Emscher 20 | 21+: Die neue Emscher kommt: Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft 9783868597998, 9783868597486

For a long time, the Emscher was Germany’s dirtiest river. Now, however, it runs clear again. This volume documents the

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Emscher 20 | 21+: Die neue Emscher kommt: Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft
 9783868597998, 9783868597486

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Editorial. Die neue Emscher kommt: Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft
Upgrade 21+ „Geschichte weiterbauen“: Der Kreis wird geschlossen. Architekturentwurf zur Arrondierung und Erweiterung der Hauptverwaltung der Emschergenossenschaft in Essen
Geschichte und Struktur
Doppelte Transformation: Vom montanindustriellen Abwasserkanal des 20. Jahrhunderts zur blaugrünen urbanen Flusslandschaft 21+
Panta rhei – Alles fließt, aber nichts darf den Bach runtergehen
Fluss der Versöhnung? Reflexionen zur Renaturierung der Emscher als Element der Vergangenheitsbewältigung des Ruhrgebiets
Die Emscher im Bild: Zwei Ausstellungen im Ruhr Museum und auf Zollverein
Konzepte und Formate für die Emscher
Die neue Emscher: Anstoß für die Modernisierung und Reskalierung der Infrastruktur im Ruhrgebiet
Transformationen 20 / 21+
Wandel und Transformation: Die prägende Kraft des Steinkohlenbergbaus für das Ruhrgebiet
Transformation eines Wasserwirtschaftsunternehmens für die Modellregion Emscher 21+. Von der Beseitigung wasserwirtschaftlicher Notstände über bergbauangepasste Entwässerungssysteme hin zu nachhaltigen Lebensräumen
Strategien und Projekte für die Wasserwirtschaft eines Ballungsraumes im 21. Jahrhundert
Roadmap „Hochwasserschutz“ aus historischem Anlass
Grüne Stadt – Impulse für eine neue Stadtentwicklung im Netz der Emscher-Zuflüsse
Die Emscher-Revitalisierung: Verbesserung der Ökosystemdienstleistungen durch grün-blaue Infrastruktur im Ruhrgebiet
Wasserwirtschaft 4.0 – Mit digitaler Technologie zu einem nachhaltigen Anlagebetrieb im Rahmen blau-grüner Infrastruktur
Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft
Die vierte Emscher-Mündung – Gestaltung von Landschaft in Zeiten des fortschreitenden Klimawandels
Soziale Folgen des Emscher-Umbaus: Besserstellung von sozial Benachteiligten oder Gentrifizierung?
Leben an der neuen Emscher. Sozialer Wandel in einer urbanen Flusslandschaft
Revitalisierung von Süßwasser-Ökosystemen im EU-Projekt MERLIN
Grüne Transformationsprozesse in der Emscher-Region. Ansätze einer wassersensiblen und klimagerechten Stadtund Raumentwicklung
Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscher-Raum
Von der Meidezone zur Open-Air-Galerie: Tourismus im Ruhrgebiet
Aufwachsen an der Emscher. Ungleiche Voraussetzungen für das subjektive Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen?
Der Emscher-Umbau als Public-Health-Intervention zur Verbesserung der Gesundheit
Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur
Fit werden im Kopf und in den Waden. Die Emscherkunst 2010 bis 2016 und ihre Fortführung als Emscherkunstweg
Die Anti-Documenta im Pott
Kunst und Natur im BernePark
Emscher als „Spiellandschaft“ der Ruhrtriennale
Gegen den Strich: Von alten Gewässern und neuer Ästhetik. Industrienatur in der Flusslandschaft Emscher
Regionale Perspektivprojekte: Städtebau und Landschaftsgestaltung Emscher 21+
Neue Stadtlandschaft PHOENIX in Dortmund
„Emscher nordwärts“ und der Dortmunder Zukunftsgarten zur Internationalen Gartenausstellung rund um die Kokerei Hansa
Kommentar. Ein Zukunftsgarten an der Emscher
Emscherland – Ein Natur- und Wasser-Erlebnis-Park als IGA-Zukunftsgarten
Der Fluss mit „unseren Gärten“. Zukunftsinsel mit Nordsternpark
Kommentar. Architekturwettbewerb Zukunftsinsel mit Nordsternpark
„Freiheit Emscher“ – Strukturwandel im letzten „Industrie-Dschungel“ der Emscher-Zone
Kommentar „Freiheit Emscher“ steht für Transformation
Kommentar Emscher 4.0 – Ein blau-grünes Zentrum als Scharnier
Emscher-Delta: Ingenieurwissenschaftliche Leistungsdaten für die wasserwirtschaftliche Neugestaltung in einer urbanen Region
Urbanität und Regionalität
Emscher-Kongress 2022
Keynote 1. Relevanz und Aktualität regionaler Zukunftspfade
Keynote 2. Die urbane Differenz des Ruhrgebiets
Keynote 3. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel
Formate und Allianzen international
Internationale Gartenausstellung Metropole Ruhr 2027
Kommentar Lösungsansätze für ein gutes Zusammenleben und ausgeglichene Lebensverhältnisse
Vorbemerkung. Vom „Nationalpark der Industriekultur“ zur „Industriellen Kulturlandschaft Ruhrgebiet“
Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet
Internationale Betreiberpartnerschaften zur Lösung globaler Wasserprobleme
Learning from: Transformation urbaner Wasserlandschaften im internationalen Vergleich
Die Emscher: Ein Transformationsprojekt von globaler Bedeutung
Die Emschergenossenschaft als regionale Entwicklungsakteurin
Fragen an Uli Paetzel
Literaturnachweise
Bildnachweise
Herausgeber
Impressum

Citation preview

Emscher

20  21 +

Die neue  E m s c h e r ko m m t _ Sozial-ökolo g i s c h e Umbau   e i n e r regio n a l e n   Stadtlan d s c h a f t

Herausgeber: Uli Paetzel Dieter Nellen Stefan Siedentop

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Inhalt

Uli Paetzel / Frank Dudda Vorwort ....................................................................................................................................................................... 08 Uli Paetzel / Dieter Nellen / Stefan Siedentop Editorial Die neue Emscher kommt: Sozial-ökologischer Umbau einer regionalen Stadtlandschaft

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Ruth Hanisch Upgrade 21+ „Geschichte weiterbauen“: Der Kreis wird geschlossen. Architekturentwurf zur Arrondierung und Erweiterung der Hauptverwaltung der Emschergenossenschaft in Essen

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Geschichte und Struktur Reiner Burger Doppelte Transformation: Vom montanindustriellen Abwasserkanal des 20. Jahrhunderts zur blaugrünen urbanen Flusslandschaft 21+ ............................................................................... 30 Ullrich Sierau Panta  rhei – Alles   fließt, aber nichts  darf den Bach runtergehen .............................................................. 40 Stefan Berger / Ute Eickelkamp Fluss der Versöhnung? Reflexionen zur Renaturierung der Emscher als Element der Vergangenheitsbewältigung des Ruhrgebiets .................................................................... 46 Heinrich Theodor Grütter Die Emscher im Bild: Zwei Ausstellungen im Ruhr Museum und auf Zollverein .................................................... 50 Dieter Nellen / Stephan Treuke Konzepte und Formate für die Emscher ........................................................................................... 54 Stefan Siedentop Die neue Emscher: Anstoß für die Modernisierung und Reskalierung der Infrastruktur im Ruhrgebiet ......................................................................................................................................................... 62

Transformationen 20 | 21+ Peter Schrimpf / Michael Kalthoff Wandel und Transformation: Die prägende Kraft des Steinkohlenbergbaus für das Ruhrgebiet ............................... 74 Emanuel Grün Transformation eines Wasserwirtschaftsunternehmens für die Modellregion Emscher 21+. Von der Beseitigung wasserwirtschaftlicher Notstände über bergbau­angepasste Entwässerungssysteme hin zu nachhaltigen Lebensräumen ........................................................................................................................................................ 78 Burkhard Teichgräber Strategien und Projekte für die Wasserwirtschaft eines Ballungsraumes im 21. Jahrhundert .............................................................................................................................................. 84

Friedhelm Pothoff Roadmap „Hochwasserschutz“ aus historischem Anlass .................................................... 92 Volker Lindner Grüne Stadt – Impulse für eine neue Stadtentwicklung im Netz der Emscher-Zuflüsse

...............

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Dietwald Gruehn Die Emscher-Revitalisierung: Verbesserung der Ökosystem­dienstleistungen durch grün-blaue Infrastruktur im Ruhrgebiet .......................................................................................... 100 Frank Obenaus / Heiko Althoff Wasserwirtschaft 4.0 – Mit digitaler Technologie zu einem nachhaltigen Anlagebetrieb im Rahmen blau-grüner Infrastruktur ............................................................................................... 104

Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft Wolfram Höfer Die vierte Emscher-Mündung – Gestaltung von Landschaft in Zeiten des fortschreitenden Klimawandels ........................................................................................................................................................ 120 Christian Gerten / Stefan Siedentop / Sabine Weck Soziale Folgen des Emscher-Umbaus: Besserstellung von sozial Benachteiligten oder Gentrifizierung?

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David Lehmkuhl / Jörg-Peter Schräpler Leben an der neuen Emscher. Sozialer Wandel in einer urbanen Flusslandschaft .................................................................. 136 Nadine Gerner / Sebastian Birk Revitalisierung von Süßwasser-Ökosystemen im EU-Projekt MERLIN

..................

140

Stephan Treuke Grüne Transformationsprozesse in der Emscher-Region. Ansätze einer wassersensiblen und klimagerechten Stadtund Raumentwicklung ................................................................................................................................... 144

Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscher-Raum Delia Bösch Von der Meidezone zur Open-Air-Galerie: Tourismus im Ruhrgebiet .............................................................................................................................. 166 Vanessa Gaffron / Katharina Knüttel / Sören Petermann / Till Stefes Aufwachsen an der Emscher. Ungleiche Voraussetzungen für das subjektive Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen? ............................................................................................................... 172 Susanne Moebus / Robynne Sutcliffe Der Emscher-Umbau als Public-Health-Intervention zur Verbesserung der Gesundheit ......................................................................................................... 176

Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur Bettina Jäger Fit werden im Kopf und in den Waden. Die Emscherkunst 2010 bis 2016 und ihre Fortführung als Emscherkunstweg .................................................................................................................................... 184 Florian Matzner Die Anti-Documenta im Pott .................................................................................................................... 192 Frank Maier-Solgk Kunst und Natur im BernePark ................................................................................................................ 196 Dieter Nellen Emscher als „Spiellandschaft“ der Ruhrtriennale ................................................................... 202 Pia Eiringhaus Gegen den Strich: Von alten Gewässern und neuer Ästhetik. Industrienatur in der Flusslandschaft Emscher ....................................................................... 208

Regionale Perspektivprojekte: Städtebau und Landschaftsgestaltung Emscher 21+ Oliver Volmerich Neue Stadtlandschaft PHOENIX in Dortmund ........................................................................ 224 Susanne Linnebach „Emscher nordwärts“ und der Dortmunder Zukunftsgarten zur Internationalen Gartenausstellung rund um die Kokerei Hansa ................................ 228 Gerd Aufmkolk Kommentar Ein Zukunftsgarten an der Emscher .............................................................................................. 234 Martina Oldengott Emscherland – Ein Natur- und Wasser-Erlebnis-Park als IGA-Zukunftsgarten .................................. 238 Christoph Heidenreich / Christoph Prinz Der Fluss mit „unseren Gärten“. Zukunftsinsel mit Nordsternpark ......................................................................................................... 244 Ina Bimberg Kommentar Architekturwettbewerb Zukunftsinsel mit Nordsternpark ......................................... 248 Martin Harter / Bernd Tischler „Freiheit Emscher“ – Strukturwandel im letzten „Industrie-Dschungel“ der Emscher-Zone .................. 250 Alexa Waldow-Stahm Kommentar „Freiheit Emscher“ steht für Transformation ........................................................................ 254 Andreas Kipar Kommentar Emscher 4.0 – Ein blau-grünes Zentrum als Scharnier ...................................................................................... 258 Norbert Stratemeier Emscher-Delta: Ingenieurwissenschaftliche Leistungsdaten für die wasserwirtschaftliche Neugestaltung in einer urbanen Region ................................. 260

Urbanität und Regionalität Emscher-Kongress 2022 .............................................................................................................................. 268 Christa Reicher Keynote 1 Relevanz und Aktualität regionaler Zukunftspfade Heinz Bude Keynote 2 Die urbane Differenz des Ruhrgebiets

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270

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Julian Petrin Keynote 3 Nach dem  Spiel ist vor dem   Spiel .................................................................................................... 276

Formate und Allianzen international Martina Oldengott Internationale Gartenausstellung Metropole Ruhr 2027 .................................................. 280 Karola Geiß-Netthöfel Kommentar Lösungsansätze für ein  gutes Zusammenleben und ausgeglichene Lebensverhältnisse ................................................................................................. 288 Dieter Nellen Vorbemerkung Vom „Nationalpark der Industriekultur“ zur „Industriellen Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ ........................................................................... 290 Ursula Mehrfeld / Marita Pfeiffer Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet ....................................................................................... 292 Emanuel Grün / Sven Lyko / Frank Obenaus Internationale Betreiberpartnerschaften zur Lösung globaler Wasserprobleme ........................................................................................................................... 296 Antje Stokman Learning from: Transformation urbaner Wasserlandschaften im internationalen Vergleich .................................................................................................................... 300 Christoph Zöpel Die Emscher: Ein Transformationsprojekt von globaler Bedeutung .......................................................... 306

Die Emschergenossenschaft als regionale Entwicklungsakteurin Dieter Nellen / Friedhelm Pothoff Fragen an Uli Paetzel ..................................................................................................................................... 312

Literaturnachweise ......................................................................................................................................... 322 Bildnachweise ...................................................................................................................................................... 324 Herausgeber ......................................................................................................................................................... 326 Impressum .............................................................................................................................................................. 327

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Einleitung

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Umbau des Klärwerks Emschermündung in Dinslaken

Vorwort

| Uli Paetzel, Frank Dudda

Zentraler Fluss des Ruhrgebiets Der französische Philosoph Voltaire beschrieb in seiner Novelle Candide Westfalen einst mit leichtem Augenzwinkern als das „herrlich, friedliche Paradies auf Erden“ und setzte sich dabei mit der Theorie der „besten aller Welten“ auseinander. Alle Makel ließen sich demnach erklären. Vielleicht ließe sich das Schicksal unserer Emscher als Schmutzwasserableitung ebenfalls mit ihrer Existenz und Lage als zentraler Fluss des Ruhrgebiets begründen. Genau als das, als ein Fluss, wurde die Emscher in den vergangenen Jahrzehnten allerdings kaum wahrgenommen. Vielmehr bezeichnete man sie als Kloake, Köttelbecke oder Kanal. Dieses Bild verändert sich nun. Die Emscher ist abwasserfrei. Das war die Nachricht zum Jahresende 2021 mit einer Tragweite enormer Bedeutung für die gesamte Region. Sie steht für Veränderung und für Aufbruch. Sie steht für die Chance, blau-grünes Leben neu zu denken und zu entwickeln in einem industriell geprägten Ballungsraum, der in Größe und Art in Europa seinesgleichen sucht. Über 2,4 Millionen Menschen leben im Einzugsbereich der Emschergenossenschaft, deren Geschichte am 14. Dezember 1899 begann. Ihrer Taufe, und damit dem Zusammenschluss für Kommunen, Bergbau und Industrie unter einem Dach, lag eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe zugrunde. Es musste den Belastungen des Gewässers Einhalt geboten werden, um die aus ihnen resultierenden Krankheiten wie Typhus und Cholera einzudämmen. Entsprechend war der Bau eines offen geführten Schmutzwasserlaufes damals nicht nur eine bautechnische Meisterleistung, sondern auch eine gesundheitspolitische Notwendigkeit. Der Gestank, den der „Fluss“ saisonal aufkommen ließ, belastete das Image der Region bis zuletzt. Den Fluss und seine Nebenläufe den Menschen zurückgeben Damit aber ist nun Schluss. Drei Jahrzehnte währte der technische Umbau der Emscher. Ihm diente mit dem „Seseke“-Projekt im Gebiet des geschwisterlichen Lippeverbandes eine landschaftliche Wandlung im Kleinen als vorlaufende Umsetzung. Parallel veränderte sich auch das Revier. Von einem „Pulsschlag“ aus Stahl redet kaum noch jemand, trotz der weiterhin hohen Bedeutung der Produktionsstandorte insgesamt. Der Bergbau gehört nach der Schließung der letzten Zeche in Bottrop Ende 2018 zwar noch zu einem Teil unserer Geschichte, prägt aber nur noch in vereinzelten Wahrzeichen unsere Landschaft. Der Trend ist unverkennbar: Die Emscher-Zone muss und will in weiten Teilen für etwas Neues stehen, sie will geformt werden, um zukunftsfähig und eine Region der Möglichkeiten für heutige und künftige Generationen zu sein. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das ist eine zentrale Aufgabe, der wir uns als Emschergenossenschaft verschrieben haben. Wir engagieren uns bei der sozial-ökologischen Transformation der Region. Wir haben dafür durch die Vollendung dieses größten europäischen Infrastrukturprojekts der vergangenen 30 Jahre die wesentliche Grundlage geschaffen. Nun geben wir den Fluss und seine Nebenläufe den Menschen zurück. Die Voraussetzung für das Ausbilden einer neuen Lebensqualität an den Gewässern zwischen Holzwickede und Dinslaken/Voerde, also zwischen Quelle und Mündung, ist dabei die Fertigstellung des unterirdischen und verrohrten Abwasserkanals. Dafür entstanden begleitend vier dezentrale Kläranlagen und u.a. drei große Pumpwerke. 438 Kilometer Abwasserkanäle wurden neu verlegt und Gewässer auf 170 Kilometern bereits renaturiert. Blau-grüne Zukunft mit Nachhaltigkeit und Klimaschutz Daraus ergibt sich für die Emschergenossenschaft ein Botschaftenwechsel, wenngleich wir bleiben, was wir sind: ein öffentlich-rechtliches Wasserwirtschaftsunternehmen, das effizient Aufgaben für das Gemeinwohl der Menschen

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Einleitung

unserer Region durch nachhaltige Verfahren erbringt und als Leitidee des eigenen Handelns das Genossenschaftsprinzip lebt. Das ist unsere DNA! Aber aus ihr heraus und in enger Zusammenarbeit mit unseren Mitgliedern und den Menschen, die im Emscher-Gebiet leben, wollen wir die Zukunft gestalten und mit blau­ grünem Leben füllen. Wir schaffen durch weitere ökologische Verbesserungen am Fluss neue Freizeiträume, in denen Natur erlebbar wird. Wir bauen unser eigenes Wegenetz in enger Abstimmung mit unseren Partnern weiter aus – und helfen an vielen Stellen auch als Dienstleister den Kommunen dabei, die Region lebenswerter zu gestalten. Dabei geht es zentral um Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Seit Jahren schon werden auf vielen Ebenen große Anstrengungen unternommen. Wir sind den Menschen, der Region und der Veränderung selbst verpflichtet. Wir sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und stehen dafür ein, dass Verantwortung zum Schutz des Klimas und der Umwelt zu übernehmen nicht nur ein Lippenbekenntnis sein darf. Die Zukunftsinitiative „Klima.Werk“, die wir gemeinsam mit den Kommunen gründeten, ist ein wichtiger Baustein dafür. Die Initiative setzt eine Vision um und formt aus hochverdichteten „Pflasterlandschaften“ in Städten und Gemeinden neue „Schwammstädte“. So begegnen wir planerisch den zunehmenden Starkregenereignissen wie Hitzewellen auch an dieser Stelle wirksam und schaffen zudem wertvolle blau-grüne Infrastruktur.

Prof. Dr. Uli Paetzel Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband sowie Präsident der DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall)

Dr. Frank Dudda Ratsvorsitzender Emschergenossenschaft, Vorsitzender der Verbandsversammlung im Regionalverband Ruhr (RVR), Oberbürgermeister der Stadt Herne

Die neue Ems c h e kommt un d w i r freuen uns   d a r a u

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.

Der Oberlauf der Emscher und ihre Nebenläufe etwa sind in Dortmund bereits seit 2010 auf einer Länge von 24 Kilometern abwasserfrei – und heute renaturiert. Im Herbst 2015 konnten wir in diesem Bereich erstmals wieder die Bachforelle nachweisen. Viel Neues entsteht an der Mündung in den Rhein bei Dinslaken/Voerde. Zukünftig wird sich der Fluss rund 500 Meter weiter nördlich in eine über 20 Hektar große Auenlandschaft ausbreiten, die einen natürlicheren Austausch der Fische zwischen Emscher und Rhein ermöglicht. Die neue Mündung wird einen von vielen ökologischen Schwerpunkten bilden – Orte, an denen die Emscher genügend Platz haben wird, um sich frei zu entfalten. Unser Ziel ist die Bildung von Auenlandschaften, die sich optisch idyllisch in die Landschaft einfügen und sie aufwerten. Die Revitalisierung der Flusslandschaften bietet zudem großartige Chancen zur Aufwertung der Quartiere und zur Steigerung der Lebens- und der Gesundheitsqualität. Strukturelle und städtebauliche Wandlung Die Grundlage für diese strukturelle und städtebauliche Wandlung im Herzen des Reviers bildet die Arbeit der Emschergenossenschaft, die ja deutlich umfassender ist als nur die Abwasserbeseitigung nach der Maßgabe des Landeswassergesetzes. Eine dieser Aufgaben hat seit dem 14./15. Juli 2021, also seit der Flutkatastrophe, die Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz traf, zudem eine völlig neue Wertigkeit in der Öffentlichkeit erhalten: der Hochwasserschutz. Dazu zählt neben der traditionellen Polderbewirtschaftung besonders der Deichschutz. Wir sind uns auch hier unserer verantwortungsvollen Rolle für den Schutz der Bevölkerung in unserer Region bewusst und setzen Vorsorge in verlässlicher Partnerschaft mit unseren Mitgliedern um. Die neue blau-grüne Verbindung zwischen dem Rheinland und Westfalen steuert also in den kommenden Jahren auf das zu, was Voltaire vielleicht mit seiner Beschreibung Westfalens als das „Paradies auf Erden“ meinte. Für die Flora und Fauna an den Ufern der lange geschundenen Emscher trifft dies mit Sicherheit zu: Für sie ist das veränderte Emscherland garantiert und seit vielen Jahrhunderten die beste aller Welten. Die neue Emscher kommt und wir freuen uns darauf.

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Einleitung

Emscher am Phoenix-See, Dortmund-Hörde

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Einleitung

Hochwasserrückhaltebecken Emscher-Auen, Dortmund/Castrop-Rauxel

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Die neue  E m s c h e r ko m m t _ Sozial-ökolo g i s c h e Umbau   e i n e r regio n a l e n   Stadtlan d s c h a f t

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Einleitung

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Editorial

Emscher am Phoenix-See, Dortmund-Hörde

Uli Paetzel, Dieter Nellen, Stefan Siedentop

D 

ie Emscher durchfließt das nördliche Ruhrgebiet über eine Gesamtlänge von 81 Kilometern. Ihre Quelle liegt in Holzwickede, östlich von Dortmund, ihre Mündung in den Rhein – mehrmals verlegt und jetzt zu einer mäandrierenden Auenlandschaft formiert – bei Dinslaken und Voerde am westlichen Niederrhein. Inzwischen gewinnt der Fluss nach seiner langen rabiaten Inanspruchnahme für die industrielle Abwasserentsorgung eine naturnahe Gestalt zurück. Er ist am Oberlauf aus seinem Betonkorsett befreit und führt kein verunreinigtes Wasser mehr. Der Wasserlauf folgt mehr und mehr den eigenen Gesetzen, wird langsamer, „natürlicher“ und anmutiger. Über ein Kanalsystem (AKE – Abwasserkanal Emscher) im mittlerweile bergsenkungsfreien Revier, wird nun das Abwasser aus Privathaushalten und Gewerbebetrieben parallel zur Emscher unterirdisch geführt. Vier moderne Kläranlagen in Dortmund-Deusen, Bottrop, Duisburg und Dinslaken reihen sich wie an einer Perlenschnur entlang des gesundenden Flusses. Es sind funktionale Meisterwerke der Ingenieurskunst ohne architektonische Dominanz. Somit ist der hydrologische Teil dieser großmaßstäblichen Intervention als nachholende Entwicklung fast abgeschlossen. Der im europäischen Vergleich überfälligen Trennung von Fließ- und Abwasser folgen nun die ökologische Aufwertung und landschaftliche Verknüpfung sowie die Schöpfung städtebaulicher und stadtwirtschaftlicher Synergien. Der große baulich-technische Eingriff mit oberirdischer Kanalisierung und stellenweise untertägiger Verrohrung war zu Beginn des Industriezeitalters eine Operation zugunsten von Hygiene, Gesundheit und Entsorgungseffizienz: Die Fließgeschwindigkeit des abgeführten Schmutzwassers sollte sich erhöhen, Schutz vor krankheitsfördernder Überflutung und Verunreinigung bieten. Die jüngste Intervention, der wasserwirtschaftlich-ökologische Emscher-Umbau, hat Ende des 20. Jahrhunderts (1992) begonnen, beschert nun die sogenannte Abwasserfreiheit und dürfte zum Ende dieses Jahrzehnts (2030) mit allen Revitalisierungsmaßnahmen abgeschlossen sein. Das Ganze ist, ähnlich wie die ingenieurtechnische Begradigung, Eindeichung und Betonierung vor einem Jahrhundert, erneut eine Maßnahme im Zeichen des Anthropozäns, also der raumgreifenden Umformung von Landschaft und Natur durch Menschenhand. Parallel hat die Phase der städtebaulichen Konversion mit der Ausprägung einer neuen Stadt- und Parklandschaft – besonders eindrucksvoll schon in Dortmund-Hörde bei PHOENIX mit See und Park zu besichtigen – seit Längerem begonnen. Sie wird nach Westen bis zur Mündung entlang der Emscher voranschreiten. Eine solche Transformation wurde noch in den 1980er Jahren von verantwortlicher Seite wegen der zu hohen Kosten als nicht realisierbar dar­ ge­stellt. Doch der Rückzug des Bergbaus, sein ökonomischer, industrieller und finanzieller Bedeutungsverlust, ermöglichte die räumliche, städtebauliche und ökologische Neuformation in einem Raum mit 2,2 Millionen Menschen, für die die Emscher lange Zeit neben den unbestrittenen Vorzügen des industriellen Wohlstandes zugleich immer dessen ökologische und atmosphärischen Schattenseiten bereithielt. Manchen gilt die revitalisierte Emscher inzwischen als „Fluss der Versöhnung“, als „Element der Wiedergutmachung“ (Stefan Berger). Die erhebliche Investition von über 5,5 Milliarden Euro tragen inzwischen zu rund 80 Prozent die Anliegergemeinden, also die Allgemeinheit, und zum kleineren Teil die gewerblichen Beitragszahler im Emscher-Raum. Angesichts der konzeptionellen, finanziellen und baulichen Dimensionen wird von einer „Jahrhunderttransformation“, von einem Prozess sowohl selbstinduzierter als auch rahmenrechtlich verordneter Innovation gesprochen. Mit dieser hatte die Emschergenossenschaft – 1899 als operatives „Entsorgungsorgan” des Bergbaus und der Kommunen gegründet und seitdem von diesem Verbund mitgetragen –

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Kreis Wesel Gelsenkirchen Ober- Bottrop hausen Duisburg Essen

Mülheim a.d.Ruhr

0

10 km

zeit­gleich zur Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) angefangen. Die IBA hatte sich aus demselben Geist von Aufbruch und Erneuerung 1988/89 auf Initiative der Landesregierung NRW zur „ökologischen und ökonomischen Erneuerung des nördlichen Ruhrgebiets“ konstituiert und über eine ganze Dekade als stimulierendes Element gegenüber den regionalen Akteuren gewirkt. Folgerichtig gab es gerade in den Anfangsjahren einen regen Austausch zwischen IBA und Emschergenossenschaft zum gegenseitigen Nutzen. Die Emscher und ihre „Nebengewässer“ Der Jahrhundertumbau umfasst aber nicht nur das lineare Band der Emscher, sondern genauso das – räumlich immer noch unterschätzte – System der 35 Neben- und Zuflüsse mit einer Gesamtlänge von ca. 328 Kilometern. Diese

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Einleitung

Kreis Recklinghausen

Herne

Dortmund Kreis Unna

Bochum

EnnepeRuhr-Kreis

0

10 km

Bäche bzw. Vorfluter gelten nach ihrer zumindest stellenweisen Revitalisierung und räumlichen Öffnung zu Recht als städtebauliches, soziales und ökonomisches Entwicklungs- und Begabungsgebiet für die Region. Rund ein Drittel davon ist inzwischen ökologisch aufgewertet, der größere Teil folgt bis 2028. Der Fluss und seine Zuflüsse verlieren ihre rein entsorgende Funktion, die ab dann der unterirdische Kanal übernimmt. Die Trennung von Fluss- und Abwasser schafft die Voraussetzung für die ökologische und städtebauliche Option einer neuen blau-grünen Fluss- und Stadtlandschaft 21+ im Ruhrgebiet. Das „Neue Emschertal“, bereits 2006 von der Emschergenossenschaft als regionales Entwicklungsziel ausgerufen, holt damit landschaftlich gegenüber den als attraktiver bewerteten Flussbändern der Ruhr im Süden und der Lippe im Norden der Region auf. Die Disparitäten insbesondere zur Hellwegzone

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als alter und neuer Entwicklungsachse des Landes NRW mit den dort womöglich sogar ausdrücklich gewünschten Urbanitätsvorsprüngen ebnen sich etwas ein. In einer so stark industriell überformten Region wie der Metropole Ruhr steht Landschaftsentwicklung ohne Frage immer auch in einem strukturpolitischen Kontext. Transformation, Landschaft und Städtebau zugunsten eines neuen regionalen Entwicklungsbandes Die Herstellung postindustrieller Landschafts- und Stadträume betrifft insgesamt die zahlreichen Brachen, Areale und industriellen Hinterlassenschaften, die den Fluss und sein System auf ganzer Länge umgeben. Die stadträumlichen und landschaftlichen Potenziale von Konversion sind dabei auch in anderen Agglomerationen konzeptionelles Gemeingut von Stadt- und Regionalerneuerung: „Mitten in den Städten, an abrupten Bruchkanten zwischen städtischen Agglomeratio­ nen, Landschaft, Verkehrs-, Industrie- und Hafenarealen liegen aufregende Stadträume: Metrozonen, die wichtigsten Potenziale nachhaltiger Stadtentwicklung, Bereiche, in denen sich die innere Stadt und die volle Dynamik der Metropole und ihrer Menschen- und Güterströme entfaltet – in einer ganz eigenen Sprache. Derzeit eröffnen sich an vielen dieser Schauplätze neue Möglichkeitsräume für innovative und nachhaltige Strategien der Stadtentwicklung: Projekte, die […] eine neue Qualität von Stadtraum schaffen – keine Vorstadtidyllen, sondern kraftvolle und lebendige Räume, die ein neues Stück Stadt in der Stadt schaffen“ (IBA Hamburg 2013). Die großen deutschen bzw. europäischen Flüsse wie Rhein, Donau, Main, Spree, Weser und Elbe haben über Jahrhunderte die Gestalt und Entwicklung ihrer städtischen Anrainer geprägt. Die heute dort nicht mehr gewerblich benötigten Uferflächen eröffnen Chancen für die Rückkehr des Flusses als erlebbarer Stadt- und Landschaftsraum, für zeitgemäßes Leben und Arbeiten in neuen Quartieren. Bescheidener, aber auf ihre Weise durchaus prägend, beflügelt die „neue Emscher“ die Stadt- und Regionalentwicklung im nördlichen Ruhrgebiet. So profitiert auch die für 2027 geplante Internationale Gartenausstellung (IGA) Metropole Ruhr, deren Zukunfts- und Leitareale an Emscher (Dortmund, Gelsenkirchen, Dinslaken/Voerde), Lippe (Bergkamen/Lünen) und in geografisch weiterer, aber themennaher Nachbarschaft des Emscher Landschaftsparks in Duisburg (-Hochfeld) liegen. Perspektivprojekte des transmontanen Landschaftswandels konstituieren sich mit dem IGA-Zukunftsgarten „Emscher nordwärts“ (2027) in Dortmund, dem nördlich anschließenden Wasser- und Erlebnispark Emscherland als interkommunalem Projekt (Castrop-Rauxel, Recklinghausen, Herne, Herten) oder der „Freiheit Emscher“, einer metrozonalen Konversion im Stadtraum zwischen Essen und Bottrop. Ein Zukunftsstandort wie der Nordsternpark Gelsenkirchen (Bundesgartenschau/BUGA 1997) aus dem Erbe der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park soll ein zeitgemäßes Upgrade erhalten und um eine sogenannte „Zukunftsinsel“ erweitert werden. Die dazu notwendigen städtebaulichen und freiraumbezogenen Gestaltungswettbewerbe sind längst abgeschlossen und liefern nun die überfällige Blaupause für neue Adressen, Quartiere und Räume (Kap. 11), realisiert spätestens zum eigentlichen IGA-Ereignisjahr 2027. Alle Perspektivprojekte entspringen zunächst jeweils der kommunalen Stadtentwicklungspolitik. Die neue Emscher bietet jedoch das Potenzial zur Verbindung dieser Projekte zu einer gemeinsamen Raumstrategie – ein Entwicklungsband mit starker Netzwirkung im nördlichen Ruhrgebiet. Angesichts der kommenden großen Herausforderungen ist dieses regionale Denken und Handeln von grundsätzlicher Bedeutung für die Entwicklung unserer Region. Zu Recht formuliert die „Neue Leipzig Charta 2020“ als Leitdokument für eine zeitgemäße Stadtpolitik in Deutschland und Europa: „Eine nachhaltige widerstandsfähige Stadtentwicklung ist eingebettet in den weiteren Kontext einer Region oder von Metropolräumen und beruht auf einem komplexen Netzwerk funktionaler Abhängigkeiten und Partnerschaften.“ Interventionen und transformative Investitionen zugunsten urbaner Quartiere, landschaftlicher Areale und Infrastruktursysteme stehen in der Metropole Ruhr unverändert auf der regionalen Agenda. Deren Gestaltung zielt dabei noch stärker auf eine integrative Verzahnung von blau-grüner Infrastrukturentwicklung und städtebaulicher Aufwertung. Der Wandel reicht also inzwischen über die rein wasserwirtschaftliche und landschaftsgestalterische Dimension hinaus und gewinnt Qualitäten mit sozialökologischer Bedeutung für die gesamte

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Einleitung

Klärwerk Emschermündung in Dinslaken

Region. Ob damit zugleich Gentrifizierungsprozesse als Folge öffentlicher Interventionen einhergehen oder diese vielleicht sogar zugunsten gesamträumlicher sozialer Differenzierung ausdrücklich erwünscht sind, ist eine Frage, die in dieser Publikation, vielleicht erstmals, wissenschaftlich diskutiert wird. Blau-grüne Infrastruktur Bei den großen Anstrengungen, die zur Überwindung der Verwerfungen im Rahmen des Strukturwandels im Revier unternommen wurden, spielten neben ökonomischen und kulturellen insbesondere ökologische Aspekte eine zentrale Rolle. Ziel war es, ein Netz von blau-grüner Infrastruktur zu entwickeln, von dem vielfältige positive Effekte für die Region erwartet wurden. Anstelle vom „Emscher Landschaftspark“ (ELP) als bisher geläufigem räumlichen Entwicklungsbegriff sprechen die regionalen Akteure inzwischen von der „Grünen Stadtlandschaft“. Der Dreiklang, die Versöhnung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem, soll dabei erhalten bleiben. Diese Logik spiegelt sich auch in der von der EU veranlassten Bio­ diversitätsstrategie „Grüne Infrastruktur“ wider und ist zudem inzwischen wichtiger Bestandteil der von der Landesregierung NRW (2017–2022) ausgerufenen Ruhrkonferenz. Dort wurde gemeinsam mit den Kommunen im Ruhrgebiet ein umfassendes Programm zur Klimafolgenanpassung entwickelt. Mit Blick auf die Klimaprognosen steht fest: Bis 2100 müssen sich unsere Städte völlig verändern, muss mehr Platz für Blau und Grün vorhanden sein. Mit dem Gemeinschafts­

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projekt und der Serviceorganisation der Zukunftsinitiative „Klimawerk“ im Hause der Emschergenossenschaft macht sich das Ruhrgebiet auf den Weg, diesen Transformationsprozess einzuleiten. Dazu sollen zum Beispiel im Gebäudebestand Gründächer und Fassadenbegrünungen nachgerüstet werden, befestigte Flächen entsiegelt, Versickerungsmöglichkeiten geschaffen und Baumrigolen gebaut werden. Ziel ist es, mindestens 25 Prozent des Regenwassers nicht mehr in die Kanalisation einzuleiten und die Verdunstung um 10 Prozentpunkte zu erhöhen, um für zusätzliche Abkühlung des Mikroklimas zu sorgen. Dazu stehen bis 2030 insgesamt rund 250 Millionen Euro an Fördermitteln zur Verfügung. Emscher: Zeugin der Beziehung von Mensch und Natur Mit dem Beginn der industriellen Revolution in unserer Region begann auch die Geschichte der industriell genutzten Emscher. Ohne die Möglichkeit der schnellen und hygienischen Ableitung der anfallenden Abwässer wären die dichte Besiedlung, die Förderung von Kohle und die Produktion von Stahl nicht möglich gewesen. Vor diesem Hintergrund ist aus heutiger Sicht plausibel, den ersten Umbau des Flusses als Ausdruck einer kapitalistischen Nutzbarmachung zu lesen. Eine Revitalisierung ist dann auf den ersten Blick die Umkehr der begangenen Umweltzerstörung. Sie ist scheinbar eine Rückkehr zu einem Urzustand, die die Folgen der Ausbeutung der Natur heilen möchte. Doch dieser Schluss ist zu kurz gedacht. Vielmehr bieten auch der aktuelle Emscher-Umbau und die damit einhergehenden Maßnahmen zur Erschließung und Erlebbarmachung einerseits und zur ökologischen Aufwertung andererseits Anlass zur Reflexion nach Vorbild einer kritischen Gesellschaftstheorie, die zum Beispiel in der Tradition des deutschen Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno (1903–1969) nach Ambivalenzen und Widersprüchen in aktuellen Vorstellungen von Umwelt und Natur sucht – ein Unterfangen, das sich wohl nur als avantgardistischer Weg einer radikalen Moderne beschreiben lässt. Welche Vorstellungen weckt der Begriff der Revitalisierung in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger? Was sagen diese Vorstellungen über aktuelle Diskurse in unserer Gesellschaft aus? Wie wirkt die soziale Konstruktion des Naturbegriffs auf die eigenen Planungen und die Bewertung des Emscher-Umbaus? Wo lassen sich Spannungsfelder zwischen den Vorstellungen finden? Strategie und Kommunikation Spätestens in der zweiten Hälfte der Emscher-Transformation 20 | 21+ wurde der gesamte Prozess erneuernder Retroversion durch einen fundierten Konzeptions-, Publikations- und Veranstaltungsrahmen unterlegt, beginnend mit dem Masterplan „Emscher-Zukunft – Das neue Emschertal“ (2006) und konsekutiv flankiert durch zahlreiche multilaterale Formate (Ruhrtriennale, Extraschicht, Urbane Künste, Emscherkunst – jetzt Emscherkunstweg –, Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet / Industrial Landscape Ruhr) der regionalen Kultur-, Erinnerungs- und Tourismuspolitik. Die gegenüber vergleichbaren Verbänden nicht selbstverständliche Kontinuität und Systematik in der verbindenden Planungs-, Kommunikations- und Handlungsstrategie hat sich als zielführend erwiesen und der Emschergenossenschaft ein neues institutionelles Image ermöglicht. Die selbstbewusste Eigenmodernisierung schützte im Übrigen auch vor den zur Jahrhundert­wende 2020/21 virulenten Debatten bzw. Dekonstruktionsversuchen bei der Governance an der Ruhr. Die mit einem gleichermaßen nüchternen wie unverzichtbaren Zweckauftrag versehenen Wasserverbände waren zu keinem Zeitpunkt in ihrem Status berührt. Sie bleiben dank ihres stabilen Finanzsystems starke Partner für Daseinsvorsorge und sozio-ökologische Transformation in der Region. Mit Eigenmitteln, Personal, Ortsnähe und administrativer Erfahrung sind sie dem Land NRW vertrauensvolle Partner vor allem bei der Umsetzung einschlägiger EU-Regionalprogramme. Die Neuausrichtung der Emschergenossenschaft erfolgte also in den vergangenen Dekaden auf allen Ebenen: zunächst und stets vorrangig baulich und infrastrukturell, aber genauso mental, konzeptionell, kulturell und kommunikativ. Am Ende dieses Prozesses ist dem Wasserverband eine mehrdimensionale Konversion mit hoher Vertrauensbildung in den Gesamtraum der Metropole Ruhr und darüber hinaus geglückt. Der Verband hat das Selbstverständnis, dem Genossenschaftsgedanken folgend, die Entwicklung der Region voranzutreiben,

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Einleitung

Prof. Dr. Uli Paetzel ist Vorstandsvorsitzender von Emschergenossen­ schaft und Lippeverband sowie Präsident der DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall)

Dr. Dieter Nellen war bis 2014 Fachbereichsleiter beim Regionalverband Ruhr und ist jetzt freier Berater und Publizist.

Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop ist wissenschaftlicher Direktor des ILS (Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung) und Professor an der Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund.

die Lebensqualität im Revier zu erhöhen. Er steht als technisch-infrastruktureller Dienstleister fest an der Seite der Kommunen, unterstützt und vernetzt relevante Akteure bei der Bewältigung dringender Zukunftsaufgaben. Auch die äußere Adresse konditioniert sich in den nächsten Jahren sichtbar: Nicht zufällig plant die Emschergenossenschaft an ihrem zentralen Standort in Essen eine auch architektonische, bauliche und technische Arrondierung, ein Upgrade 21+ als unternehmerisches Corporate-Statement für die Zukunft. Formatierung als Dokumentations-, Programm- und Zukunftsbuch Die Publikation Die neue Emscher kommt. Sozial-ökologischer Umbau einer regio­ nalen Stadtlandschaft ist zunächst eine Dokumentation der in den letzten Jahrzehnten vollzogenen wasserwirtschaftlichen Transformation der Emscher hin zu einer aufgewerteten urbanen Flusslandschaft in der Metropole Ruhr – mit Strategie, Leitprojekten und landschaftlichen Reversionen. Kulturelle und touristische Projekte, Digitalisierung und Internationalisierung der Emschergenossenschaft als regionaler Entwicklungsagentur kommen hinzu. Sie werden keineswegs als regionstypische Topologie abgehandelt, sondern implizieren argumentativ auch jene „Gegennarrative“, die sich kritisch mit den etablierten Regionalstrategien und kommunikativen Elementen der Industrieästhetik als Imagefaktor auseinandersetzen. Im Zuge der Gespräche und Verabredungen zu dieser Publikation wuchs unter den Herausgebern und Autor(inn)en die Erkenntnis, dass die Region einen frischen Diskurs sowie ergänzende, dialektisch gespiegelte Perspektiven auch zu den etablierten Narrativen von Ästhetisierung und Festivalisierung durch Formate benötigt. Das Buch und seine digitalen Adaptionen widmen sich gleichzeitig weiterführend bzw. perspektivisch dem in den nächsten Dekaden anstehenden städtebaulichen, ökologischen und sozialen Wandel zu einer „Landschaft mit Urbanität“ und „blau-grüner Infrastruktur“, der die regionalen Entwicklungschancen und gesamträumlichen Verflechtungen des Emscher-Raumes in der Metropole Ruhr mitbestimmen wird. Im Einzelnen umfassen die Bausteine dieses Bandes zu Historio­ gra­fie, Strategie, der Transformation und der Kommunikation folgende thematischen Cluster: – Geschichte und Struktur (1992–2022) des Umbaus in den letzten drei Dekaden – den Prozess der wasserwirtschaftlichen Transformation als Kern des Gesamtprojekts – die strategischen Voraussetzungen und sozialen sowie klimatischen Wirkungen des Wandels – die ökonomischen und sozialen „Mehrwerte“ der Konversion – Kunst und Kultur als diskursive Begleitformate – Dokumentationen (z. B. des sog. BerneParks, einer Metamorphose durch Gartenkunst zum „Theater der Pflanzen“) und Einschätzungen zu blau-grüner Infrastruktur und der etablierten Ästhetik von Industriekultur und -natur – die bereits wie PHOENIX in Dortmund realisierten oder für die nächsten Dekaden anstehenden städtebaulichen Perspektivprojekte – die Zukunftsformate, insbesondere die Internationale Gartenausstellung (IGA) Metropole Ruhr 2027 und die Idee einer neuen Internationalen Bauausstellung (IBA) Mobilität und Verkehr Rhein-Ruhr 2030ff – die globalen Parallelen und Perspektiven – die Emschergenossenschaft als regionale Entwicklungsakteurin in europäischer Dimension 2006 hatte die Emschergenossenschaft den Masterplan „EmscherZukunft“ vorgelegt: als Pendant zum 2005 entwickelten „Masterplan Emscher Landschaftspark 2010“ aus der Hand der damaligen Projekt Ruhr GmbH, einer Tochtergesellschaft des Landes NRW. Eine neue Masterplaninitiative, ein integrativer Regionalentwurf zu Städtebau und Freiraum, Mobilität, Klima für die künftigen Dekaden ist inzwischen erneut angedacht und würde Methodik und System des bisherigen regionalen Handelns fortsetzen. Diese Publikation ist aus Anlass der Herstellung der sogenannten Abwasserfreiheit (2022) auf ganzer Flusslänge ein Programm-, Projekt- und Zukunftsbuch zur Stadt- und Regionalentwicklung und zu künftigen Strategien und Projekten der Emschergenossenschaft als einem der größten europäischen Wasserverbände. Denn diese ist – auch fast 125 Jahre nach ihrer Gründung (1899) – „systemrelevant“ für den Wandel (in) der Metropole Ruhr.

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Upgrade 21+

Architekturentwurf von Gerber Architekten zur Erweiterung der Hauptverwaltung an der Richard-Wagner-Straße

Upgrade 2 1 „Geschi c h t weiterba u e Der Kreis  w i geschlo s s e + e n “ : r d n

| Ruth Hanisch

Architekturentwurf zur Arrondierung und Erweiterung der Hauptverwaltung der Emschergenossenschaft in Essen

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ffentliche Verwaltungsbauten sind Anfang des 20. wie des 21. Jahrhunderts ein architektonisches Thema mit einer neuen Dringlichkeit. Durch die Industrialisierung und den begleitenden Bevölkerungszuwachs explodierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Administra­ tion aller öffentlichen Bereiche. Neben den kommunalen Verwaltungsaufgaben war es im Ruhrgebiet vor allem die regionale Kontrolle der unberechenbaren Emscher, die schon 1899 von der Emschergenossenschaft als einem eigenen Verwaltungsverband übernommen wurde. Für den Bau der Hauptverwaltung dieses Verbandes konnte an der Ecke Kronprinzen- und Richard-Wagner-Straße in Essen – dem „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ – ein Grundstück günstig erworben werden.

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Mit dem Neubau beauftragt wurde der gerade nach Düsseldorf berufene, aufstrebende Architekt Wilhelm Kreis, der sich vor allem durch seinen Erfolg beim Wettbewerb um das Leipziger Völkerschlachtdenkmal und den Entwurf mehrerer Bismarcktürme einen Namen als Mann fürs Monumentale gemacht hatte. Kreis lenkte durch eine geschickte Komposition von Turm und offener Loggia die Aufmerksamkeit auf den Eingang des Gebäudes, während daran anschließend deutlich schlichtere Bürotrakte den Beamtenstab, Labore, Archive und ähnliches mehr beherbergten. Der Baukörper schuf einerseits im Inneren des noch vorrangig mit Stadtvillen bebauten Blocks einen Hofbereich und andererseits an den beiden Hauptstraßen einen kleinen Vorplatz, der auch gartenkünstlerisch „klein aber fein“ gestaltet war. Neue regionale Baukultur der Industrielandschaft mit fluider Ikonografie Materiell und mit der Dachform orientierte sich Wilhelm Kreis am Westfälischen Barock, jener eleganten Kombination von Back- und Naturstein, die man etwa an Schloss Nordkirchen bewundern kann. Das fiel auch der zeitgenössischen Kritik positiv auf: „Vor allem ist aber hier Kreis’ Emscher-Genossenschaft zu nennen! Kein Bauwerk, das sich nach einem fremden Himmel und fremden Zeiten sehnt. Der Bau ist aus dem Lande herausgewachsen, kennt alle Schönheiten und Eigenarten und die Großartigkeit des Landes, hat diese Schönheiten verdichtet zu einem monumentalen Ausdruck der Industrie.“ So lobt der Kunsthistoriker Richard Klapheck die Ausdruckskraft des Neubaus, vor allem auch die Verwendung von Sichtziegel als Ausdruck einer neuen regionalen Baukultur der Industrielandschaft. Kreis – er galt unter Zeitgenossen als konservativer Erneuerer – erarbeitete zusammen mit seinem Bruder und Schülern an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule ein visuelles Vokabular aus antiken Zitaten, die für den modernen Verwaltungsbau der Wasserwirtschaft umgedeutet wurden: Dreispitze, Füllhörner, Putten sowie eine große Amphore für die Turmspitze. Die Ornamente kreisen um die Bedeutung des Wassers für die allgemeine Gesundheit und machen so die essenzielle Aufgabe der Emschergenossenschaft – nämlich die durch die Emscher mehrfach ausgelösten Epidemien zu verhindern – allgemein verständlich. Die

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links: Hauptverwaltung der Emschergenossenschaft im ursprünglichen Bauzustand vor 1945 rechts: Ansicht des großen Sitzungssaals nach der Renovierung

fluide Ikonografie setzt sich im aufwendig von Kreis und seinem Team gestalteten Inneren fort. Im großen Sitzungssaal wacht Hygieia, die antike Gottheit der Gesundheit, über die Beratenden. Städtebauliche Entwicklung Den weitreichenden Schatten, den der Kreis’sche Bau in die städtebauliche Zukunft der Kreuzung warf, kann man u.a. daran messen, wie sehr er die gesamte unmittelbare Umgebung vorstrukturierte. Die anderen großen Verbände des Reviers, der Ruhrverband und der damalige Siedlungsverband Ruhr (SVR), der heutige Regionalverband Ruhr (RVR), siedelten sich ebenfalls an der Kreuzung an. Georg Metzendorf und Jacob Schneider entwarfen für den Ruhrverband den heute noch vorhandenen schlichten Sichtziegelriegel, der in ihrer Planung allerdings von einem monumentalen Doppelturm überschattet werden sollte. Alfred Fischer reagierte mit seinem Verwaltungsbau des SVR 1927–1929 ganz unmittelbar auf die Komposition aus Turm, Vorhalle und Seitentrakten schräg gegenüber. In gewisser Hinsicht übersetzte er die monumentale Sprache Kreis‘ der 1900er Jahre in die ruhige versachlichte Form der 1920er. Nach 1945 wurde das beschädigte Emscherhaus vereinfacht wieder aufgebaut und das erste Mal entlang der benachbarten Mozartstraße erweitert. Weitere Anbauten folgten dort und am sich anschließendem sogenannten „Bernewäldchen“. Bislang die letzte Ausbauphase erfolgte 1991 bis 1993 durch das Büro Hentrich, Petschnigg & Partner an der Ecke Richard-Wagner-Straße / Am Bernewäldchen.

Luftansicht der Kreuzung Kronprinzenstraße/RichardWagner-Straße mit den Verwaltungen der Emscher­ genossenschaft und des Regionalverbands Ruhr

Architekturwettbewerb 21+ mit Stadtreparatur 2020/21 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, der nun die Schließung des gesamten Straßenblocks anstelle der beiden noch existierenden Stadtvillen und die Neuorganisation der Fassaden an der Richard-Wagner-Straße vorsah. So soll „ein herausragendes, innovatives Gebäude entstehen, das die Themenfelder Nachhaltigkeit, Ökologie und moderne Arbeitsformen inkl. Cafeteria im Erdgeschoss umsetzt.“ Das interne Management liegt bei Jan Weber, in der Emschergenossenschaft als Architekt für das Großprojekt operativ verantwortlich.

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Einleitung

rechts: Ansicht Entwurf Richard-Wagner-Straße

unten: Ansicht Entwurf Am Bernewäldchen / Mozartstraße

Ruth Hanisch lehrte nach ihrer Promotion in Kunstgeschichte an der Universität Wien, sowie an zahlreichen internationalen Hochschulen u. a. in Berlin, Edinburgh und Glasgow und seit ihrer Habilitation 2017 an der ETH Zürich. Sie lebt und arbeitet als selbstständige Architekturhistorikerin in Dortmund.

Dies ist ein lobens w e r t nachhaltiges Konze p t v o „Geschichte weiterba u e n das Vorhandenes  i n e i n e neuen Weise räumlich or d n

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.

Die Schließung und Vereinheitlichung des innerstädtischen Blocks ist ein klares Bekenntnis zum Gedanken der Stadtreparatur, auch wenn dieser spezielle Block bislang noch nie geschlossen gebaut war. Das Konglomerat aus Baukörpern aus mehreren Jahrzehnten, mit verschiedenen Geschosshöhen und unterschiedlichen Arbeitsumfeldern sollte zu einem modernen Verwaltungszentrum mit flexiblen Arbeitsmöglichkeiten, sozialen Treffpunkten und einer barrierefreien Erschließung upgedatet werden. Die Erhaltung und Sanierung des Initialbaus, die Beibehaltung und Überarbeitung der Erweiterungsbauten sind willkommene Zeichen eines geänderten Umgangs mit historischer Bausubstanz verschiedenster Provenienz, deren Potenzial zur Umdeutung in ein zeitgemäßes, zukunftsorientiertes, innerstädtisches Verwaltungszentrum hier voll ausgelotet wird. Dies ist ein lobenswert nachhaltiges Konzept von „Geschichte weiterbauen“ (im Sinne des Schweizer Architekten Max Dudler), das Vorhandenes in einer neuen Weise räumlich ordnet und demonstriert, wie geänderte Nutzungsbedingungen auch in Altbauten unterzubringen sind. Der Entwurf des Dortmunder Büros Gerber Architekten setzte sich 2021/22 gegen die polnisch-deutsche Arbeitsgemeinschaft Atelier Starzak Strebicki (Poznan/Posen) und Böll Architekten (Essen) durch. Ein gesonderter Wettbewerb für die Neugestaltung des Innenhofes steht noch aus. Gemeinsam mit dem neuen Betriebsrestaurant, den Balkonen, der Dachterrasse und den zahlreichen informellen Meeting Spaces wird mit dem Hauptsitz der Emschergenossenschaft in Essen ein Ort moderner Bürokultur entstehen und damit das mehr ein Jahrhundert zuvor Begonnene fortgeschrieben: Auch so schließt sich hier ein Kreis.

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Hof Emscher-Auen, Dortmund-Mengede / Castrop-Rauxel Ickern

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und Struktur

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Geschichte und Struktur

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Doppelte Transformat i o n : Vom montanindustri e l l e n Abwasser k a n a l des 20. Jahrhun d e r t s zur blau-grünen  u r b a n e n Flusslandsch a f t 2 1 +

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Geschichte und Struktur

| Reiner Burger links: Emscher in Dortmund-Sölde, 1976 rechts: 2013

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m Emschertal zeigte sich früher und dramatischer als andernorts: Der Mensch ist zur größten Naturkraft geworden – lange bevor dieses Phänomen mit dem Begriff Anthropozän beschrieben wurde. Denn die Emscher, einst ein unbedeutendes Flüsschen, spielte bei der Entwicklung des Ruhrgebiets zur größten Industrieregion Europas eine eminent wichtige Rolle. Ein natürlicher, ländlicher Fluss wurde zunächst ohne jeden Plan zum technischen Vorfluter für die offene Ableitung der Abwässer der rasch wachsenden Bevölkerung im Ruhrgebiet. Auch die Grubenwässer der Bergwerke und das Abwasser der Hüttenwerke leitete man in den träge mäandrierenden Fluss und seine Nebenläufe. Wegen der weitflächigen Bergsenkungen wurden weite Stadtteile regelmäßig mit übelriechendem Wasser überschwemmt. Seuchen grassierten. Beim ersten Umbau begradigte die 1899 gegründete Emschergenossenschaft den Fluss und seine Nebenläufe nach und nach, deichte die Gewässer ein, befestigte sie mit Betonsohlschalen, machte die Emscher zur offenen Kloake. Es war ein Eingriff von ungeheuerlicher Brutalität – und zugleich eine technische und hygienepraktische Großtat. Als 1981 in Dortmund die Revitalisierung des Dellwiger Bachs begann, war die Regulierung erst wenige Jahre beendet. Niemand konnte damals ahnen, dass der kleine Bach am Beginn eines Prozesses ohne Vorbild auf der Welt stehen sollte: die weit überwiegend aus Gebühren – also aus eigener regionaler Kraft – finanzierte Transformation eines montanindustriellen Abwasserkanals in eine blau-grüne, menschengemachte urbane „natürliche“, sich auf einer Gesamtlänge von 350 Kilometern erstreckende Flusslandschaft, die Emscher 3.0.

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Energisch hatte die Führung der Emschergenossenschaft noch Mitte der 1980er Jahre gewarnt, es gebe keinen Anlass für „hochfliegende Erwartungen“. Lange legte sie Wert darauf, dass es beim Dellwiger Bach nicht darum gehe, die Möglichkeiten, sondern ganz im Gegenteil die Grenzen einer Sanierung von Schmutzwasserläufen zu erkunden. Es gelte, am System festzuhalten, das heute Emscher 2.0 genannt wird. Denn es sei „leistungsstark, kostengünstig und anpassungsfähig gegenüber Strukturveränderungen“. Der Weg zur Emscher 2.0 Große Organisationen tun sich oft schwer, gewohnte Pfade zu verlassen. Beim Emscher-System schien ein Paradigmenwechsel objektiv nicht auf der Hand zu liegen. Unterbrochen durch zwei Weltkriege hatte die Emschergenossenschaft bis in die 1970er Jahre das System der Emscher und ihrer ebenfalls zu Abwasserkanälen degradierten Nebenläufe immer weiter perfektioniert und damit ihren Gründungsauftrag gewissenhaft und ausdauernd erfüllt. Das Middeldorf-Paradigma – der kühne Plan des königlich-preußischen Wasserbaudirektors Wilhelm Middeldorf – hatte sich mit Modifikationen bewährt. Denn Ende des 19. Jahrhunderts galt die Emscherregion als „cloaca maxima“, als „wassertechnisches Notstandsgebiet“. Im Eiltempo hatte sich die ursprünglich dünn besiedelte agrarische Landschaft in eine Industrieregion verwandelt. Innerhalb von 50 Jahren versechzehnfachte sich die Bevölkerung in den Emscherstädten, die Abwassermenge aus Haushalten und Betrieben nahm rasant zu. Das Problem stank zum Himmel: Die Emscher charakterisiere sich nicht mehr „als natürlicher Fluss oder Strom, sondern als ein Jauchekanal“, stellte der damals in Halle lehrende Hygieniker Carl Fraenkel in einem Gutachten fest. Die Medizinalabteilung des preußischen Kultusministeriums konstatierte 1903, die Flussläufe befänden sich durch Industrieabwässer im Zustand hochgradiger Verschlammung. „Sämtliche Bachläufe dieses Industriebezirks sind schwarz durch einen Brei aus Kohlen, Abgängen der Städte und Abflüssen der Äcker, manchmal so dickflüssig, daß ein hineingesteckter Stock darin unbeweglich stecken bleibt.“

Die Emschergenossensc h a f hatte bis in die 1970er  J a h r das System der Emsche r u n ihrer ebenfalls zu Abwas s e r kanälen degradierten Nebenl ä immer weiter perfektion i e r

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Geschichte und Struktur

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links: Emscher in Dortmund-Sölde, 1976 rechts: 2013

Die Lebensumstände für die Menschen in den durch die Bergsenkungen entstandenen Sumpfgebieten waren katastrophal. Keller und Wohnungen waren feucht. Im Emscher-Raum erkrankte jeder zweite Arbeiter an Ruhr, Typhus, Diphterie, Cholera oder Lungenentzündung. Malaria erreichte ein in Mitteleuropa einmaliges Ausmaß. 1900 und 1901 kam es in Bochum und Gelsenkirchen zu Typhusepidemien mit mehreren Hundert Toten. Robert Koch gründete daraufhin das Hygieneinstitut des Ruhrgebiets in Gelsenkirchen und forderte, auch die Abwasserentsorgung müsse verbessert werden. An einem ebensolchen Plan „zur Regelung der Vorflut und zur Abwässerreinhaltung im Emschergebiet“ arbeitete Middeldorf da schon. Der kluge Regierungsbaumeister dachte in großen Zeiträumen, stellte Prognosen an, welche Störungen und Senkungen im nächsten halben Jahrhundert der bis auf eine Tiefe von 1000 Metern vordringende Bergbau nach sich ziehen würde. Middeldorf war klar: Um das Emscher-Problem zu lösen, half kein Kleckern wie bisher, es musste koordiniert geklotzt werden. Das passte in die Zeit. Größe und Wachstum waren die einzig entscheidenden Maßstäbe im wirtschaftlich unerhört dynamischen Deutschen Reich. Von 1906 an wurde die Emscher nach den Plänen Middeldorfs Schritt für Schritt begradigt, bis zu 3 Meter tiefer gelegt, befestigt und mit immer höheren Deichen eingefasst. Die Regulierung begann auf einem Abschnitt zwischen der Rheinmündung und Oberhausen. Im Mai 1917 kam das Teilstück zwischen Karnap und Henrichenburg hinzu, schon 1908 folgte auch der noch fehlende dazwischenliegende Abschnitt. Parallel begann auch an den ersten Emscher-Nebenläufen wie dem Beeckbach, der Berne, dem Maarbach oder dem Wattenscheider Bach der Umbau zu offenen Schmutz- und Niederschlagskanälen. Unterirdische Kanäle, um Fluss- und Abwasser zu trennen, kamen nicht infrage – wegen der fortwährenden Bergsenkungen wären sie unweigerlich zerbrochen. Und da man damit rechnete, dass es im natürlichen Mündungsgebiet zu Bergsenkungen von bis zu 10 Metern kommen würde, bekam die Emscher im Duisburger Norden auch eine neue Mündung.

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Immer größere Summen mussten nun auch in Pumpwerke investiert werden, um die mit Voranschreiten des Bergbaus immer weiträumiger abgesunkenen Gebiete in die eingedeichten Flussläufe entwässern zu können. Waren 1923 erst fünf dieser Anlagen in Betrieb, kamen bis 1931 ganze 20 und dann bis 1943 noch einmal 19 hinzu. Weil es im Duisburger Norden zu weiteren Bergsenkung kam, musste die Emscher-Mündung 1949 zum zweiten Mal verlegt werden – dies­mal auf das Gebiet von Dinslaken. Wenig später begannen dort auch die Vorarbeiten für das zentrale Projekt der Genossenschaft in den folgenden Jahrzehnten: eine Großkläranlage. Entscheidend war der besorgniserregende Zustand des Rheins, der damals als schmutzigste Wasserstraße Westeuropas galt. „Vater Rhein“ sollte nicht länger als Ausguss des Ruhrgebiets missbraucht werden. Die Wasserqualität innerhalb des Emscher-Systems galt als zweitrangig. Folglich blieb es eine weitverzweigte Kloake, als das Klärwerk an der Emscher-Mündung nach langer Planungs-, Experimentier- und Bauphase 1977 endlich in Betrieb genommen werden konnte. Die Großanlage in Dinslaken markierte den Schlusspunkt des Emscher-Systems alter Prägung. Auch in Dortmund – der Stadt, die dann in den 1980er Jahren die Avantgarderolle auf dem Weg zur Emscher 3.0 übernahm, zog sich die Perfektionierung des Systems Emscher 2.0 noch lange hin. Die Genossenschaft kämpfte etwa in Dortmund-Huckarde mit so extremen Bergsenkungen, dass das Flussbett dort bis 1976 fünf Mal gehoben werden musste. Beinahe 40 Prozent des Emscher-Gebiets sind durch den Bergbau abgesunken und wasserwirtschaftlich betrachtet also „Poldergebiete“. Auf ewig müssen mehr als 100 Pumpwerke aus ihnen das Wasser in die über 300 Kilometer Fluss- und Bachläufe fördern. Bedenken, Bedenken, Bedenken All das muss man im Blick haben, um zu verstehen, warum sich die Führung der Genossenschaft lange schwertat, das Dortmunder Revitalisierungsprojekt als Chance für einen grundlegenden Wandel zu sehen. Kaum hatte es begonnen, sah sich die Genossenschaft zu einer „Klarstellung“ genötigt. Gegen den „Übergang auf eine völlig andere Konzeption – etwa Verteilung der Abwasserreinigung an vielen Stellen im Gebiet, Verrohrung der Gewässer und Trennung von Abwasser und Reinwasser“ sprächen nicht nur technische Gründe, hieß es im Jahresbericht 1982. Auch seien die nötigen Investitionen kaum zu stemmen. Das bestehende Emscher-System begegne immer wieder „Verständnisschwierigkeiten, Kritik, sogar der Forderung auf Revision“, klagte die Genossenschaft. „Dabei wird oft übersehen, daß eine so wirkungsvolle Abwasserklärung, wie wir sie heute zum Nutzen der Rheinwasserqualität haben, ohne eine Zusammenfassung der verschiedenartigen, einzeln nur schwer zu behandelnden Industrieabwässer kaum möglich wäre.“ Dieses Abwehrargument wurde im Jahresbericht 1985 aufgegriffen und ausführlicher dargelegt. Das System technisch überformter offener Kanäle sei unter den besonderen Bedingungen der Region – Massierung von Siedlung und Industrie, Bergsenkungen – gewachsen und habe sich bewährt. Es war die Sicht von Bergbau und Industrie, die im Vergleich zu den Kommunen damals noch deutlich mehr Abwasser in das Emscher-System leiteten und dementsprechend weit mehr als die Hälfte des Haushalts der Genossenschaft finanzierten – und ihre Gremien dominierten. Doch der öffentliche Druck auf die Genossenschaft wuchs: „Mit den gestiegenen Ansprüchen an die Umweltverhältnisse erwarten die Bürger im Nahbereich der Emscher allerdings, daß sie nicht von Gerüchen gestört werden, die während der warmen Sommermonate gelegentlich aus der Emscher freiwerden.“ Eine weitere Vorkläranlage im Raum Dortmund könne Abhilfe schaffen. Das große Ganze aber war aus Sicht der Genossenschaft unabänderlich: „Die Emscher und ihre ausgebauten Nebenbäche sind Schmutzwasserläufe.“ So ging es weiter von Jahr zu Jahr. 1986 war der Dellwiger Bach re­vitalisiert. Am 25. September konnte das Projekt im Beisein des nordrheinwest­fälischen Umweltministers Klaus Matthiesen (SPD) vorgestellt werden, die Medien feierten die wundersame Rückverwandlung des Bachs vom Schmutzwasserkanal zum natürlich anmutenden Gewässer. Es war ein historisches Ereignis: Eines der ersten Gewässer-Revitalisierungsvorhaben überhaupt konnte bestaunt werden. Immer mehr Menschen in der Region begannen zu ahnen, was an der Emscher und ihren Nebenläufen möglich sein könnte.

