt., „Heiße Treibhäuser“). 227,584 „Langeweile“] Frz., „Ennui“. Sehr freie Übersetzung durch N. In: Maurice Maeterlinck: Serres chaudes (1889) (dt., „Die heißen Treibhäuser“). 228,629 Ergüsse Walt Whitman’s] Walter Whitman (1819–1892), amerik. Dichter. Gilt als einer der Begr. der modernen amerik. Dichtung, berühmtestes Werk ist der Gedichtband Leaves of Grass (1855) (dt., „Grashalme“). 229,647 W. D. O’Connor] William Douglas O’Connor (1832–1889), amerik. Schriftsteller, Verleger u. Photograph, begeisterter Fürsprecher Walt Whitmans in The Good Gray Poet: A Vindication (1866) (dt., „Der gute graue Dichter: Eine Verteidigung“). 229,650 Ravachol] Eigtl. François Claudius Koënigstein (1859–1892), frz. Anarchist. Bombenleger, Grabräuber, Dieb u. Raubmörder. Tod durch die Guillotine. 229,663 Gabriel Sarrazin] (1798–1889), frz. Literat u. Kritiker. Werk u. a.: La renaissance de la poésie anglaise, 1798–1889 (1889) (dt., „Die Wiedergeburt der engl. Dichtung, 1798–1889“). 229,668 bureaukratischen] Veraltete Schreibweise für „bürokrat.“. Frz., „bureaucratie“ wird v. dem frz. Wirtschaftswissenschaftler Jean Claude Marie Vincent, Marquis de Gournay (1712–1759) geprägt u. bereits kurz danach ins Deutsche übernommen; zusammengesetzt aus frz., „bureau“, dt., „Schreibtisch“, „Arbeitszimmer“ u. dem frz. Suffix „-cratie“, gr., κράτος, dt., „Herrschaft“, „Gewalt“, „Macht“, eigtl. „der Bürokratie gemäß“, „verwaltungsmäßig“. Hier abwertend i. S. v. „buchstabengetreu“, „allzu genau“, „beamtenhaft“, „n. Vorschrift“, „pedantisch“.

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230,676 „Santa spirita!“ (so!)] N. weist darauf hin, dass es korrekt heißen müsste „sancti spiritus”, dt., „Heilige Geister!“. 230,686 Yankee-Ueberhebung] Y.: ungeklärte Etymologie. 1. Seit dem 18. Jh. verwendeter Spitzname für die Bewohner Neuenglands. In diesem Kontext umfasst das semant. Begriffskonnotat den Bewohnern zugeschriebene positive Eigenschaften wie Scharfsinn, Sparsamkeit u. Einfallsreichtum; 2. in der Zeit der Sezessionskriege Bez. für die Nordstaatler aus Sicht der Südstaatler. 3. Im heutigen Sprachgebrauch spött. bis abschätziger Spitzname für US-Amerikaner, während beider Weltkriege speziell für die amerikan. Soldaten. 230,691 Geßner] Salomon Geßner (auch Gessner) (1730–1788), Schweizer Idyllendichter, Maler u. Graphiker. Seine in der arkad. Schäferwelt angesiedelten Idyllen haben nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich einen außergewöhnl. Erfolg. Friedrich Schiller (1759–1805) ordnet G.s Idyllen in seinem berühmten Essay Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/6) der sentimental. Dichtung zu. Im 19. Jh. finden die Idyllen keinen Anklang mehr. Werke u. a.: der Roman Daphnis (1754), sowie Idyllen (1756, anonym) u. Neue Idyllen (1772). 231,719 „La princesse Maleine“] La Princesse Maleine (1889) (dt., „Die Prinzessin Maleine“), neben Pelléas et Mélisande (1892) (dt., „Pelleas u. Melisande“) bekanntestes Bühnenstück v. Maurice Maeterlinck (1862–1949). 239,698 Klopstock] Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803): dt. Dichter u. Epiker. Gilt als wichtigster u. einflussreichster Vertreter der pietist. Empfindsamkeit. Werke u. a. „Der Messias“ (1748–1773) u. „Die Frühlingsfeier“ (1771). 230,699 eruptive Redeweise Jeremiä] J.: neben Jesaja u. Ezechiel einer der drei großen Schriftpropheten des Tanach, der hebrä. Bibel. N. meint vmtl. die Klagelieder Jeremias („Jereminaden“), die als Bsp. hebrä. Dichtkunst gelten. 230,701 „Paramythien” Herders] Gr., παρά dt., „bei“, „neben“ u. gr., μῦθος, dt., „Erzählung“, „Bericht“. – Johann Gottfried v. Herder (1744–1803), geadelt 1802, dt. Dichter, Übersetzer, Geschichts-Philosoph u. Theologe. Hier: Paramythien. Dichtungen aus der griechischen Fabel (1785). 231,719 „La princesse Maleine“] La Princesse Maleine (1889) (dt., „Prinzessin Maleine“), neben Pelléas et Mélisande (1892) (dt., „Pelleas u. Melisande“) bekanntestes Bühnenstück v. Maurice Maeterlinck (1862–1949). 231,720 „Dramatis personae“] Lat., dt., „Personen des Dramas“. Personenverzeichnis eines Bühnenwerkes. 233,812 eine Art Centon] Versetzung eines Shakespeare-Verses als isoliertes Versatzstück in einen anderen Kontext. 233,836 das dreimalige „o! o! o!“ Othellos] Ausruf im fünften Akt, zweite Szene, als Othello erkennt, dass er die unschuldige Desdemona erdrosselt hat. 237,982 „L’Intruse”] (1890) (dt., „Der Eindringling [im Frz. weibliche Form]“). Drama v. Maurice Maeterlinck (1862–1949). 237,987 „Les Aveugles“] (1890) (dt., „Die Blinden“). Drama v. Maurice Maeterlinck (1862–1949).

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237,1002 „Les sept Princesses“] (1891) (dt., „Die sieben Prinzessinnen“), Drama v. Maurice Maeterlinck (1862–1949). 237,1015 Octave Mirbeau] Octave Henri Marie Mirbeau (1848–1917), frz. Schriftsteller, Journalist u. Kunstkritiker, sozialkrit. auflagenstarker Autor. M. gilt im 19. Jh. als einer der literar. u. polit. kühnsten Dichter u. meistgespielte frz. Bühnenautor im deutschspr. Raum. Berühmt durch seinen Roman Les 21 jours d’un neurasthénique (1901) (dt., „Nie wieder Höhenluft o. Die 21 Tage eines Neurasthenikers“). 237,1018 „Impulsion“] Lat., impulsio, dt., „Anreiz“, „Anstoß“. 237,1019 „Figaro“] Le Figaro, 1826 gegr. frz. Tageszeitung. 238,1027 Andersens Märchen] Des Kaisers neue Kleider (dän., Keiserens nye Klæder, 1837), bekanntes Märchen des dän. Schriftstellers Hans Christian Andersen (1805–1875). 238,1051 Blaustrumpf] Im 19. Jh. abwertende Bez. für gebildete, aber als unweibl. geltende Frauen. Der Begriffsbildung liegt eine Legende zugrunde: Um 1750 eröffnet die Londoner Literatin Elizabeth Montagu (1718–1800) ihren Salon für „schöngeistige Partys“ u. lädt Gäste zu literar. Themenabenden u. Diskussionen ein. Einer der dort verkehrenden Herren ist der Botaniker Benjamin Stillingfleet (1702–1771), der aufgrund seines Geldmangels statt der zur feinen Herren-Abendgarderobe gehörenden schwarzen Seidenstrümpfe billige blaue Garnstrümpfe trägt. Dieses skandalöse mod. Vergehen spricht sich herum u. die Teilnehmer der „intellektuellen Feste“ werden allesamt als „Blue Stockings“, „Blaustrümpfe“, bez. 238,1051 in einem großen Berliner Blatte] Nicht ermittelbar. Dirk Strohmann, Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891–1914), Bern 2006, führt im Index aller Rezensionen zu Maeterlinck in Zeitungen u. Zeitschriften keine weibl. Feuilletonistin auf, die sich vor 1892 zu Maeterlinck geäußert haben könnte.

Drittes Buch. Die Ich-Sucht. I. Psychologie der Ich-Sucht. 247,22 Esquirol] Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840), frz. Psychiater. Begr. der Monomanielehre (gr., μόνος, dt., „allein“ u. gr., μανία, dt., „Raserei“, „Verzückung“), „Einzelwahn“, „krankhafte Besessenheit v. einer einzigen bestimmten Vorstellung“ im Gegensatz zu einem vollständigen „Irresein“. Der heute ungebräuchl. Begriff bez. eine partielle, isolierte Störung psych. Funktionen. Werke u. a.: Des passions. Considérées comme causes symptômes et moyen curatifs d’aliénation mentale (1805) (dt., „Allgemeine u. specielle Pathologie u. Therapie der Seelenstörungen“); Des maladies mentales, 2 Bde. (1838) (dt., „Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin u. Staatsarzneikunde“); Note sur la monomanie-homicide (1830) (dt., „Bemerkung über die Mord-Monomanie“).

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247,33 unser Westphal] Vgl. → 30, 164. W. liefert 1872 eine exakte Beschreibung der Agoraphobie: Die Agoraphobie, eine neuropathische Erscheinung, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Berlin 1871–72; 3: 138–161. 247,39 Lisandro Reyes] Lisandro Reyes (Lebensdaten unbek.), Mediziner an den mediz. Fakultäten v. Bogotá/Kolumbien u. Paris. Werke u. a.: Contribution à l’étude de l’état mental chez les enfants dégénérés (dt., „Beitrag zur Studie über den geistigen Zustand degenerierter Kinder“) (1890). 248,49 „Phobien“ und „Manien“] P., gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. i. d. Psychologie eine unbegr., anhaltende, häufig zu Panikattacken führende unspezif. Angst oder konkrete Furcht vor einer Person, einem Objekt o. einer Situation. – M., gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“, bez. eine affektive, häufig schubweise verlaufende multifaktorielle Störung. 248,49 „Agoraphobie“] Gr., ἀγορά, dt., „Marktplatz“, „Volksversammlung“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. panischer Angst bzw. ein starkes Unwohlsein bei der Vorstellung, allein über freie Plätze u. Straßen zu gehen, daher auch die Bez. „Platzangst“. Bestimmte Orte, aber auch Unternehmungen als Alleinreisende werden gemieden. Erstmals untersucht v. dem dt. Psychiater u. Neurologen Carl Friedrich Otto Westphal (1833–1890). Vgl. → 247, 33. 248,50 „Klaustrophobie“] Lat., claustra, dt., „Schloss“, „Riegel“, „Käfig“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“, fachspr. auch „Raumangst“, umgangsspr. „Platzangst“. Bez. die panische Angst vor Aufenthalten in geschlossenen o. engen Örtlichkeiten. 248,51 „Rupophobie“] Gr., ῥύπος, dt., „Unsauberkeit“, „Schmutz“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die panische Angst vor Schmutz bzw. sich zu beschmutzen, Folgen sind zumeist übertriebene Hygiene u. Putzzwang. 248,51 „Iophobie“] Gr., ἰός, dt., „Gift“, „Grünspan“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die panische Angst davor, vergiftet zu werden. 248,51 „Nosophobie“] Gr., νόσος, dt., „Krankheit“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die patholog. Angst davor zu erkranken, krank zu werden o. erkrankt zu sein. 248,52 „Aichmophobie“] Gr., αἰχμή, dt., „Lanze“, „Schärfe“, „Spitze“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die patholog. Angst vor spitzen o. schneidenden Gegenständen (Nadel, Schere, Messer, Gabel etc.). 248,52 „Belenophobie“] Korrekt: Belonophobie, gr., βελόνη, dt., „Pfeilspitze“, „Nadel“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die patholog. Angst vor Nadeln bzw. sich mit einer Nadel zu stechen o. v. einer Nadel gestochen zu werden. 248,53 „Kremnophobie“] Gr., κρημνός, dt., „Abhang“, „Ufer“, „Rand“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die extreme Angst vor Abgründen. 248,53 „Trichophobie“] Gr., θρίξ, Gen. τριχός, dt., „Haar“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die extreme Angst bzw. den Ekel vor Haaren.

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248,53 „Onomatophobie“] Gr., ὄνομα, dt., „Name“, „Benennung“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schrecken“. Bez. die Angst vor bestimmten Namen o. bestimmten Wörtern. Betroffene vermeiden es, diese Begriffe zu hören. 248,54 „Pyromanie“] Gr., πῦρ, dt., „Feuer“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“. Bez. ein triebhaftes o. zwangähnl. Bedürfnis v. Brandstiftern. 248,55 „Kleptomanie“] Gr., κλέπτω, dt., „stehlen“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“. Bez. zwanghaftes Stehlen, i. d. Regel ohne Bereicherungstendenz. I. d. Psychiatrie heute auch als „patholog. Stehlen“ bez. 248,55 „Dipsomanie“] Gr., δίψα, dt., „Durst“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“. Period. auftretende imperative Trunksucht, auch Alkoholkrankheit. 248,55 „Erotomanie“] Gr., ἐρωτομανία, dt., „rasende Liebe“. Krankhafte Steigerung des Sexualtriebs, auch Hypersexualität. 248,56 „Arithmomanie“] Gr., ἀριθμός, dt., „Zahl“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“. Krankhafter Zwang, Dinge zählen zu müssen. 248,56 „Oniomanie“] Gr., ὤνιος, dt., „käufl.“ u. gr., μανία, dt., „Wahnsinn“, „Raserei“, „Wut“. Krankhafter Zwang, Dinge ohne eigtl. Besitzwunsch zu kaufen. 249,102 „Egotisme“] Frz., dt., „Ichsucht“, wie N. ausführt, bez. die patholog. Ich-Bezogenheit, die auch die Weltwahrnehmung verzerrt. 249,103 „Egoisme“] Frz., dt., „Selbstsucht“. N. bez. damit einen „Charaktermangel“, aber keine patholog. Erscheinung. 249,108 paradoxal] Gr., παράδοξος, dt., „wider Erwarten“. Ein Paradoxon ist ein entweder nur scheinbar o. aber tatsächl. nicht auflösbarer Widerspruch in Form einer Behauptung o. eines Ereignisses. 250,154 sich zu der Behauptung verstiegen hat] N. meint hier eine Position des subjektiven Idealismus, der im Gegensatz zum Realismus eine äußere, v. subjektiven Bewusstsein unabhängige Realität für nicht existent hält. Einer der Begr. ist George Berkeley (1685–1753), der sagt, dass die Gegenstände angewiesen sind, v. einem Bewusstsein wahrgenommen zu werden, um das zu sein, was sie sind. Berühmt ist der Satz geworden „Esse est percipi.“ Vgl. die Abhandlung The new Theory of Vision (dt., „Eine neue Thorie des Sehens“). 250,163 u. 164 Fichte / Schelling / Hegel] Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von Schelling (1775–1854), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), dt. Philosophen des Idealismus. Sie gelten als die Vertreter des dt. Idealismus, der auf die Neubegr. der Metaphysik abzielt u. im Vertrauen auf die Autonomie der Vernunft u. in Orientierung am Prinzip der Subjektivität eine systemat. u. abschließende Erkenntnis der natürl. u. geistigen Welt beansprucht. 251,177 Weltgeist] Metaphys. Prinzip, bei George Berkeley (1685–1753) mit göttl. Konnotation, in Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes (1807) Prinzip, das die gesamte Geschichte bestimmt u. sich in ihr u. durch sie fortentwickelt. 251,197 Protoplasmas] Gr., πρῶτος, dt., „erster“ u. gr., πλάσμα, dt., „das Gebildete“, „Geformte“, im 19. Jh. Bez. für die Lebenssubstanz aller Zellen. Heute nicht

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mehr gebräuchl., teilweise uneinheitl. verwendete Bez. für die innere flüssige Masse lebender Zellen inklusive Zellkern (veraltet „Urschleim“, heute „Zytoplasma“). 251,206 Verworn] Max Richard Konstantin Verworn (1863–1921), dt. Physiologe, der sich v. a. der Funktion der Nervenzellen widmet. Professor in Jena (ab 1895), in Göttingen (ab 1901) u. Bonn (ab 1910). Werke u. a.: Psychophysiologische Protistenstudien (1889); Die Bewegung der lebendigen Substanz (1892); Allgemeine Physiologie (1895). Später Schriften zur multikausalen Denkweise, z. B. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis (1908). 252,214 biochemisch] Gr., βίος, dt., „Leben“, gr., χύμα, dt., „Flüssigkeit“ u. gr., χυμεία, dt., „Metallverwandlung“. Begriff geprägt durch Vinzenz Kletzinsky (1826–1882) im Compendium der Biochemie (1858). Die Biochemie untersucht den Stoffwechsel (d. h. die biochem. Vorgänge) in Lebewesen unter genet. u. zellbiolog. Fragestellungen. 252,215 biomechanisch] Die Biomechanik, gr., βίος, dt., „Leben“ u. gr., μηχανικὴ τέχνη, dt., „Maschinenkunst“) untersucht die Strukturen u. Funktionen v. Bewegungen innerhalb biolog. Systeme. 252,221 Mantelthiers] Wiss., Tunicata, v. lat., tunica, dt., „Tunica“, „Mantel“, „Haut“. Unterstamm der Chordatiere. Namensgebend ist der stabförmige Stützapparat, Chorda dorsalis. M. leben auf dem Meeresboden, entweder festsitzend o. i. d. Wasserströmung treibend. 252,221 Botrylus] Wiss., Botrylloides, sessiles (festsitzend) Manteltier, hier eine Unterart der Klasse der Ascidiae, Seescheiden. 252,222 Doppelthiers] Wiss., Diplozoon paradoxum, Außenparasit, der aus zwei kreuzweise verwachsenen, jeweils alle Eigenschaften eines ganzen Tieres aufweisenden Hälften besteht. 252,222 Seenelke] Wiss., Metridium senile, ein zu den Seeanemonen (Actiniaria) gehörendes sessiles Meerestier. 252,227 Eunice-Arten] Wiss., Eunice viridis, auch „Palolowurm“ o. „Samoa Palolo“. Zw. 40 u. 70 cm langer Ringelwurm (Annelida) in den Korallenriffen der südpazif. Inseln. Bsp. für eine durch die Mondphasen (lunare Rhythmik) synchronisierte Fortpflanzung. 252,238 Nervenganglien] Gr., γαγγλίον, dt., „Geschwulst“. Ein Ganglion (Nervenknoten) ist eine Konzentration v. Nervenzellen im peripheren Nervensystem. 253,275 Kerntheilung] K. in einer Zelle kann entweder durch Mitose (gr., μίτος, dt., „Faden“), bei der die Tochterkerne (Karyokinse, gr., κάρυον, dt., „Nuss“, „Kern“ u. κίνησις, dt., „Bewegung“) n. einer Zellkernteilung durch Abschnürung die gleiche genet. Ausstattung wie der Mutterkern haben, o. durch Meiose (gr., μείωσις, dt., „Verringern“, „Verkleinern“), bei der die genet. Ausstattung halbiert wird. 253,287 weil die Zelle ihre eigenen Verrichtungen aus eigener Kraft besorgt] Die Mitochondrien (gr., µίτος dt., „Faden“ u. gr., χονδρίον, dt., „Knötchen“) sind die „Kraftwerke“ der Zelle. In ihnen oxidieren organ. Stoffe mit molekularem Sau-

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erstoff, ein Vorgang, der chem. Energie freisetzt, die in Form v. ATP (Abk. für Adenosintriphosphat; einer der wichtigsten Energielieferanten der Zelle) gespeichert wird. 254,301 Cönästhesie] Gr., κοινὴ αἴσθησις, dt., „allgemeine Empfindung“, „gemeinsame Wahrnehmung“. Auch Coenästhesie, Koenästhesie, heute Zönästhesie. Begriff i. d. Physiologie u. Psychologie des 19. Jh.s, um das Leib-Erleben im Grenzgebiet zw. Psych. u. Phys. zu beschreiben, also Körperwahrnehmungen, die als abnorm empfunden werden (Kribbeln, Schrumpfen der Haut etc.). Davon zu unterscheiden sind zönästhet. Halluzinationen, bei denen die Wahrnehmungen als v. außen diktiert empfunden werden (z. B. durch Zuführen v. elektr. Energie o. durch Hypnose). 255,367 Pantheismus] Gr., πᾶν, dt., „jeder“, „alles“, „ganz“ u. gr., θεός, dt., „Gott“, bez. die Auffassung, Gott sei ident. mit dem Kosmos, damit mit der gesamten Natur, sei also auch im Inneren des Menschen zu finden. 255,374 Mikrokosmos] Gr., μικρός, dt., „klein“ u. gr., κόσμος, dt., „Ordnung“, „Schmuck“, „Welt“, die Welt des winzig Kleinen, der Kleinstlebewesen u. der Mensch als verkleinertes Abbild des Universums. Im Gegensatz dazu Makrokosmos, gr., μακρός, dt., „groß“, „weit“, die Welt des riesig Großen bzw. das Weltall. 256,397 Die alte, spiritualistische Psychologie] Gemeint ist wohl ein Dualismus v. Körper u. Geist, sog. Cartesian. Dualismus, wie er beim frz. Philosophen René Descartes (1596–1650) in den Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur (dt., „Meditationen über die Erste Philosophie, in welcher die Existenz Gottes u. die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird“) entwickelt wird. Bereits Platon behandelt (428/427–348/347 v. Chr.) die Beziehung zw. Körper u. Geist u. vertritt in seiner Rechtfertigung für die Seelenwanderung ausdrückl. einen Dualismus: Die Seele kann n. dem Tod des Körpers nur weiter existieren, wenn sie etwas anderes ist als dieser. 257,452 „Altruismus“] Lat., alter, dt., „der Andere“. V. dem frz. Philosophen u. Mathematiker Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (1798–1857) geprägter Begriff für uneigennütziges, das Wohl des Mitmenschen u. der Lebensgemeinschaft bedenkende Verhalten. 258,499 Molekular-Bewegungen] Stoffwechselprozesse zw. – aus zwei od. mehr miteinander verbundenen Atomen bestehenden – kleinsten Teilchen einer chem. Verbindung, die in ihrer Bewegung mit anderen Molekülen wechselwirken können. 259,524 Koloquinten] Wiss., Citrullus colocynthis, auch Pomaquinte, Koloquintenkürbis, Purgiergurke o. Teufelsapfel, giftige Pflanze aus der Familie der Kürbisgewächse. Natürl. Verbreitungsgebiet Nordafrika u. Südwestasien. Im Mittelmeerraum als Heilpflanze gegen Geschwüre, Asthma, Bronchitis, Gelbsucht, Verstopfung, Tumore, Wassersucht, Rheumatismus angebaut. 260,559 Psychophysiologen] Mediziner, die sich mit den Beziehungen zw. seel. Vorgängen u. den zugrundeliegenden körperl. Funktionen befassen. Sie

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beschreiben, wie Emotionen, Bewusstseinsänderungen u. Verhaltensweisen mit Hirntätigkeit, Kreislauf u. hormonellen Vorgängen zusammenhängen. 261,627 Gley] Marcel Eugène Emile Gley (1857–1930), Endokrinologe u. Physiologe. 1891 Entdeckung der Nebenschilddrüsen. Daneben Beschäftigung mit der Physiologie des Nervensystems. Publ. u. a. Sur les fonctions du corps thyroïde (1891) (dt., „Über die Funktionen der Schilddrüse [wörtl.: des Schilddrüsenkörpers]“). 262,628 tumultuosen] Auch tumultuos o. tumultuös v. lat., tumultuosus, dt., „unruhig“, „geräuschvoll“, „in Aufregung“. 262,665 Anmerkung 18] Die lange Liste der Sachverständigen lässt besonders deutl. werden, wie sehr es N. um die wissenschaftl. Fundierung seiner Überlegung geht. – Böck: Eigtl. Jean de Boeck (Lebensdaten unbek.), belg. Mediziner. Publ. u. a. De la présence de l’acétone dans l’urine des aliénés (dt., „Über die Präsenz v. Aceton im Urin Geisteskranker“) (1891) (gemeinsam mit Auguste Slosse, 1863– 1930). – Weill: Vermtl. meint N. den dt. Internisten Adolf Weil (1848–1916). Dieser forscht v. a. im Bereich der durch tier. Urin auf den Menschen übertragenen Infektionskrankheiten, den sog. „Leptospirosen“, bei denen sich Gehirnhaut, Leber, Nieren u. Herz entzünden. Eine Form der Leptospirosen ist die sog. nach W. benannte „Weil-Krankheit“. – Möbius: Paul Julius Möbius (1853–1907), dt., Neurologe, zunächst Militärarzt, dann Privatdozent in Leipzig, schließl. Nervenarzt. Forschungsschwerpunkte Hysterie, Neurasthenie u. Migräne. Zudem verfasst M. Krankheitsgeschichten (Pathographien) bekannter Personen: J.-J. Rousseaus Krankengeschichte (1889), Über das Pathologische bei Goethe (1898). Im feminist. Diskurs Anfang des 20. Jh.s berüchtigt durch seine Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900). – Charrin: Albert Benoît Charrin (1856–1907), frz. Mediziner, Professor u. u. a. stellvertretender Direktor des „Laboratoire de Pathologie générale“ (dt., Allgemeinpatholog. Versuchsanstalt“), Präsident der biolog. Gesellschaft u. Vertretungsprofessor am Collège de France. Forschung v. a. im Bereich der Mikroben. Werke u. a. Leçons de pathogénie appliquée. Clinique médicale. Hôtel-Dieu 1895–1896 (1897) (dt., „Lehren zur angewandten Pathogenese. Medizin. Klinik. Hôtel-Dieu 1895–1896.“); Influence du système nerveux sur l’infection (1889) (dt., „Einfluss des Nervensystems auf die Infektion“); Le Microbe et la Cellule. – Propriétés communes (1892) (dt., „Die Mikrobe und die Zelle. – Gemeinsame Eigenschaften“). – Mairet: Jean Albert Mairet (1852–1935), frz. Mediziner. Professor für Geistes- u. Nervenkrankheiten an der Universität Montpellier, Mitglied der Gesellschaft für prakt. Medizin u. Chirurgie Montpellier, Mitglied der Gesellschaft für Natur- u. Geisteswissenschaften Montpellier (Sekretär der medizin. Sektion). Schriften u. a. De l’illusion en général. – Des sensations visuelles comme causes d’illusions (1876) (dt., „Über die Illusion im Allgemeinen. – Über visuelle Empfindungen als Ursachen für Illusionen“); De l’élimination de l’Urée et des Phosphates chez les Aliénés (1880) (dt. „Über die Absonderung des Harnstoffs und der Phosphate bei Geisteskranken“). – Bosc: Joseph Bosc (Lebensdaten unbek.), frz. Mediziner u. Pharmazeut. Preisträger der pharmazeut. Hochschule in Montpellier,

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zeitweilig Hilfspräparator der biolog. Chemie an der medizin. Fakultät Montpellier. Schriften u. a. Dosage clinique du soufre urinaire (dt. „Klinische Dosierung des Urinschwefels“) (1901) (Dissertationsschrift). – Slosse: Auguste Slosse (1863–1930), frz.-belg. Chemiker. Gründer des ersten belg. Lehrstuhls für biolog. Chemie. Schriften u. a. De la présence de l’acétone dans l’urine des aliénés (dt., „Über die Präsenz v. Aceton im Urin Geisteskranker“) (1891) (gemeinsam mit de Boeck). – Laborde: Jean Baptiste Vincent Laborde (1830–1903), frz. Mediziner u. Physiologe. Professor an der Fakultät für Anthropologie. Gründer der Société de Médicine publique et d’Hygiène Professionelle (dt., „Gesellschaft für öffentl. Medizin u. professionelle Hygiene“), Vize-Präsident der Société de Biologie (dt., „Gesellschaft für Biologie“), ab 1887 Mitglied der Académie de Médicine (dt., „Medizin. Akademie“). Forschung im Bereich der Tuberkulose u. des Alkoholismus. Corvisart-Preis, Godard-Preis der Anatomischen Gesellschaft Paris u. a. Werke u. a.: Physiologie expérimentale appliquée à la toxicologie et à la médicine légale (dt., „Experimentelle Physiologie auf die Toxikologie u. auf die Gerichtsmedizin angewandt“) (1877); De l’intoxication par le carbone (dt., „Über die Vergiftung durch Kohlenstoff”) (1889). – Marie: AugusteArmand Marie (1865–1934), frz. Psychiater, Begr. der ersten „Irrenkolonien“ in Frankreich, d. h. psychiatr. Kliniken angegliederte ambulante Versorgungseinrichtungen für psych. Kranke. Chefarzt in der Irrenanstalt Villejuif (Paris), Direktor des Labors für pathologische Psychologie der École de Hautes Études. Schriften u. a.: L’assistance des aliénés en Écosse (1892) (dt., „Die Versorgung Geisteskranker in Schottland“); Aperçu médico-légal sur les troubles mentaux post-traumatiques (1904) (dt., „Medizingesetzl. Bemerkung über posttraumat. geistige Störungen“); La démence (1906) (dt., „Der Schwachsinn“). 263,697 „Die Welt ist gemacht] Frz., „(…) que tout, au monde, existe pour aboutir à un livre“. Das Zitat stammt aus Mallarmés Divagations (dt., „Faseleien“) (1897). Der Abschnitt „Quant au livre“ (dt., „Das Buch betreffend“), mit den Unterkapiteln „L’action restreinte“ (dt., „Die beschränkte Handlung“), „Étalages“ (dt., „Auslegungen“) u. „Le livre, instrument spirituel“ (dt., „Das Buch, ein spirituelles Instrument“) ist Teil dieser Sammlung v. Prosa, Lyrik u. Kritiken mit Überlegungen für ein „Buch“, das alle Weltinhalte in sich vereinigt. 263,702 Süßholzraspelei] Veraltete Bez. für „Schmeichelei“, „in auffallender Weise hofieren“ o. „schöntun“. Bezug zur Herstellung v. Süßstoffen durch Zerreiben v. Süßholz. 264,712 Robinson Crusoe] Name des Schiffbrüchigen a. d. gleichnamigen 1719 veröfftl. Roman Daniel Defoes (1660–1731): The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pyrates. Written by Himself (dt., „Das Leben u. die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer

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unbewohnten Insel an der Küste v. Amerika lebte, i. d. Nähe der Mündung des großen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endl. seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben v. ihm selbst.“). 264,726 „Perversion“] Lat., perversio, dt., „Verdrehung“, „Umdrehung“, bez. eine n. geltenden Moralvorstellungen (häufig im Bereich des Trieb- u. Sexualverhaltens) krankhafte Abweichung v. der Norm. 265,759 Missethaten] Ahd., missitāt, veraltet für „verwerfl. Tat“, die im Widerspruch zu Moral u. Recht steht. 265,760 Leibesnothdurft] Urspr. das zum Leben unbedingt Notwendige. Heute als Euphemismus gebräuchl. im Sinne des nicht mehr zum Leben Notwendigen o. als Bez. für Fäkalien v. ahd., dur(u)ft, dt., „Bedürfnis“, „Not“. Daher der Ausdruck „seine Notdurft verrichten“. 265,760 Tarde] Gabriel (de) Tarde (1843–1904), frz. Jurist, Soziologe u. Philosoph. Professor für moderne Philosophie am Collège de France. Mitglied der Akademie für moral. u. pol. Wissenschaften Frankreichs. Werke u. a.: La criminalité comparée (1890) (dt., „Die vergleichende Kriminalität“); La philosophie pénale (1890) (dt., „Die Strafphilosophie“); Les lois de l’imitation (1890) (dt., „Die Gesetze der Imitation“); Les transformations du droit. Étude sociologique (1891) (dt., „Die Transformationen des Rechts. Soziolog. Studie“); Monadologie et sociologie (1893) (dt., „Monadologie u. Soziologie“). 265,763 Ränkeschmied] Veraltete Bez. für eine Person, die Intrigen plant u. ausführt. 265,765 Karl der Böse Graf von Evreux und König von Navarra] Karl II. (1332– 1387), ab 1343 Graf von Évreux u. ab 1349 König v. Navarra. Wg. seiner Illoyalität, Unzuverlässigkeit u. Skrupellosigkeit berüchtigter frz. Herrscher. 265,765 Gille de Rays] Comte Gilles de Montmorency-Laval, Baron de Rais (1404–1440), Marschall v. Frankreich während des Hundertjährigen Krieges (frz., Guerre de Cent Ans) u. Serienmörder (n. kirchl. Protokollen mind. 140 Opfer). Vorlage für die Figur des König Blaubart. 265,766 Urbild des „Blaubarts“] Der Roman Là-Bas (1891) (dt., „Tief unten“) v. Joris-Karl Huysmans (1848–1907) bezieht sich stark auf Graf Gilles de Montmorency-Laval, Baron de Rais (1404–1440). Der Schriftsteller Durtal betreibt in dem Roman aus Enttäuschung über die v. ihm so empfundene leere Gegenwart Mittelalterstudien u. beschäftigt sich u. a. mit Graf Gilles, was ihn schließl. in die satanist. Kreise v. Paris führt. – Die Figur des Blaubarts spielt zudem schon im 17. Jh. in den Märchenstoffen Charles Perraults (1628–1703) Histoires ou contes du temps passé, avec des moralitez (dt., „Geschichten o. Märchen aus vergangener Zeit, mit anschließender Moral“) (1697) eine Rolle. 265,775 Diabolismus] Eigtl. „Verehrung des Teufels“, gr., διάβολος, dt., „verleumdend“, „Teufel“. Hier m. B. a. Werke der frz. Décadence gemeint (s. → Kap. Parnassier u. Diaboliker).

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265,775 Decadentismus] Dekadentismus, v. lat., decido, dt., „herunterfallen“, „niederfallen“, „versinken“. Sammelbegriff für Erscheinungsformen des Verfalls. Urspr. auf verschiedene Epochen bezogen, bez. allgemein den sittl. Verfall. Mit Charles-Louis de Secondats (Baron de La Brède et de Montesquieu) (1689–1755) Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) (dt., „Erwägungen zu den Ursachen der Größe der Römer u. zu ihrem Verfalls“) ist der Begriff unlösl. mit dem Verfall Roms verbunden. – Literar. Strömung, die ca. Mitte des 19. Jh.s in Frankreich einsetzt u. Ende des Jh.s ihre Blütezeit in Deutschland erlebt. Positiv bewertet wird der Begriff erstmals durch Charles Baudelaire (1857) im Vorwort (Notes nouvelles sur Edgar Poe, dt., „Neue Notizen über Edgar Poe“) des zweiten Bandes seiner Poe-Übersetzungen, in dem er gegen die Torhüter der klassischen Ästhetik polemisiert u. die „Literatur des Niedergangs“ (frz., „Littérature de décadence“) als Ausdruck moderner Poesie positiv hervorhebt. Im selben Jahr erscheint Baudelaires Les Fleurs du mal (dt., „Die Blumen des Bösen“). Théophile Gautier (1811–1872) vollzieht ein Jz. später im Vorwort zur dritten Auflage der Fleurs du mal (1868) endgültig die Umwertung des pejorativen Terminus u. nennt den im Jahr zuvor verstorbenen Baudelaire einen „poète de décadence“ (dt., „Dekadenzdichter“). Damit bereitet er eine „Théorie de la décadence“ (dt., „Dekadenztheorie“) vor, die der frz. Romancier Paul Charles Joseph Bourget (1852–1935) in seinen Essais de psychologie contemporaine (1883) (dt., „Psycholog. Abhandlungen über zeitgenöss. Schriftsteller“; wörtl.: „Versuch über zeitgenöss. Psychologie“) entfalten wird. Hierin wird die Décadence als „maladie de siècle“ bez., die er als Arzt am Krankenbett des Jh.s heilen möchte. 265,791 Frau von Brinvilliers] Marie-Madeleine Marguerite d’Aubray, Marquise de Brinvilliers (1630–1676), eine der bekanntesten Giftmörderinnen der Kriminalgeschichte. Der Fall wurde vielfach künstler. aufgegriffen, so z. B. in E. T. A. Hoffmanns (1776–1822) Kriminalnovelle Das Fräulein von Scuderi aus dem Zyklus Die Serapionsbrüder (1819/21). 265,788 Drill] Dimitri Drill (Lebensdaten unbek.), russ. Anwalt u. Publizist. Schriften u. a.: Les Fondements et le but de la Responsabilité Pénale. Rapport présenté par Dimitri Drill Avocat à Saint-Pétersbourg au Congrès international d’Anthropologie criminelle tenu à Genève en 1896 (dt., „Die Grundlagen u. die Zielsetzung der strafrechtl. Verantwortung. V. Dimitri Drill, Anwalt in Sankt-Petersburg, beim in Genf im Jahre 1896 abgehaltenen internationalen Kongress zur Kriminalanthropologie präsentierter Bericht“). 266,839 Louise Lateau] (1850–1883), der Fall L. L. ist einer der bekanntesten u. am besten dokumentierten Stigmatisationsfälle, an deren Erforschung mehrere hundert Ärzte u. Theologen beteiligt waren. 266,842 Lamarck] Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck (1744–1829), frz. Botaniker u. Zoologe. L. prägt den Begriff der Biologie u. gilt als der Begr. der Evolutionstheorie. 267,854 daß die Elektrizität Kupferdrähten folgt] Elektr. Signale (Strom) werden durch Metalldrähte geleitet, die oft aus Kupfer bestehen.

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268,890 Jakobinismus] Jakobiner: Bez. der Mitglieder des im Mai 1789 gegr. wichtigsten Klubs der Frz. Revolution „Société des amis de la constitution“ (dt., „Gesellschaft der Verfassungsfreunde“). Bez. nach dem Tagungsort, dem Dominikanerkloster Saint Jacques in Paris. Ab Sommer 1791 gelten die Jakobiner als Stoßtrupp der Republikaner. Unter der Führung v. Robespierre Schreckensherrschaft, nach dessen Tod wird der Klub geschlossen. – J.: Bez. außerhalb Frankreichs für entschiedene Anhänger der Frz. Revolution u. für radikale Demokraten. 268,904 Kanaan] Das Abraham u. seinen Nachkommen versprochene Gelobte Land (Genesis 13, 14ff.). 269,938 „Bund gegen das Grüßen durch Hutabnehmen“] 1841 erscheint (anonym) die Schrift Die Hut-Frage, oder der Mißbrauch des Hutabnehmens beim Grüßen bekämpft aus socialen u. medicinischen Gründen. Eine Maßnahme darin sieht vor, dass man sich durch eine Gebühr v. Zwang des Hutabnehmens freikaufen könne. 269,938 dort widersetzen sie sich dem Impfzwang] Widerstand gegen staatl. angeordnete Impfungen v. a. gegen die Pocken (letzte Epidemie um 1870) aus Angst vor staatl. Eingriff in die Freiheitsrechte des Bürgers u. Verbreitung v. Krankheiten durch nicht sterile Nadeln. Erlass eines allgemeinen Impfgesetzes April 1874. 269,939 eifern sie gegen die Volkszählung] 1871 u. v. 1875 bis 1910 finden im Deutschen Reich alle fünf Jahre Volkszählungen statt. 269,944 Klastomanie] Gr., κλαστός, dt., „zerbrochen“ u. gr., μανία, dt., „Raserei“, „Wahnsinn“. Sinnlose Zerstörungswut, z. B. infolge einer Psychose, bei der es bei krankhafter Unruhe zu heftigen u. hastigen Bewegungen des Patienten kommt. 269,956 Dynamit-Bombe] Gr., δύναμις, dt., „Kraft“, „Gewalt“. V. dem schwed. Chemiker Alfred Bernhard Nobel (1833–1896) auf der Basis v. Nitroglycerin u. Kieselgur entwickelter Sprengstoff, als „Dynamit“ (1867) patentiert. 269,958 Caligula-Wahnsinn] Gaius Caesar Augustus Germanicus (12–41), v. 37– 41 röm. Kaiser, gilt als grausamer, größenwahnsinniger Autokrat. 270,978 Sympathikus-System] Sympathikus ( gr., συμπαθής, dt., „mitleidend“, „mitempfindend“), als sog. „pars sympathica“ des vegetativen Nervensystems u. a. für die Schmerzempfindung der Eingeweide v. Bedeutung. Bei Erregung des S. steigt der Blutdruck. Unterscheidung v. Hals- u. Parasympatikus, daher die Bez. als S.-S. 270,1003 Brightschen Krankheit] Engl., Bright’s disease. Akute o. chron. Entzündung der Nieren, die ihre Funktion beeinträchtigt, so dass die Vergiftung des Körpers droht. N. dem engl. Arzt Richard Bright (1789–1858), einem Begr. der Nephrologie (gr., νεφρός, dt., „Niere“ u. gr., λόγος, dt., „Wort“, „Lehre“), benannt.

II. Parnassier und Diaboliker. 271,2 die französischen Parnassier] Parnass. Gebirgsstock (2.455 m) in Zentralgriechenland. I. d. gr. Mythologie Sitz der Musen. Im 19. Jh. Gruppe gleichgesinnter,

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den Stil der frz. Poesie bestimmender Lyriker, die sich Parnassiens nennen. Orientierung an Charles-Marie René Leconte de Lisle (eigtl. Charles Marie Leconte) (1818–1894) u. José-Maria de Heredia (eigtl. José Maria de Heredia Girard) (1842– 1905) Lyrik in formaler Perfektion bei sachl.-neutralem Sprachduktus. Nähe zum Kunstprinzip des L’art pour l’art (dt., „die Kunst für die Kunst“, „die Kunst um ihrer selbst willen“). 271,4 Catulle Mendès] (1841–1909), frz. Dichter u. Kritiker, Schützling u. Schwiegersohn v. Théophile Gautier (1811–1872). Werke u. a. Philoméla (1863); Hesperus (1872); La légende du Parnasse contemporain (1884) (dt., „Die Legende v. zeitgenöss. Parnass“); Romane mit freizügigen Schilderungen u. a. Le roi vierge (1881) (dt., „Der jungfräul. König“), L’homme tout nu (1887) (dt., „Der ganz nackte Mensch“). 271,7 Revue fantaisiste] (dt., „phantasiereiche Revue/Zeitschrift“), v. Catulle Mendès (1841–1909) gegr. Zeitschrift der Parnassiens (1861–1863). 271,9 Murger] Henri Murger (1822–1861), frz. Journalist, Romancier u. Dramatiker. Bekanntestes Werk Scènes de la vie de bohème (1845–1849) (dt., „Szenen a. d. Bohème-Leben“), Beschreibungen des zeitgenöss. bürgerl. Geschmacksideals. 271,9 Charles Bataille] Frz. Schriftsteller (1831–1868). Autor u. a. v. Le mouvement italien: Victor-Emmanuel et Garibaldi (dt., „Die ital. Bewegung: Victor-Emmanuel u. Garibaldi) (1860). 271,10 Amédée Roland] Amédée-Barnabé Rol(l)and (1829–1868), frz. Schriftsteller. Werke u. a.: Les Trois Napoléon, chant composé par M. A. Roland, à l’occasion du centenaire de Napoléon Ier (1869) (dt., „Die drei Napoleons. Von M. A. Roland komponierter Gesang, anlässl. des 100. Geburtstages v. Napoleon I.); La Mort d’un poète (1869) (dt., „Der Tod eines Dichters“). 271,10 Jean du Boys] Jean Charles du Boys (1836–1873), frz. Schriftsteller. Werke u. a.: Les Femmes de province (1862) (dt., „Die Frauen der Provinz“) u. Mon oncle Claude (1866) (dt., „Mein Onkel Claude“). Werke zus. mit Amédée-Barnabé Rol(l)and (1829–1868) u. a.: Le marchand malgré lui. Comédie en 5 actes (1858) (dt., „Der Kaufmann wider Willen. Komödie in 5 Akten“) u. Le mariage de Vadé. Comédie en 3 actes, (1862) (dt., „Die Hochzeit Vadés: Komödie in 3 Akten“). 271,15 „Lemerre“] Alphonse Lemerre (1838–1912), frz. Verleger. Betreut ab 1865 v. a. die Parnassier. Außerdem Edition der Werke der ab dem 16. Jh. für die frz. Literatur richtungsweisenden Pléiade (dt., „Siebengestirn“)-Autoren u. a. Pierre de Ronsard (1524–1585) u. Joachim du Bellay (1522–1560). 271,15 Cottasche Verlag] Cotta, bekannte dt. Buchhändlerfamilie, v. a. durch Johann Friedrich Cotta (später: Johann Friedrich Freiherr von Cotta von Cottendorf) (1764–1832). C. führt die 1659 v. seinem Vater Johann Georg C. (1631–1692) in Tübingen erworbene „Johann Georg Cottasche Buchhandlung“ erfolgreich fort. 1793 gründet C. mit Friedrich Schiller (1759–1805) die Horen, dadurch Kontakt mit Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) u. Johann Gottfried Herder (1744–1803). C. verlegt Schillers Musen-Almanach (ab 1800) u. das Morgenblatt für gebildete Stände

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(ab 1807). Die berühmtesten zeitgen. Autoren rechnen es sich zur Ehre, ihre Werke bei Cotta verlegen zu lassen. 271,17 Musen-Almanach] M.: e. d. neun Schutzgöttinnen der Künste. A.: Etym. unkl., vermutl. aus ibero-arab., al-manah, Bez. f. kalenderähnl. astronom. Tafeln, v. arab. al-minah, dt., „Neujahrsgeschenk“ u. mtlat., almanachus, dt., „Jahrbuch“). Ab Mitte des 18. bis ins 19. Jh. beliebtes belletrist. Publikationsorgan n. dem Vorbild des Pariser Almanach des Muses (gegr. 1765 v. Claude-Sixte Sautreau de Marsy (1740–1815), 1833 eingestellt). Jährl. erscheinende Anthologie meist unveröfftl. Dichtungen, vorwiegend Lyrik u. a. poet. Kleinformen, aber auch Auszüge aus Dramen u. Epen, Übersetzungen, Kompositionen etc. 271,33 „impassibilité“] Frz., dt., „Gelassenheit“, „Gleichmut“, „Unbewegtheit“. 272,53 Racine] Jean Baptiste Racine (1639–1699), frz. Schriftsteller. Gehört neben Pierre Corneille (1606–1684) u. Molière (eigtl. Jean-Baptiste Poquelin) (1622– 1673) zu den klass. Autoren Frankreichs. Ein Leitthema ist der den Leidenschaften nicht widerstehen könnende Wille. Ab 1672 Mitglied der Académie française. Werke u. a. Alexandre le Grand (1665) (dt., „Alexander der Große“), Andromaque (1667) (dt., „Andromache“), Phèdre (1677) (dt., „Phaidra“). 272,55 „La fille de Minos et de Pasiphaë“] I. d. gr. Mythologie ist Phaidra die Tochter v. Minos u. Pasiphae. Hier Bezug auf Jean Racines (1639–1699) gleichnamige Tragödie (Phèdre) a. d. Jahr 1677. 273,88 Mahomedschen Paradieses] Bezug zum Propheten Mohammed (ca. 570–632). Im Koran wird Märtyrern n. dem Tod ein Paradies in Aussicht gestellt, in dem u. a. 72 schöne Jungfrauen, die sog. Huris, wie „Rubine u. Korallen“ auf sie warten. 273,106 Th. de Banville] Théodore de Banville (1823–1891), frz. Schriftsteller, Theaterkritiker u. Lyriker, wie seine Vorbilder Théophile Gautier (1811–1872) u. Charles-Marie Leconte de Lisle (eigtl. Charles Marie Leconte) (1818–1894) Verfechter des Ideals formaler Schönheit. Die Konzentration auf metr. Perfektion geht oft zu Lasten der inhaltl. Sinnhaftigkeit. 274,122 Kalauer] In Anlehnung an frz., calembour, dt., „Wortspiel“, „fauler Scherz“, durch ein Wortspiel entstandener zumeist platter Witz. 274,125 Platen] Karl August Georg Maximilian Graf von Platen-Hallermünde (1796–1835), dt. Dichter. Bek. durch die sog. Platen-Affäre (1828), bei der Heinrich Heine, dem Platen durch antisemit. Klischees wie „Synagogenstolz“ o. „Knoblauchsgeruch“ die jüd. Herkunft vorgeworfen hat, sich durch Veröffentlichung v. Platens Homosexualität in den letzten beiden Kapiteln seiner Bäder von Lucca (1830) rächt. N. bezieht sich hier v. a. auf die Lyrikanthologien Ghaselen (1821), Lyrische Blätter (1821), Neue Ghaselen (1823), Sonette aus Venedig (1825), Tristan (1825) u. Polenlieder (1831). 274,128 Rückert] Friedrich Rückert (Pseudonyme Freimund Raimar, Reimar o. Reimer) (1788–1866), dt. Schriftsteller, Übersetzer u. Mitbegr. der Orientalistik. V. 1815 bis 1817 Chefredakteur des Cotta’schen Morgenblatts für gebildete Stände.

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1826 Professur für Orientalistik in Erlangen, ab 1841 in Berlin. Ab 1853 Mitglied des „Maximilians-Ordens für Wissenschaft und Kunst“. Populär als vaterländ. Dichter durch die Geharnischten Sonette (1814) u. den Kranz der Zeit (1817). Werke u. a.: Liebesfrühling (1821); Kindertodtenlieder (1834, 1872 veröfftl.). 274,129 „Makamen des Hariri“] Die Makâmen des Hariri (1826). Dichtung v. Friedrich Rückert (1788–1866). Dt. Nachdichtung der berühmten Makamen v. alHariri (eigtl. Abu Muhammad al-Qassim ibn Muhammad ibn Uthman ibn al-Haririal-Basri, 1054–1122), arab. Dichter. M.: auch Maquamen, Gattung arab. Schrifttums seit dem 10 Jh. (begr. durch Badi’ al-Zaman al-Hamadhani), die in Reimprosa gehalten ist. Improvisierte Bettleransprachen u. Stehgreiferzählungen. Bis in das 20. Jh. hinein überall im arab. Raum verfasst. 274,129 „Weisheit der Brahmanen“] Die Weisheit des Brahmanen (6 Bde., 1836–39). Lehrgedicht v. Friedrich Rückert (1788–1866). 274,130 Bodenstedt] Friedrich Martin von Bodenstedt (1819–1892), dt. Dichter, Übersetzer, Schriftsteller u. Reiseschriftsteller. Seit 1854 Professor für Altengl. u. Slawistik in München. 1867 Intendant des Meininger Theaters. Formgewandter, beliebter Lyriker. 274,135 Guyau] Jean-Marie Guyau (1854–1888), frz. Dichter u. Philosoph. Im Alter v. 19 Jahren Preis der Akademie für Mémoire sur la Morale utilitaire, depuis Épicure jusqu’à l’école anglaise (dt., „Arbeit über die utilitäre Moral, v. Epikur bis zur engl. Schule“). G. gilt als Anhänger eines modifizierten Evolutionismus, der Fragen der Moral u. Religion einbezieht. Weitere Publikationen: La morale anglaise contemporaine (1879) (dt., „Die zeitgenöss. engl. Moral“); Esquisse d’une morale sans obligations ni sanctions (1885) (dt., „Skizze einer Moral ohne Verpflichtungen u. Sanktionen“); Education et hérédité (1889) (dt., „Erziehung u. Vererbung“). 275,182 des Wassermannes] N. bezieht sich bei der Übersetzung des Gedichtes „La seule douceur“ (dt., „Die alleinige Sanftheit/Zartheit“) v. Catulle Mendès (1841– 1909) auf den Krug (in N.s Übertragung „Urne“ genannt) im Wassermann-Sternbild. 275,186 „Capharnaum“] Hebr., Kapernaum, auch Kafarnaum u. Kapharnaum. Stadt in Galiläa/Nordisreal, am Ufer des Sees Genezareth. Zentrum des Wirkens Jesu. 275,186 Babel] Hebr., auch Babylon. Am Euphrat gelegene Hauptstadt Babyloniens. Seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. eine der wichtigsten Städte des Altertums. Im AT Ort der Sittenverderbnis u. des sprichwörtl. „babylon. Sprachengewirrs“ (Genesis 11,1–9). In den Réflexions sur quelques-uns de mes contemporains (dt. „Reflexionen über einige meiner Zeitgenossen“) (1861) vergleicht Charles Baudelaire (1821–1867) das Paris des 19. Jh. mit den bibl. Städten Kapernaum u. Babel am Beispiel v. Théodore de Banville (1823–1891): Paris n’était pas alors ce qu’il est aujourd’hui, un tohubohu, un Capharnaüm, une Babel peuplée d’imbéciles et d’inutiles, peu délicats sur la manière de tuer le temps, et absolument rebelles aux jouissances littéraires. (dt., „Paris war also nicht das, was es heute ist, ein Tohuwabohu,

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ein Kapernaum, ein v. Dummköpfen u. Nichtsnutzen bevölkertes Babel, wenig anspruchsvoll i. d. Art, die Zeit totzuschlagen u. absolut rebellisch gegenüber den literar. Genüssen“) 275,204 Eugène Crépets] (1827–1892), frz. Schriftsteller u. Journalist, kauft 1887 den Nachlass v. Charles Baudelaire (1821–1867) auf u. publ. diesen zusammen mit einer Biographie. 276,213 Leconte de Lisle] Charles Marie René Leconte de Lisle (eigtl. Charles Marie Leconte) (1818–1894), frz. Schriftsteller u. Übersetzer. Werke u. a. Poèmes antiques (1852) (dt., „Antike Gedichte“); Poèmes barbares (1862) (dt., „Barbar. Gedichte“); Poèmes tragiques (1884) (dt., „Trag. Gedichte“), Übersetzungen der Ilias (1866) u. der Odyssee (1868). 1886 Nachfolger Victor Hugos (1802–1885) i. d. Académie française. 276,214 Glatigny] Joseph-Alexandre-Albert Glatigny (1839–1873), frz. Schauspieler, Dramatiker u. Lyriker. Beeinflusst durch Théodore de Banville (1823–1891). Werke u. a. Les flèches d’or. Poèsies. (1864) (dt., „Die Goldpfeile. Gedichte.“); Le fer rouge. Nouveau châtiments (1871) (dt., „Das rote Eisen. Neue Bestrafungen.“); Poésies complètes (1879) (dt., „Gesammelte Gedichte“). 277,247 „Elfenbein-Thurm“] Émile François Zola (1840–1902) spricht in seinem i. d. Zeitschrift La Cloche (dt., „Die Glocke“) (Ausgabe v. 3. Juni 1870) veröfftl. Text Nos poètes (dt., „Unsere Dichter“) v. den Dichtern des Parnass als Künstlern, die sich vor den gesellschaftl. Entwicklungen der modernen Zeit verschließen u. sich in einen Elfenbeinturm (frz., „tour d’ ivoire“) zurückgezogen haben. 277,266 Brunetière] Ferdinand Brunetière (1849–1906), frz. Literaturkritiker u. -historiker. 1875 Mitarbeit u. ab 1893 Hg. der Revue des deux mondes (dt., „Zeitschrift der zwei Welten“). 1893 Mitglied der Académie française. Versuch, die Evolutionstheorie auf die Literaturgeschichte zu übertragen. 277,280 „jenseits von Gut und Böse“] Bezug auf den Titel v. Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft (1886). 278,297 pacem summa tenent] Lat., „Lege deum minimas rerum discordia turbat, / pacem magna tenent“, dt., „Die Zwietracht verwirrt durch das Gesetz der Götter die kleinsten der Dinge, die großen Dinge bewahren den Frieden.“ (Lukan, Bellum Civile, II, 272/3). N. zit. einen Text v. Théophile Gautier (1811–1872) a. d. Jahre 1868, der dem Vorwort der im selben Jahr erschienenen dritten Ausgabe der Les Fleurs du mal (dt., „Blumen des Bösen“) vorgeschaltet u. mit „Charles Baudelaire“ betitelt ist. Das Zitat „Sur les hauts sommets, il est tranquille: pacem summa tenent“ (dt., „Über den hohen Gipfeln ist es ruhig: die großen Dinge bewahren den Frieden“) ist Teil dieses Textes. (Vgl. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes de Charles Baudelaire. Paris 1868–1870, 22). 278,299 Sophistenkniff] Sophist: gr., σοφιστής, dt., „Weiser“, „Redekünstler“, „Lehrer der prakt. Lebensweisheit“. Sophisten: Vorsokrat. Gelehrte, die sich ihr Wissen häufig bezahlen ließen. Platon (428/427–348/347 v. Chr.) bez. Sophisten –

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im Gegensatz zu den der Wahrheitsfindung verpflichteten Philosophen – als geldu. machtgierige Rhetoriker, die die Wahrheit verbiegen u. mit Scheinwissen argumentieren (vgl. Platons Dialog Σοφιστής, dt., „Der Sophist“, 365–348 v. Chr.). – Die rhetor. Tricks, bei N. „Kniffe“ der Sophisten, werden auch Sophismen genannt. Hierbei führen Argumentationen zu scheinbar log. Beweisen, die aber auf Fehlschlüssen beruhen. 279,340 „Mademoiselle de Maupin“] Roman v. Théophile Gautier (1811–1872) a. d. Jahr 1835. Sensualist. Lektionen über die ideale Schönheit, die Rosalinde de Maupin für den Chevalier d’Albert verkörpert. Im Vorwort zu M. vertritt Gautier gegen die romant. Ästhetik das Prinzip des L’art pour l’art (dt., „Die Kunst um ihrer selbst willen“). 279,344 Sainte Beuve] Charles Augustin Sainte-Beuve (1804–1869), frz. Schriftsteller, Kultur- u. Literaturkritiker. Freundschaft mit Victor Hugo (1802–1885). Mitgliedschaft im romant. Dichterkreis Cénacle (1827–1830) (n. lat., cenaculum, dt., „Obergeschoss“, „Speisezimmer“). 279,345 asiatischen Astaroth-Anbeter] Astaroth: mytholog. Figur aus unterschiedl. Herkunftskreisen. Urspr. Mondgöttin. Zunächst als Göttin des Glücks u. der Liebe verehrt. Später Deutung als männl. Dämon, der zu Faulheit, Ausschweifung u. Laster verführt. 279,348 „Le roman d’une nuit“] (dt., „Der Roman einer Nacht“). Komödie in einem Akt v. Catulle Mendès (1841–1909) a. d. Jahre 1861. 279,350 Aeser] Auch „Äser“. Pl. v. Aas. N. bezieht sich hier auf das Gedicht (frz., „Une charogne“, dt., „Ein Aas“) aus der Gedichtsammlung Les Fleurs du mal (dt., „Die Blumen des Bösen“) (1857) v. Charles Baudelaire (1821–1857). 280,379 Franz Brentano] Franz Clemens Brentano (1838–1917), dt. Philosoph, kath. Theologe u. Psychologe. V. Aristoteles u. der Scholastik beeinflusst, gilt als „Psychologist“, der die psych. Phänomene in Vorstellungen, Urteile u. Gemütsbewegungen (Phänomene der Liebe u. des Hasses) einteilt (vgl. Psychologie vom empirischen Standpunkt, 3. Bd., 1854f.). In der Ethik gilt B. als „Intuitionist“ in Bezug auf die Evidenz des Guten, Sittl. u. „inneren Richtigkeit“ moral. Entscheidungen. 280,398 Rabulistik] Lat., rabula, dt., „Phrasendrescher“, „Rechtsverdreher“, „Haarspalter“. Bez. für eine kasuist., rechthaber. Argumentationsweise, die den wahren Tatbestand verdreht. 281,416 (idéalement)] (dt., „in idealer Weise“). N. zitiert hier Frédéric Paulhans (1856–1931) Le nouveau mysticisme (Paris 1891, 95): „L’idée du mal en flattant un goût trouve un point d’appui solide et il y a une raison de plus pour qu’elle soit agréable, en ce qu’elle satisfait idéalement un penchant que la raison empêche de satisfaire réellement jusqu’à satiété.“ (dt., „Die einem Geschmack schmeichelnde Idee des Bösen findet einen soliden Stützpunkt u. es gibt einen Grund mehr, dass sie angenehm ist, indem sie [nämlich] in idealer Weise eine Neigung befriedigt, die der Verstand bis zur Sättigung wirkl. zu befriedigen verhindert.“).

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Kommentar

282,454 „Marie Jeanneret“] Mehrfache Schweizer Giftmörderin (1836–1884). Bericht über ihren Prozess (Genf 1868) u. d. Titel Procès criminel contre Marie Jeanneret. Huit empoissonnements. Compte-rendu complet de l’enquête et des débats. D’après les pièces et les documents officiels (1869) (dt., „Strafprozess gegen Marie Jeanneret. Acht Vergiftungen. Vollständiger Bericht der Untersuchung u. der Gerichtsverhandlungen. N. offiziellen Beweisstücken u. Dokumenten.“). 282,462 Belladonna] Wiss., Atropa belladonna, auch „Schwarze Tollkirsche“. Giftpflanze aus der Familie der Nachtschattengewächse, deren Beeren Kirschen ähneln. 282,481 Oswald Zimmermann] (1859–1910), dt. Schriftsteller, Journalist u. Politiker. Chefredakteur des Tageblatts Deutsche Reform. 1887 Gr. der Wochenzeitschrift u. späteren Tageszeitung Deutsche Wacht, Presseorgan der völk. Vereine Sachsens. Publ. antisemit. Schriften, 1890 Mitbegr. der Antisemitischen Partei in Erfurt, ab 1891 Antisemitische Volkspartei, ab Juni 1892 Deutsche Reformpartei (DRP). 282,488 Chatelain] Chatelain, (Vorname u. Lebensdaten unbek.), „L’individu n’a de goût que pour son propre sexe: inversion de l’instinct génital, homosexualité congénitale ou acquise“ (dt., „Das Individuum hat nur Geschmack für sein eigenes Geschlecht: Inversion des Genitalinstrinkts, angeborene o. angenommene Homosexualität“), in: Annales Médico-psychologiques, septembre 1891, 330 (dt., „Medizinisch-psycholog. Annalen“). Der Fall der Giftmörderin Jeanneret wurde zuerst v. Ch. geschildert. 282,494 Bicêtre] Zunächst Burg, auf deren Ruinen 1633 ein Heim für verkrüppelte u. alte Soldaten entsteht, ab 1647 Waisenhaus, ab 1659 allgemeines Hospiz für unerwünschte Personen (frz., „indésirables“), d. s. Geisteskranke, Bettler, Kriminelle etc. Ab 1792 Durchführung v. Versuchen mit der Guillotine. 283,500 Paul Bourget] Paul Charles Joseph Bourget (1852–1935), frz. Journalist u. Schriftsteller. Orientiert an Benjamin Constant (eigtl. Henri-Benjamin Constant de Rebecque) (1767–1830) u. Stendhal (eigtl. Marie-Henri Beyle) (1783–1842), um dem naturalist. Roman der Zola-Schule psycholog. Konflikte u. sittl. Lösungen entgegenzusetzen. 1894 Wahl in die Académie française. V. Bedeutung (s. → Nachwort) sind B.s Essais de psychologie contemporaine (1883) (dt., „Psycholog. Abhandlungen über zeitgenöss. Schriftsteller“; wörtl.: „Versuche über zeitgenöss. Psychologie“). 283,518 Maurice Barrès] Auguste-Maurice Barrès (1862–1923), frz. Journalist, Schriftsteller u. Politiker. Beeinflusst v. Bourget (eigtl. Paul Charles Joseph Bourget) (1852–1935) u. Stendhal (eigtl. Marie-Henri Beyle) (1783–1842). Vorherrschende Themen sind das persönl. Gewissen u. die in Melancholie gehüllte innere Meditation. Während der Dreyfus-Affäre (1898) schlägt sich B. auf die Seite der sog. „AntiDreyfusards“. Werke u. a.: Un homme libre (1889) (dt., „Ein freier Mann“); Le jardin de Bérénice (1891) (dt., „Der Garten v. Bérénice“); La Colline inspirée (1913) (dt., „Der inspirierte Hügel“). Relevant ist B.s Essay-Band mit polit. Reflexionen Du sang, de la volupté, de la mort (1894) (dt., „Vom Blute, v. der Wollust u. vom Tode“).

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283,519 Chambige] 283, 519 Chambige: Henri Chambige (1865–1909), frz. Jurastudent u. Mörder, mit dem sich Friedrich Nietzsche (1844–1900) in einem Brief (6. 1. 1889) an den Schweizer Kultur- u. Kunsthistoriker Jacob Christoph Burckhardt (1818–1897) identifiziert. 283,528 die veraltetete Lehre der Endursachen] Lat., causa finalis, dt., „endgültiger Grund“, „Endgrund“, „Finalursache“, auch „Zielursache“ oder „Zweckursache“. Bei der causa finalis wird die Ursache eines Geschehens als geplanter Zweck gedeutet. Im Gegensatz dazu causa efficiens, dt., „die Wirkursache“. Mit „veraltet“ weist N. vmtl. auf die aristotelische Urheberschaft hin, die neben causa finalis u. causa efficiens auch die causa materialis (Stoffursache) u. die causa formalis (Formursache) benennt. 283,530 die Liebe von Daphnis und Chloe] Antiker Liebesroman (gr., Δάφνιs καὶ Χλόη) des sophist. Rhetors Longos von Lesbos (Autorpersönlichkeit umstritten, vmtl. Ende des 2. Jh.s). 284,573 Elektroden] Gr., ἤλεκτρον, dt., i. ü. S. „Bernstein“, als Träger v. Reibungselektrizität, u. gr., ὁδός, dt., „Weg“. Bausteine aus Metall o. Graphit, die die Ein- o. Austrittsstelle des elektr. Stromes in Flüssigkeiten, Gasen o. im Vakuum bilden. Stehen in Wechselwirkung mit Gegenelektroden, dienen der Stromzufuhr o. lösen chem. Reaktionen aus. 285,581 Pfeffer] Wilhelm Friedrich Philipp Pfeffer (1845–1920), dt. Chemiker, Physiologe u. Botaniker. Untersucht die osmot. Vorgänge (Osmose, gr., ὠσμός, dt., „Stoß“, „Schub“ u. gr., -ωσις, Suffix zur Bez. einer Tätigkeit o. deren Ergebnis) in Pflanzenzellen u. entwickelt Methoden zur Bestimmung des osmot. Drucks. Forschungen zur Pflanzenphysiologie, insbes. Tropismen, Pflanzenatmung u. Photosynthese. 285,581 Chemotaxis] Gr., χύμα, dt., „Flüssigkeit“ u. gr., χυμεία od. χημεία, dt., „Metallverwandlung“, u. gr., τάξις, dt., „Ordnung“. Bez. bei Zellen u. Lebewesen die Beeinflussung der Fortbewegungsrichtung durch sog. Stoffkonzentrationsgradienten. 285,585 Bazillus] Lat., bacillum, dt., „Stäbchen“, „Stöckchen“. Stäbchenförmige, i. d. Mehrzahl bewegl. krankheitsauslösende Bakterien. 288,738 J. K. Huysmans] Joris-Karl Huysmans (1848–1907), frz. Romancier. Erfolg im Umkreis der literar. Décadence (s. → Nachwort) v. a. mit den Romanen Á rebours (1884) (dt., „Gegen den Strich“) u. Là-bas (1891) (dt., „Tief unten“). 288,745 Diderot] Denis Diderot (1713–1784), frz. Schriftsteller, Dramatiker u. Philosoph der Aufklärung. Mithg. der großen frz. Encyclopédie. 289,753 Beiwörter] Auch Adjektiv, Eigenschaftswort, Wiewort, Epitheton (gr., ἐπίθετος, dt., „zugesetzt“, „beigefügt“). Bez. in der Linguistik eine Wortart, welche die Beschaffenheit, den Zustand oder eine Beziehung einer Person, eines Dinges oder einer Sache beschreibt. 289,756 spät byzantinischen Verfallszeit] Untergang des Byzantin. Reiches (1071). Niederlage des Kaisers Romanos IV. Diogenes (unbek.–1072) i. d. Schlacht

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v. Manzikert (heute Ostanatolien) mit erhebl. Schwächung der Ostgrenzen des Reiches. 1453 Tod des letzten byzantin. Kaisers Konstantinos XI. Palaiologos (1404– 1453) während der Eroberung Konstantinopels durch die osman. Armee unter Sultan Mehmed II. 289,756 Lapis lazuli] Lat., lapis, dt., „Stein“ u. mlat., lazur(i)um/lazulum u. mhd., lâsûr/lâzûr, dt., „Blaustein“. 289,757 Malachit] Gr., μολοχίτης, dt., „n. der Farbe der Malvenblätter“ v. gr., μαλάχη bzw. μολόχη, dt., „Malve“, mhd., melochîtes, dt., „Malachit“. Smaragd- bis spangrüner Halbedelstein; auch als Schmuckstein verarbeitet. 289,757 Chrysopras] Gr., χρυσός, dt., „Gold“ u. gr., πράσον, dt., „Lauch“. Grünl. Quarzstein. Verliert durch Hitze (Luft u. Sonne) seine Farbe; zur Herstellung v. Schmuck verwendet. 289,757 Jaspis] Gr., ἰασπίς, dt., „grüner, gesprenkelter Halbedelstein“. 289,778 Haschisch- und Opiumesser] N.s Bez. für den des exzessiven Drogenkonsums verdächtigten Charles Baudelaire (1821–1867). 290,793 de Quincey] Thomas de Quincey (1785–1859), engl. Schriftsteller u. Journalist des London Magazine. Bedeutendste Schrift: die autobiograph. fundierten Confessions of an English Opium-Eater (1821) (dt., „Geständnisse eines engl. Opiumessers“). Zahlr. krit. Essays philosoph. o. theolog. Inhalts, biogr. Skizzen, Erzählungen u. einige nationalökonom. Werke. Einflussreich auch seine AufsatzFolge On Murder Considered as One of the Fine Arts (1827 u. 1854) (dt., „Über den Mord als eine der schöne Künste betrachtet“). 290,806 „Die Eulen“] Frz., „Les hiboux“. Gedicht v. Charles Baudelaire (1821– 1867), 1851 erstmals i. d. Zeitschrift Le Messager de l’Assemblée (dt., „Der Bote der Versammlung“) erschienen u. als 67. Gedicht in die erste Edition (1857) seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du mal aufgenommen. 290,811 „La beauté“] (dt., „Die Schönheit“). Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1857 i. d. Revue française (dt., „Frz. Revue/Zeitschrift“) erschienen u. als 17. Gedicht in die erste Edition (1857) der Les Fleurs du mal aufgenommen. 290,814 „Rêve parisien“] (dt., „Pariser Traum“). Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1860 i. d. Zeitschrift Revue contemporaine (dt., „Zeitgenöss. Revue/Zeitschrift“) erschienen u. in die zweite Edition (1861) seiner Gedichtsammlung Les Fleurs du mal (dt., „Die Blumen des Bösen“) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 126. 291,837 Nürnberger Blechlandschaft] Berühmte, aus Blech hergestellte Spielwaren aus Nürnberg. 291,846 Zauberlaterne] Lat., laterna magica. Vorläufer früherer Projektionsapparate. 291,852 „Reise“] Frz., „Le voyage“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1859 i. d. Revue française (dt., „Frz. Revue/Zeitschrift“) erschienen u. in die zweite Edition (1861) der Les Fleurs du mal aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 151.

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292,877 „Der muntere Todte“] Frz., „Le mort joyeux“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1851 u. d. Titel „Le Spleen“ i. d. Zeitschrift Le Messager de l’Assemblée (dt., „Der Bote der Versammlung“) erschienen u. in die erste Edition (1857) der Fleurs du mal aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 74. 292,883 „La cloche félée“] (dt., „Die geborstene Glocke“). Gedicht v. Charles Baudelaire, 1851 i. d. Zeitschrift Le Messager de l’Assemblée (dt., „Der Bote der Versammlung“) erstmals u. d. Titel „Le Spleen“ erschienen (1855 dann u. d. Titel „La Cloche“ (dt., „Die Glocke“) u. in die erste Edition (1857) der Fleurs du mal aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 76. 292,887 „Spleen“] Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition (1857) der Fleurs du mal erschienen; insgesamt vier Gedichte. Das v. N. zitierte Gedicht beginnt mit den Worten „J’ai plus de souvenirs ...“ (dt., „Ich habe mehr Erinnerungen ...“). I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 78. 292,890 „Anziehendes Grauen“] Frz., „Horreur sympathique“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1860 i. d. Zeitschrift L’Artiste (dt., „Der Künstler“) erschienen u. in die zweite Edition (1861) der Fleurs du mal aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungsnummer 84. 292,893 „Romantischer Sonnenuntergang“] Frz., „Le Coucher du soleil romantique“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1862 i. d. Zeitschrift Le Boulevard (dt., „Der Boulevard“) erschienen u. als 100. Gedicht in die dritte Edition (1868) der Fleurs du mal aufgenommen. 292,895 „Todtentanz“] Frz., „Danse macabre“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1859 i. d. Revue contemporaine (dt., „Zeitgenöss. Revue/Zeitschrift“) erschienen u. in die zweite Edition (1861) der Fleurs du mal aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 121. 292,899 „Ein Aas“] Frz., „Une charogne“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1857 i. d. ersten Edition der Fleurs du mal erschienen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 30. 292,915 „Traum eines Wißbegierigen“] Frz., „Le Rêve d’un curieux“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1860 i. d. Zeitschrift Revue contemporaine (dt., „Zeitgenöss. Revue“) erschienen u. in die zweite Edition der Fleurs du mal (1861) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 150. 293,917 „Der Wein des Einsamen“] Frz., „Le vin du solitaire“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) erschienen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 131. 293,918 „Abenddämmerung“] Frz., „Le Crépuscule du soir“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1852 in La Semaine théâtrale (dt., „Die theatral. Woche“) erschienen u. in die erste Edition der Fleurs du mal (1857) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 119. 293,920 „Die Zerstörung“] Frz., „La destruction“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1855 u. d. Titel „La Volupté“ (dt., „Die Wollust“) i. d. Zeitschrift

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Kommentar

Revue des Deux Mondes (dt. „Zeitschrift der zwei Welten“) erschienen u. in die erste Edition der Fleurs du mal (1857) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 134. 293,924 „Eine Blutzeugin“] Frz., „Une martyre“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) publ. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 135. 293,930 „Verdammte Frauen“] Frz., „Femmes damnées“. Das zit. Gedicht beginnt mit den Worten: „Comme un bétail pensif sur le sable couchées.“ (dt., „Wie ein nachdenkl. Vieh auf den Sand gelegt.“), erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) publ. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 121. 293,936 „Vorrede“] Frz., „Au lecteur“ (dt., „An den Leser“). Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1855 i. d. Zeitschrift Revue des Deux Mondes (dt., „Zeitschrift der zwei Welten“) publ.; leitet die erste u. zweite Edition der Fleurs du mal (1857 u. 1861) ein. I. d. dritten Edition (1868) geänderter Titel „Préface“ (dt., „Vorwort“). 293,942 „Nebel und Regen“] Frz., „Brumes et pluie“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) publ. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 125. 293,943 „Die sieben Greise“] Frz., „Les Sept Vieillards“. Gedicht v. Charles Baudelaire, dem Schriftsteller Victor Hugo (1802–1885) gewidmet, erstmals 1859 i. d. Zeitschrift Revue contemporaine (dt., „Zeitgenöss. Revue“) erschienen u. in die zweite Edition der Fleurs du mal (1861) aufgenommen. I. d. dritten Edition trägt es die Ordnungszahl 114. Die Worte „mehr feindselig als gleichgiltig“ sind nicht im Originaltext o. in späteren dt. Übersetzungen zu finden. 293,947 „Trauriges Madrigal“] Frz., „Madrigal triste“. Gedicht v. Charles Baudelaire, 1861 in der Revue fantaisiste (dt., „phantasiereiche Revue/Zeitschrift“) erstmals erschienen u. in die dritte Edition (1868) der Fleurs du mal aufgenommen. In dieser Ausgabe trägt das Gedicht die Ordnungszahl 90. Die Revue fantaisiste war avantgardistisch ausgerichtet u. diente gleichzeitig als Plattform für experimentelle Dichtung, die sowohl Lesern als auch Dichtern Phantasie abverlangte. 293,951 „Seraphs“] Hebrä., Sing., „Seraph“. N. dem AT Engel mit sechs Flügeln. Himml. Bote o. Paradieswächter. Der Heiligenlegende n. wird der Hl. Franz v. Assisi (1181/1182–1226) v. einem Seraph stigmatisiert, daher der Beiname Pater Seraphicus, dt., „Seraph. Vater“. Zu unterscheiden v. Cherub, hebrä., einem anderen sechsflügeligen Engel in Menschengestalt a. d. AT. 294,959 „Abel und Kain“] Frz., „Abel et Caïn“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) publ. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 144. 294,963 „Die Litaneien Satans“] Frz., „Les litanies du satan“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) publ. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 145. 294,976 „Gebet eines Heiden“] Frz., „La Prière d’un païen“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1861 i. d. Zeitschrift Revue européenne (dt., „Europ. Revue/

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Zeitschrift“) erschienen u. mit der Ordnungszahl 86 in die dritte Edition der Fleurs du mal (1868) aufgenommen. 294,980 „Der Abgrund“] Frz., „Le Gouffre“. Gedicht v. Charles Baudelaire, dem Schriftsteller Théophile Gautier (1811–1872) gewidmet, erstmals 1862 i. d. Zeitschrift L’Artiste (dt., „Der Künstler“) erschienen u. mit der Ordnungszahl 102 in die dritte Edition der Fleurs du mal (1868) aufgenommen. 294,994 „Beziehungen“] Frz., „Correspondances“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals i. d. ersten Edition der Fleurs du mal (1857) erschienen. In allen Editionen trägt es die Ordnungszahl 4. 293,998 „Der Duft deiner fremdartigen Reize“] Frz., „Et vendre le parfum de tes charmes étranges“. Vers 26 des Gedichtes „À une malabaraise“ v. Charles Baudelaire, s. → 295, 1000. 295,1000 „Eine Malabarin“] Frz., „À une malabaraise“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1846 u. d. Titel „À une Indienne“ i. d. Zeitschrift L’Artiste (dt., „Der Künstler“) erschienen u. mit der Ordnungszahl 92 in die dritte Auflage der Fleurs du mal (1868) aufgenommen. 295,1004 „Ausländischer Geruch“] Frz., „Parfum exotique“. Gedicht v. Charles Baudelaire erstmals 1857 erschienen u. in die erste Edition der Fleurs du mal (1857) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 23. 295,1007 „Das Haar“] Frz., „La Chevelure“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1859 i. d. Zeitschrift Revue française (dt., „Frz. Revue“) erschienen u. in die zweite Edition der Fleurs du mal (1861) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 24. 295,1009 Pestilenz] Lat., pestilentia, dt., „Seuche“, „ansteckende Krankheit“. Synonym für die Pest. 295,1021 „Die Flasche“] Frz., „Le flacon“. Gedicht v. Charles Baudelaire, erstmals 1857 i. d. Zeitschrift Revue française (dt., „Frz. Revue/Zeitschrift“) erschienen u. in die erste Edition der Fleurs du mal (1857) aufgenommen. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 44. 295,1035 „zur ersten Ausgabe (1857) seiner Gedichte“] Gemeint ist die erste Edition der Gedichtsammlung Les fleurs du mal (1857) (dt., „Die Blumen des Bösen“). Im Jahr 1861 folgt eine um 32 Gedichte erweiterte, 1868 eine dritte Edition. 296,1045 mystifications] Frz., dt., „Mystifizierungen“, „Täuschungen“, „Foppereien“. 296,1049 „Mystifikateur“] Frz., dt., i. S. v. „jemand, der die Menschen durch Täuschung unterhält“. 296,1051 „Rhetor“] Gr., ῥήτωρ, dt., „Redner“, „Sprecher“, „Redekünstler“. Auch: „Lehrer der Beredsamkeit“. Der Sophist Gorgias (um 480–380 v. Chr.) soll die Redekunst v. Sizilien n. Athen gebracht haben. 296,1053 „Galeerensträfling“] Galeere, gr., γαλέη, dt., „Wiesel“, „Frettchen“ (wg. d. Schnelligkeit), „Meeresfisch“, mlat., galea, dt., „Kriegsschiff“, „Ruderschiff“. Bis zur frühen Neuzeit im Mittelmeerraum eingesetztes Kriegsschiff. G.:

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Schärfste Form der Bestrafung für schwere Vergehen (Mord, Hochverrat), alternativ zur Todesstrafe. 296,1064 Ch. J. J. Sazaret] Charles Joseph Jules Sazaret (auch: Sizaret) (1862– unbek.), frz. Psychiater.