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Aber der Genossenschaft schien ihr Erfolg nicht geheuer. Sie sprach verhalten von „ermutigenden Ergebnissen“, um gleich wieder kräftig auf die Bremse zu treten. Zwar seien weitere Revitalisierungen in Planung, die Landesregierung habe Mittel dafür zur Verfügung gestellt, doch von den Wasserläufen im EmscherSystem ließen sich „nur etwa zehn Prozent wieder in eine natürliche Form bringen“. Wenn ein Gewässer nicht genügend Reinwasser führe, lasse es sich nicht revitalisieren. „Aus diesem Grunde ist auch die Emscher selbst nicht renaturierungsfähig“, stellte die Genossenschaft apodiktisch fest. Sodann warnte sie: Gebe es nicht wie beim Dellwiger Bach Geld vom Land, müssten für „die erheblichen Kosten“ die jeweiligen Gemeinden aufkommen, die eine Revitalisierung wünschten. „Eine Umlage auf alle Beteiligten der Genossenschaft kann nicht in Betracht kommen“, von diesem Grundsatz – so der Vorstand – könne nicht abgewichen werden. Im Geschäftsbericht 1987 hieß es abermals: Das Emscher-System habe sich bewährt, das Ziel alle Gewässer „in einen natürlichen Zustand zurückzuführen, ist in absehbarer Zukunft nicht zu verwirklichen“. Für die Genossenschaft schien der Fall erledigt. Doch das damalige staatliche Amt für Wasser- und Abfallwirtschaft hatte im selben Jahr mit seiner „Studie zur Sanierung der Abwasserbeseitigung im Einzugsgebiet der Emscher“ ein erstes, das Gesamtsystem umfassendes Konzept erarbeitet und an das Umweltministerium in Düsseldorf weitergeleitet. Eine Idee, die sich nicht aufhalten lässt Im Mai 1988 beschloss die Landesregierung von Ministerpräsident Johannes Rau (SPD), im Rahmen einer Internationalen Bauausstellung (IBA) entlang der Emscher und des Rhein-Herne-Kanals auf einer Strecke von 70 Kilometern zwischen Dortmund und Duisburg einen durchgehenden bandförmigen Landschaftspark zu entwickeln. Die von Raus Städtebauminister Christoph Zöpel (SPD) und dessen Weggefährten Karl Ganser stammende IBA-Idee war der entscheidende Push, denn das Leitprojekt zur städtebaulichen und ökologischen Erneuerung der alten Industrielandschaften entlang der Emscher sollte deren Renaturierung sein. Von nun an hatte die Emschergenossenschaft nicht mehr nur den Umwelt-, sondern auch den Bauminister im Nacken. Die Führung der Genossenschaft fühlte sich überrumpelt und beharrte zunächst trotzig auf ihrem Standpunkt. Am 18. Juni 1988 sagte Geschäftsführer Gunther Annen der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung mit Blick auf die IBA, dass „klares Wasser in der Emscher Utopie bleibt“, Minister Zöpel habe „leider keine Ahnung“. Es war das letzte Aufbäumen. Nur sechs Tage später machte Annen während einer Vorstandsitzung deutlich, dass das angeblich Undenkbare eben doch denkbar war. Im Protokoll heißt es: „Wenn man die Emscher als Hauptabwassersammler des Reviers nicht mehr haben will, so bleibt nach Auffassung von Dr. Annen nur ihre Umwandlung in einen wirklich sauberen, natürlichen Fluss mit allen Konsequenzen. Jede halbe Lösung würde trotz sehr großer Kosten letztlich doch nicht befriedigen.“ Die Kommunen schreckte das Kostenargument ohnehin längst nicht mehr. „Die Kommunalvertreter äußern sich in dem Sinne, daß eine durchgreifende Sanierung der Emscher […] auf lange Sicht unumgänglich erscheint“, heißt es im Protokoll. Im Oktober 1988 schrieb Umweltminister Matthiesen der Genossen­ schaft ins Stammbuch, „daß größere Anstrengungen für den Umwelt- und da­ mit auch für den Gewässerschutz lebensnotwendig sind. Aus aktuellem Anlass möchte ich besonders auf die Notwendigkeit der Verringerung der Einleitung von gefährlichen Stoffen in die Emscher und der Nährstoffe Stickstoff und Phosphor in den Rhein hinweisen“. Wenige Wochen später war es der Genossenschaft wichtig, in ihrem Jahresbericht für 1988 noch einmal festzustellen, sie habe sich „in den Vorjahren mehrfach skeptisch gegenüber der Vorstellung geäußert, daß über die Renaturierung von Nebenbächen hinaus die Emscher selbst in ein sauberes Gewässer zurückverwandelt werden sollte“. Im Ton des Bedauerns heißt es wenige Zeilen später: „Trotz dieser Vorbehalte verstärken sich die Kräfte, die auf eine umfassende Sanierung der Emscher drängen.“ Dabei war der Genossenschaft klar, dass die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten sein würde. Das Meinungsbild in den zuständigen politischen Gremien und in der Öffentlichkeit gehe, wie es im Geschäftsbericht des folgenden Jahres heißt, „eindeutig dahin, daß die Umgestaltung des Emschersystems als wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im Revier“ angegangen werden solle – trotz der hohen Kosten, die man grob auf 4 Milliarden

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Hatte die Führung seit  Grün d u n g der Emschergenossensc h a f t im Wesentlichen ein bestehe n d e s System gesteuert, musst e n u n parallel ein komplett neues Sy s t e m erdacht und geplant  w e r d e n .

Mark schätzte. Gutachten, die im Zusammenwirken mit der IBA und Vertretern staatlicher und kommunaler Verwaltungen eingeholt worden waren, machten alsbald deutlich, dass das allzu optimistisch gewesen war. In ihrem Jahresbericht 1990 rechnete die Genossenschaft „unter Berücksichtigung der starken Baupreissteigerung in jüngster Zeit und unter Einschluß einer Reserve“ bereits mit mindestens doppelt so viel: 8 Milliarden Mark. Ein Jahrhundertprojekt ohne feierlichen Grundsatzbeschluss Aus den Gesamtumständen lässt sich zweifelsfrei rekonstruieren, dass der Startschuss für das Projekt Emscher 3.0 im Jahr 1991 fiel. Im Laufe dieses Jahres mündeten die bisherigen politischen Diskussionen und Verabredungen in ein ehrgeiziges Rahmenkonzept mit drei Zielen: 1. Bau von Kanälen, um die offene Ableitung von Abwasser zu beenden; 2. Bau dezentraler Kläranlagen nach neuestem Stand der Technik; 3. Umgestaltung der Wasserläufe, sodass sie wieder zu Habitaten für Pflanzen und Tiere und zum Erlebnis- und Erholungsraum für den Menschen und zu Orientierungsstrukturen in der Landschaft werden. Eine erstaunliche Pointe ist jedoch, dass die Genossenschaft den genauen Geburtstag der Emscher 3.0 nicht kennt. Denn den einen feierlichen Grundsatzbeschluss gab es 1991 nicht. Es handelte sich vielmehr um einen Prozess, bei dem verschiedene Entwicklungen und (Macht-)Interessen ineinandergriffen. Mit Rücksicht auf die Bedenken von Industrie und Bergbau wird im Geschäftsbericht für das Jahr 1991 in seltsam distanziertem Ton über den historischen Paradigmenwechsel berichtet. Die Genossenschaftsorgane hätten „dem Umbau des Emscher-Systems im Rahmen eines vertretbaren Finanzierungskonzepts unter der Voraussetzung erheblicher Landeszuschüsse grundsätzlich zugestimmt“. Mit entscheidend sei dabei gewesen, „dass die vielfältigen Initiativen der IBA Emscher Park ihr regionalpolitisches Ziel verfehlen würden, wenn das Gebiet unverändert von offenen Abwasserkanälen durchzogen bliebe“. Mit dem Nimbus einer entschlossenen Wende aus eigener tiefer Überzeugung kam das nicht daher.

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Geschichte und Struktur

links: Deininghauser Bach, Castrop-Rauxel Bladenhorst, 1938 rechts: 2001

Bezeichnenderweise nicht aus den Unterlagen der Genossenschaft, sondern aus Archivdokumenten der IBA geht hervor, dass die große Transformation schon lange faktisch beschlossene Sache war, bevor im Herbst die Genossenschaftsgremien dem „Rahmenkonzept zum ökologischen Umbau des Emschersystems“ ihren Segen gaben. Bereits am 14. Mai 1991 sagte Annen in einer IBA-Kuratoriumssitzung mit Ministerpräsident Rau, man beginne ein „anspruchsvolles Werk“, das sei auch den Mitgliedern der Genossenschaft „sehr bewußt“. Sehr zurückhaltend sei die Industrie, die befürchte, dass sich durch höhere Abwasserkosten die Standortbedingungen verschlechterten. Nicht leicht tue sich auch der Bergbau, der höhere Kosten für die Ableitung von Grubenwasser sehe. „Unsere Mitgliedstädte dagegen sind ohne Einschränkung dafür. Sie glauben, daß der Ruf des Reviers und damit seine Anziehungskraft auf neue Betriebe nicht entscheidend zu bessern ist, wenn es bei der schwarzen Emscher bleibt.“ Gemeinsam mit der IBA produzierte die Genossenschaft den Film Zu neuen Ufern, um die Öffentlichkeitsarbeit für das Projekt zu unterstützen, das Rahmenkonzept kam als Druckschrift heraus. Diesem Heft 1 der Materialien zum Umbau des EmscherSystems folgten bis 1998 neun weitere, mit denen das Rahmenkonzept durch Teilkonzepte konkretisiert wurde. Schritt für Schritt gewann die Emscher 3.0 ihre technische Gestalt. Wie sehr sich die Gewichte in der seit ihrer Gründung von Industrie und Bergbau dominierten Genossenschaft mittlerweile verschoben hatten, wurde 1991 auch an der Entscheidung über Annens Nachfolger deutlich: Mit Jochen Stemplewski, dem bisherigen Oberstadtdirektor von Hamm, setzte sich der Kandidat der Kommunen durch – der sich rasch als der richtige Mann für den Paradig-

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menwechsel erwies. Hatte die Führung seit der Gründung der Emschergenossenschaft im Wesentlichen ein bestehendes System gesteuert, musste nun parallel ein komplett neues System erdacht und geplant werden, das – weil ohne Vorbild – nur Schritt für Schritt Konturen bekommen konnte. Nicht mehr nur um technische Prozesse ging es jetzt, sondern immer auch um komplexe städte­planerische und ökologische Fragen sowie um fortwährende politische Überzeugungsarbeit. „Mit den bisherigen Arbeitsstrukturen war das nicht zu leisten. Deshalb war meine Botschaft: Wir müssen nicht nur die Emscher umbauen, sondern auch die Emschergenossenschaft“, erinnert sich Stemplewski, der bis 2016 Vorstandsvorsitzender blieb. „Der zu erwartende Erfolg rechtfertigt den Einsatz!“ Lange war Gunther Annen der oberste Umbauskeptiker gewesen. Doch kurz vor seinem altersbedingten Ausscheiden warb er mit Verve für das Jahrhundertprojekt: „Der zu erwartende Erfolg rechtfertigt den Einsatz!“, sagte er in der IBA-Kuratoriumssitzung im Mai 1991. Annen rechnete Mitte 1991 mit 15 bis 20 Jahren für den Bau neuer Kläranlangen und der Kanäle, um das Rein- vom Abwasser zu trennen. „Für die Umgestaltung der Abwasserläufe werden wir sogar 25 bis 30 Jahre benötigen.“ Eine verblüffend präzise Prognose. Tatsächlich gelang der Genossenschaft eine Punktlandung: Im Sommer 2021 konnte Deutschlands größtes Schmutzwasserpumpwerk in Oberhausen-Beifang in Betrieb genommen werden, womit das letzte Großprojekt fertiggestellt war. Waren die Kosten bis Ende der 1980er Jahre das zentrale Abwehrargument der Geschäftsführung gegen das Projekt Emscher-Umbau, drehte Annens Nachfolger Stemplewski den Spieß nun beherzt um – frei nach dem Motto: Wenn wir nichts tun, laufen uns die Kosten davon. Immer weiter waren die Anforderungen an die Abwasserreinigung in den vergangenen Jahren verschärft worden. Und wegen der unzureichenden Reinigungsleistung im bestehenden Emscher-System stieg die von den Mitgliedern zu zahlende Abwasserabgabe bereits „drastisch“, wie es im Jahresbericht 1992 hieß. Hätte man am bestehenden System festgehalten, dann hätte sich die Abwasserabgabe für die Genossenschaft von etwa 6 auf 60 Millionen Mark pro Jahr verzehnfacht, wie aus dem „Flussgebietsplan Emscher“ von 2009 hervorgeht. Hinzu kam die immer akutere Gefahr eines Planungs- und Baustopps im Emscher-Raum. Die vom Strukturwandel geplagten Kommunen bangten um ihre Zukunftsperspektiven. Denn nach einem Erlass des Umweltministeriums in Düsseldorf von Januar 1992 durften „die angeschlossenen Einwohnerwerte durch neue Baugebiete nur dann um bis zu zehn Prozent erhöht werden, wenn bis 1997 die Mindestanforderungen an die Abwasserbeschaffenheit an der Rheinmündung eingehalten“ würden. „Alle Beteiligten war nun klar, es geht beim Emscher-Umbau nicht nur um Kür, sondern um Pflicht“, erinnert sich Stemplewski. Die Frage, warum auch vom Bergbau kein Widerstand mehr kam, zählt zu den zahlreichen spannenden Forschungsdesideraten rund um die Findungs- und Entscheidungsphase des Jahrhundertprojekts Emscher 3.0. Hatte die lange so vehement bremsende Montanindustrie erkannt, dass im Zuge des Umbaus Bergbaufolgekosten aus ihrer Sicht elegant vergemeinschaftet würden? Zumal der Abwasser- und damit der Kostenanteil von Bergbau und Industrie mit dem voranschreitenden Strukturwandel immer rascher abnahm, während jener der Städte im Verhältnis zunahm, was wiederum die Position der Kommunen in der Genossenschaft weiter stärkte. Selbst dass die Beiträge schon bald erheblich stiegen, weil die Emschergenossenschaft so viele Bauprojekte auf einmal startete wie noch nie in ihrer Geschichte, führte nicht dazu, dass das beispiellose Transformationsprojekt noch einmal infrage gestellt wurde. Geschickt führte die Geschäftsführung ihren Genossen mit detaillierten Vergleichskalkulationen vor Augen, dass die Gebühren im Emscher-Gebiet deutlich unter dem Landesmittel lagen – was bei der Einfachheit des Systems Emscher 2.0 freilich keine Überraschung darstellte. „Die Botschaft war: Wir werden uns im Zuge des Emscher-Umbaus dem nordrheinwestfälischen Durchschnitt annähern. Wir haben dann keine zu niedrigen Gebühren mehr. An der Emscher wird es nur so viel kosten, wie sonst überall im Land“, erinnert sich Jochen Stemplewski. Von Beginn an legte Stemplewski Wert darauf, auf dem Weg zur Emscher 3.0 planerisch flexibel zu bleiben. Im Dezember 1992 stellte der neue Vorstandsvorsitzende in der Genossenschaftsversammlung fest, es gehe nun

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nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie des mittlerweile auf 8,7 Milliarden Mark taxierten Umbaus. Da man „nicht mit den Kenntnissen von heute die Proble­ me von übermorgen lösen“ wolle, legte Stemplewski auf einen offenen Prozess wert. Keinesfalls sollten „Planungen künftigen Zuwachs an Erkenntnis sowie Änderungen in den Ansprüchen ausschließen“. Als bisheriger Oberstadtdirektor von Hamm wusste Stemplewski aus der Diskussion über Müllverbrennungsanlagen, wie wichtig es ist, Überkapazitäten zu vermeiden.

Das Jahrhundertpro j e k t Emscher 3.0 öffnet   v i e l e n Städten im Ruhrgebiet   v ö l l i g neue städtebauliche  Potenz i a l e

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Dr. Reiner Burger ist Landeskorrespondent für Nordrhein-Westfalen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Wegen des immer rascher voranschreitenden Strukturwandels im Ruhrgebiet war dann Ende der 1990er tatsächlich klar: Statt bis zu sechs Großkläranlagen genügen drei. Daraus folgte wiederum, dass das Abwasserableitsystem neu durchdacht werden musste. Das spektakuläre Ergebnis ist der Abwasserkanal Emscher (AKE). Das Planstellungsverfahren für den größten Abwasserkanal Europas begann 2006. Damit hatte das Generationenprojekt Emscher-Umbau endgültig seine technische Gestalt bekommen. Ein weiterer Meilenstein war der ebenfalls 2006 von der Genossenschaft nach eineinhalb Jah­ ren intensiver Diskussion mit allen Beteiligten der Region vorgelegte Masterplan „Emscher-Zukunft. Das Neue Emschertal“. Mit ihm machte die Genossenschaft deutlich, welchen Mehrwert ihr Generationenprojekt über die wasserwirtschaftliche Dimension hinaus hat. Die Kernbotschaft lautete: Es geht um mehr als nur um Kläranlagen und Kanäle, die irgendwo unter der Erde verlaufen und an die sich die Menschen bald gewöhnt haben, es geht um die oberirdischen Potenziale. Aus der Emscher und ihren Nebenläufen, dem Hinterhof des Reviers, kann sein grüner Vorgarten werden, wenn ökologische, städtebauliche und gestalterische Aspekte sowie kommunale Projekte zu einem Gesamtplan verwoben werden. Die Arbeiten am AKE wurden 2018 abgeschlossen. Der Kanal, dessen Röhren so groß sind, dass ein Kleinwagen gerade so durchfahren könnte, erstreckt sich in bis zu 40 Metern Tiefe 51 Kilometer weit von Dortmund bis kurz vor die (mittlerweile zum dritten Mal verlegte) Emscher-Mündung in den Rhein bei Dinslaken und sammelt die Abwasserfluten des nördlichen Ruhrgebiets. Auf dem Weg gen Westen muss das Abwasser in drei gigantischen Pumpwerken gehoben werden. Seit der Inbetriebnahme des Pumpwerks in Oberhausen-Beifang sind auch alle noch verbleibenden Abwasserleitungen an den AKE angebunden. Nach mehr als 170 Jahren ist der Fluss damit endgültig wieder von der Abwasserfracht befreit. Der Mensch bleibt in der Verantwortung Das Jahrhundertprojekt Emscher 3.0 öffnet vielen Städten im Ruhrgebiet völlig neue städtebauliche Potenziale – und führt anschaulich vor Augen, wie entscheidend es ist, dass der Mensch seine Rolle im Anthropozän bewusst und verantwortungsvoll auf Dauer erfüllt. Zwar geht es bei der Emscher 3.0 anders als bei der Emscher 2.0 nicht mehr um die technische Machbarkeit ohne umfassende Beachtung der Folgen für Mensch und Umwelt. Doch auch beim „neuen“ Emschertal handelt es sich um eine durch und durch menschengemachte Gegend; diese „künstliche“ Natur – oder dieses „urban-industrielle Ökosystem“, wie die Emschergenossenschaft es bezeichnet – würde nicht funktionieren, wenn der Mensch als Betreiber gigantischer Pumpwerke, hochmoderner Kläranlagen und des mehr als 400 Kilometer umfassenden Abwasserkanalnetzes ausfiele.

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Geschichte und Struktur

Emscher am Phoenix-See, Dortmund-Hörde

| Ullrich Sierau

Panta  r h e i – Alles   f l i e ß t , aber nicht s      d a r den B a c h runter g e h e n

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Z 

u Beginn meines Raumplanungsstudiums an der TU Dortmund bin ich 1976 erstmalig der geschundenen Emscher bei einer Betriebsbesichtigung der damaligen Hermannshütte in Dortmund-Hörde begegnet. Die Stahlarbeiter erklärten – von der studentischen Besuchergruppe skeptisch beäugt – stolz die hochtechnologischen Abläufe der Stahlproduktion. Dass unter dem Stahlwerk ein Fluss floss, wurde eher beiläufig erwähnt. Auf Nachfragen erklärte man, dass die Emscher sich in einem etwa 3 Kilometer langen unterirdischen Kanal befinde. Der Fluss war in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts durch den Unternehmer Hermann (darum Hermannshütte) Diedrich Piepenstock (1782 bis 1843) aus Iserlohn unter das damals neu errichtete Buddelwerk verlegt worden, nicht zuletzt um die Entsorgung von Abwasser zu erleichtern. Mit dem absehbaren Ende der Stahlproduktion stellte sich zum Ende des 20. Jahrhundert die Frage nach der künftigen Nutzung des Standorts. Die konzeptionelle und gestalterische Antwort fand ein begabter Architekt aus der eigenen Kommunalverwaltung mit dem städtebaulichen Entwurf des heutigen Phoenix-Sees. Doch dies war nur ein (wenn auch starker) Teil einer viel weiterreichenden Umgestaltung, die durch die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) eingeleitet worden war. Schon in den 1970er Jah­ren erwachte bei umweltbewussten Akteur*innen in der Region die Idee der ökologischen Umgestaltung des Emscher-Systems. So legte ich 1980 als junger Diplomand der Raumplanung bezogen auf das neue Landschaftsplaninstrumentarium dar, dass sich hier nun die Möglichkeit von Festsetzungen zu Wiederherstellung von Gewässer- und damit Emscher-Landschaft böte, und fand viel Zustimmung dafür. Ganz anders zur selben Zeit bei der Emschergenossenschaft: Die Umgestaltungspläne wurden uns (und anderen) gegenüber als realitätsfremde Ideen eingestuft: Im Dreiklang wurde die Sinnhaftigkeit verneint, die technische Machbarkeit bestritten und die Finanzierbarkeit für utopisch erklärt. IBA Emscher Park und „Kulissenschieberei“ für Dortmund Nicht allzu viel später revidierte aber die Emschergenossenschaft ihre Sicht, stimuliert vom damaligen Städtebauminister Christoph Zöpel und dessen zuständigen Ministerialdirigenten Karl Ganser. Denn die von diesen initiierte IBA Emscher Park beförderte mit zahlreichen ambitionierten Projekten den Wandel der Emscher-Region und damit des entwicklungsbedürftigsten Teils der Metropole Ruhr: Die inhaltliche Sinnhaftigkeit des ökologischen Emscher-Umbaus wurde jetzt programmatische Säule der IBA, die technische Machbarkeit nicht mehr bestritten und die finanziellen Voraussetzungen wurden vor allem über die kommunalen Abwassergebühren geschaffen. Verbunden war damit für alle Gebietskörperschaften der Region ein existenzieller Paradigmenwechsel. Dies spürte auch ich sehr deutlich, als 1999 meine Arbeit als Umwelt- und Planungsdezernent bei der Stadt Dortmund be-

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Plan Phoenix-West und Phoenix-See mit Ortskern Dortmund-Hörde (Stand 2022)

gann. Zwar wurde im Umweltamt als unterer Wasserbehörde sehr engagiert an den Planfeststellungsbeschlüssen für den ökologischen Umbau der Emscher und ihrer Nebenflüsse gearbeitet. Es gab schon ein radial-konzentrisches Freiraumkonzept für Dortmund, aber es fehlte an einem ökologischen Gesamtkonzept für den Umbau und die damit einhergehende Hebung ökologischer Potenziale. Dies zeigte sich besonders daran, dass die Gebietskulisse des soge­ nannten Emscher Landschaftsparks (ELP – der bestimmenden Raumfigur der IBA) von Westen, der Mündung in den Rhein kommend, auf Dortmunder Stadtgebiet im Nordwesten (genauer im Stadtteil Mengede) endete und nicht nach Osten weiterführte. Mit anderen Worten: Die ca. 30 Flusskilometer quer durch Dortmund bis zur Emscher-Quelle an der Stadtgrenze zwischen Holzwickede und Dortmund waren strategisch und konzeptionell schlicht nicht berücksichtigt worden. Dies sollte sich bald ändern. Auf Initiative des damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (1998–2002) lud 2000 die Staatskanzlei NRW die kommunalen Umwelt- und Planungsdezernenten nach Oberhausen ein. Bei dieser Gelegenheit sollten Zukunftsprojekte für die Region bzw. Metropole Ruhr erörtert werden, um ein konzeptionelles Vakuum nach dem IBA-Finale erst gar nicht entstehen zu lassen.

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Aus Dortmunder Sicht schlug ich damals mit Bezug zum radial-konzentrischen Freiraumkonzept die Ausdehnung der Gebietskulisse des Emscher Landschaftsparks bis zur Emscher-Quelle vor. Dieser Gedanke wurde sehr positiv aufgenommen und danach in verschiedenen Beschlussfolgen der Landesregierung und des Landtags realisiert. Dortmund als Paradigmenpionier – PHOENIX als Modell Damit war nicht nur eine Gebietskulisse ausgedehnt, sondern auch eine konzeptionelle Lücke geschlossen. Die Vernetzung von Landschaftsteilen konnte zugunsten floristischer und faunistischer Vielfalt vorangetrieben werden. Zudem taten sich für die industriekulturellen Zeugnisse (Phoenix-West, Kokerei Hansa, Deusenberg) auch ganz neue Möglichkeiten der Naherholung und der Tourismusförderung auf. Somit eröffneten diese thematischen Optionen auch neue Zugänge zu Fördertöpfen des regionalen Strukturfonds. Die Entwicklung des Phoenix-Sees war nun konzeptionell regional verankert. Phoenix-West erhielt als Technologiestandort unter dem Label „Arbeiten im Park“ neben der Nord-Süd-Anbindung an die historischen regionalen Grünzüge des SVR/KVR/RVR auch eine Ost-West-Spange durch das neu gestal-

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tete Emschertal. Rund 120 (Klein-)Gartenanlagen waren auf einen Schlag räumlich vernetzt. Und landschaftlich reizvolle Transferräume zwischen Emscher und Ruhr beförderten ökologische Vernetzung und Naherholung. Auf dieser Grundlage wurden in Dortmund von 2001 bis 2004 die planerischen Instrumente entsprechend kalibriert. Die Denkweisen bestimmten den „Masterplan Umwelt“, der Flächennutzungsplan disponierte entsprechend und auch die Festsetzungen des Landschaftsplanes (seinerzeit noch drei Teilpläne) rezipierte den ökologischen Umbau der Flusslandschaft. Die damit einhergehenden Planfeststellungsverfahren (der PhoenixSee wurde z. B. als Talsperre planfestgestellt) konnten aufgrund der inhaltlichen Einbindung in ein räumlich funktionales Gesamtkonzept neben den wasserwirtschaftlichen Aspekten auch andere (etwa klimabezogene) Aufgaben einbeziehen und hilfreiche Synergien entfalten. Die Integration verschiedenster inhaltlicher Ziele lässt sich heute sicherlich am besten am Phoenix-See nachvollziehen. Neben der ökologisch ori­ entierten Wiederherstellung von Landschaft ist mit dem See eine Hochwasserschutzeinrichtung entstanden, die erst jüngst (2021) ihre – im wörtlichen Sinne – Taufe durch die Aufnahme von 100.000 Kubikmetern Hochwasser erlebte. Rund um den See ist eine anmutige Auenlandschaft entstanden wie auch ein attraktiver urbaner Raum zum Wohnen und Arbeiten. Als Naherholungs-, Sport- und Freizeitareal erfreut sich der See regionaler Beliebtheit.

ELP-Schemakarte -Projekte A4mono 05 12.pdf

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20.04.16

19:14

Internationale Gartenbauausstellung 2027 an der Emscher Aber auch andernorts hat die ökologische Umgestaltung der Emscher neue Möglichkeiten und damit Perspektiven des Wandels eröffnet. So wird im Gefolge der Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) Metropole Ruhr 2027 im Nordwesten der Stadt Dortmund ein bisher eher vernachlässigter Landschaftsraum entlang der Emscher völlig neu strukturiert. Dieser verbindet künftig einen Stadtraum, der vom Phoenix-See über Phoenix-West und das Naturschutzgebiet Bolmke sowie über das ehemalige Hoesch-Spundwand-Gelände (zukünftig „smart rhino“) bis in den zentralen Bereich der IGA 2027 rund um die Kokerei Hansa und den Deusenberg reicht, und sich dann noch bis zu den Hochwasserrückhaltebecken der Emscher-Auen im Dortmunder Nordwesten im Übergang nach Castrop-Rauxel erstreckt. Hier bildet die Emscher das Rückgrat für einen gewaltigen (Struktur-)Wandel von Stadt und Region.

Emscher Landschaftspark (ELP) mit Emscher Park Radweg

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Ullrich Sierau war Umwelt- und Planungsdezernent (1999–2009) und danach Oberbürgermeister der Stadt Dortmund (2009–2020) sowie Vorsitzender des Genossenschaftsrates der Emschergenossenschaft (2014–2020).

Sie ist damit für die Stadtentwicklung von zentralerer Bedeutung als die Ruhr, die den Dortmunder Süden nur auf einer Uferlänge von 0,5 Kilometern tangiert. Gern sprechen wir deshalb von der „Emscher-Metropole“ in unserer Stadt. Auf zu neuen Ufern: Neue Konzepte und Projekte für Hochwasserschutz, Wohnungs- und Gewerbebau Der gesamte Prozess hat in den letzten vier Dekaden die Region verändert, Standorte qualifiziert, ökologische Potenziale gehoben, Lebensqualität verbessert, Nachhaltigkeit und Zukunftsperspektiven geschaffen. Obgleich das Ganze (auch in Dortmund) noch nicht vollständig abgeschlossen ist, beeindruckt das Ergebnis enorm. Diese Erfolgsgeschichte ist ein stabiles Fundament, um weitere bzw. neue Herausforderungen anzugehen. In den meisten Emscher-Kommunen sind ambitionierte Projekte fertiggestellt oder befinden sich in der Umsetzung. Die Emschergenossenschaft hat als kompetente Dienstleisterin und Akteurin die regionale Klammer gebildet und den lokalen Projekten eine übergreifende regionale Relevanz verliehen. Hierfür war der Masterplan „Emscher-Zukunft“ von 2006 sehr hilfreich, der neben den wasserwirtschaftlichen, hydraulischen, technischen, ökologischen und biologischen Aspekten auch klimatische, städtebauliche und touristische Themen gleichermaßen partizipativ wie „schwarmintelligent“ er- und bearbeitet hat. Die Zeit ist aber nun reif für eine Fortschreibung oder besser noch für einen weiteren eigenständigen Masterplan(-prozess), der sich auf Grundlage des Erreichten weiterhin um die Emscher und deren räumliches, städtebauliches sowie gesellschaftliches Umfeld kümmert. So erfolgreich die bis heute geschaffenen Strukturen etwa bei der Abwasserbeseitigung, bei der Trennung von Regenwasser und Abwasser oder im Hochwasserschutz auch sind, so bestehen neue Herausforderungen, denen sich die Emschergenossenschaft (und der Lippeverband) sowie andere regionale Akteure stellen müssen. Die Starkregenereignisse der letzten Jahre, die im Jahr 2021 aufgrund dramatischer Katastrophen neue gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit erfahren haben, sollten Anlass sein für weiterführende Konzepte und Projekte. Die aktuelle Kanal- und Retentionsinfrastruktur der Emscher hat die jüngsten Starkregenereignisse in der Region erfreulicherweise gut bewältigen können. Doch es deutet sich an, dass noch stärkere Regenereignisse nicht ohne Weiteres so erfolgreich bewältigt werden können. Insofern sind zusätzliche Instrumente für den Umgang mit und die Bewirtschaftung von Regenwasser zu entwickeln. Es muss noch intensiver als bisher an Konzepten für die Versickerung von Regenwasser gearbeitet werden (Stichwort „Schwammstadt“), temporäre Polderflächen müssen durch vertragliche Vereinbarungen mit Akteuren der Landwirtschaft gesichert und vorgehalten werden. Die Emscher hat sich zu einem attraktiven Standortfaktor sowohl für Wohnungsneubau als auch für die Ansiedlung von Gewerbe entwickelt. Am Flussufer bieten sich neu konzipierte Wohnquartiere und Gewerbegebiete als Innovationsmotoren an, in denen neben den wasserwirtschaftlichen Fragestellungen auch neue Bauformen (z. B. für Holzhaussiedlungen) oder auch neue urbane Nutzungsmischungen entstehen können. Auch die Wiederherstellung nachhaltiger Biodiversität muss Thema dieses neuen Masterplans sein. In Kooperation mit der Land- und Forstwirtschaft können völlig neue Dimensionen der Landschaftsentwicklung und des Artenschutzes erschlossen werden. Angesichts der alle Lebensbereiche tangierenden und durchdringenden Digitalisierung ist auch hier dringender Erörterungs- und Handlungsbedarf gegeben. Fazit: Transformation als Daueraufgabe Alles fließt (Heraklit: Panta rhei), aber nichts (an Ideen, Optionen und Chancen) darf den Bach runtergehen. Denn Transformation ist eine Daueraufgabe. Dank des bisher Erreichten können im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusst neue Ufer angesteuert werden. Was geschaffen wurde, braucht kontinuierliche Qualitätssicherung. Künftige Herausforderungen müssen in bewährter und eingeübter, aber auch kreativer Qualität angegangen werden. Inspiration und Motivation können aus dem Ergebnis bisherigen Kümmerns und Schaffens erwachsen.

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Fluss   d e r Versöh n u n g

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Reflexionen zur Renaturierung der Emscher als Element der Vergangenheits­ bewältigung des Ruhrgebiets

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Alte Emscher im Landschaftspark Duisburg-Nord, Duisburg-Meiderich

| Stefan Berger, Ute Eickelkamp

ie Deutschen sind bekanntlich Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung. Im Hinblick auf ihre nationalsozialistische Vergangenheit werden sie weltweit bewundert und beglückwünscht für ihre Bereitschaft, sich ihrer Geschichte kritisch zu stellen und den dunkelsten Abschnitt derselben zum Ankerpunkt ihrer nationalen Identität zu erklären. Im Zuge dieses langwierigen Prozesses, der sich seit den 1980er Jahren zunehmend durchsetzt, wurden in Deutschland auch andere Aspekte der Geschichte einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen, die Bemühungen zur Folge hatten, selbige zu „bewältigen“. Die kolonialen Verbrechen der Deutschen in Namibia sind hierfür ein gutes Beispiel. Im Ruhrgebiet gilt es vor allem, eine schwerindustrielle Vergangenheit zu bewältigen. Im Zuge der sich seit einigen Jahren intensivierenden Debatten um den Klimawandel rückt dabei die Zerstörung der Umwelt immer stärker in den Mittelpunkt solcher Bemühungen, die Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten, um in der Gegenwart Lehren zu ziehen und es in der Zukunft besser zu machen. Die Revitalisierung der Emscher zählt zu Europas größten Infrastrukturmaßnahmen und ist das wohl ambitionierteste Projekt in der Region, das sich dieses Ziel setzt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts machte die Industrialisierung den Fluss zum Abwasserkanal und zum negativen Symbol für Deutschlands öko­logisch zermürbte Montanregion. Im Kontext der jahrzehntelangen Umstruk­ turierung führt die kritische Aufarbeitung dieser Zerstörungsgeschichte zu einer Wiedergutmachung in Gestalt von Renaturierung. Der Emscher-Umbau ist jedoch ein durch und durch industrieller Prozess, der nur durch hochentwickelte Technologien, ein umfangreiches Netzwerk von Partnerschaften und komplexe Handlungsstrategien, die weit über die Wasserwirtschaft hinausgehen, verwirklicht werden kann. Damit passt die Renaturierung in die Bewerbung des regional einzigartigen Konzepts „Industrienatur“, also der geplanten biologischen Zurückeroberung ehemaliger Industriebrachen, die ebenfalls zum Zeichen einer neuen Würdigung von nachhaltigem Umgang mit der Umwelt geworden ist. (Eiringhaus 2018)

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Geschichte und Struktur

Relevanz und Inhalte einer neuen Erzählung Welche Erzählungen entstehen nun im Zusammenhang mit diesen Versuchen, allgemein „die Umwelt“ und konkret „den Fluss“ Emscher nachhaltiger aufzustellen und somit aus der Vergangenheit zu lernen? Wenn Uli Paetzel das Ziel folgendermaßen formuliert: „Mit dem Erreichen der Abwasserfreiheit in der Emscher werden wir den Menschen ihren Fluss zurückgeben”, stellt sich die Frage danach, was wem wie zurückgegeben werden soll, also welche Form von Wiedergutmachung hier eigentlich angestrebt wird. Die Emschergenossenschaft betont immer wieder, dass dieses Zurückgeben in erster Linie Partizipation der Bevölkerung an der Landschaftsgestaltung bedeutet. So erklärte Paetzel im August 2021, wenige Tage vor der Inbetriebnahme des neuen Pumpwerks in Oberhausen, dass die nächste Etappe der „Mitmachfluss“ ist und kündigte ein Bündel von Beteiligungsaktionen

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Alte Emscher im Landschaftspark Duisburg-Nord, Duisburg-Meiderich

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an (Weltmann 2021). Doch es obliegt der Emschnergenossenschaft als Planerin und Entscheidungsträgerin zu bestimmen, dass dem Fluss eine neue Rolle zugesprochen wird, nämlich als Aktionsraum für jene, die mitmachen wollen. Die Emschergenossenschaft hat in den letzten Jahren nicht nur die Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit in kritischer Absicht gefördert (Balz / Kirchberg 2020), sie hat auch die gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über die Förderung von Kultur und Kunst aktiv betrieben und sieht sich explizit als Akteurin, die im Sinne der Erziehung zu mehr Demokratie und gegen Rassismus und Antisemitismus eine politisch-moralische Rolle spielt. Viele der Kunstwerke, die nun dauerhaft den Emscherkunstweg darstellen, setzen sich in durchaus kritischer Absicht mit der industriellen Vergangen­ heit auseinander und regen zum Nachdenken an. Aber ob durch Kunst oder Wissenschaft oder auch den öffentlichen Dialog, den die Emschergenossenschaft in vielfältiger Weise sucht, immer stellt sich die Frage: Welche Vergangenheit wird hier wie und für wen bewältigt? Die industrielle Vergangenheit hat nicht nur die Umwelt, sondern auch Menschen zerstört und ausgebeutet im Interesse der Profitmaximierung der im Ruhrgebiet angesiedelten Industrien. Der Kampf gegen diese Formen von Ausbeutung wurde von unterschiedlichen Personen und Institutionen im Namen von mehr sozialer Gerechtigkeit geführt. An erster Stelle sind hier die Arbeiter:innen selbst zu nennen, die sich über Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Parteien zur Wehr setzten, Streiks organisierten und Verhandlungen mit Unternehmen führten. Natürlich gab es auch progressive und paternalistische Unternehmer, bürgerliche Sozialreformer sowie Vertreter:innen der Kirchen, die die „Arbeiterfrage“ des 19. Jahrhunderts zu lösen suchten. Noch das 20. Jahrhundert war im Ruhrgebiet durch scharfe Klassenkämpfe geprägt, die erst durch den

Prof. Dr. Stefan Berger ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen und Direktor des Institus für soziale Bewegungen (ISB) an der Ruhr-Universität Bochum sowie Vorstandsvorsitzender der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets.

Dr. Ute Eickelkamp lebt und arbeitet seit über 20 Jahren als Ethnologin in Australien  (Dr. Phil. 2001, Heidelberg), und hielt Forschungs- und Lehrstellen an der University of Sydney (2010—2019).  Sie wuchs in Recklinghausen-Süd an der Emscher auf.

Korporatismus des rheinischen Kapitalismus in der Bundesrepublik entschärft werden konnten, auch wenn hier immer wieder Konflikte auftauchten, die nur schwer zu befrieden waren, wenn es etwa um die Behandlung von sogenannten „Gastarbeitern“ ging oder um die Stilllegung von Betrieben als Folge von Deindustrialisierungsprozessen. Grüne Transformation und die sozial-zivilgesellschaftliche Dimension Blendet die Konzentration auf die Natur und die Bewältigung der Umweltschäden die Bewältigung der sozialen Probleme aus? Die Köttelbecke Emscher verschwindet ja sozusagen parallel mit den Bergleuten und Stahlarbeitern, die allerdings als Kulturerbe bisher noch sichtbar sind und somit aufgearbeitet oder touristisch „konsumiert“ werden können. Nicht so die Wirklichkeit des neuen Prekariats: Vor allem Teilzeitarbeiter im industriellen Kern und dem damit verbundenen Dienstleistungssektor überleben ohne Repräsentation, ohne aktive Teilnahme an der regionalen Mehrwertsteigerung durch Renaturierung. Der Emscher-Umbau ist Teil des Strukturwandels, der im Ruhrgebiet gerne als erfolgreicher gefeiert wird. In der Tat, schaut man auf die „Landschaften der Verzweiflung“, die sich im Zuge von Deindustrialisierung im rust belt der USA oder im Norden Englands gebildet haben, wird man neidlos anerkennen müssen, dass das Ruhrgebiet den Strukturwandel besser gemeistert hat als andere schwer­industrielle Ballungsregionen. Dennoch gab und gibt es in diesem Prozess viele Verlierer. Jedes dritte Kind im Ruhrgebiet wächst in Armut auf, die Arbeitslosenzahlen gerade im nördlichen Ruhrgebiet liegen weit über dem Bundesdurchschnitt, und es formiert sich in der Region ein immer größer werdendes Prekariat, das sich neuen Formen der industriellen Ausbeutung, schrumpfenden Lebenschancen und kultureller Ausgrenzung ausgesetzt sieht (vgl. Nachtwey 2016). Ist die auf Natur abzielende Vergangenheitsbewältigung nicht auch ein Verdrängungsprozess der neuen sozialen Probleme der Region, also eine räumlich-ästhetische Abschottung einer auch nicht mehr gesicherten Mittelschicht (s.a. Edensor 2005)? Wird den Verlierern des Strukturwandels der Fluss Emscher ebenso zurückgegeben wie den Gewinnern? Radikaler gefragt: Besteht die Gefahr, dass die angestrebten Wachstumsimpulse durch „Attraktivitätssteigerung“ des Landschaftsbildes (Faszination.Transformation) die vertikalen Ungleichheiten in der Region verschärfen? Oder gibt es gute Gründe zu meinen, dass die grüne Gentrifizierung des Emschertals der sozialökonomischen Polarisierung ein Ende setzt? Die grüne Transition des Ruhrgebiets ist eine riesige und eminent wichtige Herausforderung, aber sie muss verbunden werden mit der Lösung der sozialen Probleme der Region. Menschenverachtung spiegelt sich nicht nur in Umweltzerstörung, Rassismus und Diskriminierung, sondern auch in der Produktion sozialer Armut und Ausgrenzung. Genau dies wurde thematisiert im dialogischen Theaterstück Arbeiterinnen / Pracujace kobiety der werkgruppe 2, filmisch uraufgeführt bei den Ruhrfestspielen 2021. Das dokumentarische Porträt von Arbeiterinnen im Ruhrgebiet und in Niederschlesien über drei Generationen hinweg macht hautnah nachvollziehbar, wie sozialer Abstieg erfahren wird und gilt damit als wichtiger Anstoß zur Anerkennung einer sich ausweitenden Marginalität. Ist es vor diesem Hintergrund nicht notwendig, mehr Menschen mitzunehmen auf dem Weg zur grünen Transition des Ruhrgebiets, und dies nicht nur als informierte und konsultierte Öffentlichkeit, sondern in erster Linie als produktive Teilnehmer:innen? Um dies zu tun, muss aber erst mal die historischethnologische Forschung zu den Menschen in Gang kommen, die an der Emscher wohnen, die Landschaft an der Emscher nutzen und sie mit Bedeutungen versehen, und von denen wir viel zu wenig wissen. Neben den gut entwickelten sozialstatistischen Erhebungen einer empirischen Sozialwissenschaft wird es notwendig sein, qualitative ethnologische Studien anzustoßen, die besonders auf die Funktion von Erinnerung an industrielle Vergangenheiten und „Natur“ im Hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit für Gegenwartspositionierungen rekurrieren, die wiederum Zukunft gestalten wollen. Eine „gerechte Landschaft“ (Olwig 2007) wird an der Emscher nur entstehen, wenn die neue Idylle nicht vor neuer Exklusion die Augen verschließt und partizipative Prozesse anstößt, die auf Inklusion aller Bevölkerungsgruppen, insbesondere der sozial Schwachen, besteht. Die Armut und das Prekariat des Ruhrgebiets sollten nicht in einer Gartenlandschaft mit blauem Fluss versinken.

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Die Emscher im B i l d : Zwei Ausstell u n g e n im Ruhr Mu s e u m und auf Zollv e r e i n

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Geschichte und Struktur

| Heinrich Theodor Grütter

Nikita Teryoshin: Auf der Asche des Phoenix, 2021. Aus dem Projekt „Auf der Asche des Phoenix – Dortmund Hörde und der Phoenix-See" mit 64 Fotografien

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ie Renaturierung der Emscher ist eines der größten ökologischen Projekte der Bundesrepublik und ein Symbol für den nachhaltigen Umbau des Ruhrgebiets. Das Ruhr Museum auf Zollverein, die Stiftung Zollverein und die Emschergenossenschaft widmen der Abwasserfreiheit des ehemaligen Industrieflusses zwei Ausstellungen. Das gigantische Vorhaben des Emscher-Umbaus, das zu den bedeutendsten ökologischen und nachhaltigen Landschaftsprojekten in Europa gehört, ist nicht nur ein technisches, sondern vor allem auch ein symbolisches Projekt, das dem Ruhrgebiet Perspektiven bietet und ihm zeigt, dass der Strukturwandel positiv verläuft und es eine angenehmere und nachhaltigere Zukunft nach der Schwerindustrie geben kann. Das Gelände der Zeche Zollverein im Essener Norden ist durch den Katernberger Bach Teil des Emscher-Systems. Das Ruhr Museum und die Stiftung Zollverein haben daher den vorläufigen Abschluss des Emscher-Umbaus, dem natürlich noch zahlreiche Arrondierungsmaßnahmen in den kommenden Jahren folgen werden, zum Anlass für zwei große Ausstellungen auf dem Welterbe Zollverein im Essener Norden genommen. In enger Zusammenarbeit mit der Emschergenossenschaft wird die bedeutende Geschichte des Flusses beleuchtet und zugleich werden seine landschafts- und gesellschaftsprägende Gegenwart und Zukunft reflektiert. Diese Phase ist das Thema einer Ausstellung, die die Stiftung Zollverein gemeinsam mit der Emschergenossenschaft seit Mai 2022 in der spektakulären Kulisse der Mischanlage der Kokerei Zollverein zeigt. Beyond Emscher. Fotografische Positionen aus der Gegenwart präsentiert die Fotografien des Projekts, das die Emschergenossenschaft seit 2015 unter dem Titel „emscherbilder“ betreibt. 16 fotografische Positionen, die in den Jahren 2016 bis 2021 entstanden sind, zeigen die Emscher-Region und das soziale Leben aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, wobei die Fotograf:innen nicht die baulichen Maßnahmen des Emscher-Umbaus dokumentieren, sondern seine ökologischen, gesellschaftlichen, topografischen und urbanen Folgen. Nach einem Zeitraum von ca. zehn Jahren zu Beginn des Jahrtausends, in dem die Emschergenossenschaft den Fotografiewettbewerb „Bridges“ ausgeschrieben und professionell durchgeführt hatte, wurde 2015 ein neues Format, die „emscherbilder“, entwickelt. Dies setzte nicht mehr auf zufällig eingereichte Arbeiten, sondern es wurden Fotograf:innen beauftragt, eigens erarbeitete Konzepte zum Emscher-Umbau umzusetzen. In den Jahren 2015 bis 2021 gab es vier Beauftragungen mit je vier ausgewählten Positionen. Das Verfahren dieser Beauftragung beruhte auf Vorschlägen eines Kuratorenteams, war differenziert und durch ein zweistufiges Auswahlverfahren gekennzeichnet. Die Emscher selbst ist auf den Fotografien der 16 Fotograf:innen nur selten zu sehen, da nicht der Emscher-Umbau als solcher im Zen­trum stand. Daraus erklärt sich der Ausstellungstitel: Die Motive liegen „jenseits der Emscher“ und der Dokumentation der Baumaßnahmen durch die Emschergenossenschaft. Die Fotograf:innen kamen aus ganz Deutschland und Österreich, oder lebten hier zeitweise.

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Geschichte und Struktur

Hochwasser der Berne, Essen 1936

Ursprünglicher Lauf der Emscher vor dem Einlauf Phoenix, DortmundSchüren 1913 Verlegung der Emscher-Mündung, Dinslaken 1948

Heinrich Theodor Grütter ist Direktor des Ruhr Museums und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein.

Ziel war es, künstlerisch-dokumentarische Fotografien zu erhalten, die zeigen, was die Emschergenossenschaft selbst nicht dokumentiert. Das sind zum Beispiel die sozialen Folgen des Umbaus, aber auch eine Beschreibung der Region, in der sich dieser Jahrhundertumbau vollzog. Angestrebt wurde explizit eine Fotografie, die auch in einer fernen Zukunft noch verständlich ist. So wurden der dokumentarische Stil und dokumentarische Erzählstrategien gesucht und gefördert. Präsentiert werden die sehr unterschiedlichen Fotografien in den spektakulären Räumen der Bunker- und Trichterebene der Mischanlage auf der Kokerei Zollverein, wobei die Ausstellungsräume den verschiedenen Formaten und den unterschiedlichen Umfängen der jeweiligen Fotoserien zugutekommen. Die zweite Ausstellung, Emscher-Ansichten. Bildgeschichte eines Flusses, die das Ruhr Museum ab September 2022 in seinem großen Wechselausstellungsraum auf der 12-Meter-Ebene der Kohlenwäsche Zollverein zeigt, präsentiert vor allem die historischen und zeitgenössischen Aufnahmen aus dem Archiv der Emschergenossenschaft. Dabei handelt es sich u.a. um Glasplatten als Originale, Fotopanoramen und historische Fotomappen, die den Umbau der Emscher seit Beginn des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll dokumentieren. Die Ausstellung erzählt dabei verschiedene Stationen der Flussgeschichte, angefangen bei den durch die Industrialisierung geschaffenen Problemen, den Abwassersümpfen, den chaotischen Zuständen bei der Entwässerung, den desolaten hygienischen Zuständen im Ruhrgebiet über die Gründung der Emschergenossenschaft 1899 hin zu ihren Problemlösungen: die Verlegung der Emscher-Mündung in den Jahren 1906 und 1949, die Begradigung des Flusslaufes, der Bau von Kläranlagen und Pumpwerken. Sie zeigt aber auch die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, die Beseitigung der Kriegsschäden durch den Einsatz von Zwangsarbeitern, den Wiederaufbau und die Erneuerungen nach dem Krieg bis hin zum Umbau des Emscher-Systems. Flankiert wird die Fotoausstellung im Hauptraum von einem Prolog und einem Epilog in den Seitenräumen. Zum einen präsentiert sie die ursprüngliche Emscher, bevor diese zum Industriefluss wurde, anhand von Karten, Stichen und Gemälden. Sie zeigt eine dünn besiedelte Auenlandschaft mit einer großen Dichte an Wasserschlössern und -mühlen, die sich im wasserreichen Emscherbruch in der Vormoderne entwickeln konnte und erst im 19. Jahrhundert in kürzester Zeit zu einer der größten und am dichtesten besiedeltsten Industrielandschaften wurde. Und die Ausstellung zeigt auf der anderen Seite den Umbau des Emscher-Systems und seine Renaturierung mit aktuellem Fotomaterial der Emschergenossenschaft aus den letzten Jahrzehnten, aber auch dem preisgekrönten Filmprojekt Emscherskizzen von Christoph Hübner und Gabriele VossHübner. Begleitet werden die beiden Ausstellungen von einem umfangreichen Kulturprogramm, das die Stiftung Zollverein, das Ruhr Museum und die Emschergenossenschaft das ganze Jahr 2022 über auf dem Welterbe veranstalten und das neben einem umfangreichen Filmprogramm mit dokumentarischen und künstlerischen Interventionen zur Emscher, Vorträgen und Diskussionen auch Exkursionen zur und entlang der Emscher, etwa entlang des Emscherkunstwegs oder in die Haldenlandschaft im Emscherbruch, umfasst.

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| Dieter Nellen, Stephan Treuke

Konz e p t e und For m a t für  d i e Ems c h e r

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as Ruhrgebiet verdankt seine Entstehung als europäische Agglo­ meration der forcierten montanen Großindustrialisierung. Während die am historischen Hellweg (der heutigen A 40) gelegenen Kommunen wie Duisburg, Essen und Dortmund (als Freie Reichsstadt) bereits im Mittelalter städtisch geprägt waren, sind die heutigen Gebietskörperschaften der EmscherZone bestenfalls aus Ackerdörfern hervorgegangen und ziemlich schutzlos der Ökonomisierung des Raumes ausgesetzt. Eine urbane Statur entstand hier erst – zunächst mehr demografisch als strukturell – mit der Industrialisierung. Zudem musste der Bergbau für die technisch immer aufwendigere Erschließung und Distribution der von Süden nach Norden degressiv verlaufenden Lagerstätten noch „raumgreifender“ werden. Das Ergebnis ist das gesamte 20. Jahrhundert hindurch eine europaweit einmalige Überformung der Landschaft durch Infrastruktur, industrielle Produktion und Abraumhalden – kommunikativ und politisch abgesichert und verbunden mit einer (über Jahrzehnte bewusst hingenommenen oder sogar gewollten) ökonomischen Monostruktur sondergleichen. Die Folgen sind bis heute in einem noch nicht finalisierten Strukturwandel sichtbar. Funktionale Ordnung gestört Früh entwickelten sich institutionelle Gegengewichte (allerdings mit begrenzter Wirkungsmacht): Der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR), 1920 zunächst zur ökonomischen Konditionierung und Erfüllung von Reparationsleistungen gegründet, wird allmählich der „Repräsentant der räumlichen Einheit im Ruhrgebiet“. 1960 definierte der SVR (heute Regionalverband Ruhr / RVR) in einem Planungsatlas das „Emscherband“ als „Ordnungszone“: „Durch planloses Wachstum in der Vergangenheit ist die funktionale Ordnung weitgehend gestört. In dieser Zone ist die Wiederherstellung bzw. Erhaltung der Ordnung Hauptaufgabe der Landesplanung, sie wird deshalb Ordnungszone genannt“. Die eigentliche Ruhrregion gilt demgegenüber als „Saturierungszone“. Der allgemeine Entwicklungsrückstand der Emscher wurde spätestens in den 1980er Jahren erkannt und führte zu verschiedenen politischen Initiativen, um die Emscher- und angrenzende Lippe-Region gleichwertig gegenüber der Hellweg-Zone in Nordrhein-Westfalen zu positionieren. Diese fanden in der damaligen Landesregierung durchaus Zustimmung, wo sich zwei gleichermaßen persönlich wie konzeptionell ambitionierte Landesminister, Klaus Matthiesen (für Umwelt) und Christoph Zöpel (für Stadt- und Regionalentwicklung) politisch gewinnen ließen. Auch der Bund verweigerte sich nicht der strukturellen Abfederung des Kapazitätsabbaus bei Kohle und Stahl in der Emscher-Region. 1987/88 wurden dazu ruhrgebietsweit millionenschwere Programme aufgelegt. Damit begann eine Phase baulicher Intervention und strategischer Formatierung für die Emscher, die bis heute anhält und vorerst bis zur Internationalen Gartenausstellung (IGA) Metropole Ruhr 2027 reicht. Immer ging und geht es um nachhaltiges Engagement, nicht (nur) um kurze schnelle Erfolge, wobei natürlich zeitgemäße Kommunikation, Kultur- und Tourismusmarketing und themennahe Festivalisierungen begleitend hinzutreten.

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Geschichte und Struktur

IBA Emscher Park: Wiederherstellung von Landschaft und neue Stadtqualitäten Der systemische Ansatz verdichtete sich mit der IBA Emscher Park, die die aktuellen Interessen- und Bedarfslagen zu einer regionalen Dekadenstrategie (1989– 1999) formierte. Initiiert wurde sie von Christoph Zöpel und Karl Ganser – der eine Minister, der andere sein zuständiger Ministerialdirigent – als strategische Köpfe der damaligen NRW-Landesregierung. Ein Impuls war auch aus Berlin, von der dortigen IBA (1978–1987) und deren auf die reparaturbedürftigen Teile des Westberliner Stadtkörpers bezogenen Strategie ausgegangen. Erstmals standen in der geteilten Stadt nicht Neubau und Expansion, sondern „kritische Rekonstruktion“ und thematische Impulse in die Quartiere auf der Agenda. Das 1988 verfasste „Memorandum zu Inhalt und Organisation“ der IBA Emscher Park bezog sich auf den landschaftlich am meisten deformierten Teil im Ruhrgebiet und formulierte ehrgeizige Ziele: „Die Internationale Bauausstellung Emscher Park soll konzeptionell, praktisch, politisch finanziell und organisatorisch dem ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbau des Emscherraumes zukunftsweisende Impulse geben […]. Die Vision ist ambitioniert, entlang der Emscher zwischen Duisburg und Dortmund inmitten einer besonders dicht besiedelten und stark belasteten Industrielandschaft Landschaft aufzubauen und neue Stadtqualitäten zu schaffen“. Dazu erfolgen zügig Projektaufrufe, die alle bis zur Bewilligung qualitätsorientierten Wettbewerbsverfahren unterworfen werden. Ebenso wichtig, weil „systemexistenziell“, wird der 1991 im IBA-Kuratorium nachrichtlich beschlossene Emscher-Umbau. Wenige Jahre vorher war dieser noch von der Genossenschaftsspitze verneint worden.

Planungsgrundlagen SVR 1960

NEUES REVIER

NORDGEBIET LIPPECHEMIE

E

Kreis Wesel

GRENZLAND Kreis Kleve

RHEINBERGBAU

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SZONE

L I P P E F E T T KO H L E

KANALKREUZ

Kreis Recklinghausen

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Ober- Bottrop hausen

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R H E I N M E TA L L Mülheim a.d.Ruhr

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H E L LW E G B Ö R D E

Herne

Dortmund

EMSCHERBAND

A LT E S Essen R E V I E R

Bochum

R U H R M E TA L L

SAT U R I ERU N G S

RUHRVILLA

Hamm

Kreis Unna

Gelsenkirchen

Duisburg

S-W-REVIER

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MITTLER

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LIPPEMÜNDUNG

EnnepeRuhr-Kreis

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Hagen

0

10 km

SÜDGEBIET

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Masterplan „Emscher-Zukunft“ 2006

Entwicklungsziele des Masterplans Aufwertung durch Maßnahmen im öffentl. Raum Aufwertungspotenzial im Siedlungsbestand Entwicklungspotenzial Emscher-Aue Freiraumentwicklungspotenzial, Gestaltung extensiv Freiraumentwicklungspotenzial, Gestaltung intensiv, Freiraumverbindung Emscher – RHK, Potenzial neues Freiraumelement, Nebenlauffläche, landschaftsarchitektonisch gestalteter Bereich Neue Emscher Integration und Aufwertung von Freiraumelementen Nutzungs- u. Identitätsänderung im Bestand langfristige Siedlungsentwicklung – Vorschlag mez neues Siedlungselement – bereits in Planung RVR Zechenbrachen RVR Gewerbe und Industrie RVR Wohnen, RVR Ver- und Entsorgung, RVR öffentliche Nutzungen

Kreis Wesel

freiraumplanerischer und städtebaulicher Schwerpunkt ökologischer Schwerpunkt

Gelsenkirchen

Attraktor (überregionale Bedeutung) Attraktor (regionale Bedeutung)

Oberhausen

Gewässerabschnitte EG (Auswahl) Gewässer (Rhein+Kanäle)

Bottrop

Duisburg Essen

Mülheim a.d.Ruhr

Bottrop-Lehmkuhle

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1 km

! !

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Geschichte und Struktur

Herne-Crange

Kreis Recklinghausen

Herne

Dortmund Kreis Unna

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10 km

Die IBA begann ihre Arbeit ohne die bis dahin gängige Gläubigkeit „an große Pläne“ und setzte stattdessen auf die Dynamik bzw. regionale Stimu­ lanz von Einzelprojekten und Arealen („Perspektivischer Inkrementalismus“), hinterließ aber dennoch ein planvolles Netz von Projekten und thematischen Bespielungen. Für die territoriale Fassung entsteht die Raumfigur des sogenannten Emscher Landschaftsparks (ELP), horizontal zu den vertikalen Grünzügen des früheren SVR/KVR (Kommunalverband Ruhrgebiet) und inzwischen gerne durch den etwas ubiquitären Begriff „grüne Stadtlandschaft“ ersetzt. Eine Bundesgartenschau (BUGA) mit grüner Konversion der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen 1997 (an Kanal und Emscher) und eine Landesgartenschau (OLGA) 1999 in Oberhausen (auf der ehemaligen Zeche Osterfeld) flankier­ ten diese Neuformatierung altindustrieller Orte. Das IBA-Gesamtergebnis ist eine nachhaltige Partitur von Strategie, weicher Steuerung (mit großzügigen Budgets) und lokaler Realisierung. 120 Projekte sind nach einer Dekade realisiert.

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2001 wurde die Zeche Zollverein in Essen gewissermaßen konsekutiv Weltkulturerbe der UNESCO. Die IBA hat auch bei einem anderen Projekt weit nach vorne gedacht, die Blaupause dafür noch in ihrer Zeit entwerfen lassen: Das Ruhr Museum, jetzt die ganze Region historiografisch im Blick, wanderte zur Kulturhauptstadt 2010 in den Essener Norden nahe an die Emscher. Neuer Standort war die Kohlenwäsche auf Zollverein. Man tritt keinem anderem Projekt oder Format zu nahe, wenn man – auch drei Jahrzehnte später mit dem nötigen analytischen Abstand – die IBA Emscher Park als den entscheidenden Impuls für die Emscher-Entwicklung bewertet. Am Ende schuf sie, wie es die Historikerin Pia Eiringhaus herausgearbeitet hat, auch mental-diskursiv ein „Versöhnungsnarrativ“ zur verletzten Landschaft. Strategische Kontinuitäten im neuen Jahrhundert (21+) Der unbestreitbare Erfolg und die Plausibilität der großflächigen Intervention mit Einzelprojekten sicherten den Fortbestand des ELP (und der „Route der Industriekultur“) zunächst über die spätere Projekt Ruhr GmbH (2001ff.) und ab 2004/06 gesetzlich und vertraglich über den RVR ab. Der Projekt Ruhr GmbH, einer 100-prozentigen Landesagentur, gelang auch die räumliche Erweiterung des ELP in den Dortmunder Südwesten bis zur Quelle der Emscher (in Holzwickede), sodass die Transformation von PHOENIX (mit Westquartier und See) finanziell über EU-/NRW-Mittel laufen konnte. Auch konzeptionell bedeutete das Ende der IBA keinen Stillstand, eher Anfang: Die Projekt Ruhr GmbH sicherte 2005 mit dem Masterplan „Emscher Landschaftspark“ 2010 die Zukunft des ELP als stringente Raumfigur für die Emscher und den Norden der Region. Unter dem Leitsatz 3 heißt es: „Das neue Emschertal wird das zentrale Entwicklungsprojekt der kommenden zwei Dekaden“.

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Geschichte und Struktur

Jahrhunderthalle im Westpark, Bochum-Mitte

Mit ähnlicher konzeptioneller und partizipativer Gründlichkeit legte die Emschergenossenschaft 2006 den für den Emscher-Hauptlauf konzipierten Masterplan „Emscher-Zukunft: Das neue Emschertal“ vor und betonte die kor­ porativen Synergiekräfte beim gemeinsamen Vorgehen der regionalen Akteure: „Ein besonderes Anliegen ist die Verzahnung der Projektvorschläge aus dem Masterplan Emscher Landschaftspark mit dem Masterplan Emscher-Zukunft“. Dessen Finalisierung ist mit dem politisch beschlossenen Konzept „Gemeinsam für Emscher 2020“ (NRW/EG) 2016 dokumentiert. Festivalisierung und Ästhetisierung des Wandels: Kultur an der Emscher Die IBA hatte ihr Finale 1999 mit einem exklusiven „Spielprogramm“ an den Standorten des Emscher-Wandels unterlegt, um die Akzeptanz nach innen und die Wahrnehmung des Dekadenprojekts gegenüber der (inter-)nationalen Öffentlichkeit zu erhöhen. Ein neues Image, die Neukodierung der Räume durch Kultur, sollte dauerhaft stattfinden: „Die Kapazitäten des Ruhrgebiets sind überhaupt nicht ausgeschöpft. Gerade aus seiner Zerrissenheit und seinem Unorganischen – mit Städten, die um die Industriemaloche gewachsen sind – kann die allergrößte Kreativität entstehen“, so formulierte es nach dem ersten Spielzyklus der Intendant der 2002 gegründeten Ruhrtriennale, Gerard Mortier. Das ambitionierte Festival in jährlicher Folge ist bis heute in der gutbesetzten europäischen Festivallandschaft erstklassig platziert. Kontinuität gilt vor allem für die Auswahl der Spielorte mit Präferenz in der Emscher-Region. Mortier wollte, so wird glaubhaft kolportiert, das neue Festival sogar in Anspielung auf den Emscherschnellweg (A 42) mit dem Titel „-42“ belegen. Zu bevorzugten Spielstätten entwickelten sich nach aufwendiger baulicher Herrichtung die Jahrhunderthalle in Bochum, der Landschaftspark mit Kraftzentrale und Gießhalle in Duisburg und die Maschinen­ halle Zweckel in Gladbeck.

Landschaftspark Duisburg-Nord, Duisburg-Meiderich

Die Kapazitäten des Ruhrgeb i e t s sind überhaupt nicht ausgesch ö p f t . Gerade aus seiner Zerrissen h e i t und seinem Unorganische n    k a n n die allergrößte Kreativität entst e h e n .

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reemrenreh (kaum Gesang) (Bogomir Ecker) am RheinHerne-Kanal in Herne

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Geschichte und Struktur

Das industrieästhetische Narrativ bestimmte auch Bewerbung und Programm der sogenannten Ruhr2010, mit der das Ruhrgebiet (bzw. Essen als förmliche Bewerberstadt) nach mehrjährigen Bewerbungs- und Vorbereitungsrunden 2010 für ein ganzes Jahr Kulturhauptstadt Europas wurde. Mit Ruhr2010 begann in insgesamt drei Programm- und von West nach Ost entlang des Flusses wechselnden Raumfolgen (2010 – 2013 – 2016) das von dem Kunsthistoriker Florian Matzner (München), Simone Timmerhaus (Emschergenossenschaft) und Katja Assmann (jetzt Berlin) kuratierte Satellitenprojektprojekt Emscherkunst. Es wird nun von Britta Peters (Hamburg) gesamträumlich im Ruhrgebiet unter dem Label „Urbane Künste“ fortgeführt und bildet mit dem Emscherkunstweg einen künstlerisch-touristischen Pfad. Ermüdungserscheinungen zeigten sich allerdings 2021 in der Region bei der UNESCO-Bewerbung unter dem Label „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“: Die großen Hellweg-Städte Duisburg, Mülheim, Essen und Bochum lehnten die flächendeckende Unterschutzstellung des industriellen Erbes im internationalen Format ab und beenden damit ein Dekadenprojekt der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur auf der Kokerei Hansa in Dortmund. Die Emschergenossenschaft hatte mit Blick auf ihre Geschichte positiv votiert – ähnlich wie Dortmund, welches inzwischen mit Leitprojekten entlang der Emscher fast zur deren Flusskapitale herangewachsen ist. In keiner anderen Gebietskörperschaft ist dieses Gewässer so stadtprägend. Von der Kultur wieder mehr zur Landschaft: Internationale Gartenausstellung Metropole Ruhr 2027 Internationale Gartenausstellungen (IGAs) sind Veranstaltungen im Dekadenrhythmus, für die jeweiligen Standorte Ereignis wie Inkubator zugleich. Die geplante IGA Metropole Ruhr 2027 bedeutet dabei eine wieder stärkere, nach wie vor unverzichtbare Hinwendung zur Landschaft, zu deren Reparatur und Trans-

Dr. Dieter Nellen war bis 2014 Fachbereichsleiter beim Regionalverband Ruhr und ist jetzt freier Berater und Publizist.

Dr. Stephan Treuke koordiniert bei Emschergenossenschaft und Lippeverband die Projekte Emscherland und „Faszination. Transformation.“

Er ist Dozent im Fachbereich Sozialwissenschaften an der RuhrUniversität Bochum.

formation. Die neuen Ziele umfassen zudem die unverzichtbaren Cluster von Klima, Energie und Mobilität. Die Emscher ist erneut die Gewinnerin: Allein drei der insgesamt fünf geplanten Zukunftsgärten liegen dort. Sie alle sind strategisch und programmatisch zugunsten nachhaltiger Konversion determiniert: in Dortmund mit dem Zukunftsgarten „Emscher nordwärts“, gefolgt von Emscherland und der Emscher-Zukunftsinsel als Arrondierung und Upgrade des inzwischen historischen BUGA-Areals Nordstern in Gelsenkirchen. In derselben Zeitachse wird die Renaturierung (soweit möglich) des gesamten Emscher-Systems (mit Nebenflüssen und vermutlich verstärktem Hochwasserschutz) abgeschlossen sein. Die Ruhr übrigens, die große landschaftliche und fluide Schwester der Emscher, erhält keinen einzigen Zukunftsgarten, nicht zuletzt deshalb, weil den Ruhrstädten dort die Erfahrungen bei Strategien und Formaten der Regionalentwicklung fehlen. Kontinuität und Upgrade der Emscher-Strategie Die seit 2016 bestehende gleichnamige Vereinbarung zwischen der Emschergenossenschaft, dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW (MHKBG), den 15 Emscher-Kommunen und drei Landkreisen ist seit 2020 fester Bestandteil der Kooperation „Gemeinsam für das Neue Emschertal“. Unter dem neuen Titel „Faszination.Transformation“ fungiert sie als übergreifende Kommunikationsstrategie, welche die Ende 2021 erreichte Abwasserfreiheit der Emscher und ihrer Nebenflüsse zusammen mit den vom MHKBG geförderten baulichen Maßnahmen in über 40 Städtebaufördergebieten entlang der Emscher präsentiert. Verschiedene Vermittlungsformate, vom Mitmachstand in den Emscher-Quartieren über eine (Wander-)Ausstellung, den Emscher-Flyer bis hin zum internationalen Emscher-Kongress, vermitteln in den Präsentationsjahren 2021 und 2022, wie wasserwirtschaftliche und städtebauliche Maßnahmen dazu beigetragen haben, eine nachhaltige und gewässerorientierte Stadtentwicklung mit intensiver Mitwirkung der Menschen vor Ort und zusammen mit den kommunalen Partnern zu initiieren und umzusetzen. Städtebau hat international Konjunktur: In Heidelberg startet 2022 die IBA Wissen schafft Stadt, 2027 folgt die IBA Stuttgart mit der Frage: „Wie leben, wohnen, arbeiten wir im digitalen und globalen Zeitalter?“ Der Initiativkreis Ruhr (IR) plant unter dem Titel „Urbane Zukunft Ruhr“ (ab Sommer 2021) zumindest ein modellhaftes „Vorzeigequartier“ in der Region. „Innovation City“, das vorhergehende IR-Projekt (2010–2020) mit dem Thema Klima und Energie ging als Impuls von der Stadt Bottrop aus. Die emschernahen Stadtteile wurden C02-frei umgerüstet. Auf der strategischen Ebene der Emschergenossenschaft wird zeitgleich über eine Neuauflage des seinerzeitigen Masterplans von 2006 zur „Emscher-Zukunft“ nachgedacht. Uli Paetzel, der Vorstandsvorsitzende des Hauses sagt: „Die Themen werden Städtebau mit blau-grüner Infrastruktur, Klima, Digitalisierung und Mobilität sein“. Er müsste zudem die 2006 noch nicht berücksichtigten Nebengewässer, also den linear wesentlich größeren Teil des Emscher-Systems, miteinbeziehen und einen Ideenpool für die landschaftliche, städtebauliche Integration liefern. Diese Zukunftsthemen stehen auch auf der Agenda des Emscher-Kongresses: Nachhaltige Stadtplanung und Klimawandelfolgenanpassung sollen hier gemeinsam gedacht werden, wobei der Emscher-Umbau als verbindendes Element und gleichzeitig als window of opportunity für die nachhaltige Transformation der Region auf verschiedenen Handlungsebenen, wie Klima, Mobilität, Digitalisierung, Freizeit und Wohnen, dient. In die gleiche thematische Richtung könnte schließlich eine neue IBA im nächsten Jahrzehnt gehen – mit dem Erfolgsmythos der IBA Emscher Park als programmatischem Vorbild, diesmal jedoch themen- und raumbestimmt in der größeren Gebietskulisse der Metropolregion Rhein-Ruhr. Der nachhaltige Kern der gegenwärtig für 2036/2040 kolportierten Bewerbungspartitur Olympischer Spiele in NRW umfasst neben dem eigentlichen Sport die Elemente Klima und Mobilität. Diese könnten – beim möglichen Scheitern in den (inter-)nationalen Olympiagremien – als Plan B die Geschäfts- und Programmvorlage für eine neue IBA hier liefern. Die Kontinuität von Konzepten und Formaten an Ruhr und Emscher mag also sowohl gesamt- als auch teilräumlich weitergehen.

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Geschichte und Struktur

Emscher und A 42 in Bottrop-Ebel

| Stefan Siedentop

Die neue Ems c h e r : Anstoß   f ü r    d i e Modernisi e r u n g und Reskali e r u n g der Infrastr u k t u r im Ruhrg e b i e t

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er Umbau der Emscher zu einem blau-grünen Landschaftsband quer durch das Ruhrgebiet ist zu Recht als Jahrhundertprojekt bezeichnet worden. Das Vorhaben bedeutet weit mehr als nur eine Wiedergutmachung in einem ökologisch lädierten Raum und für die Menschen, die hier leben. Über seine materiellen Funktionen hinaus kommt dem revitalisierten Gewässer auch ein symbolischer Gehalt zu, es steht für Fortschritt und Modernisierung in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht. Das „neue Emschertal“ kann aber auch als ein Beitrag zur Stärkung der regionalen Infrastruktur verstanden werden. Gemeinsam mit verkehrlichen Großvorhaben wie dem Rhein-Ruhr-Express und dem Radschnellweg (RS 1) oder regionalmaßstäblichen touristischen Formaten und Angeboten (wie der „Route der Industriekultur“) lässt sich das Projekt im Kontext eines eingeleiteten Prozesses der Modernisierung und Reskalierung der Infrastruktur des Ruhrgebiets verorten. Mit Reskalierung ist hier gemeint, die für die Region so typische räumliche Fragmentierung von Infrastrukturangeboten und die damit einhergehende eingeschränkte metropolitane Netzwerkqualität mittels gesamträumlich inte­ grierter Systeme zu ergänzen. Der Wert des Emscher-Umbaus geht aus dieser Perspektive weit über seinen wasserwirtschaftlichen Nutzen und den Beitrag zur ökologischen Erneuerung hinaus. Das Projekt zeigt zudem, wie Paradigmenwechsel durch kollektive Lernprozesse möglich sind, galt doch ein Umbau des Emschers-Systems noch Ende der 1980er Jahre als technisch kaum beherrschbar und nicht finanzierbar (siehe den Beitrag von Rainer Burger in diesem Band). Infrastruktur als Hemmschuh des Strukturwandels Ein erfolgreicherer Strukturwandel des Ruhrgebiets wurde und wird auch durch massive infrastrukturelle Mängel gehemmt. Ein Kernproblem sind dabei insuläre Systeme, die einer einzelkommunalen Handlungslogik entspringen und vor allem deshalb nicht oder nur eingeschränkt regional integriert sind bzw. werden können. Die teilweise bestehende technische Inkompatibilität der Stadtbahnsysteme der Ruhrgebietsstädte und ihre mangelnde regionale Netzeigenschaft sind nur ein Beispiel. In kaum einer anderen europäischen Großregion dürfte anzutreffen sein, dass Mittelstädte in Größenordnungen von bis zu 60.000 Einwohnern nicht an das Bahnnetz angeschlossen sind (wie das beispielsweise in Herten oder Bergkamen der Fall ist).

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Natürlich haben sich in der historischen Entwicklung des Ruhrgebiets auch regionalmaßstäbliche Infrastruktursysteme herausgebildet. Die komplexe Rohstofflogistik mit einem verästelten Netz von Zechenbahnen und Wasserwegen ist diesbezüglich ebenso ein Beispiel wie das seit den 1960er Jahren ausgebaute Autobahn- und Schnellstraßennetz. Die Anpassung solcher Systeme an veränderte Herausforderungen und ihre Ergänzung mit neuen Infrastrukturkomponenten ist aber entweder unterblieben oder nur halbherzig betrieben worden. So erscheint es schon jetzt absehbar, dass es in der Region nicht zu einer regional integrierten digitalen Infrastruktur kommen wird, weil die Kommunen jeweils eigene digitale Plattformen entwickeln und technische Standards definieren (siehe das Interview mit Uli Paetzel in diesem Band). Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang beklagt, dass die Ruhrgebietsstädte einem „Vollsortimenter“ (RAG-Stiftung 2016) gleichen, der ein solides Angebot für die eigene Kundschaft (Bevölkerung) bereitstellt, den gehobenen Ansprüchen einer Metropole aber kaum gerecht wird. Der Mangel an kooperativer, arbeitsteiliger Spezialisierung infolge einer nicht selten hart ausgetragenen interkommunalen Konkurrenz um die gleichen Güter und Ressourcen führt zu Redundanz, nicht zu Komplementarität (Bogumil et al. 2012). Die Summe vieler mittelgroßer Städte macht aber keine Metropole (Meijers 2008). Dies dürfte ein entscheidender Grund für die Tatsache sein, dass die Region ihre Größenvorteile bis heute nicht ausspielen kann (Lehner/Noll 2016). Der Umbau der Emscher setzt hier einen bemerkenswerten Kontrapunkt, denn das revitalisierte Fließgewässer mitsamt seinen begleitenden (Rad-)Wegesystemen ist ohne jeden Zweifel Element einer regionalen blau-grünen Infra­struktur, die Teil einer modernisierten metropolitanen grau-blau-grünen Infrastruktur werden kann. Infrastruktur schafft Standortqualität Infrastrukturen wirken als Attraktoren im relationalen Raum. Wie ein Magnet verändern sie das räumliche Kraftfeld, in dem Akteure der Raumentwicklung handeln. Investitionen in die graue, grüne oder blaue Infrastruktur überformen die relative Attraktivität von Standorten als Wohn- und Arbeitsort, als Erholungs- und Aufenthaltsort. Über ihre primäre Funktion hinaus – die Ermöglichung von Personen- und Güterbeförderung bei Straßen und Schienenwegen, von Kommunikation und Interaktion bei IT-Netzen oder von Freizeitausübung und Erholung bei Park- und Wasserflächen – kommt ihnen ein transformatives, raumveränderndes Potenzial zu. Aus unzähligen wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass eine gute öffentliche Verkehrserschließung und die Nähe zu attraktiven Grün- und Wasserflächen Zuzugs- und Ansiedlungsentscheidungen von Haushalten und Unternehmen maßgeblich beeinflussen und Bodenpreise anheben. Diese positiven externen Effekte von Infrastrukturen legen eine integrierte Planungsperspektive nahe. Nur wenn die wechselseitigen Abhängigkeiten und Wirkungen von Infrastrukturen und umgebenden Raumnutzungen beachtet werden, kann der Mehrwert infrastruktureller Investitionen voll ausgeschöpft werden. Die „neue Emscher“ kann in diesem Kontext ohne Zweifel als ein „urbanes Entwicklungsband“ (siehe das Interview mit Uli Paetzel in diesem Band), als „landschaftliches Rückgrat“ (Reicher 2019) einer Region verstanden werden, was mit Ausstrahlungseffekten auf benachbarte Stadträume verbunden ist und Anreizkulissen für eine städtebauliche Weiterentwicklung schafft. Die Emscher 3.0 wird nur punktuell eine urbane Wasserlage (waterfront) sein können, wie sie in vielen Metropolen in den vergangenen Jahrzehnten zum Schauplatz dynamischer Transformationsprozesse wurde. Aber die landschaftliche Qualifizierung schafft materielle wie immaterielle Werte, die durch begleitende städtebauliche und sozialräumliche Planungen die Nachhaltigkeit ganzer Stadträume steigern können (siehe den Beitrag von Gerten et al. in diesem Band). Fehlen einer Vision für die Transformation der gebauten Umwelt An dieser Stelle stellt sich die wichtige Frage, wie infrastrukturelle Leitprojekte von regionaler Bedeutung mit der Weiterentwicklung der gebauten Umwelt ver­bunden werden können. Es erscheint bemerkenswert, dass sich die Akteure der Region in den vergangenen Jahrzehnten nie auf eine kollektive Vorstellung verständigen konnten, wie die spezifische disperse Siedlungsstruktur – jenseits der Landschaft – städtebaulich weiterentwickelt werden könnte. Es fehlt an einer

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Geschichte und Struktur

Fußgängerfreundliche Standorte im Ruhrgebiet und in Berlin

Schermbeck Schermbeck Xanten Xanten

Wesel Wesel

Sonsbeck Sonsbeck

Hünxe Hünxe

Rheinberg Rheinberg

Dinslaken Dinslaken

NeukirchenNeukirchenVluyn Vluyn

Marl Marl

Herten Herten Herten Herten

GladGladbeck beck

OberOberhausen hausen

Kamp-Lintfort Kamp-Lintfort

Dorsten Dorsten

Bottrop Bottrop

Voerde Voerde

Alpen Alpen

Regionalverband Ruhr Regionalverband Ruhr

Haltern am See Haltern am See

Hamminkeln Hamminkeln

Herne Herne

SprockSprockhövel hövel

FriedrichshainKreuzberg FriedrichshainKreuzberg TempelhofSchöneberg TempelhofSchöneberg

CharlottenburgWilmersdorf CharlottenburgWilmersdorf

Steglitz-Zehlendorf Steglitz-Zehlendorf

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10 km 10 km

Neukölln Neukölln

Bönen Bönen

Kamen Kamen

Unna Unna

Fröndenberg/Ruhr Fröndenberg/Ruhr

Schwerte Schwerte

Herdecke Herdecke

Wetter Wetter GevelsGevelsberg berg

Schwelm Schwelm

Mitte Mitte

Hamm Hamm

Bergkamen Bergkamen

HolzHolzwickede wickede

Hattingen Hattingen

Pankow Pankow

Lünen Lünen

Dortmund Dortmund

Witten Witten

Mülheim Mülheim a. d. Ruhr a. d. Ruhr

Reinickendorf Reinickendorf

Waltrop Waltrop

Bochum Bochum

Moers Moers

Spandau Spandau

Werne Werne

Selm Selm

RecklingRecklinghausen Castrophausen CastropRauxel Rauxel

GelsenGelsenkirchen kirchen

Essen Essen

Duisburg Duisburg

OerDatteln OerDatteln ErkenErkenschwick schwick

Hagen Hagen

Ennepetal Ennepetal

Breckerfeld Breckerfeld

Lichtenberg Lichtenberg

MarzahnHellersdorf MarzahnHellersdorf

Berlin Berlin Fußgängerfreundliche Stadtstrukturen

Treptow-Köpenick Treptow-Köpenick

Fußgängerfreundliche Stadtstrukturen Fußgängerfreundliche Stadtstrukturen im 1x1 km-Raster im im 1x1-km-Raster 1x1 km-Raster

Datengrundlagen: GeoBasis-DE/BKG 2020, Zensus 2011, Open Street MAP, ils-stadtregionen.de Datengrundlagen: GeoBasis-DE/BKG 2020, Datengrundlagen: GeoBasis-DE/BKG 2020, Quelle: Monitoring StadtRegionen, Zensus 2011, OpenILS Street Map, ils-stadtregionen.de Zensus 2011, Open Street Map, ils-stadtregionen.de Kartografie: Jutta Rönsch 1

Vision, wie die Siedlungsbestände des Ruhrgebiets an die fundamentalen Herausforderungen der Mobilitäts- und Energiewende sowie eines veränderten Klimas angepasst werden können. Aktuelle Debatten verlieren sich in einem kleinteiligen „Hektarstreit“ über den Umfang neuer Gewerbeflächen und lassen jegliche strategische Weitsicht vermissen. Eine integrierte, auf die Verkehrsinfrastruktur und die aufgewerteten Wasser- und Grünräume ausgerichtete Siedlungs- und Zen­tren­ planung fehlt bis heute. Blicken wir kurz zurück: Die IBA Emscher Park hat den Strukturwandel vor allem landschaftlich konzeptualisiert, was angesichts der Ausgangslage Mitte der 1980er Jahre nur folgerichtig erscheint. „Das Ruhrgebiet hat fast alles zur Genüge, nur Landschaft und Kultur nicht“ – ein Satz aus dem Katalog der IBA aus dem Jahr 1999, der seinerzeit kaum Widerspruch erfahren haben dürfte. „Wandel ohne Wachstum“ war angesichts von demografischer und ökonomischer Schrumpfung ein nachvollziehbares Planungsparadigma der Verantwortlichen, die das Ruhrgebiet in den 1990er und 2000er Jahren schließlich in eine der größten Landschaftsbaustellen Europas verwandelten. Die Errungenschaften dieses Prozesses sind unbestritten. Lange vor dem Aufkommen des Konzepts der „grünen Infrastruktur“ in den 2010er Jahren haben die Denker:innen der Bauausstellung Landschaft als „Infrastruktur“ und „Netzwerk“ verstanden. Es gelang,

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eine vollkommen neue Perspektive auf eine urban-industriell geprägte Kulturlandschaft zu entwickeln. Konzepte von „Industrienatur“ und „Industriekultur“ wurden im Ruhrgebiet miterfunden und seither weltweit transferiert. Offen geblieben ist jedoch die Frage des „Weiterbauens“ im Siedlungsbestand: Die Siedlungsstruktur des Ruhrgebiets ähnelt mit ihren insulä­ren urbanen Kernen, ausgreifenden suburbanen Zonen und einer exzessiven Autoabhängigkeit mehr amerikanischen Stadtlandschaften als der klassischen europäischen Stadt. Die gering ausgeprägte Urbanität, die aus der für Met­ro­polen untypisch geringen Dichte sowie der Abundanz undefinierter und untergenutzter Freiflächen resultiert, ist eine Begleiterscheinung des polyzentrisch-dispersen Stadtgewebes, das Christa Reicher treffend als „Ruhrbanität“ bezeichnet hat (Reicher 2019). Gestern wie heute mangelt es der Region an Orten, die ein großstädtisches Lebensgefühl vermitteln können – Orte mit hoher sozialer Dichte, kultureller Diversität und guter fußläufiger Erreichbarkeit, wie sie in monozentrischen Metropolen das Stadtleben prägen. Wie der Wandel vom vielzitierten „Revier der industriellen Dörfer“ zu einer „Stadt der Städte“ städtebaulich erfolgen kann, ist eine weitgehend unbeantwortete Frage. Klar scheint nur, dass dies nicht allein mit landschaftlichen Projekten, mit Revitalisierungen historischer Siedlungsbestände (wie den Werkssiedlungen und Gartenstädten) und der Umnutzung alter Zechenstandorte gelingen kann. In den vergangenen Jahren zeichnete sich jedoch eine Trendwende ab. Von einer deutlichen – in ihrer Intensität fast unerwarteten – Reurbanisierung profitierte vor allem die Städteachse von Dortmund bis Duisburg. Eng verbunden mit einem Wachstum der Beschäftigung wurde ein Bevölkerungszuwachs insbesondere in zentralen Stadtlagen registriert. Hier entstanden neue Quartiere mit höheren Baudichten und nutzungsgemischter Struktur. Diese „aufholende Urbanisierung“ in Gestalt einer Verdichtung an strategisch bedeutsamen Standorten wie Innenstädten, Wissenschaftseinrichtungen oder Wasserlagen braucht die

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Geschichte und Struktur

rechts: Mündung Suder­ wicher Bach, Reckling­ hausen-Suderwich links: Hellbach, Recklinghausen-Süd

Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop ist wissenschaftlicher Direktor des ILS (Institut für Landes- und Stadtent­ wicklungsforschung) und Professor an der Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund.

Region, wenn sie als Metropole im Wettbewerb um Kapital und Talent mithalten will (Florida/Adler 2018). Nur bauliche und soziale Dichte kann eine höhere Tragfähigkeit für ein tiefer gegliedertes Dienstleistungsangebot, innovative Gastronomie und neue Mobilitätsoptionen schaffen (Bogumil et al. 2012). Die Potenzialräume für eine maßvolle Verdichtung sind im Ruhrgebiet vielfältig vorhanden. Es sind die untergenutzten Gebiete in zentralen Stadt­lagen, häufig in unmittelbarer Nähe zu den Zugangspunkten des regionalen Schienenschnellverkehrs (beispielsweise in Wanne), es sind die Campusareale und Technologiestandorte, die seit ihrer Schaffung in den 1960/70er Jahren (Dortmund, Bochum) bzw. 1990er Jahren (Gelsenkirchen) auf eine städtebauliche Integration warten, und auch verkehrsgünstige Standorte entlang der aufgewerteten Emscher bieten sich für eine funktionale Anreicherung und die Schaffung moderner Wohnungsangebote an. Emscher-Umbau als Meilenstein und Wegbereiter Ein Fazit: Das Ruhrgebiet ist heute ein Patchwork aus räumlich nur bedingt integrierten und auf Verschleiß gefahrenen Infrastruktursystemen. In den kommenden Jahrzehnten steht nun eine entscheidende Erneuerungs- und Modernisierungsphase an, die mit der Bewältigung der großen Transformationsaufgaben engstens verbunden ist und die vor allem regional gedacht sein muss. Die Region braucht dazu ein integriertes Entwicklungsverständnis und eine Innovationsoffensive – nicht nur, um an andere Räume Anschluss zu finden, sondern auch um einen Modellcharakter für die ökologische, ökonomische und soziale Modernisierung polyzentrischer Räume zu entfalten (WBGU 2016). Der Emscher-Umbau ist vor diesem Hintergrund als Meilenstein und Wegbereiter zu begreifen. Er zeigt auch, dass es mit Geld alleine nicht getan ist, sondern dass Kreativität, strategischer Weitblick, Mut und Entschlossenheit sowie regionales Denken erforderlich sind, um erfolgreiche Transformation zu leisten. 1  Die „Fußgängerfreundlichkeit“ wurde für diese Abbildung mit einem im ILS weiterentwickelten Walkability-Index auf einem Raster von 500 x 500 Meter berechnet. Einbezogen werden fünf unterschiedliche Dimensionen der Walkability: die Versorgung mit wichtigen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge (wie Supermärkte, Schulen oder medizinische Versorgungsangebote), die Vernetzung der Fußwege, die Einwohnerdichte, der Grünflächenanteil und die Hangneigung. Der Index wird auf einen Wertebereich zwischen 0 (maximal fußgängerunfreundlich) und 100 (maximal fußgängerfreundlich) skaliert. Hier dargestellt sind Wert von über 65, die eine gute bis sehr gute Fußgängerfreundlichkeit anzeigen.

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links: Vorthbach, Bottrop-Mitte

unten: Emscher in Essen-Karnap, 1941

oben: Vorthbach, Mündung in die Boye, 1956

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Emscher und Rhein-Herne-Kanal, Essen-Karnap

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Transfor m a

Berne an der Grillostraße in Essen-Mitte

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Wandel u n d Transform a t i o n : Die prägend e K r a f t des Steink o h l e n bergbaus f ü r  d a s Ruhrg e b i e t

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| Peter Schrimpf, Michael Kalthoff

Verwaltungssitz der RAG-Stiftung und RAG Aktiengesellschaft

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ohle, Ruhrgebiet und Strukturwandel: ein oft genannter Dreiklang, der die jüngste Geschichte der Region zwischen Ruhr, Lippe und Emscher im Kern widerspiegelt. Rund zwei Jahrhunderte lang prägte der industrielle Steinkohlenbergbau entscheidend das Bild des Ruhrgebiets. Und so wie sich das Bild des Ruhrgebiets änderte, so änderte sich auch die Emscher mit. Welche Bedeutung die Symbiose aus Bergbau und Ruhrgebiet nicht nur für die Kohlereviere, sondern auch für Deutschland und Europa besaß, brachten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, bei der Abschiedsveranstaltung des deutschen Steinkohlenbergbaus auf den Punkt. „Die große Wirtschaftsmacht, die Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts an wurde: ohne die Kohle, ohne den Bergmann undenkbar. Und das schlagende Herz des sogenannten Wirtschaftswunders war hier: im Ruhrgebiet“, sagte Steinmeier 2018 am RAG-Standort Haniel in Bottrop. Ebenfalls dort unterstrich Juncker: „Ohne Kohle hätte es die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nicht gegeben, und ohne die Kohle hätte es auch die Europäische Union nicht gegeben.“ Stetiger Wandel begleitete den Aufstieg des Ruhrgebiets von einer einst ländlich geprägten Region zu einem der bedeutendsten europäischen Zentren der Montanindustrie und zur heutigen Metropole Ruhr mit über fünf Millionen Einwohnern. Und die Emscher war immer Teil dieses Wandels, spiegelte ihn quasi wider. Erst kleiner Fluss, dann Vorzeigeprojekt zur Abwasserbeseitigung und Seuchenprävention bis hin zum „geradlinigen“ Abwasserkanal einer riesigen Industriemetropole. Innerhalb nur weniger Generationen unterzog sich das Revier mehrfach Veränderungsprozessen, die ihm ein neues Gesicht verliehen. Zunächst im Zuge der Industrialisierung: Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählten die heutigen Großstädte Duisburg und Dortmund gerade einmal rund 5.000 Einwohner. Gelsenkirchen und Herne glichen Dörfern mit wenigen hundert Bewohnern. Mit dem rasanten Aufschwung der modernen Kohlenförderung und dem Zustrom dringend benötigter Arbeitskräfte, die zu Hunderttausenden in den „tiefen Westen“ zogen, stieg die Bevölkerungszahl innerhalb weniger Jahrzehnte explosionsartig an. Einst kleine Gemeinden entwickelten sich zu den Großstädten, wie wir sie heute kennen. Der heimische Steinkohlenbergbau gestaltete diese Transformation maßgeblich mit. Die Bergwerke waren nicht nur große Arbeitgeber und Ausbilder, sondern übernahmen auf vielfache Weise Verantwortung für ihre Belegschaft und die Menschen im Revier. Sie förderten Technik, Wissenschaft, Bildung, Soziales und eine von Solidarität geprägte bergmännische Kultur. Vor allem aber schufen sie um die Zechen herum in großem Stil neuen Wohnraum, der den Nukleus für neue Stadtteile mit einer modernen Infrastruktur bildete.

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Verwaltungssitz der RAG-Stiftung und RAG Aktiengesellschaft

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Kohlekrise als Chance: Erneuter Strukturwandel mit Unterstützung des heimischen Bergbaus Über lange Zeit galt der Grundsatz „Geht es dem Bergbau gut, geht es auch den Menschen gut“. Allerdings hatte diese enge Verknüpfung auch Schattenseiten. Die Gleichung verkehrte sich Ende der 1950er Jahre ins Gegenteil. 1956 erreichte die Steinkohlenförderung im Ruhrgebiet mit mehr als 120 Millionen Tonnen ihren Höhepunkt. Doch zunehmend drängten billige Importkohle und Erdöl in den Markt. Die Folge: wachsende Haldenbestände und eine Welle von Zechenschließungen. Allein von 1957 bis 1965 gingen rund 165.000 Arbeitsplätze im Ruhrbergbau verloren. In den Städten und Gemeinden wuchs die Unruhe. Das Ruhrgebiet musste sich in den folgenden Jahrzehnten erneut einem tiefgreifenden Strukturwandel unterziehen und sich zunehmend vom Bergbau als Zugpferd der wirtschaftlichen Entwicklung emanzipieren. Bis aus dem einstigen „Kohlenpott“ die (Dienstleistungs-) Metropole Ruhr hervorging, war es allerdings ein langer Weg, den die frühere Ruhrkohle AG, heute RAG, mitgestaltete. Sie entwickelte beispielsweise ehemalige BergbauAreale für die Folgenutzung und sorgte für die Ansiedlung neuer Unternehmen. Zugleich bildete sie viele Zehntausend Bergleute fort, die über die RAG nicht in den Vorruhestand gehen konnten, und vermittelte sie direkt von Arbeit in den regionalen Arbeitsmarkt. Ein weiterer wichtiger Faktor im Strukturwandel: die Ausbildung von rund 100.000 jungen Menschen zu gefragten Facharbeitern. Nicht nur das Ruhrgebiet, auch der heimische Steinkohlenbergbau vollzog im Zuge des Zechensterbens einen tiefgreifenden Transformationsprozess. Am 27. November 1968 folgte die Gründung der Ruhrkohle AG, die als Einheitsgesellschaft für den Ruhrbergbau zunächst 19 Bergwerksunternehmen und später 26 Bergbaugesellschaften unter einem Dach bündelte. Ihre Hauptaufgabe: die Reorganisation des Ruhrbergbaus, um die wirtschaftliche und soziale Basis für die Bergwerke zu erhalten. Bergwerksstilllegungen erfolgten seitdem ausschließlich sozialverträglich, ohne dass auch nur ein Bergmann „ins Bergfreie“ fiel. Einst gehörten 52 Zechen, 29 Kokereien und fünf Brikettfabriken zum Startkapital der Ruhrkohle AG. 2018 stellten die letzten beiden Bergwerke – Prosper-Haniel und Ibbenbüren – die Förderung ein. Die Belegschaftszahl sank von rund 186.000 Beschäftigten (1968) auf 4.124 (2018). Und wenn die RAG ihre endgültige Zielgröße erreicht, werden es nur noch rund 500 Mitarbeiter sein.

Peter Schrimpf ist Vorstandsvorsitzender der RAG Aktien­ gesellschaft.

Michael Kalthoff ist Vorstand für Finanzen bei der RAG Aktien­ gesellschaft.

Nach dem aktiven Bergbau: RAG leistet weiterhin Beitrag zur Entwicklung des Ruhrgebiets Mit dem Ende der Steinkohlenförderung endete zwar ein bedeutendes Kapitel Industriegeschichte – nicht aber die Arbeit der RAG. Das Unternehmen bleibt Ansprechpartner für die ehemaligen Kohleregionen und trägt mit eigenen Konzepten und Maßnahmen dazu bei, wirtschaftliche, soziale und ökologische Belange in Einklang zu bringen. Zu den Aufgaben in der Nachbergbau-Ära zählen beispielsweise die Regulierung von Bergschäden, die Sanierung alter Schächte, die Sicherung des oberflächennahen Altbergbaus sowie die Aufbereitung ehemaliger Bergbauflächen für die Folgenutzung. Letztere befinden sich häufig innenstadtnah und bieten aufgrund ihrer Größe viele Möglichkeiten zur Folgenutzung. Anstatt bisher ungenutzten Freiraum zu verbauen, bieten sie ausreichend Platz für neue Formen von Arbeiten, Wohnen und Freizeit – wie aktuell beim interkommunalen Projekt „Freiheit Emscher“ zu sehen. An der Grenze von Essen und Bottrop plant RAG Montan Immobilien gemeinsam mit den beiden Städten auf der größten Flächenreserve des Ruhrgebiets in zentraler Lage ein neues urbanes Zentrum. Die RAG entwickelte und vermarktete zur Ansiedlung von Gewerbe und Industrie sowie für Wohnen, Grünflächen und Freizeitangeboten rund 150 Hektar nicht mehr benötigte Bergwerksareale. Zusätzlich bearbeitet die RAG sogenannte Ewigkeitsaufgaben. Dazu gehören die Grubenwasserhaltung, Poldermaßnahmen über Tage sowie die Grundwasserreinigung an ehemaligen Kokerei-Standorten. Grubenwasserkonzept: Mehrwert für Mensch und Umwelt Besondere Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang das Grubenwasserkonzept für das Ruhrgebiet. Rund 70 Millionen Kubikmeter Grubenwasser hebt das Unternehmen jedes Jahr im Ruhrgebiet und leitet es unter ständiger Überwachung der Qualität in übertägige Gewässer ein – darunter Lippe, Ruhr und Emscher. Ein ausreichender Abstand zu den Grundwasservorkommen wird auch beim künftigen Anstieg des Grubenwassers eingehalten. Um möglichst viele Flusskilometer vom Grubenwasser freizuziehen, sieht das RAG-Konzept künftig nur noch sechs zentrale Wasserhaltungsstandorte vor: Lohberg (Dinslaken), Walsum (Duisburg), Heinrich (Essen), Friedlicher Nachbar (Bochum), Robert Müser (Bochum) und Haus Aden (Bergkamen). Davon profitiert auch die Emscher: Sie wird komplett vom Grubenwasser befreit. Dazu wird das Grubenwasser der heute noch eigenständigen Wasserprovinzen Amalie, Zollverein, Carolinenglück und Prosper-Haniel zukünftig am Standort Lohberg gehoben und direkt in den Rhein eingeleitet. Seit dem Beginn der Revitalisierung des einst als „Köttelbecke“ verschrienen Flusses vor fast 30 Jahren unterstützt die RAG dieses Generationenprojekt zur Rückgestaltung der Emscher. Der Bergbau ist seit Anfang an sehr eng mit der Emschergenossenschaft verbunden. Repräsentanten der großen Bergwerksgesellschaften wie Hibernia oder der Gelsenkirchener Bergwerks AG waren Gründungsmitglieder. Als Mitglied und Akteur bei der Emschergenossenschaft steuert die RAG heute nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch Knowhow bei, damit die Emscher erfolgreich revitalisiert wird. Auch künftig übernimmt die RAG mit nachhaltigen Lösungen Verantwortung für das Ruhrgebiet – damit es das bleibt, was es ist: Eine liebenswerte Region, in der es sich gut leben und arbeiten lässt. Und die Emscher wird beinahe wieder das, was sie einmal war. Die Zukunft mitgestalten: Aufgaben der RAG Aktien­gesellschaft Nach der Stilllegung der letzten beiden deutschen Steinkohlen-Bergwerke Ende 2018, hat sich das Aufgabenspektrum der RAG geändert: Nun übernimmt sie ausschließlich die Bearbeitung der Folgen aus fast 200 Jahren industriellem Steinkohlenabbau. Zu den so genannten Ewigkeitsaufgaben zählen die Grubenwasserhaltung, Poldermaßnahmen sowie Grundwasserreinigung und -monito­ ring. Die endlichen Arbeiten umfassen Rückzugsmaßnahmen, Behebung von Bergschäden sowie Flächen- und Schachtsanierung. Während die RAG Aktiengesellschaft die Kosten für die Bewältigung der endlichen Bergbaufolgen selbst trägt und hierfür Rückstellungen gebildet hat, übernimmt die RAG-Stiftung die Aufwendungen für die Ewigkeitsaufgaben.

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Von der Beseitigung wasserwirtschaft­ licher Notstände über bergbauangepasste Entwässerungssysteme hin zu nachhalti­ gen Lebensräumen

Durchlass der Emscher unter dem Rhein-HerneKanal in Castrop-Rauxel

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| Emanuel Grün

Transformati o n e i n e s Wasserwirtsc h a f t s unternehm e n s f ü r die Modellr e g i o n Emsch e r   2 1 +

as Ruhrgebiet hat seit Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren einen permanenten Strukturwandel erlebt. Der untertägige Abbau von Steinkohle verursachte neben direkten Eingriffen in das lokale Wasserregime zunehmend massivere Bodensenkungen von bis zu 27 Metern. Dies verstärkte die negativen Einflüsse auf den gesamten Wasserkreislauf, durch die die Vorflut der Gewässer und auch die Abwasserableitung erheblich gestört wurden. Die Bildung großer Rückstauflächen und -seen, vor allem an der Emscher, war die Folge. Die dadurch verursachten hygienischen Missstände führten im ausgehenden 19. Jahrhundert u.a. zu Choleraepidemien, Typhus und Mala­ria. Zur Beseitigung dieses wasserwirtschaftlichen Notstands wurde 1899 die Emschergenossenschaft gegründet und mit der einsetzenden Nordwanderung des Bergbaus folgte dann 1926 die Gründung des Lippeverbands. Die gesetzlich festgeschriebenen Aufgaben dieser Wasserwirtschaftsverbände waren und sind vor allem die Abwasserreinigung, die Vorflutsicherung und die Grundwasserregulierung. Insbesondere durch die erheblichen Einflüsse des Steinkohlenbergbaus mussten die wasserwirtschaftlichen Systeme kontinuierlich angepasst werden, was die industrielle, gewerbliche und urbane Entwicklung der Region erst ermöglichte. Aufgrund der dauerhaften Nutzung des Siedlungsraumes spielten die Funktionalitäten der Abwasserableitung sowie die des Hochwasserschutzes dabei eine entscheidende Rolle. Dieses Emscher-Entwässerungssystem bestand aus technisch ausgebauten, begradigten und eingedeichten Gewässern, die das Abwasser unmittelbar den Kläranlagen zuführten. Am Ende dieses Systems wurde das Wasser der Emscher in der Flusskläranlage Emscher-Mündung in Dinslaken behandelt, bevor es in den Rhein weitergeleitet wurde. Dieses Entwässerungssystem war ebenso einfach wie leistungsfähig und den sich ständig ändernden Topografien und Abflussbedingungen der damaligen Zeit schnell und kostengünstig anpassbar.

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Kläranlage Bottrop

Bereits mit der Nordwanderung des Bergbaus deuteten sich große Entwicklungspotenziale für die Region an, deren Möglichkeiten mit der Aussicht auf Beendigung der Abbautätigkeit weiter zugenommen haben. Mit fortschreitender Bodenruhe werden Umgestaltungen wasserwirtschaftlicher Systeme möglich, neue Lebensräume für Mensch, Natur und Umwelt entwickelt. Diese Veränderungen tragen auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung. Vor 30 Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass dieser Veränderungsprozess nur gelingen kann, wenn das verästelte System der Abwasserflüsse zu ökologisch naturnahen Gewässern umgebaut wird. Bergbaubedingt werden seit über 100 Jahren alle Wasserströme vom gepolderten Grundwasser bis zum Abwasser aus der städtischen Kanalisation in die Wasserläufe und Flüsse der Emscher-Region eingeleitet. Dieses nicht mehr zeitgemäße Entwässerungssystem wird mit dem Neubau großer Kläranlagen, der Abwasserableitung in tief liegenden, großdimensionierten Sammelkanälen und einer nachfolgenden ökologischen Verbesserung aller Gewässer umgestaltet. Mit der Modernisierung der abwassertechnischen Infrastruktur und der Entwicklung durchgängiger Gewässer werden wichtige sich ergänzende Ziele verfolgt. Neben der ökologischen Aufwertung der Gewässer werden die Profilierung des Landschafts- und Stadtbildes, die Verbesserung der Lebensqualität der Einwohner und die ökonomische Entwicklung der gesamten Emscher-Region und ihrer Städte gefördert. Durch den Rückzug des Bergbaus entstanden daher neue Impulse für eine nachhaltige Transformation durch die Umsetzung ganzheitlicher wasserwirtschaftlicher Konzepte. Hierzu gehört das größte Infrastrukturprojekt der Kernzone des Ruhrgebiets, der Emscher-Umbau. Dieses mit etwa 6 Milliarden Euro Investitionsvolumen raumgreifende Projekt stellt höchste Anforderungen an die Siedlungswasserwirtschaft, die Stabilisierung des Grundwasserregimes, die Gewässerentwicklung und den dauerhaften Hochwasserschutz. Es kommen hier-

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bei innovative Techniken des Monitorings und der berührungslosen geologischen Vorerkundung, des bergmännischen Kanalvortriebs sowie der Fernüberwachung zum Einsatz. Interdisziplinarität zwischen Wasserwirtschaft, Stadt- und Landschaftsplanung sowie Umweltwissenschaften sind dabei Voraussetzung für das Gelingen dieses Generationenprojekts. Der Emscher-Umbau bietet so nicht nur die Jahrhundertchance, der Stadtlandschaft zwischen Holzwickede und Dinslaken ein neues Gesicht zu geben; Ziel ist auch die entscheidende Aufwertung der Emscher-Region durch Projekte weit über den Gewässerlauf hinaus. So wird sich das Lebens- und Arbeitsumfeld der Menschen nachhaltig positiv verändern. Mit der im Jahr 2021 erlangten Abwasserfreiheit der Gewässer steht einer Entwicklung zur Modell­ region Emscher nichts mehr im Wege.

Hochwasserrückhalte­ becken Emscher-Auen in Dortmund-Mengede / Castrop-Rauxel Ickern

Wassermanagement als Impulsgeber des Strukturwandels der Region Die Emschergenossenschaft betrachtet sich als Flussgebietsmanagerin und Mitgestalterin des neuen Ruhrgebiets. Sie ist Dienstleisterin rund um den Wasserkreislauf und gestaltet als Teil der Region den Strukturwandel aktiv mit. Die Wasserwirtschaft ist heute neben der Energie und Mobilität, Kreislaufwirtschaft, Ernährung und Gesundheit eine der globalen Überlebenstechnologien. Ein Wasserverband wie die Emschergenossenschaft muss sich neben der Verantwortung für die ein­schlägigen wasserwirtschaftlichen Pflichtaufgaben auch auf veränderte Rah­menbedingungen durch den Klimawandel, den demografischen Wandel, die Ver­änderung der Industrielandschaft und die zukünftigen Erfordernisse der Landwirtschaft einstellen. Der demografische Wandel trägt derzeit dazu bei, dass die EmscherRegion in den nächsten Jahrzehnten Einwohner verlieren wird. Es ist die Aufgabe der Politik, diesen Trend aufzuhalten. Gleichzeitig steigen die Lebenserwartungen, infolgedessen sich wiederum der Medikamentenverbrauch erhöht und dies zur Zunahme von Spurenstoffen im Abwasser führt. Das Streben nach mehr Umweltqualität erfordert darüber hinaus, den Flächenverbrauch von heute – ca. 15 Hektar pro Tag – zu minimieren und durch Flächenrecycling und durch Nutzung von Transformationsflächen der Industrie hochwertige Wohn-, Gewerbe- und Freiflächen zu entwickeln. Diese Erkenntnis, dass der Flächenverbrauch reduziert werden muss, stärkt gleichzeitig den Ansatz multifunktionaler Flächennutzungen. Dadurch werden die Zusammenarbeit und der Vernetzungsgrad der verschiedenen

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Akteure – also Wasserverbände, Kommunen und Industrie – deutlich gefordert. Der wirtschaftliche Strukturwandel und der demografische Wandel erzeugen neue Nutzungsansprüche an die Metropolregion. Für die Gestaltung attraktiver Stadtquartiere ist dabei das Wasser ein unverzichtbares Element mit großem Potenzial für Klimaanpassungsmaßnahmen. Eine klimaresiliente Stadtentwicklung lässt sich so durch integrales Handeln realisieren. Dabei sind verstärkt interkommunale und interdisziplinäre Kooperationen gefragt. Über innovative Formate für die Vernetzung der Akteure werden dabei kommunale, fachliche und institutionale Grenzen überwunden. Im Hinblick auf den Klimawandel verbindet das Generationenprojekt Emscher-Umbau daher in besonderer Weise wasserwirtschaftliche Notwendigkeiten beim Umbau eines industriell geprägten Gewässersystems mit den Ansprüchen der Menschen und der Wirtschaft in der Region. Es ist somit ein wesent­licher Baustein und Motor des Strukturwandels der Metropole Ruhr. Direkte Umweltleistungen des Emscher-Umbaus Bereits wenige Jahre nach dem ökologischen Umbau kann eine hohe Biodiversität im Gewässer und in den angrenzenden Auen nachgewiesen werden, die nahezu der eines naturbelassenen Gewässers entspricht. Aber auch die Öffnung von verrohrten Gewässerabschnitten zu urbanen Stadtgewässern sowie die Regenwasserbewirtschaftung in Konversionsflächen und Wohnquartieren leisten einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung des Wohn- und Lebensumfeldes. Dabei sind öffentliche wie private Grundstückseigentümer gefragt, Schulhöfe werden mit offenen Wasserelementen und Versickerungsanlagen lebendig gestaltet, große Gewerbebetriebe nutzen das Regenwasser zu Kühl- und Reinigungszwecken, Wohnungsbaugesellschaften beziehen das Regenwasser in ihre Freiflächengestaltung ein, begrünen Dächer und Fassaden, private Grundstückseigentümer koppeln ihre Hof- und Dachflächen von der Kanalisation ab. Gerade durch diese Maßnahmen kann den negativen Folgen des Klimawandels entgegengetreten werden. Dieser sorgt in der Emscher-Region vermehrt zu Wetterextremen wie Starkregen oder Hitzewellen; eine besondere Herausforderung für die Wasserwirtschaft und die Stadt- und Freiraumplanung in diesem urban geprägten Raum. Mit der aktuellen Zukunftsinitiative „Klima.Werk“ hat die Emschergenossenschaft gemeinsam mit den Kommunen und dem Land NRW eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man dieser Herausforderung wirkungsvoll begegnen kann. An den umgebauten Gewässern entstehen Frischluftschneisen, die zur Küh­­lung in dicht besiedelten Stadträumen beitragen. Gewässerauen werden zu CO2-Senken und können Feinstaubbelastungen reduzieren. In übergreifenden Forschungsprojekten zur Anpassung an den Klimawandel konnten die positiven Effekte nachgewiesen werden. Ein besonderer Fokus liegt dabei auch auf dem Hochwasserschutz. Fast 5 Millionen Kubikmeter neue Rückhalteräume wurden bislang entlang der Emscher geschaffen. Mit der weiteren Renaturierung der Gewässerläufe wird sich dies in den nächsten Jahren noch deutlich erhöhen. Ein weiteres herausragendes Beispiel dafür, dass wasserwirtschaftliche Erfordernisse mit hohem städtebaulichem Anspruch kombiniert werden können, ist der Phoenix-See in Dortmund. Dieses urbane Stadtgewässer wird im Bedarfsfall als Hochwasserpuffer genutzt. Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels und den wesentlich veränderten Niederschlagsverhältnissen, die katastrophale Starkregen und Überflutungen mit sich bringen können, sind der Hochwasserschutz an den Gewässern, die Bewirtschaftung von Deichen und der Betrieb von Pumpwerken die herausragenden Aufgaben der Wasserverbände. In der rheinisch-westfälischen Bergbauregion gibt es in ehemaligen Abbaubereichen insgesamt ca. 220 Kilometer Deiche; teilweise mit beträchtlichen Höhen von über 10 Metern. Der höchste Flussdeich Europas steht an der Lippe in Hamm-Herringen mit 17 Metern Höhe und schützt dort, wie an vielen anderen Stellen auch in den Nebenlaufgebieten, die dicht besiedelten Bereiche und wertvolle Infrastrukturen im unmittelbaren Hinterland. Ökosystemleistung – eine medienübergreifende Errungenschaft des Emscher-Umbaus Neben den direkten Leistungen der Wasserwirtschaft, wie Abwasserentsorgung, Gewässer- und Grundwasserschutz, Regenwasserbewirtschaftung und Hochwasserschutz, werden auch viele indirekte Leistungen durch die Wasserwirt-

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Dr. Emanuel Grün ist Mitglied des Vorstands der Emscher­ genossen­schaft und für den Bereich Wassermanagement und Technik verantwortlich.

schaft erbracht, die auf gewandelte gesellschaftliche Ansprüche und politische Ziele eingeht und technische Innovationen nutzt. Hierzu zählen u. a. der Naturschutz, der Erhalt des Landschaftsbildes in den Flusslandschaften, land- und forstwirtschaftliche Produktionsverbesserungen sowie die Naherholung und der Tourismus. Mit der ökologischen Umgestaltung der Gewässer werden die Betriebswege zu öffentlichen Fuß- und Radwegen. Ehemalige Meideräume werden somit für die Anwohner wieder zugänglich. Die Erlebbarkeit der Gewässer und die neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung werden von den Menschen der Region gerne genutzt. Umweltbildungsprogramme sowie Kunst und Kultur an den Gewässern runden das Bild einer integralen Wasserwirtschaft ab. Ein hervorragendes Beispiel hierzu ist das Konzept der „Blauen Klassenzimmer“ an zahlreichen Zuflüssen zur Emscher oder der BernePark als Stadtteilzentrum und Begegnungsstätte auf einer ehemaligen Kläranlage in Bottrop an der Stadtgrenze zu Essen. Auch Ausstellungen der Emscherkunst haben gezeigt, dass die Perspektiven unserer Stadtgewässer weit in die Region ausstrahlen. Der Neubau der wasserwirtschaftlichen „harten“ Infrastruktur und die dadurch initiierte Entwicklung der Biodiversität an den Gewässerläufen sind das Fundament für einen breit gefächerten gesellschaftlichen Nutzen, der sich als Ökosystemleistung objektivierbar ermitteln lässt. Allein der monetäre Mehrwert der Ökosystemleistung beträgt etwa das Doppelte der Investitionskosten des Emscher-Umbaus. Hinzu kommen positive ökologische Effekte, wie die Fähigkeit der Gewässer zur Selbstreinigung, die CO2-Bindung in den neu geschaffenen Auen, die Regulierung des Mikroklimas durch Feuchtflächen und die Erhöhung der Biodiversität. Diese ganzheitliche Betrachtung des Wasserkreislaufes und die umgesetzten technischen Innovationen sowie die etablierten Managementstrukturen moderner Wasserverbände können beispielgebend für andere großräumige Probleme oder Fragestellungen einer Transformationsregion sein – auch im globalen Maßstab. Transformationsbereitschaft – ein Wechsel auf die Zukunft Getreu dem Motto „Organisation folgt Aufgabe“ hat sich die Emschergenossenschaft seit Jahren durch technisch notwendige und mögliche Entwicklungen sowie gesellschaftliche Ansprüche an unsere Umwelt und damit an neue wasserwirtschaftliche Herausforderungen in ihrer Ausrichtung, Strategie und Handlungsweise angepasst. Das ist nicht immer leicht gefallen. Die Wasserwirtschaft auf generationengerechte Nachhaltigkeit fokussiert, legt daher naturgemäß eher eine „dynastische“ Denkweise an den Tag, wenn es zum Beispiel um Investitionsentscheidungen geht, die auch noch in 30 Jahren Bestand haben sollen. Diese grundsätzlich unter technischen und wirtschaftlichen Aspekten bewährte Vorgehensweise hält aber heute den schnellen Veränderungen in der Gesellschaft nicht mehr Stand. Die Transformationsgeschwindigkeit eines Unternehmens muss sich daran anpassen. Insbesondere die teilweise disruptiven Veränderungen der Digitalisierung in der Wirtschaft, der Arbeitswelt oder in persönlichen Lebensbereichen erfordern eine schnelle Antwort auf Veränderungen. Übersetzt man das auf die Wasserwirtschaft, muss es gelingen, durch Sensorik in der Verfahrenstechnik, durch das Monitoring von Umweltdaten und den folgenden Big-Data-Auswertungen und Echtzeitanalysen schnellere Managemententscheidungen für das Unternehmen zu treffen. Eine so angelegte Transformation, die aus einem eher tradierten Verständnis der Reaktion auf Veränderungen die aktive Rolle eines agierenden Unternehmens einnimmt, ist zukunftsfest. Häufig sind es Einflussfaktoren wie technologische Innovation und Veränderung der Gesellschaft einschließlich der einhergehenden Verschiebung von Wertesystemen bis hin zur politischen Steuerung, die die Daseinsvorsorge determinieren. Wenn es nun gelingt, dass Unternehmen neben den Erfahrungen der Vergangenheit und den Erkenntnissen der Gegenwart auch die Anforderungen für die Zukunft antizipieren, kommt man dem eigenen Anspruch der Sicherung der Lebensgrundlagen zur Daseinsvorsorge ein gutes Stück entgegen. Die gelebte Gestaltungskraft der Emschergenossenschaft aus den letzten Jahrzehnten macht Mut, die Zero-Pollution-Strategie der EU für Wasser, Luft und Boden in Gänze auf alle Aktivitäten des Hauses zu übertragen. Somit wird schon die für den Emscher-Umbau sinnstiftende Daseinsvorsorge für die nächste Generation konsequent weitergetragen.

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Emscher an der Kläranlage Dortmund-Deusen

| Burkhard Teichgräber

Strategi e n  u n d Projekte f ü r d i e Wasserwirts c h a f t eines Ballung s r a u m im 21. Jahrh u n d e r t

s

I 

m 20. Jahrhundert wurde die Emscher zweimal umgebaut. Wesentliche Ziele des Umbaus galten der Erhaltung der Bewohnbarkeit des Emscher-Gebiets und der Schaffung einer Entwässerungsinfrastruktur für die Sicherstellung der industriellen Entwicklung. Mit Blick auf die Bereinigung der hygienischen Situation für die Bevölkerung, die niedrigen resultierenden Kosten und die Langlebigkeit dieses Systems kann es als nachhaltig für diese Zeit angesehen werden. Die technischen Systeme der Ver- und Entsorgung dieses industriellen Ballungsraumes wurden zu geowirksamen Faktoren und ersetzten die ursprünglichen, naturbasierten ökologischen Regelkreise. Als Folge des Strukturwandels Ende des 20. Jahrhunderts drohte das Emscher-Gebiet als landesweit bedeutendes Wohn-, Wirtschafts- und Dienstleistungszentrum den Anschluss an die Zukunft zu verlieren. Der Mangel an Freiraum, an Stadt- und Lebensqualität verbunden mit den großen Umweltbelastungen stellte sich als großer Standortnachteil für die notwendige ökonomische und soziale Erneuerung dieser alten Industrielandschaft heraus. Der Wandel drohte nicht voranzukommen. Als Antwort darauf wurde 1988 die Durchführung der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park als eine Werkstatt für die Zukunft alter Industriegebiete beschlossen (MSWV NW 1988). Für die Wasserwirtschaft bedeutete dies, die vorhandene Entwässerungsinfrastruktur so zu modernisieren und ergänzen, dass weiterhin die schadlose Ableitung des gesamten Abflussspektrums gewährleistet war. Zusätzlich mussten die Gewässer wieder ökologische Funktionen übernehmen und den Naturhaushalt stärken. Zugleich sollten sie zu Leitstrukturen entwickelt und zu Erholungs- und Erlebnisräumen für die Menschen werden. Mit dem Rückzug des Bergbaus und damit auch dem Wegfall ungleichmäßig verteilter Bergsenkungen (= Beschädigung/Zerstörung der Wasserinfrastruktur) hatte sich die Chance zu einer beispiellosen Erneuerung der wasserwirtschaftlichen Strategie in diesem Ballungsraum eröffnet. Insofern standen am Anfang eine ganze Reihe von Fragen, die durch entsprechende Studien und Gutachten bearbeitet wurden. Der größte Teil der Arbeit erfolgte bei der Umsetzung, die von Anfang an als selbstlernender Prozess angelegt war. Zentrale

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oben und rechts: Niederfeldsee in Essen-Altendorf

Fragen waren die nach den Möglichkeiten der Verringerung der Oberflächenversieglung und des Rückhalts von Oberflächenwasser, um den natürlichen Wasserhaushalt einschließlich einer größeren Verdunstungsleistung wiederherzustellen, aber auch, wie das Abwasser und das Regenwasser so gut gereinigt werden konnten, dass Bäche und Emscher wieder zu ökologisch funktionsfähigen Gewässer wurden. Wie konnten die Gewässerstrukturen der hydraulisch optimierten Wasserläufe unter den Randbedingungen eines altindustriellen Ballungsraumes verbessert werden, wie konnte die Gewässerlandschaft für den Menschen und die Natur revitalisiert werden? Die komplexen und eng miteinander verzahnten Herausforderungen für den Emscher-Umbau wurden in einem regionalen Entwicklungskonzept zusammengeführt. Der 2006 veröffentlichte Masterplan „Emscher-Zukunft“ bildet als flexibles Entwicklungskonzept den strategischen Orientierungsrahmen und fungiert gleichzeitig als Vorgabe für die regionalen Akteure. Guter Gewässerzustand in der Emscher-Zone erfordert individuelle wasserwirtschaftliche Lösungen Ende 2000 wurde die europäische Wasserrahmenrichtlinie (EU-WRRL) beschlossen, hierdurch wurden die Bewertungsmaßstäbe und Vorgehensweisen bei der Gewässerentwicklung bis heute weiterentwickelt und anspruchsvoller. Die Erreichung des guten ökologischen Zustands bzw. des guten ökologischen Potenzials

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nach EU-WRRL ist nicht, wie in der Richtlinie vorgesehen, bis Ende 2027 erreichbar. Fehlende Flächen, technische Probleme oder fehlende personelle und finanzielle Ressourcen und die Mehrfachbelastungen der Gewässer machen die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen bis Ende 2027 auch in NRW vielfach unmöglich. Die ambitionierte Zielsetzung ist mit dem zweiten Emscher-Umbau nicht vollständig zu erreichen, sondern bleibt eine Herausforderung für das 21. Jahrhundert. Verbesserungspotenziale bestehen in einer weiteren morphologischen Verbesserung entlang der Gewässer, die ohne Flächen nur sehr schwer möglich ist, der Minimierung des Zustroms aus Altlasten der industriellen Vergangenheit, der Verringerung des Spurenstoffeintrags aus dem Schmutzwasser (Industriechemikalien, Personal-care-Produkte, Arzneimittel, Pflanzenschutzmittel), der Minimierung der Nährstoffe Stickstoff und Phosphor und einer flächendeckenden und dauerhaften Anhebung des Sauerstoffgehalts auf mindestens Zweidrittel der natürlichen Sauerstoffsättigung. Für die dicht besiedelte Stadtlandschaft mit einem Anteil an gereinigtem Schmutzwasser bis zu 90 Prozent im Trockenwetterabfluss der Emscher ist die Ausrüstung der Kläranlagen mit einer vierten Reinigungsstufe erforderlich. In der Kombination Fällung/Flockung, Filtration und weitergehender Oxidation bzw. Adsorption lassen sich die erforderlichen vorgenannten stofflichen Wir­kungen erzielen. Mit der Anwendung dieser Techniken ist ein vermehrter Ressourceneinsatz verbunden sowie ein Mehrverbrauch von Fläche, Energie und Einsatzstoffen. Diese Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind durch den Klimawandel und die zu seiner Bewältigung erforderlichen Anpassungsmaßnahmen noch größer geworden. In globalem Maßstab sind zusätzlich folgende Belastungen der Wasserwirtschaft erkennbar: – Kontinuierliches Wachstum der Weltbevölkerung – Klimawandel mit Dürren und Starkregen – Weltweiter Wettbewerb von Metropolregionen unter demografischem Wandel – Emission von Antibiotika und Antibiotikaresistenzen aus dem Abwasser in Gewässer – Eintrag von Kunststoff in natürliche Systeme mit Langzeitbelastung durch Mikroplastik – Ständige Neuentwicklung von immer mehr Chemikalien mit hoher Jahres­ produktion – Entwicklung weiterer synthetischer Stoffe mit besonderer Wirkung, z. B. Nanopartikel

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Traditionell befassen sich  Emsc h e r genossenschaft und Lippever b a n d mit neuen Herausforderu n g e n und Fragestellungen auch  in   e i g e n e Untersuchungsprogram m e n .

n

Die von Emschergenossenschaft und Lippeverband aufgebaute kostenintensive und langlebige Infrastruktur wird langfristig weiterentwickelt unter folgenden Randbedingungen: – Möglichst breite Wirkung auf zahlreiche unerwünschte Belastungsparameter – Sicherstellen der Funktionsfähigkeit und Ermöglichen von sprunghaften Innovationen (möglichst kurze Abschreibungsperioden und gebündelte Reinvestitionen bei einem minimalen Anlagenrestwert) – Schließen von Kreisläufen – Minimierung des ökologischen Fußabdrucks (Ressourceneinsatz, Flächenverbrauch, Emissionen) Anwendungsorientierte Forschung als Motor der Transformation in technikgetriebenen Unternehmen Traditionell befassen sich Emschergenossenschaft und Lippeverband mit neuen Herausforderungen und Fragestellungen auch in eigenen Untersuchungsprogrammen, an eigenen Forschungsstandorten und in Zusammenarbeit mit renommierten wissenschaftlichen Forschergruppen. Nach Möglichkeit werden hierfür Forschungsmittel verschiedenster Provenienz eingeworben. Eine unsystematische Auswahl solcher Forschungsprojekte ist im Folgenden aufgeführt. / Versuchsstrecke Emscher für den Gewässerumbau: Am Standort der Kläranlage Dortmund-Deusen werden auf 2 Flusskilometern unterschiedliche Bauweisen für die ökologische Verbesserung der Emscher außerhalb von ökologischen Schwerpunkträumen erprobt. Ziel ist, eine ökologisch wirkungsvolle, kosteneffiziente Bauweise zu entwickeln, die die Erreichung der ökologischen Ziele der EU-WRRL unterstützt. / Sonderforschungsbereich (SFB) Emscher: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat 2020 für zwölf Jahre einen SFB an der Emscher beschlossen. Ein großes Konsortium renommierters Institute untersucht die komplexe Wirkung von „Stressoren“ (Belastungen) auf die Organismengruppen renaturierter Fließgewässer mithilfe modernster Methoden. Die Erkenntnisse dieser umfassend angelegten Grundlagenforschung können dazu beitragen, die Qualität des Emscher-Umbaus und die Renaturierung anderer Gewässer weltweit zu verbessern. / Das EU-Vorhaben MERLIN (Maximising synergies of Ecological Restoration in a Landscape context: Innovation, upscaling and transformation) betrachtet mit 43 Projektpartnern und 17 Fallstudien die Optimierung und Übertragbarkeit der Revitalisierung von Gewässern, Auen, großen Flüssen, Mooren und den damit einhergehenden naturbasierten Lösungen (Ökosystemleistungen). Vor dem Hintergrund der Ziele des EU Green Deals zu Biodiversität, CO2-Bindung, Klimaanpassung, Multifunktionalität, Partizipation und Sozioökonomie geht es um die Identifizierung innovativer, systemischer und wirtschaftlich tragfähiger Lösungen. / Das Forschungsprojekt DynAKlim (www.dynaklim.de – Dynamische Anpassung regionaler Planungs- und Entwicklungsprozesse an die Auswirkungen des Klimawandels in der Emscher-Lippe-Region) unterstützte mit dem Aufbau eines regionalen Netzwerks, eines webbasierten Wissensmanagements sowie mit einem regionsumfassenden Roadmap-Prozess die Entwicklung zu einem

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Hörder Bach in Dortmund-Hörde

Prof. Dr.-Ing. Burkhard Teichgräber ist Leiter des Geschäftsbereichs Grundlagen und Entwicklung bei der Emschergenossenschaft.

proaktiv und innovativ handelnden Ballungsraum mit einer deutlich gestärkten Anpassungsfähigkeit. Integriert waren interdisziplinäre Forschungsarbeiten zu den Auswirkungen auf den regionalen Wasserkreislauf, Pilotprojekte zur Erprobung flexibler Anpassungsmaßnahmen und die Erarbeitung umsetzungsorientierter Lösungen zu allen technischen, wirtschaftlichen, regionalpolitischen und gesellschaftlichen Aspekten im Bereich „regionale Adaptation“. / KRIS – Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft, gefördert durch das Land NRW, soll die Region befähigen, zahlreiche Projekte zur Anpassung an den Klimawandel zu realisieren. Um die Klimaresilienz der urbanen Region zu stärken, werden unter neuen Leitlinien bis 2040 vor allem folgende Ziele verfolgt (s. auch www.klima-werk.de): – Reduzierung des Abflusses von Regenwasser in Mischsystemen um 25 Prozent; – Erhöhung der Verdunstungsrate um 10 Prozent; – Reaktivierung bzw. Entflechtung verrohrter Gewässer sowie – Reduzierung oder Vermeidung von Hitzeinseln. Als Handlungsrahmen ihrer gesamten künftigen Aktivitäten nehmen sich Emschergenossenschaft und Lippeverband das Prinzip der „Zero Impact Emission“ vor. Hiermit soll erreicht werden, dass die erforderlichen wasserwirtschaftlichen Maßnahmen nicht mit überproportionalen Umweltbelastungen anderer Art erkauft werden. In einer Zangenbewegung aus Quick-win-Maßnahmen und strategischen Ansätzen zur Minimierung der Umweltauswirkungen der gesamten wasserwirtschaftlichen Arbeit soll das gesamte Unternehmen neu ausgerichtet werden. Besondere Bedeutung kommt der partizipativen Beteiligung der Mitarbeiter zu, deren tägliche Arbeit neu auszurichten ist.

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Darstellung aller aktiven (im Betrieb) und durch die EGLV betriebenen Pumpwerke

Kreis Wesel

Gelsenkirchen Oberhausen

Bottrop

Duisburg Essen

Mülheim a.d.Ruhr

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Kreis Recklinghausen

Herne

Dortmund Dortmund Kreis Unna

Bochum

EnnepeRuhr-Kreis

EnnepeRuhr-Kreis

0 0 0

Kreis Unna

10 km 10 km

10 km

Kläranlage Kläranlage Regenbecken Regenbecken Pumpwerk Pumpwerk

Kläranlage Regenbecken Pumpwerk 91

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| Friedhelm Pothoff

Bau des Hochwasserrückhaltebeckens in Dortmund -Ellinghausen

Roadm a p „Hochwassersc h u t aus historis c h e m Anla s s

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rreichen Daten im nationalen Bewusstsein eine historische Bedeutung, liegt die Ursache dafür in den Ereignissen begründet. So war das auch am 14. und 15. Juli 2021, als in Deutschland extreme Unwetter niedergingen. Damals fielen in Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz innerhalb eines Tages 100 bis 150 Liter Regen pro Quadratmeter – der Großteil dieser Wassermengen in einem kurzen Zeitfenster von 10 bis 18 Stunden. In der Folge kam es in den betroffenen Regionen der beiden Bundesländer zu Sturzfluten und massiven Überschwemmungen. Mehr als 180 Menschen starben, die Summe der Umwelt- und Sachschäden bewegt sich in Milliardenhöhe. Expertinnen und Experten rechnen wegen des Klimawandels für die Zukunft mit einer Häufung solch extremer Wetterereignisse und sensibilisieren die Politik für den Hochwasserschutz. Aufträge und Ziele Zu diesem Expertenkreis gehören die Emschergenossenschaft und der Lippe­ verband (EGLV), ohnehin dem Hochwasserschutz in ihren Verbandsgebieten historisch stark verpflichtet. Für EGLV bildete die Katastrophe zudem beispielgebend den Ausgangspunkt, um den fortwährenden und notwendigen Dialog mit allen Mitgliedern und den relevanten Behörden noch einmal zu intensivieren. Aus der engen und aktiven Zusammenarbeit heraus beauftragten die politischen Spitzen mitsamt den Gremien den Vorstand der beiden Verbände im Oktober 2021, Maßnahmen zur Erhöhung der Hochwassersicherheit zu entwickeln. Die Roadmap „Krisenhochwasser“, Ende März 2022 vorgelegt und der Öffentlichkeit vorgestellt, sieht bis 2037 Investitionen von bis zu 500 Millionen Euro vor. Das Ziel der Roadmap „Krisenhochwasser“ ist zusammengefasst: – die Funktionsfähigkeit bis zur maximalen Belastbarkeit der Hochwasser­ schutzsysteme sicherstellen; – die Schäden im Überlastfall der technischen Hochwasserschutzeinrichtungen zu minimieren. Im Katastrophenfall und grundsätzlich gilt es, – Leib und Leben der Bevölkerung zu schützen, – Sach-, Kultur- sowie Umweltschäden zu minimieren. Die Realisierung der Vorsorgemaßnahmen der Roadmap „Krisenhochwasser“ ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Verbände sowie ihrer kommunalen und industriellen Mitglieder. Sie stellt einen geordneten und kontinuierlichen Verbesserungsprozess sicher, zumal die kosten- und bautechnischen Synergien einer zeitgleichen Realisierung mit der ökologischen Verbesserung der Gewässer und der sukzessiven Erneuerung der Deichsysteme gehoben werden können.

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Emscher mit Deichen in Oberhausen

Friedhelm Pothoff ist Leiter der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit bei Emschergenossenschaft und Lippeverband.

Agenda Für eine effiziente Umsetzung wurde ein Maßnahmenprogramm in fünf Aktionsfeldern entwickelt. Der Plan sieht eine abgestimmte, parallele Bearbeitung vor; dadurch erhöht sich die Hochwassersicherheit in den Kommunen sukzessiv. So werden etwa neue Rückhalteräume für große Wassermengen geschaffen. Ein Beispiel sind die Emscher-Auen zwischen Dortmund und Recklinghausen. Dort gibt es Potenzial für mehr als 1 Million Kubikmeter Retentionsvolumen. Die Überlegung dabei ist: Die Abflussspitzen sollen so weit wie möglich reduziert werden. Dies wird durch den Rückhalt und die Speicherung des Hochwasserabflusses möglichst vor den kritischen Deichabschnitten erreicht. Hierdurch steht weniger Wasservolumen für die Überflutung vulnerabler Bereiche zur Verfügung. Umweltund Sachschäden können so gemindert und für viele Ereignisse ganz verhindert werden. Außerdem werden die Deichanlagen an Emscher und Lippe sowie ihren Nebenläufen verbessert, damit sie möglichen Extremszenarien standhalten. Brücken als mögliche Gefahrenquellen bei einem Hochwasser sollen identifiziert werden. Denn dort, wo die Bauwerke in ein mögliches Hochwasser eintauchen, kann Treibgut hängen bleiben, den Durchfluss verhindern und Überflutungen erzeugen. Die geeigneten Gegenmaßnahmen sollen zusammen mit den Kommunen realisiert werden. Unerlässlich für eine schnelle und zuverlässige Warnung vor einem Hochwasser ist ein geeignetes Pegelnetz, wie es die Verbände seit Jahrzehnten unterhalten. Für eine schnellere Überwachung im Ereignisfall wird dieses Netz auch an einigen Nebenflüssen von Lippe und Emscher ergänzt. Um wiederum die Kommunikation und Kooperation im Katastrophenfall zu verbessern, soll eine Plattform für einen standardisierten Informationsaustausch im Hochwasserfall aufgebaut werden. Dazu werden die Hochwasserzentrale der EGLV und die Krisenstäbe von Kreisen und Städten synchronisiert. Schließlich muss in diesem Kontext auch die Bevölkerung, die in hochwassergefährdeten Gebieten, hinter Deichen oder neben Pumpwerken lebt, über die Gefahr vor und während eines Ereignisses informiert werden: nicht nur über die Überflutungsgefahr, sondern auch über das, was bei einer Überflutung zu tun ist. Die Kommunen werden ihren Bürgern die geeigneten Karten und Informationen zur Verfügung stellen. Beschleunigungsmodus Damit dieses ambitionierte Maßnahmenprogramm möglichst zügig umgesetzt werden kann, haben sich EGLV auch auf dem politischen Feld stark engagiert. Dabei ging es u.a. um beschleunigte Genehmigungsverfahren. Neben der Erarbeitung der Roadmap „Krisenhochwasser“ beteiligten sich EGLV zudem an zahlreichen Initiativen der wasserwirtschaftlichen Interessenvertretungen und halten Folgendes für dringend geboten: – Ausweisung von Notfallpoldern und potenziell gefährdeten Gebieten in der Regionalplanung; – Beschleunigte Genehmigungsverfahren bei sogenannten No-Regret-Maßnahmen; – „Klimawandelzuschlag“ für Deichhöhen; – Höhere Hürden zur Hochwassersicherheit von Neubaugebieten; – Verpflichtung der Abwasserbeseitigungspflichtigen zu erhöhter Beratung; zum Thema Rückstau bei Starkregen und Hochwasser; – Verpflichtende Erstellung von Starkregengefahrenkarten mit Hochwasser­ risikokarten.