III. Decadenten und Aestheten. 298,2 Wie beim Tode Alexanders] N. spielt hier auf die Nachfolger Alexanders des Großen an, die sog. Diadochen (gr., διάδοχος, dt., „ablösend“, „Nachfolger“), die n. dessen Tod das Alexanderreich untereinander aufteilen u. sich in wechselnden Bündnissen in insgesamt sechs Kriegen bekämpfen. 298,25 Carducci] Giosuè Carducci (Pseudonym: Enotrio Romano) (1835–1907), ital. Autor u. Literaturhistoriker. Ungewöhnl. Erfolg mit Inno a Satana (dt., „Hymne an Satan“) (1865 unter Pseudonym publ.). 298,28 Villiers de l’Isle Adam] Jean-Marie-Mathias-Philippe-Auguste, Marquis de Villiers de l’Isle-Adam (1838–1889), frz. Dichter u. Dramatiker. Freundschaft mit Mallarmé (1842–1898). 1867 Gründung der Zeitschrift Revue des lettres et des arts (dt., „Zeitschrift für Literaturwissenschaft u. Kunst“), in der erste Erzählungen wie Claire Lenoir (1867) u. L’intersigne (1868) (dt., „Zwischenzeichen“) erscheinen. Erzählungen versammelt in den sog. Contes cruels (1883) (dt., „Grausame Erzählungen/Märchen“). 298,32 des berühmten Marschalls] Gemeint ist Philippe de Villiers de l’IsleAdam (1464–1534), s. → 298, 28. 299,48 „Le prêtre marié“] (dt., „Der verheiratete Priester“), eigtl. Un prêtre marié (dt., „Ein verheirateter Priester“). Roman v. Jules Amédée Barbey d’Aurevilly (1808–1889), Schriftsteller, Journalist u. Kritiker, a. d. Jahr 1864. 299,50 „Les Diaboliques“] (dt., „Die Teuflischen“). Novellensammlung v. Jules Amédée Barbey d’Aurevilly (1808–1889) a. d. Jahre 1874. 299,62 „Vice suprême“] Eigtl. Le Vice suprême (dt., „Das äußerste/höchste Laster“). Roman v. Joséphin Péladan (gen. Sâr Péladan) (1858–1918) a. d. Jahr 1884. 300,82 „La conscience dans le Mal“] Letzter Vers aus Charles Baudelaires (1821–1867) zehnstrophigem Gedicht „L’irrémédiable“ (dt., „Das Ausweglose/das Unheilbare“), erstmals 1857 i. d. Zeitschrift L’Artiste (dt., „Der Künstler“) erschienen, für die zweite Edition der Fleurs du Mal (1861) in zwei Teile untergliedert. I. d. dritten Edition (1868) trägt es die Ordnungszahl 106. 300,86 „L’Eve future“] (dt., „Die Eva der Zukunft“). Roman des frz. Schriftstellers Jean Marie Mathias Philippe Auguste Graf von Villiers de L’Isle-Adam (1838– 1889) a. d. Jahr 1886. 300,101 „A rebours“] (dt., „Gegen den Strich“). Roman v. Joris-Karl Huysmans (1848–1907). Der Held des Romans, der adelige Jean Floressas Des Esseintes, ist

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ein dekadenter Ästhet im 19. Jh. Enttäuscht v. der Gesellschaft zieht er sich in ein Landhaus zurück, um dort seinen Extravaganzen zu frönen u. sich in einer künstl. Welt zu verlieren: Er umgibt sich mit seltenen u. kostbaren Büchern, Pflanzen, Bildern, Werken, Edelsteinen u. Düften; liest Flaubert, Poe, u. Baudelaire. Durch die künstl. u. isolierte Lebensweise gerät Des Esseintes in einen Zustand geistiger Umnachtung; ein herbeigerufener Pariser Arzt verordnet ihm, zurück in die Gesellschaft zu kehren. Das Ende bleibt offen. – À Rebours war urspr. v. Huysmans als naturalist. Studie eines lebensunfähigen Ästhetizisten gedacht, avancierte bei den Décadents aber schnell zum Kultbuch. 301,147 Catull] Gemeint ist Catull(e) Mendès (vgl. → 271, 4). 302,185 Moscherosch] Johann Michael Moscherosch, eigtl. Mosenrosh (Pseudonym Philander von Sittewald) (1601–1669), dt. Staatsmann u. satir. Schriftsteller des Barock. Hauptwerke: Les visiones de Don Francesco de Quevedo Villegas, oder, Wunderbahre Satyrische gesichte verteutscht durch Philander von Sittewalt (1640); Insomnis cura parentum. Christliches Vermächtnuß oder Schuldige Vorsorg eines trewen Vatters (1643). 302,186 Zinkgref] Julius Wilhelm Zincgref, auch Zinkref o. Zengravius (1591– 1635), dt. Jurist, Dichter des Barock u. Hg. der Teutschen Poemata (1624) v. Martin Opitz (1597–1639). Hauptwerke u. a. Apophthegmata, der Teutschen scharpfsinnige kluge Sprüch (1626–1631); Facetiae Pennalium, das ist Allerley lustige Schulbossen (1618); Sapientia Picta, das ist, Künstliche Sinnreiche Bildnussen u. Figuren (1624). 302,186 Schupp] Johann Balthasar Schupp, auch Schuppe o. Schuppius (Pseudonym: Antenor o. Ambrosius Mellilambius) (1610–1661), dt. Schriftsteller, Satiriker u. Prediger. Werke u. a.: Volumen orationum (1642) (dt., „Buch der Gebete“); Salomo oder Vorbild eines guten Regenten (1658) (auch u. d. Titel: Salomo oder Regentenspiegel); Der Bücher-Dieb, gewarnet und ermahnet (1658); Abgenöthigte Ehren-Rettung (1660). 302,193 Petronius] Petronius Niger Arbiter (um 14–66), unter Nero (37–68) Consul. Überliefert als Mann großer geistiger Anlagen u. gebildeter Kenner feiner Genüsse, daher die Bez. Arbiter Elegantiae, „Schiedsrichter in Fragen des feinen Geschmacks“. P.s wichtigstes Werk sind die Satyrica, nur in Teilen erhaltene satir. Schrift mit zahlreichen Anspielungen auf Zeitgenossen. Das Werk ist im Prosimetrum abgefasst, d. h. in den Prosatext sind metr. gebundene Passagen integriert. Die längste erhaltene Episode des Satyrikons ist die „cena Trimalchionis“ (dt., „Das Gastmahl des Trimalchio“). 302,193 Commodianus von Gaza] (Mitte 3. Jh.), lat.-christl. Dichter. Werke u. a.: Carmen apologeticum (dt., „Rechtfertigungs-Gedicht“) u. Instructiones adversus gentium (dt., „Erbauungen gegen die Heiden“). 302,193 Ausonius] Decimus Magnus Ausonius (310–394). Staatsbeamter, Dichter u. Erzieher des Kaisers Gratian (359–383) in Trier. Bekanntestes Werk: Mosella (dt., „Mosel“) (371), Reisebeschreibung.

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302,194 Prudentius] Aurelius Prudentius Clemens (348–n. 405), Staatsbeamter, später röm.-christl. Dichter u. Asket. Bed. Werk Psychomachia (gr., ψυχομαχία, dt., „Kampf der Seele“), allegor. Beschreibungen des Kampfes zw. Tugend u. Laster. 302,194 Sidonius Apollinaris] Gaius Sollius Sidonius Apollinaris (429/431– 486(?)), Stadtpräfekt v. Rom u. Bischof der Auvergne, röm.-christl. Schriftsteller, kath. Heiliger. Werke: Sammlung v. 24 carmina (dt., „Gedichte“), Lobreden (Panegyrici, Epithalamien, Bitt- u. Dankgedichte, Städtelob etc.) u. epistulae (literar. Briefesammlung). 302,196 Chateaubriand] François-René, Vicomte de Chateaubriand (1768– 1848), frz. Schriftsteller, Diplomat u. Politiker. Gilt als einer der Begr. der frz. Romantik i. d. Literatur. 1784–90 entstehen die frühen Gedichte Tableaux de la nature (dt., „Naturgemälde“). 1803 Minister unter Napoléon I. (Napoleon Bonaparte) (1769–1821), später Bruch mit dem Kaiser. Während der Restauration erneut Minister u. Gesandter, u. a. in Berlin, London u. Rom. Werke u. a.: Essai sur les révolutions (1797) (dt., „Versuch über die Revolutionen“); Le Génie du christianisme (1802) (dt., „Der Geist des Christentums“); Les martyrs (1804) (dt., „Die Märtyrer“); Itinéraire de Paris à Jérusalem (1811) (dt., „Reise v. Paris n. Jerusalem“); De Buonaparte et des Bourbons (1814) (dt., „Über Buonaparte u. die Bourbonen“); Mémoires d’outre-tombe (1848) (dt., „Erinnerungen v. jenseits des Grabes“). 302,205 Heinrich Kurz] (1805–1873), dt.-schweizer Literaturwissenschaftler, Übersetzer u. Bibliothekar. Werke u. a.: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller (3 Bde., 1851– 1859); Handbuch der deutschen Prosa von Gottsched bis auf die neueste Zeit (3 Bde., 1845–53). 303,235 Suggestion] Lat., suggestio, dt., „Hinzufügung“, „Eingebung“, „Vorstellung“. Beeinflussung des Fühlens, Denkens u. Handelns eines Menschen, ohne dass diese Manipulation v. Betroffenen wahrgenommen wird. 303,238 „Marthe“] Marthe. Histoire d’une fille (dt., „Marthe. Geschichte eines Mädchens“). Roman v. Joris-Karl Huysmans (1848–1907) a. d. Jahr 1876. 304,257 Lymphe] Lat., lympha o. limpha, dt., „klares Wasser“, „Flüssigkeit“. Verbindende Flüssigkeit zw. der Gewebsflüssigkeit u. dem Blutplasma zum Transport v. Nähr- u. Abfallstoffen. 304,275 Thebaide] Gr., Θηβαΐς, dt., „das Gebiet um die ägypt. Stadt Theben“. In frühchristl. Zeit Ort der Isolation für Eremiten i. d. Felswüste, Synonym für Leben in Einsamkeit u. Stille. Bei Joris-Karl Huysmans (1848–1907) ein abgelegenes, erlesen eingerichtetes Landhaus. 305,298 Si-a-Fayun / Mo-yu-tann / Chansky] Exquisite, kostbare Teesorten, die zum Teil nicht mehr im Handel sind, möglicherweise aber auch von Huysmans falsch verstanden oder wiedergegeben wurden bzw. Phantasienamen sind. 305,314 Brigg] Schiff mit zwei vollgetakelten Masten. Das Groß-Gaffelsegel wird Briggsegel, der Baum, woran sein Unterliek ausgespannt ist, Briggbaum genannt. Briggtakelung ist bis Mitte des 19. Jh.s gebräuchl.

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305,318 Schreibstuben der Lloyds] Institute u. Gesellschaften zur Klassifizierung der Schiffe der Handelsschifffahrt für Seeversicherung u. Seetransport. Benannt n. dem Londoner Kaffehausbesitzer, des „Lloyd’s Coffee House“, Edward Lloyd (um 1648–1713). 305,319 Seedampfer der Valparaiso- und La-Plata-Linie] Handelsschifffahrtslinien zw. Chile bzw. Argentinien u. Europa. 306,340 Curaçao] N. der vor Venezuela liegenden Insel Curaçao benannter, oftmals blaugefärbter Likör. Aromatisiert mit Auszügen aus den Schalen der Curaçaopomeranze (wiss., Citrus aurantium currassuviensis). Alkoholgehalt je n. Marke zw. 20 u. 40 % Vol. 306,341 Kümmel] Trinkbranntwein, dt. Bez. für Aquavit (lat., aqua vitae, dt., „Lebenswasser“). Mit Kümmel u. je n. Marke mit anderen Gewürzen (Fenchel, Koriander, Nelken, Zimt) aromatisierter Trinkbranntwein. Alkoholgehalt mind. 37,5 % Vol. 306,341 Pfeffermünz] Frz., „Crème de Menthe“. Süßer, weißer o. grün gefärbter Likör aus Wasser, Alkohol, Zucker u. Pfefferminzextrakten. Alkoholgehalt etwa 25 % Vol. 306,342 Anisette] Frz. klarer Gewürzlikör. Meistens mit Anisaroma. Alkoholgehalt zw. 25 u. 40 % Vol. 306,343 Kirsch] Obstbrand. Hergestellt aus vergorenen Süßkirschenarten ohne Zusätze. Alkoholgehalt zw. 37,5 u. 43 % Vol. 306,344 Gin] Engl. Spirituose aus Wacholderbeeren mit Destillaten aus einer Vielzahl anderer Gewürze, u. a. Koriander, Kümmel, Engelwurz, Ingwer, Muskat, Orangenschalen. Alkoholgehalt um 37,5 % Vol. 306,344 Whisky] Auch Whiskey. Getreidebranntwein vorwiegend aus Gerste mit unterschiedl. Geschmacksnuancen. Alkoholgehalt mind. 40 % Vol. 306,344 Piston- und Trombon-Gedröhne] P.: trompetenähnl. Blechblasintrument. Auch Kornett, v. frz., cornet à piston (dt., „kleines Ventilhorn“). – T.: span., trombón, frz., trombone, dt., „Posaune“. Blechblasinstrument mit doppelt U-förmigem Schalltrichter u. ausziehbarem Mittelteil. 306,345 Träber-Branntwein] Auch Treber o. Trester. Bez. für die ausgepressten Weintrauben n. der Kelter. Aus Traubentrester wird Tresterbrand hergestellt (z. B. Grappa). Alkoholgehalt zw. 37,5 u. 60 % Vol. 306,346 Chios-Raki] Ch.: ostägä. gr. Insel vor der Westküste Kleinasiens. R.: türk., Rakı, aus vergorener Rosinen- u. Traubenmaische unter Zusatz v. eingeweichten Aniskörnern destillierter Branntwein mit 40 bis 50 % Vol. 306,346 Mastik] Auch Mastix. Teigige Masse a. d. Harz des Mastix-Pistazienbaumes (Pistacia lentiscus). Im Mittelmeerraum überwiegend auf der Insel Chios hergestellt. Verwendung bei der Zubereitung des Rakı o. Mastika; angebl. heilsam bei Magenbeschwerden u. äußerl. bei Rheuma. 306,347 Zymbeln] Gr., κύμβαλον, lat., cymbalum, ahd., zimbala, dt., „(Metall-)becken“. Paarweise beidhändig zu schlagende Musikinstrumente, die als Ganzes schwingend glitzernd helle u. schneidende Klänge erzeugen.

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306,348 Franzbranntwein] Lat., spiritus vini gallici, dt., „Geist des gallischen Weines”. Bis ins 19. Jh. überwiegend in Frankreich hergestellte Lösung aus Alkohol, Menthol, Kampher u. Extrakten (Fichtennadel- o. Latschenkiefernöl). Fast ausschließl. zur äußeren Anwendung bei Durchblutungsstörungen. 306,350 Vespetro] Vespétro. Ital. o. frz. Branntwein aus Angelikasamen (Samen des Arznei-Engelwurz (wiss., Angelica archangelica), Koriander, Anis, Fenchel u. Zitrone. 306,350 Violoncello] Ital. Diminutivform v. Violone, histor. Instrument der Gambenfamilie (Italien 16. Jh.). Corpus meist aus Fichten- o. Ahornholz gefertigt. 306,351 Bitter] Auch Bitterspirituose o. Magenbitter. Bitterstoffe (z. B. Kräuterextrakte, herbe Beeren, Zitruspflanzen, Angosturarinde, Anis o. Chinin) enthaltende Spirituose mit mindestens 15 % Vol. Alkoholgehalt. Geschätzt als Aperitif bzw. Digestif mit appetitanregender bzw. verdauungsfördernder Wirkung. 306,351 Kontrabaß] Ital., contrabbasso, volkstüml. „Bassgeige“. Größtes u. tiefstes Streichinstrument; im ausgehenden 16. Jh. entwickelt, mit baul. Eigenschaften der Violinen- u. der Gambenfamilie (Schnecke, F-Löcher bzw. breite Zargen u. spitz gegen den Hals zulaufende Schultern des Corpus). 306,351 Grüne Chartreuse] Frz., „Chartreuse Verte“. Kräuterlikör der Mönche der Grande Chartreuse, dem Mutterkloster des Kartäuserordens, bei Grenoble. 130 Kräuter werden in Weinalkohol extrahiert, destilliert u. unter Zugabe v. Zucker fünf bis acht Jahre in Eichenholzfässern gelagert. Alkoholgehalt 40–69 % Vol. 306,351 Benediktine] Frz., „Bénédictine“. Urspr. v. den Mönchen i. d. Benediktinerabtei Fécamp hergestellter Gewürz- u. Kräuterlikör. Zutaten sind 27 Kräuteru. Gewürzauszügen (u. a. Koriander, Kardamom, Vanille), Zucker u. Honig. Alkoholgehalt 40 % Vol. 306,359 Essenz] Lat., essentia, dt., „Wesen einer Sache“. Bez. den wesentl. Teil o. das Kernstück einer Sache, hier i. S. v. Konzentrat. 306,359 Ambrosia] Gr., ἀμβροσία, dt., „Unsterblichkeit“. Den Göttern Unsterblichkeit verleihende Speise. Der entsprechende Trank für die Götter wird als Nektar, gr., νέκταρ, bez. 306,359 Lavendel] Lat., lavo, dt., „waschen”, „baden”, mlat., lavandula, ital., lavendola. (Lavandula angustifolia, auch Lavandula officinalis, Lavandula vera), Pflanze aus der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Anbau v. L. zur Gewinnung v. Duftstoffen; auch beliebte Zierpflanze. 306,359 Riecherbsen] Wohlriechende Platterbse (auch „Gartenwicke“, „Duftwicke“ o. „Edelwicke“). Wiss., Lathyrus odoratus. Rankende, einjährige Kletterpflanze. Seit Anfang des 18. Jh.s kultiviert; Blüten in intensiven Farbtönen mit ausgeprägten Duftnoten. 306,360 Tuberosen] Auch Nachthyazinthe (Polianthes tuberosa L.). Mexikan. 60–120 cm hohe Knollenpflanze der Liliengewächse mit in einer Traube stehenden weißen Blüten. Anbau in Südfrankreich zur Gewinnung v. Blütenöl für die Parfümindustrie.

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306,366 Stephanotis] Gattung innerhalb der Familie der Hundsgiftgewächse (Apocynaceae) i. d. Unterfamilie der Seidenpflanzengewächse (Asclepiadoideae). Bekanntester Vertreter Stephanotis floribunda, dt., „Kranzschlinge“. Immergrüne Kletterpflanze aus den Bergregionen Madagaskars mit bis 5 m langen Trieben, glänzend dunkelgrünen Blättern u. angenehm duftenden, weißen Blüten. In Europa seit über 150 Jahren als anspruchslose Zierpflanze bek. Die sehr haltbaren Blüten werden v. a. in den nord. Ländern für Brautsträuße verwendet. 306,366 Ayapana] Wiss., Ayapana triplinervis (auch Eupatorium ayapana Vent o. Eupatorium triplinerve Vahl), dt., „dreinerviger Wasserdost“. Strauchartige Pflanze a. d. trop. Amerika. Aufgebrüht als Tee in geringer Dosis mit anregender Wirkung, bei hoher Dosierung abführend. Ihr äther. Öl findet i. d. Kosmetik Verwendung. 306,366 Opoponax] Wiss., Commiphora erythraea var. glabrescens, dt., „Somal. Opoponax“, „Süße Myrrhe“ o. „Bisabolmyrrhe“. Mit der als Räucherwerk u. Heilmittel verwendeten Myrrhe, lat., Commiphora myrrha, verwandt. In Somalia, Kenia, Äthiopien, Jemen u. Oman kultivierter, bis fünf Meter hoher Strauch. Ihr durch Abzapfen gewonnenes Harz wird aufgrund seines warmen, balsamartigen, süßen u. an Honig erinnernden Dufts seit der Antike i. d. Parfumherstellung verwendet. 306,366 Zypern] Wiss., Lawsonia inermis L., Baum in Zypern, Ägypten u. Umgebung. Das wohlriechende Öl der Blüte findet seit der Antike als Parfumzutat, Färbe- u. Heilmittel gegen Hautkrankheiten Verwendung. 306,366 Champaka] Wiss., Magnolia champaca. Südostasiat. bis zu 20 Meter hoher Baum aus der Gattung der Magnolien mit einzeln stehenden, hellgelben bis orangefarbenen, stark duftenden Blüten. 306,366 Sarcanthus] Wiss., Sarcanthus. Im 19. Jh. verwendeter Name einer Pflanzengattung aus der Familie der Orchideae; heutiger wissenschaftl. Name Cleisostoma. Gattung mit 89 Arten; Vorkommen in Indien, Indonesien, Papua-Neuguinea u. den Philippinen. 306,367 Seringa] Gr., σῦριγξ, lat., syringa, dt., „Rohr“, Hirtenflöte“, „Blutader“. Gemeiner Flieder (Syringa vulgaris). Familie der Ölbaumgewächse (Oleaceae). Vorkommen in Südosteuropa u. Vorderasien. Seit dem 16. Jh. in Mitteleuropa eingeführter Strauch mit blauen, violetten o. rötl., angenehm duftenden Blüten. 307,377 Pepton-Klysmen] P.: gr., πεπτός, dt., „gekocht“, „verdaut“. Durch chem. o. enzymat. Spaltung v. Proteinen hergestellte niedermolekulare Eiweißspaltprodukte (Peptide), die u. a. in Bakteriennährböden verwendet werden. – K.: Sing., Klysma, gr., κλύσμα, dt., „Spülung“, „Reinigung“, „Brandung“ (Darmspülungen o. Klistiere). 307,387 Talent Goyas] Francisco José de Goya y Lucientes (1746–1828), bedeutender span. Maler u. Grafiker. Bekannt durch druckgraph. Serien wie Desastres de la Guerra (1810–14) (dt., „Schrecken des Krieges“) u. Tauromaquia (1815–16)

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(dt., „Stierkampfszenen“) u. Gemälde wie z. B. La maja desnuda (1797–1800) (dt., „Die nackte Maja“) u. El tres de mayo (1814) (dt., „Die Erschießung der Aufständischen“). 307,391 „Drehorgeln“] Auch „Leierkasten“. Mechan. Musikinstrument, bei dem eine Kurbel ein mechan. bzw. pneumat. Steuersystem in Bewegung setzt u. Melodien o. kurze Musikstücke erzeugt. 307,400 Einfaltspinsels] Etym., „Einfalt“ v. „einfältig“, altsächs., „pinn“, dt., „Pflock“, „hölzerner Schuhnagel“ u. nd., su(h)l, dt., „Schusterahle“. Auf den Beruf des Schusters übertragen. Bez. für einen unbedarften Handwerker; später abwertend für einen schlichten Menschen. 308,429 des heiligen Bonifacius] Auch Bonifatius, urspr. Wynfreth o. Wynfnith (672/673–754). Bedeutender Missionar u. wichtiger Kirchenreformer. Wg. des Aufbaus der Kirchenorganisation in Bayern, Mainfranken u. Thüringen i. d. kath. Kirche als „Apostel der Deutschen“ bez. N. bezieht sich vmtl. auf die in Hexameter abgefassten Rätsel, lat., Aenigmata de virtutibus et vitiis (dt., „Rätsel über Tugenden u. Laster“). 308,329 des h. Adhelm] Ạ ldhelm von Sherborne/Malmesbury, auch Ældhelm, Ealdhelm, Althelmus, Adelme (um 639–709/710), engl. Gelehrter, Abt, Bischof u. Dichter. Jacobus de Voragine (um 1230–1298) widmet Aldhelm ein Kapitel in den Heiligenlegenden der Legenda aurea (um 1270) (dt., „Goldene Legende“). N. bezieht sich vmtl. auf die Enigmata, 100 hexametr. Rätsel, aus den Epistula ad Acircium (dt., „Briefe an Aldfrith“) (vor 634–705), Herrscher des angelsächs. Königreiches Northumbria. 308,432 Worte Claudians] Claudius Claudianus (um 370-n. 404), bedeutendster latein. Dichter der Spätantike. C.s Poesie ist v. Geist der heidn. Panegyr. (gr., πανηγυρικὸς λόγος, dt., „zur Volksversammlung gehörende Rede“, „Fest- o. Lobrede“) u. mytholog. Dichtung bestimmt, ohne das Christentum negativ darzustellen. Werke: Panegyriken polit.-zeitgeschichtl. Inhalts, Enkomia (gr., ἐγκώμιον, dt., „Lobgesang“, „Lobrede“) u. Invektiven (lat., invectivus, dt., „schmähend“; beleidigende Äußerungen o. Schmähschriften). 308,432 Rutilius’] Rutilius Claudius Namatianus (früh. 5. Jh.), lat. Dichter. Bedeutende Dichtung De reditu suo (dt., „Über seine Rückkehr“), die in eleg. Distichen seine Reise v. Rom n. Gallien (417/418) beschreibt. 308,458 Pünsche] Sing., „Punsch“. Aus Indien stammendes Heißgetränk aus Arrak (Reisbranntwein), Zucker, Zitronensaft, Wasser o. Tee u. Gewürzen. Später alkohol. Heißgetränk unter Zugabe diverser Gewürze. 309,496 „Là bas“] Frz., Là-bas (dt., „Tief unten“). Roman v. Joris-Karl Huysmans (1848–1907) a. d. Jahr 1891. 311,549 boulangistischer Abgeordneter] Parteigänger v. Georges Ernest Jean Marie Boulanger (1837–1891), frz. General. Ab 1886 Kriegsminister u. Befürworter einer Revanche für die im Dt.-Frz. Krieg (1870/1871) erlittene Niederlage. N. Anklagen wg. Verschwörung u. Veruntreuung v. Staatsgeldern Flucht n. Brüssel u. Suizid.

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311,551 Marie Baschkirtseff] Russ., Marija Konstantinovna Baškirceva (1858/ 1860–1884), russ. Malerin des Naturalismus u. engagierte Verfechterin des Feminismus. B. korrespondiert u. a. mit Henry René Albert Guy de Maupassant (1850– 1893). Berühmt durch ihre posthum (1887) veröfftl. Tagebücher (frz., Journal de Marie Bashkirtseff). 311,553 „Unsere liebe Frau vom Schlafwagen“] Frz., „Notre-Dame du Sleepingcar“. Wegen ihrer stetigen Unrast u. Reisetätigkeit charakterisiert Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) Marie Bashkirtseff (1858/1860–1884) in La légende d’une cosmopolite (1890) (dt., „Die Legende einer Kosmopolitin“) als „unsere liebe Frau vom Schlafwagen“. 311,553 „Unter dem Auge der Barbaren“] Frz., Sous l’œil des Barbares. Roman v. Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) a. d. Jahr 1888. 311,554 „Ein freier Mann“] Frz., Un homme libre. Roman v. Maurice Barrès (1862–1923) a. d. Jahr 1889. 311,554 „Der Garten der Berenice“] Frz., Le jardin de Bérénice. Roman v. Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) a. d. Jahr 1891. 311,554 „Der Feind der Gesetze“] Frz., L’ennemi des lois. Roman v. AugusteMaurice Barrès (1862–1923) a. d. Jahr 1893. 311,559 französisches Provinzmuseum] Gemeint ist das im vierten Kapitel in Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) Le jardin de Bérénice (1891) (dt., „Der Garten der Bérénice“) beschriebene Museum „Musée du Roi René“ (dt., „Das Museum des Königs René“), i. d. Nähe v. Arles, in dessen Umgebung die Protagonistin Bérénice aufwächst. 311,559 mittelalterliche Kleinkunst] Im vierten Kapitel v. Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) Le jardin de Bérénice (1891) (dt., „Der Garten der Bérénice“) werden Exponate des Museums „Musée du Roi René“ (dt., „Das Museum des Königs René“) a. d. 15. Jh. beschrieben. 311,560 Nero] Lucius Domitius Ahenobarbus (37–68), n. Adoption (50) durch Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, gen. Claudius (10 v. Chr.–54 n. Chr.), Annahme des Namens Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, röm. Kaiser (54–68). Im 11. Kapitel v. Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) Le jardin de Bérénice (1891) (dt., „Der Garten der Bérénice“) wird Nero erwähnt. 311,560 Saint Simon] Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760– 1825), bedeutender Sozialtheoretiker u. Philosoph der Restaurationsphase. Begr. des sog. Saint-Simonismus, Vertreter des Frühsozialismus u. einer sehr liberalen „Liebeslehre“. In den 30er u. 40er Jahren Einfluss auf Autoren des Vormärz wie Heinrich Heine (1797–1856). 311,560 Fourier] Charles Fourier (1772–1837), frz. Gesellschaftstheoretiker, Kapitalismuskritiker, Sozialphilosoph; Vertreter des Frühsozialismus. Beeinflusst durch Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) u. die Physiokraten. Entwurf eines umfassenden Systems des utop. Sozialismus. Werke u. a.: Le nouveau monde industriel et sociétaire (1829) (dt., „Die neue Welt der Industrie u. Vergesellschaftung“; wörtl.:

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„Die neue industrielle und sozietäre Welt“); La fausse industrie (1835/36) (dt., „Die falsche Industrie“). 311,560 Marx] Karl Marx (1818–1883), dt. Nationalökonom, Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Vorkämpfer der Arbeiterbewegung u. Theoretiker des Sozialismus u. Kommunismus. Werke u. a.: (zus. m. Friedrich Engels, 1820–1895) Manifest der Kommunistischen Partei (1848); Lohnarbeit und Kapital (1849); Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859); Das Kapital (1867–1894). 311,560 Lassalle] Ferdinand Lassalle (eigtl. Ferdinand Johann Gottlieb Lassal) (1825–1864), dt. Publizist, Mitbegr. der dt. Arbeiterbewegung u. sozialist. Politiker. 1848 Teilnahme an der Revolution als radikaler Demokrat. 1849 Mitarbeit an der v. Karl Marx u. Friedrich Engels hg. Neuen Rheinischen Zeitung. Hauptwerk Das System der erworbenen Rechte (1861). Aufgrund seines polit. Programms 1863 Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV). 311,567 Stendhal] Eigtl. Marie-Henri Beyle (1783–1842), frz. Schriftsteller. Pseudonym n. der damals brandenburg. Stadt Stendhal, dem Geburtsort des v. St. verehrten Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Werke u. a.: De l’Amour (1822) (dt., „Über die Liebe“); La Chartreuse de Parme (1838) (dt., „Die Kartause v. Parma“; u. d. Titel Kerker und Kirche 1845 erstmals ins Deutsche übersetzt); Le Rouge et le Noir. Chronique du XIXe siècle (1830) (dt., „Rot u. Schwarz. Chronik des 19. Jh.s“). 311,573 Montaigneschen „Essais“] Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592), frz. Schriftsteller, Essayist u. Philosoph. Les Essais de messire Michel, seigneur de Montaigne (dt., „Michaels Herrn von Montaigne Versuche“ o. „Essays“). (Erster u. zweiter Band 1580, dritter Band 1588). Namensgebend für eine neue literar. Gattung. Durch unvoreingenommene Erörterung moralphilosoph. Themen Begr. der Moralistik; Einfluss auf die Aufklärung. 311,573 Schopenhauerschen „Parerga und Paralipomena“] Kleine Philosophische Schriften. Sammlung philosoph. Reflexionen (1851) v. Arthur Schopenhauer (1788–1860), dt. Philosoph. Hauptwerk: Die Welt als Wille und Vorstellung (1819 mit mehreren, dann mehrbändigen Auflagen). Parerga und Paralipomena (gr., πάρεργον, dt., „Nebenwerk“, „Anhang“, „Beiwerk“ u. gr., παραλειπόμενον, dt., „das Ausgelassene“, „Nachtrag“, „Randbemerkung“). 312,589 „Examen“] Vollst. Titel Le Culte du moi. Examen des trois idéologies (dt., „Meine Verehrung. Untersuchung dreier Ideologien“); autobiograph. motivierte Romantrilogie v. Auguste-Maurice Barrès (1862–1923): Sous l’œil des Barbares (dt., „Unter dem Auge der Barbaren“ (1888), Un homme libre (dt., „Ein freier Mann“) (1889) u. Le jardin de Bérénice (dt., „Der Garten der Bérénice“) (1891). 315,739 „Petite secousse“] (dt., „Kleine Erschütterung“). Beiname der Romanheldin Bérénice in Le jardin de Bérénice (dt., „Der Garten der Bérénice“) (1891) v. Maurice Barrès (1862–1923). 315,748 Zoophilie] Gr., ζῷον, dt., „Lebewesen“, „Tier“ u. gr., φιλία, dt., „Liebe“, „Freundschaft“. Sexuelles Hingezogensein zu Tieren bzw. sexuelle Handlungen mit Tieren.

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317,831 Oscar Wilde] Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde (1854–1900), irischer Schriftsteller. Aufgrund seiner ausschweifenden Lebensführung als blasierter Snob u. Dandy bek. 1895 wg. Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt. Lebt ab 1897 in ärml. Verhältnissen in Paris, dort zum röm.-kath. Glauben konvertiert. Vertreter eines der frz. Décadence verpflichteten Ästhetizismus. I. d. S. versucht auch der Protagonist seines berühmten Romans The picture of Dorian Gray (1890) (dt., „Das Bildnis des Dorian Gray“), sein Leben mit einem Kunstwerk zu tauschen, scheitert aber letztl. an seinem Gewissen. 318,835 absonderliche Trachten] N. kritisiert hier die extravagante, aber elegante Kleiderwahl der Dandys. 318,840 Pall Mall] Abgel. v. frz., Paille-Maille, einem dem Croquet ähnl. Ballspiel des 16. u. 17. Jh.s. Name einer vornehmen Straße i. d. City of Westminster in London, zw. Green Park u. Trafalgar Square. 319,897 Bajazzo-Vermummung] Ital., Pagliaccio. Clownsfigur; Dienerfigur i. d. ital. Commedia dell’arte, mit weißem Gewand u. trichterförmigem Filzhut. Hier iron. Charakterisierung der „Aestheten-Tracht“ O. Wildes. 319,910 Hydepark] Parkanlage im Londoner Westend, zusammen mit den westl. anschließenden Kensington Gardens ausgedehnteste Grünfläche Londons. 1851 Veranstaltungsort der ersten Weltausstellung, der Great Exhibition. Berühmt ist Speaker’s Corner, Ort freier Meinungsäußerung in Rede u. Diskussion an jedem Sonntag (seit 1866). 320,937 Thomas Griffith Wainewright] (1794–1852), engl. Maler, Journalist, Kunstkritiker. Mehrfacher Giftmörder. Literar. Bearbeitung des Falles v. Oscar Wilde in Pen, Pencil and Poison (dt., „Feder, Pinsel u. Gift“); erstmals erschienen in Fortnightly Review, Januar 1889, 1891 in Intentions. 320,942 Helena Abercrombie] (unbek.–1830) Schwägerin v. Thomas Griffith Wainewright, s. → 320, 937, der 1830 bei verschiedenen Agenturen Lebensversicherungen auf sie abschloss, ehe er sie am 20.12. ermordete. Im August hatte er bereits sein Schwiegermutter, ein Jahr zuvor seinen Onkel mit Strychnin vergiftet. 321,968 Hecuba] Lat., Hecuba, dt., Hekabe. Gr. mytholog. Gestalt (Gemahlin des Trojanerkönigs Priamos). Wendung „jmdm. Hekuba sein/werden“ i. d. Bedeutung v. „jmdm. gleichgültig sein“, bildungsspr. n. William Shakespeares (ca. 1564–1616) The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (dt., „Die Tragödie v. Hamlet, Prinz v. Dänemark“) (Erstdruck 1603), Anspielung auf Homers Ilias, Bemerkung Hektors gegenüber seiner Gattin Andromache, ihn bekümmere das Leid seiner Mutter Hekuba weniger als das ihre (2. Aufzug, 2. Szene). 321,978 Schiller sagt] Zit. werden die letzten drei Verse des fünfstrophigen Gedichts (1802). 321,986 J. H. v. Kirchmann] Julius Hermann von Kirchmann (1802–1884), dt. Jurist u. Politiker. K.s Bedeutung liegt nicht in einer eigenen philosoph. Konzeption, sondern in der Übersetzung u. Kommentierung klassischer Philosophen. 1868 Gründung der Philosophischen Bibliothek.

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322,1041 Kunstbonzen] Sing., Bonze. Urspr. japan. Priester o. buddhist. Mönch mit dem Ruf, sich den Aberglauben des Volkes zu Nutze zu machen. Seit der Aufklärung i. S. v. „bigotter Priester“, „Person mit zu viel Einfluss“ o. „Inhaber eines hohen Amtes, der sich dem Volk entfremdet hat“, hier auf die Kunst u. ihre Deutung übertragen. 323,1048 Kant] Immanuel Kant (1724–1804), bedeutender dt. Philosoph der Aufklärung. Hauptwerke Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788) u. Kritik der Urtheilskraft (1790) zu Fragen der Erkenntnis, der Ethik u. der Ästhetik. Richtungweisend für die Dichter der dt. Klassik. Bedeutung für N. s. → Nachwort. 323,1052 Vischer] Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), dt. Philosoph u. Literaturwissenschaftler u. -theoretiker. Werke u. a.: Ueber das Erhabene und Komische und andere Texte zur Philosophie des Schönen (1837); Kritische Gänge (1844); Aesthetik der Wissenschaft des Schönen (1846); Kritische Gänge. Neue Folge (1860); Lyrische Gänge (1882); Altes und Neues. Neue Folge (1889). 323,1069 Molekularbewegungen] Brownsche Bewegung (auch Brownsche Molekularbewegung). V. schott. Botaniker Robert Brown (1773–1858) im Jahr 1827 verbreitete Theorie der Wärmebewegung v. Teilchen in Flüssigkeiten u. Gasen. 323,1070 Aetherschwingungen] Äther, gr., αἰθήρ, dt., „obere Luftschicht“, „heiterer Himmel“. Vgl. frühe Publ. zum Verhältnis v. Licht u. Materie wie die der Physiker Ferdinand Lippich, Über die Natur der Ätherschwingungen im unpolarisirten und theilweise polarisirten Lichte (1863) u. Wolfgang v. Sellmeier, Ueber die durch die Aetherschwingungen erregten Mitschwingungen der Körpertheilchen und deren Rückwirkung auf die erstern, besonders zur Erklärung der Dispersion und ihrer Anomalien (1872). 323,1083 „Myriachit“] Erkrankung, die sich in zwanghafter Ausübung körperl. Aktionen äußert. V. Georges Gilles de la Tourette (1857–1904) als eine dem TouretteSyndrom verwandte Erkrankung 1884 beschrieben. 323,1084 S. A. Tokarski] Auch: A. A. Tokarski o. Tokarsky (1859–1901). „Meriatschenje und Maladie des Tics convulsifs.“ In: Neurol. Centralblatt, 21 (1890), 662–663. 324,1106 sexueller Erethismus] Gr., ἐρεθισμός, dt., „Reizen“, „Aufreizung“. Erethismus (auch: Erethie) bez. eine leicht erregbare Gereiztheit bzw. eine in große Ruhelosigkeit gesteigerte Erregbarkeit. 325,1167 Edmund R. Clay] (ca. 1830–ca. 1890), engl. Psychologe. Hauptwerk The alternative: a study in psychology (1882) (dt., „Die Alternative: eine psycholog. Untersuchung“). 326,1187 Die neue Wissenschaft der Kriminal-Anthropologie] Wissenschaft, die Verbrechen aus der körperl. u. geistigen Eigenart des Täters zu erklären versucht. N. verweist im Besonderen auf die Schriften Cesare Lombrosos (s. → 6, 2). 326,1206 Das Mittelalter kannte Zufluchtsstätten] Kirchenasyl, als Heiligtumsasyl bereits im AT erwähnt u. in Griechenland verbreitet (gr., ἱκεσία, dt., „Bitte um

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Schutz“, Schutzflehen“). Zu Unrecht Verfolgte o. zu Recht Verurteilte finden als Schutzsuchende unter der Auflage v. Buße Aufnahme in Kirchen. Im 14. Jh. Niedergang des Kirchenasyls; i. d. Aufklärung als Behinderung einer geordneten Rechtspflege wahrgenommen; bis zum 19. Jh. in fast allen europ. Staaten formell aufgehoben. 327,1213 die Ansicht Ruskins] John Ruskin (1819–1900). Bedeutender engl. Kunsthistoriker u. Sozialreformer. Begr. einer neuen, gegen die negativen Folgen der Industrialisierung gerichteten Wirtschaftsethik, Rückkehr zum Ideal mittelalterl. handwerkl. Produktionsformen. Mehrbändige kunsttheoret. Schrift Geschichte der modernen Malerei (1843–1860). 327,1241 Blaserna] Pietro Blaserna (1836–1918), ital. Physiker u. Mathematiker. Ab 1863 ord. Prof. für experimentelle Physik in Palermo, ab 1872 in Rom. 327,1243 Brücke] Ernst Wilhelm Ritter von Brücke (1819–1892), dt.-österr. Physiologe. Ab 1848 Prof. in Königsberg, ab 1849 in Wien. 328,1285 Die bekannte aristotelische Katharsis] Gr., κάθαρσις, dt., „Läuterung“, „Reinigung“. I. d. Poetik des Aristoteles (384–322 v. Chr.) wird die K. durch die beim Zuschauer hervorgerufenen Affekte Eleos u. Phobos (gr., ἔλεος, dt., „Mitleid“, „Erbarmen“ u. gr., φόβος, dt., „Angst“, „Furcht“, „Schaudern“) erreicht. 328,1291 Valdes] Juan de Nisa Valdés Leal (1622–1690), span. Maler, Bildhauer u. Radierer. Bedeutender Meister der barocken Malerei Sevillas. Darstellung religiöser Szenen, Todes- u. Vanitas- Symbolik; bisweilen extreme naturalist. Übersteigerung. Das beschriebene Bild Finis Gloriae Mundi (1670–1672) hängt im Hospital de la Caridad (Sevilla). 329,1297 Holbein in seinem „Todtentanz”] H.: Hans Holbein d. Jüngere (1497/ 8–1543), bedeutender dt. Maler, Buchillustrator u. Zeichner der Renaissance. T.: seit dem 14. Jh. bildl.-allegor. Darstellung der Allmacht des Todes über den Menschen, häufig in Kombination mit Illustrationen des Tanzes. H.s Holzschnitte des T. erscheinen ab 1530, vielfach kopiert u. stark verbreitet. 329,1300 Mozarts Requiem] Wolfgang Amadeus Mozart (Taufname: Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart) (1756–1791). Das Requiem in d-Moll (KV 626) a. d. Jahr 1791 ist M.s letzte Komposition; zwei Drittel v. M. selbst, vollendet v. seinen Schülern Joseph Leopold Edler von Eybler (1765–1846) u. Franz Xaver Süßmayr (1766–1803). Durch das Fehlen hoher Blasinstrumente (Oboen, Flöten, Waldhörner) wird bei sparsamer Instrumentierung durch den dunklen Klang der Bassetthörner der düstere Charakter der Totenmesse unterstrichen. 329,1311 Die Stiche zu den „General-Pächter-Ausgaben“] Besonders aufwendige, v. betuchten Auftraggebern finanzierte Illustrationen. General-Pächter: Hauptpächter v. Steuern, Zöllen u. Monopolen. 329,1313 Werke des pornographischen Museums in Neapel] Das 1787 gegr. Archäolog. Nationalmuseum Neapel (ital., Museo Archeologico Nazionale) beherbergt in einem 1819 eingerichteten Gabinetto Segreto (dt., „Geheimkabinett“) eine Sammlung erot. Exponate aus Herculaneum u. Pompeji.

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330,1348 Giulio Romano] Auch Giulio Pippi (eigtl. Giulio di Pietro Gianuzzi) (1499–1546), ital. Maler u. Architekt des Manierismus. Bevorzugter Schüler u. enger Mitarbeiter Raffaels (auch: Raffael da Urbino, Raffaello Santi) (1483–1520). Mitarbeit an dessen Ausmalungen der Stanzen u. Loggien im Vatikan. 330,1349 Pietro Aretino] (1492–1556), ital. Schriftsteller, Dramatiker u. Lyriker der Renaissance. Berühmt u. gefürchtet für seine i. d. Sprache des Volkes geschriebenen offenen Briefe, scharfen Satiren, Spottverse u. Schmähschriften (Pasquinate, benannt n. einer antiken Statue namens Pasquino i. d. Nähe der Piazza Navona in Rom). Bekannteste Werke: Ragionamento della Nanna e della Antonia (1534) (dt., „Vernünftiges Gespräch der Nanna u. der Antonia“) u. Dialogo nel quale la Nanna insegna a la Pippa (1536) (dt., „Zwiesprache, i. d. Nanna die Pippa unterrichtet“). N. bezieht sich hier auf die zw. 1524 u. 1525 hg. Sonetti lussuriosi (dt., „Unzüchtige Sonette“), die den Ruf A.s als Klassiker pornograph. Literatur begr. 330,1352 Andrea de Nercia] André-Robert Andréa de Nerciat (1739–1800), frz. Bibliothekar u. Schriftsteller. N. bezieht sich auf seine ausschweifend-sittenlosen Romane Le diable au corps (1786) (dt., „Den Teufel im Körper“) o. Les Aphrodites ou Fragments thali-priapiques pour servir à l’histoire du plaisir (1793) (dt., „Die Aphroditen o. thali-priapische [v. frz., „priapisme“; dt., „verlängerte schmerzhafte Erektion ohne sexuelle Erregung“]; Fragmente um der Geschichte des Vergnügens zu dienen“). 330,1352 Liseux] Isidore Liseux (1836–1894), frz. Bibliophiler, Verleger exquisiter, reich illustrierter Erotica u. Curiosa v. Autoren des 16. bis 18. Jh.s. 330,1373 Callotschen Bilder] Jacques Callot (1592–1635), frz. Kupferstecher u. Radierer. Bek. für äußerst differenzierte Hell-Dunkel-Effekte durch die v. ihm erfundenen neuen Radiernadeln. Darstellungen v. Szenen a. d. Volksleben, der ital. Komödie (ital., Commedia dell’Arte) u. des Krieges. 330,1373 Zurbaranschen] Francisco de Zurbarán (1598–1664), span. Maler des Siglo de Oro (dt., „Goldenes Jahrhundert“ der span. Malerei). Beiname „span. Caravaggio“ n. der Hell-Dunkel-Malerei (ital., chiaroscuro, dt., „hell-dunkel“) des Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610). Religiöse Thematiken, Stillleben u. Visionsdarstellungen. 330,1374 Höllenbreughelschen] N. spielt hier auf die Malereien des fläm. Genremalers Pieter Brueghel der Jüngere (auch: Breugel o. Breughel) (1564–1638) aus der Spätrenaissance u. des frühen Barock an. Beiname „Höllenbrueghel“ geht auf eine früher fälschlicherweise vorgenommene Zuschreibung kleinformatiger Höllenszenen zurück. Heute dem Bruder Jan Brueghel der Ältere (1568–1625), auch „Samtbrueghel“ o. „Blumenbrueghel“, zugeordnet. 330,1375 Dostoiewskis „Raskolnikow“] Hauptfigur a. d. Roman Prestuplenie i nakazanie (1866) (dt., „Schuld und Sühne“, auch „Verbrechen und Strafe“). Aus Empörung über die soziale Ungerechtigkeit seiner Umwelt u. im Banne einer Theorie des Übermenschen, dem alles erlaubt ist, begeht der 23jährige R. einen Raub-

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mord. Er erschlägt eine alte Pfandleiherin, die niemandem mehr zu Nutzen ist, u. ihre zufällig am Tatort erscheinende geistig zurückgebliebene Stiefschwester mit dem Beil. Psycholog. subtiles Ringen mit dem Untersuchungsrichter u. der inständige Zuspruch einer jungen Prostituierten, R. möge sich der Polizei stellen, bestimmen das Geschehen n. der Tat. Verwendung v. sprechenden Namen, z. B. R.: russ., „raskol“, dt., „Spaltung“. 330,1378 Pitrè] Giuseppe Pitrè (1841–1916), ital. Mediziner, Anthropologe u. einer der bedeutendsten Folkloristen Italiens. Engagement für Giuseppe Garibaldis (1807–1882) Bewegung (ital., risorgimento, dt., „Wiederherstellung“ der nationalen Einheit Italiens) um 1860. Pionier ethnograph. Studien in Italien. Sammlung v. Volkssagen, Legenden, Märchen u. Liedern. Mitbegr. der literar. Zeitschrift Nuove effemeridi siciliane (dt., „Neue sizilianische Geschichtswerke“) (1869–1882). Veröffentlichungen u. a.: Profili (1864) (dt., „Profile“); Studio critico sui canti siciliani (1868) (dt., „Kritische Studie über sizilianische Lieder“); Saggi di critica letteraria (1871) (dt., „Essays zur Literaturkritik“). 330,1381 Wilhelm Henckel] Wilhem Eduard Henckel (1825–1910); russ.-dt. Buchhändler, Publizist u. Übersetzer. H. wird als Kind zu Verwandten in St. Petersburg gegeben, wächst dort auf u. gründet einen eigenen Verlag, der v. a. die Werke russ. Autoren vertreibt. 1878 Übersiedlung nach München, hier Übersetzertätigkeit namhafter russ. Schriftsteller. 333,1468 „die Gegenwart der Idee in begrenzter Erscheinung“] Formulierung nicht wörtl. bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der das „Schöne“ als das „sinnl. Scheinen der Idee“ bestimmt, wohl aber in Friedrich Theodor Vischers (1807–1887) Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1857), Bd. 4. 333,1500 Dr. Wilh. Alex. Freunds] Wilhelm Alexander Freund (1833–1917), dt. Gynäkologe. 1878 gelingt F. die erste Hysterektomie über einen Bauchschnitt. 1879 Ruf auf den Lehrstuhl für Gynäkologie an der Kaiser Wilhelm-Universität in Straßburg. Weiteres Werk: Die Gynäkologische Klinik (1885). 333,1509 Wilhelm Loewenthal] (1850–1894), dt. Arzt; Professor für Hygiene an der medizin. Akademie in Lausanne. Bes. Interesse gilt der Schulhygiene u. dem Erziehungswesen, später bakteriolog. Untersuchungen insb. zur Cholera. Das v. N. genannte Hauptwerk L.s erscheint 1887. 337,1638 Drohnendasein] Drohne auch Dron, männl. Exemplar der Honigbiene (auch bei anderen staatenbildenden Hautflüglern wie Wespen, Hummeln o. Hornissen). Entstehung aus einem unbefruchteten Ei; meist größer als die Arbeitsbienen, kein Stachel, betreibt keine eigene Nahrungssuche, sondern ist auf den sozialen Futteraustausch im Staat angewiesen; Daseinszweck, Begattung der Königin während des Hochzeitsfluges. Hier Metapher für eine nur den Fortpflanzungszwecken dienende Existenz.

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IV. Der Ibsenismus. 338,6 „Poet Laureate“] V. lat., poeta laureatus, dt., „lorbeergekrönter Dichter”. 338,28 Fresken] Sing., Fresko, ital., „al fresco“, dt., „ins Frische“. Renaissance-Maltechnik, bei der in Wasser gelöste Farbe auf noch feuchten Kalkputz aufgetragen wird, wodurch die Farbpigmente beim Trocknungsprozess darin eingebunden werden. 339,48 „Nora“] Norweg., Et Dukkehjem (1879) (dt., „Ein Puppenheim“). 339,48 „Gespenster“] Norweg., Gengangere. Et familjedrama i tre akter (1881) (dt., „Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten“). 339,48 „Rosmersholm“] Norweg., Rosmersholm (1887). 339,49 „Stützen der Gesellschaft“] Norweg., Samfundets Støtter (1877). 339,49 „Hedda Gabler“] Norweg., Hedda Gabler (1890). 339,49 „Ein Volksfeind“] Norweg., En Folkefiende (1883). 339,50 „Die Wildente“] Norweg., Vildanden (1884). 339,50 „Die Frau vom Meer“] Norweg., Fruen fra havet (1889). 339,52 Klassiker des Zeitalters Ludwigs XIV.] Gemeint sind Tragödiendichter wie Pierre Corneille (1606–1684) o. Jean Racine (1639–1699); Komödiendichter wie Molière (eigtl. Jean-Baptiste Poquelin) (1622–1673). In dieser Epoche ist das Drama v. festen, aus der aristotel. Poetik (Einheit v. Handlung, Ort u. Zeit) abgeleiteten Regeln (frz., „doctrine classique“, dt., „feste Lehrmeinung“) geprägt. 341,136 Sancho Panza] Berühmte literar. Figur in El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (dt., „Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha“) v. Miguel de Cervantes (1547–1616). Darin ist Panza der kleine, dicke Diener Don Quijotes (sprechender Name aus span., „panza“, dt., „Pansen“, „Bauch“). Vgl. → 341, 140. 341,140 Don Quijote] Kurztitel für den Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, 1. Teil 1605, 2. Teil 1615 v. Miguel de Cervantes. Übersetzt v. Ludwig Tieck, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha (1799–1801). Don Quijote, der Idealist, blendet in seiner regen Phantasie, die sich an den Ritterromanen orientiert, die Realität zunehmend aus u. kämpft sogar gegen Windmühlen, die ihm als Riesen erscheinen. Sancho Panza bildet den Gegenpol als praktisch Denkender mit gesundem Menschenverstand. 341,150 „Beschränkung”, in dem sich nach Goethes Worte „der Meister zeigt“] Schlussverse aus Johann Wolfgang Goethes „Das Sonett II“ (1800): „Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; / In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ 342,178 Homunculi] Lat., homunculus, dt., „Menschlein“, „erbärml., schwaches Geschöpf“. Künstl. erzeugter Mensch aus der dämon.-mag. Vorstellungswelt des Spätmittelalters. 342,180 Auguste Ehrhard] (1861–1933), frz. Literaturwissenschaftler. Publikationen zu internationalen Literaturen: Les comédies de Molière en Allemagne (1888)

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(dt., „Molières Komödien in Deutschland“); Les Romans de Goethe (1890) (dt., „Goethes Romane“). 342,198 dichterische Anwendung wissenschaftlicher Methoden] Anthropolog. gesehen ist der Mensch im Naturalismus determiniert durch Zeitumstände, Vererbung/Trieb u. Milieu, deren Bedingungen empirisch ermittelt werden sollen; die naturwissenschaftl. exakte Gestaltung der empir. Wirklichkeit gilt als Ideal. Grundlage der naturalist. Bewegung sind v. a. die positivist. Philosophie Auguste Comtes (1798–1857) u. neue naturwissenschaftl. Theorien: die Vererbungslehre nach Charles Darwin (1809–1882) u. Prosper Lucas (1808–1885), die Milieutheorie Hippolyte Taines (1828–1893) u. die Experimentalmedizin Claude Bernards (1813– 1879). Émile Zola (1840–1902) trägt der wissenschaftl. Methode Rechnung in seiner Schrift Le roman expérimental (1880) (dt., „Der Experimentalroman“). Themat. werden gesellschaftl. Missstände aufgegriffen (Armut, soziale Not, Verrohung, Alkoholismus, Prostitution, Folgen der Verstädterung u. Industrialisierung). Sprachl. äußert sich der Naturalismus in der Verwendung v. Dialekt (geograf. Ausdrucksweise), Soziolekt (schichtspezif. Ausdrucksweise), Psycholekt (situationsbedingte Ausdrucksweise), Idiolekt (individuelle Ausdrucksweise). 343,220 „Musketiere“] Frz., Les trois mousquétaires (1843/44) (dt., „Die drei Musketiere“), erster Roman einer Trilogie des frz. Schriftstellers Alexander Dumas, des Älteren (Alexandre Dumas Davy de la Pailleterie) (1802–1870), zweiter Teil Vingt ans après (1845) (dt., „Zwanzig Jahre später“) u. dritter Teil Le Vicomte de Bragelonne (1847–1850) (dt., „Der Vicomte v. Bragelonne“). 343,220 „Montechristo“] Frz., Le comte de Monte-Cristo (1844–1846) (dt., „Der Graf v. Monte Christo“), Roman v. Alexander Dumas, dem Älteren (1802–1870). 343,227 Odaliske] Osman., „Odalik“, dt., „Beischläferin“, „Zimmergefährtin“. Weiße Sklavin, die frei wird, nachdem sie ihrem Herrn ein Kind geboren hat. Ihr Kind wird dadurch legitimiert. Hier eher als „leichtes Mädchen“, Prostituierte, zu verstehen. 344,263 Sklerose] Gr., σκληρός, dt., „hart“, „spröde“. Krankhafte Festigkeitszunahme menschl. Gewebes. Verhärtungen im Gehirn u. a. für Epilepsie verantwortl. Tuberöse Sklerose häufig mit kognitiven Störungen u. epilept. Anfällen einhergehend. Namensgebend für diese Erkrankung Désiré-Magloire Bourneville (1840–1909), Édouard Brissaud (1852–1909) u. John James Pringle (1855–1922), daher Bourneville-Brissaud-Pringle-Syndrom. 344,280 u. 289 „Gesellschaft“ / „Gesellschaftsbau“] Um 1890 lebhaft diskutiert, u. a. im Grundlagenwerk v. Ferdinand Tönnies (1855–1936) (dt. Soziologe u. Philosoph) Gemeinschaft und Gesellschaft (1887). Hier ironisierend verwendet. 344,295 Philister-Coterie] Philister, urspr. bibl. Volk u. Gegner Israels. Später Bez. für Nicht-Studenten, Spießbürger. Umgangssprachl. pedant. engstirniger Mensch. – Frz., „coterie“, dt., „Koterie“, „Clique“, „Seilschaft“, bez. in negativer Verwendung eine kleine geschlossene, verschworene Gesellschaft. 344,296 Schöppenstädt] Schöppenstedt bei Wolfenbüttel. Umgangssprachl. Wie z. B. Schilda o. Buxtehude ein Hort der Streiche u. des Narrentums.

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345,343 in einer parodistischen Posse] P.:, gr., παρῳδός, dt., „neben dem Gesang hergehend“, „nicht zur Sache gehörig“, verzerrende, übertreibende oder verspottende Nachahmung. P.: komisches Theaterstück, das seinen oft derben Witz aus Zufall, Verwechselung u. Übertreibung bezieht. 346,351 Typhusgift] Als Ursache des Typhus, gr., τῦφος, dt., „Schwindel“, „Dunst“, „Nebel“, identifizieren der Bakteriologe Edwin Klebs (1834–1913) u. der Pathologe Karl Joseph Eberth (1835–1926) im Jahr 1881 kleine, stäbchenförmige Spaltpilze (veraltet für „Bakterien“). 346,382 Webers „Demokritos“] Karl Julius Weber (1767–1832), dt. satir. Schriftsteller. Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, 12 Bde. (1832–1840). Angelehnt an die Lehre des vorsokrat. Philosophen Demokrit (460/ 459 v. Chr.–n. 400 v. Chr.) legt Weber in Demokritos „erbaul. Betrachtungen“ vor, die anekdotenhaft Themen wie Kriegskunst, Literatur, Geschichte, Ehe, Humor, Berufe, Nationen, Sitten u. Religion behandeln. 346,383 mittelalterliche Kasuisten] Lat., casus, dt., „Fall“. Jurist. Untersuchung v. Einzelfällen; im christl. Kontext v. a. die Beschäftigung mit Gewissenskonflikten u. Problemen der Glaubenspraxis, besonders bei den Jesuiten. 348,429 Nymphomanin] Gr., νύμφη, dt., „Braut“, „junge Frau“; gr., μανία, dt., „Raserei“, „Wahnsinn“. Nymphomanie, weibl. Ausprägung der Erotomanie, patholog. gesteigertes geschlechtl. Verlangen. 348,445 Austiftelungen] Nebenform v. „Austüftelungen“, durch langwierige, geduldige geistige Arbeit erzielte Ergebnisse. 350,516 Lappin] Ureinwohnerin Lapplands; Siedlungsgebiet in Skandinavien nördl. des Polarkreises (Norwegen, Schweden, Finnland, Russland). 350,523 Gregor Werle] Bei Ibsen richtig: Gregers Werle. 350,528 Lucas] Prosper Lucas (1805–1885), frz. Arzt, untersucht als einer der ersten die Erblichkeit psych. Dispositionen. Traité philosophique et physiologique de l’hérérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux avec l’application mé thodique des lois de la procré ation au traitement gé né ral des affections dont elle est le principe. Ouvrage où la question est considérée dans ses rapports avec les lois primordiales, les théories de la génération, les causes déterminantes de la sexualité, les modifications acquises de la nature originelle des êtres, et les diverses formes de névropathie et d’aliénation mentale, 2 Bde. (1847/1850) (dt., „Philosoph. u. physiolog. Abhandlung der natürl. Vererbung in den Zuständen v. Gesundheit u. Krankheit des Nervensystems mit einer method. Anwendung der Gesetze der Fortpflanzung in Hinsicht auf die allgemeine Behandlung der Leiden, deren Leitstern/Prinzip sie ist. Arbeit, i. d. die Fragestellung in ihrer Beziehung zu den wesentl. Gesetzmäßigkeiten, zu den Theorien der Generation, zu den bestimmenden Ursachen der Sexualität, zu den v. der urspr. Natur der Wesen erworbenen Veränderungen u. zu den unterschiedl. Formen der Neuropathie u. zur geistigen Entfremdung berücksichtigt wird.“). Vgl. zur Bedeutung v. L. für den Naturalismus → 342, 198.

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351,556 Weismann] Friedrich Leopold August Weismann (1834–1914), dt. Biologe u. Evolutionstheoretiker, Wegbereiter des Neodarwinismus. Werke u. a.: Über die Berechtigung der Darwin’schen Theorie (1868); Über die Vererbung (1883). 351,559 Galton] Francis Galton (1822–1911), engl. Naturforscher u. Schriftsteller. Untersuchungen zur Vererbung v. Intelligenz u. Talenten; Begr. der Eugenik, die humangenet. Erkenntnisse auf die Bevölkerungs- u. Gesundheitspolitik überträgt. Werke u. a.: Hereditary Genius (1869) (dt., „Genie u. Vererbung“); Natural inheritance (1889) (dt., „Natürl. Vererbung“). 351,577 Charpie] Abgeleitet v. lat., carpo, dt., „pflücken“, „zupfen“. Verbandmaterial für frische Wunden aus gezupften Baumwoll- u. Leinenfasern. 351,577 Im Zeitalter der Anti- und Asepsie!] Antisepsis, gr., ἀντί, dt., „gegen; gr., σῆψις, dt., „Fäulnis“, „Gärung“, „Verdauung“. V. engl. Mediziner Joseph Lister (1827–1912) eingeführte Wundbehandlungsmethode, bei der die Entzündungserreger durch einen Karbolverband ferngehalten werden. – Asepsis, gr. verneinendes Präfix ἀ-, dt., „frei von“; gr., σῆψις, dt., „Fäulnis“, „Gärung“, „Verdauung“; i. d. Medizin Zustand der Keimfreiheit. 351,583 Eberthsche] Eberth, Karl Joseph (1835–1926), dt. Pathologe. Vgl. → 346,351. 351,584 Biskra-Beule] B.: Oasenstadt i. d. gleichnamigen Provinz im östl. Algerien. B.-B.: auch „Aleppobeule“, med., „Leishmaniasis“, v. a. in Arabien u. Nordafrika vorkommender, durch Sandmücken übertragener Hautausschlag mit langwieriger Eiterung. 351,584 Beri-Beri] Mangelerkrankung, ruft Müdigkeit, Störungen v. Kreislauf, Nerven u. Muskulatur hervor; deren Ursache, Mangel an Vitamin B1, wird erst 1897 durch Christiaan Eijkman (1858–1939) nachgewiesen. 352,598 u. 600 Rückenmarks-Krankheit / Rückenmark-Schwindsucht] Auch „Rückenmarksdarre“, med., „Tabes dorsalis“, lat., tabes, dt., „Schmelzen“, „Fäulnis“, „Zersetzung“; lat., dorsum, dt., „Rücken“. Spätform der Syphilis, mit Schmerzen u. Lähmungen einhergehend, ausgelöst durch den fortschreitenden Abbau v. Nervengewebe im Rückenmark. 352,612 späte Erb-Lustseuche (Syphilis hereditaria tarda)] V. den Eltern auf das Kind übertragene Syphilis, die i. d. R. erst n. einigen Jahren ausbricht. Chron. Infektionskrankheit, durch Weitergabe des Bakteriums Treponema pallidum (gr., τρέπω, dt., „drehen“, „wenden“, gr., νῆμα, dt., „Garn“, „Faden“ u. lat., pallidus, dt., „blass“, „bleich“ in Schraubenform gedrehtes, helles Bakterium) bei der Geburt übertragen; führt zu Geschwüren u. im Endstadium zur Zerstörung des zentralen Nervensystems. 352,612 Lähmungswahnsinn (Dementia paralytica)] Auch „progressive Paralyse“ o. „fortschreitender Blödsinn“. Chron. spätsyphilit. Entzündung des Nervengewebes mit dessen fortschreitender Zerstörung (Demenz); zunehmende kognitive Beeinträchtigungen u. Lähmungserscheinungen. 352,630 General-Paralytiker] Pauschalisierend für einen an progressiver Paralyse Leidenden, der den Realitätsbezug „generell“ (vollständig) verloren hat.

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353,651 Greisen-Irrsinn (dementia senilis) Lears] Patholog. Rückbildung der geistigen Fähigkeiten bzw. des Gehirns im Alter, auch „Altersblödsinn“ genannt. V. Alois Alzheimer (1864–1915) 1894 beschriebene altersbedingte Demenzerkrankung (Alzheimersche Krankheit). – Hier Bezug auf William Shakespeares (1564–1616) The Tragedy of King Lear. V. seinen Töchtern verraten, irrt Lear allein u. verwirrt durch die Heide (3. Aufzug / 2. u. 4. Szene). 353,652 die Willensschwäche aus Nervenerschöpfung (neurasthenische Abulie) Hamlets] Hier Bezug auf William Shakespeares (1564–1616) The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (dt., „Hamlet, Prinz v. Dänemark“). Hamlets Suizidgedanken in dem berühmten Monolog „To be, or not to be, that is the question“, dt., „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“ (3. Aufzug, 1. Szene). 353,653 die akute Manie von erotischer Färbung Opheliens] Ophelia, weibl. Protagonistin in Shakespeares (1564–1616) Hamlet. N. meint Ophelias Wahnsinn u. ihren Suizid durch Ertränken. 353,654 die Melancholie mit Gesichts-Halluzinationen der Lady Macbeth] Protagonistin in Shakespeares The Tragedy of Macbeth (Ua. 1611). N. meint den im Wahnsinn verübten Suizid der Lady Macbeth. 353,660 Philosophie des Verzichtens der Stoa] Stoa, berühmtes philosoph. Lehrgebäude, benannt n. der Säulenhalle (gr., στοὰ ποικίλη, dt., „bunt bemalte Säulenhalle“) auf der Athener Agora. Die antike stoische Philosophie empfiehlt dem Einzelnen, sich in die unabänderl. kosm. Ordnung einzufügen u. sein Schicksal gelassen hinzunehmen. Berühmte Stoiker, Zenon von Kition (333–264 v. Chr.), Seneca der Jüngere (1–65) u. Mark Aurel (121–180). 354,681 Haß eines Demagogen-Riechers] N. spielt hier auf die dt. Freiheitskämpfe der 1830er Jahre an. Wahrscheinl. in Anlehnung an den Ausdruck „Jesuitenriecherei“ verwendet, d. i. eine paranoide Angst, überall Umtriebe der Jesuiten zu wittern; vielfältige Abwandlungen des Begriffs, u. a. „Demagogen-Riecher“. 354,686 Hallunken] Halunke; tschech., Holomek, dt., „bewaffneter Amtsdiener“, „Henkersknecht“, „Betrüger“, „Gauner“. Moral. verkommener, verbrecher. Mensch. 354,696 Krähwinklern] Krähwinkel, Ortsname aus August Friedrich Ferdinand von Kotzebues (1761–1819) Theaterstück Die deutschen Kleinstädter (Ua. 1802); allgemein ein kleines Provinz- u. Klatschnest. Krähwinkler, im 19. Jh. Ausdruck für Menschen, die Unbedeutendes zu Weltbewegendem aufwerten. 354,697 Georg Brandes] Georg Morris Cohen Brandes (1842–1927), dän. Schriftsteller u. Kritiker. Vermittler der nord. Literatur in Deutschland u. dt. Literatur in Skandinavien. Bedeutende Werke u. a.: Søren Kierkegaard: ein literarisches Charakterbild (1879); Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen (1882); Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert (1886); Aristokratischer Radicalismus: Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche (1890). 354,707 „Ueber Freiheit“] Engl., On Liberty (1859). Werk des liberalen engl. Philosophen John Stuart Mill (1806–1873). Dem Werk folgte die ebenso bedeutende Schrift On Liberty and The Subjection of Women (1869) (dt., „Über Freiheit. Die Abhängigkeit der Frau“).

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355,743 Vormärzlichkeit] Nachträgl. geprägter Begriff in der Literaturgeschichte. Die Bez. Literar. Vormärz meint die Literatur im Jz. vor der Märzrevolution 1848/49, die oppositionelle u. revolutionäre Stimmungen in Deutschland u. Österreich aufgreift. Hauptvertreter u. a. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), Ferdinand Freiligrath (1810–1876) Heinrich Heine (1797–1856), Georg Herwegh (1817–1875). 355,754 Katechismus] Gr., κατηχέω, dt., „unterrichten“, „belehren“, „verkünden“. Handbuch der Unterweisung in den Grundfragen des christl. Glaubens. 355,759 Sören Kierkegaard] Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855), dän. Philosoph, protestant. Theologe u. Schriftsteller. Wegbereiter der Existenzphilosophie. Publikationen (meist pseudonym) u. a.: Enten-Eller. Et Livs-Fragment, udgivet af Victor Eremita (1843) (dt., „Entweder – Oder. Ein Lebensfragment“); Begrebet Angest (1844) (dt., „Der Begriff Angst“); Sygdommen til Døden (1849) (dt., „Die Krankheit zum Tode“). 356,764 Herbert Spencer] (1820–1903), engl. Soziologe, der die Prinzipien der Evolutionstheorie n. Darwin (engl., „survival of the fittest“, dt., „Überleben des Bestangepassten“) erstmals auf die Gesellschaft anwendet. Publikationen u. a.: Principles of Sociology (1874) (dt., „Die Prinzipien der Soziologie“); The principles of Biology (1864–1867) (dt., „Die Prinzipien der Biologie“); The principles of Psychology (1870–1872) (dt., „Die Prinzipien der Psychologie“). 356,767 Carlyle] Thomas Carlyle (1803–1855), schott. Jurist, Ethiker u. Historiker; ab 1833 Tätigkeit als apostol. Geistlicher. 356,770 schottischen Calvinisten] N. Johannes Calvin (eigtl. Jean Cauvin) (1509–1564) benannte christl.-reformator. Glaubensbewegung, die die unbedingte Heiligkeit u. Souveränität Gottes voraussetzt. Grundlage ist die Prädestinationslehre, n. der des Menschen Weg entweder zur ewigen Seligkeit o. zur Verdammnis festgelegt ist. Vier reformator. Soli bilden u. a. die Basis des Calvinismus: sola scriptura (allein die Schrift ist die Grundlage des christl. Glaubens, nicht die kirchl. Tradition); solus Christus (Autorität Christi, nicht der Kirche); sola gratia (durch die Gnade Gottes allein wird der Mensch gerettet, nicht durch eigene Leistung); u. sola fide (allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Taten). 356,774 Jacob Boehmescher] Jakob Böhme (1575–1624), dt. Mystiker u. Theosoph. Hauptwerke: Aurora oder Morgenröte im Aufgang (1612); De tribus principiis: Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesen (1619). B.s myst. Spekulationen drehen sich u. a. um das Verhältnis der Kreatur zum Bösen in Hinsicht auf die Vollkommenheit der Schöpfung u. um das Problem einer unmittelbaren Gotteserkenntnis. 356,774 Swedenborgscher] Emanuel von Swedenborg (eigtl. Swedberg) (1688– 1772), schwed. Wissenschaftler u. Theosoph. Ab 1743 Entwicklung eines auf Kommunikation mit der Geisterwelt beruhenden theosoph. Systems, das sich um intui-

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tive Anschauung Gottes bemüht; Vorstellung v. Korrespondenzen zw. Diesseits u. Jenseits. 356,775 Puseyscher Mystik] Edward Bouverie Pusey (1800–1882), engl. Theologe, Gründer einer entschieden katholisierenden Richtung i. d. engl. Hochkirche; Ritualismus, Anrufung der Heiligen u. der Engel, Marienkult, Glaube an das Fegefeuer, Totenmessen, Letzte Ölung. 356,776 heiligen Therese] Teresa von Ávila (1515–1582), span. Karmelitin, Mystikerin; 1622 heiliggesprochen. Werke u. a.: Cuentas de Conciencias (dt., „Gewissensberichte“), Camino de Perfección (dt., „Der Weg zur Vollkommenheit“); Moradas (dt., wörtl.: „Wohnungen“, im übertr. Sinn: „Die Seelenburg“ o. „Die innere Burg“). 356,776 Ruysbroek] Jan van Ruysbroek (1293–1381), fläm. Theologe u. Schriftsteller myst. Schriften, auch „Doctor exstaticus“ genannt. Myst. Vorstellungen über Trinität u. Eucharistie. Werke u. a.: Dat rijcke der ghelieven (dt., „Das Reich der Geliebten“); Een spieghel der eeuwigher salicheit (1359) (dt., „Ein Spiegel der ewigen Seligkeit“). 360,933 Avinain] Jean-Charles-Alphonse Avinain (1798–1867), mehrfacher frz. Mörder, in Paris hingerichtet. Beiname „Terreur de Gonesse“ (dt., „Schrecken v. Gonesse“) u. „boucher de Clichy-la-Garenne“ (dt., „Metzger v. Clichy-la-Garenne“). 360,933 Guillotine] N. dem frz. Arzt Joseph-Ignace Guillotin (1738–1814) benanntes maschinelles Fallbeil; während der Frz. Revolution zur Perfektionierung v. Enthauptungen eingeführt. 360,945 König Midas-Fabel] N. spielt auf den bei Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.–um 17 n. Chr.) überlieferten Mythos an (Metamorphosen, elftes Buch, 172–193), dem zufolge Apollo König Midas Eselsohren an den Kopf zaubert, die Midas zu verstecken sucht. 360,958 Heilsthat Christi] N. christl. Glauben wird Gott in Jesus Christus Mensch u. opfert sich im Kreuzestod stellvertretend für die schuldhafte Menschheit, um sie v. ihren Sünden zu erlösen bzw. die Vergebung der Sünden in eschatolog. Perspektive zu ermöglichen. 362,1047 Kontor] Auch „Contor“, v. lat., computo, dt., „zusammenrechnen“, „berechnen“ u. frz., „comptoir“, dt., „Zahltisch“. Niederlassung v. Kaufleuten der Hanse. Veraltet für Büro u. Zweigstelle v. Banken u. Handelsniederlassungen. 365,1159 Die drei christlich-dogmatischen Zwangsvorstellungen] Dogma, gr., „δόγμα“, dt., „Meinung, Lehrsatz“, autoritativ festgesetzte Lehre mit als unumstößl. geltendem Wahrheitsanspruch. Das Dogma der „Erbsünde“ geht v. Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) aus. Die eingeborene Sündhaftigkeit des Menschen mache ihn der Gnade Gottes bedürftig, wenn er sein Leben zum Guten wenden wolle, wie auch die Menschheit insgesamt erlösungsbedürftig sei. Die „Beichte“, das mündl. Eingeständnis einer Verfehlung gegenüber dem Priester, ist ein Sakrament der kath. Kirche, das zu Reue u. Umkehr führen soll u. die Absolution zuspricht. In der Reformation werden zunächst Beichte u. Buße hochge-

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schätzt, allerdings gilt die Beichte nicht mehr als Sakrament. Während allgemeine Beichte u. Sündenbekenntnis im Gottesdienst ihren Ort finden, geht die Einzelbeichte schnell verloren. – Die „Selbsthingabe“ des menschgewordenen Gottessohnes Jesus Christus zur Erlösung der sündigen Menschheit i. d. Kreuzigung ist das zentrale Dogma aller christl. Konfessionen, das schon mit verschiedenen Begriffen u. Metaphern (Opfer, Sühne, Versöhnung, Freikauf aus Sklaverei) verbunden u. gedeutet wird. N. bez. diese Glaubenssätze wg. ihrer beständigen Wiederkehr bei Ibsen als patholog. übersteigerte „Zwangsvorstellungen“. 365,1165 Lobhudler] Abwertende Bez. für jemanden, der sich bei anderen durch unberechtigtes o. übertriebenes Lob einschmeicheln will. 366,1187 „et forfaldent“ Menneske] Norweg., korrekt: „et forfallent menneske“, dt., „ein verfallener (abgenutzter) Mensch“. Hier in sexualmoral. Hinsicht verdorben. 366,1197 englisches Sprichwort] „What’s sauce for the goose is sauce for the gander.“ 369,1323 Schwachmattikus] Schwachmatikus o. Schwachmatiker. Aus der Studentensprache Mitte des 19. Jh.s stammende Bez. für einen (geistig o. körperl.) schwächl. bzw. zaghaften Menschen ohne Selbstvertrauen. 369,1351 After-Philosophie] Engl., „after“, dt., „danach“, „hinterher“, veraltete Präposition, die nur noch in Komposita übl. ist u. „nach“ bedeutet. Eine A.-Ph. ist eine nachahmende, minderwertige Art des Philosophierens. 371,1409 den geistigen Staar zu stechen] Jmd. den Star stechen i. S. v. „jemanden über etwas aufklären“. Bez. „Star“ veraltet für „Augenkrankheiten“, v. „starren“, „mit offenen Augen blind“. Der Augenstar galt im Mittelalter als Hautschuppe, die mit einem spitzen Häkchen entfernt werden sollte („stechen“), um die Sehkraft wieder herzustellen. 372,1452 Gouvernante] V. lat., guberno, dt., „lenken“, „steuern“, „leiten“; Bez. für eine Hauslehrerin, Erzieherin o. Hauswirtschafterin. 373,1520 Farà da se!] Ital., „L’Italia farà da se“, dt., „Italien wird es selbst schaffen“. Eine v. Revolutionär Giuseppe Mazzini (1805–1872) verbreitete Devise des ital. Freiheitskampfes während des Risorgimento zw. 1815 u. 1870. Hier i. S. v. „Hilf dir selbst!“ verwendet. 375,1586 Westermarck] Edvard Alexander Westermarck (1862–1939), finn. Ethnologe, Soziologe u. Philosoph. Untersuchungen zu Eheschließung u. Heirat. Westermarck-Effekt: zwei Menschen, die längere Zeit miteinander aufgewachsen sind, empfinden sich später als nicht sexuell attraktiv; evolutionärer Sinn, Vermeidung v. Inzucht zw. Geschwistern. 375,1590 Ehe-Kanon] Gr., κανών, dt., „gerader Stab“, „Richtschnur“, „Norm“, „Vorbild“. Zusammenstellung v. Werken u. Kulturgütern, die unabdingbare Werte für die Ehe verkörpern. 377,1679 Mitglieder von Männerbünden gegen Unsittlichkeit] Kirchl. geprägte Vereine zur Hebung der Sittlichkeit, Förderung „religiös sittl. Lebens“ u. Verbesserung der „Volksgesundheit“.