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Grüne S t a d t Impulse für e i n e Stadtentwi c k l u im Net z d e r Emscher-Zu f l ü s

– ne u n g s

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H 

| Volker Lindner

örder Bach, Breuskens Mühlenbach, Holzbach – das sind Namen, die nach idyllischen Bächen in grünen Wiesen klingen, aber 120 Jahre lang darüber hinwegtäuschten, dass es sich um oberirdische Abwasserkanäle handelt. „Es ist lange her, dass ich ein Fluss war. Die idyllische Berne, die ihr Wasser der klaren Emscher zuführte. Bilder der Vergangenheit“ […] „Heute bin ich eine Kloake. Abbild für die Kehrseite der Zivilisation. Braun gefärbt von Dreck und Scheiße.“ 2015 erscheint der Urban-Fantasy-Roman Emschererwachen, geschrieben von Schülerinnen und Schülern, die ihre Lebenswelt und die Emscher mit ihren Nebenläufen in den Mittelpunkt stellen. Was eine Schülerin der Berne in den Mund legt, beschreibt den Zustand fast aller Nebenläufe der Emscher vor Umgestaltung und Abwasserfreiheit. Sie sind in der Regel Bestandteil einer durch Gleistrassen, Straßen, oberirdische Leitungen, Brachflächen, Industrieanlagen und Siedlungen geprägten Industrielandschaft. Allein die Namen der Bäche sind geblieben. Es sind nicht die bevorzugten Wohngebiete, Quartiere und Stadtteile, die im Einzugsbereich der Emscher und ihrer Nebenläufe liegen – 2,2 Millionen Einwohner in der Kernzone der Ruhrgebiets. In einer so geprägten Umgebung mit „mangelnder Umweltgerechtigkeit“, verbunden mit einem geringen Anteil an Grün- und Erholungsflächen leben die ärmeren Bewohner der Region. Impulse für die Stadtquartiere Kann die Umgestaltung der Emscher und ihrer Nebenläufe diese Lebensverhältnisse verbessern, indem sie spürbare Impulse für eine Aufwertung der Region setzt? Befragungen von Bewohnern in einem Quartier, das an der bereits um­ gestalteten Emscher im Dortmunder Raum liegt, belegen: Die Geruchsfreiheit, die Zugänglichkeit, neue Wegeverbindungen und die fußläufig zu erreichenden Erholungsmöglichkeiten werden als Pluspunkte und Aufwertungen benannt. Umgekehrt heißt dies aber auch: Die positiven Impulse des Emscher-Umbaus beschränken sich in erster Linie auf die unmittelbare Umgebung der Emscher mit rund 80 Kilometern Gesamtlänge sowie auf die Umgebung der Nebenläufe. Diese werten bereits jetzt – weit vor der noch in großen Teilen ausstehenden Umgestaltung des Hauptlaufs – die anliegenden Quartiere auf; mehr noch: Aufgrund ihrer Gesamtlänge von insgesamt 350 Kilometern umfassen die in fußläufiger Entfernung zu den Nebenläufen gelegenen Bereiche einen erheblich größeren Raum. Schon dies verdeutlicht: Die umgestalteten Nebenläufe haben aufgrund ihrer Gesamtlänge für die Lebensqualität der Bewohner, aber auch für die Ökologie der Emscher-Region eine höhere Bedeutung als der Umbau der Emscher selbst. Was wird verändert? Abwasserfreiheit entsteht durch neue Kanäle parallel zum Gewässer. Nach Entfernung der Betonschalen bleibt das neue Bachbett künstlich. Wo es möglich ist, wird es erweitert, mit flacheren Böschungen, gegebenenfalls leicht mäandrierend naturnah gestaltet – an diesen Stellen entwickelt sich eine beachtliche ökologische Qualität.

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Emscher-Promenade in Dortmund-Hörde

Aus der Sicht der Anwohner: Die ehemaligen „Köttelbecken“ bilden ein neues grünes Band im Stadtteil, ohne Geruchsbildung, oft zugänglich. In der Regel werden die für den unterirdischen Kanal erforderlichen Wartungswege für Fußgänger und Radfahrer geöffnet. Damit bilden die umgebauten Gewässerläufe der Emscher-Zuflüsse neue, grüne Trassen mit Naherholungswert für die angrenzenden Quartiere und auf 240 Kilometern Länge ein neues Verbindungsnetz in der gesamten Region – soweit jedenfalls die Theorie. Wie es anfing Die Praxis erschließt sich, wenn man sich mit einem der frühen Umbauprojekte befasst: dem 10 Kilometer langen Deininghauser Bach in Castrop-Rauxel. Die Umgestaltung dieses Zuflusses begann 1992. Der hier näher betrachtete Abschnitt im Stadtteil Bladenhorst wurde 2013 in der Schulstraße und 2014 im öst­lichen Abschnitt parallel zur Alleestraße fertiggestellt. Die Besonderheit: Auf mehr als 300 Metern Länge wird der Bach mitten in der Schulstraße geöffnet. Was hat sich mit der Umgestaltung in Bladenhorst getan? Dazu äußern sich zwei Lokalpolitiker, die das Projekt und die damit verbundene Entwicklung des Stadtteils von Anfang an begleitet haben. Die wichtigste Feststellung: „Der Gestank ist weg, man sieht jetzt Enten, Gänse, sogar Schwäne“, so Rüdiger Melzner. „Auch die Befürchtung, es würde nur ein Rinnsal verbleiben, hat sich nicht bewahrheitet“, ergänzt Oliver Lind. „Die zunächst skeptisch gesehene offene Führung des Bachs in der Schulstraße wird akzeptiert. Nur an Pflege und Sauberkeit fehlt es in dem Graben“, bemerken beide. „Der Umbau hat den Generationswechsel im Ortsteil

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unten und rechts: Kirchschemmsbach, Bottrop

erleichtert, die Wohnlagen entlang des Bachs sind wesentlich attraktiver“, so Rüdiger Melzner. Oliver Lind geht daher auch von einem dadurch beeinflussten Anstieg der Bodenwerte aus. Beide Interviewpartner bestätigen allerdings auch: Außer einigen ohnehin überfälligen Straßenerneuerungen hat es keine ergänzenden oder anknüpfenden Maßnahmen der Stadt Castrop-Rauxel gegeben. Dazu fehle der Stadt das Geld.

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Grün durch Blau Zumindest in der Theorie geht mehr: Bereits 2014 nahm die Stadt Herten die geplante Umgestaltung des Backumer Bachs, Holzbachs und Resser Bachs zum Anlass, eine integrierte Entwicklung der neu entstehenden Grünzüge vernetzt mit vorhandenen Grünzügen zu planen. In Zusammenarbeit mit der Emschergenossenschaft entstand das Projekt „Grün durch Blau – Integrale Wasserwirtschaft als Motor der Stadt- und Freiraumentwicklung in Herten“. Die Idee: Die Maßnahmen der Emschergenossenschaft, ergänzt und verknüpft mit weiteren Maßnahmen der Stadt, schaffen einen Mehrwert, der weit über den Wirkungsbereich der Gewässerumgestaltung hinausgeht. „Grün durch Blau“ zeigt derartige Maßnahmen auf – beispielsweise eine neue Verbindung zwischen dem Schlosspark Herten und dem Schloss Westerholt entlang des Holzbachs oder die Ableitung von neu zu schaffender oberflächennaher Regenentwässerung in bestehenden Quartieren als Vernetzungselemente. Dieser integrierte Ansatz ist dadurch geprägt, dass die Ergänzungen auf kommunaler Seite mit einem überschaubaren Aufwand zu einem durchgehenden Netz von Wegeverbindungen und ökologisch wirksamen Verbindungen in der gesamten Stadt führen. Und so verbessert sich das Lebensumfeld der Bewohner weit über den eigentlichen Wirkungsradius der Gewässerumgestaltung hinaus.

Volker Lindner war bis 2017 Erster Beigeordneter und Stadtbaurat der Stadt Herten und ist Vorsitzender des h2-netzwerk-ruhr e. V.

Den Hellbach per Fahrrad erkunden In der Region fehlt es an attraktiven Nord-Süd-Verbindungen. Also wäre die Umgestaltung des Hellbachs eine gute Chance, für Radfahrer und Fußgänger nicht nur Verbindungen im Quartier, sondern auch von Emscher und Kanal bis in die Recklinghäuser Innenstadt zu schaffen. Tatsächlich findet man Wege entlang des Hellbachs, diese sind jedoch immer wieder unterbrochen. Man stößt mehrmals an verschlossene Tore. Einige Unterbrechungen sind aufgrund unüberwindbarer Hindernisse nachvollziehbar, andere nicht. Offenbar hat hier niemand den Anspruch, eine durchgängige Verbindung zumindest auszuschildern. Nirgendwo findet der Versuch statt, eine Verknüpfung zum Quartier zu schaffen, geschweige denn zu inszenieren. Im Grunde sieht man das alte Bild: der eingezäunte, unzugängliche Bachlauf, nur ohne Betonrinne. Auch dort wo Aufweitungen und flache Böschungen einen sicheren Zugang möglich machen würden, ist der Bach an keiner Stelle erreichbar. Auch im Hertener Beispiel hat es bei der Entwurfsplanung für die Nebenläufe kein wirklich integriertes Vorgehen gegeben. Die beauftragten Pla­ nungsbüros wussten nichts von dem zwischen Stadt und Emschergenossenschaft vereinbarten Modellprojekt „Grün durch Blau“ und blendeten es wohl auch unter Zeitdruck aus. Die Option, die Umgestaltung in die Quartiere hinein weiterzuführen, bestehende Grünzüge zu integrieren und durchgängige Wegeverbindungen gemeinsam zu planen, wurde damit zunächst verworfen. Allerdings besteht nach wie vor auch in den nächsten Jahren die Chance, nicht nur in Herten und Recklinghausen, sondern in der gesamten Emscher-Region die Umgestaltung der Nebenläufe durch weitere integrierte Maßnahmen auf kommunaler Seite zur Wirkung zu bringen. Weitere Interventionen „Andererseits: So sehr sich die Menschen auch bemühten, so sehr sie auch versuchten, die Gegend wieder zu verschönern, sie konnten den Schaden niemals vollständig rückgängig machen und der Emscher ihr ursprüngliches Bett wiedergeben.“ Diese Feststellung im Schülerroman Emschererwachen trifft auch – zumindest im übertragenen Sinn – auf die Reparatur der Nebenläufe zu. Bei allen Verbesserungen für die Ökologie und das Wohnumfeld, die strukturellen Probleme der Emscher-Region erfordern weitere städtebauliche, aber vor allen Dingen auch massive sozial- und bildungspolitische Interventionen – sonst wurde viel getan und wenig erreicht.

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Emscher am Signal-IdunaPark in Dortmund

| Dietwald Gruehn

Die Ems c h e r Revitalisie r u n g : Verbesser u n g    d e r Ökosy s t e m dienstleis t u n g e n durch grü n - b l a u e Infrastr u k t u r im Ruhrg e b i e t D 

er 1991 begonnene Umbau der Emscher, wie er in den Beiträgen in diesem Band von R. Burger, S. Berger & U. Eickelkamp sowie weiteren Autorinnen und Autoren beschrieben wird, folgt aus sachlogischen Gründen weniger dem Prinzip der Renaturierung als vielmehr dem Prinzip der Revitalisierung. Nicht nur aufgrund von Bergsenkungen und den damit entstandenen Höhenverhältnissen, sondern auch aufgrund der dicht an die Emscher he­ranreichenden Bebauung war es in vielen Fällen nicht mehr möglich, den ursprünglichen Verlauf der Emscher wiederherzustellen. Die Revitalisierung ist im Vergleich zur Renaturierung weniger vergangenheitsorientiert, sondern eher funktional ausgerichtet und beinhaltet damit die Möglichkeit, die Gestaltung des Flussumbaus nicht nur besser an die bestehenden städtebaulichen Strukturen anzupassen, sondern in bestimmten Abschnitten des Gewässerverlaufs auch Vorränge für bestimmte ökologische Funktionen oder Ökosystemdienstleistungen zu formulieren, festzulegen und durch Unterhaltungsmaßnahmen dauerhaft zu sichern, die sich im Rahmen natürlicher Sukzession anders entwickeln würden. Mit dem Prinzip der Revitalisierung geht also ein höheres Potenzial für die Schaffung vielfältiger planerischer Lösungen einher, die in einem hochverdichteten und durch Mehrfachnutzung charakterisierten Raum eher dem jeweiligen Genius loci entsprechen oder ihn fördern dürften, als dies bei einer ausschließlichen Orientierung an natürlichen Klimaxstadien zu erwarten wäre. Mit anderen Worten: Die Revitalisierung ermöglicht in viel stärkerem Maße eine multifunktionale Sichtweise, die der spezifischen Situation im Ruhrgebiet als durchaus angemessen angesehen werden kann. Was sind Ökosystemdienstleistungen? Mit dem Millennium Ecosystem Assessment wurde der Begriff „Ecosystem services“ (deutsch: Ökosystemdienstleistungen, im Folgenden als ÖSD bezeichnet) in die Umweltforschung eingeführt. Als ÖSD werden bestimmte Nutzen und/ oder Vorteile bezeichnet, die Ökosysteme den Menschen (kostenlos) gewähren. Auch wenn die konkrete Abgrenzung der ÖSD zu Ökosystemfunktionen nicht immer eindeutig und daher teilweise umstritten ist, vermag der Ansatz der ÖSD

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jedoch deutlich zu machen, welche Bedeutung Ökosysteme für die menschliche Gesellschaft haben können – nicht nur auf abstrakter kleinmaßstäblicher Ebene, sondern auch auf der konkreten lokalen Ebene. Hinzu kommt, dass die ÖSD auch in ökonomische Dimensionen transferiert werden können und somit nicht nur auf der fachlich-ökologischen Ebene, sondern auch auf der ökonomischen Ebene kommunizierbar sind und daher flexibel in politische Entscheidungsprozesse eingebracht werden können. Gleichwohl ist in diesem Kontext auch auf Vorgängerkonzepte hinzuweisen, die sich nur unwesentlich vom ÖSD-Konzept unterscheiden, vor allem das seit Anfang der 1990er Jahre eingeführte Konzept der Landschaftsfunktionen sowie dessen Vorläufer, das durch die sogenannte Leipziger Schule in den 1970er Jahren eingeführte Konzept der Naturraumpotenziale. Welche Ökosystemdienstleistungen gibt es? Gemäß dem bereits angesprochenen Millennium Ecosystem Assessment können folgende ÖSD erfasst werden: – Bereitstellende ÖSD, wie die Bereitstellung von Nahrung, Wasser, Bau­material (Holz), Fasern oder Rohstoffen für Arzneimittel – Regulierende ÖSD, z. B. Regulierung von Klimabedingungen, Abfluss von Oberflächenwasser, Populationsgrößen von Schadorganismen, Wasserqualität, Schadstoffkonzentrationen (Abfallbeseitigung) und Bestäubung – Unterstützende ÖSD, z. B. ökosystemare Dienstleistungen durch Prozesse wie Bodenbildung, Nährstoffkreislauf und Erhaltung der genetischen Vielfalt – Kulturelle ÖSD, wie ökosystemare Dienstleistungen, die Erholung, Naturtourismus, ästhetischen Genuss und spirituelle Erfüllung fördern Welche Ökosystemdienstleistungen werden durch die im Zuge der Emscher-Revitalisierung geschaffene grün-blaue Infrastruktur verbessert? Bei der Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass sich das Konzept des Emscher-Umbaus nicht explizit auf ÖSD bezieht. Gleichwohl wurde von Beginn an ausdrücklich kommuniziert, dass bestimmte positive Wirkungen im Zuge der Emscher-Revitalisierung eintreten würden. Das Thema „Regulierung von Klimabedingungen“ wurde zum damaligen Zeitpunkt hingegen noch nicht als relevant eingeschätzt. Auch wenn die Emscher nach nunmehr 30 Jahren noch nicht vollständig revitalisiert ist, lassen sich doch einige Trends erkennen, welche ÖSD sich durch die Emscher-Revitalisierung verbessert haben. Von den „bereitstellenden ÖSD“ dürfte vor allem die Biomasseproduktion in Form von Holz (als Baumaterial und Energielieferant) und Agrarprodukten eine bedeutende Rolle spielen; dies nicht nur, weil die gut mit Wasser versorgten Standorte des Emschertals von vergleichsweise nährstoffreichen Pararabraun­erden auf Löss umgeben sind und daher gute Erträge erwarten lassen, sondern auch, weil der Masterplan „Emscher Landschaftspark“ explizit die urbane Land­wirtschaft und Waldnutzung als planerisches Ziel ausgegeben hat und die Nut­zung von Holz und Agrarprodukten, wie Kartoffeln, Gemüse, Erdbeeren, Himbeeren und Blumen, anstrebt. Derartige lokale Produkte haben zudem gegenüber Produkten, die aus anderen Bundesländern oder dem Ausland ins Ruhrgebiet transportiert werden müssen, eine viel bessere CO2-Bilanz. Einen Schwerpunkt dürften die „regulierenden ÖSD“ darstellen. Durch den nunmehr stärker mäandrierenden Flussverlauf und die damit verbundene Verlängerung der Flusslaufstrecke sowie entsprechend geplante Über­ schwemmungsflächen bzw. Hochwasserrückhaltebecken tritt eine abflussverzögernde Wirkung ein, die insgesamt zu stärker ausgeglichenen Abflussverhältnissen führt als vor der Revitalisierung. Auch der Waldzuwachs führt zur Verlangsamung des Wasserkreislaufes durch Interzeption und höhere Verdunstung. Dies ist auch für die Klimaregulation bedeutsam, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits heizen sich Wälder durch Verschattungseffekte nicht so schnell auf wie ihre Umgebung, andererseits führt die Verdunstung der Wälder, zumal auf feuchten Standorten wie im Emschertal, zum Verbrauch von Wärmeenergie: Es entsteht eine Kühlwirkung, die sich entlastend auf benachbarte überhitzte Baugebiete auswirken kann. Auch wenn sich Wiesen und Ackerflächen tagsüber stärker erwärmen als Waldflächen, haben sie insbesondere in Tropennächten eine stark kühlende Wirkung aufgrund starker langwelliger Ausstrahlung in Verbindung mit hohen Verdunstungsraten, die insbesondere durch Grundwassereinfluss bedeut-

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Prof. Dr. Dietwald Gruehn ist Inhaber des Lehrstuhls Landschaftsökologie und Landschaftsplanung an der Technischen Universität Dortmund.

Revitalisierte Emscher in Dortmund

Die Emsc h e r   k a n n eine Vorbildfu n k t i o n für viel e a n d e r e Flussläufe  übern e h m e n

.

samer sind als auf terrestrischen Standorten. Schließlich zeichnet sich die revitalisierte Emscher durch einen Wechsel von Fließgeschwindigkeiten aus, die zu einem kleinräumigen Wechsel von Oxidations- und Reduktionsprozessen führen, was den Abbau von Schadstoffen und damit die Fließgewässerselbstreinigung fördert. Von den „unterstützenden ÖSD“ dürfte vor allem der Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt im urbanen Raum bedeutsam sein. Sicherlich kann (und will) die Emscher-Revitalisierung nicht den Schutz naturnaher Landschaften in Form von Nationalparks oder ähnlichem ersetzen. Für den Kontakt der im größten Ballungsraum Deutschlands lebenden Menschen zur Natur hat sie jedoch einen unschätzbaren informativen und emotionalen Wert. Von den „kulturellen ÖSD“ stehen Erholung, Naturtourismus und ästhetischer Genuss an vorderster Stelle. Mit dem neuen Emschertal steht nun nicht nur den im Ruhrgebiet lebenden Menschen ein hochwertiger, naturnaher und (durch Radwegeerschließung) hervorragend nutzbarer Erholungsraum zur Verfügung, dieser Raum wird auch (nach seiner Fertigstellung) mindestens regionale Anziehungskraft für Menschen entfalten, die Interesse an der Verbindung von Natur und Kultur haben. Die Verbesserung des ästhetischen Genusses durch die Emscher-Revitalisierung zeigen beispielhaft diese vorhergehenden Abbildungen. Fazit Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich die Revitalisierung der Emscher auf eine Vielzahl an ÖSD positiv ausgewirkt hat und sich weiter positiv auswirken wird. Dies ist in besonderer Weise hervorzuheben, denn das Bundesministerium für Umwelt und das Bundesamt für Naturschutz haben zum wiederholten Male belegt, dass die Flüsse in Deutschland immer mehr an Überschwemmungsflächen verlieren. Die Emscher-Revitalisierung zeigt, dass dies nicht zwingend so sein muss. Vor diesem Hintergrund darf man hoffen, dass die Emscher eine Vorbildfunktion für viele andere Flussläufe übernehmen wird.

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Wasserwirtscha f t  4 . 0 – Mit digitaler Techno l o g i e zu einem nachha l t i g e n Anlagenb e t r i e b im Rahmen bla u - g r ü n e r Infrast r u k t u r

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| Frank Obenaus, Heiko Althoff

it der Herstellung der Abwasserfreiheit für die Emscher wurde der entscheidende Meilenstein des Emscher-Umbaus zum Ende des Jahres 2021 erreicht. Dieser steht für eine fundamentale Veränderung der Wasserwirtschaft im ehemaligen Steinkohlerevier. Ähnlich tief greifende Veränderungen erfährt die Gesellschaft durch die Digitalisierung, die inzwischen sämtliche Bereiche sowohl des privaten als auch des wirtschaftlichen Lebens durchdringt. Sie ist für Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) ein aktiv genutztes Mittel zum Zweck mit den Zielen, den Betrieb des neuen Emscher-Systems sicherer, effizienter und nachhaltiger im Sinne einer Wasserwirtschaft 4.0 zu gestalten und so für die Bürger der Region echten Mehrwert zu schaffen.

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Bausteine der Wasserwirtschaft 4.0 Wesentliche Voraussetzung für die Wasserwirtschaft 4.0 in Unternehmen der sogenannten „Kritischen Infrastruktur“ (KRITIS) in Deutschland ist die Cybersicherheit der Anlagen und der Netzwerke unter Einsatz neuester Technologien. Auf einer solchen cybersicheren Infrastruktur basierend, beschreiten EGLV ihren Weg der digitalen Transformation. Die Chancen der Digitalisierung sind dabei vielfältig, basieren aber in der Regel auf der Auswertung großer Datenmengen. Die Wasserwirtschaft setzt seit mehreren Jahrzehnten digitale Messsysteme ein, um ihren Anlagenbetrieb optimal zu steuern. Die jetzt verfügbaren Technologien, um große Datenmengen an einer Stelle zentral vorzuhalten, in Echtzeit auszuwerten und weiterzuverarbeiten, schaffen klare Mehrwerte. Agile Pilotvorhaben für die Wasserwirtschaft 4.0 werden bei EGLV als Proof of Concept (PoC) behandelt. Für das Projektmanagement bedeutet dies die schrittweise Umsetzung in Meilensteinen, die die prinzipielle Durchführbarkeit der Vorhaben prüfbar belegen. Ein PoC bietet jeweils die Chance, eine Risikominimierung für das Unternehmen frühzeitig vorzunehmen und dabei gleichzeitig die kritischen Stellschrauben eines Vorhabens zu identifizieren. Um Mehrwerte zu identifizieren, benötigt es ein grundlegendes Verständnis der Logik der Digitalisierung mit der Datenerfassung als zentraler Grundlage. Ziel aller Schritte ist die Schaffung besserer Entscheidungsgrundlagen, die Optimierung von Prozessen aus Unternehmenssicht (z. B. energetisch), das Aufdecken bislang nicht erkannter Zusammenhänge bzw. sind insgesamt transparentere Prozesse in der Wasserwirtschaft. Transformationen 20 | 21 +

Emscher in BottropEbel, Kontrolle der Dateninfrastruktur

Schwerpunkte der Digitalisierung im Anlagenbetrieb Der oben beschriebenen Logik folgend haben EGLV im täglichen Anlagenbetrieb die folgenden Schwerpunkte bei der Digitalisierung gesetzt: – Einsatz von virtueller Prozessleittechnik inklusive modernster Sensorik auf Kläranlagen, Pumpwerken und an Regenwasserbehandlungsanlagen, mit einheitlicher Programmierung und Patchmanagement: EGLV setzen auf die neue Technologie sogenannter virtueller Prozessleitsysteme. Anstelle vieler lokaler Prozessleitsysteme tritt ein virtuelles Prozessleitsystem (vPLS), das auf verbandseigener Hardware gehostet wird. Das vPLS ermöglicht eine visuelle Standardisierung der Steuerung aller Anlagen. Entsprechend können dann Programmanpassungen oder -verbesserungen mit einem Knopfdruck auf alle Anlagen verteilt werden. Der Aufwand für das Engineering sowie Wartung und Instandhaltung der Softwaresysteme auch unter IT-Sicherheitsaspekten verringert sich deutlich. Zudem wird durch das einheitliche Look&Feel die Bedienung der verschiedenen Anlagen vereinfacht. – Zentrale Betriebsdatenbank für Messwerte auf der Basis einer hochmodernen Zeitreihenplattform: Zentrale Grundlage für die Nutzung aller Innovationen der DataScience wie Machine Learning ist die zentrale Sammlung und Verfügbarkeit der Unternehmens- und Anlagendaten. EGLV haben eine sogenannte BigData-fähige Zeitreihenplattform etabliert, mit deren Hilfe unterschiedlichste Daten gesammelt und für weitere Anwendungszwecke zur Verfügung gestellt werden. So werden beispielsweise bereits sämtliche Messwerte von Pegeln an EGLV-Gewässern in Echtzeit über diese Plattform gebündelt. Mit ihnen werden u.a. die Wasserstandsprognosen bei Hochwasserlagen erstellt. – Visualisierung/Dashboards: Darstellen von Anlagendaten aus der Zeitreihenplattform in Echtzeit, angepasst für jede Zielgruppe / Managementebene

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Die neue Techn i k   w i r d einen Beitr a g  z u r stärkeren Vernetz u n g    m i t Wirtschaft und öffent l i c h e r Verwaltung  l ei s t e n . – M  obiles Arbeiten: Mobiles Arbeiten ist seit der Einführung des Betriebsfüh­ rungssystems bei EGLV vor mehr als zehn Jahren ein fester Baustein im Betriebsalltag. Mit diesem System wurden die ehemals in Papierform erzeugten Aufträge für Wartung und Instandhaltung sowie die sonstigen betrieblichen Tätigkeiten in einen digitalisierten und georeferenzierten Arbeitsprozess überführt. Anlagen- und bereichsbezogen werden in der Arbeitsvorbereitung Aufgabenpakete erzeugt und den Mitarbeitenden über die Mobilgeräte zur Abarbeitung und Quittierung zugewiesen. Ebenso zum Betriebsstandard gehört mittlerweile der Anlagenfernzugriff auf die lokale Prozessleittechnik über die gleichen Mobilgeräte. Bei vielen Rufbereitschaftseinsätzen trägt inzwischen diese Option, sich auf die gestörte Anlage aufzuschalten und ggf. auch Schaltund Steuereingriffe aus der Ferne vornehmen zu können, maßgeblich zu schnelleren Störungsanalysen, Entstörungsmaßnahmen und damit insgesamt zu einer erhöhten Anlagenverfügbarkeit bei. – Augmented bzw. Virtual-Reality-Anwendungen: Visualisierungsoptionen der nahen Zukunft sind Lösungen unter Einsatz von Augmented Reality (AR), bei denen zusätz­liche Informationen in die reale Welt eingeblendet werden können. EGLV testet AR u.a. derzeit bei der Remote Assistance, also der Anleitung von

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Transformationen 20 | 21 +

rechts: AR-Anwendung auf dem iPad zur Visualisierung der Leitungen unter der Straße links: Abwasserkanal Emscher in Dortmund, Inspektionssystem

Heiko Althoff ist Leiter der Abteilung für Informationstechnologien bei der Emschergenossenschaft. Dr. Ing. Frank Obenaus leitet den Geschäftsbereich Betrieb bei der Emschergenossenschaft.

Beschäftigten aus der Ferne mittels AR-Brille, und bei der „3D-Visualisierung von vorhandenen Leitungen auf Baustellen“. Mit Virtual Reality (VR) kann zum Beispiel der neue Abwasserkanal Emscher (AKE), der bis zu 40 Meter unter Gelände liegt und permanent Abwasser führt, bereits heute „im Büro“ begangen werden. – Condition Monitoring unter Verwendung von künstlicher Intelligenz (KI), zum Beispiel mit einer automatischen Betriebsstörungserkennung an Regenwasserbehandlungsanlagen. – Modellbasierter Anlagenbetrieb / digitaler Zwilling: Durch die Meldungen des mitlaufenden Modells wird die Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Prozessinformationen gelenkt und somit eine qualitative Verbesserung der Abwasserreinigung erreicht. Im Bereich der Kanalnetze gelingt erst über die Modellierung eine dynamische Bewirtschaftung der vorhandenen Speichervolumina zur Reduzierung der Gewässerbelastung bei Starkregenereignissen und damit ein wesentlicher Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung der Gewässerqualität. Aktuell befindet sich die Kanalnetzsteuerung für das gesamte Emscher-System im Aufbau. Schrittweise über die Modelle von Teileinzugsgebieten soll in fünf Jahren das Gesamtsystem gesteuert und damit ein maßgeblicher Beitrag zur Entwicklung der Wasserqualität in der ab 2021 abwasserfreien Emscher geleistet werden. Onlinekopplungen mit den Kläranlagen im Emscher-Gebiet und einem digitalen Gewässerzwilling sind klare Entwicklungsperspektiven. – Building Information Modeling (BIM): Im Bereich der Planung sammelt die Wasserwirtschaft erste Erfahrungen mit dem BIM, bei dem von der Planung bis zum Betrieb durchgängig alle relevanten Bauwerksdaten digital modelliert, kombiniert und erfasst werden. Das BIM enthält ein virtuelles Modell des geplanten Bauwerks sowie entsprechende Daten hoher Qualität, die in einer gemeinsamen Datenbasis vorgehalten werden. Damit stehen allen Beteiligten zu jedem Zeitpunkt die aktuellen Daten zur Verfügung und erleichtern die Abstimmung sowohl bei der Planung als auch während der Bauausführung oder im späteren Betrieb. Erste umgesetzte Maßnahmen bei EGLV lassen Steigerungen bei der Effizienz der Projektabwicklungen sowie im späteren Betrieb erwarten. Ausblick Auf der Grundlage des umgebauten Emscher-Systems werden durch die Digita­ lisierung ganzheitlichere Betriebsweisen möglich wie die emissionsoptimierte Steuerung des neu erbauten Kanalsystems in Echtzeit. Gekoppelt mit dem online erfassten Wettergeschehen und den Kläranlagen im Einzugsgebiet werden die Potenziale der neuen Infrastruktur vollständig erfasst und gehoben. Mit dem Mehr an anfallenden Daten generieren EGLV weiteren Nutzen durch die Einführung selbstlernender Assistenzsysteme oder die Verwendung von KI-Bildalgorithmen. Die neue Technik wird auch einen Beitrag zur stärkeren Vernetzung mit Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung leisten und so konzertiertes Handeln im Sinne der gesamten Region unterstützen.

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System Abwasserfreiheit

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Transformationen 20 | 21 +

0

10 km

Ökologisch verbessert

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BP-Raffinerie an der Emscher in Gelsenkirchen

Kläranlage, Dortmund-Deusen

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Transformationen 20 | 21 +

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Transformationen 20 | 21 +

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Emscher an der Forsterbruchstraße in OberhausenBuschhausen

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Transformationen 20 | 21 +

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Emscher in Castrop-Rauxel

Strategien zu einer neuen Stadt- und

Hellbach, Blaues Klassen­ zimmer an der Käthe-KollwitzSchule, Recklinhausen-Süd

­Flus s l a n d

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

sc h a f

t

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| Wolfram Höfer

Bau der neuen Emscher-Mündung in Voerde

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Die  v i e r t e Emscher-Mü n d u n g – Gestalt u n g  v o n Landschaft in  Z e i t e n des fortschreit e n d e n Klimawa n d e l s D 

ie vierte Emscher-Mündung bei Dinslaken, am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, stellt eine höchst komplexe technische Lösung für vom Menschen verursachte Umweltprobleme dar. Im Zuge der Industrialisierung wurde der Wasserhaushalt der Emscher-Region so nachhaltig verändert, dass immerwährende Eingriffe notwendig wurden, um das Gebiet bewohnbar zu halten. Damit wurde die Emscher-Zone zu einer typischen Landschaft des Anthropozäns. Wie kann in diesem Kontext ein Leitbild für die vierte Emscher-Mündung aussehen? Eine Revitalisierung als Wiederherstellung eines angenommen ursprünglichen Zustands kann es nicht sein. Eine romantisierende Inszenierung im Sinne der post-industriellen Landschaft scheint auch nicht angemessen, weil markante Relikte nicht vorhanden sind. Auch können die Deiche aus Sicherheitsgründen nicht sich selbst überlassen werden. Damit ist das Konzept der vierten Natur ausgeschlossen. Das Verhältnis von Ingenieurskunst, Ökologie und Gestaltung stand im Zentrum der Überlegungen eines Studienprojekts von Rutgers, The State University of New Jersey, USA. Zwölf Studierende im Fach Landschaftsarchitektur stellten sich im Frühjahrssemester 2019 der Aufgabe einer gestalterischen Interpretation der vierten Emscher-Mündung. Unter dem Thema „Emscher meets Rhine“ wurden gestalterische Ansätze für diese neue Kulturlandschaft gesucht. Neue Natur? Für die Studierenden war es faszinierend, dass von den insgesamt 48,5 Hektar des Projektgebiets 20 Hektar als neu geschaffenes Feuchtgebiet unter Naturschutz stehen werden. Die Diskussionen in der Gruppe setzen sich mit der Frage einer neu geschaffenen Natur auseinander: Kann künstliche Natur natürlich sein? Kann man schützenswerte Natur neu bauen? Aus der Sicht von Ingenieuren und Ökologen ist das kein Problem: Das neue Deichsystem erweitert die bestehenden Rheindeiche, schützt vor zukünftigen Fluten und umschließt eine neue Auenlandschaft, in der ein ausgeklügeltes System von verschieden Fließgeschwindigkeiten und Wassertiefen ein reichhaltiges Mosaik ökologischer wertvoller Lebensräume schafft. Für angehende Landschaftsarchitekt*innen steckt darin aber die gestalterische Frage nach der kulturellen Bedeutung dieser neuen (Natur-) Landschaft. Auf natürliche Weise wäre die Emscher niemals dort, wo sie ist. Die dritte Emscher-Mündung an dieser Stelle ist das Ergebnis einer technischen Ausbeutung und Zerstörung von Natur. Zugleich ist das Delta der vierten Emscher-Mündung Ergebnis einer radikalen Umkehr im Denken und Ausdruck einer angenommenen Verantwortung für unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Welche gestalterischen Mittel sind

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„Bubble Walk“ in der alten Mündung, Entwurf Jessica MacPhee; Rutgers University

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angemessen, um diese Verquickung von Technik und Natur zu einer interessanten und ansprechenden Erfahrung zu machen? Wie kann Gestaltung die künstliche Natur des Anthropozäns den Besuchern nahebringen und auch neue, relevante Bedeutungsebenen entwickeln? Die erste Phase des Studienprojekts war von „Fern-Erkundung“ geprägt; Google Earth, GIS und andere Onlinequellen ermöglichten eine Annäherung an den Kontext. Darüber hinaus stellte die Emschergenossenschaft umfassendes Planmaterial zur Verfügung. Die zweite Phase des Projekts begann mit einer Reise ins Ruhrgebiet und an den Niederrhein. Auf der Reise wurden erste Konzepte mit Vertretern der Emschergenossenschaft diskutiert. Auch traf sich die Gruppe mit Vertretern der Stadt Dinslaken und mit einem Repräsentanten einer lokalen Bürgergruppe. Der Besuch im Ruhrgebiet war eine sehr wertvolle Erfahrung. Auf der einen Seite ist die Mischung aus alten Industriestandorten, Verkehrswegen, Infrastruktur und Wohnen für Studierende aus New Jersey nicht ungewohnt. Auf der anderen Seite hatte noch niemand aus der Gruppe in einem alten Stahlwerk übernachtet (Jugendherberge Duisburg-Nord). Die Straßenbahnfahrt durch den Duisburger Norden nach Dinslaken zeigte der Gruppe, dass die ethnische Mischung hier zwar anders, aber durchaus mit New Jersey vergleichbar ist. Eine besondere Faszination übte die Überlagerung verschiedener Narrative an der neuen Emscher-Mündung selbst aus. Der Hof Emschermündung, die Straßennamen Hagelstraße und Am Hagelkreuz zeugen von der historischen Kulturlandschaft des Niederrheins. Hagel war eine Bedrohung für die Landwirtschaft. Prozessionen sollten vor schweren Hagelschäden bewahren. Das Hagelkreuz ist ein Kulturlandschaftselement, das die Verknüpfung von Landnutzung und Religion im kulturellen Brauchtum der vorindustriellen Gesellschaft illustriert. Ein verbliebener Abschnitt des Emscher-Kanals mit einem sehr herausfordernden Geländeprofil und das Absturzbauwerk der dritten Mündung wurden als Relikt der industri­ alisierten Landschaft wahrgenommen. Die dritte Ebene war die zur Zeit des Besuches teilweise fertiggestellte neue Mündung, die künstliche Natur des Anthropozäns. Jedes der vier Studierendenteams respektierte die Vorgabe, dass das neu geschaffene Feuchtgebiet für Menschen nicht zugänglich sein sollte. Zugleich entwickelte jede Gruppe Konzepte zur Erschließung, zum Parken und für Rad- und Wanderwege. Die gestalterischen Antworten der Studierenden aus New Jersey spiegeln eigene kulturelle Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit einem fremden Ort wider.

Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

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Masterplan ,, Ecological + Intersections“, Entwurf: John Hayton, David Rigeur, Mark Robison; Rutgers University

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Die Glasskuppel im geschützten Feuchtgebiet ist unterirdisch zugänglich, Entwurf: Molly Kinghorn; Rutgers University

Masterplan „Emscherplatz mit Sommer­ kamp, Besucherzentrum und Aus­ stellungs­bereich“, Entwurf: Tiffany Ngyen, Michael Scott Bey, Jessica T horning; Rutgers University

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Landmarke „Emscher Diamont“ mit einer Spannbrücke verknüpft, Entwurf: David Rigeur; Rutgers University

Ein gewölbter Spiegel lässt den Besucher sich selbst auf der anderen Deichseite sehen, Entwurf: Lydia Zoe; Rutgers University

Neue Landschaft gestalten Das erste Team, „Emscherplatz“, nimmt die neue Natur zum Anlass, eine Ferienanlage in der Tradition amerikanischer summer camps, zu schaffen, mit Sportanlagen und naturnahen Erholungsangeboten. Das neu geschaffene Delta mit angrenzenden Deichen und Feldern wird als integraler Teil der Kulturlandschaft Niederrhein interpretiert. Die technische Infrastruktur ist Hintergrund für ein Landschaftserlebnis. Für den Hof Emschermündung sieht diese Gruppe ein Besucherzentrum vor. Die alte Mündung wurde zu einem Terrassensystem umgeformt, das Platz für eine Ausstellung bietet, die die Auswirkung der Verlegungen der Emscher-Mündungen (von Alsum nach Walsum 1909, nach Dinslaken 1949) auf die jeweiligen Anwohner beleuchtet. Das Team „Ecological + Intersections“ stellt die Möglichkeiten der Umweltbildung in den Vordergrund. Die Außenanlagen des vorgeschlagenen Schulungszentrums im Hof Emschermündung und die alte Mündung sind als ökologischer Schaugarten gestaltet. An der Spitze des Deiches wird der „Emscher Diamond“ vorgeschlagen, eine begehbare Landmarke die zugleich Anker für eine Spannbrücke über die Mündung ist. Der Entwurf bringt Besucher dem neuen Feuchtgebiet nahe und ermöglicht zugleich eine direkte Fortsetzung des Rheinufer-Radwegs. Eine begehbare Landmarke findet sich auch beim Studententeam „Interactive Experience“. Hier steht das sensorische Erleben der technischen Aspekte im Vordergrund. Ein Element ist ein gewölbter Spiegel, der die Besucher mit der neuen Landschaft verknüpft und so ein visuelles Erlebnis schafft. Ein weiteres Element ist der Vorschlag für eine Handy-App, die digitale Interaktionen ermöglichen soll.

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Geplante neue Landmarke mit Aussichtsplattform an der Emscher-Mündung

Dr. Wolfram Höfer lehrt am Department of Landscape Architecture, School of Environmental and Biological Sciences, Rutgers, The State University of New Jersey.

Die intensive Auseinandersetzung mit deutscher Kulturtradition im Umgang mit Wasser war Inspiration für das Projekt des vierten Teams, „Reflection Park“. Das Umfeld des Hofs Emschermündung wird zu einem Wassergarten in der Tradition von Kneipp. Für die alte Mündung wird ein „Bubble Walk“ vorgeschlagen, der auf verschieden Ebenen die Spannung zwischen Ingenieurskunst und Naturschutz thematisiert. Beide Elemente werden über einen unterirdischen Gang verbunden, der sich auf halber Strecke zu einer Glaskuppel erweitert. Die Kuppel wird von der neuen Emscher umspült und ermöglicht, Flora und Fauna im Naturschutzgebiet zu beobachten. Bei der Abschlusspräsentation via Videokonferenz unter aktiver Teilnahme der Emschergenossenschaft zeigte die Diskussion der Arbeiten das große gestalterische Potenzial dieses besonderen Ortes. Es ist ein großmaßstäbliches Projekt, dessen räumliche Struktur aber auch kleine Interventionen sinnvoll macht. Gegenwärtig bestehen Planungen der Emschergenossenschaft für eine 16,62 Meter hohe Landmarke. Die Dimensionen des Objekts sind in Bezug zum gesamten System entwickelt. Die Höhe orientiert sich in einem Maßstab von 1:5000 an der Länge der Emscher, und der Durchmesser der sich von oben nach unten verjüngenden Tragkonstruktion orientiert sich an Kanalrohren. Die Besucherplattformen sind in Relation zur Einwohnerzahl der Mitgliedsstädte des Emscher-Gebiets dimensioniert. Das Beleuchtungskonzept soll die Vielfalt entlang der Emscher visualisieren. Die neue Landmarke macht die Emscher-Mündung zum weithin sichtbaren Tor zum Ruhrgebiet und lässt weitere gestalterische Optionen für die Zukunft offen. Kulturlandschaft im Anthropozän Mit dem Abbau der Kohle als Wegbereiter der Industrialisierung begann die gewaltige Zufuhr fossiler Energie in die Atmosphäre, einer der Hauptursachen des Klimawandels. Die daraus resultierende Klimakrise bedeutet heute, dass wir keine andere Wahl haben, als darauf zu vertrauen, dass Ingenieure und Wissenschaftler Lösungen entwickeln, die den Fortbestand der Emscher (und der restlichen Welt) sichern. Die heutige Emscher als fein kalibriertes Hightech-System kann nicht sich selbst überlassen werden, wenn Menschen in dieser Region weiter leben wollen: Die Emschergenossenschaft darf die Pumpen der Polder nie abschalten. Die Ewigkeitslasten des Bergbaus sind eine Parabel dafür, dass wir unseren Pla­ neten so nachhaltig verändert haben, dass ohne unsere langfristige Pflege der Lebensraum für den Menschen schwinden wird. Die Geschichte des ersten Ausbaus der Emscher von einem mäandernden, sich immer ändernden Flusslauf zu einem offenen Abwasserkanal war Ausdruck der konsequenten Ausbeutung natürlicher Ressourcen und elementarer Bestandteil der Landschaftsmaschine Ruhrgebiet. Die Geburtswehen der Emschergenossenschaft sind Beispiel für die Auseinandersetzung um den geldwerten Vorteil, den die Nutzung von natürlichen Ressourcen bietet. Warum soll ein einzelner Hüttenbesitzer für die Ableitung von Abwasser bezahlen, wenn er bisher immer einfach seine Rohre öffnete? Die Diskussion über die Gestaltung der Emscher-Mündung zeigt die Anforderungen an die langfristige Gestaltung unserer Umwelt: verlässliche und innovative Technologien, Nachhaltigkeit, Resilienz im Zeichen des Klimawandels und gute Gestaltung der Kulturlandschaft des Anthropozäns.

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

links: Bau der neuen EmscherMündung in Voerde

oben rechts: Emscher-Mündung in Dinslaken 1955

oben Mitte: Emscher-Mündung in Dinslaken 1952

oben links : fertig­gestellter Kanal um 1912

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Lanferbach, Gelsenkirchen

 Christian Gerten, Stefan Siedentop, Sabine Weck

Soziale Fo l g e n des Emscher-Um b a u s : Besserstell u n g   v o n sozial Benachteil i g t e n oder Gentrifizi e r u n g ?

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M 

it der Renaturierung der Emscher und ihrer Zuflüsse wird aus einem oberirdischen Abwasserkanal aus den Zeiten von Bergbau und Schwerindustrie eine landschaftlich attraktive, urbane Flusslandschaft. Das Vorhaben kann zu Recht als ein Meilenstein des Strukturwandels im Ruhrgebiet bezeichnet werden. Der Emscher-Umbau trägt zur Aufwertung einer ganzen Region bei, er schafft mehr Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner, stellt ein breites Spektrum von Ökosystemdienstleistungen bereit (Gerner et al. 2018), stimuliert die Modernisierung anderer Schlüsselinfrastrukturen (Wuppertal Institut 2013) und vermittelt auf diese Weise auch strukturpolitische Impulse. Internationale Referenzprojekte verdeutlichen, dass die Schaffung einer solchen „dritten Natur“ – als Revitalisierung von kanalisierten oder überbauten Fließgewässern oder ökologische Inwertsetzung brachgefallener Infrastrukturtrassen – große Chancen für die Stadtentwicklung entfalten kann (Cho 2010; Immergluck/Balan 2018; Loughren 2014). Allerdings werden urbane Freiraumprojekte im internationalen Kontext nicht selten auch kritisch diskutiert. Neben unmittelbar für alle sichtbaren Vorteilen können sich schleichend vollziehende sozioökonomische Folgewirkungen treten. Vielfach beobachtet wurden immobilienwirtschaftliche Aufwertungsprozesse in den umliegenden Nachbarschaften, die sich in steigenden Bodenpreisen, höheren Mieten, dem Zuzug von kaufkräftigen Mittelschichten und in der Verdrängung von ärmeren Bevölkerungsgruppen äußern (Checker 2011; Gould/Lewis 2017). Eine Schlussfolgerung dieser Studien ist, dass die ökologische Aufwertung vormals brachgefallener Flächen und Infrastrukturen (Umwelt-)Unge­ rechtigkeiten paradoxerweise nicht abbaut, sondern sie oftmals intensiviert. „Mit der Schönheit kommt die Angst“, überschrieb ein Beitrag der Süddeutschen Zeitung vom 23. September 2018 die Befürchtungen der an der Emscher Wohnenden vor Verdrängung. In diesem Spannungsfeld diskutiert dieser Beitrag das immobilienwirtschaftliche Aufwertungspotenzial des Emscher-Umbaus und geht dabei vor allem auf die Wohnungsmarktentwicklung ein.

Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

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Wiedergutmachung oder Entstehung neuer Ungerechtigkeiten? Die Effekte des Emscher-Umbaus lassen sich vor diesem Hintergrund aus zwei unterschiedlichen raum- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven diskutieren. Aus der Perspektive der Gerechtigkeitsforschung (Spatial Justice) ist die Revi­talisierung der Emscher eine Art Wiedergutmachung für erduldete Lasten. Gerade der regionale Norden des Ruhrgebiets war in den letzten Jahren in besonderer Weise vom Strukturwandel betroffen und ist von sozialen Benachteiligungen und Desinvestitionen im Wohnungsbestand gekennzeichnet (Schräpler et al. 2020). Nach Jahrzehnten, in denen die angrenzenden Kommunen die Lasten der Industrialisierung getragen haben und die Anwohnenden mit einem oberirdischen Abwasserkanal leben mussten, erhalten sie nun Ausgleich durch Zugang zu attraktiven Freiräumen. Aus Sicht der Verteilungsgerechtigkeit ist es somit zu begrüßen, dass im ehemals stark belasteten Emscher-Raum eine neue attraktive Fluss- und Parklandschaft entsteht. Aus der Perspektive der Gentrifizierungsforschung ist mit räumlichen Investitionen in Marktgesellschaften immer ein potenzieller Aufwertungsprozess verbunden, unabhängig davon, ob die Initiative von privaten Investoren oder der öffentlichen Hand ausgeht. Aus dem angloamerikanischen Raum ist die Wirkungskette einer „grünen Gentrifizierung“ gut belegt. Die umliegenden Nachbarschaften werden für eine neue (Mittelschichts-)Bevölkerung attraktiv, Wohnungs- und Hauspreise steigen und in der Konkurrenz um den sich verteuernden Wohnraum verlieren die ansässigen ressourcenschwächeren Bevölkerungsgruppen mit der Folge von räumlicher Verdrängung. Aus dieser Perspektive ist stets zu fragen, für wen Projekte wie der Emscher-Umbau positive Effekte entfalten (Checker 2011; Immergluck/Balan 2018).

Weinberg am Phoenix-See in Dortmund-Hörde

Bodenpreis-, Wohnungsmarkt- und Sozialraumentwicklung im Emscher-Raum Sind Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse auch für den revitalisierten Emscher-Korridor festzustellen oder in Zukunft zu erwarten? Im deutschen Kontext wurde bislang nur wenig Forschung zu den immobilienwirtschaftlichen Effekten großer Infrastrukturmaßnahmen durchgeführt. Für das Emscher-Projekt konnte eine Studie von Bauer et al. (2015) keine statistisch signifikanten Veränderungen der Mietpreise entlang der Ränder des Gewässers nachweisen, wohl aber ließen sich werterhaltende Entwicklungen bei Eigentumswohnungen (bei sinkenden Preisniveaus in den Vergleichsregionen) aufzeigen. Allerdings bezog sich diese Untersuchung auf den Zeitraum von 2007 bis 2011, in dem der landschaftliche Umbau des Emscher-Systems noch wenig fortgeschritten war.

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Auch die für diesen Beitrag vorgenommenen Datenanalysen geben zunächst keine Hinweise auf Verdrängungsprozesse als Folge der landschaftlichen Aufwertung der Emscher1. Zwar lassen sich im Emscher-Korridor Kaufkraftzuwächse und Steigerungen der Mieten und Bodenpreise seit Mitte/Ende der 2000er Jahre aufzeigen. Diese bewegen sich aber im Rahmen des regionalen Durchschnitts. Auch auf Ebene der Anrainerkommunen lassen sich keine auffälligen Entwicklungen erkennen, die auf immobilienwirtschaftliche Aufwertungen und damit einhergehende sozial selektive Zuzüge oder Wegzüge schließen lassen. Vom Hinterhof zur neuen Adresse Eine Webrecherche zu den aktuellen Wohnbauvorhaben im Emscher-Korridor ergibt ein differenziertes Bild.2 Mit Abwasserfreiheit und Revitalisierung verliert der Fluss sein stigmatisiertes Image. Aus dem Wohnen mit dem Rücken zur Emscher entstehen nun neue Adressen, die immobilienwirtschaftlich interessant werden. Neue Wohnbauprojekte in den Emscher-Anliegerkommunen richten sich mit konventionellen Einfamilien- und Reihenhäusern bevorzugt an eigentumsbildende Familien (so zum Beispiel im Gelsenkirchener Gartenviertel oder Waldviertel, Herne-Horsthausen oder Castrop-Rauxel Ickern). Nur vereinzelt finden sich dagegen genossenschaftliche Wohnprojekte (wie in Herne-Baukau) oder anteilig öffentlich geförderte Wohnungsangebote (wie in Gelsenkirchen-Horst oder Bottrop Welheimer Mark), die sich auch an weniger einkommensstarke Bevölkerungsgruppen richten. In Diskussionsforen zeigt sich, dass vor Ort aufmerksam registriert wird, an wen sich die neuen Wohnbauprojekte der Anliegerkommunen richten. Vergleich von Strukturindikatoren für den Emscher-Korridor und das RVR-Gebiet Indikator

Emscher-Korridor

RVR-Gebiet

2012

2021

Veränderung in %

2012

2021

Veränderung in %

Bodenrichtwerte (€/m²)

181

241

33,1

208

278

33,7

Indikator

Emscher-Korridor

RVR-Gebiet

2007

2019

Veränderung in %

2007

2019

Veränderung in %

Wohnungsmiete (€/m²)

5,3

7,2

26,7

5,4

7,1

24,1

Indikator

Emscher-Korridor

Kaufkraft (€/EW)

RVR-Gebiet

2005

2017

Veränderung in %

2005

2017

Veränderung in %

17.581

21.053

19,8

18.581

21.761

17,1

Selektiv zeigt sich auch eine explizite Sprache der Aufwertung. Weitreichend dokumentiert ist dies rund um die Phoenix-See-Entwicklung in Dortmund, die bewusst auf eine kaufkräftige Nachfragegruppe abzielte (Frank 2018). Weitere Waterfront-Entwicklungen versuchen mit ähnlichen Nutzungskonzepten hier anzuschließen (so etwa Graf Bismarck Gelsenkirchen, „Freiheit Emscher“, Marina-Konzept in Essen) und wollen gezielt „Anreize für neue Wohnangebote in einem attraktiven, lebendigen Stadtraum“ schaffen (Freiheit Emscher, o.J., S. 23). Hier steht der Zuzug neuer (Mittelschichts-)Bevölkerung erkennbar im Vordergrund. Die hier präsentierten Befunde vermitteln ein insgesamt ambivalentes Bild. Prozesse sozioökonomischer Aufwertung und sozialer Verdrängung sind im Emscher-Korridor mit „harten Daten“ bislang nicht nachweisbar. Jedoch deuten sich in der Analyse immobilienwirtschaftlicher Vermarktungsstrategien durchaus sozial-selektive Entwicklungen an, wenn nur einkommensstärkere Bevölkerungsteile als Zielgruppen adressiert werden. Längerfristig kann dies Gen­trifizierungsrisiken entfalten oder gar verstärken. Die in solchen Planungen erkennbare Fokussierung auf Haushalte der Mittelschicht folgt dem kommunalen Wunsch, durch Angebote an attraktiven Lagen einkommensstarke Haushalte in der Stadt halten oder neu gewinnen zu können. Zudem entspricht dies der Logik etablierter Sozialraumpolitiken („soziale Mischung“), welche die Konzentration sozialer Benachteiligung in bestimmten Stadträumen durch den Zuzug statushöherer Bevölkerung verringern und auf diese Weise zu einer „Stabilisierung“ der betreffenden Räume beitragen wollen.

133

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Prof. Dr.-Ing. Stefan Siedentop ist wissenschaftlicher Direktor des ILS (Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung) und Professor an der Fakultät für Raumplanung der Techischen Universität Dortmund.

Dr. Sabine Weck ist stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des ILS und leitet die Forschungsgruppe „Sozialraum Stadt“.

Christian Gerten hat seinen Masterabschluss im Studium der Raumplanung an der TU Dortmund gemacht und ist Mitarbeiter beim ILS.

Ein wichtiges Anliegen muss e s  s e i n , die Vorteile dieser Entwicklu n g e n allen Menschen, unabhä n g i g von Einkommen und soziale r L a g e , zugänglich zu  m a c h e n .

Ein moderates – nicht flächenhaft, aber lokal-punktuell ausgebildetes – Verdrängungspotenzial des Emscher-Umbaus ist insofern für die Zukunft nicht auszuschließen. Die gängige Argumentation, dass es sich bei Neubauvorhaben im Ruhrgebiet nicht um Gentrifizierung handeln könne, weil entsprechende Projekte zumeist auf neu erschlossenen Flächen realisiert werden und niemand tatsächlich verdrängt wird, kann diesbezüglich nur bedingt überzeugen. Aus einschlägigen Forschungen sind Ausstrahlungseffekte auf angrenzende Quartiere hinlänglich bekannt (new-build-gentrification). Neben Boden- und Mietpreissteigerungen handelt es sich dabei auch um subtilere – symbolisch und emotional vermittelte – Wirkungen, wie etwa Gefühle der ansässigen Bewohnerinnen und Bewohner, „nicht mehr dazuzugehören“ und dass sich Entwicklungen „an andere richten“. Auf dieser diskursiven/kommunikativen Ebene bestehen schon heute Befürchtungen und Ängste der ansässigen Bewohnerinnen und Bewohner, die politisch ernst genommen werden müssen. Wichtig ist daher, die städtebaulichen und wohnungswirtschaftlichen Entwicklungen mit geeigneten Sozialraumpolitiken und Kommunikationsstrategien zu flankieren. Von zentraler Bedeutung ist hier die Kopplung der Wohnraum- und Städtebauförderung mit den lokalen baulichen Entwicklungsmaßnahmen. Sinnvoll erscheint ferner ein präventives Sozialraummonitoring, das ein frühzeitiges politisches Eingreifen bei Erkennung sozial unausgewogener Entwicklungen ermöglicht. Bei zunehmendem Wachstumsdruck durch die bereits realisierten und geplanten Impulsprojekte kann der gewünschten Stabilisierung der Quartiers- und Nachbarschaftsentwicklung eine unerwünschte direkte oder indirekte Verdrängung von einkommensschwächeren Gruppen folgen. Zu guter Letzt: Die positiven Langfristeffekte des Emscher-Umbaus sind unbestritten. Mit der Schaffung eines blau-grünen Bandes quer durch das Ruhrgebiet wird eine ganze Region aufgewertet. Das Projekt lässt sich also insofern als Beitrag zur Umweltgerechtigkeit verstehen, da eine industriell verwundete Landschaft partielle Heilung findet. In städtebaulicher Hinsicht bietet die „grüne Emscher“ gewaltige Chancen, deren Schöpfung in Gestalt von zahlreichen neuen Quartiersprojekten schon im Gange ist. Ein wichtiges Anliegen muss es sein, die Vorteile dieser Entwicklungen allen Menschen, unabhängig von Einkommen und sozialer Lage, zugänglich zu machen. Mit einem vergleichsweise entspannten Boden- und Immobilienmarkt bestehen für die Kommunen des Ruhrgebiets gute Chancen, die Paradoxie von landschaftlicher Aufwertung und Beiträgen zur ökologischen Nachhaltigkeit auf der einen Seite sowie sozialer Ungerechtigkeit auf der anderen Seite aufzulösen, die bei ähnlichen Projekten in den Metropolen des Westens anzutreffen ist. Das Emscher-Vorhaben kann in Zukunft zeigen, dass der Makel „selektiver Nachhaltigkeit“ (Checker 2011, S. 221) in der urbanen Freiraumentwicklung vermeidbar ist. 1 Ausgewertet wurden Daten zu Bodenrichtwerten (Boris NRW), zu Angebotsmieten (kalt) für Wohnungen (Wohnungsmiete: RWI, ImmobilienScout24 2020) sowie zur Kaufkraft je Einwohner (RWI, microm 2020) im 3-km-Korridor der Emscher. 2 Auswertung von ImmobilienScout24-Angeboten, Bebauungsplänen und weiteren Dokumenten zu Neubauvorhaben im EmscherKorridor, unterstützt von Lisa Warnecke und Lorenz Gottwalles.

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| David Lehmkuhl, Jörg-Peter Schräpler

Leben   a n der n e u e n Em s c h e r Sozialer Wandel in einer urbanen Flusslandschaft

I 

m Ruhrgebiet und hier insbesondere in der Emscher-Region haben seit den 1960er Jahren umfassende strukturelle Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft stattgefunden. Die zahlreichen ökono­ mischen, sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen zeigen in ihrer räumlichen Heterogenität ein bis heute nachwirkendes segregationsspezifisches Entwicklungsmuster. Der vorliegende Beitrag basiert auf Ergebnissen aus den ZEFIR-Studien Leben an der neuen Emscher (Schräpler et al. 2020) und Wege zur Metropole Ruhr (Schräpler et al. 2017). Er nimmt die sozialstrukturelle kleinräumige Entwicklung in den letzten 50 Jahren in der Emscher-Region1 in den Blick. Als Grundlage dienen dabei vor allem Zensusdaten aus den Jahren 1961, 1970, 1987 und 2011, die vom statistischen Landesamtes NRW (IT.NRW) auf kleinräumiger Ebene für NRW zur Verfügung gestellt wurden. Neben einer Deskription der Veränderungen werden Entwicklungstypen gebildet. Strukturwandel und Segregation in der Emscher-Region Für die Emscher-Region lässt sich der sozialstrukturelle Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gut an den Erwerbstätigenanteilen in den jeweiligen Wirtschaftssektoren verdeutlichen. Während Abbildung 1 den enormen Rückgang der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe von 69,3 Prozent im Jahr 1961 auf 22,1 Prozent im Jahr 2011 zeigt, lässt sich in Abbildung 2 der gleichzeitige Anstieg der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor von 40,9 Prozent im Jahr 1961 auf 76,1 Prozent im Jahr 2011 entnehmen (Schräpler et al. 2020: 20). Im Vergleich zu NRW ist die Emscher-Region insgesamt von den Änderungen stärker betroffen, allerdings lässt sich auch hier zu allen Zeitpunkten eine relativ starke räumliche Heterogenität erkennen. Einige Bezirke entlang

Abb. 1: Erwerbstätige im produzierenden Gewerbe in %

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Abb. 2: Erwerbstätigenanteil im tertiären Sektor in %

der Emscher weisen heute noch hohe Erwerbstätigenanteilen im produzierenden Gewerbe bei gleichzeitig niedrigen Anteilen im Dienstleistungsbereich auf. Die hohen Verluste im industriellen Sektor konnten allerdings nicht vollständig durch den Dienstleistungssektor kompensiert werden. Die Last des Niedergangs der Montanindustrie sowie des produzierenden Gewerbes tragen in der Emscher-Region vor allem die ehemaligen Arbeiterstadtteile, sie stehen bis heute vor besonderen Herausforderungen. In den großen Städten des Ruhrgebiets im Duisburger Norden, im Gelsenkirchener Süden, im Essener sowie im Dortmunder Norden finden sich viele Bezirke mit konstant hohen und im Vergleich zu NRW überdurchschnittlichen Erwerbslosen- bzw. Arbeitslosenquoten – diese Bezirke, die im Jahr 2011 teils Arbeitslosenquoten von bis zu 21,3 Prozent aufweisen – liegen mit deutlicher Häufung im Kerngebiet der Emscher-Region. Es sind größtenteils jene Bezirke, welche vormals durch hohe Arbeiteranteile geprägt sind. Der soziale Wandel spiegelt sich nicht nur in der sozialen Dimension, sondern auch in der Veränderung der demografischen und ethnischen Segregation. Im Zuge des demografischen Wandels ist der Anteil älterer Personen innerhalb der Bezirke des Ruhrgebiets und der Emscher-Region kontinuierlich gestiegen. So liegt der Anteil der 65-Jährigen und Älteren in der Emscher-Region im Jahr 1961 noch bei 9,3 Prozent, steigt in den Jahren 1970 und 1987 auf 12,7 Prozent bzw. 15,5 Prozent an und liegt im Jahr 2011 bei deutlich erhöhten 20,9 Prozent und somit auch leicht über dem Anteil in NRW insgesamt (19,9 Prozent).

Abb. 3 (obere Reihe): Arbeiteranteil 1961 in %

Abb. 4 (untere Reihe): Arbeitslosenquote 2011 in %

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Die Haushaltgröße kann als Indikator für sich abzeichnende gesellschaftliche Trends wie die Individualisierung sowie den Wandel von Familien- und Lebensformen hinzugezogen werden (Schräpler et al. 2017: 84ff). Ein stetiger Rückgang der Haushalte mit vier und mehr Personen über die Jahre hinweg ist gekoppelt an eine deutliche Zunahme von Einpersonenhaushalten, die sich besonders für die Emscher-Region zeigt. Im Jahr 1961 liegt der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten noch bei 15,8 Prozent, er steigt bis zum Jahr 2011 aber auf 39,1 Prozent. Damit liegt er über dem Anteil innerhalb der Bezirke des Ruhrgebiets (37,7 Prozent) und deutlich über denen NRWs gesamt (30,6 Prozent). Der Anteil der Haushalte mit vier oder mehr Personen ist im Zeitverlauf dagegen kontinuierlich rückläufig und liegt 2011 bei 12,5 Prozent (Schräpler et al. 2020: 28ff). Die Entwicklung der ethnischen Segregation lässt sich auf Basis des Ausländer-und Migrantenanteils nachzeichnen. Mit durchschnittlich 10,2 Prozent im Jahr 2011 ist in der Emscher-Region der Ausländeranteil um ein Vielfaches höher als noch im Jahr 1970 (2,9 Prozent und liegt über dem Durchschnitt von NRW (6,9 Prozent und des Ruhrgebiets (9,1 Prozent Der Migrantenanteil beträgt im Jahr 2011 24,9 Prozent (NRW 20,3 Prozent Der höhere Wert in der Emscher-Region ist u. a. Folge der historischen Entwicklung im Zuge der vermehrten Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu Zeiten der ausgeprägten Kohle- und Stahlindustrie (vgl. z. B. Bogumil/Gerber 2014: 221). Um die mehrdimensionale Entwicklung der Bezirke zu erfassen, wurde in der Studie Wege zur Metropole Ruhr für ganz NRW eine Typologie der betrachteten kleinräumigen Bezirke durchgeführt. Mit der Konstruktion spezifischer Entwicklungs- bzw. Veränderungstypen, welche eine Klassifizierung der sozialstrukturellen Entwicklung der Bezirke über die Jahre hinweg in verschiedene Cluster erlaubt, wird der Frage nach divergierender oder konvergierender Entwicklung der Bezirke im Zeitverlauf nachgegangen. Insgesamt konnten mit diesem Verfahren für ganz NRW neun Cluster identifiziert werden (vgl. Schräpler et al. 2017). Abbildung 8 zeigt die kleinräumige Verteilung für das Ruhrgebiet und die Emscher-Region2. In der Emscher-Region finden sich nur die Cluster 5, 6 und 7. Cluster 5 kann als sozialökonomisch konsolidierter Cluster mit einer niedrigen Arbeitslosenquote, einem eher unterdurchschnittlichen Migrantenanteil und -zuwachs sowie einem rückläufigen Jugendquotient bezeichnet werden. Dieser Cluster beschreibt vor allem die Entwicklung an den Außengrenzen und umrahmt als Speckgürtel die Emscher-Region. Cluster 6 und 7 charakterisieren stark sozial benachteiligte Bezirke. Die Arbeitslosenquote und der Migrantenanteil liegen überdurchschnittlich hoch. Während Cluster 6 stark schrumpfende Bezirke mit rückläufiger Einwohnerdichte und Jugendquotient beschreibt, befinden sich in Cluster 7 Bezirke mit einem Bevölkerungszuwachs, dem stärksten Zuwachs beim Jugendquotienten

Abb. 5 (obere Reihe): Anteil an Einpersonenhaushalten in %

Abb. 6 (untere Reihe): Anteil an Vier- und Mehrpersonenhaushalten in %

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Abb. 7 (obere Reihe): Ausländer-/ Migran­tenanteil in %

Abb. 8 (untere Reihe): Entwicklungscluster

Prof. Dr. Jörg Peter Schräpler ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialwissenschaftliche Datenanalyse an der Fakultät für Sozialwissenschaften der RuhrUniversität Bochum.

David Lehmkuhl ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Lehrstuhl tätig.

und Migranten bzw. Ausländeranteils (vgl. Schräpler et al. 2017). Cluster 6 und 7 sind spezifisch für die zentrale Emscher-Region – vor allem die nördlichen Bezirke der großen Ruhrgebietsstädte im Duisburger, Essener und Dortmunder Norden sowie Gelsenkirchener Süden, die sich teils direkt entlang der Emscher befinden, sind eher durch benachteiligte Strukturen mit einer hohen Arbeitslosigkeit, einer ungünstigen Altersstruktur, vielen Alleinstehenden und einem hohen Ausländerbzw. Migrantenanteil gekennzeichnet. Fazit und Ausblick Die Analyse der kleinräumigen Zensusdaten zeigen die seit den 1960er Jahren stattfindenden sozialstrukturellen Transformationsprozesse der Emscher-Region und bieten einen aktuellen Blick auf Dimensionen sozialer, demografischer und ethnischer Segregation. Es lassen sich erhebliche Disparitäten zwischen kleinräumigen Bezirken identifizieren. Die Überlagerung der Segregationsdimensionen zeigt über die Jahre hinweg ein für die Emscher-Region typisches räumliches Verteilungs- und Entwicklungsmuster in der Konsequenz des tief greifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umschwungs. Sozialräumliche Disparitäten zeigen sich zwischen den Bezirken im unmittelbaren Umfeld der Emscher im Norden der großen Ruhrgebietsstädte und im südlichen Gelsenkirchen sowie in Herne einerseits und den Bezirken, die sich durch wohlhabendere Strukturen charakterisierend eher an den Außenrändern befinden, andererseits. Viele ehemalige „Arbeiterquartiere“ entwickelten sich zu benachteiligten Stadtquartieren mit hoher Arbeitslosigkeit, geprägt von Armut, migrantischen und kinderreichen Familien. Die Mehrzahl der Kinder wächst eher in benachteiligten Bezirken auf: Im Ruhrgebiet sind etwa 59 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahre den sozioökonomisch benachteiligten Gebieten (Clustern 6 und 7) zugehörig, in der Emscher-Region wachsen sogar 76 Prozent aller Minderjährigen dort auf. Die Ergebnisse in den zitierten Studien zeigen, dass diese Dispari­ täten nicht folgenlos bleiben. Insbesondere Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen verteilen sich ebenfalls ungleich über den städtischen Raum der Emscher-Region (vgl. Schräpler et al. 2020). Eine zukünftige Herausforderung wird es sein, Potenziale im Sozialraum evidenzbasiert für Partizipation, Arbeit, Wohnen und Bildung auszuschöpfen. 1 Ausgangspunkt der räumlichen Untersuchungseinheit stellt das rechtliche Einzugsgebiet der Emschergenossenschaft dar. Aufgrund der Datenvielfalt und räumlicher Gebietsänderungen kommt es teils zu unterschiedlichen Raumabgrenzungen, in einigen Fällen sind die analysierten Raumeinheiten und das Einzugsgebiet nur annäherungsweise deckungsgleich. Um die Vergleichbarkeit über die Jahre hinweg zu gewährleisten, werden stabile zeitinvariante Raumeinheiten konstruiert, im Folgenden Bezirke genannt. ²Cluster 1 bis 4 beschreiben vor allem die Heterogenität im ländlichen Raum NRWs mit einer eher unterdurchschnittliche Einwohnerdichte, einem leicht überdurchschnittlichen Jugendquotienten und einem unterdurchschnittlichen Migranten- und Arbeitslosenanteil. Die restlichen fünf Cluster beziehen sich in erster Linie auf Städte bzw. Ballungsgebiete, wobei die Cluster 5, 6 und 7 mehrheitlich im Ruhrgebiet und dessen zentraler Emscher-Region liegen – in den Außenbezirken des Ruhrgebiets sind aber auch einige Bezirke mit ländlicher Prägung zu finden (Cluster 2, 3 und 4) (Schräpler et al. 2017).

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Bachpaten am Ostbach in Herne

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

| Nadine Gerner, Sebastian Birk

Revitalisi e r u n g von Süßw a s s e r Ökosys t e m e n   im EU-Pro j e k t   MER L I N

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ine sich weltweit verschärfende Umweltkrise wird zunehmend bedrohlich für Wohlstand und Frieden unserer Gesellschaft – auch in Europa. Der vielfach schlechte Zustand unserer Flüsse, Auen und Moore steht exemplarisch für die kollateralen Umweltschäden von menschlichem Wirt­ schaften. Weltweit sind 85 Prozent der Feuchtgebiete als wichtige Lebensräume ver­lorengegangen und damit ein Großteil der typischen Tier- und Pflanzenarten (WWF 2020). In Deutschland sind 90 Prozent der Gewässer in keinem guten Zustand (UBA 2017) und zwei Drittel der Flussauen stehen bei Hochwasser nicht als Überschwemmungsflächen zur Verfügung (BfN 2021). Häufigere und intensivere Starkregen- und Hochwasserereignisse machen deutlich, wie der Klimawandel die Folgen von Versiegelung und Gewässerverbauung verstärkt. Für einen besseren Hochwasserschutz brauchen Gewässer und ihre Auen mehr Raum. Die Umweltschäden sind also nicht nur bedrohlich für die biologische Vielfalt, sondern ganz konkret für Leben und Eigentum. Wiederherstellung von Ökosystemen zur Erreichung des „Grünen Deal“ der EU Das Europäische Innovationsprojekt MERLIN arbeitet an Lösungen für diese Probleme: Wie kann ein natürlicher Hochwasserschutz verbessert werden? Wie kann der Lebensraum für Tiere und Pflanzen wiederhergestellt werden? Werden Flüsse, Auen und Moore renaturiert, können sie diese und weitere „Funktionen“ wieder erbringen. Durch den Schutz und die Wiedervernässung von Feuchtgebieten und Mooren wird zudem Kohlendioxid im Boden gespeichert. Ökosysteme bieten darüber hinaus Naherholungsräume, die sowohl in dicht besiedelten wie auch in landwirtschaftlich geprägten Regionen von den Menschen wertgeschätzt werden. MERLIN nimmt all diese Nutzen von Renaturierung in den Blick. Die vielfältigen Leistungen von Süßwasser-Ökosystemen, aber auch die Ressource Wasser an sich sind unentbehrlich für zahlreiche Gesellschafts- und Wirtschaftssektoren. Daher muss die Renaturierung von Süßwasser-Ökosystemen zentral sein – allein die ganzheitliche Umsetzung ist eine Herkulesaufgabe, welche einen Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft erfordert. Mit dem „Grünen Deal“ hat sich die EU dieses Ziel gesetzt – nur durch eine konsequente Entscheidung für naturbasierte Lösungen können Klima- und Artenschutz sowie eine nachhaltige Sozioökonomie gefördert werden. MERLIN bringt umfangreiches Restaurierungswissen aus 17 Regio­nen in Europa zusammen, in denen derzeit Bäche, Flüsse, Auen, Moore und Feuchtgebiete in einen naturnahen Zustand zurückgeführt werden. Diese 17 Fall­­studien werden in MERLIN mittels Indikatoren analysiert, um soziale, ökono­mische und

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unten und rechts: Revitalisierte Boye in Bottrop

ökologische Erfolgsfaktoren zu identifizieren und damit bewährte Praktiken und Prozesse für weitere Regionen einsetzbar zu machen. Die bestehenden Revitalisierungsprojekte werden mit den Projektmitteln der EU erweitert und vernetzt und zu europaweiten Vorbildern ausgebaut. MERLIN sucht nach neuen Wegen für die Wiederherstellung der Süßwasser-Ökosysteme. Generell erfordert die großflächige und flächendeckende Umsetzung von Renaturierungen den Beitrag vieler Akteure. Verschiedene Branchen können von Revitalisierungsmaßnahmen profitieren, zum Beispiel Landwirtschaft, Trinkwassergewinnung und Versicherungen. MERLIN identifiziert innovative, systemische und wirtschaftlich tragfähige Lösungen in den Bereichen Technologie, Politik, Governance, Finanzen und Kommunikation und stößt somit transformative Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft an. MERLIN-Aktivitäten in der Emscher-Region In Deutschland unterstützt MERLIN den bereits laufenden Emscher-Umbau mit zusätzlichen Revitalisierungs- und Umweltbildungsmaßnahmen. Nachdem der ehemalige Schmutzwasserlauf bereits mit großem Aufwand gereinigt und naturnah umgestaltet wurde, trägt MERLIN nun zur weiteren Aufwertung des Gewässerumfeldes bei. Ein Schwerpunkt liegt auf der Anlage und nachhaltigen Nutzung von Blühwiesen im Umfeld von Gewässern. Dies erfordert eine effiziente und wirtschaftliche Bewirtschaftung und Nutzung des Mahdgutes. Im Rahmen von MERLIN wird die Einbindung von Interessensgruppen aus anderen relevanten Bereichen bei der Instandhaltung, Bewirtschaftung und Pflege der revitalisierten

Die vielfältigen Leistu n g e n von Süßwasser-Ökosyst e m e n , aber auch die Ressource   W a s s e r an sich sind unentbehr l i c h für zahlreiche Gesellsch a f t s und Wirtschaftssekto r e n .

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Dr. Sebastian Birk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Aquatische Ökologie der Universität Duisburg-Essen und koordiniert das Gesamtprojekt MERLIN mit Prof. Dr. Daniel Hering.

Emschergewässer und Auenflächen erprobt. Ferner werden Programme für die Umweltbildung und Citizen Science (Bürgerbeteiligung an wissenschaftlicher Umweltbeobachtung) durchgeführt. Mit MERLIN werden gezielt Synergien zwischen Wasserwirtschaft und Naturschutz gesucht und im Planungs- und Umsetzungsprozess berücksichtigt. Mittels einer Erfolgskontrolle wird MERLIN den Umsetzungsprozess und die Wirkung dieser Maßnahmen bewerten. Die Emscher-Fallstudie hat im Rahmen von MERLIN das Programm „Revitalisierung der Leipziger Auen“ als Tandempartner und wird hierfür im intensiven Austausch mit dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig sowie dem Sächsische Umweltministerium stehen.

Dr. Nadine Gerner leitet bei Emschergenossenschaft und Lippeverband die Gruppe „Gewässer und Güte“. Mit Dr. Mario Sommerhäuser bearbeitet sie die Emscher-Fallstudien im EU-Projekt MERLIN.

Projektinformationen Das von der EU im Rahmen des „Grünen Deals“ mit 21 Millionen Euro geförderte Projekt MERLIN läuft von Oktober 2021 bis September 2025 und wird von Prof. Dr. Daniel Hering und Dr. Sebastian Birk koordiniert. Beteiligt sind 44 Partner aus ganz Europa, darunter Universitäten, Forschungsinstitute, Naturschutzorganisationen, Wasserverbände sowie Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Kommunen. Die Hälfte der Projektmittel fließt in konkrete Revitalisierungsvorhaben in den 17 Fallstudien des Projekts. MERLIN – Mainstreaming Ecological Restoration of freshwaterrela­ted ecosystems in a Landscape context: INnovation, upscaling and transformation (https://project-merlin.eu/).

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Gr ü n e Transforma t i o n s prozesse i n  d e r Emscher-R e g i o n

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Dach- und Fassaden­begrünung der Gemeinschaftsmüllverbrennungsanlage Niederrhein, Oberhausen

| Stephan Treuke

Ansätze einer wassersensiblen und klimagerechten Stadt- und Raumentwicklung

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eit der Industrialisierung vollziehen sich im Siedlungsraum zwischen Emscher und Lippe verschiedene Phasen des technologischen und strukturellen Wandels. Auch heute sieht sich die Emscher-Region vor eine Vielzahl unterschiedlicher Herausforderungen gestellt, verbunden insbesondere mit dem anhaltenden wirtschaftlichen Strukturwandel, dem demografischen Wandel sowie dem Mobilitäts- und Klimawandel. Letzterer macht sich vorwiegend in den verdichteten Stadtgebieten durch Starkregenereignisse, aber auch andauernde Hitzeperioden immer deutlicher bemerkbar. Aufgrund des hohen Grades der Versieglung städtischer Flächen führen diese Starkregenereignisse vielerorts zu Überschwemmungen und Sturzfluten, wie die intensiven Regenfälle im Juli 2021 in NRW zeigten, welche erhebliche materielle und finanzielle Schäden verursachten. Gleichermaßen gefährdet das Aufheizen der stark verdichteten Innenstadträume die Gesundheit der Bevölkerung vor Ort. Sowohl aus umweltpolitischer Sicht als auch aus gesamtgesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht stellen die Klimawandelfolgen in der Emscher-Lippe-Region somit eine der zentralen Herausforderung der kommenden Jahrzehnte dar. Vor diesem Hintergrund erhalten die Entwicklung und Umsetzung regionaler Konzepte von umweltgerechten, nachhaltigen und lebenswerten Städten eine zunehmende Bedeutung auf stadt- und raumplanerischer Ebene. Um dieser Herausforderung zu begegnen, wurde 2014 von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV), den Emscher-Partnerkommunen und dem Land Nordrhein-Westfalen die Zukunftsinitiative „Klima.Werk“ gegründet. Hierbei sollen wasserwirtschaftliche Themen mit den Handlungsfeldern der Stadt- und Freiraumplanung verknüpft werden, um die Klimaresilienz zu stärken, die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu steigern und die Region zukunftsfähig zu gestalten. Das Prinzip der Schwammstadt zielt auf die Verbesserung des lokalen Mikroklimas sowie die Stärkung der blau-grünen Infrastruktur ab und bildet das Leitprinzip für die Umsetzung der Vielzahl von Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahmen. Dabei soll insbesondere das zu schnelle Abfließen von Wasser, welches in den stark versiegelten Städten als eine Hauptursache für Überschwemmungen angesehen wird, verhindert werden. Rückhalteflächen und eine stärkere Begrünung der Flächen im Bestand tragen dafür Sorge, dass das Wasser unter der Oberfläche abgespeichert und nicht direkt in das Kanalnetz eingespeist wird.

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Der politische Auftrag zum klimafesten Umbau der Städte der Emscher-Region wurde auf der Ruhrkonferenz 2019 im Rahmen des Leitthemas „Grüne Infrastruktur Metropolregion Ruhr“ vom Umweltministerium NRW erneuert. Das aus dieser Konferenz hervorgegangene Projekt „Klimaresiliente Region mit Internationaler Strahlkraft“, welches direkt bei der Zukunftsinitiative angesiedelt ist, wird vom Umweltministerium NRW mit 250 Millionen Euro gefördert. Das Ziel ist ambitioniert: Bis 2040 sollen im gesamten Gebiet des Regionalver­ bands Ruhr (RVR) 25 Prozent der befestigten Flächen abgekoppelt und die Ver­dunstungsrate soll um 10 Prozentpunkte gesteigert werden. Die Dach- und Fassadenbegrünung der Gemeinschaftsmüllverbrennungsanlage Niederrhein in Oberhausen ist ein Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung einer Klimawandel­ folgenanpassungsmaßnahme im Rahmen dieses Großprojekts. Transformation auch in der Methodik: neue Formen regionaler Governance Der Umbau der postindustriellen Landschaft zur klimaresilienten Region setzt – neben der Umsetzung verschiedener Einzelprojekte – eine umfassende Transformation auf der Arbeits- und Kommunikationsebene voraus. Ebenso wie beim integrierten Gewässerschutz macht der Klimawandel nicht an Verwaltungsgrenzen Halt, sondern erfordert eine gesamtheitliche und interkommunale Planung für das gesamte Fluss- und Städtegebiet. Die Planung und Durchsetzung der Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahmen erfordert darüber hinaus das frühzeitige Einbeziehen der fachlichen Expertise der kommunalen und verbandlichen Wasserwirtschaft – bereits vor den ersten Entwürfen – in die Planungsprozesse. In diesem Kontext fungiert die Serviceorganisation der Zukunftsinitiative (ZI) „Klima.Werk“ als zentrale Koordinierungsstelle bei EGLV, mit Hinblick auf die operative Umsetzung des Projekts „Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft“. Die jeweiligen Ansprechpartner*innen in den Kommunen, die ZI-Stadtkoordinator*innen, formulieren die Interessen und Anforderungen der Kommunen und leiten diese an die ZI-Serviceorganisation weiter. Diese verständigt sich auf der strategischen und normativen Ebene im Gegenstromprinzip mit dem Vorstand von EGLV über die Strategien und deren Umsetzung. Dabei bildet die Rückkopplung mit den Dezernent*innen der Kommunen und den ZI-Stadtkoordinator*innen einen wesentlichen Bestandteil. Für die Umsetzung der von der ZI initiierten Klimafolgenanpassungsmaßnahmen in den Städten ist eine Vielzahl von überzeugten Projektbeteiligten und das Commitment auf ein gemeinsames Zielbild unverzichtbar. Eine der größten Herausforderungen der ZI, insbesondere vor dem Hintergrund der komplexen Verwaltungsarchitektur und der polyzentrischen Stadtstruktur des EmscherLippe-Gebiets, besteht im Aufbau von geeigneten Organisationsstrukturen und Prozessabläufen, um eine ungehinderte Projektabwicklung in enger Abstimmung mit den Kommunen, Wasserverbänden und den weiteren beteiligten Stakeholdern sicherzustellen. Relevant ist dies insbesondere vor dem Hintergrund der unterschiedlichen zugrundeliegenden spezifischen Systemlogiken der Kommunalverwaltungen und der ZI als Wissensorganisation. Letztere basiert auf Vernetzung und dialogorientierter Zusammenarbeit sowie einer spezifischen ZI-Kultur, welche sowohl explizite als auch implizite Standards und Spielregeln umfasst. Vernetzung auf mehreren Ebenen wird eine besondere Bedeutung für die moderne Vergesellschaftung zugesprochen und ist notwendig, um den Herausforderungen einer globalen Wirtschaft gewachsenen zu sein. Das gemeinsame Ziel – die Schaffung einer klimaresilienten Region – wird demnach auf verschiedenen Ebenen und Transformationspfaden verfolgt: einerseits die Planung und operative Umsetzung von Projekten; anderseits die methodisch-prozesshafte Vernetzung, Kooperation und integrale Zusammenarbeit sowie die Verstetigung und der Transfer von Wissensbeständen und Ergebnissen in Politik, Praxis und Wissenschaft. Neue Perspektiven für die Emscher-Region In ihrem zweijährigen Bestehen hat die „Klimaresiliente Region mit Internationaler Strahlkraft“ als eines der maßgeblichen Ziele die Voraussetzungen für ein fachbereichs- und städteübergreifendes integrales Handeln geschaffen. Bereits 60 Projekte konnten im Rahmen intensiver Zusammenarbeit umgesetzt werden. Damit wurde der Grundstein gelegt, die Wasserwirtschaft zum Motor der wassersensiblen Stadt- und Raumentwicklung weiterzuentwickeln.

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Baumpflanzungsaktion, Roter Platz in Bottop

Dr. Stephan Treuke ist Mitarbeiter der Zukunftsinitiative „Klima.Werk“ bei Emschergenossenschaft und Lippeverband und koordiniert die Projekte Emscherland und „Faszination. Transformation“. Er ist Dozent im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum.

Das Prinzip der Schwamms t a d t zielt auf die Verbesse r u n g des lokalen Mikrokl i m a s sowie die Stärkung   d e r blau-grünen Infrastruk t u r   a b .

Emscher-Umbau und grüne Infrastruktur in der Emscher-Lippe-Region verweisen auf den internationalen Vorbildcharakter der bereits umgesetzten Aktivitäten, was durch die Teilnahme an der renommierten „Stormwater“-Konferenz in Polen veranschaulicht wird. Vom 21. bis 23. Juni 2021 wurde auf der größten polnischen Fachkonferenz zum Thema Regenwasser über die Aspekte Retention, Klimawandel und grün-blaue Infrastruktur diskutiert. EGLV und RVR berichteten im Rahmen eines gemeinsamen Beitrags über die grün-blaue Infrastruktur des Ruhrgebiets. Das Zukunftsthema der wassersensiblen und klimagerechten Stadtund Raumentwicklung wird auch auf dem vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW geförderten Emscher-Kongress im März 2022 im Vordergrund stehen: Stadtplanung und Klimawandelfolgenanpassung sollen hier gemeinsam gedacht werden, wobei der Emscher-Umbau als verbindendes Element und gleichzeitig als window of opportunity für die nachhaltige Transformation der Region auf verschiedenen Handlungsebenen wie Klima, Mobilität, Digitalisierung und Wohnen dient.

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Neue Emscher-Mündung in Voerde/Dinslaken

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Neue Emscher-Mündung in Voerde/Dinslaken

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Borbecker Mühlenbach: Quellgebiet in Essen-Bredeney

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

Borbecker Mühlenbach: Essen-Holsterhausen am Ende des Mühlenbachtals

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Borbecker Mühlenbach: Bau des Regenüberlaufbeckens an der Stadtgrenze zwischen Essen-Frohnhausen und Mühlheim, Frohnhauser Weg

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Borbecker Mühlenbach: Essen-Bochold, Hochwasserrückhaltebecken Bergmühle

Borbecker Mühlenbach: Essen-Borbeck, Erdwegstraße

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

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Strategien zu einer neuen Stadt- und Flusslandschaft

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Borbecker Mühlenbach: Essen-Borbeck, Bottroper Straße, Mündung des Borbecker Mühlenbachs in die Berne

Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im

Emsc h e r -

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

Hellbach, Regen-Rückhaltenbecken-Gullbad, Recklinghausen-Süd

R a u m

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| Delia Bösch

Von der Meid e z o n e zur Open-Air-Ga l e r i e Tour i s m u s im Ruhrg e b i e t

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er erste Eindruck von Essen ist Glückssache“, hieß es 1958 in dem Reiseführer Kleiner Bummel durch große Städte. Komme „ man aus Richtung Norden, dann entspreche das Ruhrgebiet genau den Vorstellungen, die man sich vom Kohlenpott gemacht habe: „Der Horizont ist mit Schornsteinen gespickt, von denen sich jeder darum zu bemühen scheint, mehr Qualm in die Luft zu blasen als alle anderen.“ Wenn man aber von Süden nach Essen komme, erlebe man als Fremder eine Überraschung. Das Tal der Ruhr mit dem Baldeneysee zwischen den bewaldeten Höhen sei von zauberhafter Schönheit, gesäumt mit Wanderwegen rechts und links des Flusses. Sehenswert seien die Werdener Abteikirche, das Schloss Hugenpoet und das Münster mit dem Domschatz in der Stadtmitte. In den südlichen Vierteln das Museum Folkwang, die Villa Hügel und die Gruga am Rande der Industriemetropole, wo sich Einheimische wie Gäste erholten. Und deshalb solle man wohl wissen, dass das Industriegebiet gar nicht an der Ruhr, sondern viel weiter nördlich an der Emscher und an der Lippe liege. Der Leser verstand: Den Norden solltest du meiden. Transformation einer Industrieregion Mehr als ein halbes Jahrhundert und einen tiefgreifenden Strukturwandel später hat sich der Blickwinkel um 180 Grad geweitet: Die Schwerindustrie in der Emscherzone des Reviers existiert nicht mehr und aus verwilderten Orten in der einstigen Meidezone sind „Points of Interest“ geworden. Mit dem Industriekomplex Zeche Zollverein im Essener Norden bekam die Stadt eine internationale Sehenswürdigkeit: 2001 beförderte die UNESCO 'die einst größte Steinkohlenzeche der Welt in den Rang eines Weltkulturerbes. Inzwischen hat es das Industriedenkmal bis in den Kult-Bestseller 1000 Places To See Before You Die gebracht, der als „Lebensliste für Weltreisende“ für sich beansprucht, die schönsten Reiseziele und Urlaubsideen der Welt zu versammeln. Und die Emscher? Das einstige Bächlein, das im Zuge der Industri­ alisierung zu einem oberirdischen Abwasserkanal mit einer toxisch stinkenden braunen Brühe in kilometerlangen Betonrinnen mutierte, ist heute in ein revitalisiertes Gewässer rückgebaut. Entlang der umgestalteten und wieder ergrünten Ufer führt mit dem Emscher Park Radweg ein gut frequentierter Rad- und Wanderweg. Zugleich lockt an den Ufern eine öffentlich zugängliche FreiluftAusstellung mit künstlerischen Inszenierungen – Kunst statt Kloake sozusagen. Emscherkunst, so hieß es zum Start des Projekts, sei eine Art Wohlfühlprogramm zwischen Umweltschutz und Kunst, die erwandert werden könne.

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

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Carbon Obelisk (Rita McBride) in Essen

Jahrhunderthalle in Bochum

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Industriekultur als touristisches Thema Erstmals Ende der 1990er Jahre hatte die NRW-Landesregierung im „Masterplan für Reisen ins Revier“ den Begriff Industriekultur als touristisches Thema zum Programm gemacht und damit jede Menge Spott, aber auch Neugierde und bundesweite mediale Aufmerksamkeit geerntet. Das hässliche Entlein sollte eine Sehenswürdigkeit sein? Der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement verstand die Tourismusinitiative als strukturellen Beitrag, setzte auf Arbeitsplatz­ effekte, den Anschluss des Ruhrgebiets an den boomenden Städtetourismus in Deutschland und auf positive Imagebildung rund um das „steigende Interesse an den Giganten der Industriekultur“. Karl Ganser, visionärer wie cleverer Direktor der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999), verstand Tourismus als kommunikativen Mehrwert, um die Transformationsprojekte dieses städtebaulichen Umbauprogramms im IBA-Finale öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Transformationsprojekte wie der Emscher-Umbau, die Umwidmung des Thyssen-Hüttenwerks in Duisburg-Nord in einen Landschaftspark, die Umnutzung des Gasometers Oberhausen in eine Ausstellungshalle und der neue Nordsternpark rund um die ehemalige Zeche Nordstern in Gelsenkirchen wurden im IBA-Finale zu einem dichten Sightseeing-Programm mitsamt Touren und Events verwoben. Auch Ausstellungen wie Sonne, Mond und Sterne auf der stillgelegten Kokerei Zollverein und künstlerische Setzungen wie die wuchtige stählerne Bramme für das Ruhrgebiet von Richard Serra auf der frisch geschütteten Schurenbachhalde an der Grenze von Essen und Gelsenkirchen gehörten zum Programm. Im Anschluss an diesen Einstand übernahm die neu gegründete Ruhr Tourismus GmbH (RTG), eine Tochter des Regionalverbands Ruhr (RVR), die touristische Vermarktung der Produkte der „Route der Industriekultur“ und unter der Dachmarke radrevier.ruhr auch des Emscher Park Radwegs, um für diese außergewöhnlichen Urlaubsziele zu werben. Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

Emscherkunst: The Insect Societies (Part 1) (Henrik Hakansson) 2016; Am Emscherquellhof in Holzwickede

bei der Stiftung Zollverein ist sie aktuell als stellvertretende Leiterin der SmartCity-Initiative CONNECTED. ESSEN für die Kommunikation verantwortlich. Delia Bösch begleitet als Journalistin und Kommunikationsexpertin seit mehr als 25 Jahren den Transformationsprozess der Region. Nach Stationen u.a. im KVR und

Kunst im Hinterhof des Reviers Gut ein Jahrzehnt nach dem IBA-Finale, nämlich anlässlich des Aktionsjahres Kulturhauptstadt Europas – RUHR.2010, rückte die Emscher-Zone erneut auf den Spielplan. Ausgerechnet im hässlichen Hinterhof des Reviers fand mit Emscherkunst.2010 das wohl größte temporäre Kunstereignis von RUHR.2010 im öffentlichen Raum statt. Auf der sogenannten Emscherinsel, ein schmaler Landstrich zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal, der sich 34 Kilometer lang zwischen Castrop-Rauxel und Oberhausen erstreckt, erschufen 40 international renommierte Künstlerinnen und Künstler Werke, die sich auf unterschiedlichste Art mit dem Strukturwandel und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen auseinandersetzten. 113 Tage lang waren Besucherinnen und Besucher an Orte wie an eine Schleusenanlage oder in einen Faulturm einer ehemaligen Kläranlage eingeladen, um sich künstlerische Arbeiten anzusehen. Seitdem begleitet dieses öffentliche Ausstellungsformat an den Ufern der Emscher den Umbau des Emscher-Systems durch die Emschergenossenschaft und damit das wohl größte Revitalisierungsprojekt der Welt. Kunst für alle jederzeit Während 2010 viele Kunstwerke dauerhaft an den Standorten verblieben, wurde das Format in den Folgejahren als Triennale weitergeführt. 2013 und 2016 entstanden überwiegend temporäre Werke für eine jeweils dreieinhalbjährige Ausstellungsdauer. Seit 2019 ist der Emscherkunstweg unter dem Motto „Kunst für alle jederzeit“ ein permanenter Skulpturenweg und eine Art öffentliche Kunstsammlung entlang der Emscher, die in Kooperation von Urbane Künste Ruhr, Emschergenossenschaft und RVR umgesetzt wird. Der Weg ist inzwischen auf 19 künstlerische Arbeiten angewachsen und soll bis Ende 2022 durch weitere Kunstwerke ergänzt werden. Die Skulpturenroute verläuft von der Emscher-Quelle in Holzwickede bis zur Mündung in Dinslaken auf mehr als 100 Kilometer Radwegen. Sie folgt auf weiten Strecken dem im IBA-Finale 1999 eröffneten und gut ausgeschilderten Emscher Park Radweg. Manche Kunststandorte liegen etwas abseits vom EmscherWeg, sind aber per GPS-Karte gut zu finden. Wer einmal vom Weg abkommt oder eine Baustelle umfahren muss, entdeckt auf diese Weise übrigens eine Vielzahl weiterer „Skulpturen“. Solche nämlich, mit denen Einheimische in Erinnerung an vergangene schwerindustrielle Arbeitswelten ihre Vorgärten verzieren: Loren, Geleucht und Bergmänner aus Stahl, wohin das Auge blickt. Die einstige Meidezone im Norden des Reviers hat sich heute in eine Landschaft ganz eigener Art entwickelt, in der es viel zu zeigen und noch mehr zu sehen gibt.

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Emscher Park Radweg

Emscher Rundtouren Emscher Radweg

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

0

0

10 km

10 km

Emscher-Rundtouren Emscher Rundtouren

Emscher Radweg Emscher Park Radweg 171

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

Vanessa Gaffron, Katharina Knüttel, Sören Petermann, Till Stefes

Aufwa c h s e an d e r Ems c h e r

n

Ungleiche Voraussetzungen für das subjektive Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen?

G 

elingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hängt von ihren dauerhaften Lernumgebungen ab: wer ihre Eltern sind, wie die soziale Lage ihrer Familien ist, welche Bildungseinrichtungen sie besuchen und wo sie wohnen. Zudem können diese dauerhaften Lernumgebungen lokal sehr ungleich ausgestaltet sein. Inwiefern diese Ungleichverteilung Ergebnis der sozialen Zusammensetzung am Wohnort ist oder ob es zusätzliche benachteiligende Effekte der Armutskonzentration gibt, ist Gegenstand aktueller Debatten. Das Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) der RUB verfolgt im Rahmen der UWE-Befragungen den Ansatz, das subjektive Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund zu stellen (Petermann et al. 2019). UWE steht für „Umwelt, Wohlbefinden und Entwicklung“. Das Befragungsdesign erlaubt kleinräumige Auswertungen auf Basis von Stadtteilen und damit auch einen Blick auf das Wohlbefinden und die stärkenden Ressourcen in den emschernahen Stadtteilen (Knüttel et al. 2021). Zugrunde liegt eine Vollerhebung aus dem Jahr 2019 in den Klassenstufen 7 und 9.

Alte Emscher, Duisburg

Wohlbefinden und Ressourcen Wohlbefinden stärkt die Persönlichkeitsentwicklung sowie die Integrations- und Partizipationsfähigkeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Das ZEFIR arbeitet mit einem mehrdimensionalen Index des Wohlbefindens, der sich aus Lebenszufriedenheit, Optimismus und Selbstwertgefühl (positive Stimmungen), Traurigkeit und Sorgen (negative Stimmungen) sowie dem Körperbild zusammensetzt. Um Unterschiede im Wohlbefinden zu verstehen, braucht es die Berücksichtigung von Ressourcen, die in den zentralen lebensweltlichen Kontexten von Jugendlichen – Familie, Schule und lokale Gemeinschaft – zur Verfügung stehen. Unter Ressourcen sind unterstützende persönliche Beziehungen, bereichernde Aktivitäten und situative Bedingungen zu verstehen. Sie werden als stärkende Faktoren für das Wohlbefinden angesehen. Stadtteiltypen Die Emscher-Region ist in besonderer Weise durch Segregationsmuster gekennzeichnet, die erhebliche Folgen für das Aufwachsen haben können. Die kleinräumige Erhebung des Wohlbefindens lässt es zu, die räumliche Nähe zur Emscher als Faktor für die Lebensqualität aus jugendlicher Perspektive zu untersuchen.

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Durchschnittswerte von Wohlbefinden und Ressourcen nach Stadtteiltyp Merkmal

Stadtteiltyp Gesamt

1

2+3

2

3

4

emschernah

emscherfern

Wohlbefinden

3,70

3,70

3,73

3,70

3,69

3,72

Subjektiver Wohlstand

3,94

3,82

3,93

3,94

3,94

4,03

Ernährung & Schlaf

3,74

3,64

3,72

3,70

3,76

3,80

Beziehungen zu Erwachsenen

3,61

3,55

3,65

3,62

3,58

3,67

Beziehungen zu Erwachsenen in der Nachbarschaft

2,32

2,23

2,33

2,31

2,31

2,38

Beziehungen zu Gleichaltrigen

4,38

4,38

4,36

4,41

4,36

4,41

Anzahl/Diversität Freizeitkontakte

2,21

2,13

2,22

2,21

2,20

2,28

Schulische Selbsteinschätzung

4,11

4,12

4,08

4,05

4,10

4,21

Schulerfahrungen

3,40

3,47

3,44

3,35

3,35

3,52

Daten der UWE-Befragung 2019. Wenn es signifikante Unterschiede zwischen den vier Stadtteiltypen gibt, ist pro Zeile der niedrigste Wert rot und der höchste Wert grün sowie Werte dazwischen gelb unterstrichen.

Erstaunlicherw e i s e gibt es einen posit i v e n Zusammenhang zwis c h e den emschern a h e n Wohnviertel n  u n d dem Wohlbefi n d e n .

n

Wir haben alle 31 Herner und 17 Bottroper Stadtteile anhand statistischer Daten in verschiedene Stadtteiltypen eingeteilt. Wir nutzen je einen Indikator der sozialen (Kinderarmut), demografischen (Kinderanteil an der Gesamtbevölkerung) und ethnischen (Migrantenanteil unter Kindern) Segregation. Es lassen sich vier Stadtteiltypen generieren, wobei von Typ 1 zu 4 kontinuierlich die armutsbezogenen, demografischen und ethnischen Konzentrationen abnehmen. Die Emscher tangiert in Herne fünf und in Bottrop zwei Stadtteile. Sechs dieser emschernahen Stadtteile sind dem Typ 2 mit erhöhten Konzentrationswerten zugeordnet, lediglich ein Wohnviertel gehört zum Typ 3. Wohlbefinden und Ressourcen in der Emscher-Region Aus der UWE-Befragung lassen sich Merkmale des Wohlbefindens und der Ressourcen erzeugen, die wir nach armutskonzentrierten bzw. emschernahen Stadtteiltypen analysieren können. Die Merkmale des Wohlbefindens und der Ressourcen wurden jeweils auf den Wertebereich von 1 (niedrig) bis 5 (hoch) normiert (Knüttel et al. 2021). Tabelle 1 weist die Durchschnittswerte nach Stadtteiltypen aus. Die emschernahen Stadtteile wurden dabei einer gesonderten Betrachtung unterzogen und aus den Stadtteiltypen 2 und 3 herausgenommen. Die Merkmale, die sich zwischen den vier Stadtteiltypen signifikant unterscheiden, sind in Tabelle 1

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

„Blaues Klassenzimmer“ an der Emscher in Dortmund-Hörde

Till Stefes ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion Soziologie der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Sören Petermann ist Inha­ber des Lehrstuhls Soziologie mit Schwerpunkt aus Stadt und Region an der Ruhr-Universität Bochum. Katharina Küttel arbeitet für das ZEFIR der Ruhr-Universität Bochum. Vanessa Gaffron arbeitet in der Stabsstelle „Leben im Alter“ der Stadt Bochum.

von rot (niedrig) nach grün (hoch) markiert. Es zeigt sich, dass der „privilegierte“ Stadtteiltyp 4 im Durchschnitt bei den meisten Ressourcen signifikant besser aufgestellt ist als die anderen Typen. Interessanterweise spiegelt sich die konsistent bessere Ressourcenausstattung nicht in einem höheren Wohlbefinden wider – hier zeigen sich ausgeglichene Werte. Überraschenderweise verzeichnen die emschernahen Stadtteile geringfügig überdurchschnittliches Wohlbefinden. Weniger konsistent, aber dennoch deutlich, zeigt sich, dass der Stadtteiltyp 1 aufgrund der benachteiligenden Situation bei vielen Ressourcen hinter die anderen Stadtteiltypen zurückfällt. Hier sind es lediglich die schulischen Merkmale, die das Bild unterbrechen, bei denen die befragten Jugendlichen vergleichsweise durchschnittliche Werte aufweisen. Die emschernahen Wohnviertel hingegen liegen konsistent in der Mittelkategorie. Anders ausgedrückt: Obwohl emschernahe Stadtteile als tendenziell benachteiligte Sozialräume einzuschätzen sind, verfügen die Jugendlichen dieser Stadtteile über durchschnittliche stärkende Ressourcen und sogar über ein leicht überdurchschnittliches Wohlbefinden. Weiterführende Analysen zeigen, dass die meisten verfügbaren Ressourcen deutliche Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden aufweisen, also tatsächlich stärkend sind. Hingegen gibt es praktisch keine systematischen Unterschiede nach Stadtteiltyp. Erstaunlicherweise gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen den emschernahen Wohnvierteln und dem Wohlbefinden. Das bedeutet: Unter Berücksichtigung der vergleichsweise mittelmäßigen Ressourcenausstattung geht es den Jugendlichen in den emschernahen Stadtteilen vergleichsweise besser als denen im privilegierten Stadtteiltyp 4. Obwohl die emschernahen Stadtteile sozialstrukturell eher benachteiligt sind, wirkt sich dies also nicht negativ auf das subjektive Wohlbefinden aus.

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Emscher-Versuchsstrecke in Dortmund-Deusen

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

| Susanne Moebus, Robynne Sutcliffe

Der Emscher- U m b a u als Public- H e a l t h Intervent i o n  z u r Verbess e r u n g der Gesun d h e i t D 

ie Gesundheit der Menschen wird häufig als Abwesenheit von Krankheit verstanden und folglich wird bei der Prävention auf die Vermeidung und Reduktion von Risikofaktoren fokussiert. Gesundheit ist aber kein eindeutig definierbares Konstrukt: Sie ist schwer zu beschreiben, wird verschieden empfunden und erfahren und ist dennoch intuitiv bekannt. Oft erhält Gesundheit erst im Krankheitsfall Aufmerksamkeit – die SARS-CoV-2-Pandemie hat dies bevölkerungsweit so deutlich wie selten werden lassen. Durch die fortwährende Auseinandersetzung des Menschen mit seinen physischen, sozialen und psychischen Umfeld ist Gesundheit als dynamischer Vorgang zu verstehen, der auf den zusammenhängenden individuellen, sozialen und ökologischen Ebenen wirkt. Förderung und Gefährdung von Gesundheit sind daher komplexe Prozesse, die auf allen Ebenen der Gesellschaft und in unterschiedlichen Kontexten ablaufen. Entgegen der noch immer weit verbreiteten Auffassung sind die Möglichkeiten des Individuums, die eigene Gesundheit aktiv zu erhalten, deutlich begrenzt, da bekanntermaßen die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und (stadt-)räumlichen Lebensbedingungen auf erhebliche Weise die Gesundheit beeinflussen. Menschen, die sich mit Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, schlechten Wohnverhältnissen und/oder fehlenden sozialen Netzwerken auseinandersetzen müssen, kann es somit schwerer fallen, auf das Verhalten ausgerichtete Präventionsmaßnahmen erfolgreich umzusetzen. Weltweit zeigen sich immer wieder dieselben Zusammenhänge: Mit zunehmender sozialer und umweltbezogener Ungleichheit verringern sich die Gesundheitschancen. Gesundheit, umfassend verstanden, ist somit ein politisches Konstrukt. Entscheidungen in allen Gesellschafts- und Politikbereichen können völlig unterschätzte Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Das Gemeinwesen ist deshalb zur Herstellung und Sicherung von Lebensbedingungen gefordert, die ein gesundheitsgerechtes, solidarisches Handeln ermöglichen. Für eine gelingende Umsetzung von Stadt und Gesundheit und damit von Maßnahmen urbaner Gesundheitsförderung und Prävention ist ein solches Verständnis von Gesundheit Grundvoraussetzung. Historisch gesehen waren Gesundheitsfragen in Städten als Folge von Verstädterung und Schwerindustrialisierung von größter Bedeutung. In Deutschland hatten die Ideen und Aktivitäten der bekannten Mediziner wie Virchow, Pettenkofer, Neumann entscheidend zur Verbesserung des städtebaulichen Umfelds beigetragen. Sie erkannten die Bedeutung von Armut und schlechten Umweltbedingungen und zielten deshalb auf eine sehr erfolgreiche inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kommunalpolitiker*innen, Stadtplaner*innen oder Ingenieur*innen. Sie entwickelten damit eine öffentliche Gesundheit, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland verlorengegangen ist und erst langsam wieder konzeptionell als Public Health hier aufgebaut wird.

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Vor diesem Hintergrund hat die Emschergenossenschaft, sowohl mit der Flussregulierung Anfang des 20. Jahrhunderts als auch mit der Revitalisierung 100 Jahre später bedeutsame strukturelle Public-Health-Interventionen auf den Weg gebracht. Warum das so ist und welche zukünftigen Ideen und Entwicklungen für eine gesundheitsförderliche Emscherregion bedeutend sein können, wird im Folgenden kurz skizziert.

Bewegungsinseln am Hochwasserrückhalte­ becken Emscher-Auen

Die Emscher-Transformationen – urbane Public-Health-Interventionen mit verhältnispräventivem Ansatz Die in diesem Buch bereits beschriebene Situation im Ruhrgebiet vor über 100 Jah­ ren – Überschwemmungen mit zunehmend industriell und städtisch verunreinigten Abwässern, die schwere Epidemiewellen und ökologische Schäden verursachten – führte zur Idee der Emscher-Regulierung. Ohne Zweifel kann dies als eine erste Public-Health-Intervention im großen Maßstab verstanden werden, die nicht auf die Änderung des individuellen Verhaltens der Menschen, sondern auf die Änderung der (gesundheitsgefährdenden) Verhältnisse zielt: Die neue Abwasserführung führte unmittelbar zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit durch Hochwasserschutz und zu einer regulierten Abwasserentsorgung. Erst danach konnte die ökonomische Entwicklung massiv vorangetrieben und auch die ökologische Situation in der Region zunächst durchaus verbessert werden. Der mit den 1960er Jahren beginnende Strukturwandel offenbarte dann aber auch die Schwächen dieser Entwicklung. Insbesondere in der EmscherRegion entstanden nicht nur hohe Umweltbelastungen, sondern auch stark zersiedelte, ökologisch problematische Landschaften sowie schwere sozioökonomische Defizite: alles Hemmnisse für eine stadträumliche Kohärenz, gute Arbeits- und Lebensbedingungen und damit auch eine gute gesundheitliche Entwicklung der Menschen. So sind die Verhältnisse in der Emscher-Region im Vergleich zum Ruhrgebiet nicht nur durch eine höhere Arbeitslosigkeit und niedrigeres Einkommen, sondern auch durch eine schlechtere Gesundheit gekennzeichnet (siehe Abbildung). Mit der Rückgewinnung der Flusslandschaft durch den unterirdischen Abwasserkanal und den damit ökologisch orientierten Emscher-Umbau wird das neue Emschertal als Freiraum für die Bevölkerung in der Region wieder zugänglich gemacht. Das Generationenprojekt der Emschergenossenschaft wird in vielfältigen, partizipativ ausgerichteten Kooperationen geplant und umgesetzt. Damit werden in der Region neben den ökologischen Veränderungen auch erhebliche Wandlungsprozesse der Siedlungs- und Sozialstruktur mit verbesserten Wohnqualitäten, Freizeitangeboten und Arbeitsmöglichkeiten ausgelöst – alles wichtige Einflussgrößen der gesundheitlichen Entwicklung. Damit kann die mit dem Emscher-Umbau verbundene Aufwertung der Region erneut als eine sehr groß dimensionierte, auf die Verhältnisse ausgerichtete Public-Health-Intervention aufgefasst werden; ein Aspekt, der in bisherigen Beschreibungen zum Emscher-Umbau allen-

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

Übersicht der Verhältnisse in der Emscher-Region im Vergleich zu NRW, basierend auf Einkommen und Sterblichkeit (angelehnt an Skodra 2018)

Daten für die Abbildung: Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG), 2014; Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, 2011; Landesbetrieb Information und Technik NRW, 2011; Regionaldirektionen NRW der Bundesagentur für Arbeit, 2011

Prof. Dr. Susanne Moebus, Biologin und Epidemiolo­ gin, leitet das Institut für Urban Public Health an der Medizinischen Fakultät Essen der Universität Duisburg-Essen.

Dr. Robynne Sutcliffe, Gesundheitswissenschaftlerin, ist Mitarbeiterin der Emschergenossenschaft im Rahmen von „Mach mit am Fluss!“ und „Gesund an der Emscher!“.

falls implizit berücksichtigt wird. Evidenzbasierte Aussagen zur nachhaltigen Verbesserung der gesundheitlichen Situation sind allerdings wegen fehlender Untersuchung zu diesem Aspekt bislang leider nicht möglich. Insgesamt erlaubt der Emscher-Umbau neue Zugänge zu einer renaturierten Natur- und Flusslandschaft mit neu geschaffenen Freizeitmöglichkeiten oder einem umfangreichen und attraktiven (Rad-)Wegenetz – und dies an Orten mit den größten Bedarfen für verbesserte Umwelten. Nach dem Umbau ist vor dem Umbau Seitens der Emschergenossenschaft rückt der Aspekt der menschlichen Gesundheit und Lebensqualität zunehmend in den Fokus, insbesondere mit Blick auf die Zeit nach dem Umbau. Derzeit wird bereits eine Reihe verhaltenspräventiver Maßnahmen angeboten. Zum Beispiel werden im Rahmen der Kooperation „Gesund an der Emscher!“ gemeinsam mit der KNAPPSCHAFT Freizeit- und Gesundheitsangebote in der Emscher-Region durchgeführt. Dabei soll die neu zugängliche und aufgewertete Landschaft den Menschen der Region wieder nähergebracht und damit die Lebensqualität verbessert werden. Auch wenn die Aufgaben der Emschergenossenschaft bisher selten mit öffentlicher Gesundheit / Public Health in Verbindung gebracht werden, so sollte die hier skizzierte Verbindung zu Public Health verdeutlichen, welchen Einfluss Maßnahmen der Emschergenossenschaft auf die Gesundheit der Menschen hatten und künftig noch haben könnten – und zwar weit über das reine Abwassermanagement und den Hochwasserschutz hinaus. Die dringlichen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel, Erhalt der Artenvielfalt, zunehmende soziale und ökonomische Ungleichheiten oder digitale Transformation werden auch von der Emschergenossenschaft mitgestaltet werden (können). Der enge Austausch mit der Bevölkerung und gesellschaftlichen Akteuren, verbunden mit einem erweiterten Verständnis von Gesundheit, macht die Emschergenossenschaft zu einer wichti­ gen Impulsgebern in der Region. Sie kann Konzepte und Strategien zum Abbau von Ungleichheiten in allen Umwelten mitentwickeln und mitrealisieren – für eine gesundheitsförderliche und nachhaltige Entwicklung in der Region und darüber hinaus.

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Ökonomischer, sozialer und kultureller Mehrwert im Emscherraum

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Golfplatz Schloss Horst in Gelsenkirchen. Die Gestaltung des Fußwegs bricht den geradlinigen Wegeverlauf auf dem Außengelände der ehemaligen Pferderennbahn auf

Interventionen und ästhetischer Wandel durch

Kunst  u n d

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

BernePark in Bottrop-Ebel

 K u l t u r

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

Emscherkunst 2013: Between the Waters (Marjetica Potrč und Ooze Architects)

| Bettina Jäger

Fit we r d e n im Kopf  u n d in den   W a d e

n

Die Emscherkunst 2010 bis 2016 und ihre Fortführung als Emscherkunstweg

U 

nvergesslich: der Gang zur Toilette. Die Künstlerin Marjetica Potrč und das Architekturbüro Ooze schufen für die Ausstellung Emscherkunst 2010 eine Bedürfnisanstalt, wie es sie noch nie gab. Zwei gelbe Toilettenhäuschen schwebten hoch über dem Abhang zum Fluss. Oben umsäuselte ein frischer Wind die Mutigen, die ihre Hose herabließen. Durch die Spülung landete – schwupps – alles in einer Pflanzenkläranlage und schließlich in einem Garten. Das Kunstwerk Between the Waters brachte die damalige Funktion der Emscher auf den Punkt: Abwasser sammeln, klären und der Natur wieder zuführen. Beispielhaft zeigten sich hier aber auch die Qualitäten der Emscherkunst: Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung. Und mitmachen durfte man auch. Die Emscherkunst war von 2010 bis 2016 eine Freiluftschau, eine documenta des Reviers – getragen von der Emschergenossenschaft, dem Regionalverband Ruhr und Urbane Künste Ruhr, bezuschusst vom Land NRW. Alle drei Jahre erlebten Bürger und Bürgerinnen das Spektakel umsonst und draußen. 2010 lockte die Schau als eine der großen Attraktionen des Kulturhauptstadtjahres 200.000 Menschen an. Im Jahr 2013 stieg die Zahl auf 255.000, 2016 dann auf 260.000 Gäste. Wie die documenta dauerte die Emscherkunst jeweils um die 100 Tage im Sommer. Auch wenn die ungleich berühmtere Schau in Kassel bis zu einer Million Menschen anzieht, so gab es doch Ähnlichkeiten. Mit Ai Weiwei, Nevin Aladağ oder Mark Dion versammelte Kurator Florian Matzner teils Künstler, die auch die documenta geprägt hatten. Die Stimmung im Ruhrgebiet war ähnlich gelöst, die Gäste gut gelaunt. Wenn das Wetter stimmte, umschwärmten Hunderte von Besuchern und Besucherinnen ein Kunstwerk wie das Walking House, das laufende Haus der Künstlergruppe N 55. Oft waren es Freundeskreise oder Familien mit Kindern. Ein ungeheurer Erfolg. Aber wieso? Was waren die Erfolgsfaktoren? Die Freude an der Entdeckung Erster Erfolgsfaktor: die Freude an der Entdeckung. Das Emscher-System war verbotenes Land: keine Wohnbebauung, weil es stank; keine Wege, weil ein Absturz in das betonierte Bett der vielen „Köttelbecken“ lebensgefährlich werden konnte. Doch plötzlich durften sich die Künstler und Künstlerinnen am Ufer wie Pionierpflanzen ausbreiten. Sie eigneten sich das teils industriell schlimm entstellte, teils urwaldhaft zugewucherte oder auch mal überraschend attraktive Emschertal an. Was dann passierte, hatte schon Karl Ganser als Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park beschrieben: „Es macht durchaus Sinn, kräftig mit Kunst zu markieren. So wird deutlich: Hier verändert sich etwas, eine neue Zeit transformiert eine alte Landschaft in eine neue. […] Die Zeichen der Kunst erregen Aufmerksamkeit, schaffen Respekt und setzen neue Werte auf Areale, die in einer verbreiteten Einschätzung wertlos und somit zum wohlfeilen Verbrauch freigegeben sind.“

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rechts: Emscherkunst 2010: Walkway and Tower (Tadashi Kawamata) links: Emscherkunst 2016: Spirits of the Emscher Valley (Studio Orta)

Ein typisches Beispiel dafür war die Arbeit Warten auf den Fluss der Künstlergruppe Observatorium, die in allen drei Auflagen jeweils woanders zu sehen war. Wer vorher nicht wusste, was das Wort „chillen“ bedeutet, lernte es hier. Tiefenentspannt, sinnierend, meditierend oder plaudernd hockten die Menschen auf dieser Holzarchitektur – und manch einer mag wirklich darüber nachgedacht haben, wie es wohl sein würde, bald am Ufer einer sauberen Emscher zu sitzen. Die Emschergenossenschaft hatte seit Anfang der 1990er Jahre nur Pläne und Baustellen zur Renaturierung präsentieren können. Die Ausstellung machte die Chancen und Möglichkeiten des Projekts schlagartig sichtbar. Die Emscher mag noch nach Abwasser gerochen haben. Aber die Besucher der Ausstellung witterten schon überall die Zukunft. Kunst von der Käsestange bis zum Schokobrunnen Zweiter Erfolgsfaktor: die Kunst. Die documenta bietet Kunst zum Grübeln, die Emscherkunst hat ihren Gästen die Welt erklärt. 2013 brachten zum Beispiel 76 Studenten und Studentinnen als sogenannte „Scouts“ 17.000 Stunden dafür auf. Die Menschentrauben, die sich um die jungen Leute in den orangefarbenen T-Shirts bildeten, dürften jedem Gast in Erinnerung geblieben sein. Dem renommierten Kurator Florian Matzner und der Organisatorin Simone Timmerhaus von der Emschergenossenschaft gelang es auf herausragende Weise, gemeinsam mit den Künstlern Werke heranzuschaffen, die zugleich populär und geistreich wirkten. Ein Beweis: Der Volksmund taufte das gelbe Kunstwerk reeemrenreh von Bogomir Ecker im Wasser des Rhein-Herne-Kanals liebevoll in „Käsestange“ um. Das Wasserspiel Waste Water Fountain der Gruppe Superflex, das Abwasser der Emscher in die Luft katapultierte, wurde zum „Schokobrunnen“ ernannt. Das Radfahren als Freizeittrend Dritter Erfolgsfaktor: das Radfahren. Die Emscherkunst sattelte auf einen Freizeittrend auf. Die Organisatoren ermittelten, dass rund 80 Prozent der Besucher mit dem Zweirad kamen. Das stimmte mit den touristischen Zahlen überein. So machten die Deutschen 2016 rund 150 Millionen Tagesausflüge. Natürlich landete nicht das ganze Land an der Emscher. Aber die zunehmende Professionalisierung der Infomaterialien dürfte immer mehr Radler angelockt haben. So waren die Radkarten im Jahr 2013 etwa 50 Seiten, 2016 schon 94 Seiten dick.

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

Bettina Jäger war von 1993 bis 2005 Lokalredakteurin der Ruhr Nachrichten in Bottrop, seit 2005 arbeitet sie als Kultur­­r­edakteurin der Zeitung.

Das Rad war ohnehin das beste Mittel, um die Schau zu entdecken. Die Emscher ist rund 83 Kilometer lang. Die drei Ausgaben der Emscherkunst deckten 2010 die 34 Kilometer lange Emscherinsel zwischen Recklinghausen nach Oberhausen ab. 2013 ging es von Gelsenkirchen zur Mündung bei Dinslaken. Die letzte Ausgabe 2016 verband die Strecke von der Quelle in Holzwickede über Dortmund bis Herne durch ein 50 Kilometer langes Wegeband. Neues entdecken, Sport treiben und Kunst erleben – also fit werden im Kopf und in den Waden –, diese unschlagbare Kombination hat die Emscherkunst geprägt. Vorhang auf für den Emscherkunstweg Obwohl eine letzte Emscherkunst zum Abschluss der Revitalisierung geplant war, entschieden sich die Verantwortlichen 2019, die Open-Air-Schau zugunsten einer dauerhaften Attraktion einzustellen. Die Diskussionen hinter den Kulissen waren heftig, vor allem, weil die Ausstellung inzwischen deutschlandweit Furore gemacht und es sogar in die Tagesschau geschafft hatte. Inzwischen ahnt man: Eine vierte Emscherkunst wäre wohl in die Wirren der Corona-Pandemie ab 2020 hineingezogen worden. Heute präsentiert der Emscherkunstweg den Radlern und Spaziergängern 22 ikonische Kunstwerke wie den tanzenden Zauberlehrling, einen geschwungenen Strommast der Gruppe Inges Idee, oder die Brücke Slinky Springs to Fame des Künstlers Tobias Rehberger, beides in Oberhausen gelegen. Das 2021 in Duisburg aufgestellte Werk Neustadt von Julius von Bismarck in Zusammenarbeit mit Marta Dyachenko besteht aus längst abgerissenen Gebäuden des Reviers im Miniaturformat und zeigt, wo die Reise hingeht: Diese Skulpturen sind kritisch und hintergründig, aber eben auch gut verständlich und vandalismus­ sicher. Der Emscherkunstweg könnte mit besserer Beschilderung und flankierender Werbung zu einem der interessantesten Radwege durchs Ruhrgebiet aufsteigen. www.emscherkunstweg.de

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

links: Baustelle dasparkhotel_inside-outsite am Hof Emscher-Auen, Dortmund-Mengede

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unten: Emscherkunst 2013: Zauberlehrling (inges idee) in Oberhausen Haus Ripshorst

Emscherkunstweg

0

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10 km

Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

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| Florian Matzner

Die   A n t i docu m e n t im P o t t U 

a

nter dem Titel „Die besten hundert Tage von Bottrop“ hat die Kunstkritikerin Catrin Lorch im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung im Juli 2013 die Emscherkunst und ihre Rezeption bei der Bevölkerung vor Ort im Ruhrgebiet wie folgt beschrieben: „Die Jugendlichen, die an diesem Nachmittag vor dem vernagelten Fenster von ‚Johnny’s Starclub’ die Kunst genießen, sind nämlich das Publikum, das sich alle wünschen – vom Direktor der Tate in London bis zu den Leitern der Nationalgalerie, von Kunstvereinen, Ausstellungs-

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

Grüne Hauptstadt Essen 2017, Kunstwerk Warten auf den Fluss (Observatorium)

hallen. Seit öffentliche Mittel schwinden und die Konkurrenz der gut ausgestatteten Privatmuseen und der Ausstellungsräume von Banken und Versicherungskonzernen mächtiger wird, ist Kunstvermittlung die entscheidende Größe. Und die zeitgenössische Kunst scheint ja auch bereit zu sein, ist genauso politisch, wie die Kuratoren erprobt sind im öffentlichen Raum. Und alle sagen, dass sie die Arbeit an der gesellschaftlichen Peripherie als ureigenstes Terrain empfinden. Und verlassen meist doch die pittoresken Brachen nach Ende der Ausstellung wie eine Bühne. Dass hundert Tage Emscherkunst […] mehr hinterlassen, war bereits nach der ersten Ausgabe im Jahr 2010 klar: Es gehört gewissermaßen zum Konzept, wo man nicht nur als Triennale, sondern auch als Initiator von dauerhafter Kunst im öffentlichen Raum auftritt. Zudem ist es eine Ansage, dass man der Selbstfindung einer Region dient, die ihren Namen einer kanalisierten Kloake verdankt … Und während sich die Bagger und Kräne durch die Landschaft fressen, um den abgezäunten Kanal wieder frei zu legen, dreht die Emscherkunst an vielen Stellen die Perspektive einer Ausstellung um …“ Kunst für jeden erfahrbar machen! 2010 – 2013 – 2016: Über mehr als sechs Jahre begleitete das Ausstellungsprojekt der Emscherkunst den Transformationsprozess des offen liegenden Abwasserkanals der Emscher und den damit verbundenen Strukturwandel im nördlichen

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Emscherkunstweg 2021: Neustadt (Julius von Bismarck und Marta Dyachenko) Land­schaft­s­ park Duisburg-Nord

Ruhrgebiet: „Wir spielen hier nicht documenta!“ war einer meiner Lieblingssätze, wenn es um die Bedeutung des Projekts im nationalen und internationalen Kunstdiskurs ging. Es ging bei der Emscherkunst also nicht darum, die neuesten Trends abzubilden und auszustellen, sondern darum, ortsspezifische und auf das Publikum bezogene Projekte zu entwickeln. Denn eines war klar: Der Erfolg der Ausstellung musste gemessen werden an der Akzeptanz und Resonanz in der lokalen und regionalen Bevölkerung. Es ging also um die Menschen vor Ort, im Pott, häufig ohne akademische Bildung, geschweige denn mit irgendeinem besonderen Inte­resse an aktueller Kunst. Deshalb plädierte ich von Anfang für möglichst niedrigschwellige Ansätze in den künstlerischen Konzepten; die Kunstvermittlung war eines der zentralen Anliegen der Emscherkunst. Sicherlich zu Recht würdigte die Auszeichnung der UNESCO die Emscherkunst wegen ihres Konzepts der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und betonte damit den dezidiert gesellschaftspolitischen Anspruch und das Profil der Ausstellung als Zukunftswerkstatt für die Region. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Ausstellungskonzepts war die gleichzeitige Präsenz von temporären, teilweise performativen Interventionen und die Installation von dauerhaften, über den Ausstellungszeitraum hinaus verbleibenden Projekten im öffentlichen Raum: Ein beispielhaftes Hybrid-Projekt war die Arbeit Warten auf den Fluss der niederländischen Künstlergruppe Observatorium. Die große, brückenähnliche Architekturskulptur diente tagsüber als Meeting Point und Aussichtsplattform und verwandelte sich nachts in ein Hotel, das vor allem von Ausstellungsbesucher*innen, aber auch von Hochzeitsgesellschaften oder Geburtstagsgästen gebucht wurde. Warten auf den Fluss – hergestellt aus recyceltem Holz – wurde bei allen drei Kampagnen der Emscherkunst auf- und am Ende der Ausstellung wieder abgebaut, an jeweils anderem Standort.

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

Glückauf. Bergarbeiterproteste im Ruhrgebiet (Silke Wagner), Faulturm der ehemaligen Kläranlage Herne

Die Ausstellungsareale Die Emscherkunst wanderte sozusagen in den sechs Jahren ihrer triennalen Laufzeit durch das gesamte nördliche Ruhrgebiet: Erst im Zentrum auf der sogenannten Emscherinsel, dann im Westen bis hin zum Emscher-Delta in den Rhein und schließlich am Ende im Osten hin zum Oberlauf der Emscher in Westfalen. Diese drei landschaftlich und städtebaulich sehr unterschiedlichen Ausstellungsareale generierten auch sehr unterschiedliche Themenkomplexe: Ging es beim Umbau der ehemaligen Kläranlage in Bottrop-Ebel in einen öffentlichen Park um Fragen der nachhaltigen Transformation bestehender historischer Architektur, so thematisierte Anna Witt 2013 in ihrem Projekt für DuisburgMarxloh Fragen des Recyclings von Müll und Henrik Hakannsson verfolgte 2016 in Holzwickede mit seiner Skulptur für Bienenhäuser ein dezidiert ökologisches Konzept. Entsprechend heterogen war auch die Auswahl der eingeladenen Künstler*innen.

Prof. Dr. Florian Matzner ist Kunstwissenschaftler und Kurator sowie Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in München.

Die Künstler*innen Neben lokalen und regionalen Initiativen wie den Kunstvereinen des Ruhrgebiets 2013 erfolgte die Auswahl der Künstler*innen nach Kategorien der größtmöglichen Internationalität und unterschiedlichen konzeptuellen Positionen. Wichtigster Aspekt war hier der spartenübergreifende Crossover in Bezug auf den jeweiligen Einsatz künstlerischer Medien: Skulptur und (Landschafts-)Architektur, Interventionen und Performances ebenso wie Fotografie, Film und Video kamen zum Einsatz, wobei immer der Schwerpunkt auf dem Motiv der Partizipation der Ausstellungsbesucher*innen bzw. der Bevölkerung vor Ort gelegt wurde. Der in Wien lebende Schriftsteller Florian Neuner wurde zwei Mal zur Emscherkunst eingeladen und überraschte mit geopolitischen Psychogrammen des Ruhrgebiets, literarischen Liebeserklärungen, die ebenso kritisch wie humorvoll die Spezies des „Ruhris“ beschrieben. Emscherkunst – und danach? Ich hatte ja immer gesagt, wir sollten mit der Emscherkunst im Ruhrgebiet nicht „documenta spielen“, aber damit war natürlich nie gemeint, dass die Triennale nach drei erfolgreichen Kampagnen ersatzlos abgeschafft wird. Der jetzt konzipierte Emscherkunstweg verknüpft zwar die bereits bestehenden, permanent verbliebenen Projekte der drei Emscherkunst-Editionen und wird durch neue Projekte ergänzt, wie im Frühjahr 2021 durch das Architekturensemble von Julius von Bismarck im Landschaftspark Duisburg-Nord. Die ursprüngliche Idee der Emscherkunst hat sich aber verändert: Es geht jetzt nicht mehr um arealbezogene Sequenzen im dreijährlichen Festivalrhythmus, sondern um künstlerische Interventionen und Positionen an einzelnen Orten – eingebettet in das Projekt Urbane Künste Ruhr, seit 2018 unter der künstlerischen Leitung von Britta Peters, als gesamtregionales Format.

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Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

dasparkhotel (Andreas Strauss) im BernePark, Bottrop-Ebel

| Frank Maier-Solgk

Kunst  u n d Natur i m Bern e P a r k

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wei parallel zueinander angeordnete Rundbecken einer früheren Kläranlage, auf dem Schrägdach des Betriebspavillons zwischen ihnen eine Gittervorrichtung mit einem Schriftzug, der an die Leuchtreklame der 1950er Jahre erinnert. Eines der beiden Becken ist mit Wasser gefüllt, das andere wurde trockengelegt und in ein terrassiertes Pflanzenrondell verwandelt. An den oberen Kanten der Becken sind Lichtstreifen aus Leuchtröhren installiert. Seit 2010 ist der BernePark in Bottrop-Ebel Ort einer künstlerischen Intervention, die man mit einigem Recht als komplex beschreiben kann. Im Vergleich zu anderen künstlerischen Eingriffen, vor allem zur Haldenkunst der 1980er und 1990er Jahre, die das Gesicht der Landschaft en gros zu verändern suchten, ist die Arbeit in Bottrop fast filigran, ihre Ästhetik nicht von Erhabenheit, sondern Subtilität geprägt. Unter den heute 22 dauerhaft installierten Arbeiten des Emscherkunstwegs ist es vielleicht aber diejenige Arbeit, die den Ideen dieses strukturellen Erneuerungsprozesses im nördlichen Ruhrgebiet konzeptionell am meisten entspricht. Denn worum ging es bei dieser Erneuerung, wie sie sich Karl Ganser als Spiritus Rector seinerzeit vorgestellt hatte? In kultureller Hinsicht ging es um die Formierung eines neuen Landschaftsbildes, zu der einerseits der Erhalt und die Neu- bzw. Umnutzung von Industriebauten, zum anderen eine ökologische Erneuerung das Entscheidende beitragen sollten. Vier Akteure Den beiden Seiten entspricht im Fall des BerneParks die Zusammenführung der Arbeit von vier Akteuren zweier unterschiedlicher Professionen: Es sind dies die Landschaftsarchitekten Piet Oudolf aus den Niederlanden und das schottische Büro Groos.Max, beides international renommierte Vertreter ihrer Zunft. Die wohl prominenteste Arbeit von Piet Oudolf ist die High Line von Manhattan, eine 2,5 Kilometer lange, nun begrünte Güterzugtrasse durch die Landschaft der Wolkenkratzer, die der Arbeit von Bottrop konzeptionell erkennbar nahesteht. Das Büro Groos.Max wiederum ist verantwortlich für die Gestaltung von Stadtvierteln, Plätzen, Parkanlagen und Gärten von London bis Peking; in Berlin gewannen sie vor Kurzem den Wettbewerb für die Neugestaltung des Geländes des Flughafens Tempelhof. Dass auf Künstlerseite mit dem Konzeptkünstler Lawrence Weiner ein amerikanischer Vertreter der ersten Stunde dieser Avantgarderichtung der 1960er und 1970er Jahre gewonnen werden konnte, während aus Deutschland der Düsseldorfer Licht- und Konzeptkünstler Mischa Kuball seine Teilnahme zusagte, auch diese Zusammenarbeit entsprach dem Anspruch, im Revier ungewöhnliche Wege zu gehen. Als Vorteil erwies sich, dass Mischa Kuball und Laurence Weiner sich bereits gut kannten, der Deutsche den Amerikaner quasi mit ins Boot holte, für den Kollegen die Vorrecherchen unternahm und beide sich gemeinsam ans Werk machten.

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rechts: Theater der Pflanzen (Piet Oudolf, Eelco Hooftmann, GROSS.MAX) im BernePark Bottrop-Ebel

oben: Lichtinstallation Catch as Catch can (Mischa Kuball und Lawrence Weiner) im BernePark Bottrop-Ebel

Konzepte und Blüten Was ist das Ergebnis dieser Zusammenarbeit? Die Überformung eines speziellen Industriebaus durch Pflanzen, ein Stück Garten also, das eigentlich zur Nutzung einlädt; dazu eine fast dezente künstlerische Verfremdung, die einerseits die Rundarchitektur unterstreicht, andererseits sie in rätselhafter Weise interpretiert: Catch as Catch can. War das nicht einmal ein Film? „Nimm es, wie es kommt“, erzählt Mischa Kuball, sei die Bedeutung gewesen, die die beiden Künstler im Sinn hatten. Aber schwingt da nicht auch mit: „Hol Dir alles, auf welche Weise auch immer!“? Laurence Weiner ist bekannt für seine Arbeiten mit Schrift, genauer gesagt mit Sprache, wobei es dabei meist auch um Grundsätzliches geht: nämlich um die kaum lokalisierbare Vermittlung von Bedeutung, um den Weg vom physischen Schriftzug oben auf dem Dach hin zu uns Betrachtern, in deren Kopf der spezielle Inhalt ja erst bewusst wird. Insofern bedeutet die Aufforderung auf dem Dach in ästhetischer Selbstreflexion schließlich auch: „Versteh es, wenn Du kannst!“ Auch das künstlerische Medium, mit dem der Düsseldorfer Konzeptkünstler Kuball arbeitet, das Licht, ist gewissermaßen philosophisch aufgeladen. Licht, das hier durch je einen Lichtring aus LED-Bändern dezent und kräftig zugleich der gebauten Situation eingefügt ist, ist das Symbol der Aufklärung, das eigentlich Klarheit in die Welt bringen soll. Zugleich aber ist Licht fast im Gegensatz dazu das Element, das wie das Bühnenlicht den Dingen erst den Zauber verleiht – und damit die viel beschworene „Dialektik der Aufklärung“ auf den Punkt bringt. In den Worten Lawrence Weiners:

Interventionen und ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

THERE ARE THOSE THINGS THAT ARE NOT PHENOMENA BUT SPECIFIC OBJECTS FOR A SLIGHT MOMENT OF TIME HERE IN THE COUNTRYSIDE ONE HAD THE OPPORTUNITY OF TWO ARTISTS WHO SEEM TO HAVE COME TO THE SAME CONCLUSION AT THE SAME TIME THOSE THINGS THAT WE FIND IN ART: THE SPECIFIC OCCUPATION OF SPACE & OBJECTIFICATION OF THE RELATIONSHIPS OF HUMAN BEINGS TO OBJECTS & OBJECTS TO OBJECTS ARE OFTEN FLEETING BUT THE REWARD OF THE INTERACTION WITH THE SCULPTURE COMES WITH CATCH AS CATCH CAN

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dasparkhotel und Lichtinstallation von Mischa Kuball im BernePark Bottrop-Ebel

Dr. Frank Maier-Solgk ist promovierter Germanist und freier Autor. Des Weiteren übt er Lehraufträge in Düsseldorf und Berlin aus.