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378,1707 Nickel] Kleine Geldmünze, 5-Cent-Münze. 378,1728 Björnson in seinem „Handschuh“] Bjørnstjerne Martinius Bjørnson (1832–1910), norweg. Dichter u. Journalist. Verfasste die norweg. Nationalhymne; erster skandinav. Literaturnobelpreisträger (1903). En Hanske (dt., „Ein Handschuh“) (1883) propagiert Enthaltsamkeit v. Männern: Svava erfährt, dass ihr Verlobter bereits sexuelle Erfahrungen mit einer anderen Frau hatte u. darüber empört, da dieses mit ihren sittl. Vorstellungen nicht kompatibel ist, schleudert sie ihm den Handschuh ins Gesicht. Als sie ebenfalls erkennen muss, dass auch ihr Vater ihre Mutter betrogen hat, erkennt sie die doppelte Moral, die v. den Frauen Enthaltsamkeit vor der Ehe verlangt, den Männern sexuelle Freiheit gestattet. I. d. sog. „Handschuhfehde“ kam es in Norwegen darauf zu Auseinandersetzungen zw. dem Dichter, Konservativen u. Bohemiens. V. a. Vertreter der Kirche sahen in den Forderungen nach gleichen Rechten eine Gefährdung der öffentl. Moral. 379,1737 Tahiti] Insel im Süd-Pazifik, gehört geograph. zu den „Îles de la Société“ (dt., „Gesellschaftsinseln) bzw. „Îles du Vent“ (dt., „Inseln über dem Winde“), polit. zu Frz.-Polynesien, seit 1842 unter frz. Protektorat. 379,1766 Coriolan] Gnaeus Marcius Coriolanus (vor 527 v. Chr.–um 488 v. Chr.), röm. Feldherr mit sprichwörtl. Starrsinnigkeit. Protagonist in William Shakespeares The Tragedy of Coriolanus (Ua. 1608). 380,1780 in der Republik Platos] Gemeint ist die Politeia (gr., πολιτεία, dt., „Bürgerrecht“, „Staat“) des gr. Philosophen Platon (428/427 v. Chr.–348/347 v. Chr.). 380,180 Gesangs-Couplets] Frz., „couplet“, v. lat., copula, dt. „Verbindung“, „Verspaar“. Gesangseinlagen in volkstüml. Theaterstücken, welche die Handlung kommentierend unterbrechen, oft in direkter Ansprache des Publikums. 380,1801 Possen] Derb-komische Bühnenstücke. 380,1811 Im Gegensatz zum Dichterworte ist „alles Menschliche ihm fremd] Die Phrase aus der Komödie Heautontimoroumenos (gr., Ἑαυτὸν τιμωρούμενος) (163 v. Chr. ua.) (dt., „Der Selbstquäler“) des röm. Komödiendichters Terenz (Publius Terentius Afer, 195/184 v. Chr.–159/158 v. Chr). Akt 1, Vers 77 lautet: „Homo sum, humani ni[hi]l me alienum puto.“ (dt., „Ich bin ein Mensch, ich denke, mir ist nichts Menschliches fremd.“) Doppelsinnige Antwort der Hauptfigur auf die Frage, ob sie überhaupt Zeit habe, sich um die Angelegenheiten anderer zu kümmern. 380,1814 „Leben ist ein Kampf …“] Prägnantes kurzes Gedicht v. Henrik Ibsen (1828–1906). Erste norweg. Fassung „Et vers“ (dt., „Ein Vers“) in llustreret Tidende, 1877/78, Nr. 969. Erste dt. Fassung in Deutsche Rundschau, November 1886, 219, im Wortlaut: „Leben, das heißt bekriegen / In Herz und Hirn die Gewalten; / Und dichten; über sich selber / Den Gerichtstag halten.“ I. d. deutschen Ausgabe der Gedichte lautet es: „Leben heißt – dunkler Gewalten / Spuk bekämpfen in sich. / Dichten – Gerichtstag halten / Über sein eignes Ich.“

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381,1820 Wandarabesken] I. d. islam. Kunst Ornamente aus ineinander verschlungenen stilisierten Pflanzenranken u. Schriftzeichen zur Vermeidung v. Bilddarstellungen (Sure 59, V. 24). 381,1822 Kerbthier-Auge] K.: Lat., inseco, dt., „einschneiden“, „Kerben machen“. Auch: Insekt. K.-A.: Sog. Facettenaugen, die aus mehreren zehntausend Ommatidien (Einzelaugen) bestehen. 381,1832 „Entweder-Oder“] Werk v. Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855). In Ibsens Drama Brand (1866) fordert der Protagonist, der junge Pfarrer Brand, eine Entscheidung zw. Lebensfreude u. Askese. Für Hans Frederik Helveg (1816–1901), auf dessen Ausführungen sich N. hier bezieht, ist Brand die dramat. Umsetzung v. Kierkegaards Entweder-Oder. 382,1894 Dr. Wilhelm Griesinger] Wilhelm Griesinger (1817–1868), dt. Internist u. Psychiater, Begr. der modernen Psychiatrie, führt Geisteskrankheiten konsequent auf (hirn-) physiolog. Prozesse zurück. Werke u. a.: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (1845); Infectionskrankheiten. (Virchow’s Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie.) (1857). Zur Kenntnis der heutigen Psychiatrie in Deutschland. Eine Streitschrift gegen die Broschüre des Sanitätsrats Dr. Laehr in Zehlendorf: „Fortschritt? – Rückschritt!“ (1868); Gesammelte Abhandlungen (2 Bde., 1872). 382,1895 Dr. Willibald Levinstein-Schleger] (Lebensdaten unbek.), dt., Psychiater. Publ. u. a.: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten fü r Aerzte und Studirende (1892). 383,1910 Distrikt] Spätlat., districtus, dt., „Umgebung der Stadt“, „Territorium“. 387,2097 „Phraseomanie“] Der Begriff der „Paraphrasia vesana“, (gr., παράφρασις, dt., „erweiternde Umschreibung“ u. lat., vesanus, dt., „wahnsinnig“, „überspannt“, „wild“) wird ausgeführt in: Adolf Kußmaul (1822–1902) Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache (1885). – Kußmaul: Dt. Internist, Toxikologe, Psychiater u. Gerichtsmediziner. Bekannter Feuilletonist des „Biedermeier“ (zusammen mit Ludwig Eichrodt ab 1855 Publ. der humorist. Gedichte des schwäbischen Schulmeisters Gottlieb Biedermaier und seines Freundes Horatius Treuherz i. d. Fliegenden Blättern). 1857 Professor in Heidelberg, 1859 in Erlangen, 1863 in Freiburg u. ab 1876 in Straßburg. 388,2123 „Banausen“] Gr., βάναυσος, dt., „Ofenheizer“, „gewöhnl. Handwerker“. Bez. für unkultivierte Menschen, die Theater, Kunst o. Literatur keinerlei Wertschätzung entgegenbringen. Hier v. N. in Anführungszeichen gesetzt, um anzudeuten, dass diese Bez. v. Ibsens Anhängern auf dessen Gegner nur angewendet wird, um den „Blödsinn“ der Ibsenschen Produktion zu verschleiern. 388,2125 „Le Homard“] (1874), (dt., „Der Hummer“). Werk des Komödiendichters u. Librettisten Pierre Edmond Julien Gondinets (1828–1888). 388,2132 Galan] Span., el galán, dt., „Liebhaber“, „Verehrer“. Galanter Höfling, in Vertretung des Hausherrn Begleiter der Dame des Hauses zu gesellschaftl. Anlässen. Hier spött. gebraucht.

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389,2163 „Kaiser und Galiläer“] Norweg., Kejser og Galilæer (1873). Theaterstück v. Henrik Ibsen (1828–1906). 389,2188 Meynert] Theodor Hermann Meynerth (1833–1892), dt. Psychiater u. Hirnpathologe (Neuroanatom). 1866 Sekundararzt u. Prorektor an der niederösterreich. Landesirrenanstalt. Ab 1873 Professor für Psychiatrie an der Universität Wien. Nachweis der unterschiedl. Hirnrindenregionen. Werke u. a.: Der Bau der Gross-Hirnrinde und seine örtliche Verschiedenheiten, nebst einem pathologisch-anatomischen Corollarium (1868); Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung (1884); Klinische Vorlesungen über Psychiatrie auf wissenschaftlichen Grundlagen für Studirende und Aerzte, Juristen und Psychologen (1890). 390,2195 Paranoia] Gr., παράνοια, dt., „Verrücktheit“, „Wahnsinn“, „Unverstand“. Psych. Erkrankung mit unterschiedl. ausgeprägten Wahnvorstellungen u. Halluzinationen bei unverminderter Intelligenz u. Gedächtnisleistung. Heutige Bez. „paranoide Schizophrenie“. 390,2196 Tanzi] Eugenio Tanzi (1856–1934), einflussreicher ital. Psychiater u. Neurologe, Verfechter einer strikten Verwendung naturwissenschaftl. Methoden i. d. Psychiatrie. Publikationen u. a.: Paranoia (1884) (dt., „Paranoia“), mit Gaetano Riva (1845–1931); Pazzi morali e delinquenti nati (1885) (dt., „Moral. Irre u. geborene Verbrecher“); I neologismi degli alienati in rapporto col delirio cronico (1889–1890) (dt., „Die Neologismen der Geisteskranken in Verbindung mit dem chron. Delirium“). 390,2216 „Alles verrunjeniren“] Auch „verruinieren“ u. „verrungeniren“. Dialektaler Ausdruck bzw. Idiom der Studentensprache für „um Hab u. Gut bringen“, „zerstören“. N. spielt hier auf das Studentenlied „Verrungenirt muss alles sein“ an, erstmals belegt in David Kalischs (1820–1872) Posse Berlin, wie es weint und lacht (1858). 390,2219 „An meinen Freund den Umsturzredner“] Norweg., „Til min ven revolutions-taleren“, Gedicht v. Henrik Ibsen (1828–1906), zuerst in Digte (1879) (dt., „Lyrik“). Wortlaut: „Sie sprechen als ‚konservativ‘ mich an? / Ich bin, was ich war, seit ich denken kann. / Beim Brettspiel weiß ich nicht mitzukrakehlen. / Macht tabula rasa! Da werd’ ich nicht fehlen, / Ich nehme nur Eine Revolution wahr, / Die keines Pfuschers Exekution war. / Die nahm vorweg allen spätern die Glorie. / Ich meine natürlich die Sintfluthistorie. / Doch damals sogar ward der Teufel betrogen; / Denn Noah, Sie wissen, blieb Herr der Wogen. / Wir wollen die Rechnung noch einmal bereinigen; / Doch da müssen Männer und Redner sich einigen. / Ihr sprudelt aus unversieglichem Bronne. / Ich lege den Torpedo unter die Arche – mit Wonne.“ Hier in: Henrik Ibsens sämtliche Werke in deutscher Sprache, 10 Bde., Berlin 1898–1904, Bd. 1, 110, hier unter dem Titel „An meinen Freund, den revolutionären Redner“. 390,2225 Kornak Brandes] Singhales., -portug., -frz., „Kornak“, dt., „ind. Elefantenführer“. Hier spött. i. S. v. Leithammel.

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391,2242 „Wer verbürgt mir …“] „Weder die Moralbegriffe noch die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor sich. Wie vielem gegenüber haben wir im Grunde die Verpflichtung, es zu konservieren? Wer bürgt mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf sind auf dem Jupiter oben?“ Ibsen in einem Brief an Georg Brandes am 17. Februar 1871. Hier in: Briefe von Henrik Ibsen. Hg. m. Einleitung u. Anm. v. Julius Elias u. Halvdan Koht. Berlin 1905, 160. 391,2245 „Sie haben mich lange gehindert, ich selbst zu werden.“] Vmtl. verkürzte Zitation N.s: „Sie sagen, Sie haben keine Freunde daheim. Das habe ich mir schon lange gedacht. Wenn man in einem innerlichen und persönlichen Verhältnis zu seinem Lebenswerk steht, so kann man eigentlich nicht verlangen, seine ‚Freunde’ zu behalten. Freunde sind ein kostbarer Luxus, und wenn man sein Kapital auf eine Berufung und eine Mission hier im Leben setzt, so hat man nicht die Mittel, Freunde zu halten. […] Dadurch verkrüppeln viele geistige Keime in einem. Ich habe es durchgemacht, und deshalb habe ich eine Reihe von Jahren hinter mir, in denen ich es nicht erreichte, ich selbst zu werden.“ Ibsen in einem Brief an Georg Brandes v. 6. März 1870. Hier in: Briefe von Henrik Ibsen. Hg. m. Einleitung u. Anm. v. Julius Elias u. Halvdan Koht. Berlin 1905, 134. 391,2268 J. Cotard] Jules Cotard (1840–1889), frz. Mediziner, Urheber des Begriffs „délire de Cotard“ bzw. „delire des negations“ (dt., „Cotard-Wahn“ o. „Verneinungswahn“). Publikation Du delire des negations (1882) (dt., „Über den Verneinungswahn“). 391,2272 F. Raymond] Fulgence Raymond (1844–1910), frz. Neurologe. Nachfolger v. Jean-Martin Charcot (1825–1893) am Hôpital de la Salpêtrière. Werke: Anatomie pathologique du systéme nerveux (1886) (dt., „Pathologische Anatomie der Pathologie des Nervensystems“). Maladies du système nerveux. Atrophies musculaires etc. (2 Bde., 1889–1894) (dt., „Krankheiten des Nervensystems. Muskuläre Atrophien etc.“). 391,2272 F. L. Arnaud] François-Léon Arnaud (auch Léon-F. Arnaud) (1858– 1927), frz. Psychiater. Werke u. a.: Recherches cliniques sur la paralysie générale chez l’homme (1888) (dt., „Klin. Erforschungen über die allgemeine Lähmung beim Menschen“). 392,2315 R. Laschi] Rodolfo Laschi (Lebensdaten unbek.), zus. mit Cesare Lombroso (1835–1909) u. Abel Bouchard (1832–1893) Hg. v. Le crime politique et les ré volutions par rapport au droit, à l’anthropologie criminelle et à la science du gouvernement (1892) (dt., „Das polit. Verbrechen u. die Revolutionen in Bezug auf das Recht, die Kriminal-Anthropologie u. die Regierungslehre“). 393,2333 kapabel] Lat., capax, dt., „geräumig“, „fähig“, „taugl.“. Veraltet für „kompetent“, „imstande“. 393,2340 „taedium vitae“] Lat., dt., „Lebensüberdruss“, „Lebensabscheu“. V. dem röm. stoischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca, gen. Seneca der Jüngere (um 1–65 n. Chr.) geprägter Begriff. I. d. Psychiatrie u. Psychoanalyse Symptom v. Depression bzw. „Melancholie“.

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394,2375 eine These und ihre Antithese im Hegelschen Sinne] Hegels Dialektik führt v. These u. Antithese zur Synthese. Bei Hegel ist Dialektik die eigengesetzliche Entwicklung der Vernunft. Unter Anknüpfung an die neuplaton. Dialektik verlebendigt er den Fichteschen (vgl. → 250, 163 u. → 250, 164) Dreischritt v. „Satz“ (gr., θέσις) „Gegensatz“ (gr., ἀντίθεσις) u. „Vereinigung“ (gr., σύνθεσις) zu „einer“ geistigen Bewegung, mit der die „Erkenntnis des Gegensätzlichen in seiner Einheit“ zustande kommt. 397,2499 Tarantella] Aus Süditalien stammender schneller Volkstanz (3/8- o. 6/8-Takt). 397,2518 Kaleidoskop] Gr., καλός, dt., „schön“, „gut“; gr., εἶδος, dt., „Aussehen“, „Gestalt“; gr., σκοπός, dt., „jmd, der genau hinschaut“, „Aufseher“, „Späher“. Rohr, an dessen einem Ende sich zw. zwei Glasplättchen farbige Glasstückchen befinden, u. an dessen anderem Ende ein Sichtfenster angebracht ist. Durch mehrere Spiegel im Inneren des Rohres konfigurieren sich die entstehenden bunten, symmetr. Muster beim Drehen jeweils neu. 398,2531 Nach der bekannten Anweisung zur Herstellung von Kanonen] Soldatenwitz. Ein Soldat, n. der Herstellung v. Kanonen gefragt, antwortet: „Man nimmt ein Loch u. gießt drumherum Metall.“ 398,2543 Der alte Huber] François Huber (1750–1831), Schweizer Biologe, erforscht die Lebensverhältnisse der Bienen; daher auch „Huber des abeilles“ (dt., „Bienen-Huber“). 398,2543 Sir John Lubbock] 1. Baron of Avebury (1834–1913), engl. Anthropologe. Auf ihn gehen die Begriffe des Paläolithikums (Altsteinzeit, Beginn vor etwa 2,4 Millionen Jahren) u. des Neolithikums (Neusteinzeit, Beginn etwa 10.000 v. Chr.) zurück. Publikationen u. a.: The origin of civilization and the primitive condition of man (1870) (dt., „Die Entstehung der Civilisation u. der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere u. äußere Leben der Wilden“). 398,2560 Bänkelsängerin] Vagabundierende Person, die, exponiert auf einem „Bänkel“, einer kleinen Bank, stehend, „Moritaten“ (schauerl. o. rührselige Geschichten mit belehrender Moral) in musikal.-dramat. Form vorträgt. 399,2577 Hemdelatz] Auch Hemdenmatz. Nur mit einem Hemdchen bekleidetes kleines Kind i. S. v. „Dreikäsehoch“. Hier Bez. zur Charakterisierung geistig beschränkter Fähigkeiten. 400,2613 Henrik Jaeger] (1854–1895), norweg. Literaturhistoriker u. Literaturkritiker. Ibsens Biograph: Henrik Ibsen 1828–1888: et literært livsbillede, 1888 (dt., „Henrik Ibsen. 1828–1888. Ein litterarisches Lebensbild“). Jaeger bez. Ibsens Werke im dän. Original als „enhed“ (dt., „Einheit“). 400,2628 Simon den Magier] Auch Simon von Samarien o. Simon von Gitta. Simon Magus (unbek.–65) gilt als erster Häretiker der Kirche, weil er die Autorität der Apostel Paulus u. Petrus infrage stellte. V. seinen Anhängern als Gott in menschl. Gestalt verehrt. Hier Bezug auf George Robert Stow Mead, Simon Magus, 1892. Namensgebend für Simonie: Kauf v. Ämtern.

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400,2629 Apsethus] Nachdem die Irreführung ruchbar wird u. Apsethus als Betrüger entlarvt ist, wird er v. seinen Anhängern ermordet, vgl. Origenes (185–um 254) (Refutationis omnium haeresium, dt., „Widerlegung aller Häresie“, VI, 19–20). 400,2646 Anmerkung 35] Die mit Ausrufezeichen versehenen Wörter lauten frz. „idées“ u. „progrès.“ 400,2654 G. R. Mead] George Robert Stow Mead (1863–1933), engl. Autor, Übersetzer u. Theosoph, Gründer der Quest Society (dt., „Die suchende Gesellschaft”). 401,2655 Korybanten] I. d. gr. Mythologie Priester, die ihre Verzückung mit Tänzen u. lärmender Musik ausdrücken. Hier i. S. v. fanat. Unterstützer. 401,2685 Ruffiane] Ital., ruffiano, dt., „Zuhälter“, „Kuppler“. 402,2732 W. Roux] Wilhelm Roux (1850–1924), dt. Embryologe u. Anatom, einer der Begr. der experimentellen Biologie. N. spielt hier auf die Übertragung des Darwinschen „Kampfs ums Dasein“ auf die inneren Beziehungen des Organismus an: Über den Kampf der Theile des Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre (1881). 403,2763 Unterleibstyphus] Wiss., Typhus abdominalis, gr., τῦφος, dt., „Schwindel“, „Dunst“, „Nebel“ u. lat., abdomen, dt., „Unterleib“, „Bauch“; auch „Nervenfieber“ genannt. Durch Bakterien ausgelöste Infektionskrankheit (Fieber u. Bauchschmerzen), die auch das Nervensystem angreift. 403,2775 Cäsaren-Wahnsinn] Form des Größenwahns, abgel. v. oft irrationalen, paranoiden Verhalten einiger röm. Kaiser, bez. aber keine Krankheit im mediz. Sinne. Begriff bei Paul Jacoby (1841–unbek.), La folie des césars (1880). 403,2778 Jacoby] Paul Jacoby (1842-unbek.), frz. Mediziner. Werke u. a.: Etudes sur la sélection dans ses rapports avec l’hérédité chez l’homme (dt., „Studien über die Selektion mit ihren Bezügen zur Vererbung beim Menschen“) (1881) u. Études sur la sélection chez l’homme (dt., „Studien über die Selektion beim Menschen“) (1904). 404,2786 Unter-Ichs] Alfred Binets (1857–1911) Les altérations de la personnalité (1892) (dt., „Die Veränderungen der Persönlichkeit“) beschreibt Bewusstseinspluralitäten, fiktive Persönlichkeiten, Unterbewusstsein u. Suggestion. Die verschiedenen Ausformungen des Bewusstseins bzw. des Unterbewusstseins einer Person entsprechen dabei den Unter-Ichs. 404,2798 „sacrifizio dell’ intelletto“] Ital., dt., „Opfer des Verstandes“. Unterwerfung unter eine höhere (z. B. kirchl.) Instanz gegen die eigene Vernunft. 404,2809 Bourru / Burot] Henri Bourru (1840–1914) u. Prosper Ferdinand Burot (1849–1921), frz. Mediziner, an der Salpêtrière geschult. Experimentierten mit den therapeut. Einflüssen auf hynoide Zustände, unter denen sich der genannte Louis Vivet als mehrfach fragmentierte (multiple) Persönlichkeit erwies. B. u. B. dokumentierten ihre Beobachtungen auch photographisch. Publ. in: Les Variations de la personnalité (1888) (dt., „Die Variationen der Persönlichkeit“).

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405,2841 Joseph / Putiphar] Josef wird v. seinen Brüdern aus Eifersucht als Leibeigener an vorbeiziehende Händler verkauft, die ihn als Sklaven an den ägypt. Beamten Potiphar weitergeben. Dessen Ehefrau versucht Josef zu verführen u. beschuldigt ihn n. dessen Zurückweisung der versuchten Vergewaltigung, worauf Josef ins Gefängnis gesperrt wird (vgl. 1. Mose 39). Hier zur Illustration des triebhaften Charakters der Frauenfiguren bei Ibsen. 405,2857 „Weiber der Gosse“ Dumas des Jüngeren] Alexandre Dumas der Jüngere (1824–1895), frz. Schriftsteller u. Dramatiker. Frauenfiguren wie die Kurtisane Marguerite Gautier in La dame aux camélias (1848) (dt., „Die Kameliendame“) u. andere Frauenfiguren aus der Pariser Halbwelt in Diane de Lys (1854) (dt., „Diane de Lys“) u. Le demi-monde (1855) (dt., „Halbwelt“). 405,2859 Ph. Boileau de Castelnau] Philippe Joseph Boileau de Castelnau (1798–1874), frz. Psychiater, Gefängnisarzt in Nimes. Weitere Publikation: Du système pénitentiaire: plan d’un système rationnnel de prévention du crime et d’amendement du coupable (1845) (dt., „Über das Strafvollzugssystem: Plan eines zweckmäßigen Systems für die Verbrechensprävention u. die Besserung der Verbrecher“). 406,2863 Ferrero] Guglielmo Ferrero (1871–1942), ital. Romanschriftsteller, Historiker u. Soziologe. Einschlägige Publikation mit Cesare Lombroso La donna delinquente, la prostituta e la donna normale (1893) (dt., „Die kriminelle Frau, die Prostituierte u. die normale Frau“). Ferner: Grandezza e decadenza di Roma (5 Bde., 1902–1907) (dt., „Größe u. Niedergang Roms“). 406,2868 Strindberg] Johan August Strindberg (1849–1912), bedeutender schwed. Schriftsteller, v. a. Dramatiker mit großem Einfluss auf die europ. Literatur. Initiator des schwed. Naturalismus u. Wegbereiter des Expressionismus. Zunächst beeinflusst durch Émile Zola (1840–1912). Werke u. a. Utopier i verkligheten, 1885, (dt., „Die Utopie i. d. Wirklichkeit“), Fadren (1887) (dt., „Der Vater“), Fröken Julie (1888) (dt., „Fräulein Julie“) u. Fordringsägare (1888) (dt., „Gläubiger“). Ferner stark autobiograph. geprägte Romane u. a. Inferno (1897) (dt., „Inferno“). Später Zuwendung zum Träumerisch-Myst. in Ett drömspel (1902) (dt., „Ein Traumspiel“). Radikal gesellschaftskrit. Artikel i. d. sogen. Strindbergfejden (1910) (dt., „Strindbergfehde“). 406,2871 „Der Vater“] Norweg., Fadren (1887), Drama v. Johan August Strindberg (1849–1912). 406,2871 „Gräfin Julie“] Norweg., Fröken Julie (1889), Drama v. Johan August Strindberg (1849–1912), (dt., „Fräulein Julie“). 406,2871 „Gläubiger“] Norweg., Kreditorer (1889), Drama v. Johan August Strindberg (1849–1912). 406,2882 Sacher-Masoch] Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836–1895), österreich. Schriftsteller erot. o. pornograph. Themen. Namensgeber des sog. Masochismus, der sexuellen Vorliebe, bei der ein Mensch Lust o. Befriedigung erlebt, wenn ihm Schmerz zugefügt o. wenn er gedemütigt wird.

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406,2905 Dimitry Stefanowsky] Dimitri von Stefanowsky (eigtl. Dmitrij Nikolaevič Stefanovskij) (Lebensdaten unbek.), russ. Staatsanwaltssubstitut u. Professor für Strafrecht in Jaroslawl.

V. Friedrich Nietzsche. 409,28 Tobsüchtigen] Tobsucht, veraltet für eine extreme Form der Manie (auch „maniakal. Zustand“, wiss., Furor maniacus o. Delirium furibundum sive furiosum); starke Erregungszustände, Wahnvorstellungen mit Kontrollverlust. 410,42 „Um wie viel] In: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887). Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 3. 410,55 „Es ist schwer] In: Jenseits von Gut und Böse (1886). Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 27. 410,56/57 gangasrotogati / kurmagati / mandeigagati:] Nietzsche notiert als Bedeutung des altind. (sanskrit.) Wortes: „wie der Strom des Ganges dahinfließend‘ = presto“. Die Bez. „gangasrotogati“ bringt er so in Gegensatz zu „kurmagati“‚ von der Gangart der Schildkröte‘ = lento“, der langsamen Bewegung, u. kontrastiert langsame u. schnelle Fortbewegung nochmals mit der hüpfenden Fortbewegungsweise des Frosches, „mandeikagati“ (Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885–Herbst 1887). 410,63 „Alles, was tief ist] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 40. 410,77 Kaziken] Aus der karib. Taíno-Sprache stammende Bez. für indigene Häuptlinge bei Indianern in Mittel- u. Südamerika u. Titel u. Träger des Titels eines indian. Ortsvorstehers. Span., „el cacique“, dt., „Häuptling“, „Ortsgewaltiger“, „Dorftyrann“, „Bonze“. 410,83 „Es war aber gerade da] In: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883–1885). Dritter Teil: Vom Gesicht und Räthsel, 2. 411,95 „Die Welt ist tief] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil. Das trunkne Lied, 6–11. 411,125 „Was heißt Leben?] In: Die fröhliche Wissenschaft (1882, 1887 erweitert u. mit dem Untertitel „la gaya scienza“ versehen, bei N. zit. als „zweite Auflage“), Erstes Buch, 26: Was heißt Leben?. 412,134 „Es ist eine Feinheit] In: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, 121. 412,136 „Rath als Räthsel] In: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, 140. 412,144 Leberreime] Seit dem 17. Jh. Form improvisierter deutschspr. Scherzgedichte, Trinksprüche. Erste Zeile „Die Leber stammt v. einem Hecht u. nicht v. einem … [Einfügung eines anderen Tiernamens]“. I. d. zweiten Zeile steht die gereimte Pointe. Bsp.: Die Leber stammt v. einem Hecht, v. Hai stammt sie mitnich-

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ten, / ich könnte auf den ganzen Fisch – nie auf den Wein verzichten. Hier i. S. v. „sinnlose Wortspielerei“. 412,151 „Aphorismen“] Gr., ἀφορισμός, dt., „Abgrenzung“, „Bestimmung“. Prägnante, rhetor. zugespitzte Texte aus einem Satz o. Wortspiel mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. 412,157 Dr. Hugo Kaatz] (Lebensdaten unbek.), Übersetzer der Werke des frz. Schriftstellers Honoré de Balzac (1799–1850). 412,169 „Ich ärgere] In: Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, 93. 413,175 Zerbst] Max Zerbst (1863–1939), dt. Schriftsteller u. Literaturwissenschaftler. Ordnet 1894 vorübergehend Nietzsches handschriftl. Nachlass. 413,175 Schellwien] Robert Schellwien (1821–1901), dt. Dichter, Jurist u. Philosoph; entwickelt in Gegnerschaft zum Darwinismus eine idealist. Philosophie. Werke u. a.: Kritik des Materialismus (1858); Sein und Bewusstsein: Grundgedanken der Philosophie, entwickelt im Hinblick auf die Geschichte des Geistes (1863). 413,187 orthodoxe] Orthodoxie (gr., ὀρθοδοξία aus ὀρθός, dt., „aufrecht“, „recht“, „richtig“, u. gr., δόξα, dt., „Meinung“, „Erwartung“), auch „Rechtgläubigkeit“ genannt, bez. das starre Festhalten an der urspr. Auslegung einer Lehre. 413,192 „Uebermenschen“] Im Sinne Nietzsches jemand, dessen geistige Fähigkeiten höher entwickelt sind als die anderer Menschen u. dessen Wille zur Macht u. Lebenskraft ausgeprägter ist. Ü. zeichnen sich durch radikale Lebensbejahung, Überwindung des Nihilismus u. Schaffung neuer Werte aus (Theorie des Ü. systemat. behandelt in Also sprach Zarathustra). 413,195 „vergoldet, vergöttlicht] In: Zur Genealogie der Moral. Vorrede, 5. 413,197 „ist die große] In: Zur Genealogie der Moral. Vorrede, 5. 413,199 „Wir haben eine] In: Zur Genealogie der Moral. Vorrede, 6. 413,205 Narcoticum] Gr., ναρκωτικός, dt., „erstarrend machend“, „betäubend“. Bez. für Betäubungsmittel, z. B. Morphium. 413,214 Max Stirner] Pseudonym für Johann Caspar Schmidt (1806–1856), dt. Pädagoge, Philosoph u. Journalist. Seine das Eigenrecht des Individuums betonende Philosophie trägt ihm den Vorwurf des Anarchismus u. Nihilismus ein. Werke u. a. Der Einzige und sein Eigentum (1844) u. Geschichte der Reaction (1852). 414,216 „ein Raubthier] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 11. 414,217 „losgelassenen Raubthiere] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 11. 414,224 „Ein Rudel blonder Raubthiere] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 17. 414,237 „der Feige, der Aengstliche] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 260. 414,243 „Das lateinische] In: Zur Genealogie der Moral (1887). Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 5. – bonus: Lat., dt., „gut“, auch „tapfer“, „mutig“, „geeignet“, „der herrschenden Staatsform zugetan“, „ehrenhaft“.

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414,245 bellum] V. Nietzsche entwickelte etymolog. Herleitung, deren Gültigkeit infrage steht. Der dän. Schriftsteller u. Philosoph Georg (Morris Cohen) Brandes (1842–1927) bestätigt allerdings deren Richtigkeit (Brief v. 23. Mai 1888) (vgl. Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Nachbericht zur dritten Abteilung, Bd. 3. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 2004, 324). 414,250 „Der Blick des Sklaven] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 260. 415,264 Selbaufopferung] Alte Form v. „Selbstaufopferung“. 415,266 „Sklaven-Aufstand in der Moral] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 10. 415,266 „Die Juden] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 195. 415,274 „Hat Israel nicht gerade] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 8. 415,282 Raffinement] Frz., dt., „Verfeinerung“, „Ausgefeiltheit“. Durch geschicktes Kalkül u. intellektuelle Fähigkeiten geprägtes Bemühen, Perfektion zu erreichen. 415,287 sub hoc signo] Lat., dt., „unter diesem Zeichen“ o. „mit diesem Zeichen“. 416,305 „An sich kann] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 11. 416,307 essentiell] Lat., essentialiter, dt., „wesentl.“. Im Gegensatz zum Zufälligen dasjenige, was notwendig zur Definition eines Dings o. Begriffs gehört bzw. ein Merkmal, welches das Wesen einer Sache bestimmt. 416,321 „Alle Instinkte] In: Zur Genealogie der Moral (1887). Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 16. 416,322 Bollwerke] Mhd., „bolwerc“, dt., „Bohlengerüst“. Ein B. besteht aus einer Reihe in die Erde eingerammter Pfähle, die z. B. eine Siedlung v. Angriffen schützen soll. Hier in metaphor. Verwendung. 416,305 „An sich kann] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 11. 416,311 „Man schwärmt] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 259. 416,335 „Engerling] Ahd., „engiring“, mhd., „enger(l)inc“, dt., „Made“. Weißlichgelbe, augenlose, als Pflanzenschädling auftretende Larve, die mehrere Jahre i. d. Erde lebt u. sich u. a. v. Baumwurzeln ernährt. 416,339 oxydiren] Gr., ὀξύς, dt., „scharf“, „bitter“, „schnell“, „heftig“. Oxidation, chem. Reaktion, bei der der oxidierende Stoff Elektronen abgibt. Ein anderer Stoff nimmt die Elektronen auf u. wird dadurch reduziert. V. frz. Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) 1773 geprägter Begriff. 417,353 „Jener Wille] In: Zur Genealogie der Moral (1887). Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 22.

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417,357 „Wir sind die Erben] In: Zur Genealogie der Moral (1887). Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 24. 417,361 „asketischen Ideal“] Askese, gr., ἄσκησις‚ dt., „Übung“. Aus religiösen o. philosoph. Motiven gespeistes Streben n. größtmögl. Selbstdisziplin, v. a. in Bezug auf Gedanken- u. Triebkontrolle. – I.: gr., ἰδέα, dt., „Gestalt“, „Wesen“, „Urbild“, „Idee“. Sinnbild der Vollkommenheit o. Leitbild. – N. bezieht sich auf Zur Genealogie der Moral (1887), Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale? Nietzsche benennt darin den Grund für die Bedeutung des asket. Ideals im horror vacui des menschl. Willens, „[…] er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen“ (Abschnitt 1), u. definiert: „das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil- Instinkte eines degenerirenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft“ (Abschnitt 13). 417,367 „Die Gesammt-Entartung] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 203. 417,374 „Das Wohl der Meisten] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 17. 417,376 Naivetät] Veraltet für „Naivität“; lat., nativus, dt., „angeboren“, „natürl.“, „ursprüngl.“. Unverstelltes Auftreten u. Denken, im Gegensatz zu reflektiertem od. v. Zweifeln geprägtem Verhalten. 417,377 „Gegenüber der alten] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 16. 417,380 „Wie ein letzter] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut u. Schlecht“, 16. 418,390 Assassinen] Arab., „Hashishiyun“, dt., „dem Haschisch Frönende“. Schiit. Sekte in Persien u. Syrien, gegr. im 11. Jh. V. ihrem gewalttätigen Verhalten leitet sich die Bez. „Assassine“ für „Auftragsmörder“ ab. Den A. wird zugeschrieben, n. den Attentaten Haschisch konsumiert zu haben. 418,390 „Nichts ist wahr] In: Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, 24. 418,391 „So finden wir] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 2. 418,395 Dithyrambisch] Gr., διθύραμβος. Dithyrambus, Gattung der antiken gr. Chorlyrik, Hymnos zu Ehren des Gottes Dionysos, Wechselgesang zw. Chor u. Vorsinger. Der Begriff i. S. v. „leidenschaftl. erregt“, „stürmisch“ u. „ekstatisch“ leitet sich v. der wild begeisterten Vortragsweise dieser Hymnen ab. (Nietzsche verfasst kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch 1889 die „Dionysos-Dithyramben“). 418,396 „Der Mensch] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Der Genesende, 2. 418,411 Kjökkenmöddinge] Dän., „køkkenmødding“, dt., „Küchenabfälle“. Erhebungen an den dän. Ostseeküsten, v. a. am Kattegat, die man früher für vom Meer zurückgelassene Muschelbänke hielt, bis der dän. Naturforscher Johann Ja-

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petus Smith Steenstrup (1813–1897) darin Speisereste eines steinzeitl. Volkes erkannte. 418,412 quaternären] Lat., quarta, dt., „der vierte Teil“, „Viertel“. Quartär, jüngster Zeitabschnitt der Erdgeschichte einschließl. der aktuellen Zeit; beginnt vor 2,5 Millionen Jahren. 418,412 Steenstrup] Johann Japetus Smith Steenstrup (1813–1897), dän. Zoologe u. Naturforscher. Wichtige Erkenntnisse über die Prähistorie u. die Fortpflanzung der Tiere. Werke u. a.: Om Fortplantning og Udvikling gjennem vexlende Generationsraekker, en saeregen Form for Opfostringen i de lavere Dyrklasser (1842) (dt., „Über den Generationswechsel o. die Fortpflanzung u. Entwicklung durch abwechselnde Generationen, eine eigentüml. Form der Brutpflege in den niederen Tierklassen“); Undersö gelser over hermaphroditismens tilværelse i naturen (1845) (dt., „Untersuchungen über das Vorkommen des Hermaphroditismus i. d. Natur: ein naturhistor. Versuch“). 418,415 Solutré ] Solutré-Pouilly, archäolog. Fundort (1864) i. d. Nähe des frz. Ortes Mâcon. Namensgebend für die westeurop. archäolog. Kultur des Jungpaläolithikums, das Solutréen (22.000 v. Chr.–18.000 v. Chr.). 418,423 Orang-Utan und Gibbon] Der O. (Pongo pygmaeus bzw. Pongo abelii) gehört zu den großen, der G. (Weißhandgibbon, Hylobates lar) zu den kleinen Menschenaffen (Hominidae). Der O. weist eine eher lose Sozialstruktur auf, G.s leben in einer Art Kleinfamilie. 419,442 Brahmanen] Sanskrit, Pl. Im ind. Kastensystem Angehörige der obersten Kaste (Varna). Aus ihr stammen v. a. die Priester. „Brahmanismus“: Zu N.s Zeiten geläufige Bez. für Religionsangehörige des Hinduismus. 419,442 Ariya] Arier. Sanksrit. Zentralasiat., nomad. Hirtenvolk, dessen Existenz i. d. Avesta u. den Veden, den heiligen Schriften der Hinduisten, belegt ist. Auch sprachwissenschaftl. Begriff für die Gesamtheit der indogerman. Sprachen. Hier zur Selbstbez. der oberen drei ind. Kasten. 419,443 „Dhammapada“] V. a. im südl. Buddhismus verbreitete Sammlung v. Aussprüchen des Buddha („Pfad des Dharma“) in 423 Versen, Grundlage der buddhist. Lehre. 419,451 Fo-sho-hing-tsan-king] Lebensbeschreibung des Buddha v. Asvaghosha Bodhisattva (um 80–um 150 n. Chr.). 420 n. Chr. v. Sanskrit ins Chinesische übersetzt. 1886 v. Samuel Beal (1825–1889) ins Englische übersetzt. S. → 419, 464. 419,455 Und diese Anschauung] Um 1500 v. Chr. fallen die Eroberer des zentralasiat. Urvolks der Arier in Indien ein („Vedische Zeit“), verbreiten die ved. Kultur u. Religion, installierten das bis heute maßgebl. Kastensystem, in dem sich die höchsten Kasten aus den Eroberern u. die niederen aus ind. Ureinwohnern rekrutieren. 419,460 Brehm] Alfred Edmund Brehm (1829–1884), dt. Zoologe u. Schriftsteller. Werke u. a.: Illustrirtes Thierleben (1864–1869); Die Thiere des Waldes (2 Bde., 1863–1867). N. zitiert hier aus Brehms Tierleben, Bd. 1, 3. Auflage (1890–1893).

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419,462 F. Max Müller] Friedrich Max Müller (1823–1900), dt. Sprach- u. Religionswissenschaftler. Werke u. a.: Lectures on the science of language (1861–64) (dt., „Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache“); Introduction to the science of Religion (1873) (dt., „Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft“); Natural Religion (1889) (dt., „Natürl. Religion“); Physical Religion (1891) (dt., „Physische Religion“); Anthropological Religion (1892) (dt., „Anthropolog. Religion“). Unter M.s Leitung erscheinen die Sacred Books of the East (1879–1910) (dt., „Die heiligen Bücher des Ostens“), 50 Bd. einer Reihe v. engl. Übersetzungen asiat. Heiliger Bücher. 419,464 V. Fausböll] Michael Viggo Fausböll (1821–1908), dän. Pali-Forscher. Professor für indische Philologie an der Universität Kopenhagen. F.s 1855 erschienene Version des Dhammapada ist Grundlage der ersten Übersetzung ins Englische. 419,464 S. Beal] Samuel Beal (1825–1889), engl. Theologe; Übersetzer, Sinologe u. Kulturwissenschaftler. Ab 1851 Priester, 1852–1877 Geistlicher in der königl. Marine (Stationierung in China), Marine-Dolmetscher (1856–1858), später Professor für Chinesisch am University College London (1877–1889). Werke u. a.: The Travels of Fah-Hian and Sung-Yun (1869) (dt., „Die Reisen Fah-Hians und Sung-Yuns”; v. B. aus dem Chines. ins Engl. übersetzt); Buddhism in China (1884) (dt., „Buddismus in China“); A Catena of Buddhist Scriptures from the Chinese (1871) (dt., „Eine Reihe buddhistischer Schriften aus dem Chinesischen“); The Romantic Legend of Buddha (1876); sowie die v. N. erwähnte Schrift Texts from the Buddhist Canon, Dhammapada (1878). 419,467 J. Viktor Carus] Julius Viktor Carus (1823–1903), dt. Zoologe, 1853 Professor für vergleichende Anatomie u. Direktor des Zoologischen Instituts an der Universität Leipzig. Carus’ Übersetzung gilt seitdem als Standardwerk. 420,473 Germanen der Wanderzeit] Völkerwanderungen german. Stämme v. 375/376 (Einfall der Hunnen n. Ostmitteleuropa) bis zum Jahr 568 (Einfall der Langobarden in Italien). 420,477 „Wer gewaltthätig] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 17. 420,506 Papirius Carbo] Gnaeus Papirius Carbo (Lebensdaten unbek.), 113 v. Chr. Konsul der röm. Republik, verliert die Schlacht bei Noreia (113 v. Chr.) gegen die Kimbern. 420,507 Kimbrern und Teutonen] K.: lat., Cimbri. German. Volksstamm aus dem nördl. Jütland (Dänemark). – T.: lat., Teutoni o. Teutones. German. Volk der Antike. Die Teutonen wandern um 120 v. Chr. gemeinsam mit den Kimbern aus Jütland aus u. ziehen bis Norditalien. 420,510 Silanus] Marcus Iunius Silanus (Lebensdaten unbek.), röm. Adliger, 109 v. Chr. Konsul, versucht vergebl. den Vormarsch der Teutonen u. Kimbern aufzuhalten. 421,516 „Der echte Gewissensbiß] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 14.

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421,529 philologische] Philologie: gr., φιλολογία‚ dt., „Liebe zum Wort“. Sammelbez. für die Sprach- u. Literaturwissenschaften. Nietzsche wird 1869 (im Alter v. 25 Jahren) zum ao. Professor für klass. Philologie an die Universität Basel berufen. 421,537 alopex – lopex – pex – pix – pux – fechs – fichs – Fuchs] Etymolog. Scherz, der das altgr. Wort „ἀλώπηξ“, dt., „Fuchs“, über verschiedene Zwischenstationen nur scheinbar stringent u. sachl. korrekt herleitet. 422,564 Darleiher] Veraltete Bez. für „Darlehensgeber“. Jemand, der Geld verleiht bzw. jemandem einen Kredit einräumt. 423,623 „Ein Volk …] In: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, 126. 423,624 „Das wesentliche] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 258. 427,782 Pietät] Lat., pietas, dt., „Pflichtgefühl“, „Frömmigkeit“. Veraltete Bez. für „Respekt“, „Ehrfurcht“, v. a. im Hinblick auf Gott“. 429,853 Ipsissimosität] V. Nietzsche geschaffener Neologismus aus dem lat. Reflexivpronomen „ipse“ im Superlativ, um eine extreme Selbstbezogenheit zu bez. 429,873 Puritanismus] Lat., puritas, dt., „Reinheit“, „Unschuld“ u. engl., „to purify“, dt., „reinigen“. Urspr. Spottname für eine Reformbewegung in England u. Schottland, die v. 16. bis 18. Jh. für eine Reformation der Kirche n. calvinist. Grundsätzen eintritt (z. B. für die Prädestinationslehre, die den Menschen v. Natur aus als völlig geächtet ansieht, so dass nur die v. Gott Erwählten gerettet werden können). Im übertragenen Sinne Bez. für einen engstirnigen, heuchl. u. oft asket. Menschen. 430,898 inter pares] Lat., dt., „unter Gleichen“. Vollst. Bez., lat., primus inter pares (dt., „Erster unter Gleichen“). 431,945 Lehre des Kopernikus] Nikolaus Kopernikus (1473–1543), dt. Arzt, Mathematiker u. Astronom. Begr. in De Revolutionibus Orbium Coelestium (1543) (dt., „Über die Umdrehungen der himml. Kreise“) das heliozentr. Weltbild. 432,1017 aus der jetzt einige Anarchisten] N. bez. hier Robert Schellwien (1821–1901) i. d. Nachfolge v. Max Stirner als „Anarchisten“. 434,1070 Wildes „Intentions“] Oscar Fingal O’ Flahertie Wills Wilde (1854– 1900), irischer Schriftsteller u. Dandy. W.s skandalträchtiges Leben u. Werk wird der Dekadenz u. dem Ästhetizismus zugeordnet. N. bezieht sich auf Textstellen in Wildes Intentions (1891), hier aus The Decay of Lying (dt., „Der Verfall der Lüge”), wie: „It simply suggests some methods by which we could revive this lost art of lying“. (dt., „Es weist nur auf Methoden hin, durch die wir die verlorene Kunst des Lügens wiederbeleben können.“). 434,1071 Wildes Aphorismen] 1. Zitat im Original: „There is no sin except stupidity.“ – 2. Zitat im Original: „An idea that is not dangerous is unworthy of being called an idea at all“. 3. Zitat im Original: „When people agree with me I always feel that I must be wrong“. 434,1099 Turennes] Henri de La Tour d’Auvergne, Vicomte de Turenne (1611– 1675) frz. Heerführer u. Generalmarschall v. Frankreich.

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435,1107 Bramarbas-Geberden] V. span., bramar”, dt., „brüllen“, „grölen“. Umgangsspr. für „prahlen“, „angeben“. Zuerst nachgewiesen in einem 1720 anonym veröfftl. Gedicht über Don Quichote, dann in der Übersetzung (dt., „Bramarbas oder der großsprecherische Offizier“) der Komödie Jakob von Tyboe (1724) des dän.-norweg. Schriftstellers Ludvig Holberg (1684–1754). 435,1124 halkyonischer] Gr., ἀλκυόνειος, dt., „zum Eisvogel gehörig“. Eigtl. „heiter“ o. „friedl.“, weil es sich auf die ruhigen Wintertage bezieht, an denen der Eisvogel sein Nest bauen kann. Sobald die Jungvögel geschlüpft sind, werden die Gewässer wieder unruhig. Bei Nietzsche ein Synonym für „seel. willkommen“. 435,1138 (Wort)-Spülicht] Veraltete Bez. für „Abwaschwasser“. 436,1161 Dr. Paul Rée] Paul Rée (1849–1901), dt. Philosoph u. Arzt. R.s empirist. Philosophie befasst sich u. a. mit Fragen der Moral. Ab 1875 eng mit Nietzsche befreundet. Eine tiefgehende Zusammenarbeit mit Nietzsche u. Lou AndreasSalomé (1861–1937) scheitert an der Eifersucht der beiden Männer. Publikationen u. a.: Psychologische Beobachtungen (1875); Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877); Die Entstehung des Gewissens (1885); Die Illusion der Willensfreiheit (1885). 437,1195 Paraphasia vesana] Korrekt „Paraphrasia vesana“, v. gr., παρά, dt., „daneben“, „entlang“ u. gr., φράσις, dt., „Sprechen“, „Reden“ u. lat., vesanus, „wahnsinnig“, „rasend“. Begriff ausgeführt in: Adolf Kußmaul (1822–1902), Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig 1877, 220. 437,1202 „Mit welchem Zauber] In: Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, 60. 437,1203 „Was braucht der Begeisterte] In: Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, 86. 437,1204 „Insofern er diese] In: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch, 344. 437,1205 „Um Gott herum] In: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, 150. 437,1205 „Ein Pessimist] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 186. 437,1206 laede-neminem-Moral] Lat., „Neminem laede, imo [sic!] omnes, quantum potes, juva [sic!]“ (dt. „Verletze niemanden, im Gegenteil, hilf allen, soweit du kannst.“). 437,1207 „Furcht und Mitleiden] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 239. 437,1219 Ein griechisches] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 28. 437,1219 „Ein Pessimismus] In: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück: Wir Gelehrten, 208. 437,1220 „Ein inneres] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 230. 437,1221 „Frei zum] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom freien Tode.

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437,1222 „Schwanger von] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied), 1. 437,1223 „Während alle …] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 10. 437,1223 „wenigstens zum] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 11. 437,1224 „Zu sich] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. Aufzeichnung 3. 437,1225 „zu dem] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 6. 4371226 „Er wirft] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 22. 438,1241 Dr. Hermann Türck] (1856–1933), dt. Literaturwissenschaftler. Publikationen u. a.: Das Wesen des Genies (Faust und Hamlet). Eine philosophische Studie (1888); Friedrich Nietzsche und seine philosophischen Irrwege (1891). 438,1245 Anomalien / (Mendel)] A.: gr., ἀνωμαλία, dt., „Unregelmäßigkeit“, „Abweichung v. der Regel“. – M.: Emanuel Mendel (1839–1907), dt. Neurologe u. Psychiater. Werke u. a.: Die Manie (1881); Der Hypnotismus (1889); hier: Die progressive Paralyse der Irren (1880). 440,1353 Hyperaesthesia sexualis] Gr., ὑπέρ, dt., „über … hinaus“; gr., αἴσθησις, dt., „Sinneswahrnehmung“, „Empfindung“. Sexuelle Übererregbarkeit. 441,1375 Skoptzenthum] Vgl. → 172, 963. 441,1396 Chopin, Schumann, Schubert] Chopin: Frédéric François Chopin (1810–1849), bedeutender poln. Pianist, Klaviervirtuose u. Komponist der Romantik. – Schumann: Robert Schumann (1810–1856), dt. Komponist u. Pianist der Romantik, verh. mit der Klaviervirtuosin Clara Schumann, geb. Wieck (1819–1896). S. stirbt in einer psychiatr. Heilanstalt vmtl. an den Spätfolgen der Syphilis. – Schubert: Franz Peter Schubert (1797–1828), österr. Komponist der Romantik, v. a. in den Bereichen Kammermusik, Kunstlied, Bühnenwerke u. Instrumentalmusik. 442,1411 Prof. Binswanger] Otto Ludwig Binswanger (1852–1929), Schweizer Neurologe u. Psychiater. I. d. v. B. geleiteten Jenaer Nervenklinik werden Kranke möglichst ohne Zwangsmaßnahmen behandelt. Auf B.s Bemühungen geht auch die spätere Einrichtung eigenständiger Kinder- u. Jugendpsychiatrien zurück. Publikation u. a.: Ueber die Beziehungen des moralischen Irreseins zu der erblichen degenerativen Geistesstörung (1887). 442,1441 Kompilation] Lat., compilo, dt., „plündern“, „ausbeuten“, (eigtl. „der Haare berauben“). Bez. für ein aus Werken anderer Autoren zusammengestelltes Produkt. 443,1462 Primadonna] Ital., prima donna, dt., „erste Dame“. Bez. für die „erste“ u. damit wichtigste Sängerin an einem Theater o. einer Oper. Früher häufig Bez. für die Koloratursängerin in einem Ensemble, später auch für dramat. Opernsängerinnen.

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443,1462 Ruhmes-Impresario] Ital., impresario, dt., „Agent”, „Unternehmer“. Veraltete Bez. für den Leiter eines Theaters o. einer Schauspieltruppe. Vergleichbar mit der Funktion eines heutigen Intendanten. Hier v. N. i. d. Bedeutung eines Promotors gebraucht, der angestellt ist, den Ruhm eines Künstlers zu mehren. 443,1463 Er hielt in Kopenhagen Vorträge] Georg Brandes (1842–1927) Vorlesungen über Nietzsche (ab April 1888) machen dessen Philosophie in Dänemark populär. 443,1478 „Schopenhauer als Erzieher”] In: Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück. 443,1485 Ola Hansson] (1860–1925), schwed.-dt. Schriftsteller. Beschäftigt sich auf Anregung v. Georg Brandes (1842–1927) ab 1888 mit Nietzsche u. erklärt sich zu dessen Anhänger. 444,1489 Albert Kniepf] Albert Friedrich Wilhelm Kniepf (1853–1924), dt. Schriftsteller, Literaturkritiker u. Philosoph, der sich intensiv mit der Astrologie beschäftigt, um sie auf eine naturwissenschaftl. Grundlage zu stellen. Publikation u. a.: Theorie der Geisteswerthe (1892). 444,1503 in Dickens „Pickwickiern“] The Posthumous Papers of the Pickwick Club. Besser bek. als The Pickwick Papers (1836/7) (dt., „Die Pickwicker“) . Erster Roman des engl. Schriftstellers Charles Dickens (1812–1870). Zunächst als Fortsetzungsroman in 20 Teilen monatl. zw. März 1836 u. Oktober 1837 publiziert. 445,1530 Fechners] Gustav Theodor Fechner (1801–1887), dt. Physiker u. Natur-Philosoph. Vertreter der Psychophysik. Werke u. a.: Elemente der Psychophysik (2 Bde., 1860); Über einige Verhältnisse des binokularen Sehens (2 Bde., 1860/ 61); Ueber die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt um die unsichtbare zu finden (1861); Die drei Motive und Gründe des Glaubens (1863); Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte der Organismen (1873); Vorschule der Aesthetik (2 Bde., 1876); In Sachen der Psychophysik (1877); Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht (1879); Revision der Hauptpuncte der Psychophysik (1882). 445,1545 Kurt Eisner] (1867–1919), dt. sozialist. Politiker, Schriftsteller u. Journalist. Das Zitat stammt aus: Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft, in: Literarischer Merkur, 12. Jg., Nr. 4, 28. 1. 1893. 445,1552 T. de Wysewa] Téodor de Wyzewa, eigtl. Teodor Wyżewski (1863– 1917), polnischstämmiger Vertreter des frz. Symbolismus. Mit Édouard Dujardin (1861–1949) Gründer der La Revue Wagnérienne 1885 (dt., „Das Wagner-Journal/ -Zeitschrift“). Literaturkritiker der Revue des Deux Mondes (dt., „Zeitschrift der zwei Welten“). W. publ. v. a. in den Jahren n. 1892/3 zu Nietzsche mehrere Werke. 445,1558 Lou Salomé] Lou Andreas-Salomé (1861–1937), russ.-dt. Schriftstellerin u. Psychoanalytikerin. Kontakt zu vielen Geistesgrößen wie Sigmund Freud (1856–1939) u. Rainer Maria Rilke (1875–1926). V. Nietzsche verehrt, lehnt mehrfach dessen Heiratsanträge ab. Werke u. a. Henrik Ibsens Frauengestalten (1892); Nietzsche in seinen Werken (1894).

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446,1576 „maniakalischen Exaltation“] M.: v. gr., μανία, dt., „Raserei“, „Wahnsinn“, „Verzückung“. E.: lat., exaltatio, dt., „Erhöhung“. Hier: bis zum Wahnsinn gesteigertes Empfindungsleben. 446,1596 vociferirt] Lat., vocifero, dt., „schreien“, „laut rufen“. Auch als Bez. für das erregte Reden bzw. pathet. Sprechen psych. Kranker gebraucht. 446,1596 Modi] Pl., lat., modus, dt., „Art u. Weise“. 446,1601 raisonnirenden] Frz., raisonner, dt., „vernünftig reden“, „denken“, „Einwendungen machen“. Heute „räsonieren“. Unterschiedl. Bedeutungen, „verständig reden u. urteilen“, „sich wortreich u. tiefschürfend, aber ohne konkretes Ergebnis äußern“; aber auch „heftig widersprechen“ u. „viel reden“. 446,1605 Sils Maria] Ortsteil v. Sils im Engadin, einer gemischtsprachl. (dt./ rätoroman.) Kleinstadt im Schweizer Kanton Graubünden. Aufenthalt Nietzsches zw. 1881 u. 1888 (mit Ausnahme des Jahres 1882); Arbeit an Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Götzendämmerung u. Der Antichrist. 447,1647 „Hüten wir uns] In: Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, 7. 447,1648 ,Tortur‘] Mlat., tortura, dt., „Folter“, „Plage“, „Qual“; auch „Marter“ gen. Methode, durch gezielte Ausübung v. psych. o. phys. Gewalt ein Geständnis o. die Preisgabe v. Informationen zu erzwingen o. den Widerstand bzw. den Willen des Folteropfers dauerhaft zu brechen. 447,1649 „Wir sind vorbereitet] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 3. 448,1655 „Ich würde mir sogar] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 294. 448,1658 „Ach was seid ihr doch] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 296. 448,1660 „Nun lacht die Welt] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm? Aus hohen Bergen. Nachgesang. 448,1661 „Nicht durch Zorn] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom Lesen und Schreiben. 448,1662 „Wahrlich, es gibt Keusche] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von der Keuschheit. 448,1664 „Wäre er doch] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom freien Tode. 448,1666 „Zu groß war die Spannung] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil. Das Kind mit dem Spiegel. 448,1668 „Leise erbebte u. lachte] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Tugendhaften. 448,1674 „Ich würde] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom Lesen und Schreiben. 448,1675 „Wahrlich, kein] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Taranteln.

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448,1677 „Und einst] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Das Grablied. 448,1679 „Diese selige] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vor SonnenAufgang. 448,1682 „Fragt meinen] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der verkleinernden Tugend, 2. 448,1683 „Und über] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Geist der Schwere, 2. 448,1684 „Es ist] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Der Genesende, 2. 448,1685 „O meine] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der großen Sehnsucht. 448,1687 „Nach meinem] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Das andere Tanzlied, 1. 448,1688 „Wenn meine] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied), 6. 448,1690 „Eine fortwährende] In: Die fröhliche Wissenschaft. Viertes Buch. Sanctus Januarius, 288. 448,1692 „Bleibt wirklich] In: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch. Wir Furchtlosen, 381. 448,1694 „Fliegen allein] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vor SonnenAufgang. 448,1695 „Bereit und ungeduldig] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Geist der Schwere, 1. 449,1696 „Meine weise Sehnsucht] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von alten und neuen Tafeln, 2. 449,1799 „Wenn ich je] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied), 7. 449,1707 „Ich bin zu heiß] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Gelehrten. 449,1708 „Ach, Eis ist um mich] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Das Nachtlied. 449,1709 „Brütend lag die Sonne] In: Also sprach Zarathustra. Von der Seligkeit wider Willen. 449,1710 „Sorgt, daß dort] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Das HonigOpfer. 449,1711 „In die kältesten Wasser] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Der Schatten. 449,1712 „Da sitze ich nun] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Unter Töchtern der Wüste, 2. 449,1714 „Denn ich halte es] In: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch, 381. 449,1715 „Mit dem Sturme] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der großen Sehnsucht. 449,1717 „Eishöhle würde] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Vom Gesindel.

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449,1720 „Licht bin ich] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Das Nachtlied. 449,1723 „Stumm über brausendem] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vor Sonnen-Aufgang. 449,1723 „Sie errathen nichts] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der verkleinernden Tugend, 2. 449,1724 „Singe und brause über] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Der Genesende, 2. 449,1725 „Fast zu heftig] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Vom Gesindel. 449,1726 „Nun bricht wie] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Das Nachtlied. 449,1727 „Ein Geruch ist oft] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Gelehrten. 449,1728 Oh selige Stille um mich!] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die Heimkehr. 449,1729 „Das war der Lug] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die Heimkehr. 449,1732 „Schlechte Luft!] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 12. 449,1733 „Diese Werkstätte] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 14. 449,1734 „Dem Gesindel] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Gespräch mit den Königen, 1. 449,1735 „Vor diesem Gesindel] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil; Der freiwillige Bettler. 449,1736 „Oh reine Gerüche um mich!] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die Heimkehr. 450,1749 Synonyme] Gr., συνώνυμος, dt., „denselben Namen führend“. Sinnverwandtes Wort mit gleicher o. sehr ähnl. Bedeutung. 450,1750 „Die Stärke eines Geistes] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 39. 450,1752 „Wir vermeinen] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 44. 450,1756 „Er weiß] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 203. 450,1758 „Im Menschen ist Stoff] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 225. 450,1761 „Es klänge artiger] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden. Aufzeichnung 230. 450,1763 „Speie auf die Stadt] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Vorübergehen.

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450,1765 „Wir ahnen] In: Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, 12. 450,1767 „Alle diese blassen] In: Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, 24. 450,1768 Ephektiker] Gr., ἐφεκτικῶς, Adv. v. ἐπέχω, dt., „mit seinem Urteil zurückhaltend“, „zweifelnd“. Bez. für die Skeptiker des Altertums, die sich jedes Urteils enthalten, weil der Zweifel oberstes Prinzip ihrer Philosophie ist. 450,1773 „Wenn diese Wende] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von der schenkenden Tugend, 1. 450,1774 „Also brüstet] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Vom Lande der Bildung. 450,1774 „Es gibt] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Vorübergehen. 450,1776 „Speie auf] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Vorübergehen. 450,1777 „Hier und dort] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Vorübergehen. 450,1777 „Was wollen da] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Die Heimkehr. 450,1778 „Immer liefen] In: Also sprach Zarathustra. Dritter teil: Von alten und neuen Tafeln, 12. 450,1779 „Oh Wille] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von alten und neuen Tafeln, 30. 451,1780 „So blicke] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Der häßlichste Mensch. 451,1781 „Dies Suchen] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Der Schatten. 451,1782 „Ward die Welt] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Mittags. 451,1783 „Klafft auch hier] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Von höheren Menschen, 2. 451,1784 „Es verdummt] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 25. 451,1784 „Leben ist] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 259. 451,1785 „Die ich mir] In: Jenseits von Gut und Böse. Aus hohen Bergen. Nachgesang. 451,1790 „Hinterweltlern“] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Hinterweltlern. 451,1791 „Kesselbauche“] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vor Sonnen-Aufgang. 451,1792 „Freudenschaften“] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Freuden- und Leidenschaften. 451,1793 „Da ging] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Der Wahrsager. 451,1801 „Es fehlt] In: Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, 8.

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451,1804 „Man mißversteht“] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 197. 451,1815 „Wahrlich, schon ist“] In: Die fröhliche Wissenschaft. Viertes Buch, 310. 452,1824 „Der Leib wars“] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Hinterweltlern. 452,1825 „Redlicher redet“] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Hinterweltlern. 452,1826 „Ich bin höflich“] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der verkleinernden Tugend, 2. 452,1827 „Das tiefe Gelb] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Geist der Schwere, 2. 452,1829 „Wir setzten] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der verkleinernden Tugend, 2. 452,1832 „Unser Europa] In: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück: Wir Gelehrten, 208. 452,1834 „Gesetzt, daß] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 230. 452,1837 „Schon zuviel] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Dichtern. 452,1840 „Was liegt] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 3. 452,1841 „Sie lernten] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Dichtern. 452,1842 „Wie Manches] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von der Menschen-Klugheit. 452,1844 „Und wenn dir] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Der Wanderer. 452,1846 „Ich sitze hier] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Unter Töchtern der Wüste. 452,1848 „Ha! Herauf] In: Also sprach Zarathustra. Vierter Teil: Unter Töchtern der Wüste. 452,1857 „Warum dürfte] In: Jenseits von Gut und Böse. Zweites Hauptstück: Der freie Geist, 34. 453,1864 „Einer ist immer] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom Freunde. 453,1865 „Wie nennen sie] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 5. 453,1869 „Denn in der Religion] In: Jenseits von Gut und Böse. Fünftes Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral, 198. 453,1870 „Die Psychologen] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 218. 453,1872 „Es hat Philosophen] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 220.

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453,1885 „Man liebt] In: Jenseits von Gut und Böse. Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele, 160 453,1886 „Jede Gemeinschaft] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 284. 453,1887 „Leer sind] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Vom neuen Götzen. 453,1888 „Fliehe, mein Freund] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Fliegen des Marktes. 453,1889 „Und Mancher] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Vom Gesindel. 453,1896 „Was meinen] In: Zur Genealogie der Moral. Vorrede, 8. 453,1899 halkyonischen] S. → 435, 1124. 453,1902 „Ich aber] In: Jenseits von Gut und Böse. Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer, 241. 453,1905 „Aber irgendwann] In: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, 24. 4541918 „Zarathustra aber] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 4. 4541920 „Ich liebe] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 4. 4541924 „Als Zarathustra] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von der schenkenden Tugend, 1. 454,1927 „Und des Geistes] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den berühmten Weisen. 454,1929 „Wahrlich] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Der Wahrsager. 4541930 „Dergestalt] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Der Wahrsager. 4541938 „Wenn es] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Auf den glückseligen Inseln. 4541940 „Du hast die Macht] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Die stillste Stunde. 4541941 „Wer aber meiner Art ist] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Der Wanderer. 455,1951 „Die Zucht] In: Jenseits von Gut und Böse. Siebentes Hauptstück: Unsere Tugenden, 225. 455,1952 „Der Süden] In: Jenseits von Gut und Böse. Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer, 255. 455,1953 „Diese letzten] In: Jenseits von Gut und Böse. Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer, 256. 455,1953 „Mit den Zeichen] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 263. 455,1954 „Wo er das] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 269. 455,1955 „Schuld ist] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Fliegen des Marktes.

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455,1955 „Daß ich den] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von der schenkenden Tugend, 3. 455,1956 „Also redet] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Mitleidigen. 455,1956 „Nicht aus euch] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Vom Lande der Bildung. 455,1952 „Menschen, welche] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von der Erlösung. 455,1959 „Mit der großen] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Von der verkleinernden Tugend, 3. 455,1959 „Aber du] In: Also sprach Zarathustra. Erster Teil: Von den Fliegen des Marktes. 455,1960 „Unerschütterlich] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Erhabenen. 455,1963 „Alles Tiefe] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von der unbefleckten Erkenntnis. 455,1964 „Sie denken] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Von den Dichtern. 455,1977 „Jenes echt] In: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück: Wir Gelehrten, 213. 455,1981 „Der kühne] In: Jenseits von Gut und Böse. Sechstes Hauptstück: Wir Gelehrten, 213. 455,1982 „Wir denken] In: Die fröhliche Wissenschaft. Erstes Buch, 6. 455,1983 „Die ungeduldigen] In: Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, 76. 455,1985 „Zu langsam] In: Also sprach Zarathustra. Zweiter Teil: Das Kind mit dem Spiegel. 455,1987 „Ueber der] In: Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch, 76. 455,1989 „Es kommt] In: Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?, 28. 456,1993 „ Wo ist] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 3. 456,1995 „Jeder gilt] In: Also sprach Zarathustra. Zarathustra’s Vorrede, 5. 456,1996 „Diesen Uebermuth] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vor Sonnen-Aufgang. 456,1997 „Meine Hand] In: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil: Vom Geist der Schwere, 1. 456,2000 „Zuletzt bliebe] In: Die fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch, 120: Gesundheit der Seele. 456,2005 „heller stets] In: Die fröhliche Wissenschaft. Viertes Buch. Sanctus Januarius, (Motto). 456,2005 „wir Argonauten] In: Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch. Wir Furchtlosen, 282: Die große Gesundheit. 456,2014 Dr. Kirchner] Friedrich Kirchner (1848–1900), dt. Philosoph, Theologe u. Literaturhistoriker. V. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) beeinflusste

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Philosophie eines Ideal-Realismus, in dem alles Materielle letztl. nur Erscheinung des Geistigen ist. Gründeutschland. Ein Streifzug durch die jüngste deutsche Dichtung (1893) enthält einen Vergleich zw. Ibsen u. Nietzsche. Werke u. a.: Diätetik des Geistes. Eine Anleitung zur Selbsterziehung (1884); Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Philosophische Bibliothek oder Sammlung der Hauptwerke der Philosophie alter und neuer Zeit (1886). 456,2016 G. Adler in Freiburg] Georg Adler (1863–1908), dt. Nationalökonom, Sozialpolitiker, etablierter Nietzsche-Kenner. 457,2046 Galgenvögeln] Eigtl. Synonym für Raben, Aasfresser, deshalb i. d. Nähe v. Galgen anzutreffen. Umgangsspr. abwertend für Menschen, die entweder v. Unglück anderer profitieren o. andere übervorteilen. 457,2064 eine Art Jesuitismus im Küraß] Jesuiten, kath. Ordensgemeinschaft (auch: „Gesellschaft Jesu“ / „Societas Jesu“), 1534 v. Ignatius von Loyola (1491– 1556) gegr. Jesuiten verpflichten sich zu Armut, Ehelosigkeit u. bes. Gehorsam gegenüber dem Papst. – Küraß: spätlat., coriaceus, dt., „ledern“, frz., „cuirasse“, dt., „Lederpanzer“, „Harnisch“. Bez. für den Brust- u. Rückenpanzer eines berittenen Soldaten. V. N. hier metaphor. gebraucht, um Bismarcks moral. Eifer u. Militarismus zu charakterisieren. 457,2065 wie bei den geschmeidigen Söhnen Loyolas] Hier i. S. einer diffamierenden Bez. für die Mitglieder bzw. Zöglinge des Jesuitenordens. 459,2148 Paraklet] Gr., παράκλητος, dt., „zu Hilfe gerufen“, „hilfreich“, im Johannes-Evangelium mehrfach verwendeter Begriff für einen Tröster, Helfer o. Fürsprecher. I. d. christl. Theologie gewöhnl. Synonym für den „Heiligen Geist“.