Was Sprache und Licht den beiden Künstlern, sind für die Gärtner und Landschaftsarchitekten die Pflanzen. Sie müssen in ihren Lebensbedingungen ebenso erkannt werden wie in den Formen ihrer Blätter und Farbschattierungen der Blüten. Im BernePark begegnet man keinem Überwuchern der Architekturen wie im Landschaftspark Duisburg-Nord. Hier ist durchaus gebändigte Wildnis am Platz. Hier zeigt sich wiederum Oudolfs Vorliebe für die oft unterschätzten Stauden und Gräser (die vornehmen Formschnittgehölze aus Buchs und Eibe, mit denen sich die Aristokratie umgibt, wären hier fehl am Platz), die er von der Mitte des Beckens ausgehend und um sie kreisend aus 20.000 ihrer Art nach außen wachsen ließ. Es ist eine Gewoge aus Blüten und Blättern, Farben und Formen, das sich zur Mitte hin steigerte. Ein Naturalismus, der erkennen lässt, dass derlei Begriffe nur die Nuancen menschlicher Gestaltung kennzeichnen. Pflanzen sind zeitunterworfene Kunstwerke. Um deren Identität für die Dauer zu erhalten, bedarf es der professionellen Pflege, zumal sich der Senkgarten aufgrund seiner wind- und wärmegeschützten Lage als wahres Hitzebecken herausstellte. Von 24.000 Pflanzen mussten rund 10.000 ausgetauscht werden. Verantwortlich dafür ist heute die Gartenplanerin Dorothea Steffen, die das ursprüngliche Konzept weiterentwickelte und dem Bild von Oudolf eine stärkere Farbigkeit verlieh. Heute bietet sich wieder ein Meer aus Lavendel, aus pinkfarbenen Stachys „Hummelo“, aus hellgrünen Kopfgräsern und im Zentrum die Sedum-Sorte „Matrona“. Zur dieser pflanzlichen Erneuerung passt, dass 2021 auch Mischa Kuballs Lichtinstallation an den Beckenrändern ausgetauscht und wieder funktionstüchtig gemacht wurde. Es ist den Verantwortlichen zu danken, dass sie sich damit um die Erneuerung eines Kunstwerks bemühen, das solcher Anstrengung wert ist. Ob in der Zukunft – jenseits von dasparkhotel von Andreas Strauss – noch weitere Belebungsmöglichkeiten erprobt werden, eine noch stärkere Einbindung der Bevölkerung von Bottrop, vielleicht sogar eine zusätzliche Nutzung des Pflanzentheaters als Ort von Performances denkbar sind – Catch as Catch can erlaubt nicht zuletzt auch solche Überlegungen.

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Ökonomische, und soziale und kulturelle Mehrwerte im Emscherraum Interventionen ästhetischer Wandel durch Kunst und Kultur

| Dieter Nellen

Emsch e r  a l s „Spiellands c h a f t der Ruhrtri e n n a l

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it der Ruhrtriennale begann 2002 die systematische und regionsweite künstlerische Bespielung der Industriehallen und -areale im Ruhrgebiet. Dem international erfahrenen Festival- und Opernchef Gerard Mortier war nach seiner Zeit als künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele die Gründungsintendanz angetragen worden. Ihm gelang die auf Anhieb erfolgreiche Etablierung des Projekts in der europäischen Festivallandschaft. Bis dahin hatte sich die thematische Regionalisierung experimentell auf kulturelle Einzelprojekte (Musik im Industrieraum) und auf die Schlusspräsentation der Internationalen Bauauststellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) bezogen. Denn die IBA war ein Modernisierungs- und Konditionsprogramm mit dem Anspruch von Nachhaltigkeit und einer jenseits von Nostalgie und Folklore verstandenen (Industrie-)Kultur. Das bauliche Montanerbe des Ruhrgebiets sollte, nachdem es in der IBA-Dekade denkmalgerecht modernisiert worden war, als regionales Netz eine neue Zukunft erhalten. Man dachte sogar an einen „Nationalpark der Industriekultur“. Thomas Oberender hat die Determinante der Ruhrtriennale durch Raum und Geschichte wie folgt benannt: „Bevor es ein Programm gab, bestanden die Orte“. Diese „Andachtsräume“ der industriekulturellen Erinnerung und Erneuerung haben Intendanzen und Künstler*innen der Ruhrtriennale fasziniert.

A Divine Comedy (Florentina Holzinger) in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord 2021

Räumliche Bestimmung durch die Emscher Als „Spiellandschaft“ der Ruhrtriennale wurde die Emscher bestimmt. Fast alle Spielorte der Ruhrtriennale, inzwischen zu routinierten Adressen unterschiedlicher künstlerischer Formate herangereift, befinden sich, bis auf gelegentliche prominente Ausnahmen, im weiteren räumlichen Kontext der Emscher und gewinnen aus deren industrieller Überformung ihr unverwechselbares Profil. Gleichwohl bezieht sich der Name des Festivals auf die größere Ruhr-Schwester im Süden und stellt so das territoriale Ganze des Ruhrgebiets in den Mittelpunkt. Zu kulturellen Drehscheiben entwickelten sich bevorzugt die Jahrhunderthalle mit Westpark in Bochum und der Landschaftspark Duisburg-Nord. Die beiden Ruhrgebietsstädte profitierten von der Zurückhaltung Dortmunds: Die Westfalenmetropole verfügte zwar mit den beiden Phoenix-Hallen im Stadtteil Hörde (Phoenix-West) und unmittelbar an der Emscher über ähnliche Begabungsträger industriekultureller Konversion, strebte aber für diese andere Nutzungen und Cluster der Stadtentwicklung an. Zu einem markanten Veranstaltungsort geriet wiederum im Norden der Emscher die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, in der die Theaterregisseurin Barbara Frey in 2021 ihre RuhrtriennaleIntendanz mit der Aufführung Der Untergang des Hauses Usher eröffnete. Impuls zugunsten von Kunst Die Ruhrtriennale ist von ihrer Genese her ein Struktur- und Innovationsprogramm des Landes NRW, nicht das Ergebnis autonomer Initiativen und Entdeckungen zugunsten von Kultur in umgenutzten Räumen. Allerdings verstanden es alle ihre Intendant*innen, ein allein der Kunst verpflichtetes Festival zu realisieren und den öffentlichen Auftrag sowie die staatliche Alimentierung selbstbewusst zugunsten eines unverwechselbaren Programmprofils zu nutzen. Träger sind das Land NRW und der Regionalverband Ruhr (RVR), während sich die Emschergenossenschaft mit Landesförderung arbeitsteilig auf die Kunstformate Emscherkunst (2010/2013/2016) und Emscherkunstweg in Kooperation mit Urbane Künste Ruhr und RVR konzentriert. www.ruhrtriennale.de

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Fast alle Spiel o r t e der Ruhrtriennale befi n d e n sich im weiteren räumli c h e n Kontext der  E ms c h e r und gewinnen aus d e r e n industrieller Überfor m u n g ihr unverwechselbares Pro f i l .

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oben rechts: Der Untergang des Hauses Usher (Edgar Allan Poe) in der Regie von Barbara Frey in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck 2021

oben links: Point Line Area (Fritz Hauser) in der Kraftzentrale des Landschaftparks Duisburg-Nord 2021

links: Elias (Felix Mendelssohn-Bartholdy) aufgeführt von Chorwerk Ruhr 2021

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Gesamtkarte der Ruhrtriennale-Spielorte seit 2002 mit farblicher Kodierung der EmscherStädte

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Gegen den St r i c h : Von alten Gewä s s e r n und neuer Ästh e t i k . Industrienatur  i n d e r Flusslandschaft  E m s c h e r

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n den letzten Jahrzehnten sind im Ruhrgebiet vielseitige Naturräume, Freizeit- und Naherholungsgebiete sowie international repräsentative Parkanlagen und ökologische Modellprojekte entstanden. Sie kennzeichnen die Region als einen postindustriellen Ort mit ökologischer Zukunftsfähigkeit, überraschender Biodiversität und innovativen Landschaftskompositionen. Kaum ein Vorhaben zeigt diesen Wandel „von schwarz zu grün“ so eindrucksvoll wie das Generationenprojekt der Emscher-Revitalisierung – oder wie der Deutschlandfunk kürzlich titelte: die Umgestaltung „Von der Kloake zum Paradies“ (Leue 2019). Der Gegensatz könnte nicht größer, der Wandel nicht radikaler sein. Semantiken des Gegensätzlichen und Extremen sind für das Reden über die Flusslandschaft Emscher – mithin die Grüne Metropole Ruhr – durchaus typisch. Sie gehen zurück auf die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999), ein Strukturprojekt mit dem Ziel der ökonomischen und ökologischen Erneuerung des schwierigsten Teils des Ruhrgebiets: der Emscher-Zo­ne. Herzstück der IBA-Philosophie für den ökologischen Imagewandel war das Konzept der Industrienatur (Eiringhaus 2018). Ursprünglich ein Term für die neue Natur auf Industriebrachen, bildet sie heute den Kern der ökologischen Erfolgsgeschichte vom schwarzen Pott zur Grünen Metropole Ruhr. Im Folgenden möchte ich diese Renaturierungserzählung an der Flusslandschaft Emscher schlaglichtartig konturieren. Versöhnung von Vergangenheit und Zukunft Schauen wir auf die bemerkenswerte Emscher-Transformation, sind neue Natur und alte Industrie, ökologische Zukunftsvision und industrielle Vergangenheit eng miteinander verwoben. Bereits der Emscher-Zukunftsplan von 2006 postuliert, dass sich das Landschaftsbild vergangener Jahrhunderte keineswegs wiederherstellen ließe, sondern etwas Neues, die Industriegeschichte Integrierendes entstehen müsse (Emschergenossenschaft 2006, Abs. A2). Demnach versöhnt die neue Emscher immer auch Vergangenheit und Zukunft, versteckt sie doch die industriellen Landschaftsüberformungen nicht, sondern greift sie selbstbewusst auf und deutet sie als regionsspezifisches Alleinstellungsmerkmal neu. Die Herausforderung war also, ein „neues Kleid für Aschenputtel“ (Emschergenossenschaft 2006) zu entwerfen. Weckt die Cinderella-Semantik Assoziationen vom „ungeliebten Stiefkind“, verweist sie immer auch auf ein verstecktes oder unterschätztes Potenzial – und hier liegt das eigentlich spannende: Denn der selbstbewusste Verweis auf die ehemalige „Köttelbecke“ ist notwendiger Topos für ihre Neuerfindung – so handelte es sich doch um den „dreckigsten Fluss“, das „größte Klärwerk“ und die „stinkendste Kloake“ der Bundesrepublik, in der nun „längst wieder Forellen, Groppen und Stichlinge“ (Neuvians 2021) leben. Viel mehr noch, so postuliert die Dortmunder Wochenzeitung InTakt, habe sich die „Artenvielfalt in und an den Gewässern seit Anfang der 1990er-Jahre (rund 170 Arten) nahezu verdreifacht“ (Neuvians 2021). Wie an anderen Orten der „Route Industrienatur“ und den dortigen Topoi von der Naturrückeroberung und der neuen Vielfalt auf alten Brachen gilt auch hier: je grauer die Vergangenheit, umso beeindruckender die grün-blaue Zukunft. Je extremer die Transformation, umso eindrucksvoller die Transformationsleistung.

Gleispark auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen

| Pia Eiringhaus

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Nordsternpark in Gelsenkirchen

Je grauer die Vergangen h e i t , umso beeindrucken d e r die grün-blaue Zuku n f t . Je extremer die Transforma t i o n umso eindrucksvolle r d i e Transformationsleist u n g .

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Neue Ästhetik und Emscherkunst Wandel erfordert auch, die Landschaften in den Köpfen der Menschen zu verändern und bestehende Negativassoziationen und Stigmatisierungen mit positiven, imagestärkenden und identitätsstiftenden Bedeutungen zu füllen. Hierfür ist die Indus­ trie­natur unerlässlich; so funktioniert die neue Verbindung aus Industrie und Natur insbesondere über ihr Innovationspotenzial. Sie erlaubt es, bestehende Ästhetikvorstellungen durch die Verknüpfung gegensätzlicher Elemente aufzubrechen und Sehgewohnheiten des vermeintlich Schönen aufzuheben. Das Innovative liegt in den kontrastreichen Landschaftskompositionen – rostige Hochöfen und grüne Pappeln, graue Halden und bunte Blüten, braune „Köttelbecke“ und farbenfrohe Artenvielfalt – und ihrer bewussten Abgrenzung von „natürlichen“ Naturlandschaften. Für den Innovationsimperativ bildet die Kunst eine notwendige Partnerin, so kreieren künstlerische Setzungen neuen Charme und machen die ungewohnt eigenwilligen Verbindungen aus Industrie und neuer Natur überhaupt erst vermittelbar. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Verbindung ist die Triennale Emscherkunst, eine internationale Kunstausstellung, die begleitend zur ökologischen Emscher-Umgestaltung ins Leben gerufen wurde. Sie entstand im Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010 und wurde in großen Teilen im Jahr 2018 als Emscherkunstweg unter der künstlerischen Leitung von Britta Peters verstetigt. Auf einem insgesamt 50 Kilometer langen Parcours thematisierten zeitgenössische Kunstwerke die urbanen, landschaftlichen und industriellen Transformationen. Verweise wie „Installationen auf der Fäkalien-Autobahn“ oder „Kunsterholungsreisen neben einem Abwasserkanal“ (Briegleb 2016) zeigen, dass die Emscherkunst ihre Innovationskraft aus dem Modus der Gegensätzlichkeit sowie einer

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Pia Eiringhaus (M.A./M.Ed) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und zuvor am Institut für soziale Bewe­gungen (ISB) an der Ruhr-Universität Bochum.

radikalen Ästhetisierung des Hässlichen schöpft. Gleichsam präsentiert sich die Region im Umgang mit ihrer Köttelbecke durchaus selbstironisch; so deutet insbesondere das Projekt der „Shit-Fountain“ auf die humoristische Spielart der ästhetisch-ökologischen Versöhnung an der Emscher-Flusslandschaft hin. Macht die Giftstoff-Fontäne bei Herne die alte Emscher mit künstlerischem Augenzwinkern zum Teil ihrer Transformation, wird das notwendige Zusammenspiel von Industrievergangenheit und Zukunftsvision, ökologischem Umbau und Renaturierung, irritierender Kunst und neuer Ästhetik deutlich. Fazit Das Projekt Emscher-Flusslandschaft bleibt beeindruckend, seine Tragweite unhinterfragt. Gleichsam ist es Teil der umliegenden – glücklicherweise zunehmend kontrovers geführten – kulturhistorischen Debatten um die Bedeutung der Industrievergangenheit für die Zukunftsfähigkeit der Region. Mit Blick auf den jüngsten Schlagabtausch (Berger 2021; Muschick 2021; Nellen 2021) zum Ruhrgebiet als Weltkulturerbe sei abschließend anzumerken, dass die gegenwärtige Geschichte der ökologischen Extremtransformation von „schwarz zu grün“ nicht ohne die Industrievergangenheit funktionieren kann, insbesondere im Fall der Emscher. Problematisch bleibt dennoch, dass die komplexe Vergangenheit häufig auf spezifische erinnerungskulturelle Topoi reduziert wird: als romantisierende Identitätsstifterin, als Negativfolie der grauen Vergangenheit oder als künstlerisch-ästhetisierender Innovationsboost. Haben diese Topoi mittlerweile auch Naturräume wie die Ruhr okkupiert (Eiringhaus 2020) – ein Fluss, der als natürliche, blaue Ader der Region eigentlich keiner Umdeutung bedurfte – so wird doch deutlich, dass eine kritische Ruhrgebietsforschung auch die grüne Erinnerungslandschaft konsequent gegen den Strich lesen muss. Ein Vorhaben, das durch die Aufnahme in die Welterbeliste erschwert werden könnte.

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Erin-Park in Castrop-Rauxel

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Zeche Zollverein, Schacht 12, in Essen

Emscher und BerneMündung am Berne­ Park in Bottrop

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Emscher-Promenade, Viadukt Hympendahl­ brücke und PhoenixWest in Dortmund-Hörde

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Hellbach-Unterquerung der A2, RecklinghausenSüd

Regionale

Perspektiv p Städtebau und Landschaftsgestaltung Emscher 21+

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Regionale Perspektivprojekte

Phoenix-See, und Hörder Bach in Dortmund-Hörde

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| Oliver Volmerich

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Ne u e Stadtlands c h a f PHOE N I X in Dort m u n d

Regionale Perspektivprojekte

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Labor Phoenix, Sitz des Architektur­büros Schamp und Schmalöer, Dortmund

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enn Richard Schmalöer aus den Fenstern seines Hauses in Richtung Süden schaut, blickt er auf eine grüne Landschaft, in der sich Vögel und allerlei anderes Getier tummeln. „Ein echtes Naturerlebnis vor der Haustür“, schwärmt der Dortmunder Architekt. Dieses Naturerlebnis beschert ihm seit einigen Jahren die Emscher auf ihrem Lauf durch Hörde. Richard Schmalöer, Jahrgang 1962, ist als gebürtiger Hörder mit der Emscher groß geworden. Und er kann deshalb besonders gut ermessen, wie „phänomenal“ die Veränderungen durch den Emscher-Umbau und das PHOENIXProjekt für den Dortmunder Stadtteil sind, der bis 1929 noch eine selbstständige Stadt war. Früher war der Emscher-Lauf in Hörde eine abgeschirmte Betonröhre mit oft übelriechender Abwasserfracht. „Das war das verbotene Tal“, erinnert sich Richard Schmalöer, „eine Tabuzone, die nicht betreten werden durfte.“ Säulen einer neuen Stadtlandschaft Heute suchen und finden nicht nur die Hörder im Emschertal Naturerlebnis und Erholung. Die neu entstandenen Wege entlang der renaturierten Emscher verbinden die beiden Säulen des PHOENIX-Projekts – den Phoenix-See im Osten und das alte Hochofenwerk Phoenix im Westen. Sie sind Brücken einer neuen Stadtlandschaft. Das frühere Laborgebäude des alten Hochofenwerks auf PhoenixWest ist Sitz des Architekturbüros Schamp und Schmalöer. Aus gutem Grund. 1992 entwarf der Architekt gemeinsam mit seiner Büropartnerin Susanne Schamp in einer Diplomarbeit an der Uni Dortmund eine Landschaft mit See als Nachfolgenutzung für das alte Hochofenwerk. 1998 erlosch tatsächlich der letzte Hochofen der dortigen Hermannshütte, das Werk wurde aufgegeben. Der See entstand später aber weiter östlich – auf dem früheren Gelände des PhoenixStahlwerks. Adressen „Für uns Architekten hat das PHOENIX-Projekt eine Art Sonderkonjunktur gebracht“, sagt Richard Schmalöer. Auf Phoenix-West, für den das Dortmunder Büro Stegepartner den städtebaulichen Entwurf geliefert hatte, haben sich mehr als 100 Unternehmen mit mehr als 4000 Beschäftigten angesiedelt. Weitere folgen. Rund 2500 Arbeitsplätze in mehr als 2000 Unternehmen sind rund um den Phoenix-See entstanden, der mit ca. 2200 neuen Wohnungen auch zu einer Top-Wohnadresse in Dortmund geworden ist. Viele Dortmunder Investoren engagierten sich hier – angefangen vom Hörder Bauunternehmen Freundlieb, das hier seinen neuen Firmensitz baute, über die Investorenfamilie Dreier, die die Hörder Burg zum Sitz der Sparkassen-Akademie NRW machte. Architekten und Stadtplaner, die im PHOENIX-Projekt mit engagiert waren, wie Drahtler Architekten und Pesch Partner, haben mittlerweile ihren Sitz am See oder wie Scheffler Helbich Architekten (SHA) und Schamp und Schmalöer auf Phoenix-West. PHOENIX brachte Dortmund aber auch auf die Landkarte überregionaler Investoren. Emscher-Umbau als Impuls Davon war noch nichts zu ahnen, als am 13. September 2005 Dortmunds Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer, der Chef der Dortmunder Stadtwerke (DSW21) Harald Heinze und der Vorstandsvorsitzende der Emschergenossenchaft Jochen Stemplewski den ersten Spatenstich für den Phoenix-See setzten. Die abgeräumte Brache des früheren Phoenix-Stahlwerks war damals eine riesige Wüstenlandschaft. Die drei Herren brachten mit dem Start des Jahrhundertprojekts Phoenix-See auch den Emscher-Umbau voran. Er war gewissermaßen der Geburtshelfer für das Seeprojekt. Denn die Anschubförderung aus EU- und Landes­töpfen lief über das Ökologieprogramm Emscher-Lippe-Raum (ÖPEL). 4,5 Milli­o­nen Euro flossen aus ÖPEL-Mitteln, weitere 10 Millionen aus dem Stadterneuerungsprogramm des Landes – bei Gesamtkosten von rund 210 Milli­ onen Euro. Auch baulich war der Emscher-Umbau eine Voraussetzung für den Bau des Phoenix-Sees. Denn bis zu 8 Meter tief unter dem alten Stahlwerksgelände verlief der Emscher-Kanal. Er musste verlegt werden, um die Voraussetzung für die Flutung der Senke am Rande von Hörde zu schaffen.

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Beein­druckende Industriekultur am Phoenix-See in Dortmund-Hörde: Blick auf den Hochofen PhoenixWest aus dem Bürogebäude von SHA Scheffler Helbich Architekten.

Entwurf aus dem eigenen Hause Es waren historische topografische Zusammenhänge, die Norbert Kelzenberg, Architekt im Dortmunder Stadtplanungsamt, zu der Idee animierten, das alte Stahlwerksgelände in Hörde in einen See zu verwandeln. Kelzenberg selbst nennt die ehemaligen Feuchtwiesen mit dem Flusslauf der Emscher und die kleinen aufgestauten Mühlteiche am Rand des damaligen Ortes Hörde als Ansatzpunkte. Der Seeentwurf, den man 1999 der Stadtspitze intern präsentierte, verschwand aber erst einmal im „Giftschrank“, wie es der frühere Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer ausdrückt. Denn noch wurde auf Phoenix Stahl produziert, wurde um den Erhalt von Arbeitsplätzen gerungen. Als das Ende des Stahlstandorts Hörde jedoch feststand, wurde der Entwurf Anfang des Jahres 2000 der Öffentlichkeit präsentiert, im Juni 2001 – nur zwei Monate nach der Stilllegung des Stahlwerks – die Phoenix-See-Entwicklungsgesellschaft als Tochter der Dortmunder Stadtwerke gegründet. Im August 2003 konnte der Bauantrag für See und Emscher bei der Bezirksregierung Arnsberg gestellt werden. Im Oktober 2010 begann nach Aushub und Geländemodellierung die Flutung des Sees. Emscher als bestimmendes Element Die Emscher war und ist elementarer Bestandteil des Seeprojekts – wobei erste Überlegungen, sie durch den See fließen zu lassen, aus wasserwirtschaftlichen Gründen schnell fallen gelassen wurden. Sie fließt seit Dezember 2009 im Norden um den See herum, eingebettet in eine naturnahe Auenlandschaft. Aber es gibt nicht nur naturräumliche Verbindungen: Über ein Wehr ist die Emscher mit dem See verbunden, der so im Bedarfsfall das Hochwasser des Flusses aufnehmen

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Regionale Perspektivprojekte

Oliver Volmerich ist Redakteur der Ruhrnachrichten in Dortmund.

kann. „Für mich das schönste Hochwasserrückhaltebecken der Welt“, stellt Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft, fest. 240.000 Kubikmeter Rückhaltevolumen zusätzlich zu den 600.000 Kubik­metern Wasser bietet der Phoenix-See. Er ist 24 Hektar, die gesamte Gewässerlandschaft mit den Emscher-Auen 37 Hektar groß. Sie ist mit der größten zusammenhängenden Schilffläche in Dortmund inzwischen eine Heimat für seltene Tier- und Pflanzenarten. Sogar Wein wird seit 2012 am Ufer von See und Emscher angebaut. Gelungener Natur- und Stadtraum Das PHOENIX-Projekt ist damit eine ganz besondere Verbindung aus Natur- und Stadtraum. „Es ist eine neue nachindustrielle Stadt entstanden, ein Ort, an dem die Menschen sich wohlfühlen“, stellte 2016 der Berliner Architekturkritiker Jürgen Tietz fest, der sogar vom „Wunder von Hörde“ spricht. 2018 wurde das PHOENIXProjekt mit dem Deutschen Städtebaupreis ausgezeichnet – als „Musterbeispiel für den exzellenten Strukturwandel“. Das Konzept ist aufgegangen, konnte sich der damalige Oberbürgermeister Ullrich Sierau freuen, der den Wandel in Hörde schon als Planungsdezernent mitgestaltet hatte. „Die Kombination aus urbanem, historisch gewachsenem Kern, einem Gewerbe-, Freizeit- und Kulturstandort sowie hochattraktiven Wohn-, Arbeits- und Dienstleistungsstandort am See ist überregional einzigartig“, hieß es zur Begründung für die Auszeichnung. Emscher-Anwohner Richard Schmalöer kann das nur bestätigen. „Der Emscher-Umbau war dabei die treibende Kraft“, stellt der Architekt fest. „Er war der entscheidende Faktor für die städtebauliche Entwicklung, die Hörde mit den PHOENIX-Projekten genommen hat.“

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Der neue Haupteingang zum IGA-Gelände und zur Kokerei Hansa

„Emscher nordw ä r t s “ und der Dortmu n d e r Zukunftsg a r t e n zur Internatio n a l e n Gartenausstellung   r u n um die Kokerei H a n s a

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Regionale Perspektivprojekte

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| Susanne Linnebach

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ortmund und seine Emscher: Rund 30 Kilometer des 83 Kilometer langen Flusses fließen quer durch das Stadtgebiet. In Dortmund finden sich bedeutsame Konversionsprojekte an der Emscher, die die Transformation und den Strukturwandel des Ruhrgebiets gleichsam manifestieren. Ehemalige Industriestandorte sind heute lebendige Quartiere, Wohnorte, Gewerbeparks, Erholungsräume, Seelandschaften und ökologisches Rückzugsareal für Flora und Fauna. Die Emscher ist heute teilweise präsent im Stadtbild, sie bleibt jedoch immer wieder den Blicken verborgen und ist nur durch die sie begleitenden Rad- und Fußwege erfahr- und erlebbar. Als die Entscheidung in Dortmund fiel, sich bei der Internationalen Gartenausstellung (IGA) 2027 zu engagieren, bewarb sich die Stadt mit einer Fläche im nördlichen Stadtteil Huckarde in direkter Lage an der Emscher und rund um die Kokerei Hansa. Nachdem zunächst die südlichen Altindustriestandorte entwickelt wurden, geht es nun weiter nordwärts. Damit war zugleich der programmatische Titel der Dortmunder IGA „Emscher nordwärts“ geboren, der zwei lokale Ansätze vereint: „nordwärts“ ist ein Dekadenprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensverhältnisse des immer noch wirtschaftlich darbenden Nordens der Stadt an die des prosperierenden Südens anzugleichen. „Emscher nordwärts“ steht zudem für eine beteiligungsbasierte Planung – gleichsam einer Graswurzelbewegung – die einen Kontrast zur Genese der IGA bildet. Gerade durch die vorhandenen Formate aus dem Projekt „nordwärts“ können partizipative Momente und Mitmachgelegenheiten als Bottom-up-Ansatz in ein bestehendes Top-down-Vorgehen integriert und Identifikation in der Zivilgesellschaft für eine nachhaltige Stadtentwicklung aufgebaut werden.

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Regionale Perspektivprojekte

rechts: Blick von der Mountainbikearena auf dem Deusenberg in Richtung City

unten: Renaturierte Emscher mit begleitenden Rad- und Fußwegen und der Brücke Porta Westfalica im Dortmunder Süden

Merkmale und Inszenierungsraum des Dortmunder IGA-Standortes Die Idee der IGA in Dortmund ist durch zwei wesentliche Merkmale gekennzeichnet: einen kostenlosen Inszenierungsbereich entlang der Emscher und einen eintrittspflichtigen Zukunftsgarten mit der ehemaligen Kokerei Hansa. Im Inszenierungsbereich werden die oben genannten Konversionsprojekte an der Emscher zu einer Erzählung des Strukturwandels zusammengefasst und durch eine durchgängige Rad- und Fußwegeverbindung entlang des Flusses sichtbar gemacht. Im Radwegesystem existieren aktuell noch drei Lücken auf Dortmunder Stadtgebiet, die bis zur IGA 2027 geschlossen werden sollen. Auch werden die Wegeführungen in die Quartiere an einigen Stellen nach Bedarf optimiert. Die Gestaltung der Emscher-Promenade orientiert sich architektonisch an der Gestaltung in den benachbarten Emscher-Kommunen. Infolgedessen ergibt sich eine gestalterische Einheit, die den regional verbindenden und bedeutsamen Charakter der Emscher betont. Die Entwicklung von SmartRhino – der ehemaligen Hoesch-Spundwand-Fläche in der westlichen Innenstadt und in direkter Emscher-Lage – zu einem modernen Hochschul- und Wohnquartier wird ebenfalls ein richtungsweisendes Projekt in NRW werden und soll 2027 im Rahmen der IGA präsentiert werden. Der Zukunftsgarten der IGA 2027 liegt nördlich von SmartRhino und umfasst die Entwicklung einer Parklandschaft zur IGA. Im Einzelnen besteht der Zukunftsgarten aus der ehemaligen Kokerei Hansa, dem Grünanger und dem Deusenberg.

rechts: Blick über die Kokerei Hansa mit der Kohlebandbrücke und der „schwarzen Seite“ der Kokerei in Richtung Grünanger und Deusenberg

Die ehemalige Kokerei Hansa Mittelpunkt und Haupteingangsbereich des Zukunftsgartens ist die ehemalige Kokerei Hansa. Sie ist Zeugnis der Industriekultur im Ruhrgebiet, steht unter Denkmalschutz und ist seit 1998 Sitz der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur. Entwicklungsziel der Industriedenkmalstiftung ist es, Industriehistorie zu vermitteln. Die Kokerei als begehbare Großskulptur mit einer spannenden Verbindung von Industriekulisse, Technik und Natur, die sich die alte Fabrikanlage zurückerobert, soll erhalten und die Gebäude sollen möglichst nachhaltig und rentierlich genutzt und vermarktet werden. Durch die Einbindung der Kokerei Hansa in die IGA wird diese Entwicklung vorangetrieben und unterstützt.

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Der Deusenberg In den Ausstellungsbereich werden Teile der Altdeponie Deusenberg einbezogen. Der Deusenberg ist seit 1997 rekultiviert und bereits heute weit über den Stadtteil hinaus als Naherholungsgebiet bekannt. Bei schönem Wetter suchen viele Menschen den Deusenberg auf, um die weite Aussicht über Dortmund zu genießen oder auf sportliche Weise die Mountainbikearena zu befahren. 2017 wurde auf dem Deusenberg eine Solaranlage in Betrieb genommen, die Energie wird in das Netz des lokalen Energieversorgers DSW21 einspeist. Der Deusenberg bildet die räumliche Schnittstelle zwischen Zukunftsgarten und Emscher und wird heute von der Emscher aus erschlossen. Hier existieren eine schmale Treppenanlage sowie drei Wege, die auf den Berg führen. Eine Verbindung zur Kokerei Hansa gibt es bislang nicht, da eine Strecke der Deutschen Bahn sowie Gleise der Museumsbahn Mooskamp den Deusenberg von der Kokerei Hansa trennen. Die IGA 2027 bietet die Chance, beide Areale über eine Brücke miteinander zu verbinden und so einen Erholungsort über das Jahr 2027 hinaus zu schaffen.

Planung Kokereipark, Dortmund-Huckarde

Der Grünanger Im Grünanger werden die klassischen Schaugärten, Bewegungsgärten und Spielplätze platziert. Die Architektur des Siegerentwurfs nimmt die klare Erschließungsidee zum einen mit der ehemals „schwarzen Seite“ und der Koksofenbatterie sowie zum anderen mit der „weißen Seite“, den Anlagen für die Gewinnung von Kohlewertstoffen und die Aufbereitung des Kokereigases der Kokerei Hansa auf und führt diese weiter in den Bereich des Grünangers. Die rauchenden Schlote zu Zeiten des Betriebs der Kokerei werden durch den Entwurf im Wolkenspielplatz auf dem Grünanger gespiegelt. Als weiteres wesentliches Element des Zukunftsgartens entsteht im Grünanger ein 6,5 Hektar großer Innovationscampus für Forschung, Produktion und Entwicklung von Energieformen und Technologien der Zukunft. In den Labor-, Büro- und Forschungsgebäuden soll an energiewirtschaftlichen, wasserstoffbasierten und digitalen Lösungen gearbeitet werden. In Huckarde sollen dadurch Start-ups und Technologiezentren zusammengebracht werden und zukünftig bis zu 2000 Menschen in diesem Sektor neue Beschäftigung bieten.

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Regionale Perspektivprojekte

Susanne Linnebach ist Leiterin des Amtes für Stadterneuerung der Stadt Dortmund.

Die IGA birgt die Cha n c e , Transformation zu gestal t e n , Investitionen zu generi e r e n und somit bleibende Park ,   W o h und Arbeitslandsch a f t e n zu schaf f e n .

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Planungsanforderungen, Zeithorizont und erhoffte Impulse Die IGA 2027 bezieht sich auf ökologische und gesellschaftliche Fragestellungen. Bei der Konzeption der Ausstellungsorte müssen Aspekte der Stadtökologie, des Klimawandels, der nachhaltigen Mobilität, des bewussten Umgangs mit wertvollen Flächen, der urbanen Landwirtschaft, der digitalen Transformation sowie der Landschaftsgestaltung in den Fokus genommen werden. Die Planungen umfassen dauerhafte bauliche Maßnahmen, die den IGA-Standort und die umgebenden Quartiere nachhaltig aufwerten sollen. Die besonderen Elemente für die Blumen- und Freiluftschauen sind nur für die Dauer der Gartenausstellung in der Zeit von April bis Oktober 2027 vorgesehen und werden nach der Ausstellung größtenteils wieder zurückgebaut. In der Jurysitzung am 2. Juli 2020 zum freiraumplanerischen Realisierungswettbewerb wurden die besten Entwürfe und Konzeptionen prämiert. Als Preisträger ist das Büro bbz landschaftsarchitekten berlin gmbh, Berlin, zusammen mit Wetzel & von SEHT GbR, Berlin, sowie W&V Architekten GmbH, Berlin, hervorgegangen. Mit dem Ende des Ausstellungsjahres endet auch der entgeltpflichtige Eintritt in den Zukunftsgarten. Die neu entstandene Parklandschaft ist danach frei zugänglich. Die langfristig vorgesehene naturnahe und extensive Gestaltung der Landschaft und eine an den Klimawandel angepasste Bepflanzung werden einen Beitrag zur Erhöhung der Biodiversität leisten. Der Zeitplan für die IGA ist ambitioniert. Bis 2027 müssen Grundstücksfragen und die Finanzierung geklärt, Planungen vorangetrieben und Bauvorhaben umgesetzt werden. Die IGA ist ein gemeinsames regionales Vorhaben der Durchführungsgesellschaft IGA gGmbH, des Regionalverbandes Ruhr, der Deutschen Gartenausstellungsgesellschaft sowie der beteiligten Kommunen. Es geht auf die Individualität aller Standorte ein und lässt dennoch einen inhaltlichen roten Faden erkennen. Aufgrund zahlreicher Partner ist der Abstimmungsbedarf zwischen den Akteuren hoch. Die Investitionskosten werden für den Standort Dortmund aktuell mit rund 50 Millionen Euro prognostiziert und werden im Nachgang zur IGA weitere wirtschaftliche Effekte evozieren. Schon jetzt setzt die IGA aber wichtige Impulse. So startet zum Beispiel eine Aquaponikanlage auf dem Ausstellungsgelände mit dem Versuch, Fischzucht mit Gemüseanbau und lokaler Distribution zu kombinieren. Sie ist zugleich ein Reallabor und soll zur Nachahmung motivieren. Die Wohnungswirtschaft geht voran mit nachhaltigen Quartierskonzepten, die im Ausstellungsjahr präsentiert werden und darüber hinaus einen städtebaulichen Mehrwert schaffen. Eine Planung, um die Lücken im Radwegesystem an der Emscher zu schließen, ist in vollem Gange. Hier unterstützt die Emschergenossenschaft sowohl finanziell als auch personell. Die IGA birgt die Chance, Transformation zu gestalten, Investitionen zu generieren und somit bleibende Park-, Wohn und Arbeitslandschaften zu schaffen, die den Ansprüchen an aktuelle energetische und ökologische Stadtentwicklungsziele entsprechen und ein positives Bild von der Metropolregion Ruhr vermitteln.

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Kommentar

Planung Vivawest für Dortmund-Huckarde

Ein Zukunftsg a r t e an der Ems c h e r

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Regionale Perspektivprojekte

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| Gerd Aufmkolk Planung Vivawest für Dortmund-Huckarde

Prof. Gerd Aufmkolk, Gründer und heute Mitgeschäftsführer von WGF Landschaft | Objekt | Beraten GmbH Nürnberg war 2020 Vorsitzender der Wettbewerbsjury für den Zukunftsgarten „Emscher nordwärts“.

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it der neuen Emscher entstehen zwischen dem Phoenix-See und dem Regenrückhaltebecken im Stadtteil Mengede Perspektiven für die Zukunft, die über das wasserbauliche Projekt weit hinausreichen. Das blau-grüne Band des Gewässers schafft Verbindungen entlang seines Verlaufs, aber ebenso quer dazu mit einem Netz kleiner Bäche in die angrenzenden Stadtteile. Rückseiten wandeln sich zu attraktiven Vorderseiten, ehemals Getrenntes wird wieder vernäht. Quartiere orientieren und ordnen sich neu. Öffentlichen Investitionen werden sicherlich private Anstrengungen folgen, an vielen Orten entsteht Neues. Der erfolgreiche Entwurf zeigt, wie – aus industriellen Hinterlassenschaften eine neue Stadtlandschaft wächst; – im Stadtgefüge große zusammenhängende Verbindungskorridore längs und quer zum Fluss entstehen und durch geeignete bauliche Elemente zusammenwachsen; – sich auf belasteten Böden durch eine Pflanzenwelt das Bild eines schönen Parks herausschält; – traditionell-industrielle Kompetenz genutzt wird für aktuelle technologische Herausforderungen im Bereich von Energie-Klimaschutz-Artenschutz-Mobilität. Entwurfsleistungen An dem ausgelobten internationalem Entwurfswettbewerb beteiligten sich 2020 16 Teams aus den Disziplinen Landschaftsarchitektur und Bauingenieurwesen. Für die weitere Realisierung empfahl das Preisgericht die Arbeit des Teams von bbz landschaftsarchitekten, Wetzel & von SEHT GbR, W&V Architekten (alle Berlin). Folgende Areale sollten zu einem schlüssigen räumlichen Gesamtgebilde zusammenfinden: – das Industriedenkmal der Kokerei Hansa als Monument ehemaliger Schwer­ industrie, in das die Natur schrittweise eindringt und für das ein regional weiter­gehender Antrag für den Status als UNESCO-Welterbe gestellt war; – der sogenannte Grünanger mit einem Hügel aus belasteten Böden, der im Rahmen der IGA 2027 die gärtnerische Leistungsschau und einen attraktiven Spielplatz umfassen wird; – die Einbindung eines neuen Technologiegebiets mit dem Cluster „Energie“; – die Einbindung des Bahnbetriebswerks Mooskamp als Haltepunkt der IGA-Hansabahn im Band „Emscher nordwärts“; – die Anbindung an den Deusenberg mit einem neuen Brückenbauwerk als „Haldensprung“ über mehrere Gleisanlagen hinweg zur besseren Erschließung – verbunden mit der gestalterischen Aufwertung dieses aus einer ehemaligen Mülldeponie entstandenen Berges. Bewertung und Ergebnis der Jury Der ausgewählte Entwurf bindet den Zukunftsgarten in den größeren Zusammen­ hang von „Emscher nordwärts“ ein. Die vorhandenen Elemente und Reste der postindustriellen Landschaft werden nicht verfremdet, sondern aufgegriffen und weiterentwickelt. Sie erfahren durch ihre Verknüpfung eine parkartige Ausstattung, realisieren einen neuen Parktyp, der seine Geschichte erzählt, zeitgerechte Inhalte und Angebote bietet und einen spannungsvollen Übergang aus dem Siedlungsraum in die offene Landschaft formuliert. Der Zukunftsgarten erhält somit ein eigenständiges, an den Gegebenheit orientiertes Gesicht, er greift nicht auf historische Vorbilder zurück, zeigt Authenzität und Originalität. Er vermeidet modisches Gehabe. Die Ausstellungsinhalte der IGA sind an den richtigen Orten platziert, sie kontrastieren wohltuend mit ruhigen, unaufgeregten Bereichen. Die Kokerei verbleibt als industrielle Großskulptur in ihrer herausragenden Position, Zugänge und Wegeverläufe, Ausstellungsschwerpunkte und -inhalte sind funktional richtig geordnet. Die Komposition zwischen offenen Flächen und geschlossenen Pflanzungen ist ausgewogen und gut gegliedert. Der Spielplatz als Wolkenund Nebelmaschine krönt das Landschaftsbauwerk im Grünanger und wird ein besonderer Anziehungspunkt für alle Besucher werden. Der Entwurf zeigt auf erfreuliche Weise, wie sich die Ansprüche einer nachhaltig und dauerhaft organisierten Freiraumstruktur verbinden lassen mit denen einer temporären Festivalisierung. Er ist alles in allem ein starker Impuls für die Aufwertung ihres industriell überformten Dortmunder Nordens, ein großartiges Entree für die IGA Metropole Ruhr 2027.

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Regionale Perspektivprojekte

Bau des Natur- und Wasser-Erlebnis-Parks in Recklinghausen/ Castrop

| Martina Oldengott

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ine gescheiterte Landesgartenschaubewerbung erwies sich auf den zweiten Blick als großes Glück. Nun entsteht stattdessen auf diesen Flächen, im Eigentum der Emschergenossenschaft und auf den Stadtgebieten von Recklinghausen und Castrop-Rauxel gelegen, ein Naturund Wasser-Erlebnis-Park mit dem Schwerpunkt auf Naturerleben, Natur- und Umweltbildung. Für die Emscher und den Suderwicher Bach werden große Auen geschaffen und damit wird die eigendynamische ökologische Entwicklung beider Gewässer initiiert. Für die Internationale Gartenausstellung (IGA) Metropole Ruhr 2027 ist es der erste Zukunftsgarten, der bereits 2023 fertiggestellt sein wird und einen Preview auf das dezentral organisierte internationale Garten­ festival im Jahr 2027 möglich macht. 2015 hatten sich die Kommunen Herne, Herten, Recklinghausen und Castrop-Rauxel gemeinsam mit der Emschergenossenschaft um die Ausrichtung der Landesgartenschau 2020 beworben. Kern des Konzepts war es, die freiräumlichen und landschaftlichen Potenziale entlang der Emscher zu heben und sie durch eine Promenade am Wasser miteinander zu verbinden. Das eigentliche Schaugelände war auf einer etwa 32 Hektar großen Fläche am Wasserkreuz in Castrop-Rauxel und auf Flächen der Stadt Recklinghausen vorgesehen. Auch wenn aus Sicht der Bewertungskommission der dezentrale interkommunale Ansatz des Gesamtkonzepts den Rahmen einer Landesgartenschau sprengte, ermutigten die in das Auswahlverfahren involvierten Landesministerien die vier Städte und die Emschergenossenschaft, die Projektidee weiterzuverfolgen und auf anderem Wege Fördermittel für die Realisierung einzuwerben. Solchermaßen ermutigt, setzten die Akteure ihre Zusammenarbeit fort und luden den Regionalverband Ruhr zur Mitwirkung ein. Aus der spontan für die Gartenschaubewerbung gegründeten Arbeitsgruppe entwickelte sich eine gut funktionierende interkommunale Projektorganisation mit Geschäftsführung und regelmäßigen Projektgruppentreffen auf der Grundlage eines von den Stadtspitzen, dem Vorstandsvorsitzenden der Emschergenossenschaft sowie der Regionaldirektorin unterzeichneten Kooperationsvertrags. Erster gemeinsamer Schritt

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Entwurf „Spring über die Emscher“

war die Erarbeitung eines Integrierten Handlungskonzepts. Ziel war nun, sich im Rahmen eines Förderaufrufes 2017 um Zuwendungen aus der „Grünen Infrastruktur“ NRW zu bewerben. Auf der Suche nach einer zündenden Leitidee, die sich ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich als tragfähig erweisen sollte und sich der Konkurrenz zu vielen weiteren beim Land eingehenden Handlungskonzepten stellen könnte, gaben eher zufällig Jugendliche den entscheidenden Impuls. Die Emschergenossenschaft war 2013 eine Kooperation mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis NRW e.V. eingegangen. Diese föderalistisch strukturierte Bundesinstitution mit Dependancen in verschiedenen Bundesländern engagiert sich dafür, auf außerschulischem Weg die Freude und Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen am Lesen und Schreiben zu steigern. Gefördert durch das Land, den Initiativkreis Ruhr und den Bund haben der Friedrich-Bödecker-Kreis NRW, die Emschergenossenschaft sowie viele weitere Unterstützer und Geldgeber es insgesamt ca. 480 jungen Menschen ermöglicht, gemeinsam zehn Romane, Krimis, Theaterstücke, Hörspiele zu schreiben. Im siebten Roman mit dem Titel Willkommen@Emscherland haben sie sogar zusammen einen Park entworfen, den Emscherland-Park, in den hinein sie ihre Romanhandlung verlegten. Schnell geriet der eigentliche Hauptstrang der Erzählung um einen kriminellen Immobilienhai zu einer Nebenspur. Im Mittelpunkt stand nun die Idee der Jugendlichen, den Park nicht nur zu konzipieren, sondern auch zu bauen und zu einem ökologischen Produktionsstandort zu entwickeln, der den an der Schreibwerkstatt beteiligten Autorinnen und Autoren eine Ausbildung und Beschäftigung bieten sollte. Rund um die vom Abwasser befreite Emscher und den Suderwicher Bach wuchsen deshalb nun in dem Entwurf Streuobstwiesen, ein Weinberg, ein Bienenhaus mit Imker, Gärten mit alten Gemüsesorten und Kulturpflanzen sowie ein Gärtner- und Gartenbaustützpunkt für die Verarbeitung der Schätze aus der Natur heran. Mit diesem Konzept haben uns die Jugendlichen die Leitidee für das integrierte Handlungskonzept geschenkt und es gelang nicht nur, die Mittel für die bauliche Realisierung einzuwerben. Gemeinsam mit dem Kreis Recklinghausen löste die Emschergenossenschaft auch den Ausbildungs- und Beschäftigungsanspruch auf der Grundlage ökologischer Systemleistungen ein. Sechs Partnerinnen

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Regionale Perspektivprojekte

und Partner, Beschäftigungsgesellschaften sowie der Kreisgartenbaulehrbetrieb als Kooperationsbetrieb mit Ausbildungslegitimierung bilden nun bereits den zweiten Gärtnerjahrgang aus. Im kommenden Jahr startet ein weiterer Jahrgang mit einer Ausbildung im Parkmanagement. Das Herzstück des Parks sind die beiden naturnah umgestalteten Gewässer des Suderwicher Bachs und der Emscher. Westlich des Suderwicher Bachs, vom nördlichen Parkeingang kommend, liegen die kleinen Themengärten mit verschiedenen Pflanzenschwerpunkten, was, um nur einige Beispiele zu nennen, jahreszeitliche Blühaspekte, Farben, Düfte, Heilwirkung und florengeschichtliche Aspekte betrifft. Bei der Materialverwendung und den Bauweisen wird darauf geachtet, dass die Auszubildenden möglichst viele Facetten des Lehrberufs zum Landschaftsgärtner und zur Landschaftsgärtnerin bei der Herrichtung des Natur- und Wasser-Erlebnis-Parks erlernen können. Gärtnerisch intensiv gestaltete Partien wechseln mit großzügig und offen angelegten Freiräumen, wie der Streuobstwiese und dem Weinberg auf den Emscher-Terrassen, der südöstlich der Emscher liegt, ab. Nahe der Streuobstwiese ist das Imkerhäuschen platziert. Ein in Holzmodulbauweise konstruiertes Gebäude dient den angehenden Gärtnerinnen und Gärtnern als Stützpunkt für Gerätschaften, Fortbildung, Pausen und später auch als Anlaufpunkt für Besucherinnen und Besucher im Rahmen des Parkbetriebs. Der Suderwicher Bach, mehr als 100 Jahre ein in Betonschalen geführtes schnurgerades Gerinne, mündete über ein fast 10 Meter hohes massives Absturzbauwerk aus Beton in die Emscher. Künftig schwingt sich der Bach weit ausladend durch den Park und mündet mit sanftem Gefälle weiter westlich in die Emscher. Das Absturzbauwerk bleibt als Reminiszenz an die mehr als hundertjährige Rolle der Emscher als oberirdischer Abwasserkanal bestehen. Über eine sichelförmig geschwungene, 450 Meter lange, stählerne Zügelbrücke gelangen die Besucherinnen und Besucher, die auf dem EmscherWeg von Osten am Wasserkreuz Castrop-Rauxel ankommen, auf kurzem und sicherem Weg über den Rhein-Herne-Kanal und die Emscher hinweg zum Naturund Wasser-Erlebnis-Park, ohne den Rhein-Herne-Kanal über die stark befahrene weiter nördlich liegende Brücke queren zu müssen.

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rechts: Entwurf der Jugendlichen für den Natur- und Wasser­ Erlebnis-Park

oben: Emscher an Natur- und WasserErlebnis-Park in Recklinghausen/ Castrop-Rauxel

Die Emscher ist zu einem präge n d e Element des einzigart i g e n Landschaftsbildes aus  Hal d e n , Bergsenken und  line a r e n Infrastrukturen gewor d e n .

Wasserwirtschaftlich handelt es sich bei diesem Wasserkreuz insofern um einen besonderen Ort, als die Emscher den Rhein-Herne-Kanal, einen der bedeutendsten binneneuropäischen Berufsschifffahrtskanäle, unterquert. Das Abwasser wird am Wasserkreuz in etwa 8 Metern Tiefe durch den neuen unterirdischen Abwasserkanal geleitet. Diese Schichtung der Wasserinfrastrukturen – unterirdischer Abwasserkanal, Emscher und Rhein-Herne-Kanal befreit vom Abwasser – in jeweils ca. 8 Höhenmeterabständen führte zu dem Konzept, über all diese Gewässer ein Brückenbauwerk, den „Sprung über die Emscher“ zu führen, das sich, dem notwendigen Lichtraumprofil für den Berufsschifffahrtsverkehr entsprechend, in 10 Metern Höhe über den Rhein-Herne-Kanal spannt. Ursprünglich war im Konzept der Jugendlichen die Idee enthalten, über einen Besucherschacht die nun im Untergrund verschwundene „schwatte“ Emscher in der Tiefe „besuchen“ zu können und weiterhin erlebbar zu machen. Die Emscher hat die erfolgreiche Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer bedeutenden europäischen Montanregion erst möglich gemacht. Sie ist zu einem prägenden Element des einzigartigen Landschaftsbildes aus Halden, Bergsenken und linearen Infrastrukturen geworden und weit mehr als nur ein Abwasserkanal gewesen. Die Realisierung des Besucherschachts erwies sich als unmöglich in der realen, physischen Umsetzung. Deshalb ist nun das Ziel, die „schwatte“

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Regionale Perspektivprojekte

Dr. Martina Oldengott ist Landschaftsarchitektin und Kunsthistorikerin. Für die IGA 2027 hat sie die Projektleitung inne und ist für die fachlichen Inhalte der Gartenausstellung verantwortlich.

Emscher virtuell erlebbar zu machen, einschließlich der Wassergeräusche und Gerüche, die mehr als 150 Jahre fester Bestandteil des Alltags im Ruhrgebiet waren. Die Städte Recklinghausen, Herne und Herten zusammen mit dem Regionalverband Ruhr setzen zeitgleich ihre in das räumliche Handlungskonzept eingesteuerten Projekte um: Beispielhaft seien der AktivLinearPark, der die Halde Hoheward in Herten mit der Emscher verbindet, ein Park am Wasser in Herne und die Aufwertung der Halde Hestermann in Recklinghausen genannt. Sie reihen sich wie Perlen an der Emscher-Promenade über eine Strecke von ca. 18,5 Kilometern Länge auf und werden ergänzt durch etwa 30 Er­­ lebnisstationen an den Emscher-Ufern. Diese Emscher-Promenade soll bis zur IGA 2027 sowohl nach Osten durch die Stadt Dortmund hindurch als auch nach Westen bis an die Stadtgrenze von Essen weitergeführt werden. Sie verbindet als IGA-Radweg die Zukunftsgärten Dortmund, Emscherland und Gelsenkirchen klimafreundlich auf kurzer und barrierearmer Strecke. Alle baulichen Maßnahmen werden im Wesentlichen ermöglicht durch öffentliche Förderung aus Mitteln der „Grünen Infrastruktur“, Mitteln zur Erfüllung der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie und einer Förderung des Bundes im Rahmen der „Nationalen Projekte des Städtebaus“.

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Wettbewerbsentwurf Paul Giencke, GMO13.la, Berlin (1. Preis)

Der Fluss m i t „unseren Gä r t e n “ . Zukunft s i n s e l mit Nordster n p a r k

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Regionale Perspektivprojekte

| Christoph Heidenreich, Christoph Prinz

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er Nordsternpark als integraler Bestandteil der Zukunftsinsel in Gelsenkirchen verkörpert seit der Bundesgartenschau (BUGA) 1997 einen Ort, der von der Gelsenkirchener Bevölkerung geliebt und geschätzt wird. 30 Jahre nach seiner Entstehung wird er im Jahr 2027 zu einem Ort ent­ wickelt, der Zukunftsthemen diskutiert und in den Mittelpunkt stellt. Um die gesamtstädtische Bedeutung des Nordsternparks und der Zukunftsinsel zu begreifen, muss man die Lage im Stadtgebiet sowie die geografische Einordnung in der Emscher-Zone betrachten. In der Hochphase des Kohleabbaus war die Insel zwischen der Emscher im Norden und dem Rhein-Herne-Kanal im Süden ein Ort der Produktion, der Logistik und der Abwasserbeseitigung. Die Zeche Nordstern wurde im Jahre 1993 stillgelegt. Bis dahin fanden sich auf der Insel Großkokereien, Verladehäfen und Kohlenlagerstätten. Es war kein Ort, an dem sich eine Gelsenkirchenerin oder ein Gelsenkirchener gerne in der Freizeit aufhalten wollte. Öffentlichen Freiraum, gar qualitätsvolle Freiraumstrukturen suchte man vergeblich. Die Insel konnte erst nach dem Niedergang der Montanindustrie und dem einhergehenden Strukturwandel ein neues Gesicht gewinnen. Sowohl die BUGA 1997 als auch die zeitgleiche Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park 1989– 1999 als gesamträumliche Überformung beförderten diesen Transformationsprozess. In derselben Phase wurde mit dem ökologischen Umbau des EmscherSystems begonnen. Nach den Erfolgen der IBA begannen weitere Revitalisierungsmaßnahmen, die den Anspruch hatten, sogenannte „Unorte“ im Bereich der Peripherie der Insel in Areale für Leben, Wohnen und Arbeiten zu verwandeln. Verknüpft damit war auch das Ansinnen der Stadt, den Menschen Räume zugänglich zu machen, die jahrzehntelang nicht zur Verfügung standen und die dem Bedürfnis der Stadtgesellschaft auf ein neu ausgerichtetes Freizeitverhalten gerecht werden sollten. Jüngstes Beispiel dafür ist das Quartier Graf Bismarck, ein neuer Stadtteil am Wasser mit hoher Wohnqualität und hochwertigem, nicht störendem Gewerbe und einem verträglichen Dienstleistungsangebot, geprägt von einer qualitätsvollen Stadtgestalt des öffentlichen Raumes. Regional betrachtet

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Detail Umfeld Wendebecken am Rhein-Herne-Kanal (aus dem erstplatzierten Wettbewerbsentwurf)

befindet sich die Gelsenkirchener Zukunftsinsel in zentraler Position des Emscher Landschaftsparks (ELP), der die grüne Mitte der Metropole Ruhr bildet. Durch die Entwicklung des Emscher Landschaftsparks entstanden auf der Zukunftsinsel weitere Freiraumqualitäten, die dazu beigetragen haben, dass sich die Menschen hier wohl fühlen. Der Nordsternpark ist einer von insgesamt 25 Ankerpunkten der „Route der Industriekultur“. Die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit der Insel ist städtisch wie auch regional betrachtet durch die Errichtung von Wegetrassen sowohl in OstWest-Richtung, aber auch durch Grünzüge in Nord-Süd-Ausrichtung deutlich verbessert worden. Trassen wie der Emscher Park Radweg, die Zollverein-Trasse oder auch die Hugo-Trasse werden durch Freizeitsuchende stark frequentiert. Impulse und Planungserfordernisse sowie das Zukunftsszenario der Insel In der Stadtgesellschaft wird die Insel jedoch immer noch als eher trennendes statt verbindendes Element wahrgenommen. Die Verzahnung der angrenzenden Stadtteile ist nur im Bereich des Nordsternparks durch die dortigen Brückenfamilien der BUGA gelungen. Die Stadtteile Horst und Hessler konnten hier mit einem grünen Herzen zusammenwachsen. Für den Stadtteil Schalke-Nord wird diese Anbindung und Vernetzung angestrebt und soll in den nächsten Jahren gelingen. Die ersten skizzenhaften Ideen zum IGA-Konzept in Gelsenkirchen erkannten diese städte- und freiraumplanerischen defizitären Aspekte und sollten sowohl die Anbindung der benachteiligten Stadtteile als auch die Verknüpfung zu den Nachbarkommunen herstellen. So war es nur logisch, nach einem längerem Abstimmungsprozess den bestehenden Nordsternpark im Zuge der IGA bis auf die Flächen der Stadt Essen zu erweitern. Über die noch zu qualifizierende Emscher-Promenade sollen die östlich gelegenen Stadtquartiere angebunden werden. Der „alte“ Nordsternpark soll im Sinne der BUGA 1997 weitergedacht und weiterentwickelt werden, ohne dass dessen jetzt schon fast historischen Grundgestaltungselemente verschwinden. Es geht hierbei vielmehr um die zukunftsgerichtete Neuinterpretation einer beliebten Stadt-Landschaft. Dies soll sich sowohl im Umgang mit einer klimaangepassten Pflanzenverwendung als auch in einem innovativen Wassermanagement widerspiegeln. Die trennende Wirkung der Insel kann durch neue Freiraumqualitäten aufgehoben werden. Sie soll als verbindendes Rückgrat zwischen den nörd-

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Regionale Perspektivprojekte

Zwischen Amphitheater und Kohlebunker (aus dem erstplatzierten Wettbewerbsentwurf)

Christoph Prinz ist Landschaftsarchitekt und Leiter der Stabsstelle IGA 2027 bei der Stadt Gelsenkirchen. Christoph Heidenreich ist Stadtbaurat der Stadt Gelsenkirchen.

lichen und südlichen Stadtteilen verstanden werden. Die Stadtbevölkerung kann nach der IGA die neu geschaffenen Freizeitorte der Insel nutzen und von ihnen langfristig profitieren. Teilprojekte wie die Transformation des von den Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer erbauten Kohlenbunkerensembles zu einem kulturellen und gastronomischen Produktionsstandort mit Reallabor zur Klimafolgenanpassung sorgen für eine vielschichtige Stärkung des Ortes. Hier wird die Geschichte von Schwarz (Kohle) zu Grün (urbane Pflanzenproduktion) und Blau (Wassermanagement) erlebbar gemacht. Ein Leuchtturmprojekt des IGA-Ausstellungskonzepts und der Klimafolgenanpassung kann so entstehen. Als ein weiteres wichtiges Teilprojekt soll das ehemalige Wendebecken des Hafens der Zeche Nordstern zu einer Freizeitdestination mit direktem Wasserbezug entwickelt werden. Der Ort lebt von seiner Insellage zwischen den Gewässern. Im Sommer kann überall am Rhein-Herne-Kanal beobachtet werden, wie die Stadtbevölkerung die Wassernähe sucht und das Wasser auch bereits jetzt nutzt. Die Insel soll zukünftig Möglichkeiten eröffnen, den Wasserraum auch im Hinblick auf die immer extremeren Hitzeperioden sicher und kontrolliert aufzusuchen. Das Thema „Mobilität der Zukunft“ wird während der IGA den Besu­­ chenden auf dem Bezahlstandort nähergebracht werden und stellt einen wichtigen Ausstellungsinhalt dar. Durch die lang gestreckte Ausrichtung des Ausstellungsgeländes soll sowohl landseitig als auch auf dem Rhein-Herne-Kanal ein entsprechendes Angebot geschaffen und präsentiert werden. Zeitplan und finanzielle Umsetzung Nach dem verabredeten Zeitplan werden alle investiven Baumaßnahmen bis 2025 abgeschlossen sein. Danach wird die IGA Metropole Ruhr 2027 gGmbH die Flächen übernehmen, um die temporären Gartenschauelemente zu implementieren. Das bedeutet, die Planungsphase muss bis Ende 2022 zum Abschluss gebracht werden, damit die gut zweijährige Bauphase nachfolgen kann. Gegenwärtig sind für die Umgestaltungsarbeiten des Nordsternparks rund 15 Millio­nen Euro Landes- und Bundesfördermittel etatisiert. Weitere Mittel für die temporären Ausstellungsinhalte werden noch von der IGA Metropole Ruhr 2027 gGmbH hinzukommen, Komplementärförderungen ergänzen das Budget. Für den Gewässerausbau der Emscher und des einmündenden Schwarzbaches werden Mittel der Emschergenossenschaft fließen.

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Kommentar

Architekturwettb e w e r Zukunftsi n s e l mit Nordster n p a r k

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| Ina Bimberg

m offenen Wettbewerb für die „Zukunftsinsel Nordsternpark+“ haben sich insgesamt 14 Büros beteiligt. Die Mehrzahl der Beiträge zeigte einmal mehr die aktuelle Dominanz der Berliner Landschaftsarchitekten im gesamtdeutschen Wettbewerbsgeschehen und insbesondere bei der Planung von Gartenschauen. Die dabei für den Zukunftsgarten Gelsenkirchen eingereichten Entwürfe beschäftigen sich nicht nur mit Gartenschau-Szenarien und tragfähigen Konzepten für einen neuen Typus Landschaftspark, sondern widmen sich auch der für die IGA 2027 bestimmenden Frage: „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ Entwürfe: Vielfalt und Bezug zur montanen Vergangenheit Die Bandbreite der Ideen reicht von ausgedehnten Wildstaudenpflanzungen, Wiesenlandschaften oder abgestuften Waldtypen über differenzierte Konzepte zu Reinigung, Retention und multipler Nutzung von Wasser bis hin zu gemeinschaftlich nutzbaren Grabeflächen, Feldern und Gewächshäusern für den solidarischen Eigenanbau von Obst und Gemüse in bester Bergbautradition. Manche Entwürfe offenbaren, dass zwischen dem Wunsch nach konsequent ökologischen Ansätzen und „Eventisierung“ der Emscherinsel durch spektakuläre Interventio­ nen bisweilen nur ein schmaler Grat verläuft. Erstaunlich auch, dass einige Vorschläge die Zukunftskonzeption in der kohlegeprägten Vergangenheit bzw. Geologie des Ortes zu finden glauben und dafür Plätze in Gestalt von „Koksbrocken“ oder kohleschwarzen „Karbongärten“ aufrufen. Empfehlung: klimaneutraler energieautarker Park in einer postindustriellen Landschaft Ausschlaggebend für den 1. Preis und die mögliche Weiterbeauftragung des Büros „Paul Giencke, GMO13 Landschaftsarchitektur“ sind ein gleichermaßen starkes wie differenziertes räumliches Grundgerüst für den neuen Park auf der Emscherinsel und eine hohe Qualität der als besonders bedeutsam herausgearbeiteten Teilbe-

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Regionale Perspektivprojekte

Ina Bimberg ist Inhaberin des seit 1986 bestehenden Büros BIMBERG Landschaftsarchi­ tekten in Iserlohn und war 2021 Vorsitzende der Jury für die Gestaltung des IGAZukunftsgartens ,,Emscherinsel Nordsternpark‘‘ Gelsenkirchen.

reiche rund um den genannten „Greentower“, einen konvertierten Kohlebunker im Osten bzw. das Wendebecken am Rhein-Herne-Kanal in der Mitte des Parks. Der siegreiche Wettbewerbsbeitrag verknüpft – so das Urteil der Jury – mit dem Konzept eines klimaneutralen und energieautarken Parks in der Neuinterpretation einer insularen, postindustriellen Landschaft gekonnt das ruppige Potenzial des Bestandes, den seit der BIGA 1997 bestehenden NordsternPark und die zukunftsorientierte Programmierung des Geländes zu einem spannungsvollen wie eigenständigen Ensemble. Im Spiel differenzierter Gehölzstrukturen und Wiesen unter Einbe­ ziehung späterer natürlicher Sukzessionsprozesse entsteht auf der Insel ein räumlich spannungsreicher Wechsel dichter, lichter und offener Bereiche. Entlang der Emscher soll als grünes Rückgrat des Zukunftsgartens nach und nach ein Waldsaum entstehen, zusammen mit dem Fluss ein Symbol für die „Grün-Blauen Infrastrukturen“ des sich verändernden Ruhrgebiets. Gelungenes System von Wege- und Blickachsenachsen mit attraktiven Erschließungen Als Labor für das Miteinander zeitgemäßer, umweltgerechter Fortbewegungsund Transportformen fungiert eine ca. 1,7 Kilometer lange „Mobilitätsachse“. Diese erschließt während der IGA 2027 mit einem autonomen Shuttleservice alle wesentlichen Sehenswürdigkeiten, dient langfristig aber als Radschnellstrecke und komfortable Freizeitachse, angeschlossen an öffentliche Verkehrsmittel sowie an den touristischen Schiffsverkehr auf dem Rhein-Herne-Kanal. Eine geschickte Abfolge querender, leichterer Wegeachsen sichert zusätzlich eine netzartige Erschließung der Insel und inszeniert auf reizvolle Weise die vielen besonderen Raumsituationen zwischen Sukzessionswald und offenem Kanalblick, zwischen Senken, Rasenpyramide und Gehölzgruppen. Das heute ungenutzte Wendebecken, ein von Spundwänden geprägtes Hafenrelikt der Zeche Nordstern am Rhein-Herne-Kanal, gewinnt mit einem filigranskulpturalen Badesteg, einem Café, mit sonnenexponierten Terrassen und einem großen Spielbereich in unmittelbarer Nachbarschaft alle wesentlichen Attribute, um zu einem hochattraktiven Freizeitort zu werden. Die Zurückhaltung der Gesten, der Verzicht auf laute oder schrille Elemente in der Gestaltung sind wohltuend. Mit dem besonderen Kunstgriff einer Geländeabsenkung zum Kanal schließlich befreit der Siegerentwurf das Umfeld eines ehemaligen Kohlenbunkers, des „Green Towers“ aus seiner abseitigen Lage und verbindet es über Blütenböschungen und Rasenmodellierungen visuell mit dem Wasser. Den Verfassern gelingt es so, abgleitet aus dem ursprünglichen Vokabular von Achsen und Böschungen, auf der Insel mit einer verbindenden und doch eigenen Sprache eine neue Parklandschaft zu entwickeln, die eine hohe, in die Zukunft gewandte atmosphärische Dichte aufweist und in die sich die Ausstellungsinhalte der Gartenschau selbstverständlich werden einfügen lassen. Weitere Auszeichnungen Mit dem 2. Preis wurde das Büro „bbzl böhm benfer zahiri“ ausgezeichnet, zuletzt verantwortlich zeichnend für die Landesgartenschau 2020 in Kamp-Lintfort. Der 3. Preis ging an das Büro Franz Reschke, beides zur Zeit sehr erfolgreiche Berliner Landschaftsarchitekturbüros, die immer wieder unter den Preisträgern großer Wettbewerbe zu finden sind. Eine Anerkennung erhielt das Hannoveraner Büro „mesh landschaftsarchitekten“ für ein poetisches Konzept mit vielfältigen Lebensräumen zwischen Wald und offenen Flächen, weiten Blütensäumen und Wiesenrändern, in die die Präsentationsflächen für das halbjährige Fest der Gartenschau geschickt eingebunden waren.