4. Buch. Der Realismus. I. Zola und die Zolaschulen. 463,23 Mercure de France] (dt., „Merkur Frankreichs“), Literatur- u. Kulturzeitschrift (1672–1825), gegr. v. Jean Donneau de Visé (1638–1710) als Mercure galant (dt., „Galanter Merkur“); danach wechselnde Titel (Mercure (dt., „Merkur“), Nouveau Mercure galant (dt., „Neuer galanter Merkur“), Mercure françois (dt., „Frz. Merkur“), 1724–97), danach v. Alfred Vallette (1858–1935) in enger Zusammenarbeit mit Jules Renard (1864–1910) wieder gegr., dem Symbolismus zuzurechnen; (1890– 1965, mit Unterbrechung 1940–46). 463,24 Bête humaine] La Bête Humaine (1890) (dt., „Die Bestie im Menschen“, „Bestie Mensch“, auch: „Das Tier im Menschen“). Roman v. Émile Zola (1840– 1902). 17. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire (1871–1893) (dt., „Die Rougon-Macquarts. Natur- u. Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich“). – „Der Stationsvorsteher Robaud entdeckt, dass der Präsident der Bahngesellschaft ein Verhältnis mit seiner Frau Séverine hat, dessen Anfang

4. Buch. Der Realismus.

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weit in die Jugend der Frau zurückreicht. Robaud zwingt Séverine zum gemeinschaftlichen Mord am Präsidenten. Lokomotivführer Jacques Lantier wird zum Zeugen der Bluttat. Um ihn zum Schweigen zu bringen, beginnen die Robauds ein freundschaftliches Verhältnis mit Jacques. Lantier schweigt tatsächlich. Bald verlieben sich Séverine u. der Lokomotivführer ineinander. Was sie nicht weiß, ist, dass Lantier von einem unstillbaren Drang, Frauen zu töten, getrieben wird. Sie überredet den Geliebten, ihren sie schikanierenden Ehemann Robaud umzubringen. Als sie die Tat vorbereiten, kann Jacques sich nicht mehr beherrschen und ersticht Séverine. Bald darauf wird er selbst von einem anderen Rivalen, seinem Heizer, ermordet.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 348). 463,28 „Abenden von Médan“] Frz., Les soirées de Médan. Novellensammlung a. d. Jahr 1880. Sie geht auf eine Initiative Émile Zolas zurück, der eine Reihe v. Schriftstellern in sein Landhaus in Médan nahe Paris eingeladen hatte, die zum Kreis der Naturalisten gezählt werden. Enthält v. Émile Zola (1840–1902), L’Attaque du moulin (dt., „Der Angriff der Mühle“), Guy de Maupassant (1850–1893), Boule de suif (dt., „Fettklößchen“), Charles-Marie-Georges Huysmans (1848–1907), Sac au dos (dt., „Die Tasche auf dem Rücken“), Henry Céard (1851–1924), La Saignée (dt., „Der Aderlass“), Léon Hennique (1850–1935), Affaire du Grand 7 (dt., „Die Angelegenheit/Affäre des Grand 7“) u. Paul Alexis (1847–1901), Après la bataille (dt., „Nach dem Kampf“). Gemeinsames Thema, der Dt.-Frz. Krieg v. 1870/71 aus antinationalist. u. antimilitarist. Perspektive. 463,30 Guy de Maupassant] (1850–1893), frz. Journalist u. Schriftsteller. Vorübergehend dem Naturalismus nahe. Psycholog. Figurenzeichnung, Zeitkritik u. Pessimismus, auf die Lektüre Arthur Schopenhauers (1788–1860) zurückgehend. Den meist satirisch gez. Vertretern des (Klein-)Bürgertums, der Geistlichkeit u. des Adels stehen Randfiguren der Gesellschaft gegenüber: Künstler, Vagabunden, v. a. aber Prostituierte (s. → 463, 28, Boule de suif, dt., „Fettklößchen“), die sich häufig als die „besseren Menschen“ herausstellen. Deutl. Aversion gegenüber dem Krieg v. 1870/71 u. falschem Heldentum, den finanziellen u. polit. Manipulationen seiner Zeit sowie dem beginnenden Kolonialismus Frankreichs. 463,37 „La Terre“] (dt., „Die Erde“), Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1887. 15. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Der alte Fouan zieht sich aufs Altenteil zurück, nun soll das Land des Bauern unter seinen drei Kindern aufgeteilt werden. Bald kommt es zum Streit. Einer der Söhne, Buteau („Geierkopf“), heiratet eine Bäuerin, weil deren Grundstück an sein Land grenzt, obwohl er eigtl. deren Schwester Françoise begehrt. Die wird auch von dem Knecht Jean Macquart, einem ehemaligen Tischler, geliebt. Geierkopf fürchtet eine Heirat zwischen den beiden, vor allem, da dadurch das Land seiner Frau durch beide Schwestern geteilt werden müsste und er nicht mehr der Nutznießer des gesamten Gutes wäre. Als Jean und Françoise tatsächlich heiraten, eskalieren Gier und Lust. Geierkopf vergewaltigt die hochschwangere Françoise- mit Hilfe seiner Frau Lise. Nach der Tat stürzt Françoise unglücklich in

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eine Sense, die ihr den Leib aufreißt und Françoise stirbt. Der alte Fouan, der zum Zeugen des Gewaltverbrechens wurde, wird von seinem Sohn und dessen Frau erwürgt und im Bett verbrannt. Da Françoise kein Testament hinterließ, muss Jean Haus und Grund verlassen, das wieder an die Familie zurückgeht. Jean wird Soldat.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 347). 463,41 J. H. Rosny] Eines v. mehreren Pseudonymen (J.-H. Rosny Aîné u. J.-H. Rosny Jeune) der Brüder Joseph Henri Honoré Boex (1856–1940) u. Séraphin Justin François Boex (1859–1948), belg.-frz. Schriftsteller u. Mitbegr. des modernen Science-Fiction-Romans. 464,42 Paul Bonnetain] (1858–1899), frz. Schriftsteller u. Journalist, Kriegskorrespondent in Indochina (1885). Auf seine Initiative wird 1887 als Reaktion auf die Publ. v. Émile Zolas (1840–1902) La Terre (dt., „Die Erde“) das sog. Manifeste des Cinq (dt., „Das Manifest der Fünf“) veröfftl. (Le Figaro v. 18. August 1887), das die negativen Ausprägungen (z. B. Zügellosigkeit u. vulgäre Ausdrucksweise) des Naturalismus attackiert. Die Unterzeichner des Manifeste des Cinq sind: P. B., Joseph Henri Honoré Boex (1856–1940) (bzw. Séraphin Justin François Boex (1859– 1948)), Lucien Descaves (1861–1949), Paul Margueritte (1860–1918) und Gustave Guiches (1860–1935). Werke v. P. B. u. a.: Charlot s’amuse (1883) (dt., „Charlot amüsiert sich“), Au Tonkin (1885) (dt., „Im Tonkin“); L’Opium (1886) (dt., „Das Opium“) u. Amours nomades (1888) (dt., „Nomad. Lieben“). 464,41 L. Descaves] Lucien Descaves (1861–1949), frz. Schriftsteller u. Journalist. Obwohl Freund v. Émile Zola (1840–1902) unterz. er n. der Publikation v. dessen La Terre (1887) (dt., „Die Erde“) Le Manifeste des Cinq (dt., „Das Manifest der Fünf“) (1887). D.s erster antimilitarist. Roman Les Sous-offs (1889) (dt., „Die Unteroffiziere“, eigtl. frz., „sous-offciers“) bringt ihm einen Prozess ein, er verliert seinen militär. Rang. Außerdem Theaterstücke in Zusammenarbeit mit Maurice Donnay (1859–1945) u. Alfred Capus (1857–1922). 1900 Gründungsmitglied der Académie de Goncourt, einer literar. Vereinigung auf Initiative v. Edmond de Goncourt (1822–1896). 464,41 Paul Margueritte] (1860–1918), frz. Schriftsteller. Gemeinsam mit seinem Bruder Victor (1866–1942) Publ. eines Romanzyklus’ über den dt.-frz. Krieg v. 1870 Une époque (1897–1904) (dt., „Eine Epoche“), in dem am 1. 9. 1870 i. d. Schlacht v. Sedan ihr Vater, Jean Auguste Margueritte (1823–1870), tödl. verwundet wurde. In selbstständiger Autorschaft Pascal Géfosse. Moeurs du jour (1887) (dt., „Pascal Géfosse. Sitten des Tages“), Jours d’épreuve. Mœurs bourgeoises (1889) (dt., „Tage der Prüfung. Bürgerl. Sitten“) u. La Force des choses (1891) (dt., „Die Kraft der Dinge“). Zunächst Schüler Zolas (1840–1902), dann Annäherung an den Realismus. 464,42 H. Guiches] Gustave Guiches (1860–1935), frz. Romancier u. Dramatiker. Mitunterzeichner des sog. Manifeste des Cinq (dt., „Das Manifest der Fünf“). 464,55 Geschichte des Börsen-Zusammenbruchs von 1882] Schlimmste ökonom. Krise Frankreichs im 19. Jh. Der Konkurs der Bank Union Générale gilt als

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Auslöser des Pariser Börsenkrachs. Beginn der wirtschaftl. Depression bis zum Ende des 19. Jh.s., verheerende Auswirkungen auf die frz. Ökonomie u. andere europ. Märkte. 464,55 des Krieges von 1870] Dt.-frz. Krieg 1870/71. 464,56 „L’ Argent“] (dt., „Das Geld“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1891. 18. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Der Spekulant Aristide Rougon-Saccard, ein Abenteurer mit dunkler Vergangenheit, die ihn immer wieder einholt, wagt sich gemeinsam mit dem idealistischen Ingenieur Georges Hamelin und dessen Schwester Caroline, die von einer Verbesserung der Infrastruktur und ‚Zivilisierung‘ des Ortes träumen, an die Gründung der Banque Universelle zur finanziellen Sicherung ihrer ehrgeizigen Pläne. Saccard überschreitet die Grenzen der Legalität und reißt das naive Geschwisterpaar sowie viele andere Spekulanten und Kleinanleger, die ihm vertrauen, in den Ruin. Hamelin und er werden verhaftet und zu Geldbußen verurteilt, eine zarte Liebe zwischen Aristide und Caroline wird dadurch zerstört. Während die Geschwister nach Rom auswandern, spielt Saccard aufs Neue: er beteiligt sich an der Landgewinnung in Holland.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 348). 464,56 „La Débâcle“] (dt., „Der Zusammenbruch“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1892. 19. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Jean Macquart, Korporal in der Armee des Kaiserreichs, befreundet sich mit seinem Kameraden Maurice, einem Bürgerlichen. Gemeinsam durchleben sie die Schrecken des deutsch-französischen Krieges bis hin zur Gefangenschaft. Jean verliebt sich in Maurices Schwester Henriette, doch beider Liebe ist keine Zukunft beschert. Maurice hat sich im belagerten Paris den Kommunarden angeschlossen; ausgerechnet Jean Macquarts Truppe wird im Kampf gegen die Aufständischen eingesetzt und so kommt es zur unglücklichen Begegnung auf den Barrikaden – Jean tötet im Gefecht seinen Freund.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 348). 466,147 Ganz in der Weise der Dunkelkammer] Als Dunkelkammer (v. lat., camera obscura, dt., „dunkler Raum“) bez. man in der Photographie einen abgedunkelten Raum, in dem lichtempfindliche Materialien lagern u. Lichtbilder entwickelt werden. Beim Entwickeln einer belichteten Platte erscheint exakt das gespeicherte Bild. N. stellt infrage, dass allein infolge der stets den Gestaltungsprozess dominierenden Emotion des Schriftstellers dieser einen „Abklatsch einer Erscheinung“ nie hervorbringen könne. 467,180 Jean Béraud] (1849–1935), frz. Maler. Urheber zahlr. Werke, bei denen die Darstellungen durch den Rahmen des Bildes abgeschnitten werden. Vgl. → 23, 186. 468,212 Anekdote von den Vögeln] „Zeuxis malte im Wettstreit mit Parrhasius so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken. Daraufhin stellte Parrhasius seinem Rivalen ein Gemälde vor, auf dem ein leinener Vor-

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hang zu sehen war. Als Zeuxis ungeduldig bat, diesen doch endlich beiseite zu schieben, um das sich vermeintlich dahinter befindliche Bild zu betrachten, hatte Parrhasius den Sieg sicher, da er es geschafft hatte, Zeuxis zu täuschen. Der Vorhang war nämlich gemalt.“ (Plinius, Nat. Hist. XXXV, 65). 469,253 Märchen von Grimm] Kinder- und Hausmärchen (3 Bde., ab 1812) der Gebrüder Grimm. – Jacob Ludwig Karl Grimm: (1785–1863), dt. Sprachforscher, Philologe, Jurist u. Altertumswissenschaftler. Werke u. a.: Deutsche Grammatik (4 Bde., 1819–37); Deutsche Rechtsaltertümer (1828) u. Deutsche Mythologie (1835). – Wilhelm Carl Grimm: (1786–1859), dt. Sprach- u. Literaturwissenschaftler. Hauptwerk: Die deutsche Heldensage (1829). Gemeinsam: Deutsches Wörterbuch (1838 ff.). 469,280 „La Faustin“] (1882) (dt., „Die Faustin“), Roman v. Edmond Louis Antoine Huot de Goncourt (1822–1896), entstanden 1880–1881. – Juliette Faustin gibt zwar für ihren Liebhaber, Lord Annandale, die Bühnentätigkeit auf, analysiert das Verhalten ihrer Umwelt jedoch auch i. d. Zurückgezogenheit ihres Hauses am Bodensee auf theatral. Verwendbarkeit hin. Als der sterbende Engländer entdeckt, dass sie seinen Todeskampf studiert u. imitiert, lässt er sie v. seinem Totenbett entfernen. – Der Romanschluss kann als Selbstkritik des Naturalismus verstanden werden, naturgetreue Schilderungen verfassen zu wollen. 471,338 Teniersschen Bauernkneipen-Bilder] David Teniers der Jüngere (1610– 1690) malt u. a. zahlr. Alltagsszenen einfachen bäuerl. Lebens, u. a. Wirtsstuben mit tanzenden, trinkenden, rauchenden, kartenspielenden o. sich prügelnden Landleuten. 471,348 In Gregor Samarows Kolportage-Romanen] G. S.: Pseudonym für Johann Ferdinand Martin Oskar von Meding (1828 o. 29–1903), dt. Diplomat u. Romanschriftsteller. Vertrauter Georgs V. (1819–1878), des letzten Königs v. Hannover. Verwertet in seinen Romanen Erfahrungen, „die er hinter den Kulissen des politischen Lebens gemacht hatte, und wirkte, obwohl des eigentlichen schriftstellerischen Talents und des Charakters entbehrend, durch die Ungeniertheit, mit der er berühmte und unberühmte Personen der Wirklichkeit unter voller Nennung ihres Namens in romanhaft frei ausgeführten Situationen und keineswegs immer treu nach dem Leben vorführte“. (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1906, 517. [online-Version]). Bek. ist der Zyklus v. Zeitromanen Um Szepter und Kronen (4 Bde., 1872). 471,350 Auerbachs Dorfgeschichten] Berthold Auerbach (eigtl. Moses Baruch Auerbacher) (1812–1882), dt. Schriftsteller. Berühmt für seine Genrebilder, v. a. Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843–1853, 4 Bde.), in denen Menschen des dörfl. Milieus geschildert werden. 471,354 George Eliots „Mühle am Floß“] Pseudonym der engl. Schriftstellerin Mary Ann Evans, später Marian Evans (1819–1880). Übersetzerin u. „De-factoHerausgeberin“ der progressiven Zeitschrift Westminster Review (1851) mit vielen Kontakten zur Intellektuellenszene Londons. In ihrem Roman The Mill on the Floss (1860) (dt., „Die Mühle am Floss“) sind „die Ironien und Widersprüche des Moder-

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nisierungsprozesses, v. a. seine Kosten, [...] am Schicksal der Familie Tulliver ablesbar. Der altmodische, inkompetente Müller Tulliver gerät im hoffnungslosen Prozess gegen den smarten Rechtsanwalt Wakem zur tragikomischen Figur, der gleichwohl die Liebe der Tochter Maggie gilt. Maggies Schicksal spiegelt die Leiden begabter junger Frauen, denen in einer rückwärtsgewandten provinziellen Gesellschaft der Bruder (Tom) vorgezogen wird. Verstrickt in die Leidenschaft zu Stephen Guest, ihre Loyalität zum Jugendfreund Philip Wakem und die Liebe zum selbstgerechten Bruder, ‚erlöst‘ sie der Tod im Wasser, der gleichzeitig die ersehnte Vereinigung mit dem Bruder bringt. Auch wenn das Schlussmotiv des gemeinsamen Todes in der Flut etwas aufgesetzt wirkt und offensichtlich auch auf persönliche Harmoniebedürfnisse der Autorin (wegen der ablehnenden Haltung ihres eigenen Bruders) antwortet, widerspricht das Schema des tragikomisch-tragischen Untergangs nicht der Ambivalenz der Moderne-Deutung des Romans.“ (Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren. Sonderausgabe. Hg. v. Eberhard Kreutzer u. Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 2006, 185). 471,356 Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeiten“] William Makepeace Thackeray (1811–1863), engl. Schriftsteller. Neben Charles Dickens (1812–1870) einer der großen viktorian. Autoren. Ab 1833 Tätigkeit als Journalist u. erste Arbeiten im Fraser’s Magazine u. i. d. Zeitschrift Punch. Mit Vanity Fair: A Novel Without a Hero (1847/8) (dt., „Jahrmarkt der Eitelkeit: ein Roman ohne Held“) wird T. bek. Zunächst 1847/48 als 19teilige Serie veröfflt. Der Debütroman zeichnet „detailreich und historisch genau […] ein Panorama der jüngeren Vergangenheit, zugleich aber stellt er in der erfundenen Handlung zwei für die viktorianische Gegenwart typische Lebensoptionen einander gegenüber: Die bloß in materiellen Kategorien kalkulierende Becky Sharp wird vermögend, aber nicht glücklich; Amelia Sedley, der mangelnde Intelligenz und ein weiches Herz alle Strategien des Aufstiegs unmöglich machen, endet arm, aber nicht ohne Chance auf Glück. Bei welcher der beiden Frauengestalten die Sympathie des Erzählers liegt, bleibt unentschieden […]. Die letzte Folge des Romans zieht denn auch – unerhört für einen viktorianischen Roman – kein Resümee durch eine Konstellation, die ‚poetische Gerechtigkeit‘ ins Werk setzte; vielmehr endet die Handlung unentschieden an einem Punkt vorübergehender Ruhe. […] Mit Vanity Fair lässt Th. die auf moralischen Sicherheiten bestehende Welt des viktorianischen Romans hinter sich.“ (Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren, Sonderausgabe. Hg. v. Eberhard Kreutzer u. Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 2006, 575–576). 472,403 Gottfried Keller] (1819–1890), Schweizer Lyriker, Erzähler, Romancier u. Politiker. Studienaufenthalt in Heidelberg, wo er Ludwig Feuerbachs (1804–1872) Vorlesungen über das Wesen der Religion (1851) hört, die ihn nachhaltig beeinflussen. K. wird dem Poetischen Realismus zugeordnet. K.s Weltbild ist durch ein bejahendes u. zugleich krit. Verständnis menschl. Existenz gezeichnet. Werke u. a.: der Roman Der grüne Heinrich (1854/55, zweite Fassung 1879/80); der zweiteilige Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla (I: 1856, II: 1873/74); die Novellenzyklen

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Züricher Novellen (1876/77, als Buch 1878) u. Das Sinngedicht (1881) sowie der Roman Martin Salander (1886). – Die mißbrauchten Liebesbriefe: Novelle v. Keller, Teil des zweiten Bandes der Novellensammlung Die Leute von Seldwyla (1873/74). Die mißbrauchten Liebesbriefe enthalten eine immanente Poetik Kellers, die sich abwendet v. einem künstler. Verständnis der Abbildung v. Realität u. stattdessen für eine zeitgemäße Orientierung am Kunstverständnis der Klassik plädiert. 473,425 Humboldts „Voyage aux régions équinoxiales du nouveau continent“] Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent: fait en 1799, 1800, 1801, 1803 et 1804 (1805–1834) (dt., „Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents“, 1859.). Werk Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander Freiherr von Humboldts (1769–1859), dt. Universalgelehrter. 473,426 Nachtigals „Sahara und Sudan“] Gustav Nachtigal (1834–1885), dt. Arzt u. Afrikaforscher. Werke u. a.: Sahara und Sudan (3 Bde. 1879–1889) u. Tibesti. Die Entdeckung der Riesenkrater und die Erstdurchquerung des Sudan (1868–1874). 473,427 Schweinfurths „Im Herzen Afrikas“] Georg Schweinfurth (1836–1925), dt. Botaniker, Paläontologe u. Afrikaforscher. Werke u. a.: Linguistische Ergebnisse einer Reise nach Centralafrika (1873) u. Im Herzen von Afrika (2 Bde., 1874). 473,427 de Amicis’ Büchern über Konstantinopel] Edmondo de Amicis (1846– 1908), ital. Schriftsteller u. Journalist. Redaktion der Zeitschrift L’Italia militare (dt., „Militärisches Italien“), wo er seine Bozzetti della vita militare (1868) (dt., „Szenen aus dem militär. Leben“) veröfflt. Zahlr. Reisebeschreibungen, u. a. Marocco (1876) Constantinopoli (1878). I nostri contadini in America (1889) (dt., „Unsere Bauern in Amerika“, später unter dem Titel Sull’oceano, dt., „Auf dem Ozean“) leitet eine Werkphase ein, die v. A.s Hinwendung zum Sozialismus geprägt ist u. in der er sich den Problemen der Armen zuwendet. 473,430 Thierfabel] Fabel: lat., fabula, dt., „Sage“, „Erzählung“, „Geschichte“, bez. eine in Prosa o. Versform verfasste kürzere Erzählung mit belehrend-moralisierender Absicht, i. d. v. a. Tiere, Pflanzen, aber auch Mischwesen menschl. Eigenschaften besitzen. 473,430 Parabel] Gr., παραβολή, dt., „das Nebeneinanderstellen“, „Gleichnis“, „Kegelschnitt“. Lehrhafte kurze Erzählung, i. d. Fragen der Moral u. der Ethik aufgeworfen werden. 473,430 Allegorie] Gr., ἀλληγορία, dt., „bildl. Ausdruck“, „Darstellungsweise“. Veranschaulichung eines Begriffes durch ein rational fassbares Bild (Begriffs-A., z. B. ‚Justitia‘ als Frau mit verbundenen Augen, Schwert u. Waage) o. eines abstrakten Vorstellungskomplexes o. Begriffsfeldes durch eine Bild- u. Handlungsfolge (Geschehens-A, z. B. der Widerstreit zw. positiven u. negativen menschl. Eigenschaften (Tugenden u. Laster) als Kampf zw. menschl. u. tier. Gestalten). 474,492 Salpetrière] Hôpital de la Salpêtrière. Heute noch bestehendes Universitätskrankenhaus in Paris. V. Ludwig XIV. (1638–1715) zusammen mit dem Hôtel des Invalides (dt., „Invalidendom“) als Krankenhaus gebaut, später umgebaut u. erweitert. Hospital besonders für seel. kranke Menschen. Im 19. Jh. eine der

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bekanntesten psychiatr. Anstalten in Europa. Wirkungsstätte des Neurologen JeanMartin Charcot (1825–1893), bei dem auch N. hospitiert. 474,493 bituminöser Töne] Lat., bitumen, dt., Erdharz“, Erdpech“, „Bergteer“. Bitumen wird als Kohlenwasserstoffgemisch zur Herstellung v. Asphalt benutzt. 477,586 „Madame Bovary“] Madame Bovary. Mœurs de province (dt., „Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz“). Roman v. Gustave Flaubert (1821–1880), 1856 zensiert in Fortsetzungen erschienen i. d. Revue de Paris, als Buchausgabe 1857. Anklage Flauberts durch die Zensurbehörde wg. vulgärer u. schockierender Zeichnung der Charaktere. Dem Roman liegt ein tatsächl. Vorfall a. d. Jahr 1848 zugrunde: Veronique Delphine Delamare (1822–1848), wohnhaft in Ry (bei Flaubert ein Bestandteil des Nachnamens der Hauptfigur), einem Dorf i. d. Nähe v. Rouen, verheiratet mit einem unbedeutenden Landarzt, bricht aus Langeweile die Ehe, macht Schulden u. vergiftet sich. 477,616 „menschliche Urkunden“ und „Experimental-Romane“] Poetolog. Begriffe v. Émile François Zola (1840–1902). Z. s theoret. Grundlegungen sind in dem Essayband Le roman expérimental (1880) (dt., „Der Experimentalroman“) zusammengefasst. Entsprechend der Milieutheorie Hippolyte Taines (1828–1893) u. der Experimentalmedizin Claude Bernards (1813–1879) ist Literatur für Zola ein Experiment, das durch genaueste Beobachtung u. Beschreibung lückenlos die ursächl. Zusammenhänge des determinierten menschl. Daseins beweisen muss: „Je suis donc arrivé à ce point: le roman expérimental est une conséquence de l’évolution scientifique du siècle […]“. (dt., „Ich bin also zu diesem Punkt gekommen: Der Experimentalroman ist eine Konsequenz aus der wissenschaftlichen Evolution des Jahrhunderts“). (Vgl. Zola, Émile: Le roman expérimental. 5. Auflage. Paris 1881, 22.). 478,652 Positivismus] Bez. für eine philosoph. Position, v. a. durch den frz. Philosophen u. Mathematiker Isidore Marie Auguste François Xavier Comte (gen. Auguste Comte) (1798–1857) mit Anspruch auf wissenschaftl. Methodik vorgetragen. Der Terminus (frz., „positif“) dient C. als programmat. Forderung an die Philosophie, sich auf einen erkenntnistheoret. Grundsatz des Faktischen u. Nützlichen zu besinnen. Nützl. ist n. Comte nur die Wissenschaft, die sich an die Tatsachen hält; Bereiche des Transzendenten sind irrelevant; Faktisches gibt den Bestimmungsgrund für Nützliches ab. 478,666 Die Wahrheit ist, daß er nie „beobachtet“] N. unterstellt Émile Zola (1840–1902), niemals selbst beobachtet zu haben, sondern sich ledigl. die Erkenntnisse anderer namhafter Autoren zu eigen gemacht zu haben. 479,672 „Assommoir“] L’Assommoir (dt., „Der Totschläger“), Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1877. 7. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Die junge Gervaise Macquart wird, kaum aus der Provinz in Paris angekommen, von ihrem Geliebten Auguste Lantier verlassen. Sie verdingt sich als Wäscherin, um für ihre unehelichen Söhne [Claude und Etienne] und sich zu sorgen. Bald heiratet sie den Bauklempner Coupeau, mit dem

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sie die Tochter Nana hat. Nach einem Arbeitsunfall Coupeaus, der den Arbeiter aus der Bahn wirft und zum Alkoholiker werden lässt, versucht Gervaise, die Familie mit einer Plätterei zu unterhalten. Das Geld für den Laden hat sie sich von dem Schmied Goujet geliehen, mit dem sie zarte Gefühle verbinde[t]. Lantier taucht wieder auf. Gervaise, angeekelt von Coupeau, wendet sich ihm wieder zu. […] Sie kann ihre Schulden bei Goujet nicht mehr begleichen, verliert das Geschäft und verfällt dem Alkohol. Die nunmehr halbwüchsige Nana landet auf dem Strich, während ihr Vater in einer Nervenheilanstalt stirbt und ihre Mutter langsam an Elend, Hunger und Trunksucht zugrunde geht.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 344–345). 479,672 Studie von Denis Poulot] (1832–1905). N. bezieht sich hier auf Le sublime ou le travailleur comme il est en 1870 et ce qu’il peut être (1870) (dt., „Das Erhabene o. der Arbeiter wie er im Jahre 1870 ist u. was er sein kann“). 479,673 „Une page d’amour“] (dt., „Ein Blatt Liebe“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1878. 8. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Die Witwe Hélène Grandjean [geborene Mouret] zieht mit ihrer kränklichen Tochter Jeanne [nach dem Tod ihres Mannes] nach Paris. Sie befreunden sich mit einer benachbarten Arztfamilie. Hélène verliebt sich in Doktor Deberle. Sie werden ein Paar, von Jeanne mit Eifersucht verfolgt. Als sich Hélène nach langen inneren Kämpfen ihrem Liebhaber hingibt, setzt sich Jeanne mutwillig der kalten Nachtluft aus, erkrankt schwer und stirbt. Das wegen ihrer Unachtsamkeit, ihrer Leidenschaft gestorbene Kind steht nun zwischen den Liebenden und trennt sie. Hélène heiratet schließlich den ungeliebten, aber gutherzigen Bürger [Monsieur Rambaud].“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 345). 479,674 Casanova] Giovanni Giacomo Casanova (1725–1798), legendärer venezian. Schriftsteller u. Abenteurer, der u. a. am engl., preuß. u. russ. Hof verkehrt; bek. durch seine Frauengeschichten. Bek. v. a. durch seine Autobiographie Histoire de ma vie (1789) (dt., „Geschichte meines Lebens“); C. stellt die Gesellschaftsordnung des Ancien Régime nicht in Frage. 479,675 „Nana“] (dt., „Nana“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1880. 9. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Die Floristin Nana [Coupeau], Mutter eines unehelichen Kindes, bringt sich mit Prostitution durchs Leben, bis sie in einer erotischen Hauptrolle im Théâtre des Variétés auftritt und mit einem Schlag bekannt wird. Zu ihren Sponsoren gehört u. a. der reiche jüdische Bankier Steiner sowie ein Journalist [Fauchery], der bis dahin keusche und bigotte Graf Muffat und der junge Georges [Hugon]. Wechselhaft verläuft Nanas Schicksal, von einer Ausgehaltenen über den Straßenstrich bis zur Königin der Pariser Lebewelt. Die ihr verfallenen Männer werden zu Opfern dieser Karriere. Als sich ihr Weg wieder einmal zum Unguten zu wenden droht, verschwindet Nana plötzlich aus Frankreich, kehrt einige Zeit später als wohlausgestattete Geliebte eines Russen zurück, aber nur, um ihr an Blattern

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erkranktes Kind sterben zu sehen und selbst der entstellenden Krankheit zu erliegen.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 345). 479,676 Thomas Otways „Gerettetem Venedig“] Thomas Otway (1652–1685), engl. Dramatiker. Werke u. a. die Trauerspiele Alcibiades (1675), Don Carlos, Prince of Spain (1676) (dt., „Don Carlos, Prinz v. Spanien“); The Orphan, or The Unhappy Marriage (1680) (dt., „Der Waise o. die unglückl. Hochzeit“) u. Venice Preserv’d (1682) (dt., „Das gerettete Venedig“). 479,677 „La joie de vivre“] (dt., „Die Freude am Leben“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1884. 12. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Die Chanteaus nehmen ihre kleine verwaiste Verwandte Pauline als Mündel [in Bonneville, einem kleinem Fischerdorf bei Caen,] auf. Das Mädchen entwickelt eine tiefe Zuneigung zu seinem Cousin Lazare, einem zwar begabten, aber launinschen und willensschwachen jungen Mann. Dessen Unternehmungen zehren das Geld Paulines auf, das die Tante für sie verwalten soll. Um ihrem Sohn alles Geld zu sichern, fördert Madame Chanteau die Liebe Paulines solange, bis die Erbschaft des Mädchens zusammengeschmolzen ist und Lazare eine andere Partie [Louise Thibaudier] machen soll. Großmütig, nach schweren inneren Kämpfen, tritt Pauline vom Eheversprechen zurück. Nach dem Tod ihrer Tante ist sie es, die ihren kranken Onkel aufopferungsvoll pflegt, die ihre letzten Sous den Armen hergibt, die Lazares Ehe zu kitten versucht und sich liebevoll um sein kleines Söhnchen kümmert.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 346). 479,677 „La faute de l’Abbé Mouret“] (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1875. 5. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). Der junge Serge Mouret lebt als Pfarrer zusammen mit seiner geistig behinderten Schwester Désirée in Les Artaud, einem kleinen Dorf. Dort trifft er das reiche Mädchen Albine u. verliebt sich in sie. Die Leidenschaft zu ihr treibt ihn in den Wahnsinn, sodass ihn sein Onkel im Park Albines versteckt. Albine nimmt sich seiner an u. beide geben ihrer nun gegenseitigen Liebe Raum. Serges Bruder Archangias spürt ihn auf u. bringt Serge zurück in seine Pfarre. Dies löst beim Abbé Mouret einen erneuten Wahnsinn aus. Wg. ihrer Trennung v. Serge begeht Albine schließl. Suizid. (Vgl. Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 344.). 479,684 Pariser Cocotten-Wirthschaft] Frz., „cocotte“, dt., eigtl. „Henne“, „Hühnchen“, übertragen „leichtes Mädchen“, „Kurtisane“, „Prostituierte“. Veraltete Bez. für eine elegante Frau mit guten Manieren, die mit Männern sexuell verkehrt u. sich dafür v. ihnen aushalten lässt. 480,720 „Pot-Bouille“] (dt., „Ein feines Haus“). Roman v. Émile Zola (1840– 1902) a. d. Jahr 1882. 10. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Octave Mouret findet eine Anstellung als Verkäufer in einem kleinen Pariser Warenhaus. Er wohnt im oberen Geschoss eines Miethauses, dessen Bewohner angeblich lauter ehrenwerte Leute sind. Allmählich

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blickt Octave hinter die Fassade: Ehebruch, betrügerische Heiraten, untergeschobene Kinder, vergewaltigte Dienstmädchen, Dreierbeziehungen, ausgehaltene Dämchen und Jüngelchen, lesbische Liebe zwischen einem Dienstmädchen und einer Bürgertochter und eine Kindesaussetzung, das alles fügt sich zu einem Bild der Doppelmoral. Octave heiratet nach einigen Affären seine verwitwete Chefin [Madame Hédouin] wird dadurch mit einem Schlag wohlhabend und beginnt, das Geschäft zu erweitern.“ (In: Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 345). 480,737 Ich will zum Vergleiche einige bezeichnende Stellen] Die Übersetzungen der zitierten Textstellen sind z. T. sehr frei, d. h. sie entsprechen nicht den Ausgaben der Werke in den dt. Übersetzungen, die N. herangezogen haben könnte. Man muss also davon ausgehen, dass N. hier eigene Übersetzungen aus dem Französischen vornimmt, die der Absicht geschuldet sind, die literar. Fähigkeit des Autors infrage zu stellen. 480,738 Victor Hugos „Notre Dame de Paris“] Notre-Dame de Paris. Histor. Roman v. Victor Hugo (1802–1885), erschienen 1831, bek. als Der Glöckner von Notre Dame. Erzählt wird die trag. Liebesgeschichte des verwachsenen Quasimodo, Glöckner v. Notre-Dame, zur schönen Esmeralda. 480,741 „Die Spritze behielt] In: La conquête de Plassans (1874) (dt., „Die Eroberung von Plassans“), 23. Kapitel. 4. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus v. Émile Zola (1840–1902). 480,742 „Der Besen wühlte] In: La faute de l’Abbé Mouret (1875) (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Erstes Buch, 1. Kapitel. 5. Bd. des Rougon-MacquartZyklus. 480,743 „Die Kyrie Eleison] In: La faute de l’Abbé Mouret (1875) (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Erstes Buch, 2. Kapitel. 5. Bd. des Rougon-MacquartZyklus. 480,744 „Die Kanzel erhob sich] In: La faute de l’Abbé Mouret (1875) (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Erstes Buch, 2. Kapitel. 5. Bd. des Rougon-MacquartZyklus. 480,747 „Die Sonnenstrahlen] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „NotreDame von Paris“), Siebtes Buch, 1. Kapitel. 480,751 „Als der Priester] In: La faute de l’Abbé Mouret (1875) (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Erstes Buch, 2. Kapitel. 5. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 481,756 „In einer Spalte] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“) v. Victor Hugo (1802–1885). Elftes Buch, 2. Kapitel: La creatura bella bianco vestita. 481,758 „An einem Fenster] In: La faute de l’Abbé Mouret (1875) (dt., „Die Sünde des Abbé Mouret“). Erstes Buch, 2. Kapitel. 5. Bd. des Rougon-MacquartZyklus. 481,760 „Gegen Osten] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Elftes Buch, 2. Kapitel.

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481,762 „Die geschlossenen] In: L’Assommoir (1877) (dt., „Der Totschläger“), 2. Kapitel. 7. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 481,764 „Schon wurde da] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Elftes Buch, 2. Kapitel. 481,766 Solfatare] In den Cratere Solfatara in Pozzuoli, westl. v. Neapel in den Phlegräischen Feldern (ital., Campi Flegrei), vorkommende vulkan. schwefeldioxydhaltige Rauchgase. 481,766 „Eine elende] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Zweites Buch, 2. Kapitel. 481,768 „Die Blase] In: L’Assommoir (1877) (dt., „Der Totschläger“), 2. Kapitel. 7. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 481,772 „Die Dampfmaschine] In: L’Assommoir (1877) (dt., „Der Totschläger“), 1. Kapitel. 7. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 481,776 „An der Zollschranke] In: L’Assommoir (1877) (dt., „Der Totschläger“), 1. Kapitel. 7. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 481,783 „Und in dem Maße] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Zweites Buch, 6. Kapitel. 481,788 „Der Platz bot] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Erstes Buch, 1. Kapitel. 481,792 „In den unruhigen] In: Notre-Dame de Paris (1831) (dt., „Notre-Dame von Paris“). Zehntes Buch, 4. Kapitel. 482,795 „Es waren nicht …] In: Au bonheur des dames (1883) (dt., „ Paradies der Damen“). 1. Kapitel. 11. Bd. des Rougon-Macquart-Zyklus. 482,820 Molochsrachen] „Moloch“, gr., Μολόχ, Transkription a. d. Hebr., dt., „König sein“, „Herrscher sein“. Bibl. Bez. für die Opferung v. Kindern durch Feuer im phöniz.-kanaanä. Raum. Im übertragenen Sinn Bez. für eine grausame Macht, die immer wieder neue Opfer fordert, z. B. alles verschlingende Metropolen. 482,826 Destillir-Apparat] Destillation v. lat., destillatio, dt., „Herabträuffeln“, Abfluß“. Apparatur zur Aufspaltung eines Stoffgemisches in seine Bestandteile. Dient u. a. der Gewinnung v. Alkohol u. Äther. In Émile Zolas (1840–1902) L’Assommoir (1877) (dt., „Der Totschläger“) v. zentraler Bedeutung. 482,827 „Au Bonheur des dames“] (dt., „Das Paradies der Damen“). Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1883. 11. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – „Das Paradies der Damen“ ist ein Kaufhaus, das Octave Mouret n. dem Tod seiner Frau leitet u. in ein modernes Warenhaus verwandelt. Er stellt dies so geschickt an, dass es bald eine Monopolstellung einnimmt u. kleine konkurrierende Geschäfte aufgeben müssen. Denise Baudu, die Nichte eines Kleinladenbesitzers muss im ‚Paradies der Damen‘ als schlecht bezahlte Verkäuferin arbeiten, um sich u. ihre beiden Brüder durchzubringen. Mouret verliebt sich in sie u. beide finden, n. einigen Hindernissen, zum einem gemeinsamen glücklichen Leben. (Vgl. Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 346).

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483,854 Napoleon III.] Eigtl. Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (1808–1873), 1848–1852 frz. Staatspräsident u. v. 1852–1870 Kaiser der Franzosen im sog. Zweiten Kaiserreich, Neffe v. Napoleon I. (1769–1821). 483,862 Patagonien] Südlichster Teil Südamerikas. Hier i. S. v. „am Ende der Welt“. 483,871 F. L. Arnaud] François (-Léon) Arnaud (1858–1927), frz. Psychiater. Werk u. a.: Recherches cliniques sur la paralysie générale chez l’homme (1888) (dt., „Klin. Nachforschungen über die allgemeine Lähmung beim Menschen“). 484,885 Familie namens Kerangal] Familie (auch Kérangal o. Querangal) mit vielen kriminellen Nachkommen. Siehe auch Paul Aubry, Une famille de criminels, les Kérangal: note pour servir à l’histoire de l’hérédité (1892) (dt., „Eine Familie von Kriminellen, die Kérangals: Anmerkung für den Nachweis einer Heriditätsgeschichte“). 484,908 „Rinaldo Rinaldinis“] In dem Roman Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann (3 Bde., 1799–1801), entwirft Christian August Vulpius (auch Anshelmo Mercello Thuring u. Tirso de Milano) (1762–1827) das Vorbild des edlen Räubers. Vulpius, dt. Schriftsteller, Bruder v. Christiane v. Goethe (1765–1816), durch Goethes Vermittlung ab 1797 Theater- u. Bibliothekssekretär in Weimar, ab 1816 Großherzoglicher Rat; Verfasser beliebter zeitgenöss. Ritter-, Räuber- u. Schauerromane. 484,909 „blutigen Nonnen] Werk v. Johann Friedrich Stettner (1777–1829), vollst. Titel Veronika die Nonne mit dem Blutschleier oder die furchtbare Erscheinung um Mitternacht im Schlosse Strahlenfels: eine Ritter- und Geistergeschichte (2 Bde., 1822). Weitere Werke u. a.: Graf Meinolf von Wildenforst oder: das wunderbare Wirken des grauen Mannes auf den Burgen seiner Freunde (1825); Albrecht Achilles Marggraf zu Brandenburg oder ächte Liebe scheut kein Opfer (1826); Graf Albrecht von Hohenstein, oder der Gang nach dem Eisenhammer (1827). 484,909 „Scharfrichter vom Schreckenstein“] Evtl. bezieht sich N. auf Joseph Adolph Mannbachs (Lebensdaten unbek.) Jaroslaus von Königsgab, oder die Todtesbrüder auf Schreckenstein: Romantische Rittergeschichte aus den Zeiten Kaiser Karl IV. (1841). 485,945 Bahnsen] Julius Friedrich August Bahnsen (1830–1881), dt. Philosoph. Nähe zu Schopenhauer. Hauptwerk: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt (2 Bde., 1880/82). 485,945 Mainländer] Philipp Mainländer, geb. als Philipp Batz (1841–1876), dt. Dichter u. Philosoph. In M.s Hauptwerk, Die Philosophie der Erlösung (1876), herrscht ein extremer Pessimismus vor, der im menschl. Leben keinen Wert sieht u. dem Nichtsein vor dem Sein einen entschiedenen Vorzug einräumt. 485,958 Alexis Bertrand] Alexis Bertrand (1850–1923), frz. Philososoph. Professor in Lyon. Werke u. a.: La psychologie de l’effort et les doctrines contemporaines (1889) (dt., „Die Psychologie des Strebens u. die zeitgenössischen Doktrinen“); Lexique de Philosophie (1892) (dt., „Philosophie-Wörterbuch/-Lexikon“); Science et psychologie: nouvelles œuvres inédites de Maine de Biran (1887) (dt., „Wissenschaft u. Psychologie: neue unveröffentlichte Werke v. Maine de Biran“).

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485,959 Gérard, Paul] Paul Gérard (Lebensdaten unbek.), Übersetzer u. Schriftsteller. Übersetzung v. a. von James Sullys (1842–1923) Le pessimisme (Histoire et critique) (dt., „Der Pessimismus (Geschichte u. Kritik)“) (1882; gemeinsam mit Alexis Bertrand, vgl. → 485, 958). Eigene Werke u. a.: L’Amitié (1868) (dt., „Die Freundschaft“). 486,997 Koprolalie] Gr., κόπρος, dt., „Kot“, „Unrat“ u. gr., λαλέω, dt., „reden“, „schwatzen“. Bez. für den zwanghaften Gebrauch vulgärer Ausdrücke (häufig aus dem Bereich der Fäkalsprache), z. B. bei Gilles-de-la-Tourette-Syndrom. 486,998 Catrou] Jacques Catrou (Lebensdaten unbek.), frz. Psychiater. Promotion in Paris 1890 mit Etude sur la maladie des tics convulsifs (Jumping, Latah, Myriachit) (dt., „Studie über die Krankheit der zuckenden Tics (Jumping [Frenchman], Latah, Myriachit“). Schüler v. Jean-Martin Charcot (1825–1893). Jumping Frenchman, Latah u. Myriachit sind als Untersuchungsgegenstände der sog. Ethnomedizin Bez. krankhafter in Abhängigkeit zu ihrer jeweiligen Kultur auftretender Symptome. Die drei genannten krankhaften Störungen ähneln dem Gilles-de-laTourette-Syndrom. Jumping Frenchman ist eine Bewegungsstörung, die aus einem starken Schreck resultiert, erstmals bei Franko-Kanadiern beobachtet. Latah ist als kulturspezifische Störung (Indonesien, Malaysia) identifiziert, die sich in weit übertriebenen Reaktionen auf eine ängstigende Situation oder ein Trauma gefolgt v. unwillkürlicher Echolalie, Echopraxie o. trance-ähnlichen Zuständen äußert. Für Miryachit ist der Referenzkulturraum Sibirien. Diese Zwangsstörung äußert sich i. d. Nachahmung v. Handlungen u. Gesagtem anderer Personen. 487,1005 Andreas Verga] (1811–1895), ital. Neurologe u. Psychiater. Mitbegr. des Archivio Italiano per le malattie nervose e più particolarmente per le alienazioni mentali (1864) (dt., „Ital. Archiv für Nervenkrankheiten u. inbes. für Geistesstörungen“). 487,1007 „mania blasphematoria“] Latinisiert aus gr., μανία, dt., „Raserei“, „Wahnsinn“, „Verzückung“, u. gr., βλασφημία, dt., „Schmähung“, „Verleumdung“, dt., „Gotteslästerungswahn“. Diagnose u. Begriffsbildung v. Andreas Verga (1811– 1895). Manie der Gottesbeleidigung durch Flüche, dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom ähnl. 487,1017 „Argot“] Soziolekt gesellschaftl. Randgruppen im Frankreich des Mittelalters zur Verschlüsselung u. zur sozialen Identifikation. 487,1024 Rothwälsch] Eigtl. „Rottwelsch“, auch „rotwalsch“. Etymologie nicht völlig geklärt, evtl. über mhd., „rot“, dt., „das Verrotten“, mittelnl., „rot“, dt., „faul“, „schmutzig“ u. „welsch“, dt., „unverständl.“, „fremd“, „fremdartig“ (wie in dt., „Kauderwelsch“) i. S. v. „unverständl. Redeweise mit Betrugsabsicht“. Bez. für eine Gruppe v. Soziolekten gesellschaftl. Außenseiter (Bettler, Handlungsreisende/ Vaganten – darunter häufig Kriminelle u. a.). Keine eigene Sprache, sondern aufgrund seines v. der Standardsprache abweichenden Sonderwortschatzes ein Jargon.

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487,1036 Le più recenti scoperte] Vollst. Titel Le più recenti scoperte ed applicazioni della psichiatria ed antropologia criminale (1893) (dt., „Die jüngsten Entdeckungen u. Anwendungen der Psychiatrie u. Kriminalanthropologie“). 487,1041 Le Journal des Goncourt] (1851–1891) (dt., „Das Tagebuch der Goncourts“). Das Journal stellt ein kulturhistor. Dokument ersten Ranges dar. Die Brüder führen es ab 1851 gemeinsam; nach Jules’ frühem Tod (1830–1870) wird es v. Edmond Goncourt (1822–1896) allein fortgesetzt. Vgl. → 43, 687. Anspruch der Brüder G. ist es, der Nachwelt ein Bild der zeitl. Umstände u. v. a. auch ihrer Zeitgenossen zu hinterlassen. So verschriftlichen sie täglich, mit naturalist.-positivist. Anspruch, ihre Gedanken u. Beobachtungen. 488,1065 Kamisole] Auch „Kamisol“ o. „Camisol“, mlat., camisile, dt., „einfacher Hemdenstoff“ u. mlat., camisia, dt., „Unterkleid“, „Hemd“, „Chorrock der Geistlichen“ u. frz., „camisole“, dt., „Unterjacke“, „Mieder“, „Wams“, „Trägerhemdchen“. 488,1066 Nansuck] Leichtes Linon, Baumwollgewebe. 488,1088 Dr. MacDonald] Arthur MacDonald (1856–1936), amerikan. Kriminologe. V. 1889–1891 Dozent für Kriminologie an der Clark University. 489,1094 „Ennemi des lois“] L’Ennemi des Lois (dt., „Der Feind der Gesetze“). Roman des frz. Schriftstellers, Journalisten u. Politikers Auguste-Maurice Barrès (1862–1923) a. d. Jahre 1893. 489,1116 Séguin] Édouard Séguin (1812–1880), frz. Arzt u. Pionier der Sonderpädagogik mit geistig Behinderten, v. a. durch die zit. Schrift Traitement moral, hygiène et éducation des idiots (1846) (dt., „Moral. Behandlung, Hygiene und [Aus]Bildung v. Idioten/Dummköpfen/Einfältigen“). 489,1120 Heinrich III. von Frankreich] (1551–1589), auch Henri von Valois gen., Herzog von Anjou, König von Polen u. König von Frankreich. Die nachstehende Maria von Cleve gilt als große, unerfüllte Liebe des Königs. 489,1120 Maria von Cleve] Marie de Clèves (1553–1574), frühe Liebe von Heinrich III. von Frankreich (1551–1589). 489,1121 Königs von Navarra] Heinrich IV. von Navarrra (frz., Henri IV. o. Henri le Grand) (1553–1610), seit 1572 König v. Navarra, v. 1589 bis zu seiner Ermordung König v. Frankreich. 489,1121 Magarethe von Valois] (1553–1615), Königin v. Frankreich u. Navarra, Herzogin v. Valois, mit Heinrich IV. v. Navarra am 18. August 1572 verheiratet. 490,1141 Léopold Bernard] (1856–1925), Gymnasiallehrer u. Schriftsteller. Werke u. a.: Les odeurs dans les romans de Zola: Conférence faite au Cercle artistique (1889) (dt., „Die Gerüche in den Romanen Zolas: vor dem Künstlerkreis gehaltener Vortrag“). N. zitiert das Erscheinungsdatum hier ungenau. 490,1152 „Ventre de Paris“] (dt., „Der Bauch von Paris“), Roman v. Émile Zola (1840–1902) a. d. Jahr 1873 u. 3. Teil der zwanzig Bände umfassenden Romanserie Les Rougon-Macquart (1871–1893). – Der polit. Häftling Florent flieht v. der Teufelsinsel, auf die er n. den Pariser Unruhen 1851 verbannt worden ist, kehrt n. Paris

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zu seinem Stiefbruder Quenu zurück u. zieht bei ihm u. seiner Schwägerin Lisa ein. Bei der Arbeit i. d. Markthalle lernt er revolutionär Denkende kennen u. wird abermals verhaftet. Seine Schwägerin hat ihn angezeigt, damit sie u. sein Bruder keine Schwierigkeiten bekommen. 491,1205 Moschusthier] Sibir. Moschustier (Moschus moschiferus). Hirschähnl., aber geweihloser, wiederkäuender Paarhufer. Moschusdrüse beim Männchen sondert eine bräunl., olfaktor. eindringl- Substanz ab. Vorkommen in den Hochgebirgen Zentralasiens, wg. seines Duftstoffes (Moschus), dem eine aphrodisierende Wirkung zugeschrieben wird, stark bejagt. 493,1259 Dramatiker der Pariser „Freien Bühne“] N. bezieht sich hier vmtl. auf das sogen. „Théâtre Libre“ (dt., „Freies Theater“), Pariser Abonnentenbühne v. André Antoine (1858–1943). 1887 gegr., 1896 Umbenennung in „Théâtre Antoine“ (Le théâtre Antoine-Simone Berriau). Im Programm Werke v. Turgenjew, Ibsen, Zola, Strindberg u. Hauptmann. 493,1259 italienischen „Veristen“] Ital., „verismo“, dt., „Verismus“, „Realismus“ v. ital., „vero“, dt., „wahr“. Anhänger des Verismus, einer Strömung der ital. Literatur im 19. Jh., die durch exakte Beschreibung ländl. Milieus bzw. unterer Schichten sozialkrit. Ziele verfolgt. Als Hauptvertreter der veristischen Literatur gelten Giovanni Verga (1840–1922) u. Luigi Capuana (1839–1915), der sich auch als Theoretiker betätigt u. die „poesia del vero“ definiert. Namensgebend für eine Richtung der ital. Oper Ende des 19. Jh.s z. B. Cavalleria rusticana (dt., „Sizilianische Bauernehre” (1890) v. Pietro Mascagni (1863–1945) u. Pagliacci (dt., „Der Bajazzo”) (1892) v. Ruggero Leoncavallo (1857–1919). 493,1280 Leopardi] Giacomo Leopardi (1798–1837), ital. Schriftsteller, Philologe u. Übersetzer. Tendenz zu Pessimismus, Selbstmitleid, Todessehnsucht u. Misogynie. Werke u. a. Operette morali (1827) (dt., „Kleine moral. Werke“); Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura (1898–1900) (dt., „Gedanken zu mannigfaltiger Philosophie u. zu schöner Literatur“). Giosuè Carducci (1835–1907) gibt v. 1898 bis 1900 als Vorsitzender einer Studienkommission die v. L. geführten Notizbücher (Lo Zibaldone), in denen der Schriftsteller seine Reflexionen u. Gedanken (ital., „pensieri“) festhielt, in krit. Ausgabe heraus. 493,1296 Zote] Mhd., zot(t)e, dt., „Fetzen“, „herabhängendes Haarbüschel“, „Schamhaar“. Obszöner Scherz. 493,1299 Chiracscher Art] Frédéric de Chirac (Lebensdaten unbek.), konzeptioneller Schöpfer des sog. Realistischen Theaters (frz. „théâtre réaliste“) in Frankreich. Thematisierung gesellschaftl. Abgründe (z. B. Prostitution, Vergewaltigung, Abtreibung).

II. Die „jungdeutschen“ Nachäffer. 495,21 J. P. Jakobsen] Jens Peter Jacobsen (1847–1885), dän. Schriftsteller u. Übersetzer v. a. Charles Darwins (1809–1882). Sensitiv- ästhet. Darstellung feinster See-

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lenzustände, die Figuren sind v. Leere u. Entfremdung infolge ihrer Determiniertheit v. Anlange u. Milieu gekennzeichnet. Werke u. a.: Fru Marie Grubbe (1876) u. Niels Lyhne (1880). 495,21 Arne Garborg] Aadne Eivindsson Garborg (1851–1924), norweg. Schriftsteller des Naturalismus. Werke u. a.: Bondestudentar (1883) (dt., „Bauernstudenten“); Mannfolk (1886) (dt., „Aus der Männerwelt“); Traette Maend (1891) (dt., „Müde Seelen“). Allmähl. Ablösung vom Naturalismus mit Fred (1892) (dt., „Frieden“), endgültige Abkehr mit der lyr. Verserzählung Haugtussa (1895). 496,47 Görres] Johann Joseph von Görres (1776–1848), dt. kath. Publizist, Gelehrter der Romantik, überzeugter Demokrat u. Anhänger der Frz. Revolution. Hg. der Zeitschrift Das rote Blatt u. 1814–1816 der liberalen Zeitung Rheinischer Merkur. Privatdozent an der Philosoph. Fakultät der Universität Heidelberg (1806– 1808). Freundschaft mit Achim von Arnim (1781–1831) u. Clemens Brentano (1878– 1842). Hg. der Altteutsche(n) Volks- und Meisterlieder aus den Handschriften der Heidelberger Bibliothek (1817). Gemeinsam mit Brentano Hg. der Philistersatire Entweder wunderbare Geschichte von BOGS dem Uhrmacher, wie er zwar das menschliche Leben längst verlassen, nun aber doch, nach vielen musikalischen Leiden zu Wasser und zu Lande, in die bürgerliche Schützengesellschaft aufgenommen zu werden Hoffnung hat, oder die über die Ufer der badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene ,Konzert-Anzeige‘. Nebst des Herrn Bogs wohlgetroffenem Bildnisse und einem medizinischen Gutachten über dessen Gehirnzustand (1807). N. Publ. des Aufsatzes Kotzebue und was ihn gemordet (1819) u. des Manifestes Teutschland und die Revolution (1819) Flucht ins Exil. 1827 Ruf an die Universität München, dort Mittelpunkt der kath. Spätromantik. 496,48 Novalis] Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg (1772–1801), dt. Jurist, Schriftsteller u. Philosoph der Frühromantik. Pseudonym Novalis (lat., de novali, dt., „der Neuland Rodende“). Ab 1797 Mitarbeit an der v. den Brüdern Schlegel hg. Zeitschrift Athenäum, darin veröfftl. das berühmte Fragment Blühtenstaub (1798), 1798 ebenfalls die Fragmentsammlung Glauben und Liebe oder der König und die Königin anlässl. der Thronbesteigung Königs Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) v. Preußen. Verfasser v. Europa (1799, Druck 1802) (1826 als „Die Christenheit oder Europa“ veröfftl.). Als Lyriker durch den bedeutenden Zyklus Hymnen an die Nacht (1800) bek. Unvollendet blieb der Roman Heinrich von Ofterdingen (1802), darin das Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“. 496,48 Oskar von Redwitz] Oskar Freiherr von Redwitz (1823–1891), dt. Schriftsteller. Bekannter Schriftsteller seiner Zeit, konservative u. vom christl. Glauben geprägte Werke. u. a.: das Versepos Amaranth (1849; 42. Auflage 1898); ferner Märchen (1850), Gedichte (1852); die Tragödien Sieglinde (1854) u. Thomas Morus (1856), die histor. Dramen Philippine Welser (1859) u. Der Zunftmeister von Nürnberg (1860); der Roman „Odilo“ (1878) u. der autobiograph. fundierte Roman Hermann Stark, deutsches Leben (1868); 1871 Publ. einer Anthologie v. mehreren hundert patriot. Liedern (Das Lied vom neuen deutschen Reich).

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496,50 Karl Beck] Karl Isidor Beck (1817–1879), österr.-ungar. Schriftsteller, Dichter u. Journalist im Umfeld der Vertreter des Jungen Deutschland. Verfasser v. sozialkrit. u. polit. Gedichtbänden: Nächte, gepanzerte Lieder (1838); Lieder vom armen Mann (1846); An Franz Joseph (1849). Romane: (in Versen) Jankó der ungarische Roßhirt (1841); Mater dolorosa (1854); Jadwiga (1863). 496,50 Georg Herwegh] Georg Friedrich Rudolph Theodor Andreas Herwegh (1817–1875), dt. revolutionärer Schriftsteller u. Publizist des Vormärz. Bek. durch die Gedichte eines Lebendigen (1841). Zunehmend sozialkrit. u. sozialist. Tendenzen. Seit 1863 Mitgliedschaft im ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein), Verfasser des Bundesliedes (1863). 496,50 Freiligrath] Hermann Ferdinand Freiligrath (1810–1876), dt. Schriftsteller, Dichter u. Übersetzer. Seit 1834 Publ. im Deutschen Musenalmanach. 1838 erste eigenständige Anthologie (Gedichte). Zunehmend revolutionär-demokrat. Haltung in Ein Glaubensbekenntniß (1844). 1844 Emigration. In Paris u. a. Kontakt zu Karl Marx (1818–1883). Zunehmende Sympathie für den Kommunismus, so in dem Gedichtband Ça ira! (1846) (dt., „Wir werden es schaffen!“). 1848 Revolutionsgedichte (Die Todten an die Lebenden). Übersetzer v. Werken Victor Hugos (1802– 1885) u. William Shakespeares (1564–1616). 496,50 Ludwig Seeger] Ludwig Wilhelm Friedrich Seeger (1810–1864), dt. Schriftsteller, Übersetzer, Politiker, Theologe u. Altphilologe. Mitarbeit an der 1843 v. Georg Herwegh (vgl. → 496, 50) hg. Zeitschrift 21 Bogen aus der Schweiz. Werk u. a.: die programmat. Gedichtsammlung Der Sohn der Zeit. Freie Dichtung (1843). Übersetzer v. Werken des Aristophanes (um 445-n. 338 v. Chr.), William Shakespeares (1564–1616), Victor Hugos (1802–1885) u. Pierre-Jean de Bérangers (1780– 1857), dessen Name er zeitweilig als Pseudonym seiner Übersetzungen verwendet. 496,50 Friedrich von Sallet] Friedrich Karl Ernst Wilhelm von Sallet (1812– 1843), dt. Offizier u. Lyriker im Umkreis des literar. Vormärz. Bedeutend sind das unter dem Einfluss der Werke Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) entstandene Laien-Evangelium (1842) u. die Streitschrift Die Atheisten und die Gottlosen unserer Zeit (1844). 496,51 R. E. Prutz] Robert Eduard Prutz (1816–1872), dt. Schriftsteller, Literaturwissenschaftler u. Publizist des Vormärz. Mitarbeit an der 1843 verbotenen Publikation Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe. Infolge der Komödie Die politische Wochenstube (1845) Prozess wg. Hochverrats u. Majestätsbeleidigung. 1849 apl. Professur für Literaturgeschichte an der Universität Halle. In diesem Amt Werke u. a.: Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters (1847) u. Die deutsche Literatur der Gegenwart (1859). 496,55 Nikolaus Lenau] Nikolaus Lenau (eigtl. Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau) (1802–1850), österr.-ung. Schriftsteller u. Lyriker des Biedermeier. Dichter der Melancholie u. des Nihilismus. Bedeutende Anthologien u. a. Schilflieder (1832), Polenlieder (1835) u. das Versepos Faust. Ein Gedicht (1836). 1844 Arbeit an einer Don Juan-Dichtung, v. Richard Strauss (1864–1969) vertont (1889). N. mehreren Suizidversuchen ständiger Aufenthalt in Nervenheilanstalten.

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496,65 Feuerbach] Ludwig Andreas Feuerbach (1804–1872), dt. Philosoph. F.s Religionskritik hat einen bedeutenden Einfluss auf die Literaten des dt. Vormärz u. frühen Realismus. V. a. das Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1841) wird leidenschaftl. rezipiert; darin deutet F. den Gottesglauben anthropologisch im Sinne einer Projektionstheorie. „Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf, wie ich im Wesen des Christentums zeigte, Gott nach seinem Bilde.“ (Vorlesungen über das Wesen der Religion, Leipzig 1851, Zwanzigste Vorlesung, 241). 496,70 „Le Temps“] „Une chronique berlinoise: M. Maximilien Harden“ (dt., „Eine Berliner Chronik: Herr Maximilian Harden“) ist unter der Rubrik „Lectures étrangères“ (dt., „Ausländische Lektüren“) erschienen. „Sans injustice, on peut en dire autant de la littérature courante, qui est présentement en Germanie d’une indigence inouie. D’un bout de l’année à l’autre, il devient impossible d’y relever un roman, un drame, une page de critique digne d’être signalés. La Deutsche Rundschau elle-même en convenait récemment avec désespoir. Ce ne sont pas seulement l’esprit et le style qui font défaut: tout est pauvre, vide et plat; on se croirait en France, au temps de Bouilly. […] L’intention même de s’élever au-dessus d’un certain niveau d’écriture vulgaire semble leur manquer. On finit par savoir gré à un auteur allemand contemporain, quand on aperçoit chez lui […] le plus faible effort pour […] ne plus écrire comme un balayeur“. 496,75 zu Zeiten Bouillys] Jean Nicolas Bouilly (1763–1842), frz. Politiker, Dramatiker, Librettist. Bekannt für sein Libretto Leonore (1798), das für Ludwig van Beethovens (1770–1827) Oper Fidelio (Ua. 1805) die Grundlange bildet. 497,112 Die Familie Selicke] (1890), Drama v. Arno Holz (1863–1929) u. Johannes Schlaf (1862–1941). Zitat aus dem Vorwort der Autoren. Johannes Schlaf (1862– 1941), dt. Schriftsteller u. Übersetzer des Naturalismus. Co-Autor v. Arno Holz (1863–1929), spätere Entzweiung u. gegenseitige Antipathie. Gemeinsam mit Holz: Papa Hamlet (1889). 497,123 Anmerkung 3] Die Gedichtzeilen sind vmtl. aus dem Gedächtnis zitiert u. weichen zum Teil erheblich v. der Vorlage ab. 1. Zitat aus Der deutsche Tichter in Abdera aus dem Zyklus Sicilianen (1893) v. Detlev von Liliencron (eigtl. Friedrich Adolf Axel Freiherr von Liliencron) (1844–1909), dt. Lyriker u. Schriftsteller des Naturalismus; zahlr. Romane, Novellen, Dramen u. Gedichte im Spannungsfeld zw. Naturalismus u. Neuromantik. Im Original: „Du hattest heute wieder nichts zu essen, / Dafür aß jeder Straßenstrolch sich satt.“; „Der ewigen Verdammnis Schrecken ist / Ein Rosengarten unter Frühlingsküssen“; „Denk ich der Schmach, wie grauenhaft es ist, / Täglich mit Pfennigsorgen kämpfen müssen.“ – 2. Zitat: Das Zitat konnte bei Bleibtreu nicht nachgewiesen werden. Ähnlich aber in Heinrich Zschokke’s ausgewählte belletristische Schriften. Zweiter Theil, Aarau 1826, 25–26: „Wir werden angelehrt, Werth in Reichtum zu setzen, und den Millionär noch zu preisen, der Besitz einer Tonne Goldes wird wie ein erhabenes Menschenziel gewähnt.“

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498,144 Karl Bleibtreu] Karl August Bleibtreu (1859–1928), dt. Schriftsteller, Dichter, Literaturhistoriker u. Literaturkritiker. Erklärter Antisemit. Mitarbeit an der Zeitschrift Die Gesellschaft, zeitweilig deren Hg. B. vertritt einen Naturalismus, der die Darstellung innerer Vorgänge einschließt. B. fordert vom Dichter die „Gabe des technischen Sehens und die Kraft, mechanische Dinge plastisch zu modellieren“, „die Wahrhaftigkeit des Lokaltons, de[n] Erdgeruch der Selbstbeobachtung, die dralle Gegenständlichkeit des Ausdrucks“, sowie „die seelischen Vorgänge in ihren intimsten Verschlingungen mit dem Mikroskop psychologischer Forschung [zu verfolgen] und wie ein beliebiges mechanisches Geschehnis der Außenwelt mit sinnlich greifbarer Gestaltung [zu photographieren]“. (Karl Bleibtreu: Revolution der Litteratur. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Stuttgart 1987, 43–47.). Werke u. a.: Lyrisches Tagebuch (1885) u. Andere Zeiten, andere Lieder (1885), Der Kampf um’s Dasein in der Literatur (1888), Geschichte der englischen Literatur (2 Bde., 1888). Jahrelange gerichtl. Auseinandersetzungen mit Max Nordau, die zur Streichung der diffamierenden Behauptungen gegen Bleibtreu führen (zweite Auflage v. Entartung). 498,155 „Ahasver“] In der Volkssagentradition des Mittelalters trägt, so die christl. Überlieferung, der Bürger Jerusalems den Namen Ahasver, der Jesus auf dem Passionsweg nach Golgatha nicht hat ausruhen lassen. Er wird daraufhin auf ewig zum Dasein eines Umherwandernden bestraft. Ab dem 17. Jh. erhält Ahasver den Beinamen „Der ewige Jude“. Im 18. Jh. etabliert sich das Motiv des sog. „ewigen Juden“ in Lyrik u. Epik. Karl Bleibtreus (1859–1928) Gedicht „Ahasver“: „Die Sonne sinkt. Du brennendes Orakel, / Du Nimbus der Natur, Planeten-Pol! / Du Kerze auf der Schöpfung Tabernakel, / Des Genius Symbol! // Wirst du zu dienen nimmer müde werden / Als Ampel diesem morschen Himmelsdom, / Gleichgültig dich zu spiegeln hier auf Erden / Im Blut- und Thränenstrom? // Erröthest ewig du, du Klare, Reine, / Auf diesem Sündenschmutz herabzuschaun? / Schamroth entschwindest du im Abendscheine – / Uns ziemen Nacht und Graun. // Ergrimme endlich! Laß den Feuerwagen, / Gelenkt aus seinem altgewohnten Gleis, / Verzehrend auf den Erdäquator jagen, / Sprenge den Weltenkreis! // Doch bis an diese große Sonnenwende / Irrt ruhelos der Menschengeist umher – / Die Liebe nicht, nein nur das Weltenende / Erlöst den Ahasver. //“ (Nachgewiesen in: Deutsche Lyrik seit Goethe’s Tode. Ausgewählt v. Maximilian Bern. Neue Ausgabe. 16., verbesserte Auflage, Leipzig [um 1900], 32). 498,158 Nimbus] Lat., dt., „Regenguss“, „Sturmwolke“, „Nebelhülle“, auch „Heiligenschein“. Leuchtende Lichterscheinung o. strahlender Glanz um Kopf o. Körper einer Person o. Personendarstellung. 498,159 Tabernakel] Lat., tabernaculum, dt., „Hütte“, „Zelt“. Kunstvoll gestaltetes Schutzdach über Heiligenstatuen, Altären, Grabmälern u. Schreinen. 498,163 Birch-Pfeiffer] Charlotte Birch-Pfeiffer (1800–1868), dt. Schauspielerin, Theaterdirektorin u. Schriftstellerin. Ab 1813 Engagements an repräsentativen

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Theaterbühnen (u. a. in München, Prag, Wien u. Berlin). 1837 Leitung des Aktientheaters in Zürich. Werke u. a.: Romane wie Herma oder der Sohn der Rache (1828), zahlr. Schauspiele, Opernlibretti u. Dramatisierungen v. Romanen u. a. der Autoren Victor Hugo (1802–1885), Charles John Huffam Dickens (1812–1870) u. Johann Ludwig Tieck (1773–1853). 498,164 Björnson] Bjørnstjerne Martinius Bjørnson (1832–1910), norweg. Schriftsteller u. Theaterdirektor. Großer Erfolg mit volkstüml. Bauerngeschichten, Epen wie Arnljot Gelline (1870) (Arnljot Gelline, 1904), Gedichte u. Dramen mit psycholog. feinfühliger Personenzeichnung wie Paul Lange og Tora Parsberg (1898) (dt., „Paul Lange und Tora Parsberg“). 1859 Dichtung der norweg. Nationalhymne: Ja, vi elsker dette landet (dt., „Ja, wir lieben dieses Land“). 499,193 Max Kretzer] Max Kretzer (1854–1941), dt. Schriftsteller aus dem Umkreis des Berliner Naturalismus. Im Spätwerk nationalist. u. antisemit. Tendenz. Werke u. a.: Die Betrogenen (1882); Die Verkommenen (1883); Meister Timpe (1888); Die Bergpredigt (1890) u. Das Gesicht Christi (1896). 499,194 „Die Verkommenen“] Roman v. Max Kretzer (1854–1941), 1883 in zwei Bänden erschienen. Mit soziolog. Genauigkeit geschildertes Schicksal der Berliner Arbeiterfamilie Merk, die infolge radikaler Ausbeutung moral., körperl. u. psych. zugrunde geht. 499,195 die Geschichte der Witwe Gras] N. bezieht sich auf ein am 14. Januar 1877 in Paris begangenes Attentat, bei dem die verwitwete Jenny Amenaide Gras, geb. Brecourt (1837–unbek.), unter dem Namen Jeanne de la Cour als Prostituierte bek., gemeinsam mit dem Ölarbeiter Nathalis Gaudry in dem Bestreben, ihren jungen Geliebten gefügig zu machen, dessen Gesicht mit Vitriolsäure verstümmelt. Sie pflegt den so misshandelten Geliebten, der v. ihrer Täterschaft nichts ahnt, mehrere Wochen, bis sie u. Gaudry schließl. gefasst u. verurteilt werden. 499,202 Falstaffs] Literarische Figur (Sir John Falstaff) bei William Shakespeare (um 1564–1616), Darstellung eines beleibten alten Ritters, der als Feigling u. Prahlhans i. d. Tradition mittelalterl. Moralitäten das Laster verkörpert. Die Figur taucht auf in Henry IV. (Ua. 1597) u. in The Merry Wives of Windsor (Ua. 1597) (dt., „Die lustigen Weiber v. Windsor“). 499,205 Schillerschen Räuber] Die Räuber, Drama v. Friedrich Schiller (1759– 1805), dt. Schriftsteller, Dramatiker u. Philosoph der Klassik. Ua. am Nationaltheater Mannheim (1782). 499,206 Lützowsche Jäger] Der preuß. Reiteroffizier Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow (1782–1834) bildet auf dem Höhepunkt der Befreiungskriege gegen Napoleon (Februar 1813), das sog. „Lützowsche Freikorps“, eine Truppe aus nicht-preuß. Freiwilligen (patriot. gesinnten Handwerkern u. Studenten). 500,219 „Aus einem lyrischen Tagebuch“] Bezug auf das Werk des Schriftstellers Karl Bleibtreu (1859–1928), u. d. Titel Lyrisches Tagebuch erstmals 1885 erschienen. 500,229 Theodor Fontane] Heinrich Theodor Fontane (1819–1898), dt. Journalist, Theaterrezensent u. Schriftsteller des Poetischen Realismus. Gedichte, Balla-

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den (z. B. Archibald Douglas; 1854), Reisebeschreibungen (z. B. Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862–1889) u. Romane Vor dem Sturm (1878) u. Schach von Wuthenow (1883). V. a. Erfolg mit den sog. Berliner Romanen, in deren Zentrum das tragische Schicksal an den Normen der Gesellschaft zerbrechender Frauenfiguren steht: L’Adultera. Roman aus der Berliner Gesellschaft (1882); Cécile (1887); Irrungen, Wirrungen. Berliner Roman (1888) u. Effi Briest (1894/95). Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1893) persifliert die neureiche Berliner Bourgeoisie, während Der Stechlin (1899) als polit. Zeitroman gilt. 500,232 H. Heiberg] Hermann Heiberg (1840–1910), dt. Buchhändler u. Schriftsteller. Werke: die Romane Apotheker Heinrich (1885) u. Ein Weib (1887) u. kurzweilige, pointiert erzählte Novellen. 500,236 Hopfen] Hans Demetrius Ritter von Hopfen (urspr. Mayer, 1845 adoptiert) (1835–1904), dt. Jurist, Historiker u. Schriftsteller. 1862 Publ. der Ballade „Sendlinger Bauernschlacht (1705)“ in Ein Münchner Dichterbuch, 1883 in der Anthologie Gedichte. Mitglied im Münchner Dichterkreis u. der Gesellschaft der Krokodile (s. → 500, 236). Debütroman Peregretta (1864). 500,236 Lingg] Hermann Ritter von Lingg (1820–1905), dt. Arzt, Schriftsteller u. Lyriker. Wg. starker Depressionen in eine Heilanstalt eingewiesen, als geisteskrank gebrandmarkt u. 1846 zwangspensioniert. V. a. das monumentale Versepos Die Völkerwanderung (3 Bde., 1866–1868), exemplar. für L.s patriot. u. historist. Dichtung, erfährt breite Zustimmung. Auf sein Gedicht „Das Krokodil von Singapur“ geht der Name des 1856 v. Paul Johann Ludwig (von) Heyse (1830–1914) gegr. Münchner Dichterkreises Gesellschaft der Krokodile zurück. 500,236 Greif] Martin Greif, eigtl. Friedrich Hermann Frey; seit 1882 Pseudonym gesetzl. zugesprochen (1839–1911), dt. Dramatiker u. Lyriker. Zunächst Nähe, dann Distanz zum Münchner Dichterkreis Gesellschaft der Krokodile. Verfasser patriot. Lyrik, histor. u. hero. Dramen. Werke u. a.: Hans Sachs. Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (1866); Nero (1876); Agnes Bernauer, der Engel von Augsburg (1894). 501,260 Kaiser Vespasian von seinem Harnsteuer-Gelde] Titus Flavius Vespasianus (Imperator Caesar Vespasianus Augustus) (9–79 n. Chr.), erster röm. Kaiser der flav. Dynastie (69–96). Aufgrund finanziellen Notstands im Röm. Reich Besteuerung der Benutzung öffentl. Latrinen. Bei Sueton ist ein Gespräch Vs. mit seinem Sohn Titus (39–81) kolportiert, der sich über diese Steuer echauffiert, was V. wiederum mit dem Bonmot „Atqui, e lotio est“ (dt., „Freilich, sie stammt aus dem Urin“) beantwortet haben soll. Daher auch die lat. Redewendung „Pecunia non olet“ (dt., „Geld stinkt nicht“). 501,264 in dem lyrischen Sammel-Bande „Jung-Deutschland“] N. bezieht sich auf eine v. Wilhelm Arent (1864–1913), Hermann Conradi (1862–1890) u. Karl Friedrich Henckell (1864–1929) hg. Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (Selbstverlag 1885), zweite Auflage u. d. T. Jungdeutschland (1886). Die Anthologie gehört in den Umkreis des Naturalismus u. behandelt Fragen der Geschlechterbeziehung, Probleme der Großstadt u. die soziale Frage.

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501,269 Anspruch der Modernität] In dem Bemühen, eine „neue Lyrik“ zu schaffen, ist der Sammelband programmatisch für den Berliner Naturalismus, was u. a. die Überschrift „Unser Credo“ v. Hermann Conradi (1862–1890) zum Ausdruck bringt. Postuliert werden ein als modern empfundenes Wegwerfen „abgenutzte[r] Schablonen“ (Moderne Dichter-Charaktere, Berlin 1885, II), ein patriot.-nationalist. Geist u. die erneute Begründung „großer Seelen und tiefer Gefühle“ (ebd., IV). 501,272 Heine-, Boerne- und Gutzkow-Gruppe] Als „Junges Deutschland“ bez. Gruppe liberal gesinnter, junger Schriftsteller im Vormärz (um 1815 bis zur Märzrevolution 1848), mit Christian Johann Heinrich Heine (1797–1856), Carl Ludwig Börne (1786–1837) u. Karl Ferdinand Gutzkow (1811–1878). 501,275 „Im Liebesrausch“] 1890 erschienener Roman des Literaturwissenschaftlers u. Schriftstellers Heinz Tovote (1864–1946), Übersetzer v. Guy de Maupassant (1850–1893). T.s Werke werden der Décadenceliteratur zugerechnet, weisen aber auch Bezüge zum Realismus u. Naturalismus auf; später eher Trivialromane. Zu seiner Zeit außerordentlich beliebter Autor. Hohe Auflagen v. Im Liebesrausch bis in die Zwanziger Jahre. 502,333 Tautologie] Gr., ταυτολογία, dt., „Wiederholung des bereits Gesagten“. Rhetor. Figur der stilist. Doppelaussage. Die v. N. gen. Beispiele sind allerdings keine Tautologien, sondern Epitheta, also als Attribut gebrauchte Adjektive o. Partizipien. 502,334 Equipagen] Elegante u. herrschaftl. Kutschen o. Gespanne. 503,344 „Der Mikado“] The Mikado; or, The Town of Titipu (1885) (dt., „Der Mikado o. ein Tag in Titipu“), Kom. Oper des brit. Komponisten Arthur Sullivan (1842–1900) n. dem Libretto v. Sir William Schwenck Gilbert (1836–1911). M. urspr. eine poet. Benennung für den japan. Kaiser. 504,410 Nickhaut] Lat., Plica semilunaris conjunctivae o. Membrana nictitans. Drittes Augenlid vieler Wirbeltiere, das als häufig durchsichtige Bindehautfalte meist im inneren, nasenseitigen Augenwinkel entspringt, hier v. besonderen N.Drüsen befeuchtet wird u. durch bestimmte Muskeln unterhalb der beiden anderen Augenlider v. innen oben schräg n. unten über den Augapfel ausgebreitet werden kann. 505,420 Kapaun] Bez. für einen kastrierten Hahn, dessen besonders weiches, schmackhaftes Fleisch i. d. Haute cuisine geschätzt wird. 505,434 Hâvre] Le Havre. Im 16. Jh. an der Seine-Mündung gegr. Hafen, bis Mitte des 19. Jh.s zu einem wichtigen Personen- u. Handelshafen entwickelt. 505,459 „tourniquet“] Frz., dt., „Drehtür“, „Drehkreuz“. 505,459 „moulinet“] Frz., dt., „kleine Mühle“ ; „Rolle“ bzw. „Rotationsbewegung“. 505,460 „cabinets séparés“] Frz., dt., „mehrere voneinander getrennte Nebenzimmer“. 505,460 „cabinets particuliers“] Frz., dt., „Klub-, Vereins-, Nebenzimmer“. 506,467 Sauglockenläuten] Volkstüml. Ausdruck für Zotenreißen, ab dem 17. Jh. belegt.

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506,489 Panoptikum] Gr., πᾶν, dt., „alles“ u. gr., ὀπτικός, dt., „das Sehen betreffend“. Wachsfigurenkabinett o. Sammlung v. Kuriositäten. 506,489 Hottentotten] Während der Kolonialzeit v. den Buren verwendete Bez. (Afrikaans, hottentots) für die in Namibia u. Südafrika lebenden Khoi Khoi, später allg. abwertend. 506,503 Trottoirs] Frz., dt., „Bürgersteige“. 507,512 Rotunde] Lat., rotundus, dt., „rund“. Zentralbau mit kreisförmigem Grundriss, hier vmtl. kleinere, kreisförmige Erhebung inmitten eines Platzes. 506,521 wie Pilatus ins Credo] Redensart, dass man „zu etwas kommt wie Pilatus ins Credo“. Gemeint ist die Frage, wie Pontius Pilatus, der den Kreuzestod v. Jesus v. Nazaret zu verantworten hat, Eingang in das christl. Glaubensbekenntnis finden konnte. Das Sprichwort bez. also i. ü. S. ein unmögl. Geschehen. 507,524 Blouse] Frz., dt., „Arbeitskittel“, „Bluse“. 507,532 Hintertreppenroman-Rührseligkeiten] Bez. für Romane der Trivialliteratur; die Dienstboten v. fahrenden Händlern an der Hintertreppe verkauft wird. R. bezieht sich auf die zumeist kitschigen, auf Affekte ausgerichteten Liebesgeschichten. 508,549 Chimäre] Gr., χίμαιρα, dt., „Ziege“. Feuerspeiendes Fabelwesen der gr. Mythologie, teils Löwe, teils Ziege, teils Schlange. Begriff später zur Kennzeichnung des Bedrohl. u. Dämon. verwendet; im Symbolismus Sinnbild für das Irreale, Phantastische u. Traumhafte. 508,562 „Die gute Schule“] Die gute Schule. Seelenstände. 1890 v. Hermann Bahr (1863–1934) veröfftl. Roman. Dargestellt werden die Stimmungen u. erot. Ausschweifungen eines in Paris lebenden Wiener Künstlers in vorwiegend erlebter Rede. Nach diversen Irrwegen bleibt ihm zuletzt nur noch der bis dahin verschmähte Rückzug in das bürgerl. Leben. Der Roman gehört in den Umkreis der literar. Décadence. Abkehr vom Naturalismus mit dem Abbilden v. Sachzuständen (frz., „états de choses“), stattdessen Beschreibung v. Seelenzuständen (frz., „états d’âme“), die Bahr in Abgrenzung zur herkömml. Literatur als „Seelenstände“ bez. 508,584 „L’Oeuvre“] (1886) (dt., „Aus der Werkstatt der Kunst“). Vierzehnter Band aus der Reihe Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire (dt., „Die Rougon-Macquart. Natur- u. Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich“) v. Émile Zola (1840–1902). – Im Zentrum steht der hochbegabte Maler Claude Lantier. Seel. unausgeglichen, zerstört er alle Bilder, die er für künstl. unvollkommen hält, gerät in finanzielle Bedrängnis u. gesellschaftl. Isolation. Aufgrund seiner starken Selbstzweifel scheitert er am Versuch, ein monumentales Bild der Stadt Paris zu schaffen, was ihn in den Suizid treibt, er erhängt sich vor dem unvollendeten Werk. (Vgl. Veronika Beci: Émile Zola. Düsseldorf, Zürich 2002, 347). 509,609 Rokoko] Frz., „rocaille“, dt., „steiniger Boden“, „Geröll“, „Muschelwerk“. Bez. n. dem im R. häufig wiederkehrenden schnörkelhaften, muschelartigen Zierelement. Epoche des Übergangs zw. Barock u. Klassizismus (etwa 1730–1780); Betonung des Gefälligen, Galanten; Verkörperung zeitgenöss. höf. Ideale.

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511,674 Litanei] Gr., λιτανεία, dt., „Bitten“, „Flehen“. Form v. Bittgebeten in Wechselrede, in denen die Gemeinde auf die Ausführungen eines Priesters mit derselben Bittformel („Erhöre uns“, „Bitte für uns“) antwortet. Bez. hier für langatmige, monotone Aufzählung o. immer wieder vorgebrachte Ermahnung o. Klage. 511,711 Satyriasis] Gr., σατυρίασις, dt., „krankhafte Geilheit“. Benannt n. den Satyrn der gr. Mythologie. Stupsnasige Mischwesen, unbekleidet u. ithyphallisch (gr., ἰθύφαλλος, dt., „aufgerichtetes männl. Glied“) dargestellt. Körper eines Menschen mit Eselsohren u. -schweif. In Medizin u. Psychologie veraltet für krankhaft gesteigerten männl. Geschlechtstrieb. 512,724 Fähnrichs-Tone] Althdt., „faneri“, mittelhochdt., „venre“, frühhdt., „fenrich“. Militär. Dienstgrad. Als Offiziersanwärter sucht sich der Fähnrich durch seinen Kasernenhofton v. niederen Dienstgraden abzuheben. 512,742 „Modernen-Musen-Almanach“] Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Ein Sammelbuch deutscher Kunst. Anthologie mit Werken zum Naturalismus u. Jugendstil. Hg. vom Schriftsteller u. Publizisten Otto Julius Bierbaum (Pseudonym Martin Möbius) (1865–1910); Illustrationen v. Fritz von Uhde (1848–1911), Franz (Ritter von) Stuck (1863–1928) u. Hans Thoma (1839–1924). 512,745 Gustav Falke] (1853–1916), dt. Schriftsteller. Werke u. a.: Mynheer der Tod (1891), Aus dem Durchschnitt. Roman (1892). Stilist. dem Impressionismus zuzuordnen. 512,749 Nazarener] Name einer christl.-romant. Richtung in der Kunst, aus der 1809 in Wien die als Lukasbund (nach dem Evangelisten Lukas, der als Schutzpatron der Maler gilt) gegr. Vereinigung kath. österr. u. dt. Maler hervorgeht. Zielsetzung ist, dem formalen Akademismus eine pietitistisch fundierte Kunst entgegenzusetzen, die Herz u. Seele berücksichtigen soll. Großer Einfluss auf die gesamte Kunst der Romantik. 513,755 „Papa Opitz“] Martin Opitz (1597–1639), bedeutender dt. Schriftsteller des Barock. Reform der dt. Dichtung durch verbindl. Festlegung auf die metr. Regulierung v. Lyrik durch Jambus u. Trochäus sowie der Forderung n. Übereinstimmung v. Wort- u. Versakzent (Buch von der Deutschen Poeterey, 1624). 1625 Publ. der Acht Bücher Deutscher Poematum, darin Gelegenheitsdichtung, Lehrgedichte, Lieder, Liebesgedichte u. geistl. Gedichte. 1630 folgt die weltl. Dichtung Schäfferey von der Nimfen Hercinie. Übersetzer antiker Dramen u. Autor des Librettos zu Daphne (1627), mit dem er der späteren Pastoral-Oper den Weg weist; Komponist Heinrich Schütz (1585–1672). 513,757 Ernst Freiherr von Wolzogen] Ernst Freiherr von Wolzogen (1855– 1934), dt. Schriftsteller, Journalist u. Komponist. 1890 Gründung der Freien literarischen Gesellschaft in Berlin, dort Vortrag u. Lesung aus den Werken der führenden dt. Naturalisten (Conradi, Alberti, Sudermann, Holz, Liliencron etc.). 1901 Gründung des ersten dt. literar. Kabaretts Überbrettl in Berlin (iron. Anspielung auf Friedrich Nietzsches Begriff des „Übermenschen“ in Also sprach Zarathustra). 1907 Gründung der Münchner Literarischen Gesellschaft. W.s Werke gelten als genaue

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Milieuschilderungen mit moderater Zeitkritik. Romane u. a.: Die Kinder der Excellenz (1888); Die tolle Komteß (1890); Die kühle Blonde. Berliner Sittenbild in zwei Bänden (1891); Der Thronfolger (2 Bde., 1892). Dramen u. a.: Das Lumpengesindel (1892); Die Kinder der Excellenz (1893). Biographien: Wilkie Collins. Ein biographisch-kritischer Versuch (1885); George Eliot (1885). Lyrik: Er photographirt!, Eine nervöse Geschichte in Versen (1890). 513,770 ein Warwick des jungdeutschen Schriftthums] N. spielt hier auf die Rolle des 16. Earls of Warwick, Richard Nevilles (1428–1471) an, der 1461 in den Rosenkriegen (engl., „Wars of the Roses“) die Krönung Eduards IV. (1442–1483) durchsetzt u. den Beinamen Warwick the Kingmaker (dt., „Warwick der Königsmacher“) erhält. 513,774 Plättmamsell] Veraltet für Hausgehilfin o. Arbeiterin, die für das Bügeln der Wäsche (norddt., „plätten“) zuständig ist. 513,790 „Amselrufen“] Amselrufe. 1888 hg. Gedichtband v. Karl Friedrich Henckell (1864–1929). 513,794 Erlebte Gedichte] (1892). Lyrikband v. Otto Julius Bierbaum (Pseudonym Martin Möbius) (1865–1910). 513,795 Karl Henckell] Karl Friedrich Henckell (1864–1929), dt. Lyriker im Umkreis der Naturalisten. Lyrik mit mahnendem u. sozialpathet. Charakter. Mithg. der Modernen Dichter-Charaktere (1885). Werke u. a.: Umsonst. Ein sociales Nachtstück (1884); Die neue Lyrik (1885); Poetisches Skizzenbuch (1885); Strophen (1887); Amselrufe (1888); Diorama (1890); Gründeutschland. Eine litterarische Flugschrift in Versen (1890). 514,816 Klapphorn-Reime] Im 19. Jh. in Deutschland entstandene Form der Gelegenheitsdichtung in vier meist jamb. Versen mit dem Reimschema aabb. Der Begriff geht auf ein am 14. Juli 1878 in den Münchner Fliegende(n) Blättern v. dem Göttinger Universitätsnotar Friedrich Daniel veröfflt. Gedicht zurück: „Zwei Knaben gingen durch das Korn, / Der andere blies das Klappenhorn, / Er konnt’ es zwar nicht ordentlich blasen, / Doch blies er’s wenigstens einigermaßen.“ 514,820 Gerhart Hauptmann] Gerhart Johann Robert Hauptmann (1862–1946), bedeutender dt. Schriftsteller u. Dramatiker des Naturalismus. 1886 Mitgliedschaft i. d. Freien litterarischen Vereinigung ‚Durch!‘. Werke u. a. die Dramen Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama (1889); Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren (1892); Die Ratten (1911); Der Biberpelz. Eine Diebskomödie (1893) u. die Novelle Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst (1888). 1912 Literaturnobelpreis. 514,834 Anmerkung 9] N. zitiert hier aus zwei Gedichten Karl Friedrich Henckells (1864–1929): Das erste Zitat stammt aus „Mein Lied“, das zweite aus „Gesang der modernen Barbaren“. 515,838 „Vor Sonnenaufgang“] 1889 u. a., „soziales Drama“ v. Gerhart Hauptmann (1862–1946). Durchbruch der naturalist. Bewegung auf der dt. Theaterbühne. – Die junge Helene Krause versucht, ihrer neureichen pervertierten Familie

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zu entfliehen, indem sie ihre Hoffnungen auf den Sozialreformer Alfred Loth setzt. Als Loth erfährt, dass in ihrer Familie der Alkoholismus herrscht, verlässt er sie aus Angst, degenerierte Kinder in die Welt zu setzten. Helene tötet sich mit einem Hirschfänger. – Als Quelle diente Hauptmann Gustav von Bunges (1844–1920) Die Alkoholfrage (1887), aus der er den Protagonisten Loth wörtl. zitieren lässt. Das Drama gerät zum Theaterskandal. 515,839 „College Crampton“] Kollege Crampton (1892). Fünfaktige Komödie Gerhart Hauptmanns (1862–1946). Deren Hauptfigur, der an der Kunstakademie beschäftigte Professor Harry Crampton, ist als literar. Denkmal für H.s früheren Kunstlehrer James Marshall (1838–1902) zu sehen. Crampton wird als naiver Alkoholiker gezeigt, dem aber, im Unterschied zu Figuren in anderen Werken, Hilfe durch eine bürgerl. Familie zuteil wird. 515,848 Hopslabär] Gemeint ist der Dorfnarr Baer, der wg. seiner seltsamen Bewegungen „Hopslabaer“ genannt wird. Nebenfigur aus Vor Sonnenaufgang (1889) v. Gerhart Hauptmann (1862–1946). 515,858 „Einsame Menschen“] Fünfaktiges Drama v. Gerhart Hauptmann (Ua. 1891). Es beschreibt den Werdegang des naturphilosoph. Privatgelehrten u. Anhänger Darwins Johannes Vockerat. Dieser versucht als Agnostiker, seinen pietist.einfältigen Eltern u. seiner Frau Käthe zu entfliehen, indem er sich auf eine Affäre mit der emanzipierten Anna Mahr einlässt. Sein Lebensplan scheitert an seiner Umwelt, aber auch an ihm selbst. Vockerat ertränkt sich. 516,883 „soziales Drama“] Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) trägt den Untertitel „Soziales Drama“. Der Terminus bez. im Naturalismus die Abhängigkeit des Menschen vom Milieu (als Begriff einer Subgattung gebräuchl.). 516,892 Diese These ist eine Albernheit] N. hält die werkimmanente These, dass Helene Krause die Alkoholabhängigkeit des Vaters geerbt haben könnte, ohne selbst v. ihr betroffen zu sein, für irrig. Eine aktive Vererbung des Alkoholismus hält er dagegen wie viele Mediziner seiner Zeit für mögl. 517,921 „Die Weber“] Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren, Ua. im Deutschen Theater Berlin (1894), Drama in fünf Akten v. Gerhart Hauptmann (1862–1946), über den Aufstand schlesischer Weber (1844). Eindringl. beschreibt es das Elend u. den Aufstand der Weber, der militär. niedergeschlagen wird, wobei der unbeteiligte u. weit weniger revolutionäre alte Weber Hilse zu Tode kommt. Das Stück gilt als eines der bedeutendsten sozialen Dramen in dt. Sprache. 517,949 Sighele] Scipio Sighele (1866–1913), ital. Kriminologe, Psychologe u. Anthropologe, einer der Vertreter der „psychologie des foules“ (dt., „Psychologie der Massen“) im Frankreich des späten 19. Jh.s. Histor. Beispiele (Junitage 1848, die Pariser Kommune o. der Fenstersturz eines Mineningenieurs während des Bergarbeiterstreiks v. Décazeville 1884) dienen zur Charakterisierung der leicht zu beeinflussenden u. zu kriminellen Handlungen neigenden Massen, die den Fortschritt der Gesellschaft bedrohen. 517,949 Fournial] Henry Fournial (1866–1932), frz. Psychopathologe, weiterer Vertreter der „psychologie des foules“ (dt., „Psychologie der Massen“).

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517,960 Anmerkung 12] Sigheles Schrift La folla delinquente (dt., „Die kriminelle Menge“) erscheint 1891 in Turin. 1892 folgt in Paris die frz. Übersetzung La foule criminelle: Essai de psychologie collective (dt., „Die kriminelle Menge: Versuch/Essay über kollektive Psychologie“), 1897 die dt. Version Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen. 519,1009 „Der Apostel“] 1890 veröfftl. Erzählung v. Gerhart Hauptmann (1862– 1946), i. d. dieser die Begegnung mit dem öffentl. predigenden Naturphilosophen, Schriftsteller u. Vorreiter der Vegetarismus-Bewegung, Johannes Friedrich Guttzeit (1853–1935), in Zürich verarbeitet. 519,1009 „Bahnwärter Thiel“] Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie aus dem märkischen Kiefernforst, 1888 erschienene Erzählung v. Gerhart Hauptmann (1862– 1946). Beschreibung des Schicksals des v. seinem Beruf wie seinem Trieb determinierten Bahnwärters Thiel, der n. dem Unfalltod seines Sohnes Tobias im Wahn seine zweite Frau Lene u. das gemeinsame Kind tötet. Wg. der themat. Ausrichtung dem Naturalismus zugehörende, von der Erzählweise her aber dem Poetischen Realismus verhaftete Novelle. 520,1078 „Familie Selicke“] Die Familie Selicke. Dreiaktiges Drama v. Arno Holz (1863–1929) u. Johannes Schlaf (1862–1941), Ua. 1890. Brüchige Bindungen innerhalb der Familiemitglieder der Selicke, Alkohlismus u. Aggression brechen aus, als am Weihnachtsmorgen die jüngste Tochter an einer schweren Krankheit stirbt. 521,1102 Hans Merian] (1857–1902), Schweizer Literatur- u. Musikkritiker. 1892 leitender Redakteur der Zeitschrift Die Gesellschaft. M.s Beitrag Lumpe als Helden. Ein Beitrag zur modernen Ästhetik, 1891 i. d. Gesellschaft erschienen, ist programmat. für den Naturalismus. 521,1114 Suada] Mlat., suada, dt., „Überredung“. Wortreiche Rede, ununterbrochener Redefluss, Redeschwall, Beredsamkeit, Überredungskunst. 521,1121 Maffia] Ital., mafia u. maffia. Etymologie unklar. Sizil., mafiusu, marfusu, dt., „eingebildet“, „selbstsicher“, „mutig“. Arab.-ital., maffia, dt., „Anmaßung“, „Überheblichkeit“. Urspr. Bez. für einen streng hierarch. sizilian. Geheimbund, später Sammelbez. für Organisationen aus dem Bereich der Kriminalität. 521,1121 Mala vita] Ital., mala vita, dt., „schlechtes Leben“. Hier als Bez. für eine Verbrecherbande. 521,1121 Mano negra] Span., La Mano Negra, dt., „Die schwarze Hand“. Bez. einer angebl. existierenden, anarchist. motivierten Gruppe v. Aufständischen in Südspanien. Hier als Bez. für eine Verbrecherbande. 521,1126 Hans Merian] Vgl. → 521, 1102. „Die sogenannten ‚Jungdeutschen‘ in unserer zeitgenössischen Litteratur. Vortrag am 20. Februar 1888 i. d. Buchhändlerbörse in Leipzig“, Leipzig 1888. 521,1103 Spielhagen] Friedrich Spielhagen (1829–1911), dt. Schriftsteller u. Literaturtheoretiker. Neben zahlreichen Novellen u. Romanen, die in den Umkreis des Poetischen Realismus gehören, verfasst Sp. mit den Werken Beiträge zur Theo-

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rie und Technik des Romans (1883) u. Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik (1898) nennenswerte Poetiken zum Verhältnis v. Roman u. Wirklichkeit, in denen er fordert, dass zeitgenöss. Literatur sich auf die Lebenswirklichkeit der Leser beziehen müsse. 521,1107 Paul Lindau] (1839–1919), dt., im 19 Jh. vielgelesener Schriftsteller, Journalist u. Intendant. Bekannt wird v. a. das mehrteilige Werk Berlin (1886–1888) (Der Zug nach dem Westen, 2 Bde., Arme Mädchen, 2 Bde., Spitzen, 2 Bde.). 522,1130 Briganten] Ital., briga, dt., „Kampf“, „Streit“. Bez. für die Aufständischen, die in den 1860er-Jahren in Süditalien im Risorgimento gegen den entstehenden ital. Nationalstaat vorgehen. Hier abwertend für „Straßenräuber“, „Bandit“. 522,1146 „Affiliirten“] Lat., affiliatio, dt., „Adoption“. Veraltet für „Adoption“. Hier als Bez. für Bezugspersonen, Handlanger. 522,1162 „Revue bleue“] Kurzname der (wg. ihres blauen Deckblatts sog.) Wochenschrift Revue politique et littéraire (dt., „Polit. u. literar. Revue“) (Gründung 1863). 522,1163 Conrad Alberti] Konrad Alberti, (geb. als Konrad Sittenfeld) (1862– 1918), dt. Schriftsteller u. Journalist. Prominenter Vertreter des Münchner Naturalismus. Werke u. a.: Gustav Freytag, sein Leben und Schaffen (1884); Bettina von Arnim (1885); Ludwig Börne (1886); Ohne Schminke. Wahrheiten über das moderne Theater (1887); Was erwartet die deutsche Kunst von Wilhelm II. (1888); Die Bourgeoisie und die Kunst (1888); Der moderne Realismus in der deutschen Litteratur und die Grenzen seiner Berechtigung (1889) u. Die zwölf Artikel des Realismus. Ein litterarisches Glaubensbekenntnis (1889), ein v. Charles Darwin (1809–1882) u. Ernst Haeckel (1834–1919) beeinflusstes Kunstprogramm. 522,1167 O. E. Hartleben] Otto Erich Hartleben (1864–1905), dt. Jurist u. Schriftsteller. Mitautor der Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885). Werke u. a.: Studententagebuch: 1885–1886 (1887); Angele (1891); Rosenmontag. Eine Offiziers-Tragödie in fünf Acten (1890). 523,1169 Albert Giraud] Eigtl. Emile Albert Kayenbergh (1860–1929), belg. Lyriker des Symbolismus. 1884 erscheint der Gedichtband Pierrot Lunaire. Rondels bergamasques (dt., „Mond-Pierrot. Ringelgedichte/Rondo-Gedichte aus Bergamo“); v. Otto Erich Hartleben (1864–1905) unter gleichem Titel sehr frei ins Deutsche übertragen (1893), v. Arnold Schönberg (1874–1951) vertont. 523,1184 Hermann Sudermann] Dt. Journalist u. Schriftsteller des Naturalismus (1857–1928). Werke u. a.: die Novellensammlung Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten (1886); die Romane Frau Sorge (1887) u. Der Katzensteg (1890) u. die Dramen Die Ehre (1889) u. Sodoms Ende (1891). 523,1204 Darmstädter Gymnasiasten] Schüler Paul Nodnagel (1874–1892). Unter dem Pseudonym Hans G. Ludwigs Veröfftlg. zahlreicher Gedichte, Essays u. Rezensionen. In einem Nachruf wird Nodnagels Suizid auf den herrschenden „pädagogischen Uniformismus“ zurückgeführt; seine frühreife Begabung wird erst posthum gewürdigt.

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524,1227 Abbé Delille] Jacques Delille (auch Abbé Delille) (1738–1813), frz. Schriftsteller. Seit 1774 Mitglied der Académie française. Abt v. Saint-Séverin de Paris. Vertrauter Marie-Antoinettes (1755–1793), während der Revolution Haft u. Flucht, 1802 rehabilitiert. Lyrik zeichnet sich durch didakt. Absicht u. kunstvolle Rhetorik aus. Anerkannter Übersetzer, u. a. v. Vergils (70–19 v. Chr.) Aeneis (1804) u. John Miltons (1608–1674) Paradise lost (Le paradis perdu) (1805) (dt., „Das verlorene Paradies“). 524,1228 Wilhem I.] Wilhelm Friedrich Ludwig v. Preußen (1797–1888), seit 1858 Regent, seit 1861 König v. Preußen, ab 1871 erster Deutscher Kaiser. 524,1228 Moltkes] Helmuth Johannes Ludwig von Moltke, gen. Moltke d. J. (1848–1916), dt. Generaloberst der preuß. Armee, während des Dt.-Frz. Krieges kämpft er im Genadier-Regiment „König Wilhelm I.“. V. 1906 bis 1914 Chef des Großen Generalstabes. 524,1227 Nepomucène Lemercier] Louis-Jean-Népomucène Lemercier (1771– 1840), frz. Schriftsteller. Verfasser der Tragödie Agamemnon (1797) n. klass. Vorbildern. Zeitweilig gerngesehener Gast in den Salons, u. a. bei Napoleon Bonaparte (1769–1821). 1810 Aufnahme in die Académie francaise. 525,1276 Gerusia] Gr., γερουσία, dt., „Ratsversammlung der Alten“. Beratendes Verfassungsorgan Spartas.

Fünftes Buch. Das zwanzigste Jahrhundert. Prognose. 529,36 Cholera-Bazillus] Gr., χολέρα, dt., „Dachrinne, durch die Regenwasser fließt“, „Krankheit der Galle mit starkem Flüssigkeitsverlust“ u. lat., bacillum, dt., „Stäbchen“, Stöckchen“, „Stab“. Vom Mediziner u. Mikrobiologen Heinrich Hermann Robert Kock (1843–1910) entdecktes Bakterium (heute: Vibrio cholerae) (urspr.: Kommabazillus). Inkubationszeit etwa zwei bis drei Tage, danach starke Brechdurchfälle. Ursache für massive Flüssigkeitsverluste, i. d. Folge Kreislauf-, Nieren-, o. Herzversagen bis hin zum Tode. 529,39 Spaltpilz] Veraltete Bez. für Bakterien o. Krankheitserreger. 529,40 Staphylo- und Streptokokken] Staphylokokken: gr., σταφυλή, dt. „Weintraube“ u. gr., κόκκος, dt., „Kern“, „Scharlachbeere“, Bakterien aus Einzelzellen in Kugelform. Bei starker Vergrößerung Ähnlichkeit mit Weinbeeren. Streptokokken: (gr., στρεπτός, dt., „gedreht“, „geflochten“, „Halskette“ u. gr., κόκκος, dt., „Kern“, „Scharlachbeere“). Bakterien mit kettenähnl. o. paarweiser Anordnung. 529,41 Influenza-Bazillus] Lat., influo, dt., „hineinfließen“, „eindringen“ u. lat., bacillum, dt., „Stäbchen“, Stöckchen“, „Stab“. Akute Infektionskrankheit (auch: Virusgrippe o. „echte“ Grippe), die durch I.-Viren ausgelöst wird. Meist verbunden mit hohem Fieber, Schüttelfrost, Kopf- u. Gliederschmerzen.

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530,65 Aether-, Chloral-, Naphta- und Haschischgenuß] A.: Äther, gr., αἰθήρ, dt., „obere Luftschicht“, „heiterer Himmel“ (veraltet, auch: Ether, Diäthyläther, Ethoxyethan). Seit 1846 als Narkotikum bei Operationen eingesetzt. Konsum als Rauschmittel ab Mitte des 19. Jh.s. – Ch.: Anfangssilben v. gr., χλωρός, dt., „grüngelb“, „blass“ u. ‚Aldehyd‘ v. nlat., Alcoholus dehydrogenatus, dt., „Alkohol, dem Wasserstoff entzogen wurde“. Chloralhydrat, 1869 v. dem Pharmakologen Matthias Eugen Oskar Liebreich (1839–1908) entwickelt. Gilt als das älteste künstl. hergestellte Schlafmittel. Anwendung bei Erregungszuständen u. Wundstarrkrampf. In reiner Form flüssig, Rauschmittel durch Einatmen der Dämpfe.– N.: heute Naphtha, gr., νάφθα o. νάφϑας, dt., „Erdharz“, „Erdöl“. Rohbenzin. Rauschmittel durch Einatmen der Dämpfe. – H.: v. arab., hashish, dt., „Gras“, „Heu“. Gewinnung aus Teilen der weibl. Cannabispflanze (Cannabis sativa L.) u. Pressung des Harzes in Platten oder Blöcken. Seit der Antike weitverbreitetes Rauschmittel. 530,71 Morphin- und Cocain-Einspritzungen] M.: gr., Μορφεύς, dt., Gott des Schlafes u. Traumes, auch Morphium, ein aus Opium (gr., ὄπιον, dt., „Mohnsaft“) gewonnenes Alkaloid, dessen Entdeckung Friedrich Wilhelm Adam Sertürner (1783–1841) um 1804 zugeschrieben wird. Schlafförderndes, schmerzlinderndes u. großes Wohlempfinden auslösendes Gift mit hohem Suchtfaktor. – C.: Kokain. Aus den Blättern des Kokastrauches gewonnenes Alkaloid, 1859/1860 v. Albert Niemann (1834–1861) aus den Blättern des Kokastrauches (Erythroxylum coca Lam.) isoliert. Schmerzstillend, anästhesierend, gefäßkontrahierend, stark stimulierend mit hohem Suchtfaktor. Bei übermäßigem Konsum schwerwiegende geistige u. körperl. Verfallserscheinungen. 531,91 des Recurrensnervs] Wiss., Nervus laryngeus recurrens. Verlauf des R. v. der Brusthöhle bis in den Halsbereich, große Bedeutung für die Funktion des Sprechens u. Schluckens. 531,102 Monocle] Monokel, gr., μόνος, dt., „ein“ u. lat., oculus, dt., „Auge“. Sehhilfe für ein einzelnes Auge. M. wird mit dem Augenlidmuskel (lat., Musculus orbicularis oculi) fixiert. 531,107 Bestiale] Menschen, die sexuelle Handlungen mit Tieren vollziehen. V. lat., bestia, dt., „Tier“, „Bestie“. 534,209 Geviertmeter] Veraltete Bez. für das Flächenmaß eines Quadratmeters. 534,220 Misoneismus] Gr., μῖσος, dt., „Hass“, Feindschaft“ u. gr., νέος, dt., „neu“. Abneigung gegen das Neue. Antonym zu Neugier. 534,232 Jemmy Button] Jemmy Button (eigtl. O’run-del’lico) (um 1815–1864). Ureinwohner Feuerlands v. den Yaghan (o. Yámana), während einer Expedition (1826–1830) v. Robert FitzRoy (1805–1865) auf der HMS Beagle n. England verschleppt, dort als Berühmtheit vorgezeigt u. bei einer zweiten Expedition (1831– 1836) zurückgebracht. 536,310 Marat] Jean Paul Marat (1743–1793) frz. Arzt u. Naturwissenschaftler. Während der Frz. Revolution als Hg. der Zeitung Ami du Peuple (dt., „Freund des

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Volkes“) einer der radikalsten Volksführer. N. dem Sturz der Monarchie Mitglied des sog. Konvents u. Präsident des Jakobinerklubs; harscher Kampf gegen das girondist. Lager. N. der Ermordung als „Märtyrer der Revolution“ verehrt. 536,310 Robespierre] Maximilien Marie Isidore de Robespierre (1758–1794) frz. Rechtsanwalt, Politiker u. Revolutionär. Führender Jakobiner, Vertreter des dritten Standes, Mitglied der Generalstände u. der Konstituierenden Nationalversammlung. In seinen Bestrebungen n. Religionsfreiheit u. polit. Gleichheit äußerst radikal, plädiert für die Hinrichtung König Ludwigs XVI. (1754–1793). Offenes Bekenntnis zur Schreckensherrschaft. Tod durch die Guillotine. 536,322 Deklamationen] Begriff aus der Rhetorik. Lat., declamatio; dt., „Redeübung“, „Lehrvortrag“. Heute am ehesten mit „rezitieren“ wiederzugeben. 536,323 Pantomimen] Gr., παντόμιμος, dt., „alles nachahmend“. Nonverbale, Mimik u. Gestik nutzende Ausdruckskunst. 537,334 „Lied von der Glocke“] Sehr bekannte, häufig parodierte Ballade v. Friedrich Schiller (1759–1805), Exemplum der dt. Klassik. Erste Strophe: „Fest gemauert in der Erden / Steht die Form, aus Lehm gebrannt. / Heute muß die Glocke werden. / Frisch Gesellen, seid zur Hand. / Von der Stirne heiß / Rinnen muß der Schweiß / Soll das Werk den Meister loben, / Doch der Segen kommt von oben.“ Anhand des handwerkl. Vorgangs des Glockengusses werden kommentierend Sentenzen über das Menschenleben veranschaulicht. 537,334 „Geschundenen Raubritter“] Trauerspiel in 3 Akten des dt. Schriftstellers u. Journalisten Gustav Kopal (1843–1917); vollständiger Titel: Der geschundene Raubritter, oder Minne, und Hungerthurm, oder Das lange verschwiegene und endlich doch an den Tag gekommene Geheimnis (1894). 537,335 „Jobsiade“] In Knittelversen verfasste Satire des dt. Arztes, Heimatforschers u. Schriftstellers Carl Arnold Kortum (1745–1824); vollständiger Titel: Leben, Meynungen und Thaten von Hieronymus Jobs dem Kandidaten, und wie er sich weiland viel Ruhm erwarb auch endlich als Nachtwächter zu Sulzburg starb (1784). 537,336 „Im Liebesrausche“] 1890 erschienener Roman des dt. Schriftstellers Heinz Tovote (1864–1946). 537,337 „Vanity Fair“] Vgl. → 471, 356. 537,357 „Gastmahl des Trimalchio“] Vgl. → 302, 193. 537,362 Quevedo und Mendoza] Francisco Gómez de Quevedo y Santibáñez Villegas (1580–1645), span. Schriftsteller des Barock. Zählt zu den Meistern der Novela Picaresca (dt., „Schelmenroman“). Verwendung v. Doppelsinnigkeiten. – Antonio Hurtado de Mendoza (1586–1644), span. Dichter u. Dramatiker. Polit. Ämter unter Philipp IV. (1605–1665). M.s Werke sind der Monarchie gewogen: La fiesta que se hizo a Aranjuez á los años del Rey, nuestro señor Felipe IV (1623) (dt., „Das Fest, das sich in den Jahren des Königs, unseres Herrn Philipp IV., ereignete“). In Zusammenarbeit mit Q. Los empeños del mentir (dt., „Die Bestrebungen des Lügens“) (posthum 1728 erschienen) u. Quien más miente, más medra. Ob M. Los

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empeños del mentir in Kooperation mit Q. schrieb, bleibt ungeklärt. Eine Hypothese ist, dass Quien más miente, más medra (dt., „Wer mehr lügt, hat mehr Erfolg“) (1631) gemeinsam verfasst worden ist u. M. dieses Stück drei Jahre später (1634) unter dem Titel Los empeños del mentir leicht modifiziert nochmals pub. hat. 537,363 „picaresken“ Roman] Auch pikar. Roman, v. span. „pícaro“, dt., „Schelm“, „Gauner“, „Bengel“. 537,363 Grimmelshausenschen Schriften] Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676), dt. Schriftsteller; in Kenntnis u. unter Nutzung des span. u. frz. Schelmenromans Verfasser des barocken Romans Der Abentheuerliche || SIMPLICISSIMUS || Teutſch / || Das iſt: || Die Beſchreibung deß Lebens eines || ſeltzamen Vaganten / genant Melchior || Sternfels von Fuchshaim / wo und welcher || geſtalt Er nemlich in dieſe Welt kommen / was|| er darinn geſehen / gelernet / erfahren und auß= || geſtanden / auch warumb er ſolche wieder || freywillig quittirt. || Überauß luſtig / und maenniglich || nutzlich zu leſen. || An Tag geben || Von German Schleifheim|| von Sulsfort. || Monpelgart / || Gedruckt bey Johann Fillion / || Jm Jahr MDCLXIX. 537,364 Richardson] Samuel Richardson (1689–1761), engl. Romancier, der v. a. mit den beiden erfolgreichen Briefromanen Pamela, or Virtue Rewarded (1840) (dt., „Pamela o. die belohnte Tugend“) u. Clarissa, or the History of a Young Lady (dt., „Clarissa o. die Geschichte einer jungen Dame“) wesentl. das Genre des (empfindsamen) Romans u. das Bürgerliche Trauerspiel des 18. Jh.s. beeinflusste. 537,364 Fielding] Henry Fielding (1707–1754), bekannter engl. Romancier, Satiriker u. Dramatiker. Werke u. a.: An Apology for the Life of Mrs. Shamela Andrews (1741) (dt., „Eine Verteidigung für das Leben v. Mrs. Shamela Andrews”); The Life and Death of Jonathan Wild, the Great (1743) (dt., „Leben u. Sterben v. Jonathan Wild, dem Großen”); The History of Tom Jones, a Foundling (1749) (dt., „Die Geschichte v. Tom Jones, dem Findling”); A Journey from this World to the Next (1749) (dt., „Eine Reise v. dieser Welt zur nächsten”). 537,366 „Natürlichen Sohn“] Frz., Le Fils naturel ou Les épreuves de la vertu (1757) (dt., „Der natürliche Sohn o. die Bewährungsprobe der Tugend“), Theaterstück v. Denis Diderot (1713–1784). 537,367 „Familienvater“] Frz., Le Père de famille (1758) (dt., „Der Familienvater“), Theaterstück v. Denis Diderot (1713–1784). Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781) übersetzt den Titel (1760) in „Das Theater des Herrn Diderot“, wie N. anmerkt, mit „Der Hausvater“. 538,377 Clarissa] Heldin aus Samuel Richardsons (1689–1761) Briefroman Clarissa, or the History of a Young Lady (1748) (dt., „Clarissa o. die Geschichte einer jungen Dame“). 538,378 Tom Jones] Held aus Henry Fieldings (1707–1754) Roman The History of Tom Jones, a Foundling (1749) (dt., „Die Geschichte v. Tom Jones, dem Findling”). Der Roman war eigtl. als Antwort auf Clarissa gedacht. 538,378 Julie („Neue Heloise“)] Frz., Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) (dt., „Julie o. die neue Heloise“), eines der erfolgreichsten belletrist. Bücher des 18. Jh.s.

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538,378 Werther] Held des Briefromans Die Leiden des jungen Werther (1774) v. Johann Wolfgang Goethe. 538,395 Bellamys Machwerk „Looking backward“] Engl., Looking Backward or Life in the Year 2000 (1887) (dt., „Rückblick oder Leben im Jahre 2000“) v. Edward Bellamy (1850–1898), amerik. Schriftsteller. 538,398 Byzantinismus] Pejorativ gebrauchte Bez. für würdelose „Kriecherei“ vor Höhergestellten. Das byzantin. Hofzeremoniell verlangte bei der Annäherung des Kaisers als Demutsgeste, sich ihm zu Füßen zu werfen. 538,399 Schranze] (auch: Hofschranze) v. mhd., schranze, dt., „Spalt“, „Riss“. Ausdruck für den Träger eines geschlitzten, höf. Kleides. Bez. für jmd. aus der engeren Umgebung einer höhergestellten Persönlichkeit, der ihr n. dem Mund redet. 538,401 Ludwig Fuldas „Verlorenes Paradies“] Das verlorene Paradies. Schauspiel in drei Aufzügen (1892) des dt. Dramatikers Ludwig Anton Salomon Fulda (1862–1939). 538,402 Ernst von Wildenbruchs „Haubenlerche“] Die Haubenlerche (1890). Drama in vier Akten des dt. Juristen u. Dramatikers Ernst von Wildenbruch (1845– 1909). 539,420 Minna Wettstein-Adelt] (1869–n. 1909), dt. Schriftstellerin u. Frauenrechtlerin. Ab 1893 Hg. der Berliner Modenkorrespondenz u. 1895–1897 Chefredakteurin v. Draisena, Organ zur Pflege und Förderung des Radfahrens der Damen. 539,423 Göhre] Paul Göhre (1864–1928), dt. ev. Theologe mit sozialpolit. Engagement, sozialdemokrat. Politiker. N. bezieht sich auf Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie (1891/92). 539,430 „Onkel Toms Hütte“ der Beecher-Stowe] Engl., Uncle Tom’s Cabin (1852). Roman der amer. Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe (1811–1896). Thematisierung der Sklaverei in den USA anhand der Schilderung der Schicksale mehrerer afroamerikan. Sklaven. 539,442 Euklid] Euklid von Alexandria (ca. 360–280 v. Chr.), gr. Mathematiker. 539,459 Anmerkung 8] Das Buch bietet Einblicke in den Arbeits- u. Lebensalltag v. Fabrikarbeiterinnen (Beschreibung v. Essgewohnheiten u. Kleidung). 540,463 Fritz Mauthner] (1849–1923), österr. Schriftsteller, Sprachkritiker u. Philosoph. Werke u. a.: Von Keller zu Zola. Kritische Aufsätze (1887) u. Tote Symbole (1892). Nach 1900 v. a. sprachkrit. Schriften u. a.: Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bde., 1901–1902); Die Sprache (1907); Wörterbuch der Philosophie – Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (2 Bde., 1910–1911). Später philosoph. Schriften. 540,465 Giudo Renis Aurora im Rospigliosischen Palaste] Guido Reni (1575– 1642) Der Zug der Aurora, Deckenfresko im Palazzo Rospigliosi in Rom, zeigt die Göttin d. Morgenröte in Begleitung v. sieben Stundengöttinnen, den Horae, sowie Apollon auf einem Vierspänner. Aurora trägt die Morgenröte in die Welt, indem sie Rosenblätter streut; Eos, ihre gr. Entsprechung, hat den Beinamen gr., ῥοδοδάκτυλος Ἠώς, dt., „rosenfingrige Eos“.

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541,512 Centesimi] Pl., ital., Centesimo v. frz., Centime. Centesimo ist ein Hundertstel der Lira (ab 1861). 541,513 Gehrock] Kleidungsstück für Herren; knielange Jacke aus dunklem Tuch, im 19. Jh. meist zu festl. Anlässen getragen. 541,513 Zylinderhut] Kopfbedeckung; im 19. Jh. vermehrt in Mode gekommener, meist schwarzer Hut für Herren aus runder, fester Hutkrempe u. hohem, steifen zylindr. Kopf. 541,514 Großen Mauer von China] Chines. Mauer, ca. 20.000 km lange histor. Grenzbefestigung im Norden des Chinesischen Kaiserreiches. Baubeginn ab dem 7. Jh. v. Chr. 541,514 Tuggurt] Alger. Oasenstadt mit großer Bedeutung für den Transsaharahandel. 1854 v. den Franzosen erobert. 541,515 Macaulays berühmter Maori] Thomas Babington Macaulay, 1. Baron Macaulay of Rothley (1800–1859), brit. Dichter, Historiker u. Politiker, publiziert 1840 mit den Critical and Historical Essays, Contributed to the Edinburgh review einen fiktiven Text: Ein Maori steht im untergegangenen London auf den Ruinen der Tower Bridge u. skizziert die Überreste v. St. Paul’s. 541,517 Westminster-Palastes] Engl., Palace of Westminster, monumentales, im neugot. Stil errichtetes Gebäude in London, Sitz des brit. Parlaments (Houses of Parlament). 541,518 Yosemite-Park] Seit 1864 Nationalpark in den USA (Sierra Nevada/ Kalifornien).

II. Therapie. 542,26 Absinth] Heilpflanze, wiss., Artemisia absinthium. Hochprozentiges, meist grünl. gefärbtes, alkohol. Getränk mit Anis, Fenchel u. weiteren Kräutern (Wermut). 543,55 Trabanten] Pl., Etymologie ungeklärt. Im Mittelalter Bez. für Angehörige der Leibgarde. 544,87 Wurstgift] wiss., Botulinumtoxin. Veraltete Bez., auch Fettgift, Fettsäure, Blutsäure, Leichensäure gen. Aus Verderbnis u. chem. Zersetzung tier. Stoffe hervorgegangenes Gift. 544,88 Hefepilzes] Hefepilz, einzelliger Organismus, Vermehrung durch Zellsprossung o. -teilung. Verwendung beim Brauen u. beim Brotbacken. 546,202 Hasenscharte] Umgangssprachl. Bez. für eine angeb. Spaltung bzw. Spaltbildung der Oberlippe u. des Gaumens; wiss., Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalte wiss., Cheilognathopalatoschisis. 546,206 Dr. L Robinson] Louis Robinson (unbek.-1928), engl. Mediziner. Chirurg am Stockton Hospital, Darlington Hospital u. schließl. am Miller Hospital in Streatham. Werke u. a. zum Atavismus bei Kindern („Infantile Atavism“, in: The British Medical Journal, 5. Dez., 1891, 1226ff.).

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547,213 „koordiniren“] Lat., coordinare, dt., „beiordnen“, „in ein Gefüge einbauen“, „aufeinander abstimmen“. 547,214 Ataxie] Gr., ἀταξία, dt., „Unordnung“, „Verwirrung“. Bez. die Störung der koordinierten Bewegung des Muskelsystems infolge Erkrankung des zentralen Nervensystems. 547,218 Dr. S. Frenkel] Heinrich Sebastian Frenkel (1860–1932), Schweizer Mediziner u. Neurologe. Pionier auf dem Gebiet der Rehabilitationsmedizin, insb. im Bereich der Wiederherstellung feinster Bewegungsprozesse (Gang, Fingerfertigkeit u. a.). Ab 1896 als Professor u. Leiter der serolog. Abteilung der psychiatr. u. neurolog. Klinik an der Berliner Charité tätig. Publ. u. a.: Die Therapie atactischer Bewegungsstörungen (1892). 547,229 Gliederthiere] Wiss., Articulata. Bez. für Tiere, deren Körper in mehrere Segmente untergliedert sind. G. sind u. a. Ringelwürmer (Annelida) u. Gliederfüßer (Arthropoda). 547,230 Wurzelfüßer] Wiss., Rhizopoda. Einzeller mit veränderl. Körperformen. 547,231 Halsfisteln] Fistel, lat., fistula, dt., „Röhre“, „Pfeife“. Angeborene röhren- o. röhrennetzartige Fehlbildungen der Eingeweide des Halses, vgl. Halszyste mit Flüssigkeit gefüllter Gewebehohlraum. 547,232 Selachier] Wiss., Selachii, dt., „Knorpelfisch“ (Etymologie unklar). Meerestiere aus der Ordnung der Knorpelfische, charakterisiert durch ein knorpeliges Skelett u. den auf der Unterseite des Kopfes angebrachten Mund in Form einer weiten Querspalte. 547,234 Rhizopoden] Vgl. „Wurzelfüßer“ → 547, 230. 547,240 Reisläufer] Mhd., „reis“, dt., „Aufbruch“, „Reisen“, hier i. S. v. „Kriegsreise“. V. Spätmittelalter bis ins 17. Jh. im Dienst europ. Herrscher stehende Schweizer Söldner. 548,289 Gendarm] Frz., gendarme, dt., „Polizeisoldat“ aus frz., gens d’armes, dt., „bewaffnete Männer“. Angehöriger militär. organisierter Polizeieinheiten (Gendarmerie). 549,299 „Männerbund zur Bekämpfung von Unsittlichkeit“] „Männerbund zur Bekämpfung der Unsittlichkeit“, gegr. 1887 in Berlin. Vgl. Die moralische Heilsarmee in Berlin: Männerbund zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit; ein Zeitbild (1889). 549,305 Konfessionalismus] Übermäßige Betonung der konfessionellen Unterschiede, Eintreten für eine Aufspaltung der Christenheit in verschiedene Konfessionen. 549,309 „Gesellschaft für ethische Kultur“] Ab den 1860er Jahren in Amerika, England u. Deutschland verbreitete Bewegung, die die Hebung der Sittlichkeit durch eine v. religiösen Bekenntnis unabhängige Vertiefung der Moralbegriffe anstrebt. In Deutschland vertreten durch die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur, gegr. 1892 in Berlin.

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549,334 A. G. Bianchi] Augusto Guido Bianchi (1868–1951), ital. Journalist. V. N. zitiertes Werk: La patologia del genio e gli scienziati italiani: Inchiesta a proposito del caso di Guy de Maupassant (1892) (dt., „Die Pathologie des Genies u. die ital. Wissenschaftler: Untersuchung in Bezug auf den Fall v. Guy de Maupassant“). 550,336 Rückenmarkschnitte in Chromsäure härten] N. meint hier vmtl. die Durchsetzung des Lokalismus i. d. Neuropsychiatrie (vgl. Griesinger: „Geisteskrankheit ist Gehirnkrankheit.“, s. → Nachwort) u. möchte darauf verweisen, dass die Beschränkung auf das anatom.-physiolog. Nerven-Hirn-Substrat nicht die ganze Irrenheilkunde ausmacht, sondern eigtl. auch nur einen Reduktionismus darstellt. 550,336 neutrophil] Lat., neutrum, dt., „keines v. beiden“, „sächl. Geschlecht“ u. gr., φίλος, dt., „befreundet“, „Freund“. I. d. Histologie Zellen o. Zellbestandteile, die sich chem. neutral sowohl mit sauren als auch mit bas. Farbstoffen leicht färben lassen. 550,354 Tonnini] Silvio Tonnini (Lebensdaten unbek.), ital. Psychiater u. Übersetzer. U. a. übersetzt er in Kooperation mit einem Kollegen Richard von KrafftEbing (1840–1902) ins Italienische: Trattato clinico pratico delle mallatie mentali ad uso dei medici e degli studenti (dt. „Prakt.-klin. Abhandlung über die Geisteskrankheiten zum Gebrauch für Mediziner u. Studenten“) (1886). Werke u. a.: Le Epilessie (dt., „Die Epilepsien“) (1886); Le Epilessie in rapporto alla degenerazione (dt., „Die Epilepsien in Bezug auf die Entartung“) (1891); Psicologia della civiltà egizia (dt., „Psychologie der altägypt. Zivilisation“) (1906).

Nachwort Max Nordaus große und ominöse kunst- und kulturkritische Denkschrift Entartung, das 1892/93 in zwei Bänden erschien, ist ein Werk, für dessen Verständnis und Einschätzung einige historische Hinweise und Erläuterungen nützlich sein mögen. Dem dient das folgende Nachwort. Es stellt Entartung zunächst in den historischen Kontext (I), indem es die Geschichte des Begriffs „Entartung“ einholt (I.1), das Buch mit Nordaus Leben (I.2.1) und Denken (I.2.2) verbindet, speziell mit seinem beruflichen Selbstverständnis (I.2.3) und mit seinem Kunstverständnis (I.2.4), ebenso aber auch mit den medizinischen und sozialpsychologischen Diskursen jener Zeit (I.3.1) und mit ihren avantgardistischen künstlerischen Bewegungen (I.3.2). Dem folgt eine Charakterisierung von Entartung nach Entstehungsgeschichte (II.1), Rhetorik (II.2) und Kernthesen (II.3). Schließlich richtet sich der Blick auf die Rezeption, zunächst auf die der Jahre unmittelbar nach der Publikation (III.1), dann auf die der Zeit nach 1900 (III.2). Ein letzter Abschnitt gilt dem Verhältnis von Entartung und „entarteter Kunst“ (III.3).

I Kontexte I.1 Begriffsgeschichte Der Begriff „Entartung“ hat in der jüngeren europäischen Geschichte eine fatale Rolle gespielt. Unter seinem Vorzeichen setzte im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Diskreditierung menschlicher Erscheinungsformen, Eigenschaften, Verhaltensweisen und Hervorbringungen ein, die zu „bevölkerungshygienischen“ Überlegungen führte und in totalitären Staaten – vor allem im nationalsozialistischen Deutschland – eliminatorische Maßnahmen auslöste. Menschen wurden als „entartet“ gebrandmarkt, ausgegrenzt, interniert und getötet; Kunstwerke wurden als „entartet“ deklariert, konfisziert und vernichtet. Der Begriffsgeschichte zufolge wurden die Substantive „Degeneration“ und „Entartung“ sowie die Verben „degenerieren“ und „entarten“ synonym verwendet (Fischer 1984; Person 2005, 144–147). Dem Fremdwort „Degeneration“ liegt das lateinische Verb „degenerare“ zugrunde, welches „ausarten“, „aus der Art schlagen“ bedeutet. Das deutsche Verb „entarten“ ist bereits im Mittelhochdeutschen belegt. Es bezeichnet das Abweichen von einer „Art“. „Art“ wiederum wird seit dem Mittelalter synonym für „Spezies“ verwendet und meint Gruppen von Lebewesen (Tieren, Pflanzen), die gemeinsame genetische Merkmale aufweisen und also eine „Species“ oder „Art“ bilden. Der Begriff „Art“ sagt nichts über die Qualität der betreffenden Gruppe und ihrer Bestimmungsmerkmale aus, und auch „entarten“ scheint zunächst wertneutral gewesen zu sein. Seit dem 18. Jahrhundert ist das Wort „degenerieren“ eindeutig negativ konnotiert und bedeutet, wie aus einer der

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ersten Enzyklopädien, Zedler’s Universallexikon (1734), zu ersehen ist, nicht nur „aus dem geschlecht oder geschirr schlagen“, sondern auch „übel gerathen“ (Bd. 7, Sp. 415). Für das Verständnis des Begriffs „Entartung“ bei Nordau ist die Kenntnis von vier parallelen, sich im 19. Jahrhundert entfaltenden Diskursen von Bedeutung: (1.) Kunst und Kunsttheorie: Um 1800 taucht die Vokabel „entartet“ in einer solchen Häufigkeit in dichterischen Werken auf, dass sich dies in den Wörterbüchern widerspiegelt. Campes Wörterbuch der deutschen Sprache (1807, 916) nennt unter dem Stichwort „entarten“ beispielsweise das Lustspiel Die entartete Schöne von Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Unter dem Stichwort „entarten“ findet sich im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (ab 1838) (Bd. 3, 490) folgende Begriffserklärung: „degenerare, ausarten, aus der art schlagen“ im Sinne von „verdorben“. Beispielhaft angeführt werden hier u. a. Friedrich Gottlieb Klopstock („entartet, Romulus enkel, und gleicht / bei dem wollustmahle dem thier“) (Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne, 1769) und Friedrich Schiller („wenn die liebe die nemliche ist, wie könnten ihre kinder entarten?“) (Die Räuber, 1781 anonym erschienen). Die Beispiele zeigen, dass das Wort „entarten“ im Kunstbetrieb des 18. Jahrhunderts ein negatives Potenzial besitzt, das den Hinweis auf „moralische Verwilderung“ oder Verwahrlosung einschließt. Und wie in dichterische Werke, so finden die Vokabeln „entartet“ und „Entartung“ Eingang auch in die Kunsttheorie. Friedrich Schlegel fordert in seinem Essay „Über das Studium der griechischen Poesie“ (1795), „von der entarteten Kunst zur echten, vom verderbten Geschmack zum richtigen“ zurückzukehren; das setzt eine Norm voraus, die Kultur der Spätantike, und konstatiert eine Abweichung davon, die Kunst seit der Spätantike (Schlegel 1971, 149f.). (2.) Kulturkritik: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die synonym gebrauchten Begriffe „Entartung“ und „Degeneration“ im kulturellen Diskurs auf eher unscharfe Weise zur Beschreibung einschlägiger Phänomene verwendet. Als Vorläufer der Diskussion ist Jean Jacques Rousseau zu nennen, der in seinem Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes (1755) den von ihm unterstellten und auf die Zivilisation zurückgeführten physischen und moralischen Verfall der Menschen als „abâtardissement“ („Degeneration“, „Bastardisierung“, „Entartung“) bezeichnet. Aus dem weiteren und nun auch deutschsprachigen Diskurs sind vor allem die Schriften des vielseitigen und wirkungsreichen Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl zu nennen. In seinen Culturstudien aus drei Jahrhunderten (1857) und weiteren Schriften sind bereits einige der von Nordau später aufgegriffenen Themen präfiguriert. „Völkerkunde“ und „Kunstgeschichte“ werden bei Riehl miteinander verbunden. Das „Gesammtbild der Gesittung“ (Riehl 1862, IV) leidet bei Riehl vor allem unter den „musikalischen Nothständen“ (404), die auf „allerlei krankhaftes Wesen im Geistes- und Gemüthsleben der gebildeten Volkskreise“ (333) schließen lassen. Riehl spricht zwar noch über-

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wiegend von einem an allem nagenden „Wurm des Verderbens“ (341), verwendet aber für die Kunst, die im Dienst des „Prunkes“ steht, die gängige Bezeichnung „entartet“ (145). In späteren zivilisationskritischen Texten werden dem Begriff „Entartung“ synonyme Bezeichnungen wie „Verfall“ und „Niedergang“ zur Seite gestellt. Als Antonyme stellen sich „Evolution“ und „Fortschritt“ ein, die Losungsworte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1864 gibt der italienische Arzt Cesare Lombroso mit seiner Abhandlung Genio e follia den Impuls, den seit der Antike geführten Diskurs über „Genie und Irrsinn“ zu intensivieren und Künstler und ihre Werke in den Fokus der Degenerationstheorie zu rücken; Nordaus Entartung ist wohl das populärste, nicht aber das einzige Pamphlet in den neunziger Jahren, das hier anknüpft. (3.) Medizinischer Diskurs: Die Vokabeln „Entartung“ und „entartet“ werden im medizinischen Diskurs eingesetzt, um Abweichungen von der Norm und Veränderungen eines Zustands hin zum Negativen zu bezeichnen (Person 2005, 147). Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts weist der Begriff „Entartung“ in medizinischen Publikationen zu ca. 90 Prozent (Grundlage: U. S. National Library of Medicine) auf eine zumeist individuelle pathologische Veränderung eines Organs hin (z. B. „Entartung“ des Uterus, des Herzens etc.). Popularität erlangt der Begriff durch Bénédict Morels Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine von 1857. Morel verknüpft in seiner Degenerationstheorie physische mit intellektuellen und moralischen Symptomen. In der Folgezeit beziehen die Begriffe „Entartung“ und „Degeneration“ tendenziell genetisch bedingte Prozesse in die Betrachtung mit ein und sind dementsprechend mehr auf die Allgemeinheit bezogen (z. B. Eduard Reich, Ueber die Entartung des Menschen, ihre Ursachen und Verhütung, 1868). Verstärkt wird nun auch das Problem psychischer „Entartung“ angesprochen und häufig mit moralischer „Entartung“ gleichgesetzt (z. B. Richard von Krafft-Ebing, Psychische Entartung. Mord- und Selbstmordversuch, 1892). Zu beobachten ist auch, dass die Vokabel um 1900 im Zusammenhang mit einem reaktionären Genderdiskurs genannt wird (z. B. Ludwig Woltmann, Die physische Entartung des modernen Weibes, 1902; Émile Laurent, Prostitution und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre von der geborenen Prostituierten, 1903; Paul Möbius, Geschlecht und Entartung, 1907). Anfang des 20. Jahrhunderts verschmilzt der Begriff „Entartung“ dann auch mit dem Rassediskurs (z. B. Eugen Bleuler, Führen die Fortschritte der Medizin zur Entartung der Rasse?, 1904). Zur gleichen Zeit mehren sich die Stimmen von Medizinern, die Merkmale geistiger und körperlicher „Entartung“ weniger als Folge der Degeneration, sondern sozialer Missstände verstehen und vor einer moralischen Bewertung warnen (Oswald Bumke, Über nervöse Entartung, 1912). (4.) Rassediskurs: Die vage Semantik des Stammlexems „Art“ erlaubt die Überführung des Wortes „Entartung“ in den Rassediskurs. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird das Partizip „entartet“ als Synonym für „unteutsch“ verwendet und zunächst mit „welsch“, dann aber mehr und mehr auch mit „jüdisch“ in Ver-

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bindung gebracht und antisemitisch ausgespielt (Kashapova 2006, 50). Zunehmend werden die Juden als Fremdkörper und Träger einer „Entartung“ betrachtet, die der „deutschen Art“ schädlich sind. So schreibt der Kulturhistoriker, Lyriker und Politiker Ernst Moritz Arndt 1814 in seinem Buch Blick aus der Zeit auf die Zeit: „Ich nenne dieses Fremde schon an sich eine Plage und ein Verderben. Es ist noch mehr so zu nennen, weil die Juden ein verdorbenes und entartetes Volk sind“ (Arndt 1814, 193). 1881 findet man in der (Hitler beeindruckenden) Schrift des Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring Die Judenfrage als Racen-, Sittenund Culturfrage bereits das als Komparativ zu „Entartung“ verwendete Substantiv „Ausartung“: „Ein Theil des üblen Rufes der Judenmoral mag immerhin auf Rechnung der besondern Verderbniss und Ausartung zu setzen sein, der das Volk mit dem Untergang seines Palästinensischen Heimathsstaates anheimgefallen ist“ (Dühring 1881, 23). In dieser „Ausartung“ sieht Dühring nicht nur den Grund für die (unterstellte) Unmoral der Juden, sondern auch für den (unterstellten) Mangel an kultureller Schaffenskraft: „Es passt daher sehr wohl zu den übrigen Judeneigenschaften, dass die Schaffenskräfte in Wissenschaft, Literatur und Kunst fehlen“ (ebd., 76). Das von dem Publizisten Theodor Fritsch seit 1885 herausgegebene Zentralorgan der deutschen Antisemiten, die Antisemitische Correspondenz, überträgt 1888 das biologisch-mentale Konzept des Rassegedankens auf jüdische Kunst und sieht in deren vermeintlicher „Entartung“ das Symptom und Organon einer umfassenden „Entartung“: „Die Entartung der Kunst ist aber der sichere Vorbote der sittlichen und weiterhin leiblichen Entartung“ (zit. nach Fischer 1984, 348). Diese allgemeinere rassistische Aufladung der „Entartungs“-Vorstellungen ermöglicht es den Nationalsozialisten, den „Entartungs“-Begriff als kulturellen Kampfbegriff zu verwenden, ohne auf Nordaus Entartung rekurrieren zu müssen oder an dieses Werk erinnert zu werden. Es war eine durchaus entbehrliche Quelle, ja es dürfte sogar sehr unwillkommen gewesen sein, weil das Werk mit Wagner und Nietzsche zwei Exponenten der deutschen Kultur, die von den Nationalsozialisten besonders geschätzt wurden, für „entartet“ erklärte.

I.2 Max Nordau I.2.1 Vita Nordaus Lebensgeschichte wurde 1997 von dem Kulturwissenschaftler und Judaisten Christoph Schulte auf der Basis der publizierten Schriften und des Nachlasses umsichtig dargestellt. Auf Schultes Arbeit, aber auch auf anderen Untersuchungen basiert die folgende knappe Lebensskizze. Nordau wird am 29. Juli 1849 als Simon Maximilian Südfeld in Pest (seit 1873 Budapest) als Sohn des Rabbiners und Hauslehrers Gabriel Südfeld aus Krotoschin und dessen Ehefrau Rosalie Sarah, geb. Nelkin, aus Riga geboren. Noch vor der Matura (1867) tritt Nordau als Feuilletonist in der Halbmonatszeitschrift Salon der

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Literatur, Kunst und Mode (1863) und als ständiger Mitarbeiter des Pester Lloyd (1866) in Erscheinung. 1867 immatrikuliert er sich an der medizinischen Fakultät von Pest, arbeitet aber während des Studiums weiter als Journalist. Am 11. April 1873 lässt er sich den zuvor als Pseudonym benutzten Namen „Nordau“, in dem das Südliche gleichsam eingenordet und das prosaische „Feld“ zugleich zur poetischen „Au“ erhoben ist, amtlich zuschreiben. Der Besuch der Weltausstellung in Wien im selben Jahr bildet den Auftakt zu einer Bildungsreise durch ganz Europa, während welcher Nordau mit angesehenen Literaten zusammentrifft und die großen Museen sowie Kulturstätten besucht. Nach dem Rigorosum 1876 zieht Nordau nach Paris, wo er unter anderem bei dem Psychiater Jean Martin Charcot, der zu dieser Zeit aufgrund seiner Anwendung von Hypnose bei der Behandlung von Hysterie weltbekannt ist, Studien betreibt und als Gynäkologe tätig wird. 1878 erscheint Nordaus erste, den „zeitgenössischen Paris-Enthusiasmus“ (Schulte 1997, 388) kritisierende Streitschrift Aus dem wahren Milliardenlande. Auf Betreiben der Familie kehrt Nordau nach Budapest zurück und eröffnet dort eine Praxis für Gynäkologie. Unzufrieden mit dem kulturellen Leben, vor allem aber auch mit dem in Budapest grassierenden Nationalismus, siedelt Nordau 1880 endgültig nach Paris über; die Eröffnung einer Praxis dort ist belegt. Im selben Jahr erscheinen die Reiseeindrücke Vom Kreml zur Alhambra und das zweite frankreichkritische Werk Paris unter der dritten Republik. Auch als Dramatiker wird Nordau bekannt: Sein in Kooperation mit Ferdinand Gross geschriebenes Drama Die neuen Journalisten wird 1880 uraufgeführt. Nebenher ist Nordau als Journalist tätig; seine Artikel erscheinen u. a. in der Gartenlaube, der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und der National-Zeitung. 1883 erscheint ein Buch, das erhebliches Aufsehen erregt und Nordaus Namen bekannt macht: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. In Österreich und Russland wird das Buch konfisziert; zugleich wird es aber in alle wichtigen Kultursprachen übersetzt. 1885 folgt Paradoxe, ein ebenfalls kulturkritisches Werk, 1887 der Roman Die Krankheit des Jahrhunderts, der innerhalb von fünf Jahren ins Englische, Französische, Spanische, Italienische und Portugiesische übersetzt wird. 1889 wird Nordau zum Vizepräsidenten der von Victor Hugo gegründeten Schriftsteller- und Künstlervereinigung Association Littéraire Internationale gewählt. 1892 erscheint der Roman Seelenanalysen, 1897 und 1898 der zweibändige Roman Drohnenschlacht; beide Werke werden in mehrere Sprachen übersetzt. 1893 folgt das als Gegenstück zu Ibsens Nora konzipierte Drama Das Recht zu lieben. Ende des Jahres 1892 erscheint der erste Band von Entartung, Anfang 1893 der zweite. Das Buch wird zum Sensationserfolg, macht Nordau vollends berühmt und bringt ihm sowohl glühende Verehrer als auch wütende Kritiker ein. Aus dem Kreis der Kritiker erreichen ihn anonyme antisemitische Briefe, die ihm, wie er sagt, den „tiefste[n] Seelenschmerz“ (Schulte 1997, 392) seines Lebens bereiten. Das Erscheinungsjahr des zweiten Bandes von Entartung markiert den Beginn einer zweiten, zionistisch geprägten Lebensphase. 1893 macht Nordau die lebens-

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geschichtlich bedeutsame Bekanntschaft mit Theodor Herzl, dem Initiator der Zionistischen Weltorganisation (ZWO) und Verfechter des Gedankens einer eigenen gesicherten Heimat für die Juden. 1894 berichtet er für die Vossische Zeitung über die Dreyfus-Affäre und die mit ihr einhergehende antisemitische Hetze in französischen Zeitungen. Gespräche mit Herzl schärfen Nordaus Wachsamkeit gegenüber dem grassierenden Antisemitismus und forcieren sein Eintreten für einen eigenen Judenstaat. Ab 1895 ist Nordau als Beiträger der in Wien erscheinenden Neuen Freien Presse tätig, dem durchaus jüdisch geprägten Blatt des liberalen Bildungsbürgertums, in der auch Herzl publiziert. Auf dem ersten Zionisten-Kongress (1897) tritt Nordau zusammen mit Herzl als Wortführer des „Basler Programms“ auf, das eine rechtlich gesicherte Heimat für alle Juden fordert, die anderorts daran gehindert werden, als Juden zu leben, die Assimilation als falsch betrachten und ausschlagen. Nordaus Drama Doktor Kohn, das die Aussichtslosigkeit der jüdischen Assimilation thematisiert, wird 1898 zwar gedruckt, auf deutschen Bühnen jedoch nie aufgeführt. Im selben Jahr trifft Nordau eine Entscheidung, die bei vielen Mitstreitern der zionistischen Bewegung auf Unverständnis stößt: Er heiratet nicht eine Jüdin, sondern die dänische Protestantin Anna Elisabeth Dons, verwitwete Kaufmann. Gleichwohl intensiviert Nordau in den folgenden Jahren seine Aktivitäten für die zionistische Bewegung. 1903 streitet er auf dem VI. Zionistenkongress zusammen mit Herzl für die zionistische Ansiedlung in Ostafrika (Uganda-Plan) und avanciert zum „meistgehaßten Mann des Kongresses“ (Schulte 1997, 395). Kurze Zeit später wird Nordau Opfer eines Mordanschlags, den er nur knapp überlebt. Am 3. Juli 1904 stirbt Theodor Herzl. Die ihm angetragene Führung der zionistischen Bewegung lehnt Nordau ab, übernimmt aber den Vorsitz des VII. Zionistenkongresses und verteidigt weiterhin Herzls Position. Anlässlich seines sechzigsten Geburtstages erscheinen 1909 Nordaus Zionistische Schriften, und im selben Jahr wird sein geschichtsphilosophisches Hauptwerk Der Sinn der Geschichte gedruckt. Nordaus Engagement für den politischen Zionismus führt in den folgenden Jahren zu schweren Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung und schließlich zu seinem Rückzug. Eine in Erwägung gezogene Übersiedlung nach Palästina scheitert an einem Schlaganfall, den Nordau 1920 erleidet und an dessen Folgen er am 22. Januar 1923 in Paris stirbt. Sein Leichnam wird 1926 nach Tel Aviv überführt und auf dem Alten Friedhof (eröffnet 1903) am Rehov Trumpeldor beigesetzt.

I.2.2 Denkrichtungen Nordaus ungewöhnliche Lebensgeschichte lässt drei das Denken und Handeln bestimmende Faktoren erkennen: die jüdisch-ungarische Herkunft, die Orientierung an den Maximen der deutschen Aufklärung und Klassik sowie das darwinistisch-positivistisch geprägte Weltbild. (1.) Die jüdisch-ungarische Herkunft: Für Max Nordau ist seine jüdische Herkunft in der ersten Lebenshälfte zunächst unproblematisch. Als „Pester Jude“

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gehört er zum Kreis deutsch sprechender Akademiker des Mittelstandes, die sich in Abgrenzung vom ungarischen Adel und den bäuerlichen Magyaren zur deutschen Kultur bekennen und sich der Pflege der deutschen Amtssprache sowie der deutschen Literatur verpflichtet fühlen (Schulte 1997, 34). In der „Assimilierungsphase“, wie Nordau in seiner Selbstbiographie diesen Lebensabschnitt bezeichnet, sind deutsche Sprache und deutsche Kultur für ihn identitätsstiftend. In der Zeit des wachsenden ungarischen Nationalbewusstseins wird die Vorbildlichkeit der deutschen Kultur jedoch mehr und mehr in Frage gestellt und die deutsche Sprache zugunsten des Ungarischen, das 1861 zur Amts- und Schulsprache erklärt wird, abgewertet. Bereits 1867 bekennt er in einem Brief an seine Schwester seine Überzeugung, „das Zeug zu einem deutschen Gelehrten“ zu haben (ebd., 46); gut zehn Jahre später stellt er sich im Vorwort von Aus dem wahren Milliardenlande als „deutsch schreibender Ungar“ vor. Möglicherweise bezieht auch Entartung eine gewisse Motivation aus dieser Bemühung um eine deutsche Identität: Die kulturelle Verunsicherung im Herkunftsland wird durch eine Profilierung dessen, was kulturell vorbildlich sein soll, und durch eine Verwerfung des Gegenteiligen neutralisiert und in Form einer kulturellen Überlegenheitsgeste ausgespielt. Das gewählte Pseudonym „Nordau“ deutet mithin weniger auf eine Abkehr vom Jüdischen als vielmehr auf eine Wendung gegen die Magyarisierung hin, die in der Familie Südfeld mit dem Niedergang eines dezidiert als „Goethe-Kultur“ verstandenen Deutschtums gleichgesetzt wird. Auch in Nordaus abschätzig klingender Benennung Ungarns als „Judenland“, die sich in einem Brief an die Schwester Charlotte vom 30. September 1875 findet (ebd., 27), ist wohl weniger eine Distanzierung vom Judentum als vielmehr ein Bekenntnis zur deutschen Kultur, zur deutschen Sprache und zur deutschen Literatur zu sehen. Unter diesen Umständen treffen die antisemitischen Anfeindungen der 1890er Jahre Nordau in seinem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein als deutscher Schriftsteller. Am 22. September 1893 schreibt er an seinen Freund Eugen von Jagow: „[D]enn ich musste an mir erfahren, daß ein deutscher Schriftsteller, der an dem Rufe des deutschen Schriftthums selbst im widersten […] Auslande nicht unrühmlich mitgearbeitet zu haben glaubt, auf deutschem Boden inmitten einer den gebildetsten Klassen angehörenden Gesellschaft nicht weilen kann, weil er den schwersten Ehrenkränkungen ausgesetzt ist“ (zit. nach Schulte 1997, 195). Nordau versteht sich als Kosmopolit jüdischer Herkunft mit ungarischer Staatsbürgerschaft, dessen Identität aber durch die deutsche Sprache und deutsche Kultur bestimmt ist. (2.) Die Maximen der deutschen Aufklärung und Klassik: Als Sohn eines Rabbiners, der sich in der Tradition des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn sieht, ist Nordau prädestiniert, die Rolle eines aufklärerischen Kulturkritikers auszufüllen (Botstein 1991, 120). In seiner Selbstbiographie schreibt er: „Mein Vater war ein typischer Maskil (Aufgeklärter), persönlich durch und durch erfüllt von Schulchan Auruch, wenngleich bereits mit einem Einschlag von Modernismus und voll Begeisterung für die berühmte ,Mission des Judentums‘, die zu Beginn des 19. Jahrhun-

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derts den verödeten Platz des jüdischen Volksbewußtseins einzunehmen begann“ (Nordau 1923, 484). Mit dieser in Deutschland durch Mendelssohn eingeleiteten jüdischen Aufklärung (Haskalah) wird Deutsch, wie der aus Berlin stammende amerikanische Historiker Peter Gay feststellt, „zur ersten Sprache der deutschen Juden“, womit eine „in diesem Ausmaß noch nicht dagewesene psychologische Wandlung“ und „Neubewertung der Identität“ verbunden ist (Gay 1976, 255). Gerade für Nordau entwickelt sich die sprachliche Gewandtheit im Deutschen zu einem „Statussymbol und zu einem Stützpfeiler des Identitätsbewußtseins“ (ebd., 256); auch er versteht sich als Hüter einer Kultur, die sich an der für Goethes Iphigenie gehegten Leidenschaft messen lassen will (ebd., 257f.). Noch in Entartung beschwört Nordau dieses Erbe, wenn er es als seine Absicht bezeichnet, „alten Aberglauben zu bekämpfen, Aufklärung zu verbreiten, geschichtliche Ruinen vollends niederzureißen und ihren Schutt wegzuräumen, die Freiheit des Individuums gegen den Druck des Staates und der gedankenlosen Philister-Routine zu vertheidigen“ (550). Gerade Entartung ist aber auch als ein Beispiel für jenes der Aufklärung inhärente Potenzial von Inhumanität zu werten, das Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) beschrieben haben (Anz 1989, 46). (3.) Die darwinistisch-positivistische Weltsicht: Für Nordaus Denkweise sind vor allem drei Ideen prägend: Auguste Comtes Positivismus, Herbert Spencers Lehre von der Zweckmäßigkeit und Charles Darwins Evolutionstheorie. Comtes Cours de philosophie positive (6 Bde., 1830–42) proklamiert die strikte soziologische Erforschung (Beobachtung, Experiment, Klassifikation, historischer Vergleich) der Gesetze, welche der Natur und der Gesellschaft gleichermaßen zugrunde liegen; metaphysische Spekulationen in jeder Form werden verworfen. Zudem wendet Comte die Unterscheidung von „gesund“ und „krank“ unter Berücksichtigung moralischer und geistiger Leistungen auf alle Erscheinungen menschlichen Lebens an. In Nordaus Entartung wird der Mystizismus als Verstoß gegen diesen Positivismus gewertet und als neurologische Fehlleistung deklariert. Spencers Abhandlung Social Statics, or The Conditions essential to Happiness specified, and the First of them Developed (1851) beschreibt den Menschen als soziales Wesen, das die Erfahrungen der vorangegangenen Generation erbt und das infolge einer verbesserten Anpassung an die Existenzbedingungen der Vollendung zustrebt. Entwicklung beruht demnach auf einem schrittweisen Übergang von einfachen zu komplizierten Systemen, ein Gedanke, der in Nordaus Auseinandersetzung mit Wagners Kunsttheorie einfließt. Auch der Sinn für Moral ist Spencer zufolge an einen Vorteil im Selektionsprozess gebunden. Moralischen Fortschritt begründet er in den Principles of Ethics (1879–92) mit der Theorie des Altruismus. Nordau greift darauf vor allem in seinen Ausführungen zur Ich-Sucht zurück. Darwin entwickelt in seinem Hauptwerk On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life (1859) eine Theorie, nach der sich im Kampf ums Dasein stets das Stärkere und Gesunde

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durchsetzt und somit zur positiven Entwicklung der gesamten Evolution beiträgt. Nordau übernimmt diese Theorie rückhaltlos – dem Darwinismus ist die ausführlichste Anmerkung in Entartung gewidmet (266, 805, Anm. 21) – und ordnet auch den Menschen dem Gesetz der Selektion und Weiterentwicklung unter: „Das ist unsre Weltanschauung“, so verkündet er bereits zehn Jahre vor der Veröffentlichung von Entartung in den Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883), und fügt hinzu: „Aus ihr ergeben sich all unsere Lebensgrundsätze und unsere Rechts- und Moralauffassungen“ (32). In Kombination mit dem Fortschrittsglauben der Aufklärung strukturiert diese Überzeugung in doppelter Hinsicht Entartung: Sie legitimiert das Werk, da es – Nordau zufolge – genuines Anliegen der Medizin sein muss, Verfalls- oder „Entartungs“-Symptome zu diagnostizieren und zum Wohle der Gemeinschaft zu „therapieren“. Und sie erklärt die überraschend positive, den Fortschritt der Menschheit präjudizierende Volte, mit der das Buch schließt.

I.1.3 Selbstverständnis Nordau versteht sich als Mediziner und Journalist, und in beiden Rollen fühlt er sich der Kulturkritik verpflichtet. Als Mediziner begeistert er sich weniger für die gynäkologische Forschung, die ihn als Frauenarzt interessieren müsste, als vielmehr für die neusten Forschungsgebiete der Psychiatrie, vor allem für den Degenerations- und Neurastheniediskurs, also jene Themen, die für die Kulturkritik relevant sind. Seine praktischen Erfahrungen bei dem weltweit führenden Psychiater Jean-Martin Charcot, einem der bedeutendsten Ärzte in der Geschichte des Hôpital de la Salpêtrière, und die Rezeption der internationalen Forschungsliteratur, die er überwiegend in den Originalsprachen liest, lassen ihn zu einem überzeugten Positivisten und scharf beobachtenden Analytiker werden. Die in der Psychiatrie gewonnenen Einsichten und Überzeugungen überträgt Nordau auf kulturelle Erscheinungen, die ihm unliebsam sind und die er nun als Kulturjournalist anprangert. Der wissenschaftlichen Redlichkeit, der Nordau sich als Mediziner verpflichtet fühlt, entspricht das Streben nach Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit, das ihn als Journalisten auszeichnet. Seine Vorstellung von der Rolle der Presse ist denkbar hoch. Sie ist für Nordau nicht nur „kritische Überwacherin der Tagesvorfälle“ (Dahmen 2006, 259f.), sondern geradezu eine weltliche Richterin und Heilsbringerin. In den Conventionellen Lügen heißt es in einem Ton, der die Anmaßungen der Entartung bereits erkennen lässt: [Die Presse] nimmt es auf sich, die Handlungen, ja auch die Worte und selbst die unausgesprochenen Absichten des Menschen zu beurtheilen, diese zu brandmarken oder zu preisen, sie zu ermuthigen oder zu bedrohen, sie der Gesammtheit der Liebe und Nachahmung zu empfehlen oder als Gegenstand des Abscheus und der Verachtung zu bezeichnen; sie verkörpert in sich die öffentliche Meinung, sie legt sich deren Rechte bei, sie übt deren Strafgewalt bis zu ihrer furchtbarsten Form, der Ächtung und der moralischen Vernichtung, sie macht sich zur

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Handhaberin des objektiven, kategorischen Imperativs, sie bestellt sich zum öffentlichen Gewissen der Gesammtheit. (318)

Bereits die frühe Schrift Aus dem wahren Milliardenlande (2 Bde., 1878), die in der zweiten Auflage von 1881 bezeichnenderweise das Wort „Studien“ im Titel führt (Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande), zeigt Nordaus Handschrift deutlich; er studiert als Arzt, was er in der Metropole an scheinbar Krankem vorfindet, und schreibt darüber als ein die Wahrheit verkündender Journalist: Der Mediziner entziffert und interpretiert die körperlichen „Hieroglyphen“ der im „Hotel Dieu“ verwahrten Patienten und entwickelt Vorschläge für eine erfolgversprechende Therapie (Zudrell 2003, 24); der Journalist verallgemeinert diese Einsichten und Erkenntnisse im Einzelnen zu typischen Erscheinungsformen, die vor allem kulturelle Defizite betreffen. Medizin und Journalismus verbinden sich umstandslos zur Kulturkritik. Folgerichtig bezeichnet Nordau auch seinen Reisebericht Vom Kreml zur Alhambra (2 Bde., 1880) als Kulturstudien. Die Kunstwerke und Kulturschätze behandelt er hier nicht aus bildungsbürgerlicher Perspektive, die den Kunstgenuss favorisiert, sondern analysiert sie mit wissenschaftlichem Gestus und wertet sie unter sozialpsychologischen und ethnologischen Aspekten aus (ebd., 37). Interessant ist, dass Nordau das Ziel seiner Reise in einer imaginierten Begegnung mit Ahasver kundtut. Ausdrücklich möchte er seine Reise als Bildungsreise im Goetheschen Sinne verstanden wissen, deren tradierte Ziele (Sehen, Erfahren, Lernen) aber durch die sozusagen auskultierende Wahrnehmungsweise des Arztes bereichert werden: In den Spitälern habe ich mein Ohr an die Brust der Kranken gelegt, ihre Leiden zu finden und zu erleichtern versucht, in den Straßen mein Ohr ans Herz des Volkes gedrückt, seinem schweren Atem und seinem intimsten Herzschlag gespannt gelauscht, seine Krankheiten und Erregungen beobachtet, und wenn nicht das Vermögen, doch das innige Verlangen gehabt, ihm zu helfen und es zu heilen. (349)

Nordaus Selbstbild, ein ,Kulturarzt‘ des Volkes zu sein, ist hier bereits gefestigt; es fehlt nur noch die plausible Vorstellung einer Therapie, mit der Kulturkrankheiten zu heilen wären. In Paris unter der dritten Republik (1880) bemängelt Nordau generell Unsitte und Amoralität. Seine drei Jahre später publizierten Ausgewählten Pariser Briefe (1884) nennt Nordau in der zweiten Auflage (1887) Pariser Briefe. Kulturbilder, in denen er Paris in kulturgeschichtlicher Analogie zum antiken Rom einen „urkundlichen Wert“ für die gesamte europäische Sittengeschichte zuerkennt. In der Pariser Gesellschaft beobachtet er nun nicht nur einen rapiden Verlust an sittlicher Gesinnung, sondern auch Anzeichen des unausweichlichen Verfalls. Seine Schlussfolgerungen fallen nun radikaler aus und werden polemischer vorgebracht als zuvor. Zur Kennzeichnung der Pariser Salons greift er erstmals zum Begriff „degenerirt“ (Nordau 1887, 32). Argumentativ und stilistisch kündigt sich hier der Autor von Entartung an. Einerseits glänzt er mit hellsichtigen Beobachtungen; andererseits desavouiert er

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seine wissenschaftliche Objektivität, indem er sich hemmungslos zu Mutmaßungen und Behauptungen hinreißen lässt, die durch nichts gedeckt sind. Hierin ist Nordau zwar ein extremes, aber keineswegs singuläres Ereignis in der europäischen Literaturlandschaft. Geschätzt wird zu seiner Zeit eine „Doppelkunst“, die darin besteht, den Balanceakt zwischen erkenntnisbringender Wissenschaft und unterhaltender Literatur zu vollführen (Lepenies 1985, 242). Nordau wird zu einem Meister dieser „Doppelkunst“, indem er thematisch Kunst und Medizin und stilistisch Wissenschaftsjargon und feuilletonistischen Schmiss verbindet, nicht selten auch einen Verbalradikalismus ausspielt. Vergleicht man seinen Stil mit dem der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (Psychopathia Sexualis, mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung: eine klinisch-forensische Studie, 1886) oder Paul Julius Möbius (Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1900), dann lassen sich überraschende Parallelen in der Diktion finden. 1883 unterbreitet Nordau in seinem Traktat Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit die weltanschauliche Basis seiner Kulturkritik. In den Lügen werden jene Dichotomien, die in den vorangegangenen Schriften bereits anklingen, vollends profiliert: Wahrheit versus Lüge, Vernunft versus Unvernunft, Aufstieg versus Verfall. Diese Polarisierungen suggerieren eine eindeutige Unterscheidbarkeit von normal und unnormal sowie gesund und krank. Letztes ist ein Gegensatzpaar, das seit der Aufklärung auch zur Bewertung kultureller Phänomene herangezogen wird und von ähnlicher Bedeutung wie die Dichotomien schön/hässlich und gut/böse ist. Die negative Wirksamkeit des Attributs „krank“ ist in der Folgezeit nicht zu unterschätzen: Wer auch immer als krank bezeichnet wird, pflegt rasch als verwerflich eingestuft zu werden und muss mit Ausgrenzung oder Ausmerzung rechnen. Die Ursachen des „unleidlichen Seelenzustand(s) der Kulturmenschheit“ (29 f.) leitet Nordau aus der Diskrepanz von (gesunder) naturwissenschaftlicher Erkenntnis und (kranker) tatsächlicher Lebenswirklichkeit her. Nach Nordaus Grundüberzeugung verbreiten die gesamten Institutionen der Kulturmenschheit wider besseres Wissen – und das heißt für Nordau: wider die Erkenntnisse der Wissenschaft – grobe Unwahrheiten. Krankmachend sind Nordau zufolge vor allem fünf Lügen: die Lüge der Religion, die den Menschen auf ein Jenseits vertröstet; die politischaristokratische Lüge der Legitimität von Monarchie und Erbadel, die sich gegen die Maximen der Aufklärung richtet; die politisch-administrative Lüge, die sich in einem riesigen, für das Individuum schädlichen Verwaltungsapparat zeigt; die wirtschaftliche Lüge, die sich sowohl im kapitalistischen Frondienst als auch in kommunistischen Heilsversprechungen niederschlägt; und die Lüge der christlichviktorianischen Ehe, die gegen Anstand und Sitte verstößt. Trotz dieser negativen Bestandsaufnahme bleibt Nordau aber optimistisch. Fest an den Fortschritt der Evolution glaubend, entwirft er ein Zukunftsbild, in dem die Krankheitsphänomene getilgt sind (33) – vorausgesetzt, dass sich die Menschheit dazu entschließt, krankmachende (d. h. die Zeitgenossen infizierende) Elemente zu entfernen. 1885 erscheint mit Paradoxe eine weitere kulturkritische Abhandlung, in der Nordau nun seine Vorstellungen von einer evolutionistischen Ästhetik entfaltet.

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Sie lässt sich auf folgende Thesen bringen: (1.) Die Schönheit der Natur (Düfte, Farben etc.) bildet die Voraussetzung für die gesamte Fortpflanzung und Weiterentwicklung, auch für die Menschheit. Das geschlechtliche Begehren ist verantwortlich für „alle neuen Bücher einer natürlichen Schönheitswissenschaft“ (255). (2.) Der Mensch ist nicht nur der evolutionären Entwicklung der Natur unterworfen, sondern auch der Evolution der Kultur, die sich im Sittengesetz normativ manifestiert. Verstöße gegen das Sittengesetz mögen zwar lustbringend sein, erweisen sich aber im Sinne der Evolution als verderblich sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft. (3.) Auch die Kunst untersteht der Gesetzmäßigkeit der Evolution. Schön ist, was den Menschen zur Höherentwicklung verhilft. Trägt die Kunst zur Sittenlosigkeit bei, fördert sie den Verfall, der in evolutionstheoretischer Sicht ein Krankheitssymptom darstellt. (4.) Um Krankheitssymptome diagnostizieren zu können, bedarf es der Wissenschaft. Neurobiologische Erkenntnisse der Psychiatrie werden zur Erklärung künstlerischer Fehlleistungen oder „Verfehlungen“ herangezogen. (5.) Die Psychiatrie wird zur Anwältin von Moral und Sitte; unliebsame Autoren, die dem Evolutionsdogma und Fortschrittspostulat nicht kompatibel zu sein scheinen, werden als Kranke stigmatisiert. In Paradoxe heißt es: Alle großen Dichter des Weltschmerzes waren zerrüttete Organismen. Lenau starb im Wahnsinn, Leopardi litt unter gewissen geschlechtlichen Verirrungen, die dem Irrenarzt wohl bekannt sind, Heine wurde erst trüb und verschleiert, als seine Rückenmarkserkrankung ihre nie fehlende Wirkung auch auf das Gehirn übte, und Lord Byron hatte jene Exzentrizität des Charakters, die der Laie Genialität nennt, während der Psychiater sie als Psychose etikettiert. Dieser Pessimismus [...] ist Krankheit und kein Gesunder wird daran denken, auf ihn einzugehen. (11)

Hier ist eine Vorstufe der von Susan Sontag 1981 beschriebenen Verwendung von „Krankheit als Metapher“ (so auch der Titel von Sontags Buch) zu sehen. Krankheit wird zwar noch nicht aus ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang herausgelöst und metaphorisch auf andere semantische Felder übertragen, aber Krankheitsparameter werden von Nordau schon pragmatisch-positivistisch zur Beurteilung von Kunstwerken herangezogen, die wiederum, so lautet die Schlussfolgerung, als Produkte des Geistes den Geisteszustand ihrer Urheber und möglicherweise ihrer gesellschaftlichen Umgebung offenbaren. Anders gesagt: Spezifische Merkmale von Kunstwerken werden mit psychiatrischen Forschungsergebnissen abgeglichen und zu Symptomen erklärt, deren Diagnose zurück zum Menschen, zum angeblich kranken Künstler und seiner Zeitgenossenschaft führt. In Ermangelung eines tatsächlich zu führenden Nachweises an den Künstlern selbst muss der Befund der Degeneration aber spekulativ bleiben, und insofern er den Künstlern zuschreibt, was er an den Werken glaubt, diagnostizieren zu können, ist er tautologisch: Kunstwerke wirken krankhaft, weil ihre Schöpfer krank sind, und dass diese krank sind, sieht man daran, dass ihre Werke Symptome der Krankheit tragen.

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Auch Paradoxe wird in die englische, französische, griechische, italienische, schwedische und hebräische Sprache übersetzt und 1891 in deutscher Sprache neu aufgelegt. Ein Jahr später erscheint dann im Berliner Carl Duncker-Verlag unter dem fanalartigen Titel Entartung der erste Band jenes „Pamphlets“, das nun auf eine äußerst provokative Weise die Erkenntnisse der Psychopathologie für eine denunziatorische Kritik an den – nach den damaligen Begriffen – dezidiert modernen Strömungen der Kunst und der allgemeineren Kultur verwendet. Dabei geht es Nordau allerdings nicht nur um die eine oder andere dieser Strömungen, sondern um das für die künstlerische Moderne grundlegende und ihre innovative Dynamik tragende Prinzip der Entgrenzung (vgl. Kiesel 2004, 108 ff.). Nordaus Kritik korrespondiert allerdings mit weit verbreiteten Unsicherheiten oder gar Ressentiments gegenüber der Moderne und lässt Entartung zu dem Werk werden, mit dem der Name Max Nordau seitdem hauptsächlich verbunden ist.