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Regionale Perspektivprojekte

| Martin Harter, Bernd Tischler

Machbarkeitsstudie „Freiheit Emscherr‘‘, Visualisierung Nukleus, ARGE Freiheit Emscher

„Freiheit Ems c h e r “ – Strukturwa n d e l im let z t e n „Industrie-Dschu n g e l “ der Emscher - Z o n e

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nde ist immer auch Anfang: Der Rückzug des Steinkohlenbergbaus und die Revitalisierung seiner Industriebrachen haben in Bottrop und Essen seit den 1960er Jahren städtebauliche Neuentwicklungen befördert. Insbesondere im Zuge der Internationalen Bauauststellung (IBA) Emscher Park 1989–1999 wurden große Erfolge erzielt. Zugleich gab es aber immer wieder Einzelareale, die nur sehr schwer oder gar nicht erschlossen werden konnten und somit einer gestaltenden Stadtentwicklung nur begrenzt zur Verfügung standen. Dazu gehörten die verbleibenden Montanflächen im Bottroper Süden und Essener Norden, die nun das Projekt „Freiheit Emscher“ umfassen. Über die Jahre, in denen auf solchen Flächen nicht die gewünschte Nutzung entstehen konnte, reifte die Erkenntnis, dass diese stadträumlichen Fragmente nur wiederbelebt werden können, wenn sie in einen neuen Gesamtkontext gelangen. Zeitgleich wuchs bei den beteiligten Planungsadministrationen die Absicht, diese Aufgabe gemeinsam anzugehen, um das Bestmögliche für den Gesamtraum zu erreichen und das Areal schrittweise additiv zu formen und zu gestalten. 2018: Initialjahr für die große Konversion Die Ankündigung, dass in Bottrop 2018 mit der Schließung der Zeche Prosper Haniel die Epoche des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet endgültig zu Ende geht, war der entscheidende Impuls, um die Konversion dieses zwischenstädtischen Raumes – von Hans-Jürgen Best, dem ehemaligen Chefplaner der Stadt Essen gern als der letzte „Industrie-Dschungel“ in der Emscher-Zone bezeichnet – anzugehen. Seit 2016 arbeiten in einer verbindlichen Kooperation die drei Partnerinnen Stadt Bottrop, Stadt Essen und RAG Montan Immobilien GmbH zusammen, formulieren gemeinsam die notwendigen Förderanträge, stimmen sich mit allen Behörden ab und beauftragen gemeinsam jene externen Fachleute, die den Prozess inhaltlich verfeinern und neue Ideen beisteuern. Raum- und Formatbezüge zur Emscher Die Zone um Emscher und Rhein-Herne-Kanal ist durch regionale Planungs- und Projektformate wie den Emscher Landschaftspark (ELP), den „Strom der Bäume“ (einem Szenario für die Retentionsareale der Emscher) oder die Emscherinsel angereichert worden. Auch der genannte „Kultur-Kanal“ als jährliches Fes­ tivalprogramm und die künstlerischen Inszenierungen entlang der Emscher im Kul­turhauptstadtjahr 2010 haben dem Raum neue Aufmerksamkeit und strategische Perspektiven vermittelt: 2006 erschien der Masterplan „Emscher-Zukunft:

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Das neue Emschertal“. Allerdings änderten diese Formate des Strukturwandels nichts an den defizitären Erschließungssystemen und der industriellen Nutzung der Flächen in zentraler Lage zwischen den beiden Städten Bottrop und Essen. Machbarkeit: Bedarfe und Ideen Die gemeinsame Machbarkeitsstudie der ARGE Freiheit Emscher (Stahm Architekten, Land Germany, shp Ingenieure) zeigte nach zweijähriger Bearbeitung 2019, dass eine Neuausrichtung nur gelingen kann, wenn das stadträumliche Gesamtgefüge mannigfach verbessert wird. Zudem sei es unverzichtbar, Barrieren zu überwinden, Verbindungen für Mensch, Tier und Pflanzenwelt herzustellen, Lebens- und Arbeitsqualitäten als eine Einheit zu verstehen und eine besondere, unverwechselbare Atmosphäre und Anmutung neuer Urbanität in diesem ehemaligen „Dschungel“ entstehen zu lassen. Bei der räumlichen Analyse des 1700 Hektar großen Projektgebie­ts fällt der Blick sofort auf die bandartigen Strukturen, die den Raum mit Haupt­ richtung von Westen nach Osten durchqueren: Bahnlinien, die Emscher, der Rhein-Herne-Kanal, die BAB 42. Das gestalterische Interesse sucht weiterhin nach Knoten, nach Ansatzpunkten für Vernetzungen oder Netzstrukturen, bisher leider vergeblich. Die ehemals bergbaulich genutzten Flächen liegen mit einem Potenzial von rund 150 Hektar heute isoliert im Raum, die vormaligen Versorgungsadern der Zechenbahnen sind gekappt. Eine Wiederbelebung erfordert großartige neue Infrastrukturen, welche symbolträchtig die neue Adresse markieren und denen eines gelingen mag: Brücken zu umgebenden Nutzungen zu schlagen, neues Handeln und Verhalten zu animieren und Verbindungen aufzunehmen zu den Fragmenten städtischer Vor- und isolierter Restnutzungen und diese somit teilhaben zu lassen an einem modernen und zukunftsfähigen Verständnis von Urbanität in der Metropole Ruhr. Diese gewünschten neuen zentralen Adern bilden der sogenannte Gewerbeboulevard für den gewerblichen Erschließungsverkehr und die sogenannte Umwelttrasse für den nicht motorisierten Verkehr an dieser Stelle. Wasser als inspirierendes städtebauliches Element Das Wasser mit seinem historischen Fluss- und Kanalsystem ist darüber hinaus ein weiteres zentrales Medium. Es ist vorhanden, aber zunächst noch als ein rein funktionales Element: die Emscher und ihre Nebenläufe als Transportweg für Abwässer (bis 2022), der Rhein-Herne-Kanal als Transportweg und Dienstleister für die Industrie. „Freiheit Emscher“ möchte hier ein neues Verständnis wecken. Deshalb entsteht ein Regenwassersystem mit offenen Gräben, Rigolen und Rückstaubereichen, welches das Wasser für das Leben haptisch und optisch erfahrbar macht. Mit dazugehörigen Wegen und zugänglichen Uferzonen wird das Element Wasser Bestandteil der Lebensqualität und lädt ein, das eigene Freizeitverhalten stärker mit diesem Element zu verbinden. Das Wasser definiert die architektonische Gestalt von Plätzen und Gebäuden und wird somit auch für den Arbeitsalltag zum belebenden und inspirierenden Ferment. Nicht zufällig beteiligen sich die Städte Bottrop und Essen seit mehreren Jahren an der Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ der Emschergenossenschaft. Das Entwässerungskonzept „Freiheit Emscher“ soll Modellprojekt dieser Zukunftsinitiative werden. Mehrschichtiges Dekadenprojekt für zukunftsorientierte Arbeitsplätze Insgesamt haben die Kooperationspartner, unterstützt durch das Land NRW, einen mehrschichtigen Prozess angestoßen, der sehr komplex auf die verschiedenen Bedarfslagen reagiert. Gleichzeitig ist den Partnern die Dauer und allgegenwärtige Intensität dieses vermutlich bis ins nächste Jahrzehnt reichenden Dekadenprojekts bewusst. Dabei bleibt die Reaktivierung der ehemaligen Bergbauflächen als Gewerbeflächen mit neuen innovativen Arbeitsplätzen höchstes ökonomisches Ziel. Gefragt sind vor allem wissensbasierte und technologieorientierte Branchen. Die Perspektiven Die Menschen haben heute ein verändertes Verständnis von Leben und Arbeiten, vom Umgang mit ihrer Lebensumwelt, sie wünschen sich eine zeitgemäße Mobilität. Die neuen Wege und Verbindungen über eine (für Radfahrer und Fußgänger

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Regionale Perspektivprojekte

Struktur- und Nutzungskonzept „Freiheit Emscher“

Bernd Tischler ist Oberbürgermeister der Stadt Bottrop.

Martin Harter ist Beige­ ordneter für Planen und Bauen der Stadt Essen.

Das Wasser definier t  d i architektonische  G e s t a l von Plätzen und Gebä u d e und wird somit auch   f ü r  d Arbeitsalltag zum beleb e n und inspirierenden Ferm e n

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t n e n d e t .

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verkehrlich sichere) Umwelttrasse, die räumliche Durchgängigkeit entlang der Uferpromenaden und über die Wasserläufe hinweg nehmen dieses atmosphärische Bedürfnis auf und verstärken die positive Wahrnehmung vom Element Wasser und dem neuen Stadtraum. Hier schließt sich erneut ein weiterer Kreis: Wasser ist zentrales Lebenselixier, ist gleichzeitig ein bedeutsames Gestaltungselement für Urbanität im 21. Jahrhundert. Die günstige Lage am Wasser fördert einen Nutzungsmix, erhöht die Aufenthaltsqualität und schafft räumliche Attraktivität. „Freiheit Emscher“ nutzt dieses Element und wird sicherlich Veränderungen im gesamten Stadtgefüge auslösen. Im engen städtebaulichen Sinne schafft „Freiheit Emscher“ zwar keinen eigenständigen neuen Stadtteil mit Wohnungen, Versorgungseinrichtungen und ökonomischer Infrastruktur, aber die angrenzenden Stadtteile werden von der neuen Lebens- und Arbeitsqualität des postindustriellen Standorts profitieren und auch für sich ein neues Profil herausbilden. In den ehemaligen „Dschungel“ an Kanal und Emscher wird – so ist zu wünschen – ein zeitgemäßes urbanes Flussquartier einziehen und damit beide Städte, Bottrop und Essen, stadtentwicklungspolitisch bereichern.

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Regionale Perspektivprojekte

Kommentar

| Alexa Waldow-Stahm

„Freiheit Ems c h e r steht   f ü r Transform a t i o n



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reiheit Emscher“ bietet ungenutztes und in Teilen noch unent„ decktes Potenzial, um „mitten in der Peripherie“ als Motor der Transformation zu dienen – hin zu einer neuen Industriestadt –, umwelt- und menschenfreundlich, mit belebten Räumen und wieder neu gemischten Nutzungen. Die Namensgebung „Freiheit Emscher“ ist Selbstverpflichtung, die Räume umfänglich neu und frei zu denken. Ein gelingender Wandel des Areals zu einem Knotenpunkt in Nord-Süd-Richtung – als Vernetzung der Städte Bottrop und Essen und in Ost-West-Richtung – zur Urbanisierung der Wasserlagen – soll auf die gesamte Region und darüber hinaus wirken. Neuordnung durch Modularisierung Das Gesamtareal von mehr als 1700 Hektar Fläche wird in fünf Module gegliedert, die sich durch jeweils unterschiedliche Profile und Entwicklungschancen auszeichnen. So wird jeder Teilraum, durch seine spezifischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Eigenschaften, neue Chancen für „Freiheit Emscher“ eröffnen, indem Synergien zwischen den Modulen für eine integrierte Entwicklung des Gesamtareals genutzt werden. Neuer Horizont 2045 150 Hektar Potenzialflächen der RAG als First Mover bieten die Chance, über die Initialphase 2020–2030 hinaus künftige Spin-off-Effekte für die Umwandlung und Aufwertung von Bestandsgebieten anzustoßen. Aufgrund der Veränderung der Produktionsbedingungen hin zur CO2-Neutralität werden künftig weitere bedeutsame Bestandsindustrieflächen frei. Damit steigen die Möglichkeiten der schlüssigen Verknüpfung der Stadtareale – die Landschaftsräume können im besten Sinn als „Stadtlandschaft“ erlebbar werden. Für die Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit ist schon in der Initialisierungsphase 2020–2030 ein Stadtmilieu herzustellen, das Verbindungen der Lebenssituationen schafft: Arbeit, Freizeit und Wohnen, Gastronomie, Einkauf und Erholung in städtisch dichter Mischung – Kitas, gute Schulen und ein für Familien sicheres Umfeld im Stadt- und Freiraum. Nur so sind die richtigen Unternehmen und deren anspruchsvolle Teams als Nutzer zu gewinnen. Das Leitbild „Freiheit Emscher“ definiert ein Gerüst von Konstanten für die Entwicklung des Areals: Neue Verkehrswege in Nord-Süd-Richtung erschließen das Gebiet und verbinden beide Städte neu, Attraktionskerne im Zentrum an den Wasserlagen sollen die weitere städtebauliche Entwicklung anstoßen und vorantreiben sowie zentrale Grünzüge als Freiraum ausarbeiten und vernetzen. Drei tragende Positionierungen werden für die Entwicklung gesetzt: „Freiheit Emscher macht mobil“, „Freiheit Emscher arbeitet digital“ und „Freiheit Emscher schafft Stadtraum“.

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Neue Mobilität und Neuerschließung Multimodal und lebenswert – dafür macht „Freiheit Emscher“ mobil. Diese Positionierung hat das Zielkonzept für die Verkehrserschließung des Projektgebiets bestimmt. Oberste Ziele sind Verkehrsvermeidung, effiziente Bündelung und verträgliche Abwicklung durch Einbeziehung alternativer Mobilität. Das Konzept sieht dazu drei wesentliche Maßnahmen vor: Die Neuerschließung bündelt Verkehr effizient auf leistungsfähigen Straßen. Dazu ist eine neue hochwertige Straße – der Gewerbeboulevard – zur lokalen Erschließung, eine Umwelttrasse zur regionalen und eine neue Autobahnanschlussstelle zur überregionalen Anbindung vorgesehen. So werden Umwege vermieden und die zusätzliche Verkehrs­ belastung so gering wie möglich gehalten. Die Umwelttrasse wird das neue interkommunale Rückgrat der Städte Bottrop und Essen und damit von „Freiheit Emscher“. Mit der Umwelttrasse wird eine Verkehrsfläche neuen Typs geschaffen, auf der umweltfreundliche Verkehrsmittel Vorfahrt erhalten. Die Umwelttrasse wird streckenweise nur für Fußgänger, Radfahrer, öffentlichen Personalverkehr (ÖPNV) und alternative Antriebe geöffnet, mit Anschluss an die Innenstädte. Neue Quartiere auf 150 Hektar ehemaliger Bergbaufläche Neben dem Zentrum von „Freiheit Emscher“, gebildet aus Sturmshof und CoellnNeuessen, werden drei weitere Quartiersentwicklungen parallel angestoßen: – Welheimer Mark als Gewerbequartier für kleinere und mittlere Unternehmensgrößen ist als vierblättriges Kleeblatt organisiert und wird ringsum in den Landschaftsraum eingebunden. – Emil-Emscher für Essen kann bis zu 50 % für Logistiknutzungen bereitgestellt werden. – Prosper II mit den denkmalgeschützten Gebäuden bietet sich für spezifizierte Branchen, z. B. der Freizeit- und Kreativwirtschaft, an.

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Regionale Perspektivprojekte

Die Quartiere werden in Korrespondenz und nach analogen Prinzipien entwickelt, wie der qualitativen Staffelung der Baugebietsfelder, einer repräsentativen Hauptadresse mit Anknüpfung an die Umwelttrasse, differenziert gestalteten Straßenräumen und „grüne Fugen“ mit Entwässerungsfunktion.

Alexa Waldow-Stahm ist Mit­inhaberin des Büros Stahm Architekten (Braunschweig/ Mülheim) und Verfasserin der Machbarkeitsstudie „Städtebauliches Masterkonzept“ (2017–2019).

Landschaft in der Stadtlandschaft Grüne Restflächen werden vernetzt und qualifiziert sowie mit zahlreichen Freizeit- und Erholungsangeboten zu attraktiven Freiräumen umgestaltet. Darüber hinaus entstehen funktionale Verbindungen: Neue Fuß- und Radwege über den Rhein-Herne-Kanal und die künftig revitalisierte Emscher heben natürliche Barrieren auf und lassen die Städte Bottrop und Essen näher zusammenrücken. Als inneres Attraktionsband soll die Landschaftsdiagonale eine Verbindung vom Nordosten des Plangebiets über Welheim bis hin zu den Wasserlagen schaffen, potenziell und über den Kanal nach Essen. Die A42 blockiert diese Verbindung – über eine geeignete Überbrückung ist nachzudenken. Die Magistralen Essen–Bottrop und Essen–Vogelheim fungieren als interkommunale Grünverbindungen und rahmen das Entwicklungsgebiet. Die Grünzüge und Stadträume werden erlebbar. Eine herausragende Bedeutung nimmt die Emscherinsel als ungenutzter Freiraum zwischen dem Rhein-Herne-Kanal und der Emscher ein. Durch eine Verbindung der Gewässer sowie Entwicklung der Flächen entsteht ein attraktives Quartier im Herzen von „Freiheit Emscher“ und am Wasser. Nukleus Sturmshof mit Coelln-Neuessen als Motor der Entwicklung Das neue urbane Zentrum dient als Wahrzeichen und Identitätskern. Diese Flä­ chen sind besonders geeignet für die Entwicklung wissensbasierter Branchen, Dienstleistung, urbaner Produktion und Start-ups. Hier, genau zwischen den Städten Essen und Bottrop, wird ein modernes Quartier mit gemischten Nutzungsformen entstehen: Hochwertige Arbeitsplätze direkt am Wasser sowie Gastronomie und Freizeitangebote entlang einer Uferpromenade machen den Nukleus zum Attraktionspunkt von „Freiheit Emscher“. Durch seine zentrale Lage ist er gut erreichbar und kann mit umliegenden Attraktionen verbunden werden. Im Osten schließt der Nukleus an den Landschaftspark, die Schurenbachhalde sowie künftig auch an die Marina Essen und den Hafen Mathias Stinnes als „Freizeithafen“ an. Gleichzeitig führt über die Umwelttrasse eine direkte Verbindung in die und aus den Städten. Damit wird der Nukleus zum zentralen Attraktionspunkt von „Freiheit Emscher“ – und möglicherweise sogar darüber hinaus.

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Kommentar

| Andreas Kipar

Emscher  4 . 0 – Ein blau-gr ü n e Zen t r u m als Schar n i e r

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Unterwegs zu neuen produktiven Landschaften durch Erdung von Urbanität in der Natur

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erade Landschaft in Industrieregionen kann langfristig vor dem beliebigen Zugriff wirtschaftlicher Interessen nur bewahrt werden, wenn sie durch Gestaltung tabuisiert wird.“ Karl Ganser, Stadtplaner und Geschäftsführer IBA Emscher Park

Es hat sich inzwischen in den meisten Amtsstuben herumgesprochen: Das Verhältnis von Stadt und Land verändert sich radikal. Lange galt das Primat der Stadt, die urbane Grenzen sprengt und sich in Metropolzonen mit anderen Städten verzahnt. Nun ist die umgekehrte Entwicklung eingetreten: Es ist die Landschaft, die die Stadt im positiven Sinn „erobert“ und sie mit Natur durchmischt. Wenn wir jetzt die Stadt „umbauen“, haben wir nicht mehr das alte funktionale Bild der Stadt vor Augen, sondern einen Hybrid aus Bau-, Frei- und Naturraum. Gerade postpandemische Städte, die sich heute in Bezug auf Infrastrukturen und Freiräume neu positionieren möchten, müssen diesen Paradigmenwechsel vollziehen. Nachdem Städte saniert, rationalisiert und funktionalisiert worden sind, ist es an der Zeit, dass sie entrationalisiert und über Natur emotionalisiert werden. Nur so, über Natur, können wir Stadträume neu denken, die vom Menschen und seinen Bedürfnissen ausgehen. Diese neuen urbanen Landschaften sind auf eine Zukunft ausgerichtet, in der wir gesünder leben und erfolgreicher wirtschaften können. Sie sind flexibel, sie sind resilient, sie sind klimaadaptiv. Sie sind in sich selbst produktiv. Die Zukunft der Stadt ist die Region Es war das großangelegte Planungsformat der Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park 1989–1999, das im Ruhrgebiet den krisenhaften Strukturwandel innovativ begleitete und den Grundstein für heutiges wie für zukünftiges Handeln legte. Das war die erste IBA, die die Landschaft in den Mittelpunkt stellte. Geschäftsführer Karl Ganser brachte es auf den Punkt: „Landschaft ist unsere Infrastruktur.“ Das Konzept des Emscher Landschaftsparks setzte ein Signal: Die Zukunft der Stadt ist die Region – die Metropole Ruhr.

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Regionale Perspektivprojekte

Diesen Ansatz setzten das Essener Strahlenmodell im Masterplan „Freiraum schafft Stadtraum“ und das Programm „Neue Wege zum Wasser“ fort. Viele Hundert Einzelprojekte wurden gesammelt, bewertet und integriert. Essens Berufung als Kulturhauptstadt Europas (mit dem Ruhrgebiet 2010) und schließlich als Grüne Hauptstadt Europas (2017) machten deutlich, dass zwischen Emscher und Ruhr ein international beachteter Modellversuch zu verfolgen ist, der sich mit der „grünen Dekade“ zur Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) 2027 und darüber hinaus bereits Ziele in der Zukunft gesetzt hat. Die Metro­ pole Ruhr bleibt in Bewegung. Grünzüge definieren Landschaftsräume und setzen Prozesse nicht allein für blau-grüne Infrastrukturen, sondern auch für graue Infrastrukturen, für Verkehrswege und produktive Räume in Gang. Eine zellenartige, räumliche Struktur hat der Stadt-Region eine neue räumliche Dimension gegeben, die das Kleinklein-Denken überwindet – getragen etwa von dem Strahl, der vom Baldeneysee über den Krupp-Park mit dem Firmencampus Thyssen/Krupp und das Stadtquartier Essen 51 zur Halbinsel im Rhein-Herne Kanal und damit zum Interkommunalen Entwicklungsprojekt (IKEP) „Freiheit Emscher“ weist.

Andreas Kipar ist Landschaftsarchitekt und Stadtplaner und Inhaber des Büros LAND Srl mit Sitz in Düsseldorf, Mailand und Lugano.

Ein Gerüst der regionalen Stadtentwicklung Zwischen dem Essener Norden und dem Bottroper Süden erstreckt sich eine der letzten, für das alte Ruhrgebiet typischen Flächen: zersiedelt, vom Bergbau geprägt, mit Industriebrachen durchsetzt und durch Altlasten zerschunden. Dieser Raum, mit einer Fläche größer als die Essener Innenstadt, kann nur dann eine Zukunft haben, wenn er nicht als Peripherie der beiden Stadtgebiete verstanden wird, sondern mit einem neuen Zentrum am Wasser als ein Scharnier der Stadt-Region fungiert. Denn was noch als zersplitterte Landschaft gilt, kann sich zugleich einer wunderschönen Lage im Tal der Emscher nach ihrer geglückten Renaturierung rühmen. Einst als „cloaca maxima“ des Ruhrgebiets verschrien, gibt sie jetzt als blaue Infrastruktur zusammen mit dem Rhein-Herne-Kanal den Takt an, mit dem die Begabungen des Raumes gefördert werden und zugleich ein über den regionalen Rahmen hinauswirkendes Modell für die Zukunft entstehen kann. Indem im Projekt „Freiheit Emscher“ bestehende Freiräume durch neue Freiräume miteinander verbunden werden, wird eine stadtteil- und sogar städteübergreifende Struktur geschaffen, welche der regionalen Stadtentwicklung als Gerüst dient. Durch die landschaftsarchitektonische Schaffung von Grünverbindungen entsteht eine charaktervolle Grünvernetzung. Sogenannte Quick Wins werden dabei als kurzfristige Maßnahmen mit schnellem, spürbarem Erfolg direkt umgesetzt. Neue Wegeverbindungen und besondere Orte können so der Bevölkerung frühzeitig aufgezeigt werden und die Entwicklung sowie das Zusammenwachsen der Stadt und Stadtteile fördern. Die produktive Landschaft wird auf der übergeordneten Ebene als ein durchgängig gestaltetes System verstanden, in dem jedes Element eine spezifische Rolle im Gesamtsystem übernimmt. Aus dem Hause tretend in die Freiheit „Warum fahren Sie, wenn Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?“, fragte jemand in Bertolt Brechts Geschichten von Herrn Keuner. Herr Keuner antwortete erstaunt: „Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen aus dem Hause tretend.“ Gewiss, auf Überholspuren wachsen keine Bäume. Aber es geht darum, Räume zu denken, in denen Autobahn und Radweg, Arbeitsstätten und Natur­ flächen einander nicht ausschließen. Großzügige Landschaftsachsen schaffen grüne Infrastrukturen, die ihrerseits ein Netzwerk urbaner, produktiver und lebenswerter Räume initiieren. Sofern es die räumlichen Voraussetzungen zulassen, sollen alle Grünflächen und Freibereiche des „IKEP_Mitte Emscher Freiheit“-Bearbeitungsraumes zu Grünkorridoren zusammenwachsen und dabei öffentliche und auch private Flächen einbeziehen. Wie die Landschaftsdiagonale, die von der Halbinsel im Rhein-Herne Kanal über die Pappelhalde zum Gelände der IGA 2027 führt. Verbinden, sichern, qualifizieren: So haben wir die Chance, in der „Freiheit Emscher“ Arbeiten und Wohnen, Produzieren und Kultivieren – das, was die Moderne auseinanderdividiert hat – wieder zusammenzubringen. Und darüber hinaus den Menschen „aus dem Hause tretend“ wieder mit der Natur zu verbinden. Und damit das altindustrielle Raue mit dem neu grünen Wilden zu versöhnen. Denn metrozonale Urbanität ist zugleich landschaftliche, nachhaltig geerdete Urbanität.

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Regionale Perspektivprojekte

Klärwerk Emschermündung in Dinslaken

| Norbert Stratemeier

Emscher-Delta: Ingeni e u r wissenschaft l i c h e Leistungsdat e n    f ü r wasserwirtschaft l i c h e Neugestal t u n g in einer urbanen R e g i o n E 

s knistert im Gebälk. Ein Grummeln begleitet die Erschüt terung, die das Haus erzittern lässt. Eine Realität, die im Bergbaugebiet häufig zu beobachten ist. Wo die Kohle abgebaut wird, bricht das Gebirge und damit die Erdoberfläche nach. Das nennt man „Bergsenkungen“. Die Häuser werden repariert und Risse in den Straßen ausgebessert, aber der Fluss kann am Ende des Tals nicht wieder bergauf fließen. Er muss eingedeicht oder sogar gepumpt werden. Es sei denn, man verlegt ihn, sodass er weiter unterhalb in den nächsten Fluss fließt, er wird also um den Senkungsbereich herum gelegt. Das geschah 1910 und noch einmal 1949 mit der Emscher, sodass sie statt in Duisburg nun in Dinslaken in den Rhein mündet. Das Schmutz- und Regenwasser wurde in den Poldergebieten mit großen Pumpwerken entwässert und der gesamte Fluss mit Rein- und Schmutzwasser komplett in einer großen Kläranlage gereinigt. Der Bergbau zog weiter nordwärts und wurde mittlerweile ganz eingestellt. Damit war der Weg frei, eine Neuordnung der Wasserwirtschaft umzusetzen. Nachdem noch in den 1980er Jahren von der Emschergenossenschaft die Ansicht vertreten wurde, dass die Emscher wegen des anteiligen Kohlestaubs „ein schwarzer Fluss für immer“ sein würde, wurde 1992 in einem regionalen Konsens der Umbau des Emscher-Systems beschlossen. Es sollte ein Generationenprojekt in einer dicht besiedelten Metropole mit enormen ingenieurtechnischen Herausforderungen werden. Schmutz und Reinwasser mussten in Regenwasserbehandlungsanlagen entflochten, das Abwasser in Kanälen den neu zu errichtenden Kläranlagen zugeleitet und die Gewässer schließlich ökologisch verbessert werden. Unterirdische Emscher-„Kathedralen“ Die Planung und Umsetzung des Generationenprojekts wurde einerseits von dem industriellen Wandel des nördlichen Ruhrgebiets wie von regionalen und europä­ i­schen Veränderungen der Umweltanforderungen – insbesondere der europäischen Wasserrahmenrichtlinie – begleitet. Neben dem kompletten Umbau der vorhandenen Emscher-Kläranlagen in Duisburg, Dinslaken und Bottrop wurde eine zusätzliche in Dortmund-Deusen errichtet. Die Anlagen reinigen zusammen das Abwasser von der Schmutzfracht der 2,3 Millionen Einwohner und 1,4 Millionen Einwohnergleichwerten aus Gewerbe und Industrie. Im Klärwerk Emscher-Mündung wird dafür eine Fläche von rund 80 Hektar, so groß wie ca. 114 Fußballfelder, benötigt. Bei der Reinigung fallen auf allen Emscher-Kläranlagen jährlich 196.000 Tonnen Klärschlamm an, die künftig komplett in Bottrop verbrannt und energetisch genutzt werden. Auch in den nächsten Jahren wird die Abwasserreinigung weiter optimiert werden.

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Solare Klärschlammtrocknungsanlage, Kläranlage Bottrop

Das von den Kommunen bisher in die Nebenflüsse der Emscher eingeleitete Mischwasser wird an diesen Stellen aufgenommen und in über 0,80 bis zu 4,50 Meter großen, bis 40 Meter tiefen und insgesamt 436 Kilometer langen Kanälen gesammelt. Bei großen Regenereignissen wird ein Teil des Wassers in insgesamt 630.000 Kubikmeter großen, meist unterirdischen Regenwasserbehandlungsanlagen vorgereinigt, in die Gewässer eingeleitet und der stark verschmutzte Teil den Kläranlagen zugeleitet. Aus dem verästelten System der Nebenläufe verbindet der Hauptsammler entlang der Emscher die drei großen Kläranlagen. Um die Vielzahl von Hindernissen unterqueren zu können, ist der Hauptkanal mindestens 8 Meter tief und mit einem Gefälle von 0,15 Prozent verlegt. Die Rohre haben einen Durchmesser von 1,60 bis 2,80 Metern und sind bereichsweise als Doppelkanal ausgebildet – so groß, dass ein Pkw hindurchfahren kann. Zahlreiche technische Schwierigkeiten mussten in der dicht besiedelten und mit vielfältiger Infrastruktur ausgestatteten Region mit großer Industrie­ geschichte überwunden werden. Neben der geringen Flächenverfügbarkeit musste die Kanaltrasse häufig an den wenigen freien Flächen für die Schachtbauwerke ausgerichtet werden. Unzählige Herausforderungen bei Altlasten und Bombenverdachtspunkte, Bahn- und Autobahnquerungen sowie Gewässer, Produktenleitungen und U-Bahntrassen mussten in intensiven Abstimmungen mit immer wieder neuen Ansprechpartnern erörtert und zusammengeführt werden. Neben der Anpassung einer Großzahl von Pumpwerken zur Entflechtung von Schmutz- und Reinwasser wurden drei große Pumpwerke notwendig, um das Abwasser des Kanals auf die Höhe der Kläranlagen zu heben. Hier mussten Förderhöhen zwischen 18 und 46 Metern für bis zu 15,3 Kubikmeter Schmutzwasser pro Sekunde mit sehr hoher Verfügbarkeit sichergestellt werden. Das Pumpwerk in Bottrop ist auf der Kläranlage integriert und funktional gestaltet.

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Regionale Perspektivprojekte

Pumpwerk Gelsenkirchen

Norbert Stratemeier ist Leiter des Geschäfts­bereichs Planung und Bau bei der Emschergenossenschaft.

Dagegen sind die Bauwerke in Gelsenkirchen am Rande des Nordsternparks und in Oberhausen am Holtener Bruch mit einer besonders ansprechenden Architektur ausgestattet und für die Bürger von außen erlebbar. Die Größe des eigentlichen unterirdischen Pumpwerks ist von oben kaum zu erahnen. In das Pumpwerk Oberhausen mit 41,60 Metern Durchmesser, 41 Metern Tiefe und 13,90 Metern unter dem Meeresspiegel gegründet, würde der historische Altbau des Emscher-Hauses hineinpassen. Dies verdeutlicht die Größe der unterirdischen Bauwerke: wahre Kathedralen der Wasserwirtschaft. Das in ca. 350 Teilprojekte aufgeteilte Vorhaben wurde von bis zu 60 Projektleitern über 30 Jahre parallel abgewickelt und über ein Multiprojektmanagement zusammengefügt und gesteuert. Das auf 9 Milliarden D-Mark veranschlagte Gesamtprojekt auf Kostenstand 1992 wird mit ca. 5,5 Milliarden Euro nach 30 Jahren abgeschlossen sein. Sicherlich ein gutes Ergebnis unter Berücksichtigung von ca. 75 Prozent Kostensteigerung und 5 Prozent Mehrwertsteuererhöhung sowie steigender Ansprüche. Neue Emscher mit Narben aus der Industriegeschichte Durch den Emscher-Umbau konnte eine einmalige Chance zur Schaffung einer neuen wasserwirtschaftlichen Infrastruktur und Metamorphose in eine postindustrielle Gestaltung einer Metropole ergriffen werden. Die Emscher verändert sich von einer schmutzwasserführenden „Köttelbecke“ in ein Naherholungsgebiet, von einem toten Gewässer in einen ökologisch lebendigen Fluss, von einem Meideraum zu einer beliebten Fuß- und Radwegeverbindung, von einem Hinterhof zu einem Vorgarten. Als kleiner Bach im ländlichen Raum in Holzwickede beginnend, entwickelt sie sich auf ihrem Weg zunehmend von einem natürlichen Bach zu einem Stadtfluss, der sich den Gegebenheiten entsprechend weitgehend mit den vorhandenen räumlichen Begrenzungen arrangieren muss. Durch das stark versiegelte Emscher-Gebiet führt sie bis zu 90 Prozent gereinigtes Abwasser, was die großen Anstrengungen für eine gute Wasserqualität rechtfertigt. Es hat sich gelohnt, die Emscher und ihre Nebenflüsse schmutzwasserfrei und die tote Abflussrinne in ein biologisch durchgehendes revitalisiertes Gewässer umzubauen und so ein für die Bürger einen wichtigen Naherholungsraum mit verbindenden Wegenetzen außerhalb des dichten Straßenverkehrs zu schaffen: ein lebendiger Fluss, in dem das Hochwasser bereichsweise durch Deiche gebändigt wird und durch sein Grün Hoffnung für die Zukunft gibt.

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Regionale Perspektivprojekte

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Emscher am Phoenix-See in Dortmund-Hörde

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Regionale Perspektivprojekte

Emscher-Promenade Phoenix-West, Dortmund-Hörde

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(von links) NRW-Ministerin Ina Scharrenbach, OB Bernd Tischler Bottrop, EGLV-Vorstandsvorsitzender Uli Paetzel, OB Frank Dudda Herne mit Moderatorenteam Ralph Caspers und Clarissa Correa da Silva

Urban i t ä t und Regiona l i t

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Urbanität und Regionalität

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Emscher-Kongress 2022

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er international angelegte Emscher-Kongress 2022 dokumentierte das in drei Jahrzehnten Erreichte der Emscher-Transformation und lieferte in Zukunftsforen Perspektiven, Leitprojekte und Ideenentwürfe künftiger Regionalentwicklung. Er wurde am 3. März 2022 gemeinsam von Emschergenossenschaft und dem Ministerium für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung (MHKBG NRW) im Streamingformat veranstaltet. Medienort war die Stadt Bottrop, in der die Emschergenossenschaft die größte und modernste Kläranlage des europäischen Kontinents unterhält und wo 2018 die letzte Steinkohlenzeche die Förderung und damit das Zeitalter des nationalen Steinkohleabbaus beendete. Zum Programm gehörten Keynotes zu Urbanität und Regionalität von Christa Reicher (RWTH Aachen), Heinz Bude (Kassel/Berlin) und Julian Petrin (urbanista Hamburg), die hier in Kurzfassung dokumentiert sind.

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Keynote 1

| Christa Reicher

Rele v a n z und Aktua l i t ä region a l e r Zukunfts p f a d

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as Ruhrgebiet hat in den letzten drei Jahrzehnten zahlreiche Stadt- und Regionalentwicklungsformate realisiert, beginnend mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) in 17 Städten an der Emscher, folgend mit der Kulturhauptstadt Europas RUHR 2010, mit Essen als der Grünen Hauptstadt Europas 2017 bis zur aktuellen Zielperspektive der Internationalen Gartenausstellung (IGA) Metropole Ruhr 2027 quer durch die ganze Region. Das Gründungsmemorandum zu Inhalt und Organisation der IBA Emscher Park von 1988 bekannte sich prononciert zum „Prinzip Recycling“, konkret zur Renaturierung industrieller Brachflächen. Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit nicht explizit fiel, war dieser als thematischer Fokus von Anfang an impliziert. Die IBA Emscher Park hat erstmalig ökologische, wirtschafts- und wohnungspolitische Maßnahmen präzise definiert und verknüpft. Und sie widmete sich einem international relevanten Thema, dem Umgang mit dem industriellen Erbe. „Der Emscher Landschaftspark ist das zentrale Anliegen und das verbindende Thema dieser Bauausstellung. Er soll der Emscher Region mehr landschaftliche Attraktivität und gleichzeitig mehr städtebauliche Ordnung geben“, heißt es im IBA-Projektkatalog 1999 zum Finale des Großprojekts. In der IBA-Ära sind neue Allianzen aus Industrie, Kultur und Natur geschaffen worden, die das Großprojekt des Emscher-Umbaus auf den Weg gebracht haben. Die aus dem Zeitalter der Industrialisierung gewonnene kulturelle Identität dieser Region hat sich bewährt und ist zum Markenzeichen avanciert. Mit der IBA Emscher Park und ihrem gestalterischen Umgang mit dem industriellen Erbe einer ganzen Region entstand in der Folge ein besonders großes weltweites Interesse an Internationalen Bauausstellungen. Für die IBA Parkstad in den Niederlanden, die IBA Fürst-Pückler-Land in der Lausitz, die projektierte IBA Alzette-Belval Luxemburg und Frankreich steht das Emscher-Format Pate im Hinblick auf die inhaltliche und konzeptionelle Ausrichtung. Längst hat sich bestätigt, dass diese Formate durchweg Innovation und Ambitionen befördern sowie breite Impulswirkungen entfalten. Dieser Anspruch von Konversion und Transformation zugunsten einer grünen Stadtlandschaft richtet sich auch an die IGA Metropole Ruhr 2027. Strategien und mögliche Zukunftspfade Wie kann der Umbau zu einer sozial und ökologisch gerechten sowie zu einer attraktiven Region gelingen? Und welche Rolle kommt dabei den Instrumenten, Werkzeugen und Prozessen der Stadt- und Regionalplanung zu? Der 2006 initiierte, 2020 finalisierte Masterplan „Zukunft Emscher. Das neue Emschertal“ mit seinen acht Leitthesen für die Planung sollte einen Relaunch unter Einbezug des gesamten Emscher-Systems mit seinen Nebenflüssen ergeben oder sogar zu einer Zukunftsstrategie RUHR weiterentwickelt werden. Selbst wenn die Fokussierung auf den Emscher-Raum zunächst richtig und zielführend gewesen ist, können und sollten räumliche Leitplanen für das gesamte Ruhrgebiet relevant und der Planungsparameter entsprechend gesamträumlich erweitert werden.

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Urbanität und Regionalität

Christa Reicher ist Inhaberin des Lehrstuhls für Städtebau und Entwerfen sowie Direktorin des Instituts für Städtebau und Euro­­pä­ische Urbanistik an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen.

Innovationsoffensive in der Breite Die Region hat mit dem Emscher-Umbau bewiesen, dass sie Innovation „kann“. Dabei hat die Emschergenossenschaft die Chance genutzt, die Modernisierung einer Abwasserinfrastruktur mit zukunftsfähigen Konzepten der Stadt- und Landschaftsentwicklung zu verknüpfen. Der Emscher-Umbau ist eine einmalige Symbiose aus Technik und Natur und hat in Zeiten der Klimakrise gezeigt, wie sich die Interessen von Naturschutz, Hochwassersicherheit und Naherholung vereinbaren lassen. Der Emscher-Umbau ist zugleich eine Symbiose aus Stadt und Landschaft, aus Kultur und Industrie. Die IGA 2027 muss diese Innovationsoffensive nutzen und in der Breite aufstellen. Der Emscher-Umbau ist das Meisterwerk eines kollektiven Lernpro­ zesses, in dem umfangreiches Know-how über wasserwirtschaftliche Belange und Technologien gesammelt worden ist. Diesen Kompetenzschatz gilt es jetzt für weitere Umsetzungsprojekte zu nutzen. Mit „Zukunftskunst“ ist vor allem die Fähigkeit gemeint, den kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden (Schneidewind 2018). Die Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungs- und Bauwende sowie die Bewältigung der Klimakrise sind nur mit einem ganzheitlichen und integrativen Ansatz der Zukunftskunst zu bewältigen sowie auf einen ganzheitlichen Wandel in unseren Städten und in unserer Region auszurichten. Vom blau-grünen Rückgrat zur resilienten Modellregion Mit dem Emscher-Umbau, der die Natur ins Zentrum der Transformation gestellt hat, ist das Rückgrat einer blau-grünen Infrastruktur geschaffen worden, das räumlich weiterentwickelt werden kann. Es sind in den letzten Jahren hervorragende Konzepte entworfen werden, etwa zur „Schwammlandschaft“ als räumlichem naturnahem Speichersystem. Die Wunschvorstellung von einer resilienten Modellregion ist eine widerstandsfähige und lernfähige Region, die den Eigensinn dem großen gemeinsamen Ziel unterordnet, ein Lernlabor für weltweite Regionen zu werden, in denen sich der Strukturwandel erst ankündigt. Die Zukunft der Stadt wird die Region sein. Hierfür kann die Agglomeration Ruhr eine Pole-Position einnehmen – vorausgesetzt sie schafft es, mit der notwendigen Leadership die Konkurrenz der Städte in ein erfolgreiches Kooperationsmodell zu überführen.

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| Heinz Bude

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Keynote 2

Die  ur b a n e Diffe r e n z des Ruhrge b i e t

Urbanität und Regionalität

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Die „durchschossene Urbanität des Reviers“: Ansicht DuisburgBruckhausen

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ie Entstehung des Ruhrgebiets als ein eigenes sozialräumliches Gebilde gehört zur Konstitutionsphase der „verspäteten Nation“ (Helmuth Plessner) mit ihrer schnellen Industrialisierung und ihrer verzögerten Modernierung. Eingefasst in industriefeudale Strukturen, wo der Fabrikant seine Villa auf dem Werksgelände hatte, gruppierte sich die aus den ländlichen Gebieten rekrutierte Arbeiterschaft um den Betrieb als Vergesellschaftungskern. Die Kohle war das Gold der modernsten Volkswirtschaft Europas, die sich anschickte, das Modell Englands, an dem Marx seine Theorie des Kapitals und des endemischen Krisencharakters der darauf sich gründenden Wirtschaft exemplifiziert hatte, zusammen mit den USA hinter sich zu lassen. Die Arbeitersiedlung definierte den Siedlungstyp des industriellen Dorfes mit Einzelhausparzellen, Taubenzucht und Gesprächen über den Gartenzaun. Die „kleine Habe“ war Beweis der industriegesellschaftlichen Teilhabe. Industrielle Disziplin und dörfliche Vergemeinschaftung waren demnach keine Gegensätze. Stadt, wie sie der Berliner Georg Simmel als atmosphärischer Raum einer kultivierten Indifferenz vorstellte, existierte im Revier nie. Dafür fehlten die Boulevards fürs Flanieren genauso wie die Hinterhöfe für die Symphonie des proletarischen Kollektivlebens. Das ist die Ausgangslage bis heute für die Suche nach einer spezifischen Urbanität des Reviers, die Industriekultur und Industrienatur in einer Symbiose eigener Art aufgehen ließe. Damit soll nicht geleugnet werden, dass im frühen 20. Jahrhundert Beispiele moderner Stadtentwicklung unter der Bedingung der Hoch­industrie mit kompakt gebauten Strukturen und vielen öffnenden Freiräumen entlang einer großen Straße (B 1/A 40) als Lebensader entstanden sind. Das hat aber nichts an der „durchschossenen Urbanität des Reviers“ geändert. Die vier Hauptstädte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund sind Orte urbaner Verdichtungen, ergeben aber keine urbane Serie, die eine Ruhrstadt zur Anschauung bringt. Trotz vielfacher soziokultureller Mittebildungen, für die Helmut Schelsky schon Ende der 1950er Jahre in der Dortmunder Sozialforschungsstelle das Programm ausgegeben hatte, ist die Raummatrix von physischen Eigenarten, kollektiven Lebenszuschnitten und gebauten Atmos­phären erhalten geblieben. Der Pott ist Kult, das hat Peter Zadek in seinem Volkstheater am Schauspielhaus Bochum in der 1970er Jahren vorgeführt, und davon lebt die fußballerische Unterhaltungsindustrie von Borussia Dortmund, Schalke 04 und Rotweiß Essen bis zum heutigen Tag. Aber der Pott ist keine „Weltstadt Ruhr“ (Christoph Zöpel). Man muss sich vielmehr klar machen, dass das Ruhrgebiet eine Gesellschaft eigener Art bildet: Der Vergesellschaftungskern in der Welt von „Milch und Kohle“ (Ralf Rothmann) ist weder die Stadt noch das Dorf, sondern der Betrieb als Zeche, Hütte und Werk. „Mama Hoesch“ sagten die Hoeschianer zu ihrem Betrieb, der sie nährte, organisierte und ausbeutete. Der Betrieb ist nämlich nicht bloßer Fabrikort, sondern Keimzelle des gemeinsamen Lebens im Schichtbetrieb und in der Arbeitersiedlung. Die starke Bindung durch die Betriebsgemeinschaft genoss zwischen Ruhr und Emscher zweifelsfreie Priorität vor der schwachen Bindung durch ein städtisches Publikum. Ruhrurbanität Die Zukunft der Ruhrurbanität muss daher den Verlust des betrieblichen Vergesellschaftungskerns in Rechnung stellen. Man kommt raumstrukturell und städtebaulich nicht weiter, wenn man kein Substitut für diesen emotional tief sitzenden Bindungskomplex denken kann. Die beiden prominenten Zukunftsbilder, die heute im urbanen Design fürs Ruhrgebiet gehandelt werden, gehen dieser Frage aus dem Weg: Die Idee der Stadt im Grünen wie der Idee der Campus-Stadt zeichnen sich hier durch eine Fehlanzeige aus. Denn weder im Bild der ökologischen Gesellschaft noch in dem der Wissensgesellschaft lassen sich Trägergruppen ausmachen, die Bindungen jenseits ihrer Milieubelange versprechen. Es ist keine Frage, dass die Universitäten im Ruhrgebiet zu einer nachhaltigen Hebung der Wissenskompetenzen in den Generationen der Babyboomer und der Millennials mit Ruhrgebietswurzeln beigetragen haben. Und es stimmt auch, dass viele, um nicht zu sagen zu viele, von den Höhergebildeten dieser Jahrgangslagen die Region auf der Suche nach besseren Berufs- und Lebenschancen verlassen haben. Und schließlich ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Institutionen der tertiären Bildung für eine hohe und stabile Inklusion von Nachkommen aus zugewanderten Familien gesorgt haben. Aber mit Bildungszertifikaten ist noch kein Bindungsangebot verbunden.

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Deshalb wird die Campusstadt mit lichten Durchblicken, kristallinen Gebäuden und hergerichteten kommunikativen Oasen gerade von diesen Bildungsgewinnern als urbane Fassade wahrgenommen. Eine erweiterte Univer­ sitätslandschaft definiert noch kein gemeinsames Leben. Die Google-Zentrale in Irland, die sich als inspirierendes und interaktives Ensemble mit thematischen Stockwerken in Rot, Grün, Gelb und Blau ausstellt, mutet einem nach gut 10 Jah­ ren wie ein architektonischer Witz an. Es braucht schon die Anschauung einer regionsspezifischen Zukunft aus einer lokal geerdeten Herkunft. Trügerische Idylle: Stadt als Park Dasselbe gilt für das Bild der Stadt als Park. Das ökologische Bewusstsein ist, wie Ulrich Beck seinerzeit messerscharf dargelegt hat, ein Risikobewusstsein und stiftet gerade kein Verwurzelungsempfinden. Der „zweite Moderne“ der permanenten Einpreisung von notwendigen Verlusten mangelt es an Projektionen einer gemeinsamen Zukunft. Die Stadt als Park muss daher als trügerische Idylle für jene wirken, die sich aufgrund ihrer guten Ausbildung und ihrer ökologischen Zivilisierung in einen abgeschlossenen städtischen Raum haben retten können. Das Ruhrgebiet ist in den letzten 30 Jahren mit der Deindus­tria­ lisierung als Kulturalisierung und der Dekarbonisierung als Renaturalisierung beispielgebend vorangekommen. Die Frage von heute lautet freilich, was für eine Idee von Gesellschaft sich aus dem einzigartigen Konglomerat aus verstädterten Zonen, spektralen Infrastrukturen, dörflichen Enklaven, rekonstruierten Industriedenkmälern und renaturierten Wasserläufen und Seengebieten ergibt. Ein Konzept der dezentralen Zentralisierung mit ausreichender Teilvielfalt und notwendiger Themenfokussierung wiederholt nur den Stand der Dinge, bietet aber keine Perspektive jenseits des Vergesellschaftungskerns des industriellen Großbetriebs.

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Urbanität und Regionalität

Inszenierte Urbanität: Glücksmomente auf der gesperrten A 40 im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010

Heinz Bude ist seit 2000 Lehrstuhlinhaber für Makrosoziologie an der Universität Kassel und seit 2020 auch Gründungsdirektor des documenta-Instituts in Kassel.

Orientierungsmarken der Urbanität Hier bedarf es eines starken, aber plastischen Begriffs von Urbanität, der aus der prinzipiell unvollständigen Integration urbaner Gebilde (so in klassischer Formulierung Hans Paul Bahrdt) Vorstellungen für die Erzeugung von Chancen, der Validierung von Anrechten und der Stiftung von Bindungen gewinnt. Die urbane Qualität eines Konglomerats hängt zunächst und zumeist an der Wahrnehmung einer öffentlichen Geschäftigkeit, in der die kollektiven Ergebnisse eines wirtschaftlichen Lebens zum Ausdruck kommen. Städtisch sind kein Park und kein Campus. Urbane Teilhabe findet in der Rolle des Konsumenten wie in der des Produzenten statt, wobei natürlich nicht allein dingliche Waren, sondern auch vielerlei Dienstleitungen gehandelt werden. Es ist nur wichtig, dass für die Leute etwas passiert, in das sie automatisch einbezogen werden. Das zweite Merkmal sind die städtischen Netzwerke des kommunikativen Austauschs zwischen näheren Bekannten, unbekannten Bewohnern und auffällig Fremden, die sich auf der Straße, in Cafés, in Kaufhäusern, im Kino, im Museum oder an der Haltestelle begegnen. Das vor den Augen aller sich abspielende Distinktionsgeschehen versetzt einen öffentlichen Raum in eine urbane Vibration. Und schließlich kann man sich eine Stadt nicht ohne ein gebautes Gesicht vorstellen. Die Bewohner einer Stadt müssen sich als Bewohner dieser Stadt in bestimmten baulichen Monumenten erkennen können. Das sind klassischerweise Plätze, Sakralbauten, Kaufhäuser, Bahnhöfe, Brücken oder neuerer Zeit in geradezu eminenter Art und Weise wieder Museen und Stadien. Es sind jedenfalls nicht einfach nur Narrative des Stadtmarketings, die Empfindungen einer urbanen Zugehörigkeit auslösen; die Gebäude halten fest, wo man ist und was einen an diesen Ort bindet. Für die zwischenstädtischen Strukturen des neuen Ruhrgebiets sind diese Orientierungsmarken auf dem Feld des Urbanen deshalb wichtig, weil sich daraus Überlegungen zur Stimulierung eines gemeinsamen Lebens zwischen Stadtbewohnerinnen, die nicht mehr zusammen arbeiten, weniger zusammen einkaufen, sich kaum noch zusammen vergnügen, ableiten lassen. Die Idee des gemeinsamen Lebens unterläuft die im Diskurs der Moderne so unerbittlich gemachte Differenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Im Blick auf die Verbundenheit der Leute im Quartier oder in den Zwischenräumen außerhalb der Kernstadt denkt sie die Stadt als eine Praxis der stillen wechselseitigen Vergewisserung an dem Ort, wo man wohnt, wo die Kinder zur Schule gehen, wo man den Hausarzt aufsucht, wo man einen Augenblick in der Sonne sitzt und wo man unweigerlich miteinander Lebenszeit verbringt und ohne große Aufmerksamkeit untereinander wahrnimmt, wie man gemeinsam altert.

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Keynote 3

| Julian Petrin

Nach dem  S p i e l ist vor dem   S p i e

l

J 

eder Raum, jede Stadt, jede Region hat ihre eigene Geschichte der Transformation, eingeflochten in die großen geschichtlichen Entwicklungslinien. Die gemeinsamen großräumigen Muster des räumlichen und gesellschaftlichen Wandels werden überlagert durch die vielen individuellen Entwicklungsschübe, die Regionen unterschiedlich prägen – seien sie ausgelöst durch ein lokales politisches oder ökonomisches Momentum oder die besondere Verfasstheit eines Raumes. So bildet sich in jeder Region ein ganz eigenes Entwicklungsnarrativ – eine Erzählung von den großen Generationen des Wandels, die sich auf vielfache Weise in Strukturen, Orten und Projekten niedergeschlagen haben und einen Raum zu verstehen helfen. Auch für den Raum der heutigen Metropole Ruhr lässt sich eine solche Erzählung beschreiben. In der Mitte dieses Narrativs steht der Emscher-Raum als Spiegel und Motor der Krisen wie der Erneuerung. Die industrielle Kanalisierung der Emscher zu einem leistungsfähigen Entwässerungssystem war um die Wende zum 20. Jahrhundert eine gemeinsame Kraftanstrengung der Städte und Unternehmen, die ihresgleichen suchte und eine neue Entwicklungsstufe des Ruhrgebiets einläutete: den Wandel zu einer Engineered Region, zu einer leistungsfähigen Industriemaschine, die in den kommenden Jahrzehnten die Dynamik der deutschen Wirtschaft antrieb. Wandel zu einer postindustriellen Kulturlandschaft Mit dem schrittweisen Niedergang weiter Teile der Montanindustrie in den 1970er und 1980er Jahren begann der Übergang zur nächsten großen Transformationsstufe des Ruhrgebiets. Nun ging es um den Wandel hin zu einer postindustriellen Kulturlandschaft, maßgeblich beflügelt durch die in ihrer Wirkung und Stringenz bis heute unerreichte IBA Emscher Park. Auch in diesem regionalen Umbauprojekt spielte der Emscher-Raum eine Schlüsselrolle: Kern der IBA war die Entwicklung des Emscher Landschaftsparks, verbunden mit dem Generationenprojekt des sozial-ökologischen Emscher-Umbaus. Dort entstanden die großen Symbolorte der kulturellen und ökologischen Transformation wie der Landschaftspark Duisburg-Nord oder der Nordsternpark in Gelsenkirchen, die heute als paradigmatisch für den Umgang mit industriellen Strukturen gelten. Umbau zur Klimaregion Heute, nachdem der Emscher-Umbau weitgehend abgeschlossen ist und das Ruhrgebiet sich unter seiner selbstbewussten neuen Identität als Metropole Ruhr, als Kultur- und zunehmend auch als Wirtschaftsregion neu positioniert, zeichnet sich das nächste große Transformationsprojekt ab: der notwendige Wandel der Region zu einer maximal klimaneutralen, klimaresilienten und energetisch nachhaltigen Region. Dieses Projekt war bereits in der vorherigen Transformation des Emscher-Raums angelegt, erhält aber durch die Verschärfung der Klimakrise und die zunehmende Notwendigkeit eines radikalen Umsteuerns angesichts eines womöglich kollabierenden Klimasystems eine neue Dringlichkeit. Der Metropolitanraum Ruhr mit seinen gut 5 Millionen Einwohnern kann hier erneut vorangehen und zeigen, wie eine komplexe und nach wie vor in-

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Urbanität und Regionalität

Dr. Julian Petrin ist Grundungsgesellschafter von urbanista, einem der führenden Büros für Stadtentwicklung und urbane Zukunftsstrategien.

dustriell geprägte Stadtlandschaft maximal konsequent klimagerecht umgebaut werden kann – in all ihrer Komplexität, Zersiedelung und nach wie vor industriellen Prägung. Die Weichen für dieses Projekt sind gestellt: 2021 wurde beschlossen, dass die Metropole Ruhr bis spätestens 2045 klimaneutral werden soll, dafür wurde ein Masterplan „Klimaneutrale Region Ruhr“ auf den Weg gebracht. Es ist abzusehen, dass die Emscher-Zone auch diesmal wieder ein Motor der Transformation sein wird. Sie ist nach wie vor Schwerpunkt der industriellen Tätigkeit, ein zentraler Infrastrukturraum und mit ihrem Patchwork aus Stadt und Landschaft ein Raum, in dem beispielhaft erprobt werden kann, wie man eine regionale Stadtlandschaft maximal klimagerecht umbaut. Dabei muss dieser Umbau auch als sozioökonomisches Projekt verstanden werden. Denn wie der Ökonom Jeremy Rifkin schon 2011 betonte, ist die ökologisch-energiepolitische Transformation der Gesellschaft die „dritte industrielle Revolution“, verbunden mit der Vision einer neuen ökologisch-energiewirtschaftlichen Wertschöpfung, die in ihrer Dezentralität den Bürger*innen unmittelbar zugutekommen kann. Aus den heute entwicklungspolitisch unterlegenen Räumen des nördlichen Ruhrgebiets können produktive Energie- und Klimalandschaften werden, in denen eine neue Ökonomie rund um die Themen regenerative Energien, Kreislaufwirtschaft und urbane Produktion entsteht. So kann der Klimaumbau zum sozioökonomischen Integral für eine segregierte Region werden. Ein neues Generationenprojekt Die Metropole Ruhr blickt auf eine lange Tradition der gemeinsam organisierten Kraftanstrengungen zurück. Der eingangs beschriebene Aufbau der gemeinsamen Ent- und Versorgungsinfrastrukturen hat den Anfang gemacht; es folgten Schichten übergeordneter Planungen und politischer Programme, die heute von der formellen Regionalplanung bis zu zahlreichen informellen Formaten und Prozessen reichen. IBA, Kulturhauptstadt, Emscherkunst, bald eine Internationale Gartenausstellung (IGA Metropole Ruhr 2027) und vielleicht erneut eine IBA? Wie die neue, im Masterplan „Klimaneutrale Region Ruhr“ angelegte Konversion angegangen werden kann, muss sich erst noch finden. Die besondere GovernanceStruktur der Gesamtregion ist dabei Hürde wie Chance zugleich. Gerade im Emscher-Raum mit seinen kleinräumigen nachbarschaftlichen Identitäten gibt es beste Voraussetzungen, um eine dezentrale dritte industrielle Revolution Realität werden zu lassen. Bei diesem neuen Generationenprojekt wird es entscheidend sein, wie gut speziell die großen Institutionen und verantwortlichen Akteure der Region aktiv zusammenwirken. Gemeinsam können sie den benötigten Rahmen entwerfen, in dem sich nächste Transformation entfalten kann. Es braucht eine verbindliche und gut ausgestattete Governance-Struktur, die alle Akteure auf das gemeinsame Ziel des klimagerechten Umbaus einschwört und die geeigneten Instrumente und Formate für eine dezentrale Umsetzung bereitstellt – ganz in der Tradition der IBA und ihrer Folgeaktivitäten. Es ist Zeit für die IBA der dritten industriellen Revolution. Welcher Raum wäre besser dafür geeignet als die alte-neue Emscher?

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Formate und Allianzen

interna t i

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Formate und Allianzen international

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Suderwicher Bach: Gelände des Naturund Wasser-ErlebnisParks Recklinghausen / Castrop-Rauxel

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Internatio n a l e Gartenaus s t e l l u n g Metropole Ruh r  2 0 2 7

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Formate und Allianzen international

| Martina Oldengott Natur- und WasserErlebnis-Park

Ein Innovationslabor zu der Frage, wie wir morgen leben wollen.

2016 

hat das Ruhrgebiet den Zuschlag für die Durchführung einer Internationalen Gartenausstellung (IGA) im Jahr 2027 erhalten. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen bekannte sich durch einen Kabinettsbeschluss im Sommer 2018 zur Durchführung der IGA. Vorausgegangen war eine umfangreiche kommunalpolitische Auseinandersetzung zu den Chancen und Risiken eines solchen Großereignisses – mit dem Ergebnis, dass beinahe alle Kommunen und Kreise des Ruhrgebiets positive Beschlüsse in ihren Gremien fassten. Diese Entscheidung stellt einen interkommunalen Erfolg für die gesamte Region dar. Im Dezember 2019 wurde die IGADurchführungsgesellschaft gegründet und nahm mit Beginn des Jahres 2020 ihre operative Arbeit auf. Zur Typologie und Programmatik der IGA 2027 Die deutsche Marke IGA gibt es seit 1953. Gartenschauen hatten rückblickend zwar die Aufgabe, die Gartenkultur zu fördern, aktuelle Tendenzen der Gartenkunst und Pflanzenverwendung zu präsentieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückten jedoch Themen der Stadt- und Landschaftsentwicklung in den Vordergrund. Zunächst ging es um den Wiederaufbau der deutschen Städte und mehr und mehr wurden Gartenschauen zu Motoren der Stadtentwicklung. Aber auch Landschaftsreparatur von Konversionsflächen, Tagebaufolgelandschaften und ökologische Fragestellungen, zunehmend begleitet von gesellschaftlichen Themen, gewannen immer mehr an Bedeutung. Noch nie fand ein solches Gartengroßereignis in Nordrhein-West­ falen statt und mit einer ersten dezentralen IGA haben wir einen gesamträumlichen Ansatz und die Chance zur Mitwirkung für eine Vielzahl an Akteuren – rund 35 beteiligte Kommunen, Kreise und viele weitere Institutionen und Partner – eröffnet. Für das Anliegen, diese alle einzuladen, sich aktiv an der IGA zu beteiligen, schaffen die drei Ebenen Zukunftsgärten, Unsere Gärten und Mein Garten die Voraussetzung. Sie tragen dazu bei, ein dichtes, das gesamte Ruhrgebiet umfassendes Freiraumnetz aus vorhandenen und neu zu schaffenden Grünflächen zu entwickeln. Mit der IGA Metropole Ruhr 2027 verbindet sich urbane Nachhaltigkeit mit Stadtentwicklung, ebenso wie grüne Infrastruktur, Biodiversität und blaue Infrastruktur mit den Herausforderungen der Klimaanpassung, des Klimaschutzes und der Klimaresilienz. Ziel ist es, einem internationalen Publikum Lösungsansätze für ein gutes Zusammenleben und für ausgeglichene Lebensverhältnisse – die globalen Herausforderungen dieser Zeit – zu präsentieren. Hand in Hand mit Wissenschaft und Technik, Ökologie und Gartenbau möchten wir Antworten auf die Frage finden, wie der Weg in eine klimaresiliente Metropole Ruhr gelingen kann; welche Rolle dabei die großen und kleinen Grünoasen in den Städten und ihren Wohnquartieren spielen und wie wir sie durch multikodierte Grünachsen miteinander verbinden. Solche, in denen sich freiräumliche Qualitäten, Gewässer und innovative Mobilitätsangebote im besten Sinne harmonisch miteinander verbinden. Die drei Ebenen der IGA 2027 spielen in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sie tragen nicht nur zur Qualifizierung und Verdichtung des regionalen Freiraumverbundes, sondern auch zur zivilgesellschaftlichen Teilhabe bei. Vor allem schaffen sie die Kulisse oder auch den Plafond für die übergeordnete Programmatik zu der Frage „Wie wollen wir morgen leben?“. Gerade die Ebene Mein Garten, die das zivilgesellschaftliche Engagement mobilisieren möchte, bietet vor diesem Hintergrund die Möglichkeit zur Teilhabe an der IGA und eine Sensibilisierung für die gesellschaftlichen und ökologischen Fragestellungen vor dem Hintergrund der weltweiten Lebensverhältnisse und ökonomischen Rahmenbedingungen. Damit gelangt die IGA ins Quartier und lädt viele verschiedene Akteure zur Mitwirkung ein. Die Bandbreite reicht vom Hochbeet vor der Haustür, Urban Gardening und Urban Farming, Blühstreifen

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Die dargestellten Visuali­­sie­rungen stammen aus dem Wettbewerbsentwurf (1. Preis) von Paul Giencke, GM013.la, Berlin

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und Bienengärten bis zu größeren ökologisch und gesellschaftlich beispielhaften Pilotprojekten, des Weiteren Freizeit-, Bildungs- und künstlerischen sowie kulturellen Vermittlungsformaten rund um die gesellschaftlichen Zukunftsthemen. Auf der Ebene Unsere Gärten leistet die IGA einen Beitrag zur Aufwertung der Stadtteile, ertüchtigt vorhandene Grünanlagen und schließt Lücken im Freiraumverbundsystem. Ziel ist es, mit etwa 35 investiven kommunalen Projekten nachhaltige Impulse und einen Entwicklungsschub für das regionale Freiraumnetz anzustoßen; dabei werden vorhandene innerstädtische Gärten und Parks aufgewertet und neue geschaffen, zum Beispiel in Verbindung mit innovativen Stadtentwicklungsprojekten. Gartenkunstschätze der Region werden in mehreren Routen der Parks und Gärten präsentiert und in begleitenden Ausstellungen vermittelt. Im Mittelpunkt der IGA 2027 stehen jedoch die fünf großen Schaugärten. In diesen Zukunftsgärten bildet sich die übergeordnete IGA-Programmatik beispielhaft ab. Sie verknüpfen urbane Nachhaltigkeit und Stadtentwicklung, grüne und blaue Infrastruktur mit Biodiversität und den Herausforderungen der Klimaresilienz. Hier wollen wir Lösungsansätze für ein gutes Zusammenleben und für ausgeglichene Lebensverhältnisse aufzeigen. In diesen Zukunftsgärten präsentiert sich die IGA 2027 als Botschafterin des Internationalitätsgedankens. Jeder Standort hat ein eigenes thematisches Profil und eine eigene prägende Raumkulisse. Nur für drei Zukunftsgärten sind aufwendige, temporäre und eintrittspflichtige Leistungsschauen des Gartenbaugewerbes mit Zukunftsthemen wie Klimawandel, Ressourcenschutz und neue Mobilität vorgesehen. In den Zukunftsstandorten Bergkamen/Lünen, „Landschaft in Bewegung“, und Castrop-Rauxel/Recklinghausen, „Emscherland“, werden eintrittsfreie Sonderschauen geboten. Eine wesentliche Voraussetzung für die Planung und bauliche Umsetzung bildeten die international und interdisziplinär besetzten Planungswettbewerbe, in deren Aufgabenstellung die jeweiligen, einen jeden Schaustandort profilierenden spezifischen Fragestellungen und möglichen Alleinstellungsmerk-

male eingesteuert wurden. In gut einem Jahr wurden vier solcher Wettbewerbe für die Zukunftsgartenstandorte Dortmund, Bergkamen-Lünen, Gelsenkirchen und Duisburg durchgeführt. Auf diese Weise wurden international renommierte Landschaftsarchitektur- und Architekturbüros für die bauliche Realisierung gewonnen. Die frischen und modernen, nachdenklichen und nachhaltigen Entwürfe haben sich intensiv mit der Biodiversität, Nachhaltigkeit, mit Fragen des Klimawandels, mit der Bedeutung der Zukunftsgärten für Freizeit, Erholung, Nahrungsproduktion, Ernährung und Gesundheit auseinandergesetzt. Sie haben tragfähige Vorschläge für die Transformation der Ruhrgebietslandschaft und für großräumliches landschaftliches Entwerfen erarbeitet und die Rolle der Landschaftsarchitektur für unsere industrielle Kulturlandschaft und das regionale Design geschärft. Vor allem aber haben sie passgenaue Entwurfslösungen für jeden einzelnen Standort präsentiert und die Authentizität der jeweiligen landschaftlichen Situation genutzt, um einen einzigartigen Zukunftsgarten zu schaffen. Die Orte der fünf Zukunftsgärten Die insgesamt fünf Zukunftsgärten stehen mit ihren Schwerpunkten auch für einzelne Säulen und Instrumente des Strukturwandels. In Duisburg-Hochfeld und Dortmund-Huckarde liegen die Zukunftsgärten eingebettet in große Stadterneuerungsvorhaben. Dasselbe gilt für den Teilstandort Lünen mit seinem nicht eintrittspflichtigen Zukunftsgarten „Landschaft in Bewegung“ in Bergkamen und Lünen. Bereits seit fast zehn Jahren bemüht sich die Stadt Duisburg mit dem RheinPark, den Stadtteil Hochfeld bis an das Rheinufer weiterzuentwickeln, auf ehemaligen Produktionsstandorten der Schwerindustrie neue Wohnangebote und Arbeitsplätze zu schaffen und diese Maßnahmen am grünen Ring entlang über den RheinPark bis zum Kultushafen mit einer freiräumlichen Spange zu verbinden und mit den alten Wohnquartieren zu verzahnen. In Dortmund-Huckarde liegt der Zukunftsgarten ebenfalls eingebettet in einen seit mehreren Jahren andauernden Stadtentwicklungsprozess. Herzstück des Zukunftsgartens „Emscher nordwärts“ ist das Gelände der Kokerei

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Hansa einschließlich des Grünangers, der ursprünglich zur Kokerei dazugehörte. Auch hier erwartet die Besucher*innen ein typisches Stück Ruhrgebiet mit einem industriegeschichtlichen Schwerpunkt, der renaturierten Emscher und der ehemaligen Mülldeponie Deusenberg. Über den „Skywalk“ der ehemaligen Koksofenbatterien macht der Zukunftsgarten die industrielle Kulturlandschaft weit über seine Grenzen hinaus von oben erlebbar. Der Zukunftsgarten in Gelsenkirchen knüpft an die Bundesgartenschau 1997 auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Nordstern an. Herzstück ist die Emscherinsel, dieses künstliche Eiland zwischen Rhein-Herne-Kanal und Emscher, das sich als Nebenprodukt des Gewässerausbaus Anfang des 20. Jahrhunderts über 34 Kilometer Länge von Osten nach Westen mitten durch das Revier erstreckt. In Zusammenhang mit der Renaturierung der Emscher, quasi 100 Jahre nach ihrem Ausbau zur oberirdischen Abwasserautobahn, ebenso der Erweiterung des Rhein-Herne-Kanals, rückt nun die Emscherinsel als Grünzug in den Fokus der freiräumlichen Entwicklung. Die Emscherinsel verbindet die Städte Castrop-Rauxel, Recklinghausen, Herten, Herne, Gelsenkirchen, Essen, Bottrop und Oberhausen miteinander. Mit der Zukunftsinsel auf der Mitte der Strecke erweitert die IGA den Nordsternpark, der 2027 sein 30-jähriges Bestehen feiert. Der Zukunftsgarten in Bergkamen und Lünen setzt programmatisch die „Landschaft in Bewegung“. Er rückt die Haldenlandschaft zwischen Lippe und Datteln-Hamm-Kanal im Nordosten des ehemaligen Montanreviers in den Mittelpunkt. Die ehemaligen Abraumhalden des Bergbaus werden aus der bergbaulichen Nutzung entlassen und für einen nachhaltigen Tourismus in Wert gesetzt. Mit einem nachhaltigen und aus den Spezifika der Landschaft entwickelten Be­wegungsangebot werden die „Expeditiven“ angesprochen. In Lünen rückt die Halde Viktoria über die IGA an die Innenstadt heran. Der Natur- und Wasser-Erlebnis-Park des „Emscherlandes“ an der Stadtgrenze von Castrop-Rauxel zu Recklinghausen als weiterer programmati­ scher Sonderstandort in dieser Ebene wird bereits seit April 2020 baulich rea­lisiert. Für ihn war kein Planungswettbewerb erforderlich, weil sich die Emschergenossenschaft auf der Grundlage eines interkommunalen integrierten Handlungskonzepts und mit einem von Kindern und Jugendlichen entworfenen Konzept erfolgreich um Mittel aus dem ersten Förderaufruf der „Grünen Infrastruktur“ 2017 für die bauliche Realisierung beworben hatte. Mit seinem nachhaltigen gesellschaftlichen und ökologischen Ansatz, die Schätze der Natur für gartenbauliche und landwirtschaftliche Produktion zu nutzen und damit Lebens- und Arbeitsgrundlagen zu schaffen, knüpft dieser Natur- und Wasser-Erlebnis-Park an das philosophische Gedankengut der Aufklärung an und verkörpert eine moderne Neuinterpretation der landwirtschaftlichen Mustergüter des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. „Gut Emscherau“ wäre vielleicht ein treffender Name für diesen Park nicht nur anlässlich der IGA 2027! In allen fünf Zukunftsgärten stellen wir uns dem Anspruch, die Geschichte der industriellen Kulturlandschaft neu zu erzählen, mit der Transformation Faszination auszulösen und modellhaft auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen Antworten zu suchen und zu finden. Internationalität der IGA „Was macht eigentlich die Internationalität einer IGA aus?“, ist eine häufig gestellte Frage. Dafür lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte. Deutschland weist die längste Tradition internationaler Gartenschauen auf, die im Übrigen von 1869 bis 1973 alle in Hamburg stattfanden. 1869 noch auf die Dauer von elf Tagen begrenzt, wurde für 420 Aussteller aus Europa und den USA mit Ausstellungshallen, Gewächshäusern und Restaurants großer Aufwand betrieben. Austragungsort war die südliche Bastion der Wallanlagen, der heutige Alte Elbpark mit Stintfang nahe den Landungsbrücken. Die zweite Internationale Gartenschau 1897 am selben Ort dauerte bereits den ganzen Sommer an. Exotische Pflanzen standen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen und populären Interesses und machten im Wesentlichen den internationalen Charakter aus. Mit der Niederdeutschen Gartenschau auf dem Gelände der ehemaligen Dammtorfriedhöfe und des Zoologischen Gartens initiierten die Nationalsozialisten 1935 ein umfangreiches Arbeitsbeschaffungsprogramm und stellten technische Innovation mit modernsten Elementen sowie Blumen aus aller Herren Länder in den Mittelpunkt. Sie legten in den Wallanlagen den Grundstein für

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Die dargestellten Visualisie­ rungen stammen aus dem siegreichen Wettbewerbs­ entwurf von Paul Giencke, GM013.la, Berlin

Mit der IGA Metropole Ruh r 2 0 2 7 verbindet sich urbane Nachhaltig k e i t mit Stadtentwicklung,  e b e n s o wie grüne Infrastruktur,  Biodivers i t ä t und blaue Infrastruk t u r .