I.2.3 Kunstverständnis Nordaus Kunstverständnis ist an den ästhetischen Normen der deutschen Klassik orientiert. Für sie gilt, dass das „Wahre, Gute und Schöne“ zusammengehören; und man darf das „Gesunde“ hinzufügen. In einem oft zitierten Gespräch, das Johann Peter Eckermann unter dem Datum des 2. April 1829 wiedergibt, erklärt Goethe: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke. […] Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist.“ (Eckermann 1976, 332). In der poetischen Praxis strebt die Klassik nach „reiner Form“ und „schöner Humanität“; sie fühlt sich dem „Ideal veredelter Menschheit“ verpflichtet und etabliert für die Literatur Begriffe wie „Schicklichkeit“, „Harmonie“, „edle Einfalt“, „Güte“, „Gerechtigkeit“, „Versöhnlichkeit“. Die Realisierung dieser Ideale haben Goethe und Schiller freilich kaum einmal ungebrochen imaginiert, am ehesten Goethe in der von ihm selbst als „verteufelt human“ bezeichneten Iphigenie, die nicht zufällig auch Nordau über alles schätzt. Sie ist ihm Inbegriff der Sittlichkeit des Kunstwerks, die sich an den Leitvorstellungen der Klassik und an Kants kategorischem Imperativ bemisst, und zugleich Ausdruck der Sittlichkeit des Künstlers. Denn das eine ist für Nordau ohne das andere nicht zu denken, was ihm zugleich Umkehrschlüsse erlaubt: Ist das Werk unsittlich, verweist es auf die fehlende Sittlichkeit des Künstlers; ist der Künstler unsittlich, gilt dies auch für sein Werk. Aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus stammt die Vorstellung der Medizin als „Staatsdienerin, als Wächterin und Mehrerin des gemeinen Wohls und als Erzieherin des Volkes“; hier werden Begriffe wie „medizinische Polizey“ oder „Staatsarzneykunde“ geprägt (Eckart 2011, 30). Der aus der Aufklärung stammende, dort auf Vernunft und Moral vertrauende Fortschritts- oder Perfektibilitätsgedanke, dem auch die Medizin unterworfen ist, wird bei Nordau und seinen Zeit-

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genossen darwinistisch-biologistisch gefasst. Bereits 1852 hat der Philosoph und Historiker Hippolyte Taine, auf den Nordau sich mehrfach bezieht, gefordert, „aus der Geschichte eine Wissenschaft zu machen, indem man für sie wie für die organische Welt eine Anatomie und Physiologie entwickelt“ (Lepenies 1985, 125). In diesem Sinn wird Geschichte – auch Kulturgeschichte – von Nordau nicht nur geschichtsphilosophisch (Kant und Taine) gefasst, sondern auch naturwissenschaftlich bedacht (Darwin und Morel). Das Verständnis eines auf sittliche Weiterentwicklung ausgerichteten „Geschichtskörpers“ impliziert, dass dieser gesund sein muss. Ist er von Krankheiten befallen, müssen sie therapiert werden. Teil dieses Geschichtskörpers ist die Kunst(geschichte), die nach Nordau gesund, das heißt, moralisch-sittlich integer ist, oder unsittlich, gemein, böse, pervers und asozial, also krank. So sagt er in Entartung: Schönheit aber ist im tiefsten Grunde mit Sittlichkeit gleichbedeutend. Das höchste Kunstwerk endlich kann seiner innersten Natur nach gar nicht anders als sittlich sein, denn es ist eine Kundgebung der Lebenskraft und Gesundheit, eine Offenbarung der Entwicklungsfähigkeit der Gattung und die Menschheit bewerthet es nur darum so hoch, weil sie eine Ahnung von diesem Verhalten hat. (334)

Nicht nur thematisch hat sich die Kunst – Nordau zufolge – nach dem Sittengesetz zu richten; auch die Form muss dem Sittengesetz genügen, sie darf niemals im Sinne von l’art pour l’art ästhetizistischer Selbstzweck sein oder den sittlichen Gehalt des Werks korrumpieren. Nordaus philosophisch-medizinisch grundiertes Kunstideal steht im Dienst von Erkenntnis zwecks Weiterentwicklung. Auf Affekte sich gründende, „geschlechtlich“ gesteuerte oder religiös motivierte Imaginationen, auch wenn sie künstlerische Qualitäten haben, gehören nach Nordau in den Bereich des Mystizismus und damit prinzipiell in das Aufgabengebiet des Irrenarztes (1. Bd. Entartung). Auch der Begriff der „Humanität“ dient ausschließlich dem Fortschrittsgedanken und wird auf einen moralisch-rationalen Altruismus, wie Nordau ihn bei Spencer und Comte sieht, reduziert. Jede Form der „Ich-Sucht“ (2. Bd. Entartung) ist Nordau verdächtig, weil sie sich dem Dienst am Gemeinwohl und am gesellschaftlichen Fortschritt entzieht. Als (gesundes) Gesellschaftswesen definiert, wird der Künstler – Nordau zufolge – Sitte und Gesetz achten und Schaden von seinen Mitmenschen abwenden: „Die Begriffe gesund und krank, sittlich und unsittlich, gesellschaftlich oder gesellschaftsfeindlich, gelten somit für die Kunst wie für jede andere menschliche Thätigkeit und es läßt sich nicht der Schimmer eines vernünftigen Grundes anführen, weshalb wir ein Kunstwerk anders ansehen sollen wie jede andere Kundgebung einer Individualität.“ (325 f.). Das Produkt des Künstlers, die „Kunst“, ist für Nordau ein ästhetisches Symptom, an dem sich der Stand der Zivilisation ablesen lässt. Den Künstlern fällt die Aufgabe zu, die Errungenschaften der Zivilisation zu bewahren und voranzutreiben. Tun sie dies nicht, wie die von ihm diskreditierten „Entarteten“, leisten sie dem Verfall Vorschub: „Der Künstler, der das Verwerfliche, das Lasterhafte, das Verbrecherische mit Behagen darstellt, es billigt, es vielleicht

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gar verherrlicht, unterscheidet sich nicht im Wesen, sondern nur im Stärkegrade vom Verbrecher, der es thatsächlich verübt“ (326). Entscheidend für die Verurteilung der „entarteten“ Künstler ist gleichwohl ein ihnen zugeschriebener, nicht genau definierter Rest an gesunder Substanz, die es Nordau erlaubt, sie für ihre Kunst verantwortlich zu machen. Die Unzurechnungsfähigkeitsklausel, die in Psychiatrie und Jurisprudenz auf „Geisteskranke“ angewendet wird, greift in Entartung nicht; sie hätte das Buch überflüssig gemacht. Das rechte Kunstwerk bildet – Nordau zufolge – die (idealisierte) Lebenswirklichkeit des Menschen ab. Ziel soll nicht sein, den „Abklatsch einer Erscheinung [...] in der Weise der Dunkelkammer“ (466) hervorzubringen, sondern in künstlerischer Verdichtung, Formung und Überhöhung Wahrheit zu vermitteln und dadurch Erkenntnis zu ermöglichen. Das „gesunde“ Werk setzt – Nordau zufolge – einen im biologischen Sinn „gesunden“ Blick auf die Welt voraus, der ein stimmiges Bild vermittelt. Ist beispielsweise durch eine Irritation der Sehnerven das Sehfeld beeinträchtigt, bildet ein darauf basierendes Kunstwerk nicht die Beschaffenheit der Welt ab, sondern das kranke Innere des Künstlers. Der Auflösung der Welt in farbige Stimmungspartikel, wie sie die Impressionisten vornehmen, liegt daher nach Nordau kein Kunstprinzip, sondern eine krankhafte Sehstörung zugrunde. Auch hinsichtlich der Sprache hält Nordau an einer mimetischen Funktion fest; sie sei entweder „Mittheilung von Wirklichem“ (125) oder Ausdruck eines kranken Bewusstseins.

I.3 Kulturgeschichte I.3.1 Medizinische und mentalitätsgeschichtliche Diskurse (1.) „Degeneration“ und „moral insanity“: 1819 wird Johann Christian August Heinroth erster deutscher Ordinarius für „Psychische Therapie“ in Leipzig. Heinroth versucht, die Psychiatrie „anthropologisch zu fundieren“, indem er den Leib als (wesengleiches) Organ der Seele definiert (Eckart 2011, 167). Der „rigide moralische Charakter seiner theozentrischen Menschenlehre“ führt dazu, dass Heinroth psychische Krankheiten als „Sünde“ betrachtet (ebd., 167). Damit stellt sich die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen für seine Erkrankung. Heinroth erörtert sie im System der psychisch-gerichtlichen Medizin (1825) und in den Gründzügen der Criminal-Psychologie oder: Die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege (1833). Während Heinroth darauf besteht, dass sich „Seelenstörungen aus Leichenöffnungen weder erklären, noch heilen“ lassen (ebd., 167), ist ein Jahrzehnt später Wilhelm Griesinger davon überzeugt, dass „jeder psychischen Störung eine physiologisch-pathologische Gehirnveränderung zugrunde liegen“ müsse (ebd., 170). Mit seinem Lehrbuch Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (1845), der Magna Charta der Psychiatrie, gibt Wilhelm Griesinger den Anstoß zu einem

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naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Psychiatrie. Griesinger weitet zudem die Nosologie der Geisteskrankheit erheblich aus: Neben körperlichen Ursachen und individuellen psychischen Dispositionen wie z. B. „nervöse Constitution“ kommen auch sittliches Verhalten, soziale Bedingungen der Gesellschaft und bedenkliche Zivilisationserscheinungen als Ursachen für Geisteskrankheiten in Betracht (Schott/Tölle 2006, 72; Blasius 1994, 51). Zudem definiert Griesinger „Unvernunft“ als „Mangel triebbeherrschender Intelligenz“ (Dörner 1995, 291). Damit ist der Weg ausgewiesen zu einem Verständnis von Geisteskrankheit, die sich auch im scheinbar gesunden Menschen partiell als „moralischer Irrsinn“ zeigen und möglicherweise sogar vererbt werden kann. Der französische Psychiater Bénédict Augustin Morel führt das Degenerationsmodell in die Psychiatrie ein. 1857, in dem Jahr, in dem mit Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du mal ein Portalwerk der entgrenzenden Moderne erscheint (vgl. Kiesel 2004, 102 ff.), erhebt Morel in seinem Werk Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l'espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives genetisch bedingte psychopathologische Anlagen, die sowohl auf einen moralischen als auch organischen Defekt zurückzuführen seien, zum Erklärungsprinzip einer Genese von Minderwertigkeit (vgl. Becker 2002, 316f.): Geisteskrankheiten seien Ausdruck einer gestörten Beziehung von Körper und Seele, die sich im Gehirn manifestiere. Der Verfallsprozess sei an charakterlichen Anomalien, körperlichen Störungen und schließlich an geistigen Krankheiten abzulesen. Morel zufolge betrifft die Degeneration also auch die Moral (Kottow 2006, 130), und er beschwört eine Bedrohung: Als eine Art von Erbsünde könne die grassierende Degeneration die Existenz einer ganzen Nation gefährden, wenn nicht eugenische, sozialhygienische und pädagogische Maßnahmen ergriffen würden, um dem entgegenzusteuern (Schott/Tölle 2006, 102). In Wien treibt der Psychiater Richard Krafft-Ebing die Debatte um die „moral insanity“ drei Jahrzehnte später insofern auf die Spitze, als er in seinem viel beachteten Werk Psychopathia sexualis: eine klinisch-forensische Studie (1886) vor allem sexuelle Normabweichungen für mangelnde Sittlichkeit verantwortlich macht und sie ätiologisch mit einer kulturellen Disposition in Verbindung bringt. Krafft-Ebing konstatiert, dass die Moderne enorme Anforderungen an das Nervensystem stelle und damit „Trieb-Fehlfunktionen“ verursache. Damit wird einerseits die These von der genetischen Disposition zur „Entartung“ abgeschwächt (und zugleich die These der „Anfälligkeit“ genetisch Gesunder untermauert), andererseits die extreme Fokussierung auf den Sittlichkeits- oder eigentlich Sexualitätsdiskurs inauguriert. Der außerordentliche Erfolg von Psychopathia sexualis, in der alle erregenden Fallstudien zum Entzücken des der lingua latina mächtigen Bildungsbürgers in lateinischer Sprache verschlüsselt sind, ist nur zu verstehen, wenn diese Bedeutung von „Sittlichkeit“ und „Moral“ in der diskursiven, Medizin und Literatur gleichermaßen berührenden Vernetzung gegen Ende des 19. Jahrhunderts bedacht wird.

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Die systematische Suche nach den Mechanismen physischer, geistiger und moralischer Degeneration führt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Suche nach eugenischen Maßnahmen (Weigart/Kroll/Bayertz 1988, 31). Diese scheinen deswegen dringend geboten, weil gleichzeitig mit Darwins Theorie vom Überleben des Stärksten bei manchen Wissenschaftlern erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob die Evolution eine Höherentwicklung überhaupt garantiere. Der britische Arzt und Reformer des Gesundheitswesens Edwin Ray Lankaster warnt in seiner Studie Degeneration: A Chapter in Darwinism (1880) davor, dass es in der Zivilisationsgeschichte auch einen Rückfall in frühere Entwicklungsstadien geben könne. Wilhelm Schallmayer wird mit seiner Schrift über Die drohende körperliche Entartung der Culturvölker (1891) schließlich zum Begründer der Eugenik. Anders als Nordau geht es Schallmayer nicht um Kunstwerke und Künstler, sondern um die Selektion kranker Menschen und um die Züchtung gesunder Menschen im Interesse der Volksgesundheit. Schallmayers Schriften Vererbung und Auslese als Faktoren zu Tüchtigkeit und Entartung der Völker (1903) und Vererbung und Auslese. Grundriss der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst (1918) werden zu Lehrbüchern der „Rassenhygiene“ im Nationalsozialismus und prägen einige Jahrzehnte lang die psychiatrische Krankheitslehre (Schott/Tölle 2006, 99). (2.) „Fin de Siècle“: Der medizinische Diskurs über „Entartung“ und „moral insanity“ trifft im letzten Jahrzehnt auf die mental weitverbreitete sogenannte Finde-Siècle-Stimmung, die rasch in den Fokus von Medizin und Literatur gerät. Die Grenzen dieser beiden Disziplinen zeigen sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts – wie bereits in der Romantik – ohnehin durchlässig, umso mehr, als beider Vertreter, Mediziner und Literaten, dieselben Krisensymptome zu beobachten glauben, nur dass sie diese in divergierender Weise bewerten. Dies ist allerdings nicht überraschend. Krisen sind, „auch wenn sie sich auf bestimmte empirische Beobachtungen berufen, in der Regel stark mit moralischen Bewertungen und Empfindungen aufgeladen – und im übrigen zu allgemein, als dass sie überzeugend begründet oder verworfen werden könnten“ (Jedlicki 2007, 25). Alarmierend ist für viele Zeitgenossen Nordaus, dass die Krisenstimmung eine kollektive Befindlichkeit ausdrückt, die sich in tiefer Verunsicherung und hypochondrischer Reizbarkeit bemerkbar macht. Ursache ist eine diffuse Angst vor dem bloßen Ende des Jahrhunderts, aber auch eine tatsächliche Transformation der Lebensrealität durch zivilisatorische Innovationen und soziale Veränderungen, die sich aus der Industrialisierung und Technisierung ergeben. Der Anfang der Angstphänomene fällt in eine Zeit technischer Errungenschaften: 1876 wird das Telefon erfunden, 1886 der Benzinmotor, 1887 das Grammophon, 1891 der Rotationstiefdruck, 1892 der Kinematograph, 1896 das Radio. Gleichzeitig werden in den Großstädten die Straßenbahnen elektrifiziert, Uhren an öffentlichen Plätzen aufgestellt und per Telefon mit ein paar Handgriffen direkte mündliche Kommunikation zwischen weit voneinander entfernt lebenden Menschen ermöglicht. Die aus alldem resultierende Beschleunigung des Lebens führt bei einem Teil der Bevölkerung zu psychischen Krisensymp-

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tomen, die wir heute als „Stress“ bezeichnen würden (Handbuch Fin de Siècle, 1– 11). Verunsichernd wirken auch die Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) des deutschen Physikers und Philosophen Ernst Mach (1838–1919), in denen die Vorstellung eines konstanten „Ichs“ für „unrettbar“ erklärt wird, weil das „Ich“ nur Produkt unentwegt fluktuierender Sinneswahrnehmungen sei, so dass ein konstantes Subjekt nicht behauptet werden könne. Bereits 1892 bezeichnet die österreichisch-ungarische Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin Marie Herzfeld (1855–1940) die „Fin-de-Siècle-Stimmung“ als ein „Gefühl des Zu-EndeGehens“ und als Ausdruck des „Pessimismus müder Seelen“, der alle „literarischen Erzeugnisse der letzten Jahre“ präge (Die Wiener Moderne, 260ff.). (3.) „Neurasthenie“ und „Willenskur“: Eine vielfach beschworene Äußerungsform der Fin-de-Siècle-Stimmung ist die sogenannte „Neurasthenie“ oder „Nervenerschöpfung“. Nicht umsonst werden diese beiden Begriffe in den neunziger Jahren zu „Schlagwörter[n] von unerhörten Verbreitungsgraden“ (Eckart 2005, 563). In Deutschland wird der Begriff der Neurasthenie vor allem durch den Internisten Wilhelm Erb verbreitet (vgl. ebd., 564). 1893 hält Erb eine akademische Rede mit dem Titel Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit und kommt in ihr – ähnlich wie Nordau – zu dem Befund, dass die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse, insbesondere die modernen, auf Tempo ausgerichteten Lebensgewohnheiten, der technische Fortschritt und die „Verfeinerung der Cultur“ für das labile Nervensystem der Zeitgenossen verantwortlich seien, so dass vor allem die Nervosität „dem vielberufenen Fin de Siècle sein eigenartiges Gepräge“ verliehen habe. Bereits 1885 hat Richard Krafft-Ebing in der Abhandlung über gesunde und kranke Nerven die „sogenannte Nervosität“ als den Wurm bezeichnet, der an der „Frucht des Kulturlebens nage“ (zit. nach ebd., 564); schließlich begründet er zwei Jahre nach dem Erscheinen von Entartung seine Theorie mit Hinweisen auf jene Phänomene des modernen Lebens, die deutlich an Nordau erinnern. Für die Jahre um 1900 konstatiert der Soziologe und Kulturhistoriker Joachim Radkau in seiner 1998 erschienenen großen Untersuchung Das Zeitalter der Nervosität einen „Fortschritt der Nervosität von der Krankheit zum Kulturzustand“ (Radkau 1998, 144). Dem Medizinhistoriker Volker Roelcke zufolge stellt die Neurasthenie ein „zunächst unabhängig vom Degenerationsgedanken existierendes Deutungsmuster für die Auswirkungen des modernen Lebens auf die individuelle Befindlichkeit dar“; die „medizinisch-psychiatrische Begrifflichkeit“ sei erst von Nordau systematisch zur Erklärung von Kulturphänomenen verwendet worden (Roelcke 1999, 145). Die Degenerationsangst erfasst nun auch die Neurasthenie; sie wird als Verfallserscheinung betrachtet, der man allerdings, da sie nicht auf körperliche Defekte zurückzuführen sei, mit geistiger Kraft, mit Willensschulung und Willensanstrengung, erfolgreich entgegentreten könne. Hier liegen die Anfänge jener von Emile Durkheim diagnostizierten „Willensmanie“, die sich nach der Jahrhundertwende entwickelt. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts gestattet die Popularität der Willenslehre Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz, Paro-

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len wie „Wille ist Kraft!“ auszugeben, die Macht des Willens zu preisen und eine „Gymnastik des Willens“ zu empfehlen (Radkau 1998, 357–375). (4.) „Okkultismus“: Auch im zeitgenössischen Hypnose- und Okkultismus- oder Spiritismus-Diskurs spielt die Willensfrage eine große Rolle. „Okkultismus“ ist die gängige Sammelbezeichnung für die Beschäftigung mit mystischen, esoterischen und spiritistischen Phänomenen. Der ursprünglich auf religiöse Erfahrungen verweisende Begriff des Mystizismus wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend von seinen religiösen Konnotationen befreit. Das Wort „Mystizismus“, das auch Nordau in diesem Sinn gebraucht, wird zu einer generellen Bezeichnung für die Neigung zum Übersinnlichen, Geheimnisvollen und Kontemplativen und dient schließlich auch als Bezeichnung für den ursprünglich mehr szientistisch ausgerichteten Spiritismus, aus dem sich die mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Parapsychologie entwickelt. Mystiker und Spiritisten sind bemüht, unsichtbare Erscheinungen sichtbar zu machen und mit dem Transzendenten oder mit Verstorbenen Kontakt aufzunehmen. Der Glaube an immaterielle Wesenseinheiten, die sich durch geistige Kraft beschwören lassen, nimmt vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen den Charakter einer Geheimreligion an. Und umgekehrt nimmt die Religion in manchen Kreisen in einem solchen Maß Züge schwärmerischer Spiritualität an, dass der Historiker James Webb von einer „Rückkehr des Wunders ins religiöse Leben Europas“ spricht (Webb 2008, 229). Heiligenlegenden und Marienerscheinungen, Geister-, Spuk-, und Gespenstergeschichten erfreuen sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eines besonderen Interesses. In den Vereinigten Staaten von Amerika haben spiritistische Gemeinschaften um 1880 vermutlich mehrere Millionen Anhänger, in Deutschland etwa zehntausend (Döring-Manteuffel 2008, 154). Je nachdem widmen sie sich dem geheimnisvollen Tischklopfen oder dem „automatischen“ Schreiben (bei dem ein Geist die Hand des Mediums führt), dem Somnambulismus oder dem Hellsehen, der Alchemie oder dem Heilmagnetismus, der Zauberei oder der Weissagung. Zwei Richtungen kristallisieren sich heraus: Der „empirische“ Okkultismus versucht, den Phänomenen mit wissenschaftlichen Methoden auf die Spur zu kommen; die Anhänger des „esoterischen“ Okkultismus setzen auf ein Geheimwissen, das nur Auserwählten zur Verfügung steht und mitgeteilt wird. Auch Vertreter beider Richtungen sind denkbar, wie zahlreiche Schriften zeigen, die von Nordau aufgeführt werden, so die Johann Karl Friedrich Zöllners, Maximilian Pertys, Eduard von Hartmanns oder Karl von Prels. Dessen Schrift Der Spiritismus erscheint 1893 sogar in Reclams Universalbibliothek. (5.) „Le Culte du moi“: Die Neigung vieler Zeitgenossen, sich ausdauernd der Beobachtung ihrer Nerven und spiritistischen Fähigkeiten zu widmen, geht auf ein mentalitätsgeschichtlich dominantes Phänomen zurück, das der Historiker Peter Gay als Kultivierung des Ichs bezeichnet: „Das 19. Jahrhundert hat sich mit Leidenschaft, fast bis zur Neurose, ins Selbst vertieft“ (Gay 1999, 9). Der Ich-Kult forciert eine individuelle Lebensgestaltung, betont die Autonomie inneren Erlebens und verleiht dem (bürgerlichen) Individuum gegenüber der Gesellschaft einen neuen

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Status. Auch scheint es eine Verbindung zum Phänomen der Neurasthenie zu geben. Radkau konstatiert nach Durchsicht zahlreicher Krankenakten, dass sich viele Neurastheniker durch Egozentrik auszeichnen (Radkau 1998, passim). Pflegestätten des Ich-Kults sind seit der Romantik Literatur, Musik, bildende Kunst und Philosophie, und bedeutsam für das 19. Jahrhundert ist die Wechselwirkung von Künstlern und bildungsbürgerlichem Publikum. Gay verweist hier vor allem auf die Fähigkeit der bürgerlichen Kultur, „avantgardistische Anführer zu integrieren“ (Gay 1999, 370) und bei der Rezeption mehr auf die „Bedürfnisse des eigenen Inneren“ zu reagieren, als auf das, was die Künstler mit ihren Werken ausdrücken wollten (ebd., 374). Dieses Phänomen greift Nordau im Kapitel „Ich-Sucht“ auf. (6.) Kunst und Krankheit: Der wohl erste Psychiater, der sich den psychischen Dispositionen der Künstler widmet, ist Emil Kraepelin in Heidelberg. Er unterscheidet in seinem 1883 erstmals erschienenen Werk Psychiatrie. Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Aerzte (damals noch unter dem Titel Compendium der Psychiatrie) zwischen der auf Degeneration beruhenden irreversiblen Dementia praecox und dem erworbenen und zu heilenden „manisch-depressiven Irresein“. Der Vererbungstheorie mit der Vorstellung eines „Entartungs-Irreseins“ folgt Kraepelin nur noch bedingt („Die psychischen Entartungsprozesse“). Im Zentrum seiner Überlegungen stehen andere Ursachen des „Irreseins“: Delirien, „acute Erschöpfungszustände“, Manie, Melancholie, Wahnsinn, allgemeine Neurosen und chronische Intoxikationen etc. Aber Kraepelin verweist darauf, dass sich „dem klinischen Bilde des Schwachsinns […] die Gruppe der Phantasten (Mystiker) durch die gemeinsamen Züge einer Herrschaft der leichtgläubigen Einbildungskraft über die verstandesmäßige Überlegung [nähert]“ und „dass auch das wirkliche Genie nicht selten eine gewisse Verwandtschaft mit der […] Form des Schwachsinns haben kann“ (Kraepelin 1893, 186 f.). Auch Kraepelin sieht sich später berufen, der modernen Kunst pathologische Züge zu attestieren, und mischt unter die Exponate seiner Lehrsammlung Werke zeitgenössischer Künstler; die Sammlungen des Kunsthistorikers und Psychiaters Hans Prinzhorn knüpfen hier an (Tebben 2009, 256). Nordau bezieht sich allerdings nicht auf Kraepelin. Gewährsmann, „hochverehrter Meister“, ist stattdessen Cesare Lombroso, der Anhänger der Degenerations- oder Atavismustheorie. Ihr zufolge sind Geisteskrankheiten vererbbar und führen zu Atavismen, das heißt zu entwicklungsgeschichtlich eigentlich überholten (rudimentären) organischen und psychischen Merkmalen sowie Verhaltensweisen, die für die Urahnen typisch waren. Sie werden als Abweichungen von der (höherentwickelten) Norm interpretiert, also als Degenerationserscheinungen. Lombroso ist der Begründer der kriminalanthropologisch ausgerichteten Positiven Schule der Kriminologie, die Naturwissenschaftler und Mediziner für die Interpretation und Erklärung von Verbrechen heranzieht. 1864 erscheint sein epochal wirkendes Buch Genio e follia, das ab 1887 unter dem Titel Genie und Irrsinn auch in deutscher Sprache vorliegt (Grundlage der Übersetzung ist die 4. Auflage unter dem erweiterten Titel Genio e follia in rapporto alla medicina

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legale, alla critica ed alla storia, 1882). Hierin hält Lombroso zunächst fest, dass Genialität sich im Gegensatz zum Irrsinn nur selten vererbe, Genialität und Irrsinn aber in deutlichem und durchaus auch verwandtschaftlichem Verhältnis zueinander stünden. Zum Beweis führt Lombroso eine Vielzahl von Staatsmännern, Dichtern, Bildenden Künstlern, Religionsstiftern, Philosophen und Universalgelehrten seit der Antike an. Lombroso vergleicht psychische und physiologische Befunde, zieht aber auch meteorologische, astrologische, jahreszeitliche und mondzyklische Erklärungen hinzu. Die Bewertung der Befunde erfolgt nicht aus moralischer Perspektive, und es gibt keine Gleichsetzung von Genie und Irrsinn, sondern lediglich eine Feststellung von Parallelen. In einer Fülle von Fallstudien, die er aus Biographien und Autobiographien ermittelt hat, bildet Lombroso zunächst zwei Gruppen: „geisteskranke Genies“, die er von „gesunden“ Genies unterscheidet, und „Geisteskranke mit poetischem Genie“. In einer Grauzone befindet sich die Gruppe der „mattoidi“, der „Halbirren“, wie die deutsche Ausgabe sagt. Zu ihnen gehören die „Graphomanen“, die sich durch pseudoliterarische, mit zahlreichen sprachlichen (den Äußerungen „Geisteskranker“ ähnlichen) Eigentümlichkeiten auszeichnen und deren Vielschreibereien häufig mit prophetischem Anspruch verbunden sind. Auch die bildenden Künstler liefern nach Lombroso Beispiele für Ausdrucksweisen, in denen sich Verwandtschaften mit Primitiven und Irren nachweisen lassen. Allen schriftlichen wie bildnerischen Befunden „kranker“ Genies eignet – bei Lombroso – eine Tendenz zur Sinnlosigkeit oder Sinnfreiheit, worin sich der atavistische Zustand ihrer Urheber zeige. Überdies ist in Genio e follia schon die Entwicklungslinie zum Verbrecher angelegt, wie sie dann in L’uomo delinquente. In rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie (1876) ausformuliert ist; der Verbrecher erscheint hierin als atavistischer Rückschlag ins Prähistorische bzw. Animalische. An Nordaus Entartung hat Lombroso einiges auszusetzen, doch holt er, bevor er zur Feder greift, Nordaus prinzipielles Einverständnis mit seiner Rezension ein. In ihr moniert Lombroso dann, dass Nordau aus Ressentiment gegen alles Innovative progressiv wirkende Künstler als Wahnsinnige abqualifiziere und sie generell für die Verfallserscheinungen der Zeit verantwortlich mache (Lombroso, 1895; ausführlich 1897). Nordau tendiere dazu, alle genialen Künstler als wahnsinnig zu betrachten und ihnen damit zugleich wahre Genialität abzusprechen. In „Reply to my Critics“ (1895) kontert Nordau, dass er keineswegs alle Genies unter den Verdacht des Wahnsinns stelle, sondern zwischen Genialität und degenerativer Scheingenialität zu unterscheiden wisse; beide Formen zeigten aber eine Tendenz zu erhöhter Sensibilität und stünden prinzipiell dem Wahnsinn nahe. Nordaus Argumentation zielt im Gegensatz zu Lombroso, der stets den Einzelnen im Blick hat, vor allem auf die drohende Ansteckungsgefahr (Vergiftungstheorie) einer ohnehin aufgrund der schädlichen Umwelteinflüsse zur Degeneration neigenden Gesellschaft.

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I.3.2 Die künstlerische Avantgarde Wie so viele Bücher, die in eiferndem Ton gegen angebliche Laster zu Felde ziehen, hat Nordaus antimodernistische Entartung eine der Zielsetzung des Verfassers entgegengesetzte Wirkung. Der 1885 in Budapest als Sohn eines Bankdirektors geborene Georg Lukács, der später der bedeutendste marxistische Literaturtheoretiker wird, berichtet: Als liberaler Leser der Neuen Freien Presse besaß mein Vater in der Privatbibliothek zufällig Max Nordaus Entartung. Ich las das Buch, und mir wurde dadurch klar, was äußerste Dekadenz bei Ibsen, Tolstoi, Baudelaire, Swinburne usw. usw. war. Zum Glück zitierte Nordau die Gedichte von Baudelaire, Swinburne und anderen wörtlich. Ich war vollkommen hingerissen und akzeptierte natürlich sofort die bei uns zu Hause geschmähten Tolstoi und Ibsen. Ich besorgte mir ihre Werke in Reclamausgaben und gelangte dadurch im Alter von fünfzehn Jahren zu einem damals extremen westlichen modernen Standpunkt. (Lukács 1981, 46).

Tatsächlich ist die Entartung eine Art Kompendium der gesamten künstlerischen Avantgarde der frühen Moderne, auch wenn sich Nordaus Ausführungen gegen diese richten. Nordau beginnt seinen Feldzug gegen die moderne, den Bruch mit dem Klassizismus vollziehende Kunst bei den Präraphaeliten (I,2,2). Die Anfänge dieser Bewegung liegen bei der Niederschrift von Entartung schon einige Jahrzehnte zurück. 1848 schließen sich sieben bis dahin unbekannte junge Künstler zu einer Gruppe zusammen, die sich „Pre-Raphaelite Brotherhood“ (PRB) nennt: Dante Gabriel Rossetti, William Holman Hunt, John Everett Millais, Thomas Woolner, James Collinson und Stephans William Michael Rossetti als Chronist. Diese „Präraphaeliten“ wenden sich von der akademischen, als steril empfundenen Malerei ihrer Zeit ab und orientieren sich anfangs an der spätmittelalterlichen italienischen Kunst des Trecento und Quattrocento, die sie wegen ihrer Klarheit und Formstrenge bewundern. Die Bruderschaft meidet das Atelier; sie malt unter freiem Himmel, da sie die Natur als unerschöpfliche Lehrmeisterin versteht, die sie detailgetreu nachzuahmen versucht und nach deren „tieferem Sinn“ sie forscht. „Sie haben die Natur mit einer Schärfe beobachtet, wie nur je ein Künstlerauge vor ihnen“, urteilt 1857 einer der ersten deutschen Kritiker, Theodor Fontane (Fontane 1975, 507). Die Suche nach Materialgerechtigkeit, Funktionalität und Echtheit sowie das Ziel, Kunst und Handwerk zu integrieren, bestimmen das Konzept. Die ersten Ausstellungen verstoßen gegen den Geschmack des Publikums; moniert wird vor allem das „rivalism“, also das Nachahmen der Kunst früherer Epochen, und die Verbindung von religiösen Themen und realistischer Alltagsszenerie, die als „pictorial blasphemy“ („malerische Blasphemie“) empfunden wird. Zudem beherrscht eine offenkundige Sinnlichkeit einen guten Teil der Gemälde, was der Bruderschaft den Vorwurf einbringt, eine „fleshly school“ („Schule des Sinnlichkeit“) zu sein. Ferner arbeiten die Präraphaeliten mit einer der Freskomalerei nahe kommenden Technik, so dass ihre Bilder trotz der Genauigkeit im Detail häufig den Eindruck vermitteln, „auseinander zu fallen“. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Neigung zum Eskapismus: „Die

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Welt der Präraphaeliten ist ein künstliche Welt“ (Hönninghausen 1992, passim, hier 31). Struktur und Arrangement der Einzelelemente, „unnatürlich“ wirkende grelle und klare Farben sowie ein seltsames Posieren der Figuren bedingen Verfremdungseffekte, die bei Betrachtern in der Regel zunächst auf Unverständnis stoßen. Dies gilt auch für die Vorliebe der Präraphaeliten für „Typologien, d. h. für jenes mittelalterliche System von Symbolbezügen, in dem jeder Gegenstand als Teil der göttlichen Schöpfung auf einen anderen verweisen kann“ (ebd., 21). Die oft überladenen Werke erhalten dadurch den Charakter von „Bilderrätseln“, die vom Betrachter entschlüsselt werden müssen. Dabei geht es allerdings nicht nur um die Entdeckung traditioneller symbolischer oder typologischer Bezüge; vielmehr wirken die dargestellten Objekte als Chiffren subjektiver, oftmals unbewusster Erfahrungen (ebd., 26). Den Präraphaeliten als Bildenden Künstlern werden die Symbolisten als Dichter und „entartete“ Mystiker zur Seite gestellt (I,2,3). Symbolismus bezeichnet im engeren Sinn ein künstlerisches Programm, das sich in der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts herausbildet und von Jean Moréas in dem am 18. September 1886 in der Pariser Tageszeitung Le Figaro publizierten „Manifest du Symbolisme“ umrissen wird. Neben Moréas zählen Théophile Gautier, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé, Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und Maurice Maeterlinck sowie der Theoretiker Charles Morice zu den wichtigen Vertretern des französischen Symbolismus. Trotz individuell unterschiedlicher poetologischer Ausrichtungen sind bei ihnen Gemeinsamkeiten in dichterischen Verfahrensweisen und stilistischen Eigentümlichkeiten zu beobachten. Moréas spricht von einer antimimetischen Kunst, die auf eine „description objective“ („objektive Beschreibung“) verzichtet; es geht den Symbolisten nicht mehr um die Abbildung der Welt, sondern um die Aufdeckung und Darstellung geheimer Beziehungen und Übereinstimmungen (Baudelaire: „correspondances“) zwischen den Dingen, und darüber hinaus um eine „poésie pure“ („reine Poesie“), „in der die Worte und ihre internen Beziehungen, losgelöst aus allem pragmatischen Kontext, eine eigene, dauerhafte und ideale Realität stiften“ (Fritz 1994, 415). Jeder Lyrikproduktion liegt die divinatorische Einbildungskraft des Künstlers zugrunde: Betont subjektive, vieldeutige, rätselhafte Aussagen bringen eine enigmatische Aura von Klang und Stimmung hervor, die sich im Zusammenspiel des sinnlich Wahrgenommenen, im Erlebnis der synästhetischen „Einklänge“ (Stefan George) verdichtet. Intuitive Einfühlung in das Welterleben und evokativ-suggestive Klangwirkung sollen den Kanon vertrauter Bilder aufsprengen und neu zusammenfügen: Dieses ist ein als „alchimie du verbe“ („Alchemie der Worte“) bezeichnetes Verfahren, das den Lyriker zum „voyant“ („Seher“) der „âme universelle“ („Weltseele“) werden lässt, – und was für Nordau selbstverständlich ein zu tadelnder Mystizismus ist. Neben den von Nordau so bezeichneten „Decadenten“ sind auch die genannten künstlerischen Gruppierungen „Parnasssier“, „Diaboliker“ und „Aestheten“ literaturgeschichtlich betrachtet im Umkreis der Décadence angesiedelt. 1834 (genau

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hundert Jahre nach Montesquieus Schrift Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence) behauptet der französische Literaturhistoriker Désiré Nisard in Études de moeurs et de critique sur les poëtes latins de la décadence eine Parallelität zwischen spätlateinischer Dichtung und romantischer Poesie seiner Zeit und glaubt hier wie dort dieselben Dekadenzphänomene zu entdecken: Faszination von Verfallserscheinungen, Neigung zur Perversität und ausufernden Phantasietätigkeit, Hang zum Detail und zu manierierter Bild- und Wortwahl. 1857 bestätigt Baudelaire im Vorwort seiner Poe-Übersetzung die von Nisard ermittelten Befunde, allerdings unter positivem Vorzeichen: Das sei keine Literatur des Niedergangs, sondern ganz im Gegenteil, Poesie der Moderne. Ein Jahrzehnt später vollzieht Théophile Gautier in seiner Einleitung zu Les Fleurs du mal endgültig eine positive Konnotation des Begriffs: Gautier verleiht seinem Freund Baudelaire den Ehrentitel „poète décadence“. Die Parnassiens verdanken ihren Namen der drei Bände umfassenden Gedichtanthologie Le Parnasse contemporain (1866, 1871 und 1876). Als Initiator und Wortführer der Parnassiens gilt Charles-Marie Leconte de Lisle. Zwischen Symbolisten und Parnassiens bestehen Affinitäten; manche Namen – etwa von Gautier und Mallarmé – werden unter beiden Begriffen angeführt. Allerdings zeichnen sich die Gedichte, die dem „parnasse contemporain“ zuzurechnen sind, durch eine größere formale Strenge aus, die sich an antiken Vorbildern orientiert. Nordau, der beide Gruppen ins Auge fasst, nimmt diese Differenz nicht wahr und ordnet die Parnassiens aufgrund ihrer inhaltlichen Forderung nach „impassibilité“ („Gleichmut“, „Kaltblütigkeit“) den Ich-Süchtigen zu (II,3,2). „Impassibilité“ entdeckt Nordau aber auch bei den Diabolikern, die deswegen zusammen mit den „Parnassiern“ genannt werden. „Diabolismus“ meint dabei nicht den (in diesen Schulen durchaus auch gepflegten) Satanismus als Komponente des Okkultismus, sondern verweist vielmehr auf die Vorliebe der Parnassiens für das Obszöne, Ekelhafte oder Böse generell. Diese thematische Entgrenzung, die in einer imaginären Welt auch die Darstellung „einer ungezügelten, ja perversen bis kriminellen Sinnlichkeit“ erlaubt (Handbuch Fin de Siècle, 140), ist nicht nur als ästhetische, sondern auch als ideologische Revolte gegen das „Gesunde“ und „Bürgerliche“ zu verstehen. In Deutschland und Österreich setzt die Décadence-Literatur erst ein, als Entartung bereits veröffentlicht ist; bedeutender ist unter deutschen Schriftstellern die im Zeichen Nietzsches stehende Dekadenz-Analyse, wie sie z. B. von Thomas und Heinrich Mann adaptiert wird. Aber gerade diese beiden sind Beispiele dafür, dass nicht alle Schriftsteller, die sich mit dem Phänomen der Neurasthenie beschäftigen, der Verfallstheorie und schon gar nicht dem in Aussicht gestellten Erfolg der Willenskur zustimmen. Denn unter positiven Vorzeichen gelesen, können neurasthenische Zustände auf eine kulturelle Errungenschaft, auf eine besondere Begabung, hohe Sensibilität, ja, auf schlummernde Genialität hindeuten. So schreibt auch der Schriftsteller und Literaturkritiker Edmond de Goncourt in einem undatierten Brief an Émile Zola: „Bedenken Sie, dass unser Werk – und das ist vielleicht

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seine Originalität, seine teuer bezahlte Originalität – auf der nervösen Krankheit beruht“ (zit. nach Radkau 1998, 267). Der Theoretiker des Jungen Wien, Hermann Bahr, verlangt um 1890 mehrfach die bewusste Integration der nervlichen Vorgänge und Zustände ins Kunstwerk und proklamiert geradezu eine „Nervenkunst“, deren „Witz“ darin bestehe, dass „die Psychologie [...] aus dem Verstand in die Nerven gelegt“ werde (Bahr 2004, 94). Auch für Hugo von Hofmannsthal gehören „junge Nervositäten“, wie er 1894 in einem Artikel über Gabriele d’Annunzio etwas ironisch bemerkt, zum Lebensgefühl der Moderne (Hofmannsthal 1979, 176). Auch der Ästhetizismus setzt in Deutschland zeitlich erst nach der Publikation von Entartung und dem dort diskreditierten Naturalismus ein. Stefan George publiziert den Algabal-Zyklus 1892, Das Jahr der Seele 1897, und die Übersetzung von Les Fleurs du mal (Baudelaire. Blumen des Bösen. Umdichtungen) im Jahr 1901; Hugo von Hofmannsthal veröffentlicht seine lyrischen Dramen Der Tod des Tizian im Jahr 1892 und das bereits im Zeichen der Ästhetizismus-Kritik stehende Drama Der Thor und der Tod 1893. Stanislaw Przybyszewskis dekadente, dem Satanismus nahe stehenden Romane erscheinen ab 1895, das Hauptwerk sogar erst nach der Jahrhundertwende. So sind der Bruch mit Tabus und das „Überschreiten von zivilisatorischen Grenzen“ (Handbuch Fin de Siècle, 68) zunächst in den Romanen der Franzosen Joris-Karl Huysmans und Maurice Barrés zu beobachten. Die neurotische Hauptfigur in Huysmans’ À Rebours (1884) (dt., Gegen den Strich, 1897), der dekadente Herzog Des Esseintes, feiert ein Leben in Isolation und vollkommener Künstlichkeit, bis seine Gesundheit ruiniert ist. Auch in Maurice Barrés’ Romantrilogie Le Culte de moi. Examen des trois idéologies (Sous l’oeil des barbares, 1888; Un homme libre, 1889; Le Jardin de Bérénice, 1891) findet der Leser ein extravagantes idealtypisches Beispiel des ästhetizistischen Ich-Kults. Nur werden, was Nordau mit vielen anderen Lesern übersieht, die bis zum Exzess getriebenen narzisstischen Selbstbespiegelungen der Ästhetizisten von Huysmans und Barrés narrativ bereits als Irrweg entlarvt. Mit den Begriffen „Präraphaeliten“, „Symbolisten“, „Parnassiern“, „Diabolikern“, „Decadenten“ und „Aestheten“ bezeichnet Nordau Gruppierungen der Avantgarde, die über ein bedeutendes innovatorisches Potential verfügen. Zu den geistigen Urhebern der Verfallskultur werden in Entartung darüber hinaus fünf Repräsentanten gezählt – Tolstoi, Wagner, Ibsen, Nietzsche und Zola –, die gegen Ende des Jahrhunderts internationale Anerkennung finden und große Verehrergemeinden oder Gefolgschaften verzeichnen. Das hindert Nordau indessen nicht, sie einer scharfen Kritik zu unterziehen; im Gegenteil, die Verehrung, die ihnen entgegengebracht wird, fordert seine Kritik erst recht heraus. Leo Tolstois Menschenbild wird früh von seinen missionarischen Absichten geprägt. Bereits am 4. März 1855 notiert er in seinem Tagebuch: „Gestern hat mich das Gespräch über das Göttliche und den Glauben auf einen großen und umfassenden Gedanken gebracht. Ich fühlte mich fähig, mein Leben seiner Verwirklichung zu widmen. Dieser Gedanke ist die Gründung einer neuen Religion, der der Ent-

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wicklung der Menschheit entspricht, einer Religion Christi, aber gesäubert vom Glauben und der Geheimniskrämerei, eine praktische Religion, die keine zukünftige Seligkeit verspricht, sondern Seligkeit auf Erden gibt.“ (Tolstoi 1960–65, 150). In dieser Notiz ist bereits das religiöse Programm Tolstois enthalten, das Nordau dem Mystizismus zurechnet. In den Institutionen seiner Kultur, mit Kirche und Staat an der Spitze, sieht Tolstoi die Gefahr, den Menschen von sich selbst zu entfremden. Deshalb ruft er in seinen literarischen und publizistischen Arbeiten zu neuem Selbstbewusstsein auf, christlich fundiert, aber nicht dem Kirchenglauben verhaftet. Die Bergpredigt wird Tolstoi zum kanonischen Text. Kennzeichnend wird die Unterscheidung zwischen dem geistigen Menschen (russ., „duchovnyj ˇcelovek“) und dem animalischen Menschen (russ., „zˇivotnyi ˇcevolek“). Die Bezähmung des animalischen Menschen ist Ziel seiner Erziehungsbemühungen. Mit Richard Wagner und dessen musikalischem und vor allem musiktheoretischem Werk ist neben der Bildenden Kunst, Literatur und Philosophie ein weiteres Paradigma der Kultur um 1900 angeführt. Der Kapiteltitel „Der Richard-WagnerDienst“ (I,2,5) verweist auf ein historisches Phänomen, das in der Musikgeschichte ein Solitär sein dürfte und das mit den um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden und um die Jahrhundertwende bereits abgenutzten Schlagwörtern „Wagnerismus“ und „Wagnerianertum“ bezeichnet wird. Mit „Wagnerismus“ ist eine vorwiegend, wenn nicht ausschließlich außermusikalische Wagner-Rezeption gemeint, die sich von der musikalischen Wagner-Begeisterung, dem „Wagnerianertum“, dadurch unterscheidet, dass Wagners Kunst „in oft eigenwillige Verbindung mit bestimmten geistigen, literarischen u. a. Strömungen und Anschauungen gebracht und als deren Rechtfertigung verwandt wird“ (Koppen 1986, 609). Als Ausgangspunkt für den Richard-Wagner-Kult gilt der von Baudelaire verfasste Essay „Richard Wagner et ,Tannhäuser‘ á Paris“, der am 1. April 1861 in der Revue Européenne erscheint und in dem Baudelaire das Hörerlebnis als synästhetisches Ereignis beschreibt. Als Kompendium des „Wagnerismus“ gilt die Gründung der Revue Wagnérienne (1885–87), und die Symbolisten entdecken Wagner als „Prototyp[en] des antibürgerlichen, alle Konventionen sprengenden innovatorischen Künstlers schlechthin“ (ebd., 614). Péladan sieht sich nach dem Besuch des Parsifal inspiriert, drei esoterische Orden zu gründen und damit die Rezeption des Komponisten als großen Okkultisten voranzutreiben. Auch die Décadence-Literatur nimmt Wagner für sich in Beschlag; Anhänger wie Gegner erkennen im Werk eine „Musik der Lüsternheit und Schlüpfrigkeit“ (ebd., 617) und entzünden sich daneben an den Motiven des Liebestods und des Niedergangs. Zudem trägt „niemand mehr zur Popularisierung des germanischen Mythos bei als Wagner“ (ebd., 626ff.). Wagner forciert die kollektive Flucht in eine Kultur, die mit germanisch-wagnerischen Helden ausgestattet ist und „die sich bis in eine Wahnwelt verdichten“ kann (ebd., 632). Berücksichtigung findet in Entartung ein Kulturkritiker, der einen eigenen, wenn auch inkohärenten „Entartungs“-Begriff entwickelt: Friedrich Nietzsche

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(II,3,5). In seiner Bilanz der Moderne bezeichnet Samuel Lublinski Nietzsche als den Denker, „der die verworrenen Tendenzen der Ära am besten erfasst habe“ (zit. nach McCarthy 2000, 192). Für Nietzsches Überlegungen sind politische und soziale Probleme zwar nicht ausschlaggebend, aber er zählt soziale und kulturelle Phänomene wie Laster, Kriminalität, Hysterismus und Willensschwäche zu den Merkmalen der „Entartung“. Zudem überträgt er den Begriff „Entartung“ als erster auf zeitgenössische Künstler, nämlich Baudelaire, Wagner, Schopenhauer und die Brüder Goncourt. Insbesondere die christlich-abendländische Kultur wird von Nietzsche bezichtigt, unnatürliche und zugleich krankhafte Moralvorstellungen hervorzubringen. Allerdings geht es Nietzsche weniger um die unmittelbare Kritik als vielmehr um eine Metaethik: „(W)ir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen“ (Nietzsche 1980, IV, 766f.). Nietzsche schreibt im aphoristischen, kreisenden Stil eines „geistigen Selbstgesprächs“ (Hillebrand 1978, 1), das sich jeder positivistischen Denkart widersetzt und ephemere Daseinsaspekte kaum zulässt, Fragen aufwirft, ohne Antworten zu geben, mit Widersprüchen spielt, mit unterschiedlichen Genres arbeitet und programmatisch die genera dicendi vermischt. Damit gewinnt er in den Jahren um 1890 eine rasch wachsende Anhängerschaft unter den jungen Naturalisten (Heinrich und Julius Hart, Hermann Conradi, Michael Georg Conrad, Otto Erich Hartleben u. a.). Begeistert aufgenommen werden Nietzsches Vitalismus, sein exorbitanter Lebenswille, sein Ich-Kult, sein Konzept eines „Übermenschen“ und seine dithyrambische, mitreißende Sprache. Freilich gibt es auch Kritik, und zwar schon vor Nordau. Der noch junge und damals sozialistisch eingestellte Schriftsteller Paul Ernst wirft dem „Modephilosophen“ Nietzsche bereits 1890 vor, alles an ihm sei „Phrase, dicke, geschwollene Phrase“, und sein Publikum sei das „Bürgerthum der Decadence, das einem strengen, philosophischen Geist wenig geneigt“ sei (zit. nach Hillebrand 1978, 65). Ibsens Stützen der Gesellschaft erschüttern 1878 das bürgerliche Publikum in ganz Europa. Durch die rasch folgenden deutschen Erstaufführungen wird er zum „Mitbesitz deutscher Kultur“ und zum Anführer einer „ganzen dramatischen Generation“ (Thalmann 1960, 1 f.). Zündend wirken Ibsens Werke durch die Verbindung der Kritik an den sozialen Rollen („milieu“) mit Themen der Vererbung („race“) und drängenden Fragen der Zeit („temps“). Bei näherem Betrachten bleibt Stützen der Gesellschaft allerdings das einzige Drama dieses Genres. Auch Nora oder ein Puppenheim stellt aus heutiger Sicht weniger ein Emanzipations- als ein Seelendrama dar. Auch wenn die Titelheldin als „Suffragette vom Dienst“ dienen muss (Paul 1977, 10), bemerken die zeitgenössischen Rezipienten früh, dass Ibsen zwar geltende sittliche Werte infrage stellt, jedoch keine konkreten Lösungswege für die Lebenspraxis aufzeigt. Zudem monieren sie, dass gerade die starke Individualisierung der Figuren ihre soziale Relevanz beeinträchtige. Die neuere Forschung sieht Ibsens Leistung vor allem in einer „zynischen, konsequenten Entlarvung des Men-

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schen als im Grunde amoralisches und lügenhaftes Wesen“, das seinen Egoismus hinter einer Fassade von Moralität zu verbergen sucht (Hemmer 2003, 45). Nordaus despektierliche Kritik, so blindwütend sie streckenweise auch sein mag und so wenig er grundsätzlich in der Lage ist, ironische Textsignale zu lesen, gründet im Kern auf dieser Beobachtung. Nordaus Kritik trifft auch den großen französischen Naturalisten Émile Zola und seine deutschen „Nachäffer“ (II.4). Zum großen Vorbild der von den Naturalisten geforderten Szientifizierung der Kunst wird Émile Zola durch die in Le roman expérimental (1880) ausgeführten poetologischen Überlegungen, in denen Kunst und Wissenschaft gleichen Gesetzen unterstellt werden. Wie im Labor, so Zola, sollen im Roman Experimente durchgeführt werden. So wird beispielsweise an den Mitgliedern zweier Familien im Les Rougon-Macquart-Zyklus gezeigt, wie sich bestimmte Erbanlagen unter bestimmten Bedingungen des Milieus (und der Zeitumstände) auswirken. Die erste deutsche Übersetzung des als Familienchronik angelegten Les Rougon-Macquart-Zyklus, der Roman L’Assommoir, wird 1879 publiziert; ab 1885, das zeigt ihre enorme Popularität, erscheinen die deutschen Ausgaben parallel zu den französischen. Auch Zola wird von den Naturalisten vereinnahmt. „Ibsen wird der große Naturalist des Dramas“, urteilt Otto Brahm 1887, „wie Zola der Naturalist des Romans geworden ist“ (zit. nach George 1968, 37). Grund ist die Überzeugung der frühen Rezipienten, dass Zolas Romane „Wahrheit“ im Sinne einer literarischen Annäherung an die empirische Wirklichkeit vermitteln: in der wirklichkeitsnahen Abbildung der dekadenten Bourgeoisie wie im Elend des Proletariats, in der drastischen Zeichnung von Sexualität, Gemeinheit und Krankheit sowie in abschreckenden Szenen der Folgen von Vererbung, Alkoholmissbrauch, Fresssucht und Hunger. Mit der drastischen Darstellung ist eine Verletzung ästhetischer Normen verbunden, die Zola in den Augen vieler Naturalisten als „modernen Prometheus“ erscheinen lässt (Sältzer 1989, 88). Indessen teilen nicht alle Naturalisten die Bewunderung Zolas. So bemerkt Julius Hart, einer der frühen und führenden Berliner Naturalisten, Zolas „Lebensabklatsch“, der das Leben entweder im Viehstall oder im Bordell aufsuche, führe zu einer „Entartung von Literatur“ (zit. nach Sältzer 1989, 82).

II Entartung II.1 Entstehungsgeschichte Mit der Niederschrift des ersten Bandes beginnt Nordau im Frühjahr 1892. Am 14. Juli meldet er seinem Freund, dem Dramatiker und Journalisten Eugen von Jagow (1849–1905) den Abschluss des Wagner-Kapitels – und seine Bedenken: „Es wird mir viel neue Feindschaft zuziehen, aber – ‚hier stehe ich, ich kann nicht mehr, Gott helfe mir‘“ (zit. nach Schulte 1997, 197). Als Nordau Ende August zu Verlagsge-

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sprächen nach Berlin fährt, liegen die Korrekturbögen bereits vor. Anfang Oktober befindet sich Nordau wieder in Paris; in der zweiten Monatshälfte erscheint der erste Band, den von Jagow in der konservativen Kreuzzeitung (eigentlich Neue Preußische Zeitung) positiv bespricht. Dennoch melden sich sogleich kritische Stimmen; noch vor der Publikation des zweiten Bandes sieht sich Nordau veranlasst, im Buchhändler-Zirkular einen Brief zur Verteidigung seiner Thesen zu veröffentlichen. Einem weiteren Brief vom 24. Januar 1893 an von Jagow ist zu entnehmen, dass das Ibsen-Kapitel des zweiten Bandes abgeschlossen ist (ebd., 197), und wenig später, am 30. März, schreibt Nordau an von Jagow: „Ich habe nämlich überhaupt kein Urteil über das Zeug und schreibe gleichsam nur noch automatisch, aus der Erinnerung an meine eigenen früher gebildeten Gedanken heraus. Ich bin im letzten Buche und hoffe, in 4–5 Tagen fertig zu sein“ (zit. nach ebd., 198). Am 18. April geht das fertige Manuskript des zweiten Bandes an den Verlag. Nach dessen Erscheinen liegt ein stattliches Werk vor; der erste Band zählt 374, der zweite 506 Seiten. Das Buch beeindruckt die Zeitgenossen durch die dort vertretenen kulturkritischen Thesen, seinen Wissensreichtum und seine rhetorische Brillanz.

II.2 Rhetorik Der erste Band ist in zwei „Bücher“ unterteilt, der zweite in drei „Bücher“. Dem ersten Buch geht eine Widmungsepistel an Cesare Lombroso voraus. Im Weiteren entsprechen Nordaus Dispositionsweise und argumentative Strategie exakt der des geschulten Rhetorikers. Er beginnt mit einer grundsätzlichen Einleitung, dem prooemium. Dieses zielt darauf ab, die Aufmerksamkeit des Lesepublikums (attentum parare) und den Eindruck der Gelehrtheit (docilem parare) zu erwecken, sowie das Wohlwollen der Zuhörer zu erlangen (captatio benevolentiae). Dem Hauptteil des ersten und dem ersten Hauptteil des zweiten Bandes ist jeweils eine grundsätzliche Darlegung von Fragestellung und Sachverhalt vorangestellt (narratio): Mystizismus und Ich-Sucht werden aus medizinischer Sicht als Krankheitssymptome klassifiziert und in ihrer Bedeutung für die „entartete“ Kultur erörtert. Im Realismus-Buch fehlt die narratio mit Hinweis auf die bereits erfolgte Darlegung in den Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Bereits in der Widmungsepistel ist Nordau als Arzt und Kulturkritiker um die „Herstellung einer souveränen Sprecherposition“ (Kaiser 2007, 51) bemüht. In den Kapitelüberschriften werden Terminologie und Methode des Arztes ausgestellt („Symptome“, „Diagnose“, „Aetiologie“); in den darunter folgenden Ausführungen unterstreicht Nordau den wissenschaftlichen Anspruch durch ausführliche Nennungen, Zitationen und Nachweisen von Fachliteratur. In den folgenden Büchern unternimmt Nordau entweder produktionsästhetisch oder rezeptionsästhetisch fundierte Beweisführungen (probatio) in Einzelbeispielen, wobei er zugleich auf

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eine Widerlegung gegenteiliger Argumente zielt (refutatio). Inhaltlich, das weisen wiederum die Kapitelüberschriften aus, sind diese Teile der Entartung an Werken aus der Kunst-, Literatur-, Musik- und Philosophiegeschichte orientiert, die zu „Schulen“ oder Gemeinden zusammengefasst sind (Präraphaeliten, Symbolisten, Tolstoismus etc.). Das 4. Buch des zweiten Bandes, das den Realismus behandelt, nimmt eine Sonderstellung ein, insofern, als Nordau hier gleich zur argumentatio, also zum Nachweis der „Entartung“ der Realisten und Naturalisten, übergeht. Nordau schließt den zweiten Band mit dem 5. Buch „Das zwanzigste Jahrhundert“, das in zwei Kapitel gegliedert ist. Mit deren Überschriften nimmt Nordau erneut die Methodik des Arztes rhetorisch in Anspruch: „Prognose“ und „Therapie“. Dieser Schlussteil entspricht den Gepflogenheiten der peroratio, an welche sich auch Nordau hält: Die peroratio soll das in den Hauptteilen Gesagte zusammenfassen (recapitulatio) und Kernthesen wiederholen (repetitio). Die sprachliche Gestaltung von Entartung ist eine wirkungsvolle Kombination verschiedener Genres. Medizinische Erörterungen sowie detaillierte kunst-, musikund literaturwissenschaftliche Ausführungen stehen neben kulturkritischen Stammtischweisheiten; in sachlich klingende Deskriptionen mischen sich jene grob umgangssprachlichen Urteile, auf denen der Provokations- und Unterhaltungswert des Buches zum guten Teil beruht. Ein früher Kritiker befindet, dass bei Nordau die „wissenschaftliche Untersuchung zur Causerie [wird], zur weltmännischen Konversation eines Mannes, der seine große Belesenheit, seine reichen Kenntnisse und seinen Geist verwendet, um den Zuhörer anzuregen und zu unterhalten“ (zit. nach Zudrell 2003, 55 f.). Dem kann nicht widersprochen werden, allerdings bedient sich Nordau auch aus dem Wortschatz einer „autoritären Biologie“ (Helmuth Plessner) sozialdarwinistischer Provenienz und kommt zu Formulierungen, die man heute mit Erschrecken liest, so etwa wenn er schreibt: Wer mit mir glaubt, daß die Gesellschaft die natürliche, organische Form der Menschheit ist, in der allein sie leben, gedeihen und sich zu höheren Geschicken weiterentwickeln kann, wer die Gesittung für ein Gut hält, das Werth hat und vertheidigt zu werden verdient, der muß unerbittlich den Daumen auf das gesellschaftfeindliche Ungeziefer drücken.“ (548).

Die Medizinhistorikerin und Medienwissenschaftlerin Céline Kaiser rechnet Nordaus Modus des Sprechens nicht zu Unrecht dem Hate Speech zu (Kaiser 2007, 16 f.). Nordau selbst versteht und inszeniert sich nicht nur als Warner und Mahner, sondern auch als Prophet, der eine Heilsbotschaft zu vermitteln hat und dafür zunächst die Geltungsansprüche falscher Propheten mittels einer „finalen Überbietung“ (ebd., 211) neutralisieren muss. Bei der Indizierung von Nordaus Rede als Hate Speech muss allerdings berücksichtigt werden, dass inkriminierende Rhetorik einschließlich herabsetzender Tiervergleiche keine Eigenheit Nordaus ist, sondern zum Stil der Zeit gehört. Auch Joris-Karl Huysmans – nach Nordau einer der exponiertesten „Decadenten und Aestheten“ – zögert nicht, den Naturalismus im ersten Kapitel seines satanistischen Romans Là-bas als „cloportisme“ (dt., „Kellerassel-

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kunst“) zu bezeichnen, und dies obwohl er mit dem Hauptvertreter des Naturalismus, Émile Zola in kollegial-freundschaftlicher Verbindung steht. Die Beweisführung in Entartung folgt einem vierstufigen Muster: (1.) In den Kunstwerken entdeckt Nordau Krankheitssymptome, die er dem Krankheitsbegriff „Entartung“ zuordnet. Die Ursachen dieser Symptome bestimmt er in der Neigung der Autoren zum „Mystizismus“ oder in ihrer „Ich-Sucht“ oder in einem für ihn krankhaften Bedürfnis nach realistischen Abbildungsverfahren („Realismus“). (2.) Diese Symptome, die Nordau in den „entarteten“ Werke ermittelt, überträgt er auf deren Urheber, die nun ebenfalls als „entartet“ gelten. (3.) Die sprachlichen und bildnerischen Erzeugnisse der „entarteten“ Künstler werden nun mit Phänomenen verglichen, die Nordau in der psychiatrischen Forschung im Gesamtbild der „Geisteskrankheit“ entdeckt hat. (4.) Dadurch fühlt Nordau sich berechtigt, Analogien von „Geisteskranken“ und „entarteten Künstlern“ allein auf der Basis der Werke zu behaupten. Das im medizinischen Sinn methodisch unzulässige Vorgehen, das glaubt, einen Menschen in Abwesenheit, gegebenenfalls auch posthum, auf der Basis künstlerischer Manifestationen beurteilen zu können, wird rhetorisch verschleiert, indem Nordau konsequent weder von Erzähl- oder Maltechniken noch von künstlerischen Formen oder Strukturen spricht, sondern a priori von Symptomen, und indem er Kunstwerke und Künstler gleichsetzt. Diese rhetorische Maßnahme erlaubt es ihm, die für ihn verbindliche medizinische Nomenklatur anzuwenden und, statt von Künstlern, von Kranken zu sprechen (Kaiser 2007, 60). Auch im Schlussteil folgt Nordau der Wirkungsintention der antiken Rhetorik zu überreden und zu überzeugen (persuasio), indem er deren Wirkungstaktiken – Logos-, Ethos-, und Pathos-Strategie – übernimmt: (1.) Nordau setzt die Logos-Strategie ein, um das Publikum davon zu überzeugen, seine vermeintlich sachlich begründeten Behauptungen (unter Berufung auf Autoritäten) ernst zu nehmen. Das deutsche Volk, so meint er, „wird die von mir dargestellten Thatsachen sofort anerkennen und beherzigen, wenn sie ihm von Geheimräthen und Professoren bestätigt werden“ (550). Nun reicht die Diagnose der Geisteskrankheit einiger Künstler allein nicht aus, Entartung und den mit diesem Buch verbundenen therapeutischen Anspruch zu legitimieren. Dieses unternimmt Nordau, indem er die „Entarteten“ als existentielle Gefahr für die Menschheit darstellt: Sie bedrohen die Gesundheit des „Gesellschaftskörpers“. Mit der „Vergiftungstheorie“ knüpft Nordau an die Widmungsepistel an und bildet einen zwingend wirkenden Argumentationszyklus: „Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen. Aus ihnen schöpft ein Zeitalter sein Ideal von Sittlichkeit und Schönheit. Wenn sie nun unsinnig und gesellschaftsfeindlich sind, so wirken sie verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts“ (7). (2.) Nordau schürt mit inszeniertem Pathos die Ängste vor Ansteckung und Untergang. Hierbei bedient er sich epidemiologischer Metaphorik (Kaiser 2007,

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129f.) und apokalyptischer Redeformen (ebd., 211): Die Ausbreitung der verderblichen „geistigen Seuche“ (443, 493, 495, 530, 543, 547) gilt es zu verhindern. Diesem Vorgehen liegt eine Einsicht zugrunde, die schon von antiken Rhetorikern ausformuliert wurde, so etwa von Cicero, der darauf aufmerksam macht, das die Menschen eher den durch Pathos zu stimulierenden Regungen des Gemüts als der Wahrheit oder ethischen und rechtlichen Normen folgen (Cicero 2001, 178). (3.) Nordau verpflichtet das Publikum zum Ethos. „Geisteskranke“ und „entartete“ Künstler zeichnen sich ihm zufolge durch extreme Willenlosigkeit aus: geistig, indem sie den Ideen-Assoziationen freien Lauf lassen, und körperlich, indem sie sich ihren Trieben überlassen. Nordau appelliert an den Willen als entscheidende Komponente des Ich: Nur der freie Wille setze den Menschen in die Lage, den kategorischen Imperativ zu leben. Diese ethische Grundhaltung sei ein Privileg der Gesunden. Damit verbunden sei freilich eine ethische Handlung. „Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte“, ruft er seinem Publikum zu: „Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen dieser Schmarotzer.“ (550)

II.3 Kernthesen Der Mystizismus: Während – Nordau zufolge – der gesunde Mensch mit Hilfe seines Willens aus der Fülle der Sinneseindrücke die Aufmerksamkeit auf das Wichtige konzentrieren kann, gelingt dieses den „Mystikern“ nicht: Sie assoziieren nicht nur, sondern sie assoziieren krankhaft. Die Folge ist eine uneingeschränkte, nicht hierarchisch strukturierte Ideen-Assoziation, die zu einer verzerrten Sicht auf die Außenwelt und das Selbst führt; Phantasiegebilde rücken an die Stelle der Realität. Kann das Chaos der Nervenreize nicht durch die Willenskraft des (amoralischen) Menschen gebändigt werden, führt dieses zu (meist religiösen und geschlechtlich indizierten) Halluzinationen, Delirien oder Ekstasen. Diese bestimmen inhaltlich wie formal Malweise und sprachlichen Ausdruck. Die Präraphaeliten: Die Entstehung der Pre-Raphaelite Brotherhood (PRB) interpretiert Nordau als Gegenbewegung zur Vernunft und Verstand einseitig betonenden Aufklärung. Insgesamt ordnet er die Gruppierung der PRB der Romantik zu. Auf den ersten Blick erscheint seine Erklärung für diese Lokalisierung „überraschend freudianisch“ (Kaiser 2007, 88): das verdrängte Unbewusste habe in den Werken der PRB sein Recht behauptet. Die dezidiert „religiöse Färbung“ (85) der Kunstrichtung erklärt Nordau mit der englischen Mentalitätsgeschichte. Anders als Freud klagt Nordau nun aber nicht das Recht des verdrängten Unbewussten ein, sondern ruft nach der „Polizeiordnung gesitteten Denkens“ (81), um die Auswüchse schwärmerischer „Entartungs- und Erschöpfungs-Emotivität“ (84/5) zu eliminieren. Da die Malerei, Nordau zufolge, „ihrem Wesen nach das Sichtbare, nicht das Vermuthete, das Wirkliche, nicht das Mögliche und Wahrscheinliche, das Kon-

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krete, nicht das Abstrakte zum Gegenstande“ hat (92), muss sich John Ruskin als Theoretiker der Bewegung sagen lassen: „[S]eine Theorie ist an sich eine delirirende. Sie verkennt die ursprünglichsten Grundsätze der Aesthetik.“ (88) Die Symbolisten: Gemessen am Kunstideal der Klassik stellen die Symbolisten für Nordau eine äußerste Provokation dar. Ihren Ursprung haben die „schwachsinnigen Graphomanen“ (114) in der „Glaubens-Mimicry der französischen Bourgeoisie“ (121), mit der diese auf die Revolution von 1789 geantwortet habe. Die den Symbolisten attestierte Neigung zu Obskurität und Frömmigkeit beurteilt Nordau als Auswüchse des Neokatholizismus bzw. als Folge der Erziehung in Jesuitenschulen. Nach Nordau zeichnen sich die Symbolisten durch maßlose Eitelkeit und Selbstüberschätzung, starke Emotivität, verworrenes, unzusammenhängendes Denken, Schwatzsucht und vollkommene Unfähigkeit zu ernster, anhaltender Arbeit aus. Auch hier bestätigt sich der Generalverdacht der „moral insanity“. Vor allem Verlaine sei durch eine „toll brünstige Erotik“ bestimmt: „Er denkt beständig an Unzucht und seinen Geist füllen fortwährend Bilder der Geilheit“ (127). Die besondere Klanglichkeit der Lyrik diskreditiert Nordau als „Gestammel“, „Lallen, Faseln, Irrereden“ (545). Besonders erbost zeigt er sich über die Resonanz, die den Symbolisten zuteil wird: „Es haben sich in Deutschland bereits einige Schwachund Blödsinnige, einige Hysteriker und Graphomanen gefunden, die behaupten, daß sie dieses Gefasel verstehen, und es in Vorträgen, Zeitungs-Aufsätzen und Büchern weiter entwickeln“ (124). Der Tolstoismus: Dem russischen Autor mag Nordau ein dichterisches Talent nicht absprechen, doch sieht er in Tolstois Romanwerk einen „empfindsamen Anthropomorphismus“, der ihn verärgert: „Er überträgt seine eigene Gefühlsweise ohne Weiteres auf andere Wesen, die von ihm ganz verschieden empfinden. Er ist im Stande, die Maulwürfe bitter zu beklagen, weil sie verurtheilt sind, in ihren unterirdischen Gängen in ewiger Finsterniß zu brüten, und träumt vielleicht mit Thränen im Auge die elektrische Beleuchtung ihres Baues. […] Das ist die Tolstoische Nächstenliebe in Thätigkeit“ (163). Nordaus Zorn richtet sich vor allem gegen das Glaubensbekenntnis Tolstois, das dieser in Meine Beichte ablegt. Barer Unsinn sei allein schon die von Tolstoi gestellte Frage nach dem Zweck des Lebens: Aus naturwissenschaftlicher Sicht sei diese Frage mit Selbstzweck zu beantworten, aus religiöser Sicht als Anmaßung zurückzuweisen. Einen erbitterten Groll hegt Nordau gegen die in Tolstois Sittenlehre geforderte „Abtödtung des Fleisches“ (163). Nordau steht der Sexualität positiv gegenüber, solange sittliche Normen eingehalten werden; Tolstois Ansichten dagegen führt er auf die ungesunde Geschlechtlichkeit des Entarteten zurück, freudianisch gesprochen: auf Verdrängung, die eine überbordende Phantasietätigkeit zur Folge habe. Das habe eine unentwegte „Beschäftigung mit dem Weibe, das beständige Erfülltsein des Bewußtseins mit Vorstellungen aus dem Gebiete der Geschlechtlichkeit“ (170) zur Folge. Eben diese Zwangsvorstellung führe zu Abwehrhaltungen: „Der erotomanische Entartete steht dem Weibe so gegenüber wie der dipsomanische dem berauschenden Getränke“ (171).

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Der Richard-Wagner-Dienst: Es überrascht nicht, dass Richard Wagner die argumentative Klimax des Mystizismus-Bandes bildet. Nordau konstatiert: „Der eine Richard Wagner ist allein mit einer größern Menge Degeneration vollgeladen als alle anderen Entarteten zusammengenommen, die wir bisher kennen gelernt haben“ (174). Die oft kultisch wirkende Verehrung wird von Nordau mit dem Wort „Dienst“ bezeichnet, was offensichtlich an Minnedienst anklingen und ein vergleichbares Hörigkeitsverhältnis suggerieren soll. Nordaus Kritik an Wagner lässt sich in fünf Punkten zusammenfassen: (1.) Das theoretische Fundament, d. h. die Vorstellung von einem sukzessiven Zusammenwachsen aller Künste, widerspricht den Gesetzen der Phylogenese. (2.) Die Sprache in den Essays und Opern sei die eines „verworrenen Graphomane[n]“ (175): eine Aneinanderreihung „aufs Gerathewohl zusammengeschobener Worte“ (179). (3.) Die zur Schau gestellte Sinnlichkeit sei schamlos: „Die Liebenden benehmen sich in seinen Stücken wie toll gewordene Kater, die sich über eine Baldrian-Wurzel in Verzückung und Krämpfen wälzen“ (183). (4.) Der Mystizismus Wagners zeige sich in einem „Bodensatz von entstellten Lehren des Katechismus“ (185) und münde in der Zwangsvorstellung von Erlösung. (5.) Wagners Wahnsinn äußere sich in antisemitisch geprägtem Verfolgungswahn, weswegen Wagner die Verkörperung aller deutschen Zwangsvorstellungen sei. Parodieformen der Mystik: Der erste Band schließt mit Nordaus Überlegungen zu den Parodieformen der Mystik. Unter diesem Begriff ist die Vorliebe der Zeitgenossen für Gespenstergeschichten, übernatürliche Phänomene, Magie, Zauberei, Hypnotismus, Suggestion, spiritistische Zirkel und Geheimbünde zusammengefasst. Der Begriff „Parodieformen“ ist hier allerdings als Komparativ zu jenen Werken, die unter dem Begriff „Mystizismus“ versammelt sind, zu verstehen: Alle „Verirrungen der sexualen Psychopathie“ (224) fänden sich bei Rollinat; Maeterlinck stelle „ein Beispiel der gänzlich kindisch gewordenen, blödsinnig unzusammenhängenden Mystik“ (226) dar. Dass Nordau sich vorzugsweise auf französischsprachige Autoren bezieht, mag zum einen an seiner breiten Kenntnis der französischen Literatur liegen, zum anderen aber auch daran, dass die Rezeption des Spiritismus in Deutschland im Wesentlichen nach der Niederschrift der Entartung stattfindet. Psychologie der Ich-Sucht: Die Psychologie der Ich-Sucht, die das theoretische Fundament des zweiten Bandes bildet, zeigt sich Nordau zufolge in zwei Merkmalen. Erstens bestehe infolge einer Anomalie des Nervensystems die Unfähigkeit zum Altruismus. In seinen Nerven und Drüsen geschädigt, reduziere sich die Wahrnehmung des Ich-Süchtigen ausschließlich auf die eigene Befindlichkeit. Sei die Erkrankung fortgeschritten, so äußere sie sich in moralischem Irrsinn. Bar jeder Selbstbeherrschung seien dem Entarteten die Einhaltung des Sittengesetzes unmöglich. Die Folgen sind Vorlieben für alles Ekelhafte, Zuwiderhandlungen des natürlichen Fortpflanzungstriebes, Lust am Bösen und – hier wird bereits die Abrechnung mit der Lyrik der Moderne vorbereitet – ein perverser Schönheitssinn. Zweitens sei der Ich-Süchtige vollkommen unfähig, sich den Verhältnissen, in denen er lebt, anzupassen.

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Parnassier und Diaboliker: Die Assoziationsreihen der Parnassier, die weder auf Erkennen noch auf Nutzbarkeit noch auf Kommunikation ausgerichtet sind, offenbaren nach Nordau die Urheber als gesellschaftsfeindliche Wesen; vor allem in den sogenannten „Parnassiern“ erkennt Nordau die literarischen Vertreter der Ich-Sucht: Schon der Begriff der „impassibilité“ bzw. „Gefühllosigkeit“ bezeichne den Mangel jeglichen Mitgefühls und altruistischen Weltbezugs. Nordaus Urteil fällt dementsprechend vernichtend aus: „Die parnassische Kunsttheorie ist blos schwachsinnig“ (275). Nordau hebt die Gemeinsamkeit mit den Symbolisten im Primat der Form gegenüber dem Inhalt hervor, sieht aber auch einen Unterschied: Während die Symbolisten hinter den Erscheinungen der Wirklichkeit dunkle Sinnerfahrungen suchen (und deswegen dem Mystizismus zugerechnet werden), sind die Parnassier für Nordau selbstsüchtige „Entartete“: „Der einzige Inhalt ihrer Dichtung ist ihr Ich.“ (276). Die Verherrlichung der Selbstsucht führt Nordau zufolge zu einer krankhaft menschenfeindlichen Haltung, die wiederum eine leidenschaftliche Parteinahme für alles Unsittliche, Böse und Gemeine befördere. Es überrascht daher nicht, dass Nordau in Baudelaires Les Fleurs du mal die literarische Ausgeburt des Bösen und einen Gipfel entarteter Kunst sieht. Decadenten und Aestheten: In die Kategorie des dekadenten Ästhetizismus gehört für Nordau vor allem Joris-Karl Huysmans’ Werk À rebours. Nordau nimmt diesen „idealen Decadenten“ (303) allzu wörtlich; die immanente Ironie des Werkes bleibt ihm verborgen. So muss ihn bis zur Erbitterung verdrießen, in des Esseintes den „vollen Baudelaireianer mit Widernatürlichkeit, ästhetischem Aberwitz und gesellschaftfeindlichem Diabolismus“ (310) zu erkennen. Erbost konstatiert Nordau eine breite, À rebours Leserschaft, die mit ihrer Bewunderung den Beweis ihrer eigenen „Entartung“ liefere. Als weiteren „Hauptvertreter des „decadenten Schriftthums“ (310) bezeichnet Nordau Maurice Barrès, der das Gebrechen zum Ziel menschlichen Daseins erkläre. „Weltanschauung“, „Sittenlehre“ und „Lebensführung“, diese drei Säulen seines Gedankengebäudes, sieht Nordau durch die Parnassier und Decadenten in Frage gestellt, freilich nicht nur durch französische Literaten, sondern auch durch englische, so durch Algernon Swinburne und Oscar Wilde. Der Ibsenismus: Henrik Ibsen zählt Nordau nach Voltaire, Goethe und Victor Hugo zu den ganz großen Dichtern, weil der Norweger meisterhaft in der Lage sei, seelische Zustände und menschliche Schicksale auf knappste Weise zusammenzufassen und in lebendigen Figuren erlebbar zu machen. Nordaus Ibsen-Kritik entzündet sich an der fehlenden Übereinstimmung von (einem Ibsen unterstellten und inzwischen von der Forschung widerlegten) wissenschaftlichem Anspruch und dessen literarischer Umsetzung. Im Ibsen-Kapitel, mit ursprünglich 120 Seiten das umfangreichste in Entartung, versucht Nordau detailreich zu belegen, dass bei Ibsen Themen, Konflikte und Sprache jeglicher Wirklichkeitsnähe entbehren. Zudem kritisiert Nordau das marginale medizinische Wissen Ibsens, das seinen Anspruch, „Realität“ abzubilden, konterkariere.

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Friedrich Nietzsche: Nietzsches Schriften sind für Nordau (Text)Körper, die die Signaturen der Krankheit tragen. Von allen Beweisführungen der „Entartung“, die Nordau antritt, ist die Auseinandersetzung mit Nietzsche die, in welcher er sich am weitesten vom wissenschaftlichen Anspruch entfernt. Zitate werden nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen, sondern auch in sinnentstellender Weise aneinandergereiht. Nordau übernimmt in diesem Kapitel gleichsam die Rolle eines Irrenarztes, der die Raserei seines Patienten einem sensationslüsternen Publikum vor Augen führt. Es verwundert nicht, dass die von Nietzsche proklamierte „Zweckfreiheit“ des Lebens und die Verherrlichung des Individuums Nordau erzürnen. Am meisten aber entsetzt er sich über Nietzsches Begriffe von „Herrenmoral“ und „Sklavenmoral“. Daran kritisiert Nordau zum einen die geschichtliche Herleitung, die er für falsch hält, und zum anderen die – bei Nietzsche keineswegs eindeutige – Propagierung einer Restitution elitärer Herrenmoral; sie steht im scharfen Widerspruch zur utilitaristischen Solidaritätsmoral, die Nordau vertritt. Nordau deutet Nietzsches Konzeption des „Übermenschen“ und deren Rezeption sozialpsychologisch: Die Idee des „Übermenschen“ zeige, „wie das System Bismarck sich im Kopf eines Tobsüchtigen spiegelt“; was beim Urheber aber noch eine gewisse Größe besitze, sei bei den Anhängern zur bloßen „Schneidigkeit“ (457) verkrüppelt. Der Realismus: Das vierte Buch des zweiten Bandes (Der Realismus) verzichtet auf eine explizit entfaltete narratio mit Hinweis auf bereits veröffentlichte Schriften. Indessen ist dieses Vorgehen nicht nur der Absicht geschuldet, Wiederholungen zu vermeiden, sondern auch dem für Nordau etwas peinlichen Umstand, dass er Zola in seinen früheren Schriften durchaus Positives abgewinnen konnte: In Paris unter der dritten Republik (1881) sieht Nordau in Zola einen Mitstreiter, der mit der schockierenden Beschreibung des Verfalls der makroskopischen Diagnose des Historikers die mikroskopische des gleichsam naturwissenschaftlich arbeitenden Dichters („naturaliste“) hinzufüge. Gut zehn Jahre vor Entartung heißt es über Zola: „[E]r macht mit poetischer Verdeutlichung die zerstörenden Mikroben sichtbar, die das Blut der Nation vergiften und sie ohne die heilende Krise des Krieges und der Revolution getödtet hätten“ (147). In Paris ist Zola noch der „großer Schilderer“, ein „wunderbarer Psycholog“, „Seelenmaler“ und „Dichter“ (156). Kritik erfährt Zola erst, als der Romancier im Les Rougon-Macquart-Zyklus zeigt, dass die Trias von „Erbübel“, Milieu und Zeitumständen unweigerlich zum Verfall führt, und er somit sich gegen die von Nordau propagierte evolutionäre Höherentwicklung stellt. Zudem missfällt Nordau zunehmend Zolas drastische Sprache. Bereits zwei Jahre nach Paris unter der dritten Republik, in den Ausgewählten Pariser Briefen (1884), bezeichnet er Zolas Pot-Bouille (1882) als „gedruckte Senkgruben-Ausräumung“ (242), bezichtigt den Verfasser einer „gesucht pöbelhafte[n]“ Schreibweise (71) und diagnostiziert ein psychisches Leiden als Ursache der Entgleisungen (243). Dabei bleibt es. In Entartung erkennt Nordau im Abbildungsverfahren, das Zola statt einer kommentierenden und wertenden Erzählform wählt, nun nicht mehr die „mikroskopische“ Schilderung der Verfallssymptome, sondern er bewer-

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tet das Werk selbst als unmoralisch und als krassen Ausdruck der „moral insanity“ des Urhebers. Das Kapitel Die jungdeutschen Nachäffer offenbart Nordaus Wut über die „kothlöffelnde Schweinebande“ (548) und seine Scham über deren vermeintlich dürftige Kenntnis der deutschen Sprache. Als „Nachäffer“ Zolas werden vor allem Vertreter des deutschen Naturalismus beschrieben, Karl Bleibtreu, Heinz Tovote und Max Kretzer. Mit der Genauigkeit und Ausdauer eines Lektors oder Korrektors weist Nordau ihnen jede stilistische Ungeschicklichkeit (in seinem Sinn) nach. Sein Fazit: Sie taugen buchstäblich nichts und sollen nicht „mit Brocken einer Sprache flunkern“ (506), die sie nicht im Entferntesten kennen. Vorbildhaft sind für Nordau nur Theodor Fontane und vor allem Gerhart Hauptmann, dessen dichterische Begabung er anerkennt und dessen Weber er euphorisch lobt.

III Rezeption III.1 Reaktionen vor 1900 Entartung wird ein internationaler Erfolg. Bereits 1893 erscheint in Mailand eine italienische Übersetzung (Degenerazione), 1894 in Paris eine französische (Dégénérescence), 1895 in New York und London eine englische (Degeneration), 1902 in Madrid eine spanische (Degeneración). „Erfolg“ meint aber nicht nur die internationale Verbreitung und den Absatz in den einzelnen Ländern, sondern auch die Kritik, die ihm von Fachleuten und Publizisten entgegengebracht wird. Grob gesagt, lassen sich zwei Wellen der kritischen Auseinandersetzung mit Entartung ausmachen: die relativ rasch verebbende zeitgenössische Rezeption und jene, die Entartung im Kontext des Nationalsozialismus sieht. Einer der ersten zeitgenössischen Rezensenten ist Cesare Lombroso, der sich mit dem Werk seines Bewunderers durchaus kritisch auseinandersetzt (siehe I.3.2). Andere Rezensenten medizinischer Provenienz äußern sich zurückhaltend, monieren das eine oder andere methodische Problem, akzeptieren jedoch im großen und ganzen Nordaus Ausführungen (Zudrell 2003, 75). Die englischsprachige feuilletonistische Literaturkritik äußert sich besonders unter zwei Aspekten anerkennend. Zum einen lobt sie Nordaus genaue Kenntnis zeitgenössischen Denkens, zum andern seine innovative Anwendung der Wissenschaft auf die Kunst („novel application of science to art“: Söder 1991, 474). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des englischen Übersetzers William F. Barry, eines katholischen Priesters, der seit 1888 mit kritischen Rezensionen zur Décadence hervortritt und offensichtlich bei Lesern einen besonders ansprechenden Ton findet (Schweiger 2004, 177). Begeisterte Zustimmung kommt vom Rezensenten der North American Post, die Nordaus Werk als Beginn der Überwindung eines pervertierten Kunstverständnisses feiert, das eine müßiggängerische Oberschicht pflege. Christlichkonservative Kritiker sehen sich durch Nordaus Schrift in ihren Ängsten vor Anar-

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chismus bestätigt. Allerdings wehren sie sich gegen seine Angriffe auf die Religion. Gemäßigte Kritiker monieren, dass physiologische und psychologische Prämissen bei der Untersuchung von Kunstwerken eine Rolle spielen, heben aber die reinigende Funktion und heilende Wirkung des Buches hervor. Weniger wohlmeinende Kritiker sehen in Nordau einen typischen Deutschen, grobschlächtig und ohne Gespür für Subtiles, ohne Humor und Ironie: „Who but a German, for example, could take Mr. Oscar Wilde’s delightful paradoxes so seriously?“ Typisch deutsch sei auch die fortwährende Wiederholung ein und derselben These, die Verbissenheit, mit der er am Werk sei, und sein Mangel an literarischem Gespür: „[B]eing a German and a philosopher“, so urteilte ein Rezensent in New Review, „he is obviously incapable of tasting any save the coarser flavours of literature“ (zit. nach ebd., 192). Entartung, so beurteilt Söder die affirmative Rezeption, „helped the bourgeosie come to terms with their fear of anarchism, deviant sexuality, and low birth rates by explaining that these threats to bourgois order […] were serious and real. […] Nordaus popularity, his wide acceptance among bourgois readers, thus lies in the fact that he gave the bourgeoisie that which Freud later denied them” (Söder 1991, 475 f.). Die deutschsprachige Presse zeigt eine differenzierte Kritik. Friedrich Jodl findet in der Deutschen Litteraturzeitung Nordaus Kritik an „einer Reihe geistiger Phänomene des 19. Jahrhunderts vom Standpunkte der Ethik und des gesunden Menschenverstandes“ aus durchaus berechtigt, möchte aber eine generelle Pathologisierung nicht vollziehen (zit. nach Zudrell 2003, 75). Der Rezensent von Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften, einer renommierten Zeitschrift, findet Nordaus Ausführungen „unerhört seicht“ (zit. nach ebd., 78). Nord und Süd, eine Literaturzeitschrift mit internationalen Themen, moniert die subjektive Färbung des Buches sowie die Neigung des Autors zu Drastik und Übertreibung, schätzt aber „Geist“ und „Gedankenwerth“ seiner Ausführungen (zit. nach ebd., 79). Die angesehene überregionale Berliner Vossische Zeitung sieht in Entartung die „Grundlage für eine dringend nötige geistige Hygiene“ (zit. nach ebd., 78). Die national-liberale Zeitschrift Die Grenzboten fühlt sich in ihrem Nationalstolz bestätigt und wettert bei dieser Gelegenheit gegen die ausländische Literatur, die Nordau zu Recht kritisiere und verwerfe (zit. nach ebd., 77). 1896 gesteht Pius Pauli in der Wiener Zeitschrift Neue Revue, er fühle sich durch Nordau an „eine der unsympathischen Gestalten unserer Literaturgeschichte“ erinnert, nämlich den Aufklärer und Verleger Friedrich Nicolai, „der, Popularphilosoph, Aufklärungs- und Nützlichkeitsapostel, wie Nordau, es sich nicht verdrießen ließ, durch drei Generationen Welt und Literatur als verrückt zu verdammen“. Pauli bewertet den Erfolg des Buches als „Symptom für die erschreckende Geschmacksentartung unseres Lesepublikums“ (zit. nach ebd., 76, 77). Eine ebenso klare Absage erfährt Entartung seitens der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, gerade jener Vereinigung also, die Nordau im Schlusskapitel von Entartung zu instrumentalisieren versucht. In der Zeitschrift Ethische Kultur heißt es an Nordau gerichtet:

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[W]enn die D. G. E. K. ein Sittlichkeitswächter in Ihrem Sinne werden sollte, so würde sie der ethischen Kultur ins Gesicht schlagen. Auf unserer Fahne steht Menschenliebe – Sie kämpfen in Ihrem blinden Parteihaß gegen die irregeleitete „Jugend“, statt sie ruhig zu kritisieren und ihr Verständnis zu zeigen. (zit. nach ebd., 79).

Nordau antwortet hochfahrend und schmähend, ganz wie es die Leser von ihm gewohnt sind: Mit der Kritik selbst gedenke ich mich nicht zu beschäftigen, und zwar deshalb nicht, weil ich die Zuständigkeit ihrer Verfasserin, über „Entartung“ öffentlich ein Urteil abzugeben, bestreiten muß. Meine Bemerkungen beziehen sich einzig auf solche Stellen, welche nichts mit litterarischer Kritik zu tun haben, sondern einzig den Wunsch verrathen, dem Verfasser des besprochenen Buches persönlich unangenehm zu werden. (zit. nach ebd., 80).

Die naturalistische Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben stellt 1893 in dem Artikel „Der Schädel des Sophokles“ Nordau anheim, seinen Schädel zusammen mit den Schädeln anderer Dichter und Denker „erblich zu deponieren, damit man aus ihnen erkenne, was ihre nachgelassenen Werke oft nicht feststellen lassen: ob sie wirklich große, echte Dichter und Denker gewesen sind“ (zit. nach ebd., 81). 1895 trägt Entartung Nordau eine spöttische Antonomasie ein; der Schriftsteller Benno Rüttenauer nennt Max Nordau eine Posaune des Gerichts (zit. nach ebd., 81). Noch 1899 urteilt Karl Kraus anlässlich einer Rezension Nordaus über Flaubert vernichtend, Nordau missbrauche wie stets „die französische Gastfreundschaft, um bei jeder Gelegenheit die erlauchtesten Dichter und Künstler Frankreichs in den Kot seiner geistigen Verdauung zu zerren“ (Kraus 1906). Zwei Autoren von Rang reagieren mit Parodien: Der eine ist George Bernhard Shaw, der in „A Degenerate’s View of Nordau“ (in: Liberty, 27. Juli 1895, als Buchausgabe 1908 unter dem Titel The Sanity of Art) Nordaus Denkweise, vor allem aber die inhärente Komik seines argumentativen Stils bloßstellt, indem er die pathologischen Befunde nun an Nordau selbst nachweist. Zugleich ist Shaws Parodie ein „Angriff gegen konservative Kräfte vorwiegend aus dem Bürgertum“ (Schweiger 2004, 184), die sich durch Nordaus Invektiven gegen die moderne Kunst in ihren eigenen Ressentiments bestätigt fühlten. Shaws Verriss scheint wirksam gewesen zu sein, denn im Oktober 1895 verkündet die Liberty, der „DegenerationsBoom“ sei durch Shaw beendet worden. Nordau selbst reagiert noch 1895 in englischsprachigen Zeitungen auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, bewertet sie als Kampagne und sieht sich letztlich in seiner Theorie der „Entarteten“ bestätigt. Der andere parodistische Text stammt aus der Feder Theodor Fontanes. Am 6. Juni 1893 berichtet er in einem Brief an den Verleger Friedrich Stephany, den Chefredakteur der Vossischen Zeitung, „Nordaus Ibsen-Anti-Ibseniaden“ gelesen zu haben, „mit Entzücken“, wie er gesteht, „denn Nordau ist ein ganz grundgescheiter Mann, aber doch ebenso auch unter intensivsten Lachen. Denn so gewiß Nordau ein geistreicher Mann ist, so gewiß ist Ibsen ein großer Dichter“ (Fontane 1882, 259). Am 8. Juni 1893 beschwert er sich, dass Stephany einen seinem letzten Brief beigelegten „Ulk“ nicht verstanden habe. Dieser „Ulk“, die kleine Satire Der Vater

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vons Janze, wird 1934 in den Berlinischen Blättern für Geschichte und Heimatkunde veröffentlicht: Fontane ,entlarvt‘ hier den „Klassizitäts-Popanz“ als den eigentlichen Schuldigen an der Verrohung der deutschen Literatur. Nicht die Literatur des 19. Jahrhunderts habe, wie Nordau meine, den „Tiefstand der deutschen Literatur“ zu verantworten; dies übersehe, dass Lessing im Nathan „Blasphemist“, Schiller im Tell „Anarchist“ und Goethe im Faust „Pornograph“ gewesen sei. Als Rettungsanker deutschen Literaturschaffens empfiehlt Fontane die Gartenlaube (Sommerfeld 1934, 120 auch Fontane 1963, 489). „Es lag mir“, so erklärt er den von Stephany offenbar nicht gewürdigten „Ulk“, „nur daran zu zeigen, daß es mit allem Urtheil, besonders aber mit dem Urtheil Vorwegeingenommener, immer ein mißlich Ding ist und daß zumal wo geistreiche Menschen sich ins Geschirr legen, alles bewiesen werden kann.“ (Fontane 1982, 260). In der Belletristik des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind die Themen „Degeneration“ und „Verfall“ allgegenwärtig. Thomas Manns Buddenbrooks trägt nicht zufällig den Untertitel Verfall einer Familie; der Roman bildet den Auftakt des Frühwerks, in dem die Vokabel „Entartung“ immer wieder auftaucht und das Thema „Entartung“ eine große Rolle spielt (Koopmann 2002, 123 f.). Viele von Manns Figuren – Hanno Buddenbrook, Gabriele Klöterjahn, Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach – zeigen „Entartungs“-Erscheinungen im Sinne der Zeit oder werden mit dem Vorwurf der „Entartung“ konfrontiert. Freilich ist „Entartung“ bei Thomas Mann immer auch mit einer Steigerung der ästhetischen Sensibilität und oft mit künstlerischer Kreativität verbunden. In den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) bringt Mann das Wort „Entartung“ ausdrücklich in den Zusammenhang mit „Veredlung“: Die Buddenbrooks seien eine „Geschichte der Veredelung, Sublimierung, und Entartung des deutschen Bürgerstammes“ (Mann 2009, 637). Das Handbuch Berühmte israelitische Männer und Frauen (1900) widmet Nordau einen ausführlichen Beitrag und ordnet seine kulturkritischen Schriften der „sogenannte[n] naturwissenschaftliche[n] Philosophie“ als einer „Mode der Zeit“ zu. Einerseits werden Nordaus „dialektische Begabung“ und sein „Mut zur Unerschrockenheit“ hervorgehoben, andererseits aber das Fehlen von Maß und Besonnenheit kritisiert, was eine „bleibende und tiefgehendere“ Wirkung (57) vor allem von Entartung verhindert habe. 1930 wird im Jüdischen Lexikon noch die Bedeutung der Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit als herausragendes Werk hervorgehoben, Entartung aber nur noch in der Bibliographie aufgeführt.

III.2 „Entartung“ und Kunst nach 1900 Drei Tendenzen hinsichtlich der Auffassung von „Entartung“ lassen sich zwischen 1900 und 1945 feststellen. (1.) Der Begriff „Entartung“ verliert im psychiatrischen Diskurs zwischen 1900 und 1920 seine Bedeutung (Fischer 1977, 110). 1902 konstatiert der Psychiater Willy

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Hellpach in Nervosität und Kultur (1902), dass es hinsichtlich dessen, was man unter „Entartung“ zu verstehen habe, nur Hypothesen und keine Erkenntnisse gebe. Er hält zwar grundsätzlich an der Möglichkeit vererbbarer Schädigungen des gesamten Organismus fest, verwirft aber die Vorstellung von „Entartung“ als Kulturerscheinung. Nordau diskreditiert er als „Entartungsgeiststreichler“, „dem jede feinere Regung“ zu Unrecht als „psychopathisch erscheint“ (Hellpach 1902, 197 f.). Auch der Psychiater Oswald Bumke verweist auf den „heillosen Mißbrauch“, der mit dem Wort „Entartung“ getrieben werde (Bumke 1912, 13). In seiner Schrift Über nervöse Entartung kritisiert Bumke die Grundannahmen der Hereditätsforschung und weist nach, dass nur ein geringer Prozentsatz der Erkrankungen tatsächlich auf Vererbung zurückgehe. Die Ursache einer „von Generation zu Generation zunehmende[n] Verschlechterung der Art“, namentlich des (nervösen) Gesundheitszustandes, sieht er im Zusammenwirken äußerer Faktoren mit einer erblichen Übertragung krankhafter Eigenschaften (ebd., 15). Bumke hält es nicht für erwiesen, „daß bestimmte ethische Mängel als sicheres Symptom der Entartung gelten können“, und plädiert dafür, dass sich die Psychiatrie moralischer Urteile enthalte (ebd., 5). (2.) In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird eine engere und positive Beziehung zwischen avantgardistischer Kunst und Psychiatrie – und umgekehrt – hergestellt. Die Expressionisten, die ab 1910 den Ton angeben, zeigen keinerlei Berührungsängste im Umgang mit den „Irren“; im Gegenteil, steht doch deren Existenz im „extremste[n] Kontrast zur Normalität des verhaßten Bürgers“ (Anz 2002, 83). Nicht nur ihr Außerseitertum, sondern vor allem ihre „Eigenweltlichkeit“ machen „Irre“ für expressionistische Maler zu bemerkenswerten Gestalten und bevorzugten Figuren der Darstellung. Seit 1914 ist belegt, dass aufgeschlossene Anstalten – wohl aus Gründen der Imagepflege – Künstlern Einlass gewähren und eine Beobachtung der Kranken gestatten: In der „Irrenkunst“ werden genuine Schaffensakte entdeckt, die dem reglementierenden Bewusstsein zuvorgekommen sind und „wahre“ oder „authentische“ Kunst darstellen. Die Literaten sekundieren den Bildenden Künstlern und entdecken kollektiv in dieser „trüben und vor Wahnsinn knallenden Zeit“ (Georg Heym) das literarische Motiv des „Irren“: Alfred Döblins frühe Erzählungen wie Die Ermordung einer Butterblume (1913), Georg Heyms Erzählung Der Irre (posthum 1913) sowie die einschlägigen Gedichte aus seinem Zyklus Umbra Vitae (posthum 1912), Jacob van Hoddis’ Nachtgesang (1911), Carl Einsteins Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) und Georg Trakls Traum und Umnachtung (1912) deuten den Wahnsinn als Zeichen einer beschädigten Psyche in einer pathologisierenden Gesellschaft. Das künstlerische Interesse an der Kunstproduktion von Geisteskranken zeigt sich besonders deutlich in Hugo Balls Essay Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926). Dort heißt es am Ende des achten Abschnitts über Hans Prinzhorns Buch Bildnerei der Geisteskranken (siehe unten): Der Kranke belehrt den Gesunden. Kunst und Künstler haben das Höchstmaß ihrer Leiden erreicht. Der Kranke tröstet den Gesunden als den noch nicht der Dissoziierung Verfallenen,

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aber mit ihr Kämpfenden. Er tröstet ihn, indem er eine Einheit der Anschauungsformen in der fernsten Totemvorstellung des Wilden und den letzten Verwirrungen einer übervölkerten Kultur erweist. Er tröstet den Künstler, indem er zeigt, daß die intellektuelle Katastrophe den Kunst- (oder Heilungs-) Prozeß nicht zu stören vermag, sondern ihn fördert; daß also aller Voraussicht nach bei einer Verschärfung der jetzigen Situation die letzte Fackel der Menschheit, die Kunst, nicht verlöschen wird, fänden die Künstler sich auch in den Sanatorien wieder. (Ball 1988, 119)

Auch in der psychiatrischen Bewertung künstlerisch anmutender Manifestationen von „Geisteskranken“ kommt es in diesen Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel. Der wohl erste Psychiater, der sich gegen die abschätzige Beurteilung künstlerischer Produkte von „Geisteskranken“ wendet, ist der französische Psychiater Marcel Réja (1873–1957). Zwar spricht er sich 1907 in L’art chez les fous (dt., Die Kunst der Verrückten, 1997) hinsichtlich der werkähnlichen Artikulationen von „Geisteskranken“ gegen eine generelle Zuschreibung zur Kunst aus, betont aber die für die Künstler des 20. Jahrhunderts interessant werdende Dimension unbewusster Schaffensprozesse. Hieran knüpfen zwei junge Psychiater an. Der zwischen 1913 bis 1920 in der Bernischen kantonalen Irrenanstalt Waldau tätige Psychiater Walter Morgenthaler (1882–1965) beginnt, künstlerisch wirkende Hervorbringungen geistig kranker Menschen zu sammeln. Sein Ziel ist es, Werke zu dokumentieren, die unter dem Einfluss der Krankheit entstanden sind, und deren künstlerische Züge dem an expressionistischer Kunst geschulten Blick ins Auge fallen. 1918 erscheint Morgenthalers Schrift Übergänge zwischen Zeichnen und Schreiben bei Geisteskranken, die wiederum den in Heidelberg tätigen Kunsthistoriker und Arzt Hans Prinzhorn (1886–1933) anregen, Belegmaterial für sein Buch Bildnerei der Geisteskranken zu sammeln. Dieses sowohl dokumentarische als auch analytische Werk erscheint 1922 und forciert den Dialog zwischen Künstlern und Psychiatern. Prinzhorns Interesse gilt den inhaltlichen und formalen Parallelen zwischen den Werken Schizophrener und den Werken der anerkannten „Zeitkunst“. In der Beschäftigung mit der Bildnerei von „Geisteskranken“, Kindern und „Primitiven“, ermittelt Prinzhorn den „Kernvorgang“ schöpferischen Gestaltungsdranges, „der allen Menschen wesenhaft eigen ist“. Dieser „originale Gestaltungsdrang“ sei durch die zivilisatorische Entwicklung verschüttet worden (Prinzhorn 1922, 344). (3.) Die Prävalenz des Kranken in der „Zeitkunst“ wird nach 1900 in „rassehygienischen“ Ansätzen weitergeführt und radikalisiert. 1912 diagnostiziert der völkisch gesinnte Literaturprofessor Carl Weitbrecht eine „entartete Zeit“ und führt Symptome an (Weitbrecht 1912, 113), die – oberflächlich betrachtet – Nordaus Entartung entnommen sein könnten. Auch die ,Delinquenten‘ sind identisch: Ibsen und Nietzsche, Zola und Wagner, Tolstoi und Dostojewski. Ein großer Unterschied zu Nordau wird aber rasch deutlich: Für Weitbrecht ist die „Entartung“ im Wesentlichen ein Import aus dem Ausland, welcher der deutschen Volksseele, die bei Weitbrecht als Maßstab des Gesunden gilt, und der germanischen Art, an der für ihn alles zu messen ist, eigentlich fremd ist. Bei Nordau spielt die von Weitbrecht angerufene deutsche Volksseele indessen keine Rolle, auch wenn er den Maßstab

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gesunder Kunst in einem Deutschen, in Goethe sieht: Nordau kennt das Leben in mehreren Ländern, ist polyglott und denkt zumindest in künstlerischer Hinsicht kosmopolitisch. Das dezidiert völkische Denken, das in der Folgezeit allem Missliebigen „Entartung“ nachsagt, bereitet die Vereinnahmung des Begriffs durch die Nationalsozialisten vor. 1926 sind die „nationalsozialistischen Stereotypen zur Minderwertigkeit, Auslese und Rassenhygiene bereits ausformuliert“ (Person 2005, 148). 1928 veröffentlicht der Architekt und Kunsttheoretiker Paul Schultze-Naumburg Kunst und Rasse. Hinsichtlich moderner Kunst, die Schultze-Naumburg neben den Photographien körperlich deformierter oder geistig eingeschränkter Menschen in Kunst und Rasse wiedergibt, taucht der Begriff in Bezug auf jene Künstler auf, die „neben einseitigen Begabungen allerlei Züge von Entartung“ tragen. Sie würden, indem sie wiederum „Entartungserscheinungen“ (Schultze-Naumburg 1928, 93) als Sujets wählten, eine „ungünstige Auslese im Volkskörper“ treffen (ebd., 95). Neben „Entartung“ dominieren in Kunst und Rasse Vokabeln wie „Rasse“ und „Untermensch“. Die „Untermenschen“ sorgen laut Schultze-Naumburg dafür, dass sich die Bevölkerung „rassisch in einem ungeahnten Abstieg“ befinde, was sich im „Absterben des Gefühls für Körperschönheit in der Kunst“ zeige (ebd., 102). Schultze-Naumburg plädiert ferner dafür, den „geistigen Kulturbesitz“ eines Volkes unter das Gebot der Vererbung zu stellen, „damit die Nachkommenden an dem Punkt fortfahren können, an dem die Vorhergehenden aufgehört haben“ (ebd., 141). Im Sinne der evolutionären Aufgabe zur Höherentwicklung will Schultze-Naumburg die Künstler verpflichten, das Zukunftsbild einer Rasse zu zeigen, die sich durch Schönheit und Stärke auszeichnet. Schultze-Naumburg tritt 1929 dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ bei. Die dort gehaltenen Vorträge fasst er 1932 unter dem Titel Kampf um die Kunst für die Reihe „Nationalsozialistische Bibliothek“ als Buch zusammen; 1933 wird er Mitinitiator und Mitwirkender an den Bücherverbrennungen in Deutschland. Die Ausstellung Entartete Kunst, die am 18. Juli 1937 in München eröffnet wird, folgt seiner Methode der Kontrastierung von gesunder und kranker Kunst. Nordaus Werk ist zu diesem Zeitpunkt in Vergessenheit geraten. Nur der Wiener Schriftsteller Egon Friedell erinnert in seiner vielgelesenen Kulturgeschichte (1927–1931) noch einmal an Entartung, bezeichnet das Buch aber als „eine mehrere hundert Seiten lange ununterbrochene Anpöbelung aller führenden modernen Künstler“ und als „Blamage“ für den Autor (Riecke 2012, 589). Wenn Gottfried Benn 1930 in seinem Essay Das Genieproblem den Bedingungen von Genialität nachspürt und dabei auch nach den pathologischen Aspekten fragt, von „Entartung“ spricht und Genie – „jawohl“ – als „eine bestimmte Form reiner Entartung unter Auslösung von Produktivität“ bezeichnet (Benn 1987, 282), dann heißen seine Materiallieferanten und Anreger Kretschmer, Lange-Eichbaum, Binder, Birnbaum und Möbius, während nichts darauf hindeutet, dass er Nordaus Entartung gekannt oder konsultiert hätte.

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Allerdings ist auch damit zu rechnen, dass es eine sozusagen anonyme Weiterwirkung auch noch in diesen und späteren Jahrzehnten gibt. Helmuth Kiesel weist darauf hin, dass Georg Lukács, der in jungen Jahren Nordaus Entartung als Führer durch die Literatur der frühen Moderne nutzte, der Kunst der späteren Moderne Negativ-Qualitäten zuschreibt, die deutlich an Nordau erinnern: weltvergessene subjektivistische „Selbstbespiegelung“, Übergang „vom Protest zur Pathologie, Perversität, Idiotie“, „Bekenntnis zu Zufall und Dekadenz“ (zit. nach Kiesel 2004, 172). Und auch noch an anderer und späterer Stelle, nämlich in einer Rede des Zürcher Germanisten Emil Staiger, die 1966 den aufsehenerregenden „Zürcher Literaturstreit“ über die moderne Literatur auslöst, finden sich Vokabeln – „Entartung“ eingeschlossen – und Urteile, die von Nordau stammen könnten (zit. nach ebd., 172).

III.3 „Entartung“ und „entartete Kunst“ Welche Bedeutung Nordaus Entartung für die eliminatorischen Angriffe der totalitären Regime der dreißiger Jahre, des Stalinismus und des Nationalsozialismus, auf die als „dekadent“ oder „entartet“ bezeichnete Kunst der avantgardistischen Moderne hat, ist nicht vollständig auszumachen. Erkennbar ist, dass Maxim Gorkis Kritik an der „dekadenten“ und „überflüssigen“ Kunst „überflüssige[r] Menschen“, die für die Konstituierung der Doktrin des Sozialistischen Realismus und für die darauf basierende Liquidierung der avantgardistischen Kunst von tragender Bedeutung ist, nicht zuletzt die Folge einer begeisterten Nordau-Lektüre ist (zit. nach ebd., 172). Im Fall des Nationalsozialismus gibt es weniger Klarheit. Einerseits zeigen sich Parallelen: in der rigiden Unterscheidung von „gesund“ und „krank“ und deren Klassifizierung als „gut“ und „böse“; in der Definition von „gesunder“ Kunst als zu bewahrendes „geistiges Kulturgut; in der Identifizierung von „kranker Kunst“ als auszumerzendes Übel; in der Sorge um die „Volksgesundheit“ im Dienste der Evolution. Andererseits treten auch die Unterschiede klar hervor: Die Vokabel „Entartung“ steht bei Nordau im Zeichen der Zivilisationskritik, bei den Nationalsozialisten im Zeichen einer Rassenpolitik, die sich gegen Rassenmischung richtet und zur Ausmerzung des „Fremdrassigen“ im eigenen Volkskörper sowie zur Ausrottung „niederer“ Rassen aufruft. Liegt der Fokus bei Nordau auf den inhärenten Darstellungs- und Ausdrucksprinzipen der Kunst sowie auf den ästhetischen und ethischen Beurteilungskriterien, so geht es den Nationalsozialisten um die unterstellte „wesenhafte“ Verbindung mit „Volk, Stamm, Rasse, Volksgeist und deutschem Charakter“. Sieht Nordau die Ursache der „Entartung“ in der Zivilisation, so entdecken die Nationalsozialisten sie in der Vermischung mit „Fremdrassigem“. Heißen Nordaus Gegenbegriffe zu „Entartung“ „Evolution“ und „Fortschritt“, so lauten die der Nationalsozialisten „Reinheit der Rasse, des Volkes, des Blutes, der Kultur“

Bibliographie

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(Kashapova 2006, 55ff.). Identifiziert Nordau die Prototypen der „Entartung“ in „degenerierten Zeitgenossen“ beliebiger Provenienz, die eine allgemeine Zeitkrankheit hypostasieren und multiplizieren, so sehen die Nationalsozialisten die Exponenten und Proliferateure der „Entartung“ vor allem in den Juden. Darin zeigt sich ein genereller und fundamentaler Unterschied zwischen dem „Entartungs“-Begriff Nordaus und dem der nationalsozialistischen Ideologen: Nordaus Begriff der „Entartung“ ist definitiv weder rassentheoretisch begründet noch national ausgerichtet, und deswegen ist er für die Stigmatisierung und Verfolgung von Ethnien nicht verwendbar. Nordaus Entartung war für die Nationalsozialisten durchaus entbehrlich, weil der Begriff der „Entartung“ und die Vorstellung von „entarteter Kunst“ vor und neben Nordau von Medizinern, Kulturphilosophen, Kunsttheoretikern und Künstlern entwickelt wurden, auf die sich die Nationalsozialisten viel leichter als auf Nordau berufen konnten. Ja, Nordaus Entartung war für die Nationalsozialisten nicht nur entbehrlich; sie muss ihnen hinderlich erschienen sein, insofern sie „Entartung“ nicht als rassisches, sondern als allgemeines Entwicklungsphänomen erscheinen lässt.

Bibliographie Max Nordau Die Seitenzahlen hinter den Zitaten aus Entartung oder hinter Verweisen auf Entartung beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe (2013). Des Weiteren wurden im Nachwort folgende Titel Nordaus zitiert: Aus dem wahren Milliardenlande. Pariser Studien und Bilder. 2 Bde. Leipzig 1878. Vom Kreml zur Alhambra. 3 Bde. Leipzig 1880. Paris unter der dritten Republik, neue Bilder. Leipzig 1880. (mit Ferdinand Gross) Die neuen Journalisten. Bremen 1880. Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande. Leipzig 1881. Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1883. Ausgewählte Pariser Briefe. Wien 1884. Paradoxe. Leipzig 1885. Pariser Briefe. Kulturbilder. Leipzig 1887. Die Krankheit des Jahrhunderts. Leipzig 1887. Seelenanalysen. Berlin 1892. Drohnenschlacht. 2 Bde. 1897 u. 1898. Doktor Kohn. Bürgerliches Trauerspiel aus der Gegenwart. Berlin 1898. Der Sinn der Geschichte. Berlin 1909. Zionistische Schriften. Hg. vom Zionistischen Aktionskomitee. Köln und Leipzig 1909. Zionistische Schriften. Berlin 1923.

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Nachwort

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 1854–1971. http:// woerterbuchnetz.de/DWB Kraus, Karl (1906): Nordau. In: Die Fackel, 3. April 1906. http://www.textlog.de/cgi-bin/search/ proxy.cgi?terms=Nordau&url=http%3A%2F%2Fwww.textlog.de%2F36491.html. Wörterbuch der deutschen Sprache veranstaltet und herausgegeben von Johann Heinrich Campe. Braunschweig 1807. http://books.google.de/books?id=HZREAAAAcAAJ&printsec=frontcover& hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false Riehl, Wilhelm Heinrich (1859): Culturstudien aus drei Jahrhunderten. Stuttgart. http://books.google.de/books?id=jm8HAAAAQAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_ summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Leipzig 1731–1754. http://www.zedler-lexikon.de/index.html.

Personenregister In das Register aufgenommen wurden nur die in Entartung erwähnten Namen, und diese wurden nur in Entartung nachgewiesen. Nicht aufgenommen wurden Personennamen, – die Fallbeispiele in Werken bezeichnen, aus denen Nordau zitiert; – die von Nordau unvollständig wiedergegeben wurden; – deren Identität nicht ermittelt werden konnte; – die ausschließlich im Kommentar oder im Nachwort erwähnt werden. In das Personenverzeichnis wurden die Namen in gängiger Schreibweise aufgenommen. Das betrifft ebenfalls eingeführte Künstlernamen. Möglicherweise weichen diese von der Schreibweise bei Nordau ab (z. B. Baschkirtsef statt Bashkirtseff), zumal diese häufig nicht einheitlich ist (Turgenjeff/ Turgenjew etc.). Abel, Carl 61, 422 Abercrombie, Helena 320 About, Edmond François Valentin 139 Adam, Paul 123 Adler, Georg 456 Alberti, Konrad (eigtl. Konrad Sittenfeld) 522 al-Hariri (eigtl. Abu Muhammad al-Qassim ibn Muhammad ibn Uthman ibn al-Hariri-alBasri) 274 Alexander der Große 298 Aman-Jean, Edmond François 127 Amicis, Edmondo de 473 Andersen, Hans Christian 238 André, Grégoire 51 Andreas-Salomé, Lou 445, 446 Apollinaris, Gaius Sollius Sidonius 302 Archimedes 118 Aretino, Pietro 330 Aristoteles 328, 339 Arnaud, François-Léon (auch L.-F.) 391, 483 Aubry, Paul 184, 484 Auerbach, Berthold (eigtl. Moses Baruch Auerbacher) 471, 519 Aurelius Verus, Lucius 20 Ausonius, Decimus Magnus 302 Avinain, Jean-Charles-Alphonse 360 Axenfeld, Auguste 36 Bacon, Francis (auch Lordkanzler Baron Baco von Verulam) 85 Bahnsen, Julius Friedrich August 485 Bahr, Hermann Anastas 508, 509, 510, 511, 512, 523, 549 Bähr, Otto 48

Ball, Benjamin 29, 184, 439 Ballet, Gilbert 75 Balzac, Honoré de 22, 95, 406, 475, 476, 477 Banville, Théodore de 273, 274, 275 Barbarossa (Friedrich I.) (bei Nordau Rothbart) 82 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée 147, 288, 298, 299, 317 Barrès, Auguste-Maurice 283, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 368, 433, 489 Bashkirtseff, Marie 311, 316 Bataille, Charles 271 Baudelaire, Charles 102, 103, 272, 275, 276, 277, 278, 279, 283, 289, 290, 291, 292, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 305, 310, 315, 317, 435, 489, 511 Baumbach, Rudolf 110, 500 Beal, Samuel 419 Beck, Karl Isidor 496 Beda Venerabilis (auch dt., Beda der Ehrwürdige) 85 Beecher Stowe, Harriet 539 Beethoven, Ludwig van 180, 181, 184, 197, 203 Bellamy, Edward 538 Bellini, Gentile 19 Béraud, Jean 23, 467 Berkeley, George 85, 250, 251 Bernard, Claude 141 Bernard, Léopold 490 Bernhardt, Sarah 25 Berthelot, Marcelin Pierre Eugène 141 Bertrand, Alexis 485 Besnard, Paul-Albert 22, 23, 39

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Personenregister

Bianchi, Augusto Guido 549 Bierbaum, Otto Julius (Pseudonym Martin Möbius) 512, 513, 522 Binet, Alfred 39, 146, 251, 260, 261, 404, 489 Binswanger, Otto Ludwig 442 Birch-Pfeiffer, Charlotte 498 Bismarck-Schönhausen, Otto Eduard Leopold Fürst von 154, 453, 457, 458, 524 Bjørnson, Bjørnstjerne Martinius 378, 498 Blaserna, Pietro 327 Bleibtreu, Karl August 498, 499, 500, 501, 508, 513, 521 Böck, Jean (eigtl. Jean de Boeck) 262 Bodenstedt, Friedrich Martin von 274 Bodisco, Constantin-Alexandrowitch de 216 Böhme, Jakob 356 Boex, Joseph Henri Honoré Boex s. Rosny, J. H. Boex, Séraphin Justin François Boex s. Rosny, J. H. Boileau de Castelnau, Philippe Joseph 405 Bois, Henri Antoine Jules 124 Bonnetain, Paul 464 Borgia, Cesare 196, 265, 451 Börne, Carl Ludwig 501 Bornmüller, Franz 151 Bosc, Ernest (Pseudonym J. Marcus de Vèze) 218, 219 Bosc, Joseph 262 Botticelli, Sandro (eigtl. Alessandro di Mariano di Vanui Filipepi) 19 Bouilly, Jean-Nicolas 496 Boulanger, George Ernest Jean Marie 124, 311, 315, 317 Boulle, André-Charles 21 Bourget, Paul Charles Joseph 283, 284, 289, 296, 302, 303 Bourru, Henri 404 Boys, Jean Charles du 271 Brandes, Georg Morris Cohen 354, 355, 365, 380, 390, 400, 443 Brehm, Alfred Edmund 419 Brentano, Franz Clemens 280 Bridgman, Laura Dewey 60 Bright, Richard 270 Brinvilliers, Marie-Madeleine Marguerite d’Aubray, Marquise de 265 Brouardel, Paul Camille Hippolyte 46 Brown, Ford Madox 79 Bruant, Aristide 25

Brücke, Ernst Wilhelm Ritter von 327 Brueghel d. J., Pieter (auch Breughel oder Breugel) 330 Brun, Franz Isaac 20 Bruneau, Louis Charles Bonaventure Alfred 23 Brunetière, Ferdinand 277, 469, 479, 482, 485 Bunyan, John 85, 87 Burne-Jones, Sir Edward Coley 79 Burot, Prosper Ferdinand 404 Burton, Sir Richard Francis 87 Button, Jemmy (eigtl. O’run-del’lico) 534 Caligula (eigtl. Gaius Caesar Augustus Germanicus) 269 Callot, Jacques 330 Carabin, (François) Rupert 22 Caraguel, Joseph 124 Carducci, Giosuè (Pseudonym Enotrio Romano) 298 Carlyle, Thomas 141, 356 Carrière, Eugène 23, 127 Carus, Julius Viktor 419, 534 Casanova, Giovanni Giacomo 479 Catrou, Jacques 486 Cellini, Benvenuto 84 Cervantes, Miguel de 203, 341 Chamberland, Charles-Édouard 117 Chambige, Henri 283, 311 Charcot, Jean-Martin 32, 38, 41, 118, 170, 216, 550 Charrin, Albert Benoît 262 Chateaubriand, François-René, Vicomte de 302 Chaucer, Geoffrey 106 Chavannes, Pierre Cécile Puvis de 23, 39 Chirac, Frédéric de 493 Chopin, Frédéric François 441 Chorinsky jun., Gustav Graf 27 Cimabue, (eigtl. Cenni di Pepe) 88, 90, 93 Clay, Edmund R. 325, 332 Colin, Henry 30, 33, 36 Collinson, James 79 Commodianus von Gaza 302 Comte, Isidore Marie Auguste François Xavier 109, 141, 257, 496 Cook, James 87 Coriolanus, Gnaeus Marcius 379 Cotard, Jules 391 Crépets, Eugène 275 Crichton-Browne, Sir James 52

Personenregister

Critchett, George 52 Crocé-Spinelli, Joseph 117 Dante (eigtl. Dante Alighieri) 22, 95, 98, 99, 106, 470 Darwin, Charles 54, 85, 109, 122, 136, 141, 266, 349, 356, 419, 421, 426, 432, 534 Delepierre, Octave 140 Delines, Michel (eigtl. Mikhail Osipovich Ashkinazi) 164, 197 Delille, Jacques (auch Abbé Delille) 524 Descaves, Lucien 464 Desjardins, Paul 114, 119 Desmoulin, Eugene Louis Doyen Fernand 223 Dickens, Charles 444 Diderot, Denis 288, 537 Doni, Magdalena (Maddalena) geb. Strozzi 19 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 225, 330, 360, 374 Drill, Dimitri 265 Du Bois-Reymond, Emil Heinrich 115 Dubus, Edouard 140 Dumas d. J., Alexandre (auch Dumas fils) 16, 405 Dumas d. Ä., Alexandre 84, 342, 405 Dumur, Louis 139, 140 Duncker, Carl Friedrich Wilhelm 5, 241 Ebergenyi von Telekes, Julie Malvine Gabriele 27 Eberth, Karl Joseph 351 Eckstein, Friedrich Ludwig Adolf Ernst 26 Edwin (Northumbria) 85 Egidy, Christoph Moritz von 173 Ehrenberg, Christian Gottfried 118 Ehrhard, Auguste 342, 345, 393, 400, 401, 408 Eisner, Kurt 445 Eliot, George (Pseudonym für Mary Ann Evans, später Marian Evans) 471 Esquirol, Jean Etienne Dominique 247, 439 Euklid (von Alexandria) 539 Falke, Gustav 512 Falret, Jean-Pierre 34, 247 Fausböll, Michael Viggo 419 Fechner, Gustav Theodor 445 Féré, Charles 28, 29, 39, 47, 48, 177, 260 Ferrero, Guglielmo 406 Ferrier, David 59, 485 Feuerbach, Ludwig Andreas 496

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Fichte, Johann Gottlieb 250, 323, 496 Fielding, Henry 537 Flamel, Nicolas/Nicolaus/Nicholas 218 Flaubert, Gustave 165, 272, 273, 475, 476, 477, 479 Fontane, Heinrich Theodor 500 Fourier, Charles 311 Fournial, Henry 517 Fra Angelico (geb. als Guido da Piedro) 88, 93 France, Anatole (eigtl. François Anatole Thibault) 129 Franck, Adolphe 218 Franck, César Auguste Jean Guillaume Hubert 23 François VI., Duc de La Rochefoucauld, Prince de Marcillac (bei Nordau Anton von Larochefoucauld) 220 Franz I. 196 Freiligrath, Hermann Ferdinand 496 Frenkel, Heinrich Sebastian 547 Freund, Wilhelm Alexander 333 Freytag, Gustav 85, 420 Friedrich I., genannt Barbarossa (bei Nordau Rothbart) s. Barbarossa Friedrich III. 209 Friedrich Wilhelm I. 211 Fulda, Ludwig Anton Salomon 538 Galton, Francis 351 Garborg, Arne (eigtl. Aadne Eivindsson Garborg) 495 Garner, Richard Lynch 143 Gautier, Théophile 84, 102, 271, 272, 273, 277, 278, 279, 288, 289, 295, 300, 301, 302, 472 Gehlen, Adolph Ferdinand 117 Gérard, Paul 485 Geßner, Salomon (auch Gessner) 230 Ghil, René (eigtl. René François Ghilbert) 137, 139, 144, 145 Ghirlandaio, Domenico (eigtl. Domenico di Tommaso Curradi di Dotto Bigordi) 88 Giotto (eigtl. Giotto di Bondone) 88, 90, 93, 94 Giraud, Albert (eigtl. Emile Albert Kayenbergh) 523 Glatigny, Joseph-Alexandre-Albert 276 Gley, Marcel Eugène Emile 261 Gleiz̈ès, Jean-Antoine 206 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 34, 60, 109, 133, 142, 143, 145, 177, 180, 181, 194, 195,

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Personenregister

203, 207, 221, 228, 288, 311, 338, 341, 435, 445, 470, 496, 500, 524, 537, 544 Göhre, Paul 539 Goncourt, Edmond Louis Antoine Huot de 43, 147, 469, 470, 487, 489, 511 Goncourt, Edmond Louis Antoine Huot de und Jules Alfred Huot de 308, 472, 474, 475 Görres, Johann Joseph von 496 Goschen, George Joachim 45 Gottfried von Straßburg 193 Goudeau, Émile 108 Gourmont, Remy de 123, 463 Goya, Francisco José de (eigtl. Francisco José de Goya y Lucientes) 307 Gras, Jenny Amenaide 499 Greif, Martin (eigtl. Friedrich Hermann Frey) 500 Greenaway, Kate (eigtl. Catherine) 20 Griesinger, Wilhelm 169, 382, 387, 389, 446, 451 Grimm, Jacob Ludwig Karl 469 Grimm, Wilhelm Carl 469 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 302, 537 Guaita, Marquis Stanislas de (oft auch Guaïta) 109, 218, 238 Guiches, Gustave 464 Gutzkow, Karl Ferdinand 501 Guyau, Jean-Marie 272, 274 Haeckel, Ernst Heinrich Philipp August 98 Hagen, Edmund von 206 Halpérine-Kaminsky, Ely (eigtl. Illia HalpérineKaminsky) 163 Hanslick, Eduard 183, 197, 202, 206 Hansson, Ola 443, 444, 445, 446, 523 Haraucourt, Edmond 25, 108, 124 Hartleben, Otto Erich 522 Hartmann, Karl Robert Eduard von 32, 81, 282, 485 Hartmann, Robert 136 Harvey, William 85 Hauptmann, Gerhart Johann Robert 514, 515, 516, 517, 518, 519, 520, 521, 539 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 250, 323, 333, 394, 432, 496 Heiberg, Hermann 500 Heine, Christian Johann Heinrich 99, 105, 142, 228, 501, 512 Heinrich III. von Frankreich 489

Heinrich IV. von Navarra (auch Henri le Grand) 20 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 99, 215, 327 Henckell, Karl Friedrich 513, 514, 538 Henckel, Wilhelm Eduard 330 Herder, Johann Gottfried von 230 Hervieu, Paul Ernest 134 Herwegh, Georg Friedrich Rudolph Theodor Andreas 496 Herzen, Alexander 59 Hiller, Ferdinand 197 Hoffmann, Christoph Ludwig 145 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 138, 498 Hofmann, August Wilhelm von 48 Holbein d. J., Hans 208, 329 Holz, Arno 497, 512, 520 Hopfen, Hans Demetrius Ritter von (urspr. Mayer) 500 Horaz (eigtl. Quintus Horatius Flaccus) 166 Huber, François 398 Hueffer, Francis (geb. als Franz Hüffer) 80 Hugo, Victor (eigt. Victor-Marie) 83, 84, 102, 288, 338, 480, 482 Humboldt, Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander Freiherr von 473 Hunt, William Holman 79, 94, 100 Huret, Jules 111, 112, 122, 126, 127, 129, 134, 136, 137, 271, 276, 463 Huysmans, Joris-Karl 288, 289, 300, 302, 303, 306, 309, 310, 311, 434, 463, 489, 490, 511 Hyrtl, Josef 118 Ibsen, Henrik Johan 15, 18, 25, 105, 185, 243, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 346, 347, 349, 350, 351, 352, 353, 355, 356, 357, 360, 363, 365, 366, 367, 368, 369, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 385, 386, 387, 388, 389, 390, 392, 393, 394, 397, 398, 399, 400, 401, 404, 405, 406, 407, 408, 409, 433, 434, 435, 438, 441, 459, 482, 496, 508, 511, 515, 516, 533, 544 Ignatius von Loyola 74, 457 Isabella von Aragón 196 Jacobsen, Jens Peter 495 Jacoby, Paul 403

Personenregister

Jæger, Henrik 400 Jäger, Gustav 209, 282, 489 Janet, Jules 118 Janet, Pierre-Marie-Félix 118 Jeanneret, Marie 282 Joly, Henry 330 Joubert, Joseph 69 Jouvenot, Francis de 15 Jouy, Jules Théodore Louis 25, 496

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Kaatz, Hugo 412, 413, 427, 428, 443 Kahn, Gustave 123, 135, 137, 139, 140 Karl II. (gen. der Böse) 265 Karl VIII. 196 Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 207 Kant, Immanuel 266, 274, 321, 323, 336, 385 Keller, Gottfried 472 Kerangal (auch Querangal) (Familienname) 484 Kerner, Justinus Andreas Christian von 215 Kierkegaard, Søren Aabye 355, 356, 381 Kind, Johann Friedrich 195 Kirchmann, Julius Hermann von 321 Kirchner, Friedrich 456 Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm von 82, 215 Klopstock, Friedrich Gottlieb 230 Kneipp, Sebastian Anton 209, 210 Kniepf, Albert Friedrich Wilhelm 444 Konstantin der Große (eigtl. Flavius Valerius Constantinus) 189 Kopernikus, Nikolaus 431, 433, 434, 485 Körösi, Josef (eigtl. Jószef Kőrösy) 45, 47, 49 Kowalewski, Pavel Ivanovich (auch Kovalevskij) 169, 225, 248 Krafft-Ebing, Richard Freiherr von 29, 170, 282, 348, 352, 387, 404, 406, 440, 441, 447, 488, 489, 531 Kretzer, Max 499, 521 Kurz, Heinrich 302 Kußmaul, Adolf 387

Le Cardonnel, Louis 121 Leconte de Lisle, Charles Marie René 276 Legrain, Paul-Maurice 30, 32, 33, 35, 37, 41, 51, 57, 58, 68, 69, 129, 146, 170, 218, 225, 248, 249 Legrand de Saulle, Henri 209, 225, 296 Lemaître, Jules 124 Lemercier, Louis-Jean-Népomucène 524 Lemerre, Alphonse 271 Lenau, Nikolaus (eigtl. Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau) 496 Leonardo da Vinci (eigtl. Leonardo di ser Piero, auch Lionardo) 89, 196, 203, 311 Leopardi, Giacomo 493, 496 Le Roux, Hugues 148 Lessing, Gotthold Ephraim 135, 323, 336, 537 Levinstein-Schleger, Willibald 382 Liliencron, Detlev von (eigtl. Friedrich Adolf Axel Freiherr von Liliencron) 497, 500, 501 Lindau, Paul 521 Lingg, Hermann Ritter von 500 Liseux, Isidore 330 Liszt, Franz (eigtl. Ferencz o. Ferenc) 206 Lloyd, Edward 305 Locke, John 85 Loewenthal, Wilhelm 333 Lombroso, Cesare 6, 7, 28, 29, 33, 34, 35, 41, 75, 101, 127, 136, 147, 168, 169, 184, 197, 205, 206, 229, 249, 259, 265, 330, 392, 432, 487, 488, 522, 534, 546, 547, 550 Lubbock, Sir John (1. Baron of Avebury) 398 Lubin, Pierre François 24 Lucas, Prosper 350 Ludwig II. 130, 206, 207, 210, 316 Ludwig XII. 196 Ludwig XIV. 339, 471 Ludwigs, Hans G. (Pseudonym Paul Nodnagel) 523, 524 Löwenfeld, Raphael 160, 167, 168, 169, 274 Lützow, Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von 499

Laborde, Jean Baptiste Vincent 262 Laforgue, Jules 138 Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de 266 Lasalle, Ferdinand (eigtl. Ferdinand Johann Gottlieb Lassal) 311 Laschi, Rodolfo 392, 432, 522, 534 Lasègue, Ernest-Charles 34 Lateau, Louise 266 Lavater, Johann Caspar 157

Macaulay, Thomas Babington (1. Baron Macauly of Rothley) 541 MacDonald, Arthur 488 MacNab (auch Mac-Nab), Maurice 25 Maeterlinck, Maurice Polydore Marie Bernard Graf von 25, 226, 227, 228, 230, 231, 234, 236, 237, 238 Magnan, Jacques Joseph Valentin 29, 32, 34, 37, 38, 47, 58, 102, 170, 171, 209, 225, 248, 550

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Personenregister

Mairet, Jean Albert 262 Mallarmé, Stéphane 111, 123, 125, 134, 135, 136, 138, 157, 263, 308 Manet, Édouard 23, 40 Mainländer, Philipp (eigtl. Batz) 485 Mantegna, Andrea 19 Marandon de Montyel, Évariste 129 Marat, Jean Paul 536 Marcellus (eigtl. Marcus Claudius Marcellus) 118 Margueritte, Paul 464 Margarethe von Valois 489 Maria von Cleve 489 Marie, Auguste-Armand 262, 387 Martin, Henri 23 Marx, Karl 311, 496 Mascagni, Pietro 18 Maudsley, Henry 29, 260, 550 Mauthner, Fritz 540 Maupassant, Guy de 463 Mead, George Robert Stow 400 Medici, Katharina von (eigtl. Caterina Maria Romula de’ Medici) 19 Memling, Hans (auch Jan van Mimmelynghe, Johannes Memmelinc o. Memlinc) 19 Mendel, Emanuel 438 Mendès, Catulle 271, 272, 273, 275, 276, 279, 298 Mendoza, Antonio Hurtado de 537 Merian, Hans 521 Merrill, Stuart Fitzrandolph 142 Metternich-Winneburg zu Beilstein, Pauline Clementine Marie Walburga Fürstin von 205 Meynerth, Theodor Hermann 389, 390 Micard, Henry Jean Charles 15 Michaut, Paul 36 Michelangelo (eigtl. Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni) 177 Mill, John Stuart 85, 109, 354, 426, 443 Millais, John Everett 79, 94 Milton, John 85, 87 Mirbeau, Octave Henri Marie 237, 238 Möbius, Paul Julius 262 Mohammed (auch Mahomed) 13, 74, 273 Moltke, Helmuth Johannes Ludwig von 524 Montaigne, Michel Eyquem de 311, 350 Morat, Jean Pierre 64 Moréas, Jean 108, 109, 136, 137, 138, 140, 142 Moreau (de Tours), Paul 170, 264, 309

Morel, Bénédict Augustin 7, 27, 28, 30, 31, 45, 46, 86, 170, 225, 248, 296, 533 Morhardt, Mathias 108, 121 Morice, Charles 69, 109, 110, 111, 113, 121, 123, 125, 134, 135, 138, 140, 141, 144 Morris, William 21, 80, 102, 106, 496, 539 Moscherosch, Johann Michael (Pseudonym für Philander von Sittewald) 302 Mosso, Angelo 58 Motte Fouqué, Friedrich Heinrich Karl Baron de la 195 Mozart, Wolfgang Amadeus 25, 180, 181, 329 Mulhall, Michael George 49 Musset, Alfred de 84 Müller, Adam Heinrich 83 Müller, Friedrich Max 419 Murger, Henri 271 Nachtigal, Gustav 473 Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 52, 82, 83, 206, 265, 417, 498, 524 Napoleon III. 483 Nerciat, André-Robert Andréa de 330 Nero (eigtl. Lucius Domitius Ahenobarbus) 276, 311 Nerval, Gérard de (Pseudonym für Gérard Labrunie) 72 Nestroy, Johan Nepomuk 195 Neville, Richard (16. Earl of Warwick) 513 Newman, John Henry 86 Newton, Sir Isaac 85 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 25, 186, 195, 197, 206, 211, 243, 277, 278, 282, 283, 380, 409, 410, 411, 412, 413, 415, 416, 418, 420, 421, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 428, 429, 430, 431, 432, 433, 434, 435, 436, 437, 438, 439, 440, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 449, 450, 451, 452, 453, 454, 455, 456, 457, 458, 459, 478, 508, 511, 514, 519, 522, 524, 533, 548 Nisbet, John Ferguson 34 Novalis (eigtl. Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) 496 O’Connor, William Douglas 229 Ohnet, Georges (eigtl. Georges Hénot) 18 Opitz, Martin 513 Otway, Thomas 479 Papus (eigtl. Gérard Analect Vincent Encausse) 218, 238

Personenregister

Papirius Carbo, Gnaeus 420 Paul, Jean (eigtl. Johann Paul Friedrich Richter) 157, 311 Paulhan, Frédéric 114, 119, 217, 280, 281, 298 Péladan, Joséphin (auch Sar Mérodack J.) 124, 219, 220, 221, 222, 223, 238, 299, 317 Perty, Josef Anton Maximilian 215 Petronius Niger Arbiter 302, 537 Pfeffer, Wilhelm Friedrich Philipp 285 Philomneste (Pseudonym für Pierre Gustave Brunet) 140 Pinel, Phillippe 125 Pitrè, Giuseppe 330 Platen-Hallermünde, Karl August Georg Maximilian Graf von 274 Platon 173, 265, 380, 439 Plessys, Maurice du (eigtl. Sylvain François Maurice Flandre-Noblesse) 140 Poe, Edgar Allan 141, 290 Poictevin, Francis 144 Pollaiuolo, Antonio 88 Poulot, Denis 479 Porges, Heinrich 206 Praeger, Ferdinand Christian Wilhelm 174 Pranzini, Henri-Jaques (eigtl., Enrico) 15 Prel, Carl du (auch Karl Freiherr du Prel o. Carl du Prel) 215 Prudentius (eigtl. Aurelius Prudentius Clemens) 302 Prutz, Robert Eduard 496 Pusey, Edward Bouverie 86, 356 Pythagoras (von Samos) 219 Quevedo y Santibáñez Villegas, Francisco Gómez de 537 Quincey, Thomas de 290 Quillard, Pierre 124 Racine, Jean Baptiste 272 Raffael 19, 90, 91, 135, 330 Raffaëlli, Jean-François 23, 330 Raphael: s. Raffael Ravachol (eigtl. François Claudius Koënigstein) 229, 545 Raymond, Fulgence 391 Raynaud, Ernest Gabriel Nicolas 140 Rays, Gilles de (Gilles, Comte de MontmorencyLaval, Baron de Rais) 265, 309 Redwitz, Oskar Freiherr von 496 Rée, Paul 436, 437

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Régis, Emmanuel Jean-Baptiste Joseph 41, 294 Régnier, Henri François Joseph de 121, 124, 140 Remacle, Adrien 137 Rembrandt 20, 22, 75, 113, 114, 140, 141, 443, 445 Renan, Joseph Ernest 109, 536 Reni, Guido 540 Retté, Adolphe 142 Reyes, Lisandro 247 Ribot, Théodule Armand 63, 65, 66, 73, 256, 259 Richardson, Samuel 537 Richepin, Jean 22, 110, 298 Richer, Paul Marie Louis Pierre 36 Richet, Charles Robert 49 Rimbaud, Arthur 140, 144, 145 Robespierre, Maximilien Marie Isidore de 536 Robinson, Louis 546 Rochas, Eugène Auguste Albert de d’Aiglun 216 Rochefoucauld, s. François VI. (bei Nordau Anton von Larochefoucauld) 220 Rod, Édouard 95, 99, 112, 114, 119, 121, 167 Rol(l)and, Amédée-Barnabé 271 Roll, Alfred Philippe 23 Rollinat, Maurice 108, 223, 224, 226, 238, 298 Romano, Giulio (auch Giulio Pippi; eigtl. Giulio di Pietro Gianuzzi) 330 Rosny, J. H., siehe Boex 463, 464 Rossetti, Dante Gabriel 79, 80, 86, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 106, 125, 157, 189, 247, 319, 433, 512 Roubinovitch, Jacques 30, 31, 34, 57, 249 Rousseau, Jean-Jacques 166, 167, 181, 302, 406, 537 Roux, Wilhelm 402 Rubinstein, Anton Grigorjewitsch 197 Rückert, Friedrich 274 (Pseudonyme Freimund Raimar, Reimar oder Reimer) Ruskin, John 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 141, 327 Ruysbroek, Jan van 356 Sacher-Masoch, Leopold Ritter von 406 Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 24, 281, 299, 330 Saint-Paul, Albert 140 Saint-Pol-Roux (eigtl. Paul-Pierre Roux) 123 Saint-Simon, Henri (eigtl. Claude-Henri de Rouvroy, Comte de Saint-Simon) 311

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Personenregister

Sainte-Beuve, Charles Augustin 279, 288 Sallet, Friedrich Karl Ernst Wilhelm von 496 Samarow, Gregor (Pseudonym für Johann Ferdinand Martin Oskar von Meding) 471 Sanders, Daniel Hendel 199 Sándor de Szlavnicza, Moric (Moritz) Graf 205 Sarrazin, Gabriel 229 Sazaret, Charles Joseph Jules (auch Sizaret) 296 Schalcken, Godfried 22 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von 250 Schellwien, Robert 413, 428, 433, 443 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 110, 180, 181, 321, 336, 499, 524, 537 Schlaf, Johannes 497, 512, 520 Schlegel, August Wilhelm von 82, 83 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich von 82, 83 Schopenhauer, Arthur 32, 35, 109, 125, 177, 192, 202, 267, 311, 433, 443, 485, 486, 496 Schubert, Franz Peter 441 Schumann, Robert 197, 441 Schupp, Johann Balthasar (auch Schuppe oder Schuppius; Pseudonym Antenor oder Ambrosius Mellilambius) 302 Schweinfurth, Georg 473 Seeger, Ludwig Wilhelm Friedrich 496 Séguin, Édouard 489 Séon, Alexandre 219 Sforza, Ludovico Maria (gen. il Moro) 196 Shakespeare, William 25, 169, 203, 233, 234, 236, 238, 341, 353, 354 Shelley, Percy Bysshe 109 Sighele, Scipio 517 Sizaret, Charles Joseph Jules s. Sazaret Slosse, Auguste 262 Soubirous, Bernadette 43 Sollier, Paul 76, 101, 102, 138, 169, 196, 250, 259, 269, 282, 486 Spencer, Herbert 109, 115, 141, 201, 257, 356, 404, 410, 426 Spielhagen, Friedrich 521 Spinelli s. Crocé-Spinelli, Joseph Spinoza, Baruch de 31, 157 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine, Baronne de (Madame de Stael) 83 Starr, Moses Allen 66 Steenstrup, Johann Japetus Smith 418 Stefanowsky, Dimitri von (eigtl. Dmitrij Nikolaevič Stefanovskij) 406

Stendhal (eigtl. Marie-Henri Beyle) 311 Stephan, Heinrich von 49 Stephens, Frederic George 79 Stirner, Max (Pseudonym für Johann Casper Schmidt) 413, 428, 432, 496, 508 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 83 Strindberg, Johan August 406, 495 Stuart, Maria 19 Stoecker, Adolf 209 Suarez de Mendoza, François Ferdinand Dominique 144, 145 Sudermann, Hermann 523 Sully, James 62, 332, 485 Swedenborg (eigtl. Swedberg), Emanuel von 356 Swinburne, Algernon Charles 80, 102, 103, 104, 105, 106, 228, 236, 298, 317, 319 Tailhade, Laurent 109, 125 Taine, Hippolyte Adolphe 85, 109, 268, 354, 475, 479, 536 Tanzi, Eugenio 387, 390 Tabaraud, M. 35 Tarde, Gabriel de 265 Teniers d. J., David 471 Tennyson, Alfred 1. Baron 106 Terenz (eigtl. Publius Terentius Afer) 209 Teresa von Ávila (geb. als Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada) 74, 356 Thackeray, William Makepeace 471, 537 Thomas von Aquin(o) 98, 220 Thompson, William 99 Tieck, Johann Ludwig 195 Titus (eigtl. Titus Flavius Vespasianus) 19 Tokarski, S. A. (auch A. A. Tokarski o. Tokarsky) 323 Tolstoi, Leo (eigtl. Lew Nikolajewitsch) 9, 149, 150, 151, 152, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 189, 190, 200, 247, 274, 441, 488, 489, 544 Tonnini, Silvio 550 Torquemada, Tomás de 86 Tourette, Gilles de la (eigtl. Georges Albert Édouard Brutus Gilles de la Tourette) 36, 37, 39, 486 Tovote, Heinz 501, 502, 503, 504, 505, 506, 507, 508, 512, 537 Trajan (eigtl. Marcus Ulpius Traianus) 19 Troppmann, Jean-Baptiste 225, 265

Personenregister

Türck, Hermann 438, 439, 442, 444, 446, 456 Turenne, Henri de La Tour d’Auvergne, Vicomte de 434 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 14, 149, 169, 170, 215 Uhland, Ludwig 96 Valdés Leal, Juan de Nisa 328 Verga, Andreas 487 Verlaine, Paul Marie 25, 123, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 138, 139, 142, 190, 230, 247, 298, 308 Verworn, Max Richard Konstantin 251, 285 Vespasian (Titus Flavius Vespasianus) 501 Vicaire, Gabriel (eigtl. Louis-GabrielCharles) 125 Vielé-Griffin, Francis 140 Vignier, Charles 137, 139, 140 Villiers de L’Isle Adam, Jean Marie Mathias Philippe Auguste, Comte de 298, 299, 300, 511 Villon, François 93 Vischer, Friedrich Theodor 323 Vogüé, Marie-Eugène-Melchior, Vicomte de 69, 113, 119, 121, 149, 150, 151, 158, 225, 389 Voltaire (eigtl. François Marie Arouet) 82, 85, 119, 216, 338 Wagner, Wilhelm Richard 9, 18, 23, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 209, 210, 211, 212, 213, 220, 221, 222, 230, 247, 338, 355, 360, 394, 405, 435, 441, 456, 536

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Wainewright, Thomas Griffith 320, 434 Walther von der Vogelweide 82 Weber, Ernst von 210 Weber, Karl Julius 346, 445 Weill, Adolf 262 Weismann, Friedrich Leopold August 351 Werner, Friedrich Ludwig Zacharias 83, 496 Westermarck, Edvard Alexander 375 Westphal, Carl Friedrich Otto 30, 170, 237, 247 Wettstein-Adelt, Minna 539 Whitman, Walt 228, 229, 230, 496 Wilde, Oskar (auch Oscar, eigtl. Oscar Fingal O’Flahertie Wills Wilde) 317, 318, 319, 320, 321, 322, 433, 434, 485 Wildenbruch, Ernst von 538 Wilhelm I. 524 Wolfram von Eschenbach 193 Wolzogen, Ernst Freiherr von 513 Wolzogen, Hans Paul Freiherr von 199, 206 Woolner, Thomas 79 Wundt, Wilhelm 60, 61, 62, 63, 445 Wiseman, Nicholas Patrick Stephen 86 Wyzewa, Téodor de 445, 522 Xanrof, Léon (eigtl. Leon Alfred Fourneau) 25 Zerbst, Max 413, 442, 444 Zimmermann, Oswald 282 Zincgref, Julius Wilhelm (auch Zinkref oder Zengravius) 302 Zola, Émile François 24, 105, 124, 147, 243, 303, 406, 463, 464, 469, 471, 472, 475, 477, 478, 479, 480, 482, 483, 484, 485, 486, 487, 488, 490, 491, 492, 493, 495, 506, 508, 520, 539, 545 Zöllner, Johann Karl Friedrich 70, 215 Zurbarán, Francisco de 330

Sachregister Aufgenommen wurden sowohl Lemmata, die im Kommentar aufgeführt sind, als auch nicht kommentierte Begriffe, die die Leitgedanken von Entartung kennzeichnen. Das Sachregister folgt der heutigen Schreibweise.

Abscheu 31, 127, 134, 171, 221, 264, 285, 287, 327, 331, 350, 368, 549 – abscheulich/(das) Abscheuliche 163, 209, 212, 280, 282, 284, 287, 292, 484, 502, 542 – verabscheuen 232, 290, 292, 295 Absurdität 33, 223, 348, 376 f., 380–382, 388, 390 – absurd/(das) Absurde 162, 170, 188, 230, 335 Abulie 31, 353 Abweichung 27, 28, 159, 258, 264, 266, 270, 278, 350, 480, 544 – abweichen/abweichend 20, 91, 318, 386, 486 Achromatopsie 38 Agoraphobie 247 f. Aichmophobie 248, 296 Albernheit 100, 165 f., 287, 322, 383, 502, 516 – albern/(der) Alberne 30, 108, 117, 134 f., 144, 188, 214, 269, 275, 283, 304, 307, 310, 363, 379, 416, 424, 426, 450, 491, 523 Alter 14, 43, 46, 52, 108, 156, 202, 233, 257, 309, 375, 386, 523, 525 – altern/alternd 13 f., 52, 114, 126, 300, 308 – Altertum 140 – altertümlich/Altertümer 21, 219, 454, 545 – Geschichtsalter 308 – Geschlechtsalter s. Geschlecht – Lebensalter/Kindesalter/Jünglingsalter/ Greisenalter 46, 137 f., 145, 191, 315, 350 – Menschenalter 16, 47, 83, 207, 250, 278, 476, 496, 499 Altruismus 257, 259, 328, 363, 427 – altruistisch 427 Amblyopie 39 Amerika 48, 214, 344, 361, 391, 496, 539 – amerikanisch/Amerikaner 16, 49, 51, 228– 230, 291, 344 f. – englisch-amerikanisch/Anglo-Amerikaner 213, 229 – Nordamerika/Nordamerikaner 49, 349, 541

– südamerikanisch 210 Analogie 226 – analogisches Denken 222, 451 Anarchie 182, 303, 402, 423, 524 – Anarchismus 174, 353, 390, 394, 399 – anarchistisch/Anarchist 7, 33, 182, 269, 270, 303, 310, 313, 317, 355, 378, 380, 391– 394, 398, 401, 432, 458 Androgyne 221, 238 – androgyn/androgynisch 221, 223 Angst 31, 43, 67, 94, 112, 126, 211, 224 f., 232, 296, 396, 511, 516 – Angstanfall 530 – angsterregend 482 – Angstgefühl 225, 248, 295, 301 – ängstlich/(der) Ängstliche/Ängstlichkeit 18, 71, 124, 188, 209, 307, 314, 352, 396, 414, 464, 530 – Angstschweiß 388 – Angstvorstellung 294 – Angstwahnsinn 225, 298, 455 – Todesangst 165, 444 Anpassung 63, 65 f., 76, 253, 266 f., 324, 333, 535 – anpassen 65, 218, 260, 266 f., 313, 531, 533, 541 – Anpassungsfähigkeit 154, 266, 402 – anpassungsunfähig/(der) Anpassungsunfähige/Anpassungsunfähigkeit 154, 266 f., 269 f., 310, 312, 392 f., 458, 532 – Anpassungsvermögen 154 Anomalie 72, 259, 438 Anthropologie 475 – anthropologisch 7, 418 – Kriminalanthropologie 326 Anthropomorphismus 13, 163, 473, 482, 485, 487 – anthropomorphisch 540 Antiphonie 213 Antisemitismus 174, 209 – antisemitisch/Antisemit 209 Anxiomanie 225 f., 238, 298, 455

Sachregister

Apokalypse 19 – apokalyptisch/Apokalyptiker 84 f., 113, 190 Apostel 40–43, 238, 401, 443, 445, 519 Archaist 23 Archont 219, 220 Arithmomanie 248 Armenbibel 93 Art 7, 13, 21, 23, 25, 28, 35, 39, 43, 47, 62, 71, 74–76, 84, 88, 90, 97, 103–105, 114, 125, 130 f., 135, 137, 140 f., 148 f., 165, 167, 173 f., 179, 189, 192–194, 198, 200, 206, 209, 211, 214, 217, 220, 222, 227–229, 232 f., 238, 247, 250–252, 254 f., 260, 267, 269, 271, 274 f., 278, 281, 283, 285, 296, 303, 310, 316–318, 322, 324, 327 f., 330 f., 333, 335, 338, 343, 346–348, 351, 359 f., 372, 380, 382, 386, 392 f., 399, 409 f., 413 f., 423, 431, 436 f., 439–442, 447, 449 f., 454–457, 463, 466, 473, 475, 480, 482 f., 487, 489, 493, 495, 501, 506–508, 510, 514 f., 518, 522, 525, 530– 533, 537, 544, 548 – Abart 28, 33 – Artbildung 28 – arterhaltend 425 – Artgenosse 319, 325, 418, 426 – ausarten/Ausartung 208, 450, 507 – bösartig 129, 293, 350, 374, 400, 495 – Dichtungsart 126 – eigenartig/Eigenart/Eigenartigkeit 20, 22, 40, 42, 141, 178, 198, 208, 213, 264, 298, 300, 303, 307, 334, 336, 393, 432, 436, 456, 467 f., 475, 477, 495, 497, 508, 514, 519, 530 – fremdartig/Fremdartigkeit 22, 295, 338 – geartet 284 – Kunstart 25 – Lebensart 505 – nacharten 349 f. – Sonderart 147 – Überart 455 Arzt 27, 51, 118, 216, 218, 233, 282, 309, 340, 343, 349 f., 352 f., 377, 388, 530, 542, 550 – ärztlich 37, 349, 484 – Augenarzt s. Auge – Badearzt/Badearztanstellung 346, 398 – Irrenarzt s. Irre – Nervenarzt s. Nerv – wundärztlich 117, 228, 351, 531 – Zahnarzt 52

833

Asepsie 117, 351 Assassine 418 – Assassinen-Moral s. Moral Ästhet/Ästhetiker 87, 139, 219, 263, 278, 317– 320, 322, 327, 331, 334–337, 409, 434, 464 – Ästheten-Tracht 319 Ästhetik 86, 88, 140 f., 322, 441, 491 f., 514 – ästhetisch/(das) Ästhetische/ästhetisierend 7, 8, 17 f., 25, 27, 32 f., 40–42, 44, 49, 51, 53 f., 79, 83 f., 90, 108, 110, 121, 142, 144, 149, 152, 168, 172, 177, 196, 198, 208 f., 221, 229, 280, 283, 310, 317–319, 321 f., 327, 329 f., 333–335, 342, 356, 363, 435, 441, 463–465, 468, 471 f., 474, 479, 485– 487, 490, 495, 512, 514 f., 517, 529, 533, 536, 542 f., 543, 545 – Ästhetismus 107 – Bierhaus-Ästhetiker 464 – literarisch-ästhetisch 7 – künstlerisch-ästhetisch 209 – moralästhetisch 514 – Völkerdämmerungsästhetik 18 Atavismus 202, 205, 332, 390, 474, 491, 531, 536, 540, 546 f. – atavistisch 136, 332, 406, 482, 535 f., 546 Ataxie 547 Auge 7, 23, 25, 32, 37, 43, 57, 61, 63, 66, 70, 78, 81, 89, 90–92, 95, 111 f., 118, 127– 130, 132, 139 f., 145, 150, 160, 163, 177, 183, 195 f., 208, 214, 217, 225, 232, 235, 238, 253, 262, 267, 273, 282, 285, 289– 293, 295, 298, 305, 307, 309, 311, 314 f., 320, 323–325, 333, 353, 355, 360, 362, 365, 367, 373, 377–380, 387, 409, 424, 426, 432, 436, 442, 444, 450, 452, 455, 467 f., 470 f., 473 f., 476, 479, 481, 491, 497, 499, 504, 508, 515, 517, 520 f., 524, 535, 539, 541, 549 f. – Augenarzt 52, 144, 282 – Augenblicksphotographie 115 – Augenbraue 126, 224 – Augenkrankheit 282, 357 – Augenlicht 118, 350 – Augenmuskel 65 – Beobachterauge 99 – Butzenscheiben-Auge 381 – Cyklopen-Auge 480 – Fischauge 389 – Glotzauge 520

834

Sachregister

– Kerbtier-Auge 381 – Malerauge 204 – Menschenauge 426, 504 – Ochsenauge 305 – Schielauge 28 – Tierauge 479 – Vogelauge 504

– christlich/(das) Christliche 14, 157 f., 167, 185, 187, 190, 356, 362, 365, 392, 419, 450 – Christologie 188 f. – Christus-Gedanke 360 – urchristlich 360 Cönästhesie 254, 256, 261

Belenophobie 248 Bewusstsein 14, 31 f., 36, 57, 59–69, 71–75, 77–79, 81, 89, 92, 94–96, 98, 100, 108, 110, 118 f., 125 f., 128, 130–133, 141, 143, 145 f., 150 f., 153, 170, 182, 184, 186 f., 200, 207, 221 f., 225 f., 250–258, 261– 263, 270, 284–286, 291, 297, 300, 303, 311–314, 318 f., 324, 332, 334 f., 355, 360, 371, 382, 389 f., 402–405, 409 f., 422, 431, 433, 437, 439–441, 447, 450 f., 455, 466, 470, 473, 475, 486–488, 490, 493, 545, 549–551 – Bewusstseinsschwelle 60, 67, 255, 258, 270 – Bewusstseinszustand 472 – Einzelbewusstsein 256 – Gattungsbewusstsein s. Gattung – Gesamtbewusstsein 252 – Hirnbewusstsein 257 – Ich-Bewusstsein s. Ich – Mannesbewusstsein 120 – Selbstbewusstsein 32, 53, 168 – Sonderbewusstsein 253 – Teilbewusstsein 252 – Weltbewusstsein 153 f. Biblia pauperum s. Armenbibel Blödsinn 45, 74, 196, 237, 374, 377, 379, 382 f., 388, 422, 446 f., 519, 548 – blödsinnig 25, 34, 114, 124, 144, 174, 208, 214, 226 f., 236, 238, 269, 275, 287, 305, 366, 383 Brightsche Krankheit 270 Byzanz – byzantinisch 90, 289, 301 f. – Byzantinismus 538, 548

Dekadenz 300–303 – dekadent/(der) Dekadente 27, 35, 265, 278, 283, 300–303, 307–311, 314, 316, 319, 322, 336 f., 409, 434, 436, 441, 459, 463, 489, 508 – Dekadententum 310, 317 – Dekadentismus 53, 265 – décadents/Décadents/décadence 109, 300 – Musterdekadenten 300, 307 f. Degeneration 27, 29, 33, 42 f., 45, 47, 51, 86, 173 f., 223 – Degenerationsmerkmal 127 – degenerativ 136 – degeneriert/(der) Degenerierte 27, 29–38, 42, 47, 51, 54, 57 f., 66–68, 70–72, 74 f., 109, 119, 126, 178, 247, 249, 443, 543, 547 Delirium 33, 41 f., 54, 57, 73, 87, 144, 165, 198, 209 f., 225, 262, 296, 302, 390 f., 439, 517, 536, 542 – Entartungsdelirium s. Entartung – delirieren/delirierend/(der) Delirierende 31, 33, 41, 53, 86, 88, 102, 105, 132, 142, 148, 164, 178, 197, 199, 221, 248, 421, 424, 542 – Verneinungsdelirium 391 Dementia paralytica s. Paralytiker depressiv 39, 382 Diabolismus/Diaboliker 42, 102, 265, 294, 298–300, 303, 309 f., 317, 322, 409, 434, 441, 463, 482, 489, 508, s.a. Teufel Dipsomanie 248 Dogma 17, 42, 116, 123, 173, 322, 367 – dogmatisch 98, 251, 268, 365, 410

Chiromantie 218 Christus 23, 75, 88, 94, 122, 129, 156–158, 173, 188 f., 220, 360, 362, 448, 481, 487, 519 – Antichrist 450 – Christ/Christenheit 13, 302 – Christentum 85, 156 f., 189, 355, 419, 420

Echolalie 75, 92, 101, 106, 139, 228, 275, 443 Egoismus 249 f., 426 – egoistisch/Egoist 14, 30, 250, 426 – unegoistisch 413 Eigennutz 44, 372, 377, 407 – uneigennützig/Uneigennützigkeit 345, 357

Sachregister

Einbildungskraft/Einbildungstätigkeit 20, 24, 32, 35 f., 77, 116, 135, 149, 151, 186, 190 f., 205, 211, 222, 283, 288, 302, 315 f., 335, 338, 350, 353, 356, 405, 465, 468, 478, 501, 535, 540, 544 – Einbildungsmedium 321 Eisenbahn 49–51, 71, 207, 343, 345, 353, 424 – Eisenbahn-Gehirn 51 – Eisenbahn-Rückenmark 51, 208 Ekstase 57, 73 f., 76, 519 Elektrizität 48, 54, 114, 218, 267, 478, 511 – elektrisch 25, 54, 117, 163, 218, 291, 478, 544 Emotivität 30 f., 36 f., 84 f., 109, 119, 150, 167, 170, 173 f., 174, 190, 196, 222, 234, 247 f., 484, 544 – emotiv/(der) Emotive 86, 94, 102, 133, 148, 151, 163, 175, 192, 230, 261, 338, 465 Entartung 7 f., 24, 27–29, 33, 38, 40, 45–47, 53, 57, 74, 82, 84, 98, 126–128, 149, 168– 170, 172, 178, 184, 196, 205, 208, 213 f., 223, 225, 229 f., 248 f., 258, 260, 263, 289, 304, 355, 393, 406, 417, 470, 529 f., 532 f., 543, 546 f. – entarten/entartend 178, 314, 428 – entartet/(der/das) Entartete 7, 20, 28–35, 38, 41, 43–44, 47, 51, 57 f., 72, 78, 86, 88, 94, 96, 99, 102, 105 f., 109 f., 118 f., 121, 125–127, 129, 133, 141, 148, 150, 154, 164 f., 169–172, 174 f., 181, 183–185, 190, 192–194, 196, 198, 200, 202, 204, 211 f., 215, 218, 222 f., 225, 229, 234, 247–250, 258–261, 263, 266 f., 269–271, 274 f., 279, 287–291, 293 f., 297 f., 301–304, 310–312, 316, 326, 330 f., 336 f., 355, 360, 365, 368, 375, 381, 385, 390, 392 f., 403–407, 416, 418, 422, 427, 433 f., 441, 465, 470, 474, 479, 482 f., 486–489, 491–493, 495, 532 f., 536, 541–548, 550 – Entartungsanzeichen 248 – Entartungsbestrebung 174 – Entartungsdelirium 54 – Entartungsdenken 200 – Entartungsemotivität 84 – Entartungserscheinung 28, 169, 184, 352 – Entartungsform 463 – Entartungsgeistesstörung 225 – Entartungskrankheit 169 – Entartungsmerkmal 315, 487 – Entartungsmerkzeichen 33

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– Entartungsmystizismus 238 – Entartungspsychose s. Psychose – Entartungsrichtung 173, 543, 550 – Entartungsrückschlag 407 – Entartungsschule 322 – Entartungsstigma s. Stigma – Entartungszeichen 296 – Entartungszug 106 – Entartungszustand 119 – Geistesentartung s. Geist – Gesamtentartung 417 – Zeitentartung 213 Entwicklung 13, 23, 28 f., 34 f., 46, 54, 63, 77, 85, 90, 92, 95, 107, 114, 140, 146 f., 153 f., 166, 176, 178, 198, 201, 207–209, 221, 256, 275, 284, 286 f., 300, 303, 312 f., 322, 333, 338, 402, 413, 417, 422, 425, 431 f., 456 f., 459, 470, 498 f., 497, 514, 525, 530, 532, 535–537, 540, 543, 546 f. – entwickeln/entwickelt/(der) Entwickelte 14, 17, 23, 25, 34, 40, 42, 46, 50, 84, 124, 126, 133, 135, 138, 143, 148, 164, 175, 179, 182, 185, 203, 248–250, 257 f., 277, 286 f., 301, 310, 320, 322 f., 331, 337, 357, 412 f., 420 f., 426, 431, 433, 467, 508, 517, 530, 535, 539 f., 546 – Entwicklungsalter 386 – Entwicklungsbahn 399, 463 – entwicklungsfähig/Entwicklungsfähigkeit 28, 334 – entwicklungsgeschichtlich 409 – Entwicklungsgrad 30, 201 – Entwicklungshemmung 269, 287, 533 – Entwicklungsideal 405 – Entwicklungslehre 114, 267 – Entwicklungslinie 288 – entwicklungslos 515 – Entwicklungsreihe 252 – Entwicklungsstörung 70 – Entwicklungsstufe 42, 202, 257, 259, 427 – Entwicklungstrieb 334 – Entwicklungsziel 334 – Gattungsentwicklung s. Gattung – hochentwickelt 208, 402 – Kraftentwicklung 329 – unentwickelt 368, 441, 474, 482 – vollentwickelt 328 – weiterentwickeln/Weiterentwickler 205, 548 Ephektiker 450 Erblichkeit 349–351, 357

836

Sachregister

– erblich 30, 33, 51, 121, 285 f., 350, 382 Erbsünde 356 f., 365, 390, 399 Erethismus 324 Erotik 127 f., 184, 190, 211, 507, 531 – Erotiker 182, 249 – erotisch 71, 170 f., 182, 184, 190, 192, 247, 311, 348, 353 – Erotismus 170, 493, 544 – mystisch-erotisch 193 Erotomanie 229, 248, 309, 439, 441 – erotomanisch/(der) Erotomane 171 f., 174, 206, 224, 289, 347 Ermüdung 47 f., 50, 61, 113, 257, 287 f., 323 f., 382, 416, 486, 529 f., 532, 541 – ermüden/ermüdet 47, 50 f., 65 f., 397, 533 – Ermüdungszustand 51 f. Erregung 14, 24 f. 47, 51, 63–65, 71 f., 81, 129, 133, 145, 162, 171, 177, 180, 183, 189, 197, 199, 201 f., 204, 210, 212, 224, 252–259, 273, 276, 289, 324, 362, 403, 404 f., 448, 450, 474 f., 488, 535, 542 – erregbar/Erregbarkeit/Erregtheit 30, 36, 72, 160, 170, 247 f., 259, 352 – erregen/erregt/Erreger 17 f., 22, 30, 48, 58, 60 f., 64 f., 71, 72, 74, 77, 88 f., 92, 96– 98, 127, 134 f., 143, 145, 160, 173, 177, 183, 188, 190, 206 f., 225, 254 f., 259, 264, 280, 289, 295, 312, 319 f., 324 f., 327, 331 f., 334, 338, 340, 342, 346, 348, 360 f., 371, 398, 441, 444, 474, 488, 507, 517 f., 529, 532, 540, 542 – Erregungskreis 64 – Erregungszustand 71, 129, 262, 449 – Sinneserregung 60, 62, 177, 256, 474 f. Erschöpfung 13, 24, 30, 50 f., 53, 61, 66, 84, 171, 287, 353, 486, 493, 529, 532, 541 – erschöpfen/erschöpfend 66, 72, 123, 166, 169, 248, 290, 314, 322, 353, 388, 486 – erschöpft/(der) Erschöpfte 14, 50, 58, 66 f., 70, 72, 78, 125, 217, 304, 382, 529, 532, 547, 550 – Erschöpftheit 40 – Erschöpfungsanzeichen 51 – Erschöpfungsform 393 – Erschöpfungshysterie 172 – Erschöpfungszustand 52, 541 – Nervenerschöpfung 24, 353, 486, 532 Experimentalroman 477 f., 480, 487 fin de race 14 fin de siècle 13–16, 18, 27 f., 31, 37, 45, 53

fixe Idee/fixer Gedanke 21, 73, 76, 168, 247 f., 301 Fortschritt 15, 28, 35, 50, 63, 66, 70, 127, 146, 154, 178, 181, 202 f., 268, 274, 313, 375, 399 f., 407, 430, 478, 496, 516, 522, 532, 534, 537 f., 545–547, 550 f. – fortschrittlich/Fortschrittlichkeit 401, 432, 539 – Fortschrittsbahn 50 – Fortschrittsfreund 499 – Fortschritts-Tausendsassa 122 – Fortschritts-Schwabbelei 401 Freimaurerei 121, 522 Galimathias 141, 179, 228, 301, 345, 384, 388, 470 Gattung 28 f., 33, 54, 78, 91, 93, 129, 138 f., 152, 178, 181, 217, 249, 264, 266, 283, 285, 311, 313 f., 319, 325, 328, 331–334, 336, 351, 368, 379, 382, 405, 407, 409 f., 412, 422, 425 f., 465, 473, 475, 479, 531 f., 534, 547 – Gattungsbewusstsein 409, 427 – Gattungsdasein 192, 426 – Gattungseinfluss 351 – Gattungsentwicklung 413, 459 – Gattungserfahrung 285, 313 – Gattungsname 271 – Gattungstrieb 318, 325, 328 – Gattungstypus 266 – Gattungswesen 286 – Hauptgattung 249 – Kunstgattung 473, 546 – Literaturgattung 535 – Mehlgattung 165 – Menschengattung 168, 330 – Untergattung 406 Gedächtnis 59 f., 62, 75, 77, 113, 198, 248, 309, 349 Gedankenlosigkeit 543 Gefühllosigkeit 270 f., 276 f., 282 Geist 13–15, 17, 22 f., 32 f., 35 f., 39–41, 46, 53, 57, 69–72, 75, 77, 80, 82 f., 85–87, 89, 98, 112–114, 116, 120, 127, 130, 132 f., 136, 141 f., 146, 150–157, 165, 167, 169, 171 f., 174, 177, 180, 185, 191, 200, 211, 214, 216–218, 220, 223, 239, 250 f., 262, 269, 271, 275 f., 280 f., 283, 290 f., 293– 295, 299, 304, 308, 316, 326 f., 332, 337, 346, 355 f., 360, 365, 367 f., 382, 384,

Sachregister

388 f., 399 f., 408, 415, 424 f., 429, 435– 439, 448–451, 454 f., 457, 459, 476, 489, 496–498, 519, 535, 550 – durchgeistigt 289 – Freigeist/Freigeisterei 120, 186 – Geistererscheinung 215 – Geisterwelt 214, 221 – Geistesarbeit 299, 335 – Geistesart 138 – Geistesbefreiung 54 – Geistesbeschaffenheit 14, 36, 369, 434 – Geistesbewegung 46 – Geistesbildung 85, 486, 531 – Geistesblüte 82 – Geisteseigentümlichkeit 315 – Geistesenge 302 – Geistesentartung 86 – Geisteseunuch 42 – Geistesfähigkeit 34, 247 – Geistesfamilie 247 – Geistesfinsternis 112 – Geistesfreiheit 91, 269, 549 – Geistesgabe 34 – Geistesgestörter 86, 130, 134 f., 161, 290 – geistesgesund/(der) Geistesgesunde 114, 118, 164, 194, 227, 360, 426, 486, 544, 550 – geistesklar/Geistesklarheit 169, 268, 277, 353, 389, 399 – Geisteskraft 34 f. – geisteskrank/(der) Geisteskranke 8, 33, 41, 69, 129, 146, 197, 225, 262, 296, 316, 387, 389, 456, 493, 519 f., 536, 542 – Geisteskrankheit 27, 53, 105, 135, 168, 207, 247, 393, 439, 442, 456, 543 f. – Geisteskrüppel 237, 249, 427 – Geisteskundgebung 140 – Geistesleben 47, 72, 134, 143, 170, 182, 192, 247, 261, 314, 316, 335, 356, 360, 460, 471, 474, 535, 550 – Geisteslicht 442 – Geisteslump 141 – Geistesmühe 117 – Geistesnacht 27 – Geistesphysiognomie s. Physiognomie – Geistesproletariat 456 – Geistesreichtum 393 – Geistesrichtung 152 – Geistessaat 443

837

– geistesschwach/(der) Geistesschwache/(der) Schwachgeistige 41, 82, 86, 90, 92, 101, 148, 170, 218, 238 – Geistesschwäche 41, 78, 93, 96, 98, 110, 215, 495 – geistesstark/Geistesstärke 85, 124, 133 – Geistesstörung 7, 30, 215, 225, 229, 247 f., 269, 296, 352, 436 f., 512, 544, 550 – Geistesstumpfheit 456 – Geistestat/Geistestätigkeit 42, 52, 180, 334, 389, 424, 467, 475, 482, 539 – Geistesverfall 214 – Geistesverfassung 68, 86, 174, 301 – Geistesverrichtung 322, 491 – Geistesverwandter 93, 394 – Geisteswissenschaft 456 – Geisteswürde 338 – Geisteszustand 33, 57 f., 96, 125, 139, 167, 172, 181, 183, 226, 260, 273 f., 316, 376, 437, 495 – geistig/Geistigkeit 7 f., 28–31, 34, 37, 40, 42, 46–49, 51, 53, 78, 82 f., 86, 89, 96, 102, 106, 109 f., 117, 121, 123, 126, 133– 135, 146, 149, 160, 168 f., 172, 175, 195– 197, 213, 216 f., 219, 221, 234, 236, 249, 261, 264, 269, 281, 283, 289, 301, 303, 310, 314, 316, 322, 328, 336, 338, 355, 371–373, 380, 390, 393, 399, 404, 412, 417, 421–423, 429, 439–443, 447, 455 f., 476, 493, 495, 515 f., 524, 529–531, 538, 540, 542 f., 547 f. – Geistlicher/Geistlichkeit 121 f., 262, 358, 507 – (das) Geistig-Schöne 327 f. – geistlos 507 – geistreich/Geistreichigkeit 7, 16, 76, 123, 295, 383, 438 – geistvoll 177 – Menschengeist 32, 222, 250, 252, 331, 544 – schöngeistig/Schöngeist/Schöngeisterei 7, 27, 111, 424, 499 – (der) Schwachgeistige 130 – vergeistigt 95, 189, 421, 458 – Volksgeist 110 – Weltgeist 251 – Zeitgeist 530 Gemeinwohl 370 Genie 33 f., 75, 86, 135, 149, 194, 196, 203, 214, 229 f., 249, 304, 497–500, 502 f., 513, 522, 534

838

Sachregister

– Genieperiode 496 – Musikgenie 203 f. – Originalgenie 521 Geschlecht 7, 13, 36, 45, 47 f., 51 f., 106, 118, 167, 206, 215, 221, 268, 289, 293, 298, 304, 318, 339, 350, 352, 366, 383, 406, 409, 432, 438, 457, 463, 476, 524, 529, 531, 533 f., 548 – geschlechtlich/Geschlechtlichkeit 24, 71, 127, 170–172, 182, 184, 221 f., 289, 298, 335, 405 f., 439, 441, 487, 489, 493, 547 f. – doppelgeschlechtlich 221 – eingeschlechtlich 221 – Geschlechtsalter 532 – Geschlechtsbeziehung 407 – Geschlechtsfolge 28, 80, 264, 484 – Geschlechtsgemeinschaft 279 – Geschlechtsleben 488 – Geschlechtsliebe 160 – Geschlechtsmoral s. Moral – Geschlechtssinn 264, 489 – Geschlechtssittlichkeit 369 – Geschlechtstätigkeit 71, 491 – geschlechtstoll 190 – Geschlechtstrieb 257, 517 – Geschlechtsverirrung 309 – Geschlechtszentrum 73, 170 f., 190 – Menschengeschlecht 268 – ungeschlechtlich/Ungeschlechtlichkeit 171, 222, 547 Gesellschaft 18, 22 f., 25 f., 30, 35, 47, 54, 108, 110, 130, 135, 158–160, 181, 191, 197, 214, 216–218, 220, 257, 260, 262 f., 265, 267 f., 270, 279 f., 286, 289, 298, 302– 304, 309 f., 312 f., 320, 325 f., 328, 331 f., 339, 343–345, 348, 351, 353–355, 357, 360 f., 364, 366, 369–373, 375, 379 f., 380, 383, 385, 391 f., 394–398, 401 f., 405, 407 f., 413, 416 f., 427, 429 f., 438, 456–458, 470, 483 f., 497, 508, 513, 522 f., 529, 532, 535, 538, 548 f., 551 – Adelsgesellschaft 501 – gesellschaftsfeindlich/Gesellschaftsfeind 7, 159, 265, 270, 277, 283, 297, 308, 310, 313, 318 f., 325 f., 336, 392, 400, 495, 532, 548, 550 – gesellschaftsfreundlich 318, 325 – gesellschaftlich 28, 34, 85, 119 f., 171, 213, 221, 229, 262, 268, 286 f., 304, 312 f., 325, 335, 339, 370, 407, 438, 471, 476

– Gesellschaftsbau 268, 325, 344 – Gesellschaftsbrauch 120 – Gesellschaftsgeschichte 483 – Gesellschaftsklasse 264 – Gesellschaftskörper 270 – Gesellschaftskreis 122 – Gesellschaftsleben 265, 370, 483 – Gesellschaftslehre 7, 167 – Gesellschaftsmensch 419 – Gesellschaftsordnung 117, 159 – Gesellschaftsorganismus s. Organismus – Gesellschaftsschicht 24, 468 – Gesellschaftstrieb 328 – Gesellschaftswesen 160, 257 – gesellschaftswidrig 160 – Gesellschaftszustand 404 – Gesellschaftszweck 303 – Offiziergesellschaft 501 – Strandlochgesellschaft 398 Glaube 14, 42 f., 79, 81, 85, 88, 94, 109, 112, 120–122, 130, 136, 141, 152, 155–158, 211, 214, 219 f., 255, 283, 289, 294, 298, 356, 381, 441, 478, 492, 542 f. – Aberglaube 66, 70, 81, 214, 216, 218, 301, 424, 429, 485, 531, 546, 548, 550 – Buchstabenglaube 84 – Gespensterglaube 216 – Glaubensandacht 88 – Glaubensargument 154 – Glaubensbekenntnis 112, 140, 220 – Glaubensding 70 – Glaubensduselei 121 – Glaubensfanatismus 175 – Glaubenskernspruch 199 – Glaubenslehre 74, 313 – Glaubensmärchen 117 – Glaubensmimikry 121 – Glaubensmystik 228, 363 – Glaubenssache 85 – Glaubenssage 93 – Glaubenssatz 40 – Glaubensschrift 157 – glaubensschwärmerisch/Glaubensschwärmerei 71, 86, 119, 128, 167, 174, 247 – Glaubensübung 185 – Gouvernantenglaube – Ich-Aberglaube 428 – Kinderglaube 358 – Kirchenglaube 294, 399

Sachregister

– Köhlerglauben 172 – Seelenaberglaube 428 – Unglaube 549 – Volksaberglaube 428 – Wunderglaube 82, 217 f. Grammatiker 219 Graphomanie 140, 174 – graphomanisch/(der) Graphomane 8, 29, 34, 75, 101, 113 f., 124, 134, 148, 175, 184, 198, 200, 205 f., 299, 543 Großprior 219, 220 Halluzination 58, 73, 105, 145, 255, 353, 446 – halluzinieren/halluzinatorisch 43, 105, 118 Hasenscharte 28, 546 Hydropath 108 Hygiene 165, 550 Hypnose 211, 217, 399 – hypnotisch 118, 211, 217 – hypnotisieren/(der) Hyponotisierte 19, 210, 238, 457 – Hypnotisiergaukler 210 – Hypnotismus 25, 216 Hypochonder 209 – hypochondrisch 446 Hysterie 27, 36 f., 37, 40, 43, 45, 47, 51, 53, 86, 172 f., 205, 208 f., 213, 296, 486, 495, 508, 529 f. – Erschöpfungshysterie 172 – hysterisch/Hysteriker 30, 36–39, 41–44, 47 f., 54, 57 f., 66, 70, 79, 86, 88, 96, 106, 116, 118 f., 124, 140, 146, 169 f., 173, 197, 209–211, 213–215, 223, 229 f., 238 f., 260, 266, 296, 303, 310, 316, 318 f., 374, 379 f., 388, 394, 398, 405, 407 f., 441, 443, 465, 470, 492, 508, 512, 532 f., 536, 543, 550 – Massenhysterie 51, 208 – traumatische Hysterie 208 – Versuchshysterie 47 – Zeithysterie s. Zeit Ich-Bewusstsein 250, 252–257, 269 f., 390, 427, 431 Ichsucht 249, 259, 262–264, 269 f., 275–277, 281–283, 289, 303, 310, 317 f., 390, 392– 395, 402, 409, 458, 463, 485, 496, 529, 544

839

– ichsüchtig/(der) Ichsüchtige 249 f., 259 f., 262–265, 267–270, 277, 291, 303, 312, 318 f., 322, 337, 355, 390 f., 397, 399, 434 f., 459, 548 Idealismus 207, 210, 250 f., 432, 444, 464, 468, 470 f. Idee 63, 65, 73, 76, 168, 247 f., 274, 301, 333, 365, 451, 508 – Grundidee 521 – Ideenassoziation 60–67, 69, 71 f., 74–77, 82, 86, 92, 94, 97, 100, 126, 132, 141, 145 f., 182, 204, 222, 226, 228, 247, 275, 283, 288, 294 f., 328, 333, 335, 388–390, 422, 437, 450 f., 465, 468, 470, 486, 535, 539 – Ideenjagd 446 – Ideenverbindung 32 Imbecillität s. Schwachsinn Impressionismus 472–475, 479, 504 Impulsivität 30 Individualität 158, 182, 190, 247, 252, 257– 259, 326, 355, 385, 399, 422, 470, 508 Instinkt 416 f., 421, 438, 440 – instinktiv/(der) Instinktive 405, 421 – Grundinstinkt 416 – Mordinstinkt 438 – Selbstopferungsinstinkt 413 Iophobie 248, 296 Irre 32 f., 437 – Irrenanstalt 133, 283, 296, 316, 405, 445, 463, 519, 530, 533 – irrenärztlich/Irrenarzt 27, 34, 58, 129, 147, 169, 247, 391, 410, 440, 529, 532, 549 – Irrenchronik 484 – Irrenhaus 35, 125, 138, 140, 238, 442, 456, 484 – Irrenhausdichtung/Irrenhausliteratur 138, 140 – irrenheilkundig/Irrenheilkunde 6 f., 109, 182, 209, 214, 248, 281, 296, 393, 405, 438 f., 484, 488, 494, 542, 550 – Irrereden 456, 545 – Irrsinn 8, 29–31, 128, 206, 229, 263 f., 277, 289, 311, 316, 353, 415, 455, 510 – irrsinnig/(der) Irrsinnige 128, 130, 228, 265, 270, 353, 415, 438, 442 f., 445, 456 f., 542 Jakobinismus/Jakobiner 268 f. Jesuit/Jesuitismus 121, 304, 457

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Sachregister

Jude/Judentum/Judenvolk 13, 54, 174, 210, 415, 419 f. (der ewige) Jude 186, 193 Kampf ums Dasein 63 f., 158, 266, 312, 432 f., 533 Katholizismus 82 f., 86, 113, 298, 356 – katholisch/Katholik 54, 82, 112, 189, 220, 298, 360, 426 – katholisch-mystisch/katholisierend-mystisch 83, 84 – katholisch-theologisch 299 – katholisierend 87 – neokatholisch/Neokatholiken/Neokatholizismus 112, 116, 118 f., 122, 136, 165, 172, 174, 213, 496 Klastomanie 269 Klaustrophobie 248 Kleptomanie 248 Konkordanz 221 Konsekration 189 Koprolalie 486, 487 Krankheit/krank/krankhaft/(der) Kranke passim – geisteskrank/Geisteskrankheit s. Geist – nervenkrank/Nervenkrankheit s. Nerv Kremnophobie 248, 294 Kultur 180 f., 346, 513, 549 – Kultureinwirkung 51 – Kulturgang 346 – Kulturleben 541 – Kulturmacht 346 – Kulturvolk 338 – Kriminalkultur 181 – Staatskultur 181 Kunst 7, 17, 19 f., 27 f., 32 f., 35, 38, 42, 47, 51, 53, 69, 72, 79 f., 83, 86–90, 92, 105, 122 f., 130, 135, 141, 147, 175 f., 178–180, 183, 190, 193, 195, 199, 202 f., 205, 208, 212, 219, 249, 271, 276 f., 279, 282, 288, 300 f., 304, 307, 317, 319–326, 330–337, 417, 434, 441, 457, 463 f., 466, 472, 474, 493, 496 f., 509, 511, 529 f., 535–545, 550 – baukünstlerisch/Baukunst 176, 338 – Beschreibungskunst 472 – Bildhauerkunst 178 – Bühnenkünstler 470 – Darstellungskunst 490 – dichterisch-künstlerisch 263 – Dichtkunst 176, 179, 182, 184 f., 274, 278 f., 324, 466, 472–475, 508

– gekünstelt 441 – Gesamtkunstwerk 177, 311 – Kanalisationskünste 24 – kleiderkünstlerisch/Kleiderkunst 319 – Kleinkunst 21, 311 – Kunstart 25 – Kunstausdruck 109 – Kunstausstellung 22, 25, 40 – Kunstbonze 322 – Kunstempfindung 87 – kunstfähig 536 – Kunstform 18, 205, 336 – Kunstformel 311, 492 – Kunstgattung 473, 546 – Kunstgebiet 198 – Kunstgefühl 92 – kunstgerecht 505 – Kunstgeschichte 87 f., 91 – Kunstgeschmack 88 – Kunstgriff 342 – Kunstgrundsatz 108, 146, 483 – kunstheuchelnd 110 – Kunstideal 86, 88 – Kunstinteresse 209 – Kunstkenner 35, 87, 89 – Kunstkirche 40 – Kunstkniff 87 – Kunstleben 524 – Kunstleistung 161 – Kunstmethode 471, 482 – Kunstmittel 99, 517 – Kunstmystizismus 322 – Kunstneigung 484 – Kunstregel 330, 492 – Kunstrichtung 45 – (das) Kunstschöne 322 – Kunstschöpfung 330 – Kunstschule 322 – Kunstsimpelei 110 – kunstsinnig/Kunstsinn 177, 310, 315 – Kunststudie 87 – Kunststück/Kunststücklein 179, 199, 339, 394 – Kunsttätigkeit 46, 324, 331, 336, 543 – Kunsttechnik 331 – Kunsttheorie 135, 144, 271, 273–275 – Kunsttraum 206 – Kunsttrödelladen 26 – Kunsttum 40 – Kunstübung 208, 276

Sachregister

– Kunstverirrung 81 – kunstvoll 22, 106, 289, 304, 310, 339 – Kunstvollendung 89 – Kunstvorwurf 321 – Kunstwanderung 23 – Kunstwerk 7, 83, 86–88, 93, 134 f., 175 f., 178, 180, 182, 184, 186, 195, 202, 307 f., 321–327, 329, 332–336, 445, 465 f., 508 f., 524, 536, 543 – Kunstwert 134, 327 – (die) Künste/(die) Schönen Künste 17, 25, 88, 110, 143, 166, 176–178, 184, 197 f., 200, 217 f., 324, 327, 329, 336, 466, 474, 479, 534 – Künstelei 273 – künstelnd 280 – künstlich/Künstlichkeit 19, 26, 40, 51, 63, 78, 84, 95, 166, 180, 259, 279, 283, 290, 295 f., 300 f., 304, 306 f., 317, 325, 424, 477 – Reklamekunst 521 – Schilderungskunst 473 – (die) Schwarze Kunst 25, 214, 218, 342, 415 – Staatskunst 149 – Tanzkunst 175, 182, 184 – Tonkunst/Tonkünstler 179, 182, 184, 201, 203, 205 – Übergangskunst 123 – überkünstelt 441 – Variationskunst 394 – verkünstelt 312 – Versucherkunst 450 – Weberkunst 339 – Versucherkunst 450 – Zukunftskunst 136 Künstler 7 f., 20, 25, 32, 36, 40–42, 75, 80, 86 f., 89 f., 160 f., 176, 180 f., 195, 207, 212, 234, 274, 276 f., 307, 321 f., 324–327, 330–336, 378, 393, 439, 441, 464–466, 468, 475, 518, 520, 523–525, 540, 544, 549 f.( – Künstlerberuf 466 – Künstlergemüt 471 – Künstlergewissen 514 – Künstlerhand 273, 518 – künstlerisch 18, 40, 42, 75 f., 88 f., 125, 130, 141, 149, 151, 165, 172, 178–180, 182, 196, 208 f., 214, 222 f., 236, 276, 283, 298, 320–323, 325 f., 330, 335, 341, 382, 385, 441, 464, 473 f., 476, 486 f., 495 f., 500, 514, 518, 535, 537, 543, 549

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– Künstlerkneipe 26 – Künstlernatur 110 – unkünstlerisch 230, 319 – Stilkünstler 503 – Wortkünstler 274 Lebensart s. Art Lebenswille s. Wille Liebe 14, 25, 63, 74, 97, 100, 103, 125, 128– 130, 144, 159, 164, 169–171, 173, 179, 183, 185, 189–192, 217, 229, 234, 271, 277, 279, 281, 283, 288, 293–295, 300, 307, 310, 315, 317, 347, 352, 359, 363– 365, 372, 375, 378, 392, 401, 407, 419, 421, 426, 428, 439, 449, 453–455, 469 f., 505, 508, 511, 513, 516 f. – Dienstmädchenliebschaft 398 – Edison-Liebe 511 – Eigenliebe 83, 268 – Geschlechtsliebe s. Geschlecht – Hotel-Liebesabenteuer 506 – Kinderliebe 20 – Leichenliebe 224 – Liebäugelei 282 – Liebedienerei 111 – liebeheiß 508 – Liebelei 399 – liebeln 273 – lieben/geliebt/(der) Liebende/(der) Geliebte 15 f., 23, 27, 37, 84, 95–99, 101–103, 105, 117, 129, 138 f., 159 f., 171, 179, 182 f., 186, 192, 211, 215, 224, 229, 231, 234, 273, 280, 282, 289–291, 293–295, 298 f., 307, 311–315, 317, 320, 340, 347 f., 356, 364, 366 f., 370, 372, 374 f., 379, 393, 410 f., 428, 437, 441, 446, 448, 453–455, 459, 469, 486, 489, 501, 505, 507, 510, 513, 538, 545 – Liebes-Akt 74 – Liebesbrief 472 – Liebeserfahrung 375 – liebesfröhlich 25 – Liebesgeschichte 177, 522 – Liebesgott 100, 488 – Liebesgram 540 – Liebhaber 25, 291 f., 315, 317, 330, 388, 464, 510, 540 – Liebesheirat 372 – Liebeskrankheit 489 – Liebeskuss 182

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Sachregister

– Liebesleben 352 – liebelechzend 100 – Liebesmahl 189, 195 – Liebespaar 14, 24 – Liebesrausch 501, 537 – Liebesroman 14, 105 – Liebesschwärmerei 71 – Liebesszene 183 – Liebestat 315 – Liebestrank 192 – Liebesverlangen 100 – Liebeswahnsinn 248, 439, 441 – Liebeswerbung 187 – liebenswert 206 – Liebeswut 191 – liebevoll 180, 182, 265, 293, 303, 320, 363 – liebkosen 223, 419 – Lieblosigkeit 379 – Liebschaft 469 – menschenliebend/Menschenliebe 166, 170, 174, 471 – Nächstenliebe 33, 106, 159–163, 167, 169 f., 173, 247, 316, 401, 419, 426, 551 – selbstverliebt/Selbstverliebtheit/Selbstliebe 13, 37, 110, 160, 495 – ungeliebt 377 – Vaterlandsliebe 82, 211 – verlieben/verliebt 71, 183, 224, 231, 344, 398, 411, 510, 515 f., 520 – Weibesliebe 179 Literatur 28, 42, 72, 348, 441, 497–499, 512, 524 – Irrenhausliteratur 140 – literarisch 42, 230, 265, 433, 495 f., 521, 523 – literarisch-ästhetisch 7 – Literaturbewegung 122 – Literaturdieb 457 – Literaturepoche 498 – literaturfähig 537 – Literaturgattung 535 – literaturgeschichtlich/Literaturgeschichte 485, 495 – Literaturgröße 525 – Literaturkirche 40 – Literaturrichtung 45 – Literaturschreiber 40 – Literaturschwelle 506 – Literatursimpelei 110 – Literaturstaat 524 – Literaturüberlieferung 525 – Weltliteratur 142, 497, 517

Logorrhöe 109 Lust 117, 159, 162, 263, 273, 286, 293, 295, 298, 313, 315, 317, 321, 328 f., 341, 411, 416, 418, 423, 426, 429, 438, 440, 447, 449, 455, 489, 510, 546 – Erb-Lustseuche 352 – Esslust 305 – Fleischeslust 366, 378, 419 – Gelüst 18, 282, 355 – Kauflust 38 – Lebenslust 14 – Lustaffekt 447 – lustbebend 490 – Lustempfindung 331, 402 – Lustgefühl 39, 74, 89, 143, 154, 160, 208, 266 f., 280, 286 f., 291, 314, 327–331, 334, 426, 433, 439, 441, 447, 540, 542 f. – (Massen-)Lustmörder/Lustmord 184, 283, 309, 311, 326, 531 – Lustschauer 314 – lüsteln/lüstelnd 183, 488, 545 – Lüstelei 493 – lüstern/Lüsternheit 21, 222, 289, 298, 378, 414, 440, 449 f., 452, 459, 548 – Lüstling 193, 273 – Mordlust 190, 438 – selbstmordlüstern s. Selbstmord – Sinnenlust 315 – Umsturzgelüste 396 – umwälzungslustig 342 – Unlust 285, 327 f., 331 – Unlustgefühl 39, 266 f., 286, 333, 338 – Widerspruchslust 319 – wolllüstig/Wolllust/Wolllüstling 84, 99, 164, 211, 279, 281, 289, 294, 298, 326, 357, 420, 438, 439, 440, 488, 492, 510, 511, 542 – Wolllustempfindung 73, 74 – Wolllustgefühl 73, 74 – Zerstörungslust 438 Magnet 205, 301 – magnetisch 284, 478 – Magnetiseur 195 – Magnetismus 54, 216, 218, 478 Mania blasphematoria 487 Mannesliebe s. Homosexualität (der) Mattoide 29, 34 f., 387, 483, 522, 532 Melancholie/melancholisch/Melancholiker 31, 353, 391, 436, 447, 529

Sachregister

Menschenalter s. Alter Menschengeschlecht s. Geschlecht Metaphysik 32, 70, 81, 116 f., 140, 167, 250 f. – Berufsmetaphysiker 250 – Metaphysiker 32, 85 – metaphysisch 78, 154, 283, 315 Milieu 475–477, 479, 515 Misoneismus 534 Missbildung 28, 70, 247, 287 Mitgefühl 117, 257, 269, 270, 277, 282, 418, 419, 422, 459, 518, 529, 538, 540 Mitleid 25, 87, 106, 125, 160, 186, 220, 226, 258, 265, 281, 328, 330, 416, 419, 430, 444, 449, 471, 517 f., 533, 542, 548 – bemitleiden 141, 297 – (das) Mitleiden 414, 437, 455 – mitleiderregend 237 – mitleidig/(der) Mitleidige 367, 419, 426, 455 – Mitleidsinstinkt 413 – Mitleidsmoral 413 – (der) Übermitleidige 455 Mittelalter 19, 80, 82, 84 f., 93, 95, 99, 128, 132, 136, 318, 326, 346, 380, 420 – mittelalterlich/Mittelalterliches 20, 80, 83, 93, 103, 195, 219, 222, 299, 311, 346, 366 – Mittelalterlichkeit 106, 136 (der/die/das) Moderne 194 f., 355, 400, 492, 497, 551 – (der) Allermodernste 42 – modern 27, 50, 174, 180 f., 229, 353–355, 365, 380, 400, 425 f., 443 f., 507, 512, 514, 516, 539 – modern-naturwissenschaftlich 356 – Modernität 218, 321, 342, 353, 355, 401, 501, 506 f., 512, 514 f., 520 f., 538, 550 – Modernitätsflunkerei 516 – Modernitätsmarktschreierei 515 – unmodern 354 Monomanie 247, 248 Moral 158 f., 219, 349, 368, 395, 413, 415 f., 418–422, 424–426, 429, 436 f., 440, 457, 485 – Assassinen-Moral 434 – Enthaltungsmoral 172 – Geschlechtsmoral 172 – Herrenmoral 414 f., 417–419, 422, 424 f. – Immoralist 186, 450 – laede-neminem-Moral 437 – Millsche Moral 443 – Mitleidsmoral 413

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– moralästhetisch/Moralästhetik s. Ästhetik – Moralbegriff 414 f., 425 – moralisch 8, 29–32, 128, 179, 186, 208, 229, 263 f., 277, 311, 345, 357, 391, 396, 413, 436, 439, 452, 456 – Moralist 149, 425 f., 451 – Moralität 514 – Morallehrer 429 – Moralphilosophie/Moralphilosoph 418, 421, 423, 436 – Moralproblem 424 – Moralsystem 412 – Nützlichkeitsmoral 414, 425 – Sklavenmoral 414–417, 419, 422, 425 – Moral insanity 29 – übermoralisch 455 Mundart 514, 516, 538 – mundartlich 519 f. Müdigkeit 40, 47, 140, 413, 455 – lebensmüde/Lebensmüdigkeit 15, 393 Mystizismus 33, 42, 57 f., 68, 70–72, 74, 76– 78, 82 f., 87 f., 102 f., 105 f., 119, 123, 167, 174, 185, 238, 294, 298, 301, 317, 351, 389 f., 393, 463, 478, 492, 496, 529 – Entartungsmystizismus s. Entartung – Kunstmystizismus s. Kunst – Neomystizismus 53, 114 Mystik 102, 121, 148, 190, 193, 200, 211, 214, 226, 247, 298, 301, 307, 333, 356, 365, 376, 453 f., 544 – Farbenmystik 146, 320 – Glaubensmystik 228, 363 – katholisch-mystisch/katholisierend-mystisch s. Katholizismus – Mystiker 57 f., 68–73, 78 f., 86, 91, 93, 97– 99, 107 f., 118, 133, 136, 141, 157, 163, 167, 172, 189, 202, 206, 210, 213, 215, 247, 249, 289, 317, 355, 389, 399, 406, 482, 523, 548 – Mystikergewohnheit 156 – mystisch 23, 27, 33, 57, 69–71, 87, 90 f., 93– 98, 101 f., 108, 112, 116, 121, 125 f., 129, 150 f., 155 f., 172, 174, 179, 184, 186–191, 215, 220, 222 f., 225, 228 f., 231, 249, 255, 267, 289, 299, 301, 310, 333, 351, 363, 371, 388–390, 453, 455, 482, 536 – mystisch-delirierend s. Delirium – mystisch-emotiv s. Emotivität – mystisch-erotisch s. Erotik – mystisch-religiös s. Religion

844

Sachregister

– mystisch-theologisch 363 – Neomystiker 68 – religiös-mystisch s. Religion – romantisch-mystisch 231 – rossettisch-mystisch-ästhetisch 512 – unmystisch 147, 524 Nächstenliebe s. Liebe Naturalismus 24, 53, 123, 147, 303, 463, 479 f., 485–487, 493, 496, 504 – antinaturalistisch 463 – Naturalist 303, 503 – naturalistisch 466, 493 Nekromantie 218 Nekrophilie 224, 298, 531 Nerv 18, 22, 54, 58, 64, 70, 145, 179, 207, 254, 260 f., 267, 287, 328, 510, 534 f., 542 – Außennerv 70 – Bewegungsnerv 39 – Hautnerv 58, 146, 449 – Leitungsnerv 260 – Muskelnerv 254 – Nervenanfall 296 – Nervenarzt 34 – Nervenbahn 60, 64, 252 – nervenerregend/Nervenerregung 46, 211, 214 – Nervenerschöpfung 24, 353, 486, 532 – Nervenfaser 58, 60, 144, 252 – Nervenganglion 252, 402 – Nervengewebe 252, 286 – Nervenheilanstalt 238 – Nervenimpuls 266 f. – Nervenkraft 208, 535 – nervenkrank/(Folge-)Nervenkrankheit 27, 34, 51 f., 207 f., 223, 309, 323, 478 – Nervenleben 108, 205, 208, 216, 465 – Nervennährstoff 73 – Nervenreiz 21 – Nervenschwäche 40, 208 – Nervenschwingung 17, 475 – Nervensuggestion s. Suggestion – Nervensystem 27, 30, 42, 50–53, 62, 66, 72, 170, 172, 177, 207 f., 252, 254 f., 258 f., 265, 291, 323 f., 404, 486, 490, 534 f., 542, 546 – Nervenverbindung 145 – Nervenwahrnehmung 254 – Nervenzellen 58–60, 73, 252, 259 – Nervenzentrum 71, 73, 254, 260, 287, 324, 333

– Nervenzustand 40 – Organnerv 58, 125 – Recurrensnerv 531 – Sehnerv 58, 61, 146 – Sinnesnerv 39, 50, 72, 255–262, 270, 291, 327, 334, 405, 529 – Sympathikusnerv 270 – Zentralnervensystem 266, 529 – Zuleitungsnerv 58, 64 Nervosität s. Neurasthenie – nervös/(der) Nervöse 19, 24, 41, 52 f., 144, 304, 441, 530 Neurasthenie/neurasthenisch 27, 36, 47, 53, 225, 248, 353, 486, 533 – Neurastheniker 40, 42, 441, 532 Nosophilie 531 Nosophobie 248 Nystagmus 38 Onanist s. Selbstbefriediger s.v. Selbstbefriedigung Oniomanie 38, 248 Onomatomanie 131, 248, 390, 487 Optimismus 154, 155, 156, 408 Organismus 27 f., 46, 58, 62 f., 65, 70–72, 74, 154, 159, 179, 248, 250, 252–257, 259, 261 f., 264, 284–287, 313 f., 324 f., 333, 402 f., 423, 427, 532, 546 f. – Gesamtorganismus 253, 284 f., 313, 402– 404, 427, 544 – Gesellschaftsorganismus 270, 536 – organisch 13, 19, 28, 30, 33, 40 f., 45, 50, 52 f., 59 f., 71, 74, 78, 81, 93, 99, 110, 114, 121, 130, 133, 143, 145 f., 154 f., 170 f., 178, 192, 196, 202, 204, 223, 229, 247, 250, 254, 256 f., 259–262, 264, 266 f., 284, 286, 321, 324–326, 329, 333–336, 379, 392, 403, 409, 416, 425, 447, 465, 470, 485 f., 490, 492, 529, 540 f., 543, 548 – unorganisch 472, 515, 533 Panophobie 225 Pantheismus 157, 158, 255 – pantheistisch 167 Paralytiker 38, 76, 352 – Dementia paralytica 352 – Generalparalytiker 352 – paralytisch 76 Paranoia 390

Sachregister

– Paranoiker 544 Paroxysmus 144 – paroxystischer Säufer 127 Pathologie 353 – Pathologe 51 – pathologisch 7, 172 Perversion 264, 287, 319, 406, 438–441, 542 – pervers/(der) Perverse 406, 436, 438 – Perversität 438 – pervertiert 265 – sexuale Perversion s. Sexualität Pessimismus 31, 154 f., 291, 400, 431, 437, 485–487, 492 f., 496, 529 – Pessimist 268, 270, 437 – pessimistisch 486, 491 f. – Realistenpessimismus 544 Pfleger(in) des/seines Ichs 311, 313, 314, 316, 317, 319 Pflicht gegen sich selbst 369 Phraseomanie 387 Physiognomie 127, 178, 233, 249, 342 – Dutzendphysiognomie 436 – Geistesphysiognomie 29 – physiognomisch 202 – physiognomische Fragmente 157 Polydaktylie 28, 547 Polyphonie 19, 24 Positivismus 87, 114, 478 – Positivist 478 Postulat 485 – Postulant 219 Prostitution 110, 315, 406 – Prostituierte 7, 483, 487 Protestantismus 83 – christlich-protestantisch 185 – Protestant 75, 356 – protestantisch 75, 189 Psyche – psychisch 36, 260, 269, 360, 406, 440, 446 f. Psychiatrie 129, 543, 550 – Psychiater 27, 550 – psychiatrisch 248, 376, 442, 482, 484, 529 Psychologie 81, 83, 219, 256, 269, 281, 301, 335, 389, 402, 444, 517, 535, 543 – Psychologe 31, 58, 60, 62, 76, 126, 297, 314, 332, 431, 444, 453 – psychologisch 30, 104, 109, 132, 168, 190 f., 226, 276, 335, 360, 385 f., 392, 406, 410, 463, 465, 468, 472 f., 475, 479, 485

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Psychopathia sexualis 441 Psychopathie 224, 440 – Sexualpsychopathie/sexualpsychopathisch/ Sexualpsychopath 172, 224, 417, 441, 487 f., 531 Psychophysik 177, 444 – psychophysisch 265, 444 Psychophysiologie/Psychophysiologe 251, 260, 321, 327, 444, 445 – psychophysiologisch 8, 324, 444, 478 Psychose 169, 442 Pyromanie 248 Quietismus 32 Raubtier 67, 166, 329, 414, 418–420, 422 f., 425, 430, 451, 453, 459, 548 – Raubtiergewissen 414 – raubtierhaft/(das) Raubtierhafte 331, 450 – Raubtiermensch 417 – Raubtierspezies 430 Realismus 42, 53, 321, 342, 344, 353, 463– 472, 479, 485, 497 f., 498, 506 f., 514, 516, 518, 521, 523, 529, 540 – pseudorealistisch 457 – Realist 42, 93, 348, 355, 398, 469 f., 483, 485, 492, 495–497, 500 f., 504 f., 508, 515 f., 519 f., 523, 538, 549 – Realistenpessimismus 544 – Realistenstammkneipe 497 – realistisch 94, 346, 465, 467 f., 471, 478, 498, 501, 507, 513, 518, 521, 523 f., 540 Redensart 27, 86, 97, 109, 117, 121 f., 165, 181, 194, 230, 232 f., 236, 304, 315 f., 342, 355, 371, 379, 382 f., 388 f., 391, 401, 411, 413, 423, 433, 439, 459, 486, 502, 507, 515, 538 f. Reizbarkeit 47, 51, 72–74, 208, 530 – reizbar 73, 208 Religion 78, 81, 86, 112, 121 f., 158, 172, 175, 185, 219, 334, 349, 379 f., 395, 453, 531 – mystisch-religiös/religiös-mystisch 208, 371 – Religionsbedürfnis 334 – Religionslehre 379 – Religionsstifter 43 – Religionszweifel 169 – religiös 23, 33, 57, 70, 74 f., 85 f., 88, 91, 93 f., 121, 141, 157, 189, 201, 333, 343, 369, 376, 537 – Religiosität 85

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Sachregister

– Staatsreligion 189 – Zend-Religion 185 Romantik 80, 82–84, 174, 195, 463, 484, 496, 540 – Romantiker 82–84, 123, 215, 272, 279, 288, 472, 480, 482, 485 – romantisch 96, 231, 292, 394, 491, 540, 541 – romantisch-mystisch 231 – Urwaldromantiker 539 Rückenmark 71, 253 – Eisenbahn-Rückenmark 51, 208 – Rückenmark-Leidender 547 – Rückenmärker 547 – Rückenmarkschnitt 550 – Rückenmarkschwindsucht 352, 356 – Rückenmarksentzündung 547 – Rückenmarkskrankheit 352 – Rückenmarkssystem 270 – Rückenmarkzentrum 74 Rückschlag 80, 202, 351, 407, 491 – Rückschlagerscheinung 422 – Rückschlagsform 482 Rücksicht 17, 24, 29, 32, 94, 101, 130, 146, 191, 227, 258, 263, 274 f., 280, 318, 329, 336, 345, 348, 365, 368–370, 379, 391, 396, 401, 407, 418, 422, 430, 442, 450, 548 – Rücksichtnahme/(das) Rücksichtnehmen 358, 368 f., 379 – rücksichtslos 111, 192, 268, 276, 392, 395 f., 438, 545 – Rücksichtslosigkeit 42, 319, 414, 442, 457 Rupophobie 248 Sadismus 183, 289, 298, 317, 440 f., 453, 511 – Sadist 440, 531 Satyriasis 511 Schädlichkeit 28, 46, 62, 275, 278, 285–287, 329, 334 – Privat-Schädliches 427 – schädlich 168, 263 f., 284, 286 f., 313, 324, 329, 370, 391, 404, 427, 457, 532, 542, 544 (das) Schaffen 42, 142, 198, 234, 269, 332, 335, 412, 468, 470 – (er)schaffen/geschaffen 30, 38, 68, 115, 133– 135, 146, 164, 166, 184, 195, 202, 213, 260, 268, 309, 317, 341, 367, 371, 382, 384, 414 f., 417, 420 f., 433, 436, 445, 465, 478 f., 495, 499, 501, 509, 511, 516 f., 519, 533, 537 f.

– (der) Schaffende 43, 464, 540 – Schaffensdrang 269 – Schaffenskraft 394 – Schaffenstrieb 40 – Schaffensunfähigkeit 533 Scham 183, 282, 410, 548 – beschämend/beschämt/Beschämung 14, 127, 376, 456, 481, 495 – geschämig 135 – schämen 114, 134, 290, 410, 412, 449, 506, 520 – Schamgefühl 265 – schamhaft/Schamhaftigkeit 29, 103, 144, 531 – schamlos/Schamlosigkeit 183, 229, 234, 316, 320, 482, 525 – unverschämt/Unverschämtheit 17, 113, 299 – verschämt 379 Schmarotzer 159, 193, 310, 336, 354, 394, 529, 550 – schmarotzen 95, 336, 394, 533 – Schmarotzergesindel 495 – Schmarotzerpflanze 193 Schönheit 7, 29, 31, 43, 79, 82, 100, 113, 134, 139, 141, 165, 176, 187, 193, 196, 210, 214, 224, 238, 264, 272 f., 278, 290, 322, 327–329, 334, 336, 362, 385–387, 430, 448, 489, 541 f. – (das) Geistig-Schöne s. Geist – (das) Kunstschöne s. Kunst – sinnlich-schön/(das) Sinnlich-Schöne s. Sinnlichkeit – schön/(das) Schöne 16–19, 30, 37, 43, 69, 81 f., 84 f., 88–91, 97, 102–106, 109, 111, 117, 120, 129 f., 132, 137–139, 143, 157, 161, 166, 169, 181 f., 184, 186, 190–192, 194, 197 f., 207–209, 212, 223, 232, 237, 272, 275, 277 f., 292, 301, 307, 312, 315 f., 318 f., 321–323, 327–330, 332 f., 336, 340 f., 350, 353 f., 357, 367, 371, 379 f., 385, 388, 391, 401, 406, 421 f., 434, 438, 448, 458, 481, 493, 503, 506–508, 517– 519, 542, 544 f., 547 – (die) Schönen Künste s. Kunst – schöngeistig/Schöngeist/Schöngeisterei s. Geist – Schönheitsanschauung 87 – Schönheitsdrang 318, 319 – Schönheitssinn 91, 318, 319, 530 – Schönheitswert 90, 275

Sachregister

– Schönheitswirkung 517 – schönklingend 405 – unschön 81, 143 Schrift [i.S.v. Medium] 89 f., 95, 161, 184, 198, 212, 317, 532 – Buchstabenschrift 143, 199 – Druckschrift 487 – Flammenschrift 161 – Gedankenschrift 95 – handschriftlich/Handschrift 90, 219, 290 – Inschrift 330 – Schriftbild 143 – (der) Schriftgelehrte 90, 198 – Schriftzeichen 388 – Unterschrift 388 Schrift [i.S.v. Werk] 33, 45, 111, 114, 149, 152, 156 f., 172–175, 184 f., 215, 273, 296, 330, 355, 406, 409 f., 436, 438, 442, 446 f., 454–456, 487, 537, 551 – Abschrift 470 – Bekenntnisschrift 466 – Denkschrift 334 – Fachschrift 273, 532 – Handschrift 505 – Manessische Handschrift 193 – Niederschrift 512 – Offenbarungs-Schrift 454 – Prosaschrift 300 – Reklameschrift 498 – Schriftstelle 173 – Schriftwerk 535 – Trutzschrift 463 – Urschrift 511 Schriftsteller 7 f., 25, 29, 34, 36, 40–42, 69, 76, 85, 88, 95 f., 108, 112, 126, 135, 141, 149, 152, 175, 196, 199, 203, 206, 215 f., 226, 249, 263, 265, 271, 274, 276, 289 f., 302, 304, 312, 320, 338, 346, 354, 412, 439, 441, 445, 463 f., 472, 476, 495 f., 498–501, 503, 505 f., 508, 520–525, 532, 549 f. – After-Schriftsteller 498 – Dutzendschriftsteller 521 – Glaubensschrift s. Glaube – Prosaschriftsteller 148 – Romanschriftsteller 237 – Schriftstellerberuf 492 – Schriftstellerei 503 – Schriftstellereigenschaft 491 – Schriftstellerfähigkeit 205

847

– schriftstellerisch 24, 29, 124 f., 141, 149, 172, 265, 279, 288, 298 f., 303, 354, 485, 492, 496, 523, 549 – Schriftstellerlexikon 151 – Schriftstellernatur 493 – Sensationsschriftsteller 471 – Tagesschriftsteller 122, 354 Schrifttum 7, 35, 40, 42, 47, 51, 53, 80, 95, 110, 112, 124, 132, 138, 140, 147, 173, 193, 201, 206, 208, 215, 229, 238, 248, 263, 270, 274, 281, 299, 304, 310, 327, 330, 336, 360, 441, 463 f., 471, 484, 493–497, 499–501, 508, 512 f., 521–524, 530, 535, 542 – Erzählungsschrifttum 214 – Fachschrifttum 484 – Musikschrifttum 198 – Wahnsinnsschrifttum 393 – Weltschrifttum 195 Schwäche 34 f., 67, 85, 99, 110, 187, 190, 196, 248, 354, 377, 415, 446, 546 – Charakterschwäche 379 – Geistesschwäche/(der) Geistesschwache/ (der) Schwachgeistige s. Geist – (ge)hirnschwach/Hirnschwäche 82, 211, 365, 386 – geschwächt/ schwächelnd/(der) Geschwächte 28, 30, 39, 51, 66 f., 146, 292, 428, 530 – Nervenschwäche s. Nerv – (der) Schwache/(der) Schwächere/(der) Schwächste 18, 159, 162, 309, 423, 429, 458, 498, 541 – schwächlich/(der) Schwächling 264, 266, 304, 319, 336, 367, 382, 499 f., 515 – (die) Schwächung 259, 529, 545 – Willensschwäche s. Wille Schwachkopf 69 f., 108, 112, 125, 137, 215, 304, 400, 408, 435, 443, 457, 491, 495 – schwachköpfig 342 – Schwachmatikus 369 Schwachsinn 8, 74, 76, 132, 179 – schwachsinnig 75, 99, 113 f., 131, 133 f., 141 f., 249, 275, 282, 288, 364, 397, 443, 543 – (der) Schwachsinnige 74–76, 88, 91, 101 f., 108 f., 114, 123–126, 133, 138, 144, 184, 259, 269, 282, 287, 444, 486 Schwindsucht 311 – Rückenmarksschwindsucht s. Rückenmark

848

Sachregister

– (der) Schwindsüchtige 224 Seele 27, 84, 96–99, 101, 105, 108, 112, 123, 128, 135, 139, 151, 158, 178, 190 f., 204, 206, 223 f., 226 f., 230, 232, 263, 283, 289, 292–295, 299, 301, 312, 315, 324, 348, 357, 365, 373, 381, 384, 391, 421, 423, 428, 435 f., 438, 448 f., 452, 456, 466, 497, 508 f., 513, 540 – Kinderseele 371 – Mitternachtsseele 411 – Opferseele 364 – Seelenaberglaube s. Glaube – Seelenfrieden 514 – Seelenhintergrund 338 – Seelenleben 58, 81 f., 118, 150, 222, 259, 406, 495 – Seelenregung 537 – Seelenriecher 489 – Seelenstaat 508 – Seelenstand 508 – Seelenstimmung 389 – Seelenstörung 168 – Seelentiefe 339 – Seelenzustand 13, 15, 31, 67, 99, 104 f., 123, 127, 133, 192, 214, 225, 281, 283, 291, 301 f., 421, 439, 473, 508 – seelisch 18, 30 f., 52, 143, 204, 247, 261, 312, 414, 440, 486 – Seelsorger 343 – Volksseele 486 Sehnsucht 85, 133, 304, 324, 335, 385, 389, 400, 438, 440, 449, 519, 538 – (zurück-)sehnen/ersehnt 51, 99, 186, 188, 224, 280, 291, 294 f. – sehnsüchtig 17, 417, 509 – Sehnsuchtsbild 468 Selbstachtung 53, 458 Selbstaufopferung 187, 318, 363, 415, 419 Selbstbefreiung 325, 359 Selbstbefriedigung 269 – Selbstbefriediger 439 Selbstbeherrschung 33, 191, 264, 365, 419, 429–431, 459, 548 Selbstbekämpfung 192 Selbstbeobachtung 77 Selbstbeschränkung 422 Selbstbestimmung 401, 405 – Selbstbestimmungsrecht 355 Selbstbetrachtung 292 Selbstbetrug 159, 283

Selbstbewusstsein s. Bewusstsein Selbstbezwingung 353 Selbstdemütigung 360 Selbsterhaltung 266, 287, 433 – Selbsterhaltungstrieb 154 Selbsterkenntnis 223, 290, 456, 514 Selbstgefälligkeit 82, 288, 389 – selbstgefällig 81, 546 Selbstgenügsamkeit 433, 435 Selbstgespräch 84, 143, 225 Selbstheiligung 173 Selbstherrlichkeit 111 – selbstherrlich 168 selbstisch 160 Selbstkreuzigung 415 Selbstlaut 26, 125, 143–145 Selbst-Leben 77 Selbstleugnung 410 Selbstliebe 160 Selbstling 17, 163, 356, 395 Selbstlosigkeit 160, 165, 249, 363, 369, 415 f., 418, 426 f. – selbstlos 160, 165, 190, 364, 397, 419, 426 f., 459 Selbstmord 51, 155, 158, 348, 372, 386, 397, 404, 511, 523, 531 – Selbstmörder 154, 530 – selbstmörderisch 313, 404 – Selbstmordgedanken 99 – selbstmordlüstern 533 – Selbstmordstatistik 477 Selbstopfer 187 – Selbstopferung 356, 363, 365, 369 – Selbstopferungshunger 363 – Selbstopferungsinstinkt 413 Selbstpeinigung 417 Selbstqual 368 – selbstquälerisch 357 (Massen-)Selbstsucht/selbstsüchtig/(der) Selbstsüchtige s. Sucht Selbstständigkeit 69, 168 f., 176, 178, 182, 203, 205, 406, 501 – selbststständig 40, 167, 178, 191, 196, 285, 310, 436, 459 – (der) Selbststständige 248, 523 – (der) Unselbststständige 18 – unselbstständig 213 Selbsttäuschung 93, 277, 436, 475 – Selbsttäuschungsphrase 367 Selbstüberhebung 203, 275, 453, 485

Sachregister

Selbstüberredung 284 Selbstüberschätzung 109 Selbstüberwindung 454 Selbstunterdrückung 417 Selbstverachtung 367 Selbstverantwortlichkeit 545 Selbstvergötterung 310 Selbstverhöhnung 316 Selbstverleugnungsinstinkt 413 Selbstverliebtheit 37, 110, 495 – selbstverliebt 13 selbstverspottend 329 Selbstverstümmelung 172, 404 Selbstvertrauen 69 Selbstverwandlung 221 Selbstwiderlegung 401 Selbstzerfleischung 420 f., 438 selbstzerstörend 545 Selbstzucht 74 Selbstzufriedenheit 29 Selbstzügelung 392, 404, 423, 546, 551 Selbstzweck 322, 324, 335 Semit 190 Sexualität – konträre Sexualempfindungen 222, 348, 406, 441, 531 – Sexualpsychopathie/sexualpsychopathisch/ Sexualpsychopath s. Psychopathie – sexuale Perversion 440 – sexueller Erethismus 324 Sinneseindruck 39, 52, 66, 69, 73, 77, 92, 160, 253, 257, 260, 465, 468, 539, 544 Sinneserregung s. Erregung Sinnlichkeit 24, 71, 83, 97, 183, 192, 224, 279, 301, 348, 489, 493 – sinnlich/(das) Sinnliche 89, 164, 179, 184, 189, 217, 229, 275, 329, 332, 338, 344, 347, 352, 415, 437, 459, 468, 470, 472– 474, 488, 490, 506, 512 – sinnlich-schön/(das) Sinnlich-Schöne 327– 330 – übersinnlich/Übersinnlichkeit 17, 71, 87, 93, 97, 99 Sitte 16, 35, 83, 268, 278, 320, 331, 365, 368, 379 f., 391 f., 399, 404, 407, 417 f., 430, 479, 493, 521, 531 – Ehesitte 429 – gesittet 13, 18, 42, 45, 48–51, 53, 81, 84, 112, 149, 173, 198, 201 f., 207, 265, 320, 322, 337 f., 484, 496, 529, 532, 541, 543

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– Sittenbild 515 – Sittengeschichte 13, 421, 542 – sittengeschichtlich 93, 206, 284, 346, 409, 483, 493 – Sittengeschichtsschreiber 35, 40, 425 – Sittengesetz 263 f., 277, 317, 335 f., 355, 366, 368 – sittengesetzlich 268 – Sittenlehre 158, 163, 167 f., 277, 316, 407, 419, 459 – Sittenlehrer 312, 376 – Sittenlosigkeit 377 – Sittenpredigerton 379 – Sittenroman-Verfasser 470 – Sittenverwilderung 302 Sittlichkeit 7, 29, 128, 159, 173, 183, 190, 192, 194, 221, 233, 249, 264 f., 269, 278 f., 288, 308, 312, 314, 325, 327 f., 330, 334, 336, 365, 412, 418, 426, 429, 435, 439, 457, 471, 493, 529, 545, 549 – Geschlechtssittlichkeit 369 – sittlich/(das) Sittliche 17, 24, 34, 83, 149, 159, 173, 179, 187, 208, 221 f., 229, 265, 270, 278–280, 294, 310, 314, 318, 322, 325, 327–330, 334, 336, 341, 343, 354, 360, 365, 369, 371–373, 377 f., 399–401, 405–408, 418, 422, 424 f., 438 f., 459, 493, 495, 514, 538, 543, 547–549 – (das) Sittlich-Abstoßende 329 – sittlich-schön/(das) Sittlich-Schöne 330, 491 – Sittlichkeitsgefühl 192, 426 – Sittlichkeitslehraufgabe 316 – Sittlichkeitstrieb 264 – Sittlichkeitsverbrechen 127, 133 – Sittlichkeitsvergehen 279 – übersittlich 418 – Unsittlichkeit 168, 185, 263 f., 277, 279 f., 320, 327, 370 f., 377, 494, 549 – unsittlich/(das) Unsittliche 159, 187, 273, 278–280, 284, 287, 297, 322, 325–327, 329, 334, 425, 439, 484 f. Skeptizismus 168 – Skeptiker 450 – skeptisch 452 Sklave 127, 171, 191, 209, 291, 406, 414, 417, 419, 423, 459, 470 – Negersklaverei 539 – Sklavenauflauf 443 – Sklavenaufstand 415 f., 419 f., 425, 524 – Sklavenhandlung 424

850

Sachregister

– Sklavenkette 381 – Sklavenmoral 414–417, 419, 422, 425 – Sklavenrasse 414 – Sklaverei 269, 312, 404, 431, 450, 539, 545, 547 Sklerose 344 Skoptzentum 441 – (die) Skoptzen/Skoptzi 172, 179 Somnambulismus 25 Sozialismus 54, 106, 120, 173, 431, 443, 492, 506 f., 538 – sozialistisch 54, 417, 516, 521, 538 f. Spiritismus 85 f., 165, 214 f., 255 – spiritistisch 214, 216 – (der) Spiritist 214 – (die) Spiritisten-Gemeinde 531 Spiritualismus 230 – spiritualistisch 256 Stigma 28, 29, 30, 31, 38, 53, 119, 168, 169, 174, 196, 223, 225, 230, 258, 289, 317, 355, 390, 393, 422, 487 – Entartungsstigma 169, 247, 317 – Hauptstigma 33 Sucht 27, 37 – eifersüchtig/Eifersucht 163, 430, 525 – Genusssucht 17, 117 – Gewinnsucht 494, 548 – Grübelsucht 169 – Ich-Sucht s. Ich – Habsucht 426 – Herrschsucht 437 – Klatschsucht 350 – Lungensucht 224 – mondsüchtig 198 – Mordsucht 159 – Nachahmungssucht 36 – Rachsucht 415 – Reklamesucht 141 – Schwatzsucht 109 – Selbstsucht/Massenselbstsucht 30, 223, 249, 257 f., 277, 369, 399, 416, 418, 422 f., 426–428, 431, 438, 495, 545, 548 – selbstsüchtig 30, 44, 87, 170, 259, 325, 341, 369, 418, 426, 457 – (der) Selbstsüchtige 216, 249 – Trunksucht 171, 326, 367 – Weltverbesserungssucht 247 – widerspruchssüchtig/Widerspruchssucht 174, 212 – Zerstörungssucht 181, 269, 326

– Zweifelsucht 111, 169 Suggestibilität 37 Suggestion 7, 36, 41, 43, 102, 118, 148, 211, 214, 216, 222, 238, 266, 303, 321 – Dauersuggestion 95 – Nervensuggestion 238 Symbol 105, 122–124, 126, 141, 219, 315, 343, 389, 451, 482, 498, 540 – Abendmahlsymbolik 189 – Lautsymbolik 206 – symbolisch 103 f., 123, 134, 147 f., 440, 532, 544 – symbolisieren 389 Symbolismus 42, 103–105, 107 f., 112, 122– 124, 126, 136, 139, 141 f., 147 f., 172, 174, 315, 389 f., 482, 485, 487, 535, 544 – Hauptsymbolist 125 – Symbolist 18, 42, 108–113, 117–119, 121– 126, 132–140, 142–144, 147 f., 165, 178, 199, 206, 228, 231, 237, 275, 298, 300, 308, 315, 482, 490, 496, 522 – symbolistisch 25, 27, 108, 112, 123 f., 137, 147–149, 463 Sympathie 270, 325, 330, 418, 540 – sympathisch 330 – Sympathiekur 210 Syndaktylie 28 Syphilis hereditaria tarda 352 Teufel 106, 129, 141, 147, 161–163, 172, 191, 218, 227, 279, 294, 298 f., 305, 350, 367, s.a. Diabolismus – Teufelei 450 – Teufelsdienst 91 – Teufelspielerei 104 – Teufelsverehrung 294 – teuflisch/(der) Teuflische 103, 279, 299, 354, 360 Theologie 32, 70, 85, 98, 116 f., 185, 356 f., 520 – katholisch-theologisch 299 – mystisch-theologisch 363 – Theologe 85, 87, 141, 149, 296, 360 – theologisch 86, 115, 156, 186, 355–358, 360, 363, 390 Tic 101, 236, 423 – Beschreibungstic 504 – Bewegungstic 76, Tobsucht 446 f., 450, 455 f., 520 – tobsüchtig/(der) Tobsüchtige 314, 409, 436 f., 443 f., 448, 455 f., 458, 460, 519

Sachregister

– Tobsüchtigenart 56 – Tobsuchtsvorstellung 456 Tollhäusler 34, 296, 381, 442 Tollheit 128, 164, 319, 542 Trepanation 58 Trichophobie 248 Trieb 7, 17, 29 f., 39, 81, 128, 130, 133, 150, 153 f., 158–160, 163, 171, 174, 178, 190– 192, 194, 196, 221 f., 264, 269 f., 286, 297, 299, 302, 310, 312–314, 316, 318, 325 f., 330 f., 333, 337, 348, 354 f., 367, 369, 386, 392, 401, 404–406, 409, 417 f., 420–422, 425–427, 431, 438 f., 459, 492 f., 515, 517, 529, 535, 542, 545–547 – Bemutterungstrieb 363 – Eitelkeitstrieb 319 – Entwicklungstrieb s. Entwicklung – Erbtrieb 81 – Erhaltungstrieb 41, 120 – Gattungstrieb s. Gattung – Geschlechtstrieb s. Geschlecht – Geschmackstrieb 27 – Gesellschaftstrieb s. Gesellschaft – Grausamkeitstrieb 438 – Grundtrieb 416 – Muttertrieb 405 – Nachahmungstrieb 27, 106, 321 – Schaffenstrieb s. Schaffen – Selbsterhaltungstrieb s. Selbsterhaltung – Sittlichkeitstrieb s. Sittlichkeit – Tiertrieb 407 – triebhaft 126, 160, 264, 286, 404, 458, 487, 534 – Urtrieb 418, 420, 439 – Zerstörungstrieb 393 – Zwangsantrieb s. Zwang Triptychon 19 Übermensch 35, 310, 413, 417 f., 422 f., 425, 429, 442, 445, 455 f., 458 f. – übermenschlich 136, 185, 192 Umwertung der/aller Werthe 415, 422, 424 f. Uneigennützigkeit s. Eigennutz u. s. Altruismus ungezieferhaft/Ungeziefer 42, 530, 548 Unsinn 116, 137, 139, 166, 176, 179, 183, 223, 276, 278, 334, 404, 432, 450, 519, 529, 538 – Hauptunsinn 378 – unsinnig/(das) Unsinnige 7, 36, 53, 67, 77, 87, 94, 99, 101, 117 f., 126, 152, 157, 161,

851

164, 169, 175, 179, 187, 189, 194, 196, 248, 263, 268, 271, 307, 316, 322, 343, 378, 404, 406, 432 – Unsinnigkeit 41, 284, 442 – Unterunsinn 378 Unter-Ich 404 Unzucht 106, 127, 163, 279, 299, 317, 330, 365, 369, 378, 409, 484, 488, 492, 498, 522, 549 – unzüchtig 16, 303, 329, 352 – Unzüchtigkeit 135, 356, 549 Unzurechnungsfähigkeit 114 – unzurechnungsfähig/(der) Unzurechnungsfähige 27, 133 Urteil 32, 35, 43, 52, 62–64, 67–69, 70, 74, 76, 78, 137, 158, 160, 170 f., 179, 197, 204, 222 f., 248, 251, 258, 297, 312–314, 321, 326, 328, 335, 354 f., 368, 398–400, 403 f., 428, 431, 438, 450, 459, 474, 491, 496, 500, 514, 532 f., 535, 545, 551 – beurteilen/Beurteiler/Beurteilung 7 f., 33, 35, 121, 130, 164, 168, 212, 278, 325, 348, 393, 457, 463, 487, 494, 529 – Geschmacksurteil 321 – urteilbildend 468 – urteilen/urteilend/(das) Urteilen 62 f., 137, 287, 340, 404, 439, 450, 459 – urteillos/Urteillosigkeit 213, 405, 522 – urteilsbar 163 – urteilsfähig/(der) Urteilsfähige/Urteilsfähigkeit 34, 69, 365, 497 – Urteilsfehler 319 – Urteilskraft 170, 353 – (der) Urteilsschwache 547 – Urteilstätigkeit 286 – Urteilszentrum 474 – Volksurteil 384 – Vorurteil 28, 89, 168, 213, 229, 283, 424, 425, 435, 549 – vorurteilsfrei/(der) Vorurteilsfreie 168 – vorurteilslos 212 Vaterland 212, 379, 445, 464 – vaterländisch 82 f., 230, 304 – Vaterlandsliebe 82, 211 Venedig 311, 479, 541 – venezianisch/Venezianer 86, 541 Verbrechen 16, 28 f., 51, 84, 106, 127 f., 133, 158, 167, 169, 171, 209, 223, 229, 264 f., 279, 282 f., 287 f., 293, 295 f., 298 f., 312,

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Sachregister

317, 320, 326 f., 330, 336, 361, 365 f., 369, 376, 384, 397–399, 405, 407, 409, 415, 420 f., 430, 434, 438, 441, 484, 492, 514, 518, 531, 545 f., 548 – Berufsverbrecher 127 – Dynamitverbrechen 317 – Sittlichkeitsverbrechen s. Verbrechen – Verbrecher 7, 28, 33 f., 41, 136, 147, 181, 259, 265 f., 270, 279, 293, 296, 313, 315, 326, 330, 348, 392 f., 405, 417, 420–422, 457, 459, 476, 483, 487, 546, 549 – Verbrecherbande 41, 521 – Verbrecherchronik 484 – Verbrechergestalt 487 – verbrecherisch/(das) Verbrecherische 102, 147, 223, 247, 265, 284, 289, 292, 299, 326, 329 f., 393, 395, 444, 457, 517, 547 – Verbrecherstatistik 477 – Verbrechertypus 476 – Verbrecherzeichen 357 Verrücktheit 8, 181, 214, 237, 380, 439, 446, 542, 544 – Halbverrückter 41 – verrückt/Verrückter 127, 130, 164, 168, 183, 206, 225, 230, 247, 299, 314, 316, 350, 381, 390, 423, 463, 485, 508, 543 Völkerdämmerung 14, 17, 31, 173 – Völkerdämmerungsästhetik s. Ästhetik Wahnsinn 27–29, 41, 51, 57, 124, 128, 139, 144, 164, 168, 171, 181, 184, 196 f., 199, 208 f., 215, 225, 229, 233, 260, 269, 291, 296, 298–300, 340, 350, 352 f., 356, 358, 410, 419, 422 f., 425, 442 f., 446, 455 f., 458, 486, 531, 542, 548 – Angstwahnsinn 225, 298, 455 – Belagerungswahnsinn 53 – Brandwahnsinn 248 – Caligula-Wahnsinn 269 – Cäsarenwahnsinn 403 – (Ein-)Kaufwahnsinn 38, 248 – Fluchwahnsinn 487 – Fragewahnsinn 453 – größenwahnsinnig/Größenwahn(sinn) 38, 53 f., 84, 138, 174, 197, 209, 229, 250, 262, 317, 352, 444, 453 f., 512, 524 – Grübelwahnsinn 248 – Halbwahnsinn/(der) Halbwahnsinnige 29, 31 – Lähmungswahnsinn 352 – Liebeswahnsinn 248, 439, 441

– Namenwahnsinn 248 – Protzenwahnsinn 291 – Rachewahnmotiv 199 – Saufwahnsinn 248 – Schreibwahnsinn 140 – Stehlwahnsinn 248 – Teilwahnsinn 247 – Verfolgungswahn(sinn)/verfolgungswahnsinnig/Verfolgungswahnvorstellung 54, 166, 174, 209, 218, 262, 311, 544, 550 – Verneinungswahnsinn 437, 483 – Wahn 217 – Wahngesicht 148 – wahnsinnig/(der) Wahnsinnige 7, 29, 34, 41, 47, 53, 72, 101, 125, 128, 130, 136, 169, 184, 207, 225 f., 228 f., 236, 249, 265, 282 f., 290, 296, 300, 316, 359, 377 f., 389, 411, 436, 442, 444, 446, 457, 463, 483, 487, 495, 522, 530, 544 f. – Wahnsinnselement 47 – Wahnsinnsschrifttum 393 – Wahnvorstellung 41, 174, 214, 218, 222, 248, 409, 449, 453, 542 – wahnwitzig/Wahnwitz/(das) Wahnwitzige 42, 197, 199, 276, 299 – Widerspruchswahnsinn 308, 436 – Wortwahnsinn 248, 487 – Zählwahnsinn 248 – Zerstörungswahnsinn 517 – Zweifelwahnsinn 248, 391, 455, 483, 530 Weltgeist 251 widernatürlich/Widernatürlichkeit 24, 103, 120, 163, 264, 293–295, 310, 438 f. Wille 64–67, 77, 81, 157, 164, 179, 187, 189, 192, 221, 248, 251, 255, 257, 263, 267, 274, 281, 313 f., 316, 335 f., 355, 359 f., 366 f., 376, 381 f., 384, 402, 405 f., 411, 413, 417 f., 429 f., 433 f., 442, 448, 450 f., 456–459, 483, 511, 533, 535, 545 – Lebenswille 157 – unwillig 130 – widerwillig/Widerwille 31, 83, 111, 282, 286 f., 331, 342, 492 – willenlos/Willenlosigkeit 31, 66 – Willensäußerung 284 – Willensenergie 382 – Willenserkrankung 442 – Willensfreiheit 376 – Willenshandlung 252, 254–258, 266, 290 – Willenskraft 187

Sachregister

– Willensorgan 439 – Willenspsychose s. Psychose – willensschwach/Willensschwäche 33, 41, 51, 66 f., 71, 74, 109, 229, 261–263, 312, 353, 367, 457, 529 – willensstark/(der) Willenstarke/Willensstärke 66, 355, 360 – Willenszentrum 263, 439 – willig 155 Willkür 17, 60, 82, 155, 277, 430, 524, 530 – unwillkürlich 23, 47, 76, 161, 197, 223, 307, 323, 332, 358, 368, 386, 446 – willkürlich/(das) Willkürliche 8, 13, 29, 32, 40, 47 f., 51, 66, 69, 77 f., 81, 85 f., 116, 119, 121, 124, 142, 144, 198, 200, 228, 256 f., 284, 301 f., 342, 354, 440, 483 Wolllust s. Lust Zeit passim – Zeitalter 7, 122, 138, 168, 320, 339, 351, 409, 458, 486 – Zeitbestrebung 54 – zeitbewegend/Zeitbewegung 174, 399 – Zeitentartung s. Entartung – Zeiterscheinung 13, 37, 432 – Zeitgeist s. Geist

853

– zeitgenössisch/Zeitgenosse 15, 21, 27, 35, 37, 40, 51 f., 84, 92–96, 98, 106, 134, 149, 151, 172 f., 185, 195, 197, 205, 215, 220, 223, 237 f., 249, 271, 279, 298 f., 338, 359, 398 f., 401, 430, 463, 470, 491, 496 f., 520, 534, 540 – Zeithysterie 207, 237, 433, 541 – Zeitkrankheit 45, 51, 543, 550 – Zeitstimmung 14 f., 18, 80, 82, 492 – Verfallszeit 289, 302 zirkulär/(der) Zirkuläre 129 f., 133 Zoophilie 209, 315 Zwang 18, 46, 84 f., 90, 125, 161, 230, 313, 318, 336, 348, 357, 376 f., 395, 414, 425, 429, 437, 493, 534 – Zwangsanregung 237 – Zwangsantrieb 225, 247 f., 261, 263, 265, 269 f., 282, 290, 301, 311, 326, 336, 366, 382, 405, 438 f., 487, 530, 545 f. – Zwangsbewegung 486 – Zwangsvorstellung 30, 41–43, 73, 76, 99, 131, 171 f., 185, 191, 210, 228, 234, 236 f., 247 f., 261, 294, 351, 356, 360, 365, 369, 371, 376, 381, 386, 390, 397, 437, 448, 455, 482

Dank Bei folgenden Kollegen und Freunden bedanke ich mich für Rat und Tat: Professor Dr. Wolfgang U. Eckart, Universität Heidelberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Professorin Dr. Susanne Enderwitz, Universität Heidelberg, Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients, (Islamwissenschaft) Professor Dr. Horst-Jürgen Gerigk, Universität Heidelberg, Slavisches Institut Professor Dr. Helmuth Kiesel, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Neuere deutsche Literaturwissenschaft Professor Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Neuere deutsche Literaturwissenschaft Professor Dr. Ludger Lieb, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Ältere deutsche Philologie / Mediävistik Professor Dr. Roland Reuß, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Editionswissenschaft und Textkritik Professor Dr. Jörg Riecke, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Germanistische Sprachwissenschaft Professor Dr. Helmut Schwier, Universität Heidelberg, Praktisch-Theologisches Seminar Professor Dr. Meinhard Tebben, Universität Oldenburg, Institut für Kunst und visuelle Kultur Professor Dr. Christof Weiand, Universität Heidelberg, Romanisches Seminar Professor Dr. Wolfram Pyta, Universität Stuttgart, Abteilung Neuere Geschichte

Das Editionsprojekt wurde begleitet von folgenden Wissenschaftlichen Hilfskräften, denen mein besonderer Dank gilt: Gregor Babelotzky, M.A., Germanistik und Editionsphilologie Moritz Barske, B.A., Germanistik und Romanistik Sascha Delbasteh, Student der Informatik Marc Kettler, M.A., Germanistik und Kunstgeschichte Timo A. Lehnert, Student der Germanistik und Geschichte Ralf Mende, B.A., Germanistik und Kunstgeschichte