Planten un Blomen, Austragungsort der ersten, dann auch so genannten Inter­ nationalen Gartenbauausstellungen, der IGAs 1953, 1963 und 1973. Mit der IGA 1973 ging jedoch auch Kritik einher, weil ein und dasselbe Gelände immer wieder erneut mit erheblichem Aufwand umgestaltet wurde, während es 1953 und 1963 hier wie auch in den Bundesgartenschauen anderenorts in diesen Jahrzehnten darum ging, Stadtreparatur in den durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Städten zu betreiben und der Bevölkerung ihre öffentlichen Parks wieder zurückzugeben. Der internationale Charakter der nun alle zehn Jahre stattfindenden IGAs wurde in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch die sogenannten „Nationengärten“ abgebildet. Die Beiträge der überwiegend europäischen Länder waren ein Beitrag zur Völkerverständigung und zur fachlichen Kommunikation über Grenzen hinweg. Die spezifischen Tendenzen der Gartenkunst von renommierten Landschaftsarchitekten wurden zu Publikumsmagneten, denn nur wenige Menschen waren damals in der Lage, ihren Urlaub in Dänemark, Schweden, Frankreich, Spanien, Portugal oder Italien zu verbringen

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Die dargestellten Visualisie­ rungen stammen aus dem siegreichen Wettbewerbs­ entwurf von Paul Giencke, GM013.la, Berlin

Dr. Martina Oldengott ist Landschaftsarchitektin und Kunsthistorikerin. Für die IGA 2027 hat sie die Projekt­ leitung inne und ist für die fachlichen Inhalte der Gartenausstellung verantwortlich.

und Gärten anzuschauen. Und die Länder des Ostblocks mit großer Tradition in der Gartenkunst und Botanik, zum Beispiel Estland, Tschechien und Ungarn, blieben sowieso lange Zeit unerreichbar. Nach dem deutschen Vorbild zogen andere europäische Länder nach. Die niederländische Floriade wurde 1960 zum ersten Mal ausgerichtet und findet seit 1972 alle zehn Jahre statt. Österreich führte 1964 und 1974 eine Wiener Internationale Gartenschau und im Jahr 2000 mit dem „Zauber der Gärten“ eine internationale Milleniums-Gartenschau in Graz durch. Seit 1827 verantwortet die Royal Horticultural Society ein internationales Blumenfestival in London, ab 1862 in dem namengebenden Londoner Stadtteil Chelsea angesiedelt. Chelseas Flower Show ist sicherlich nach wie vor das weltweit bedeutendste Spektakel rund um das Thema des Gärtnerns, der kleinen Schaugärten von berühmten Landschaftsarchitekten und der Pflanzenverwendung. Andere Veranstaltungen, wie das Festival Internationale des Jardins in Chaumont sur Loire, das seit 1992 jährlich in den Gärten der Domaine ausgerichtet wird, verbindet die Kunst mit dem historischen Garten. Die Liebhaber und regelmäßigen Besucher genießen es, den vorhandenen Park durch die jährlich wechselnden Kunstwerke immer wieder mit anderen Augen zu sehen. Auch für die Emscherkunst-Triennale in den Jahren 2010, 2013 und 2016 stand Chaumont sur Loire Pate. Zurück zu der Frage: Was macht die Internationalität einer IGA heute aus? Der Anspruch hat sich gewandelt. Bereits bei der Vorbereitung der Internationalen Gartenschau 2013 in Hamburg war klar, dass es keinen Sinn mehr macht und wegen der hohen damit verbundenen Kosten auch nicht sinnvoll ist, Partnerländer zu gewinnen, die einen für ihre Gartentradition typischen Garten auf der Ausstellung errichten. Deshalb wurden Landschaftsarchitekten, Gärtner und Künstler eingeladen, unter dem Motto „In 80 Gärten um die Welt“ freie Beiträge zu realisieren. Einer der schönsten Themengärten war der einer chilenischen Landschaftsarchitektin, aber hatte nichts typisch Chilenisches. Es ging mehr darum, entlang der Weltozeane aus blauen Blütenmeeren die Hamburger Internationalität zu dokumentieren. Mit einem interreligiösen Garten und einem Gebäude der Weltreligionen ist es darüber hinaus gelungen, die kulturelle und religiöse Vielfalt des Stadtteils Wilhelmsburg mit über 100 dort lebenden Nationalitäten aufzugreifen und in das Gartengroßereignis aktiv einzubinden.

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Kommentar

| Karola Geiß-Netthöfel

Lösungsans ä t z für ein   g u t e s Zusammenl e b e und ausgeglic h e Lebensverhält n i

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e n n e s s

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trukturwandel ist ein komplexer Prozess. Die Internationale Bauausstellung (IBA) in den 1990er Jahren, der Emscher-Umbau, die Kulturhauptstadt Europas 2010, Essen als Grüne Europäische Hauptstadt 2017 und nun die Internationale Gartenschau (IGA) 2027 begleiten diesen wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Umbruch seit 30 Jahren. Ein solcher Kraftakt ist nur möglich, wenn alle Mitwirkenden, Land, Kommunen, Politik, Wirtschaftsunternehmen, Wissenschaft, Gebietskörperschaften wie Wasserverbände und Regionalverband Ruhr, vor allem aber die Zivilgesellschaft, an einem Strang ziehen. Bis der erhoffte gesellschaftliche und ökonomische Veränderungsprozess Früchte trägt, braucht es viel Geduld, Zuversicht, Mut und ein gemeinsames Ziel. Die Verknüpfung der Emscher und ihrer Nebenläufe mit den begleitenden Grünzügen, mit den Haldenlandschaften und bergbaubedingten Senken führte zu einer einzigartigen industriellen Kulturlandschaft, dem Emscher Landschaftspark. Gemeinsam bieten sie uns heute die Grundlage einer für die Klimaanpassung geeigneten Stadtlandschaft, an der wir mit blauer und grüner Infrastruktur arbeiten. Es bedarf umfangreicher Investitionen. Alle genannten Großprojekte lassen sich nur durch große Kraftanstrengungen europäischer, nationaler und Landesfördermaßnahmen aus unterschiedlichsten Förderkulissen realisieren. Das Finanzierungskonzept der IGA 2027 setzt sich zusammen aus dem investiven Haushalt mit einer Größenordnung von etwa 170 Millionen Euro für die dauerhaft bleibende freiräumliche Infrastruktur sowie ca. 83,8 Millionen Euro im Durchführungshaushalt für temporäre Maßnahmen des gärtnerischen Schaugeschehens und für die Vielzahl von Veranstaltungen in den sechs Monaten. Allerdings stehen diesen Aufwendungen auch vom Ruhr-Forschungsinstitut für Innovations- und Strukturpolitik e.V. (RUFIS) der Ruhr-Universität Bochum prognostizierte wirtschaftliche Effekte gegenüber, die sich in der Schaffung von mehreren Tausend Jahresarbeitsplätzen, Erwirtschaftung von ca. 800 Millionen Euro in der Region und umfangreichen privatwirtschaftlichen Folgeinvestitionen widerspiegeln.

Karola Geiß-Netthöfel ist seit 2011 Regionaldirektorin des Regionalverbandes Ruhr.

Die Metropole Ruhr ist geprägt von einer lebendigen und allgegenwärtigen Geschichte, die von Wandel, Entwicklung und Resilienz erzählt. Immer haben sich hier in besonderem Maße gesellschaftliche, wirtschaftliche wie auch ökologische Veränderungsprozesse widergespiegelt und haben genau daraus ihre Strahlkraft bezogen. Nun erhält die Region mit der IGA 2027 die große Chance, den big push in eine klimafreundliche Zukunft zu gestalten. Die IGA 2027 stellt sich dem Diskurs, wie wir in Zukunft leben wollen. Als mit der Konzeption der Machbarkeitsstudie 2015/16 diese große programmatische Fragestellung aufgeworfen wurde, war nicht vorauszusehen, in welch hohem Maß globale Einflüsse den Prozess auf dem Weg zur Realisierung der IGA 2027 bestimmen würden. Immer häufigere und ständig wechselnde Witterungsextreme mit Unwetter- und Starkregenereignissen auf der einen Seite, monatelange Trockenheit mit hohen Temperaturen auf der anderen Seite haben in den vergangenen drei bis vier Jahren weiter an Vehemenz gewonnen und sind signifikante Merkmale des Klimawandels. Sie tragen zu Umweltkatastrophen mit der Folge von Zerstörungen ganzer Siedlungen und Landschaften, Ernteausfällen, Hungersnöten, Armut und Krankheiten bei. Von Umweltgerechtigkeit und ausgeglichenen Lebensverhältnissen sind die menschlichen Gesellschaften weltweit Lichtjahre entfernt. Beispiele wie die Corona-Pandemie zeigen, wie eng die genannten Auswirkungen in globaler Abhängigkeit stehen und auch mit dem bisher so komfortablen Leben in der westlichen Welthemisphäre verbunden sind. Die Rolle der Freiräume, ihre Nähe zum Wohnort, Gestaltung, Ausstattung und ökologische Funktion gewinnen an Bedeutung. Vor allem vor dem Hintergrund der weiterhin in rasanter Geschwindigkeit wachsenden Städte wird es immer schwieriger, die Bevölkerung wohnortnah mit Grünflächen zu versorgen: Grünflächen, die nicht nur der Erholung dienen, sondern auch klimatische Ausgleichsfunktionen zu übernehmen haben. Am Beispiel des Gartenbaus und der Landwirtschaft entzünden sich wesentliche Zukunftsfragen über Produktion, Distribution und nachhaltige Bewirtschaftung. Die 17. Architektur-Biennale in Venedig stellte sich 2021 die Frage: „How will we live together?!“ Die Beiträge zu der unter ihrer Kuratorin Marianne Krogh entwickelten Programmatik stellen Fragen, geben Antworten und setzen sich in einem vielfältigen künstlerischen Diskurs mit den Herausforderungen unserer Gegenwart und einer zu erwartenden Zukunft auseinander. Connectedness und Enoughness sind immer wiederkehrende Stichworte. Nur zusammen können wir Lösungen finden und genügsam, rücksichtsvoll und achtsam müssen wir mit unserer Umwelt umgehen. Für die IGA-Programmatik sehen wir uns bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein. Schon heute schlägt die IGA Metropole Ruhr 2027 große Wellen und zeigt einmal mehr, welche Bedeutung die Freiräume im hochverdichteten Raum haben und wie schnell die Bedeutung der grünen und blauen Infrastruktur in der Wahrnehmung der Bevölkerung für unsere Metropolregion wächst. Ziel des Ruhrgebiets ist es, die grünste Industriemetropole der Welt zu werden. Auf dem Weg dorthin ist die IGA 2027 das große programmatische Projekt, das sowohl auf der Metaebene aber auch in der Vielfalt realisierter Einzelmaßnahmen aufzeigt, wie diese Transformation gelingen kann.

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Vorbemerkung

| Dieter Nellen

Vom „Nationalp a r k der Industriekul t u r “ zur „Industri e l l e n Kulturlandsc h a f t Ruhrgeb i e t “

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D 

ie grundsätzliche Idee, das bauliche Erbe der montanbestimmten Industriegeschichte im Ruhrgebiet als historischen und gesamträumlichen Parcours zu profilieren, geht noch auf die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park zurück. Diese hatte in ihrem strategischen Testament die konzeptionelle Raumfigur eines „Nationalparks der Industriekultur“ 1999 hinterlassen. 2001 wurde der Industriekomplex Zeche Zollverein zum UNESCOWelterbe erklärt, ein Ansporn, um daraus wenig später einen weitergehenden Antrag unter dem regionalen Label „Zollverein und die industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ bzw. im weiteren Verlauf „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ entstehen zu lassen. Bestimmend ist dabei der Gedanke, „dass konstante Objektbeziehungen dem geschichtlichen Wandel nicht widersprechen, sondern vor flachen Fortschrittsideen bewahren“ und „das Verhältnis zum eigenen Gewordensein als Reifekriterium sich auf ganze Regionen beziehen lässt“ (Christian, Geyer, FAZ 27.8.2021 mit Bezug zu Wolfram Eilenberger, Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung, 2021). Dort heißt es u.a.: „Denn in vieler Hinsicht ist das Ruhrgebiet ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Transformation, welche die westliche Moderne des fossilen Kapitalismus in den kommenden Jahrzehnten zu bewältigen haben wird“. Mit der Bewerbung war von Anfang an federführend die Stiftung für Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (Dortmund) beauftragt, eine Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen und der RAG Aktiengesellschaft. 2014 wurde das Projekt im Verfahren zur Fortschreibung der deutschen Tentativliste für das UNESCO-Welterbe von der zuständigen Kulturministerkonferenz (KMK) mit der Empfehlung zurückgestellt, die „Industrielle Kulturlandschaft“ in ihren funktional-genetischen und topografischen Verknüpfungen weiter zu erforschen. 2017 reichte der damalige NRW-Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr den neuen Entwurf bei der KMK ein. Mit der sukzessiv weiter ausgearbeiteten Bewerbung beteiligte sich die Projektpartnergemeinschaft aus Industriedenkmalstiftung, Regionalverband Ruhr (RVR), Emschergenossenschaft und den beiden Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe 2021 am Interessenbekundungsverfahren des Landes NRW zur Fortschreibung der deut-

Kokerei Zollverein, Essen-Katernberg

Dr. Dieter Nellen war bis 2014 Fachbereichsleiter beim Regionalverband Ruhr und ist jetzt freier Berater und Publizist.

schen Vorschlagsliste für das UNESCO-Welterbe. Das revidierte Konzept setzte weniger auf Einzelobjekte, sondern auf die großen historischen Raumlinien und das Zukunftselement von Transformation und Wandel. Dennoch lehnten 2021 „systemrelevante“ Großstädte wie Bochum, Essen, Mülheim, Duisburg – alle mit prominenten Adressen der Industriekultur auf dem eigenen Territorium – und NRW als vorschlagsberechtigtes Bundesland den konditionierten Vorschlag für die nächste nationale Auswahlrunde (2022) ab. Die betreffenden Kommunen befürchteten mehrheitlich steigende Kosten, eine prohibitiv-konservierende Raumentwicklung und das Image einer musealisierten, nicht zukunftsoffenen Region. Zeitgleich bezweifelte eine vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung NRW eingesetzte Jury die Eignung des vorliegenden Bewerbungsentwurfes. Demgegenüber hatte sich eine numerische Mehrheit unter den anderen kommunalen (und insbesondere kreisangehörigen) Gebietskörperschaften und regionalen Institutionen (Wasser- und Landschaftsverbände) formiert. Positiv war auch das Votum der Verbandsversammlung des RVR ausgefallen, immerhin das oberste Vertretungsorgan für die Konstitution der Metropole Ruhr. Aufgrund dieses Votums signalisierte u.a. die Stadt Bochum, den Prozess nun doch konstruktiv unterstützen zu wollen. Dazu wäre allerdings eine erneute Beratung und revidierende Beschlussfassung durch den zuständigen Rat notwendig. Die nächste Auswahlrunde steht wohl frühestens 2037 an, obwohl die Chancen dort angesichts der Dominanz europäischer und deutscher UNESCO-Standorte bzw. des verständlichen Nachholbedarfs anderer Kontinente eher schwinden. Das Konzept, die gedankliche Architektur der UNESCO-Bewerbung „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ wird im Folgenden von der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur dokumentiert.

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Nordsternpark in Gelsenkirchen-Horst

Industri e l l e Kulturland s c h a f Ruhrge b i e t

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t

| Ursula Mehrfeld, Marita Pfeiffer

W 

as ist das Einzigartige, das Unverwechselbare am Ruhrgebiet – nicht nur auf nationaler Ebene, sondern im weltweiten Vergleich, und nicht nur historisch betrachtet, sondern auf der Basis des heutigen Bestands? Die Antwort liegt auf der Hand oder besser: im Raum; sie ist einfach und zugleich von hoher Komplexität. Das Besondere besteht zunächst darin, dass es sich beim Ruhrgebiet um eine komplett von Menschenhand radikal überformte Landschaft handelt, um ein idealtypisches Beispiel also für das Zeitalter des Anthropozäns. Es gibt kaum eine Fläche, die in den letzten 150 Jahren nicht der Logik der industriellen Entwicklung, die weiträumig irreversible Spuren hinterlassen hat, unterworfen war. Auch die frühen Regulierungsbestrebungen auf der Basis einer weitsichtigen Regionalplanung, zum Beispiel im Hinblick auf die Verschmutzung der Luft, sind noch im Raum ablesbar. So wurden die bis heute wichtigen Frischluftschneisen des Reviers unter Robert Schmidt, dem Direktor des 1920 gegründeten Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirks, in Form von fünf jeweils von Norden nach Süden verlaufenden Grünzügen realisiert, um den Menschen im dichten industriellen Ballungsraum Luft zum Atmen zu verschaffen.

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Nordsternpark in Gelsenkirchen-Horst

Künstliche Berge Außergewöhnlich ist auch das Landschaftsrelief des Ruhrgebiets. Das Zeitalter der Montanindustrie hinterließ mehr als 130 Halden. Städtische oder dörfliche Strukturen sprengend, sind sie – vor Ort am Fuße der künstlichen Berge ebenso wie aus der Vogelperspektive – raumgreifend und bildprägend. 50 Prozent der Fördermenge bestand in der Regel aus Steinen, dem sogenannten Bergematerial, das von der Steinkohle getrennt und als Abraum in der Landschaft platziert wurde. Die geförderte Kohle ist längst verwertet und nur noch in Form von überlieferten Zahlen- bzw. Fördermengenangaben greifbar. Das Bergematerial hingegen ist als Hinterlassenschaft dauerhaft im Raum vorhanden. Die frühen Spitzkegelhalden wie die „sieben Berge“ in DortmundHallerey bis hin zu den späten riesigen Tafelbergen wie der Halde Haniel in Bottrop geben in ihrer Typologie und zeitlichen Abfolge Auskunft über die radikale Landnahme durch die Industrie. Erst mit der Umgestaltung zu Landschaftsbauwerken, der Öffnung und Inszenierung der Halden wurden diese Räume der Bevölkerung zur Nutzung für Freizeit und Kultur übergeben – ein bedeutsamer Akt der Landschaftsrückgewinnung für die Menschen im Ruhrgebiet. Planvoll und ökologisch weitsichtig Als negatives Relief in der Landschaft verdienen die weltweit größten, industriebedingten Polder Beachtung: Die ausgedehnten und zum Teil bis zu 25 Meter tiefen Senkungsmulden sind Zeichen der landschaftlichen Auswirkungen des Steinkohlenbergbaus, der ab 1870 mit dem beginnenden Tiefbau immer größere Teufen erreichte. Die Absenkungen hatten gravierende Folgen: Sie verhinderten den natürlichen Lauf der Emscher, in die bis zur Jahrhundertwende Abwässer der Industrie und Schmutzwasser der Städte unkontrolliert eingeleitet wurden. Weil sich der Fluss und die Zuläufe keine dem natürlichen Gefälle folgenden Wege mehr bahnen konnten, kam es regelmäßig zu heftigen Überschwemmungen und in deren Folge zu Versumpfungen und Fäulnis und damit zur Ausbreitung von lebensbedrohlichen Epidemien (Cholera und Typhus). Bewältigt wurden die Probleme jedoch durch einen planvollen Umgang in regionalem Maßstab in Form eines sehr frühen und weitsichtigen ökologischen Wasser- und Abwassermanagements durch die 1899 gegründete Emschergenossenschaft. Mit dem Bau der Neuen Emscher als offenem Abwasserkanal (1906–1910) mit zahlreichen Pump- und Klärwerken konnten die Überschwemmungen eingedämmt und so die Lebensbedingungen im Ruhrgebiet erheblich verbessert werden. Der Zusammenschluss von Kommunen und Industrieunternehmen in der Emschergenossenschaft und die herausragenden Ingenieurleistungen im Tief-, Hoch- und Wasserbau, die flächendeckend in der Region zum Beispiel in Gestalt von hohen, die Landschaft prägenden Deichen und technisch wie architektonisch qualitätvollen Pump- und Klärwerken bis heute sichtbar und zumeist noch in Funktion sind, ermöglichte die weiteren industriellen Entwicklungen und das Überleben der Menschen in der Region. So zeugen sowohl der Bau der neuen Emscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch die europaweit einzigartige Revitalisierung des regionalen Abwasserkanals rund 100 Jahre später im jeweiligen Zeithorizont von einem planvollen, verantwortlichen und ökologischen Umgang in Bezug auf Mensch und Umwelt. Alles für den Transport Ein weiteres wesentliches Charakteristikum der Ruhrgebietslandschaft ist das industrielle Transportnetz, das in seiner Größe und Dichte im Zeitraum von 1850 bis 1960 in Europa singulär war und bis heute in Nutzung bzw. durch Umnutzung erlebbar ist. Die Ruhr, die bis in die 1860er Jahre die verkehrsreichste Wasserstraße in Deutschland darstellte, ermöglichte den kostengünstigen Transport der Kohle zum Rhein. Der Rhein mit den großen Binnenhäfen (z. B. Duisburg Ruhrort und Duisburger Häfen) hatte als wichtigste transnationale Verkehrsader Europas ebenfalls eine Schlüsselfunktion im Verkehrsnetz des Ruhrgebiets, zum Abtransport von Kohle und Koks sowie zum Import von Eisenerz zunächst aus dem Lahn-Dill-Gebiet und später u.a. aus Spanien und Schweden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand ergänzend ein dichtes Netz aus Bahnlinien, das aber auch schon bald an seine Grenzen stoßen sollte. Deshalb wurden ab 1899 Kanäle gebaut: der Dortmund-Ems-Kanal, der Rhein-

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Ursula Mehrfeld ist Geschäftsführerin der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur,

Dr. Marita Pfeiffer ist dort für Kommunikation, Geschichtskultur, kulturelle Nutzung zuständig.

Herne-Kanal, der Wesel-Datteln-Kanal und der Datteln-Hamm-Kanal. Gespeist wurden diese Transportwege mit dem Wasser der Lippe, die eine Schlüsselfunktion für das gesamte westdeutsche Kanalsystem hatte und hat. Komplett vernetzt Die linearen, verknüpfenden Elemente wären ihrer systemrelevanten, historischen Bedeutung beraubt, wären nicht die wesentlichen Stätten der Montanindustrie in Form von Zechen, Kokereien, Hütten- und Stahlwerken bis hin zu qualitätvollen Wohnsiedlungen des Industriezeitalters bewahrt worden. Fördergerüste, Gasometer, Hochöfen markieren als weithin sichtbare Landmarken die Orte der großmaßstäblichen Schwerindustrie in der Landschaft. Nur zusammen mit den Monumenten bleibt der historische Kontext als hochfunktionsfähiges, komplett vernetztes System erfahrbar, das im Zeitraum von 1850 bis 1960 auf der Basis einer modernen Verbundwirtschaft von Kohle, Koks, Eisen und Stahl eine der dichtesten und bedeutendsten Industriekonzentrationen der Welt darstellte. Die besondere Qualität der Kohle (Kokskohle), die strategisch günstige Lage und der überdurchschnittliche Erfinder- und Unternehmergeist im Ruhrgebiet zählen zu den wesentlichen Antriebskräften dieser Entwicklung. Exzellent transformiert Ebenfalls einzigartig ist, dass die Geschichte und die Funktionsweisen der großen „Maschine“ Ruhrgebiet in Form einer hochleistungsfähigen, großmaßstäblichen Verbundwirtschaft als industrielle Kulturlandschaft in der dynamischen Metropole Ruhr trotz des Strukturwandels weiterhin ablesbar sind und selbstbewusst in Gegenwarts- und Zukunftskonzepte eingebunden wurden und werden. Die exzellenten Transformationsleistungen des Ruhrgebiets dienen weltweit als Vorbild – innerhalb Europas ebenso wie in Asien oder Amerika. Den in der letzten Dekade verfolgten Plan, die im industriellen Erbe materialisierten Leistungen der Bevölkerung, der Unternehmen, Verbände und Institutionen des Ruhrgebiets als ein UNESCO-Welterbe vorzuschlagen, sollte die Region als authentisches, zukunftsträchtiges Gemeinschaftsprojekt – allen politischen Hürden zum Trotz – fest im Auge behalten.

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Internatio n a l e Betreiberpartnerscha f t e n zur Lösung   glob a l e r Wasserpro b l e m e

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Erlebbare Unterstützung für das Betriebspersonal

Emanuel Grün, Sven Lyko, Frank Obenaus

mschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) stehen für eine nachhaltige Wasserwirtschaft und die Daseinsfürsorge. Aus unserem Verständnis heraus wollen wir auch benachteiligten Menschen im südlichen Afrika helfen, den Zugang zu einer geregelten Abwasserentsorgung dauerhaft zu sichern. Hierzu haben Emschergenossenschaft und Lippeverband im Jahre 2017 eine mehrjährige Patenschaft für die abwassertechnischen Anlagen in der Stadt Outapi, Namibia, übernommen. Durch den Einsatz von Fachpersonal wird der nachhaltige Betrieb der Abwasseranlagen vor Ort unterstützt. Eine weitere Partnerschaft wurde zusammen mit anderen deutschen Wasserwirtschaftsunternehmen und GELSENWASSER als Leadpartner im Rahmen eines GIZ-Programms zur Entwicklungszusammenarbeit mit dem für die Wasserver- und -entsorgung in der sambischen Zentralprovinz zuständigen Unternehmen Lukanga Water Supply and Sanitation Company (LgWSRC) 2021 etabliert – nach Erstkontakten zu dem Wasserwirtschaftsunternehmen der Hauptstadt Lusaka. Der Beitrag gibt einen Einblick in die Beweggründe für diese Engagements und zeigt an ausgewählten Beispielen den vielfältigen Nutzen und den Mehrwert für alle Beteiligten. Urbane Migration als Beispiel für gesellschaftliches Engagement „Eine stabile Welt bekommt man nicht, wenn man seine Türen vor dem Elend schließt“, erkannte Sadako Ogata, Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, bereits vor mehr als 25 Jahren (Meier-Braun 2017). Seither hat sich das „Weltflüchtlingsproblem“ eher verschärft. Neben Kriegen, Unrecht, Hunger und Armut sind die Fluchtursachen immer häufiger auch Umweltkatastrophen. Wassermangel infolge von Dürreperioden, massive Überschwemmungen, aber auch die Zerstörung natürlicher Wasservorräte durch Abwassereinleitungen sind Beispiele aus der Wasserwirtschaft, die sich zu Fluchtursachen potenzieren können. Verstärkt durch immer deutlicher zu Tage tretende Auswirkungen des Klimawandels und in Kombination mit einer unzureichenden Ver- und Entsorgungsinfrastruktur können sich derartige Extremereignisse zu humanitären Katastrophen entwickeln, die Menschen veranlassen können, ihre Heimat zu verlassen. Der Blick auf die weltweiten Migrationsströme zeigt, dass Europa vor allem für Asien und Afrika als Zielregion dient. Neben globalen Bewegungen treiben die oben beschriebenen Phänomene aber in erster Linie die Migration innerhalb einer Region. So wird ein Land wie Namibia aufgrund seiner geografischen Lage die Auswirkungen der massiven Zuwanderung in seine beiden Nachbarländer Angola und Südafrika spüren. Die Wasserwirtschaft steht sicher nicht im Kern der Migrationsfrage. Dennoch kann sie einen wichtigen Beitrag leisten, die Rahmenbedingungen für ein urbanes Leben in städtischen Zentren und Metropolen mitzugestalten. Durch Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen kann die Wertschöpfung gesteigert werden, was sich letztlich positiv auf die Stabilität der Region auswirken wird. Ein wesentliches Ziel ist dabei zuallererst der Wissenstransfer. Daher sollte sich auch die konkrete Umsetzung von Projekten nicht an einem möglicherweise bestehenden Bedarf oder Handlungsdruck orientieren, sondern vor allem am Umsetzbaren. Vor diesem Hintergrund verstehen wir unsere Betreiberpartnerschaften mit der Stadt Outapi in Namibia und mit LgWSRC in Sambia auch als Bildungsprojekte und soziales Engagement für die Region. Gesellschaftliche Verantwortung und Generationengerechtigkeit – das Selbstverständnis von Emschergenossenschaft und Lippeverband EGLV wollen ihr aus langer Erfahrung resultierendes Know-how auch über die gesetzlichen Aufgaben und den regionalen Wirkungskreis hinaus nutzbar machen. Dieses Selbstverständnis trägt auch dem Wunsch der Politik und der interessierten Öffentlichkeit Rechnung, unsere wasserwirtschaftliche Kompetenz nicht nur den Mitgliedern zugänglich zu machen, sondern auch anderen Interessierten. Zur Umsetzung dieses Anspruchs wurden frühzeitig die organisationstechnischen Voraussetzungen geschaffen. 1994 wurden die Lippe Wassertechnik GmbH und die Emscher Wassertechnik GmbH als 100-prozentige Töchter des Lippeverbandes und der Emschergenossenschaft gegründet. Für die Abwicklung von Wassermanagementaufgaben und für Beratungen in Organisations-, Kosten- und Wirtschaftsfragen der Wasserwirtschaft stehen anerkannte

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Experten weltweit schnell und flexibel zur Verfügung. Unseren Mitarbeitenden bietet sich damit eine gern angenommene Möglichkeit zur beruflichen, aber auch zur sozialen Weiterbildung. Namibia und Sambia – Situation vor Ort Namibia ist ein politisch stabiler Staat im südlichen Afrika. Die Wirtschaft wird dominiert von der Landwirtschaft und dem Erzbergbau. Aufgrund der NamibWüste ist Namibia extrem dünn besiedelt. 44 Prozent der stetig wachsenden Bevölkerung konzentrieren sich auf wenige Städte und den fruchtbaren Norden des Landes. 15 Prozent der Gesamtbevölkerung leben in der Hauptstadt Windhoek (300.000 Einwohner). Nur noch etwa 50 Prozent der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten und der Trend zur Verstädterung setzt sich auch in Namibia mit hoher Geschwindigkeit fort. Das führt dazu, dass der notwendige Ausbau der Infrastruktursysteme in den urbanen Ballungszentren kaum mit dem hohen Wachstum Schritt halten kann. Diese Rahmenbedingungen führen zu Konflikten über ungleiche Landverteilung und raubbauartige Bewirtschaftungssysteme. Es droht eine Übernutzung und Verknappung natürlicher Ressourcen, besonders von Wasser. Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) arbeitet bereits seit der Unabhängigkeit des Landes 1990 u. a. auch im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt mit Namibia zusammen. Sambia – vormals Nordrhodesien – ist ein Binnenstaat im südlichen Afrika und Nachbarstaat Namibias. Sambia wird durch das Einzugsgebiet des Sambesi nach Süden und das des Kongo nach Norden geprägt. Beide Einzugsgebiete sind grenzüberschreitend und von kontinentaler Bedeutung. Sambia hat eine der am schnellsten wachsenden Bevölkerungen weltweit. Seit 1950 hat sich die Einwohnerzahl auf einen Wert von rund 18,4 Millionen versiebenfacht und wird sich bis Mitte des Jahrhunderts laut Prognosen noch einmal mehr als verdoppeln. Sambia gehört aber auch zu den Ländern mit der höchsten HIVInfektionsrate. 2016 lebten 41,4 Prozent der Bevölkerung in Städten oder städtischen Räumen. Landwirtschaft, Kupfer- und Kobaltbergbau und -verhüttung im Copperbelt sind die tragenden Sektoren der Wirtschaft in Sambia. In Kabwe – dem Standort des Partnerunternehmens LgWSC – werden auch Zinn- und Bleibergbau betrieben. Trotz aller wirtschaftlicher Anstrengungen zählt Sambia nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt. Praktische Hilfe für die Stadt Outapi und die Wasserver- und Abwasserentsorgung in der Zentralprovinz in Sambia Outapi gilt als die am schnellsten wachsende Stadt in der Region Omusati im fruchtbaren Norden Namibias. Die oben beschriebenen allgemeinen Probleme von Namibia werden hier konkret und vor Ort erlebbar. Die mehr als 6000 Ein­­ wohner haben überwiegend keinen Zugang zu einer geregelten Abwasserent­ sorgung. Jedes Jahr nach neun Monaten Trockenheit hungert das Vieh und Not­ schlachtungen sind an der Tagesordnung. Der Anbau von Getreide und Gemüse ist gefährdet. In Europa etablierte Abhilfemaßnahmen wie effizienter Wassergebrauch, Kreislaufwirtschaft oder Wasserwiederverwendung müssen für den Praxiseinsatz vor Ort angepasst und umgesetzt werden. Mit den Projekten „CUVE Waters“ und „Ertüchtigung von AbwasserPonds zur Erzeugung von Bewässerungswasser am Beispiel des Cuvelai-EtoshaBasins in Namibia“ (EpoNa) versucht die Technische Universität Darmstadt zusammen mit weiteren Hochschulen, Ingenieurbüros, Sozialforschern und der GIZ den sensiblen Wasserkreislauf in Outapi zu stärken. Dazu soll u. a. die vorhandene Abwasserinfrastruktur angemessen ertüchtigt werden. Im weiteren Verlauf der Zusammenarbeit soll das vorgereinigte Abwasser zur Bewässerung eingesetzt werden. In Ergänzung zu den GIZ-Projekten unterstützen EGLV in Abstimmung mit der TU Darmstadt und dem Outapi Town Council (OTC) den Betrieb des Abwassersystems ganz konkret und erlebbar durch den gezielten Einsatz interessierter Mitarbeitender vor Ort. Außerdem werden Mitarbeitende des OTC vor Ort, aber auch an Abwasseranlagen in Deutschland im Emscher-Lippe-Gebiet geschult. Damit bleibt der beiderseitige Wissenstransfer kein bloßes Lippenbekenntnis, sondern wird für alle Beteiligten erlebbar. Die Zentralprovinz in Sambia ist überwiegend ländlich geprägt. So gilt der Distrikt Mumbwa als die Kornkammer Sambias. Daneben gibt es aber auch Bergbau und verarbeitende Industrie in der Provinz, die durch die Präsenz

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Dr. Emanuel Grün ist Mitglied des Vorstands der Emscher­ genossenschaft und für den Bereich Wassermanagement und Technik verantwortlich.

Dr. Sven Lyko ist der Referent des Vorstandsbereichs Wassermanagement und Technik bei der Emschergenossenschaft.

Dr. Ing. Frank Obenaus ist Leiter des Geschäftsbereich Betrieb bei der Emscher­ genossenschaft.

zahlreicher privater Hilfsorganisationen auch von ihrer Hauptstadtnähe profitiert. Kabwe ist die Hauptstadt der Zentralprovinz und zweitgrößte Stadt Sambias. Die Bewohner sind bergbaubedingt potenziell von der Verschmutzung der Umwelt durch Blei und Cadmium betroffen. Aufgrund dessen ist die Stadt seit 2006 auf der Liste der schmutzigsten Orte der Welt, die von der Umweltorganisation Blacksmith Institute veröffentlicht wird. Die genannten wie auch aus Namibia bekannten Strukturprobleme sind auch in der Wasserwirtschaft Sambias und in der Zentralprovinz anzutreffen, wobei durch den organisatorischen Überbau mit dem National Water supply and sanitation council (Nwasco 2020) und der regionalen Aufgabenzuordung auf ein Wasserwirtschaftsunternehmen je Provinz insgesamt ein professioneller Gesamteindruck entsteht. LgWSRC ist ein Wasserwirtschaftsunternehmen mit den bekannten Problemen im Bereich des Zustandes der Infrastruktur bzw. der insgesamt fehlenden Mittel für Infrastrukturerhalt und -ausbau. Das erforderliche Know-how zu Planung, Betrieb und Management liegt grundsätzlich vor. In den derzeit ausschließlich digital stattfindenden Austauschen werden daher die Kernthemen erarbeitet, zu denen dann in den anschließenden Präsenzphasen vor Ort der Wissenstransfer erfolgen soll. Mehrwert für alle Beteiligten Die interessierten Kolleginnen und Kollegen haben die Möglichkeit, sich vor Ort in ihrem jeweiligen Fachgebiet einzubringen. Die Einsatzdauer ist abhängig von der jeweiligen Aufgabe im Anlagenbetrieb und betrug in Namibia bisher meist sechs bis acht Wochen. Die Auslandserfahrung und die eigenverantwortliche Planung und Umsetzung der Arbeiten vor Ort ergänzt die Personalentwicklung. Um dies so effektiv wie möglich zu gestalten, wurde für die interessierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigens ein internes Kultur-Coaching konzipiert. Über die Nutzung aktueller, digitaler Kommunikationsmittel ist auch während der Präsenzphase ein sehr regelmäßiger Austausch, zum Beispiel mit den Vorgesetzten bei EGLV, sichergestellt. Dies unterstützt zusätzlich das hohe Sicherheitsgefühl, das Vertrauen und die Mitarbeiterzufriedenheit und bildet die Grundlage für die außerordentliche und beispielhafte Leistungsbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen vor Ort. Die Kolleginnen und Kollegen machen unsere Unternehmensgrundsätze Respekt und Wertschätzung, Eigenverantwortung und Vertrauen erlebbar. OTC profitiert dabei von der technischen Unterstützung, der Verbesserung von Organisationsabläufen und vom technischen Wissenstransfer. Langfristig streben wir an, den Wissenstransfer vor Ort zu verstetigen. Dabei unterstützen wir die afrikanischen Kolleginnen und Kollegen etwa beim Aufbau von Kläranlagennachbarschaften. Über ein von EGLV konzipiertes angepasstes Schulungsprogramm wird der vor Ort initiierte Wissenstransfer für ausgewählte afrikanische Kolleginnen und Kollegen in Deutschland ergänzt. Das dreimonatige Programm sieht einen Mix aus Theorie und Praxis vor. Das afrikanische Betriebspersonal lernt unsere Abwasseranlagen und die vielfältigen Herausforderungen beim täglichen Betrieb in einem modernen Abwasserunternehmen in Deutschland kennen. In Treffen mit dem Betriebspersonal können die Erfahrungen vor dem Hintergrund der namibischen Randbedingungen gemeinsam diskutiert werden. Das Konzept ist außerordentlich erfolgreich und wurde von der DWA zertifiziert. Alles in allem eine ausnahmslose Erfolgsgeschichte, die fortgesetzt wird und mit dem Förderprojekt in Sambia einen zweiten Schwerpunkt erhält. Ausblick Die Engagements von EGLV in Namibia und jetzt in Sambia werden von einer großen Zustimmung in allen Bereichen getragen: – den kommunalen und industriellen Mitgliedern der Emscher-Lippe-Region, – den Aufsichtsgremien und Überwachungsbehörden, – und ganz besonders von den Mitarbeitenden. EGLV bleiben damit attraktive Arbeitgeber auch für zukünftige Fachkräfte. Mit der Möglichkeit, sich in unseren Auslandsprojekten zu engagieren, können EGLV ihren Mitarbeitenden einen zusätzlichen Aspekt der beruflichen Persönlichkeitsentwicklung anbieten. Corona führte leider 2020 zu einem weitestgehenden Erliegen des Austausches vor Ort auf Augenhöhe, der hoffentlich aber spätestens 2022 wieder aufgenommen werden kann, denn er bildet die Essenz dieser Projekte.

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| Antje Stokman Die Aire bei Genf

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Learning   f r o m : Transformation  urb a n e Flusslandscha f t e n im internation a l e n Vergl e i c h

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nzählige Städte in der ganzen Welt haben sich auf den Weg gemacht, um ihre urbanen Fließgewässer hin zu mehr Naturnähe zu entwickeln und dabei gleichzeitig erhöhten Anforderungen an die Stadtentwicklung, den Hochwasserschutz, die ökologische Aufwertung und Erholungsnutzung Rechnung zu tragen. Auf der Basis integrierter Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität durch Abwasserreinigung und Regenwasserbehandlung geht es darum, urbane Flussräume von den gefährlichen, stinkenden Rückseiten der Städte zu deren erster Adresse und Visitenkarte zu machen. Damit kommt ihrer multifunktionalen Gestaltung eine ganz neue Bedeutung zu: von den technischen, harten Betonrinnen, durch die Arnold Schwarzenegger als Terminator in Los Angeles brauste, hin zu lebendigen Flusslandschaften für alle Lebewesen am und im Fluss. Diese Entwicklung ist Ausdruck eines grundlegenden Paradigmenwechsels: vom Prinzip der Naturbeherrschung, der Begradigung und dem Ausbau von Flüssen als technische Infrastruktursysteme im Zeitalter der Industrialisierung hin zu einem zukunftsweisenden Umbau von Flussräumen als zugleich kunstvoll gesteuerte wasserwirtschaftliche Systeme, natürliche und dynamische Ökosysteme sowie lebendige öffentliche Räume der Stadt. Denn die mit der Urbanisierung und dem Klimawandel einhergehenden Herausforderungen werden immer größer und die Antworten lassen sich nicht mehr durch einzelne Disziplinen und planerische Strategien finden, die jeweils nur einzelne Aspekte der Gewässer betreffen. Gleichzeitig gibt es die Notwendigkeit, auf der Basis naturbasierter Prozesse die Leistungsfähigkeit blau-grüner Infrastruktursysteme zu verbessern, und deren Bau und Betrieb als integrierte Bestandteile urbaner Landschaften zu entwickeln, die vielfältige ökonomische, ökologische und sozio-kulturelle Funktionen erfüllen. Parallel zur blau-grünen Transformation der Emscher wurden in den letzten Jahrzehnten innovative Ansätze an verschiedenen Orten der Welt entwickelt, die den infrastrukturellen Umbau urbaner Flussräume mit einer deutlich verbesserten ökologischen Qualität wie auch Lebensqualität in Stadt und Region verknüpfen. Dafür stellt der urbane Raum ein Territorium strategischer Möglichkeiten dar, in dem das Verhältnis dieser komplexen, teilweise widersprüchlichen Ansprüche an die Gewässer immer wieder neu verhandelt und in der Zusammenarbeit von Wasserbauingenieur*innen, Stadt- und Umweltplaner*innen sowie (Landschafts-)Architekt*innen synergetisch gestaltet werden muss. Anhand der folgenden Projektbeispiele werden drei übergreifende Strategien verdeutlicht, die sowohl dem Emscher-Umbau als auch internationalen Projekten zugrunde liegen.

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unten: Der Fluss Chuanzhi in Changde

Flussrenaturierung als Hybridisierung von Natürlichem und Artifiziellem Für den zukunftsweisenden Umbau kanalisierter Gewässersysteme stellt die Wiederherstellung des natürlichen Zustandes der Gewässer zwar ein ökologisches Leitbild, jedoch nicht das planerische Ziel dar, da durch Urbanisierung stark überformte Gewässerauen in den meisten Fällen nicht wieder herstellbar sind. Auf Basis der jeweils spezifischen Kulturgeschichte des Orts gilt es, neue Ansätze zu entwickeln, die eine ökologische Aufwertung des Gewässers mit der menschlich veränderten Topografie und dem Hochwasserschutz als unverzichtbare und positiv interpretierte Gestaltungselemente der renaturierten Gewässerlandschaft zusammendenken. Dabei geht es um das Erzeugen neuer Bilder jenseits der Vorstellungen natürlicher Flussauen. Ziel ist die Inszenierung des Spannungsverhältnisses zwischen Technik und Wildheit: auf der einen Seite die von Menschen geplanten und gebauten Systeme funktionaler Infrastruktur und ihrer entsprechenden Ästhetik als Rahmen, auf der anderen Seite die Flussauen in ihren neuen Profilen mit mehr Raum für natürliche Prozesse und eigendyna­ mische Entwicklung.

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rechts: Benthemplein in Rotterdam

Das Beispiel der mit vielen Preisen ausgezeichneten Renaturierung der Aire im Schweizer Kanton Genf zeigt, dass Kanalisierung und Revitalisierung eines Gewässers keine Widersprüche darstellen, sondern zu neuen ökologischen Werten und ästhetischen Bildern führen können. Anstatt des Rückbaus einer Rekonstruktion des natürlichen Flussbetts der Aire entwickelte die Projektgemeinschaft Superpositions, ein interdisziplinäres Team von Gestalter*innen, Biolog*innen und Hydrolog*innen sowie Bau- und Umweltingenieur*innen, einen neuen Ansatz: Sie erhielten und inszenierten das kanalisierte Flussbett als Stillgewässer mit einer Kette unterschiedlicher Gärten und verknüpften diesen Kanal mit einer neuen, parallel dazu verlaufenden dynamischen Auenlandschaft. Dieser Ansatz ermöglicht ein Erkennen und Verstehen von Vorher und Nachher: Der geometrisch angelegte Kanal steht im starken Kontrast zu dem breiten, aber durch Deiche limitierten Auenraum, innerhalb dessen der Fluss sich aus eigener Kraft seinen mäandernden Weg durch ein als Starthilfe rautenförmig ausgehobenes Gitternetz bahnt. Wasserwirtschaftliche Bauwerke des Hochwasserschutzes, des Wasserrückhalts und der Wasserreinigung als stadträumliche Gestaltungselemente Urbane Flussräume stehen notwendigerweise in einem räumlichen und funktionalen Zusammenhang mit einer ganzen Reihe architektonischer Infrastrukturelemente wie Brücken, Deiche, Pumpwerke, Schachtstandorte, Rückhaltebecken und Kläranlagen, die diese Räume prägen. Anstatt diese als rein funktionale und technische Ingenieurbauwerke zu verstecken, zu umzäunen und aus der Wahrnehmung zu verbannen, geht es darum, das Potenzial dieser Elemente als zukunftweisende „Wasserkünste“ neu zu interpretieren und diese als ästhetisch ansprechende, wenn möglich auch zugängliche und ökologisch optimierte Gestaltungselemente in Wert zu setzen. Auf Grundlage eines vom interdisziplinären Team der Wasser Hannover GmbH entwickelten Rahmenplans für die wasserbewusste Stadtentwicklung der Stadt Changde in China setzte das Konsortium entlang des Chuanzi-Flusses eine Reihe von Pilotprojekten um, die demonstrieren, wie Hochwasserschutz-, Entwässerungs- und Wasseraufbereitungssysteme als Kombinationen aus gebauter Infrastruktur, ökologischen Funktionen und attraktiven Parkanlagen einen wesentlichen Impuls für die Stadtentwicklung und Förderung von Lebensqualität geben können. Der Umbau von Mischwasserbecken zu attraktiv gestalteten Retentionsbodenfiltern zeigt, wie sich die kostengünstige Optimierung der technischen Leistungsfähigkeit der Wasserinfrastruktur mit der Verbesserung der ökologischen Gewässerqualität, Erhöhung der urbanen Biodiversität und Gestaltung der Flussufer kombinieren lässt. Der Mischwasserüberlauf aus der Kanalisation wird nicht mehr ungereinigt in den Fluss eingeleitet, sondern in einer Abfolge von Pflanzenkläranlagen gereinigt, die wiederum zu einem wesentlichen Ausgangspunkt der

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Entwicklung einer flussbegleitenden Parklandschaft werden. Durch die Einbeziehung dynamischer, natürlicher und sich selbst regulierender ökologischer Prozesse funktionieren diese Abwasserparks als künstlich-technische „Biotope“, die weniger Energie- und Wartungsaufwand erfordern als konventionelle Anlagen, und bieten zugleich einen großen ökologischen und sozialen Mehrwert.

Prof. Antje Stokman ist Professorin für Architektur und Landschaft an der HafenCity Universität in Hamburg.

Der lokale Wasserhaushalt und die Fließwege des Regenwassers als Grundlage einer wasserbewussten Stadtentwicklung Starkregen, Hochwasser, Trockenheit und Hitze sind Extremereignisse, die im Zuge des Klimawandels überall auf der Welt zunehmen werden. Deshalb sind Stadtentwässerung und Stadtplanung gemeinsam gefordert, eine ausreichende Wasserversorgung auch bei Hitzeperioden durch eine bessere Speicherung des Wassers sicherzustellen, das bei Starkregenereignissen oberflächig abfließende Wasser als strukturell-formgebende Kraft anzuerkennen und die räumliche Organisation der Stadt im Zusammenspiel zwischen Oberflächenrelief, ober- und unterirdischen Fließwegen und daran angepassten Raumnutzungen zu optimieren. Dazu bedarf es der Entwicklung einer vernetzen blau-grünen Infrastruktur, basierend auf einem großräumigen Verbund von Gewässern, Grundwasser, Anlagen der Regenwasserbewirtschaftung sowie öffentlichen und privaten Gebäuden, Verkehrs- und Grünflächen. Das Büro De Urbanisten aus Rotterdam vereint in seinen Projekten funktional und gestalterisch geschickt die Belange des Städtebaus, der Wasserwirtschaft, der Straßen- und Freiraumplanung und der Klimavorsorge. Den Ausgangspunkt stellen die im „Waterplan“ für Rotterdam dar­gestellten planerischstrategischen Ansätze für die Neuorganisation der urba­nen Fließräume im Sinne einer langfristig anzulegenden Erweiterung des bestehenden Gewässersystems und Kanalnetzes dar, im Zusammenspiel zwischen unter- und oberirdischen Maßnahmen, die alle Raumstrukturen der Stadt durchziehen. Das Regenwasser verschwindet nicht mehr einfach in der Kanalisation, sondern stellt durch die geschickte Verknüpfung von Fließ-, Verdunstungs- und Retentionsflächen den Ausgangspunkt einer multifunktionalen, kaskadierenden Gestaltung blau-grüner Freiräume dar. Das bedeutet auch, dass die Budgets, die normalerweise für unterirdische Anlagen verwendet werden, nun auch in die Gestaltung blau-grüner Stadtteilparks, Plätze, Straßen und Gebäudegrün investiert werden, die attraktive Wohn- und Stadtqualitäten prägen.

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Fazit und Ausblick Die Transformation urbaner Flusslandschaften in Verbindung mit der notwendigen Weiterentwicklung wasserwirtschaftlicher Infrastrukturen schafft die Grundvoraussetzungen für ein sicheres und gesundes Leben in unseren Städten. Dabei geht es neben den technischen Aspekten vor allem um die kulturelle Dimension der Gestaltung als Ausdruck der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die „neue” Flusslandschaft der Emscher und die oben dargestellten Projektbeispiele sind Ausdruck neuer Haltungen und gestalterischer Antworten und stellen ein spannendes internationales Lern- und Experimentierfeld dar. Alle Beispiele zeigen, dass integrierte technische, ökologische und gestalterische Maßnahmen neue Synergieeffekte und spannungsvolle Landschaftsbilder erzeugen können. Sie zeigen auch, dass sich Maßnahmen nicht auf den unmittelbaren Gewässerraum beschränken dürfen, sondern dass es um die Vernetzung verschiedener Maßnahmen im gesamten Einzugsgebiet geht. Derartige Konzepte sind nur möglich durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Wasserwirtschaft, Stadtplanung, Ökologie und Landschaftsarchitektur – ein spannendes und zukunftsweisendes Feld, welches die Stadtentwicklung der Zukunft maßgeblich prägen dürfte.

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rechts: Bach in São Paulo

oben: Fluss in Caracas

links: Fluss in São Paulo

Die Emsc h e r : Ein Transformati o n s projekt  von   glob a l e r Bedeu t u n g A 

ls Ende der 1980er Jahre im Rahmen der Vorbereitung der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park die Revitalisierung der Emscher und ihrer Nebenläufe in Aussicht genommen wurde, gab es dafür zwei Voraussetzungen: den drastischen Rückgang der Steinkohlenförderung im Ruhrgebiet und den Gewässerschutz, geregelt auf den Ebenen der EU, des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen, so im Wasserhaushaltsgesetz und auch im internationalen Abkommen zum Schutz des Rheins, relevant für den am stärksten verschmutzten Nebenfluss des Rheins, die Emscher. Sauberere Flüsse waren also bereits eine international erkannte Aufgabe. Der Einfluss des CO2-Ausstoßes, verbunden mit dem Verbrennen fossiler Energieträger, war zwar wissenschaftlich und fachpolitisch bekannt, wurde jedoch – noch – nicht als eine globale Herausforderung verstanden. Im Gegenteil: 1990 verkündete der Vorstandsvorsitzende der Ruhrkohle AG, Heinz Horn: „Die Welt braucht die deutsche Kohle.“ Außerhalb Westeuropas – in China, Indien und den USA – wurde die Steinkohlenförderung noch forciert. Das galt auch für das damals noch kommunistisch regierte Oberschlesien; zu Ende des 18. Jahrhunderts waren von dort technologische Anstöße, mitgebracht von Arbeitsmigranten, zur montanindustriellen Entwicklung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets ausgegangen. Die Emscher-Revitalisierung zeigte dann, wie eine montanindustri­ ell devastierte Landschaft urbanisiert werden kann. Sie ist zum größten Infrastrukturprojekt Europas geworden. Wer, aus vielen Regionen Europas, ja der Welt kommend, die Emscher kennt, ist voller Respekt. 2021 ist die Beendigung des Verbrennens von Steinkohle ein globales Erfordernis der Klimapolitik. Und damit wird aus Respekt die Möglichkeit des Lernens von der Emscher bei entsprechenden Vorhaben vielerorts auf der Welt. Die Emschergenossenschaft – global engagiert Die Emschergenossenschaft stellt sich seit Mitte des ersten Jahrzehnts der 2000er Jahre weltweit wasserpolitischen wie postmontanindustriellen Herausforderungen. Für die Abwasserbehandlung geschieht das in Namibia, Äthiopien, dem Iran, in Algerien, Palästina, Tunesien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. In der chinesischen Provinz Jiangsu trägt sie zum Transfer hydrogeologisch-wasserwirtschaftlichen Wissens in einem Bergbaugebiet bei. Global wird Klimapolitik, begleitet von Nachbergbaupolitik, nicht erfolgreich sein, wenn sie nicht in China gelingt. Die Transformation von der industriellen Produktion hin zu nachhaltigem postindustriellem Wirtschaften geht von Europa aus, wo die Industrialisierung mit ihren zunächst nicht beachteten ökologischen Folgen im 18. Jahrhundert begonnen hat. Von Europa hat sie sich konzentrisch ausgebreitet. So kann und muss die Transformation sich in gleicher Richtung ausbreiten. Die Emscher-Revitalisierung – exemplarisch für Flüsse in Oberschlesien Der Bezug zu devastierten Wasserläufen führt von der Emscher zunächst nach Oberschlesien, über Jahrhunderte wie das rheinisch-westfälischen Industriegebiet Teil Preußens, nach dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehörend. Die entsprechende Transformation der Erfahrungen an der Emscher auf die Flüsse in Oberschlesien kann montanindustriegeschichtlich als Gegenleitung zu den Impulsen im 18. Jahrhundert verstanden werden. Im Juni 2018 fand in Katowice eine Konferenz der Emschergenossenschaft, der Woiwodschaft Schlesien und der Technischen Universität

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| Christoph Zöpel Nordrhein-Westfalen. Von 1999 bis 2002 war er Staatsminister im Auswärtigen Amt. Zurzeit lehrt Dr. Zöpel als Professor für Raum­ entwicklung an der Universität Dortmund und der GJU Amman in Jordanien. Prof. Dr. Christoph Zöpel hatte von 1978 bis 2002 verschiedene Ministerämter inne. So war er u.a. Minister für Bundesangelegenheiten, Minister für Landes- und Stadtentwicklung und Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes

Gliwice zu den ökologischen Herausforderungen in den Montanregionen Oberschlesien und Ruhr statt, insbesondere zur Revitalisierung von Flüssen in urbanen Ballungsräumen. In Oberschlesien gibt es eine Vielzahl kleiner Flüsse, deren Fließwassersysteme nach Westen in die Oder, nach Osten in die Weichsel münden. Sie sind häufig mit dem Bergbau verbunden, ihr technischer und gestalterischer Zustand ist schlecht; es gibt weiter illegale Abwasserentsorgung. Bei den notwendigen technischen Maßnahmen zur Erhaltung des Wasserabflusses wurden bisher Fragen der Biodiversität und der landschaftlichen Zugänglichkeit kaum beachtet. Mit der Perspektive von Urbanität ist die Rawa – ein Fluss mit einer Länge von 19,6 Kilometern – in der oberschlesischen Metropole Katowice eine besondere Herausforderung. Sie fließt durch das Zentrum der Stadt, in einem ungepflegten offenen Betonabwasserkanal, streckenweise verläuft sie unterirdisch. Oberirdisch ist im Kern der Stadt ein künstlicher Fluss angelegt. Weitere Flüsse, die „der Urbanisierung harren“, sind vor allem die Bytomka in Zabrze und Bytom sowie die mit 76 Kilometern längere Kłodnica, die direkt in die Oder mündet. Konzepte zur Vitalisierung der Bytomka, 19,2 Kilometer lang, werden an der Technischen Universität Gliwice erarbeitet, die Kommunikation dazu mit der Emscher­genossenschaft ist durch die Corona-Krise etwas aufgehalten, steht aber bevor. Die Zarqa – ein Menetekel in Jordanien Verbunden zunächst mit der Kolonialisierung und dann mit der Entwicklungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, erreichte die Industrialisierung samt ökologischen Folgen die Staaten des Mittleren Ostens, darunter auch Jordanien. Dort ist der Fluss Zarqa ein Menetekel. Er ist mit einer Länge von 70 Kilometern mit der Emscher – 83 Kilometer – vergleichbar. Dabei durchfließt er überwiegend dünn besiedeltes, wasserarmes Land und mündet in den immer dünner werdenden Jordan. Die Wasserarmut führt in Jordanien zu dauerhaftem Wassermangel. Um diesen zu lindern, ist 1970 an der Zarqa der King-Talal-Damm gebaut worden. Die Verschmutzung des Flusses macht inzwischen den Gebrauch des gestauten Wassers als Trinkwasser unmöglich, ob der Gebrauch zur landwirtschaftlichen Bewässerung erträglich ist, kann angezweifelt werden. Die katastrophale Verschmutzung ist die Folge einer extensiven Industrialisierung in der mit dem Fluss gleichnamigen Industriestadt Zarqa, einer Stadt mit etwa 1 Million Einwohnern. Sie ist das industrielle Zentrum Jordaniens mit 370 Fabriken, 50 Prozent aller jordanischen Fabriken. Dazu gehört die einzige Ölraffinerie des Landes, verbunden mit chemischen und pharmazeutischen Produktionen. Eine effektive Regulierung bzw. Kontrolle des Abwassers findet nicht statt. Es gibt keine spezielle Behandlung industrieller Abwässer, sie werden in das allgemeine Abwassersystem eingeleitet. Die Folgen sind biochemische Reaktionen. Bislang wurde dieses ökologische Desaster nicht wahrgenommen, auch nicht von der deutschen Entwicklungshilfe, deren Schwerpunkt auf der Wasserversorgung liegt. Die Emschergenossenschaft hat Interesse, die Problematik zu kennen und zum entsprechen Wissenstransfer beizutragen. Die Emscher-Revitalisierung als Beitrag zur Nachbergbaupolitik Die globalen postmontanindustriellen Projekte der Emschergenossenschaft gehören zur übergreifenden Aufgabe der Nachbergbaupolitik. Sie ist die wohl wichtigste Aufgabe der Metropole Ruhr im Rahmen der globalen Transformation hin zu postindustriellen Entwicklungen in einer Welt, die immer urbanisierter wird. An der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum wird dazu Wesentliches geleistet. Es geht um Wasser, verbunden mit den Bergbauschächten. Zu gestalten sind betroffene Böden. Es geht um die flächenbezogene Entwicklung der Nachbergbauregionen, die ohne die Beherrschung von Gefährdungen durch Wasser nicht möglich ist. Nachhaltiges Wassermanagement nach Schließung der Steinkohlenzechen ist eine unverzichtbare globalpolitische Aufgabe. Die Revitalisierung der Emscher im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation der Agglomeration Ruhr ist möglich. Ruhr ist die – nun frühere – einwohnerreichste montanindustrielle Agglomeration Europas, wenn nicht der Welt. Damit hat sie globale Bedeutung über Europa hinaus, vor allem für China und Indien. Der Vorschlag, die montanindustrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet als Weltkulturerbe zu deklarieren, entspricht dieser Bedeutung. Leider ist dieser Zusammenhang nach teilweise einseitiger Kommunikation von vielen nicht erkannt worden. Die Bemühungen fortzusetzen, bleibt eine Aufgabe für alle, die auch außerhalb Europas eine ökologisch nachhaltige Welt wollen.

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Deininghauser Bach, Schulstraße in Castrop-Rauxel

Kläranlage Bottrop

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Die Emsc h e r genossensc h a f t als region a l e Entwicklungsakt e u r i

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Interview

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| Redaktion: Dieter Nellen, Friedhelm Pothoff

Fragen an Uli Paetzel

Die gesamträumliche Herstellung der Emscher-Abwasserfreiheit galt lange als nicht realisierbar, wurde dann aber zum renommierten Mehrdekadenprojekt (1992–2022). Welche waren die maß­ geblichen Impulse der Transformation? Es ist in der Tat interessant, in unterschiedlichen Artikeln nachzulesen, wie sich die Perspektive auf den Emscher-Umbau im Laufe der Zeit schrittweise verändert hat. Aus einem rein wasserwirtschaftlichen Projekt, bei dem vor allem technische Umsetzbarkeit und Effizienz im Vordergrund standen, wurde ein Vorhaben, bei dem gleichzeitig auch die Mehrwerte für die Region erkannt und betont wurden. Dies hat natürlich mit einem neuen Verständnis für einen nachhaltigen Umgang mit Wasser, Natur und Umwelt zu tun, das in unserer Region befördert wurde – zum Beispiel durch die Forderung Willy Brandts, der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden, durch die IBA Emscher Park oder durch die Forderung allge­mein nach mehr Lebensqualität im Revier. Die Emschergenossenschaft hat diesen Geist aufgenommen und ein Infrastrukturprojekt umgesetzt, das von der Leistungsfähigkeit unserer Region zeugt; immer in enger Abstimmung und getragen durch die tatkräftige Unterstützung der Kommunen sowie der industriellen Mitglieder und ermöglicht durch unbürokratische Förderprogramme wie das „Ökologieprogramm Emscher Lippe“ (ÖPEL). Die Abwasserfreiheit ist 2021/22 als nachholende ökologische Normalisierung hergestellt – ergänzt um ortsweise realisierte Renaturierung und städtebauliche Konversion. Wie und mit welchem Zeitplan geht es weiter an der Emscher, aber auch in deren reichem Netz der Zuflüsse? Bis zum Ende des Jahrzehnts, vielleicht schon 2028, müsste auch die ökologische Kür, wie wir es nennen, zur Aufwertung des Gesamtsystems abgeschlossen sein, der Fluss zudem durch infrastrukturelle Maßnahmen wie Radwegebau, Promenaden und Publikumsareale insgesamt zugänglicher werden. Was zum Beispiel bei PHOENIX in Dortmund städtebaulich gelungen ist, könnte, sollte auch Maßstab und Ansporn entlang der gesamten Emscher als urbanes Entwicklungsband sein. Zu Beginn der Transformation fand die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989–1999) statt. Wie verhielten sich die beiden Innovationsformate zueinander? Und wie positionieren sich heute Kommunen und Akteure im Ruhrgebiet zu regionalen Interventionen und Strategien, die über die eigenen Stadtgrenzen hinausreichen? Die IBA Emscher Park, Vorbild und Maßstab aller späteren IBA-Formate in Europa, geht politisch auf Christoph Zöpel, den damals zuständigen NRW-Minister, und konzeptionell-strategisch auf Karl Ganser [den IBA-Geschäftsführer, Anm. d. Red.] zurück. Sie wurde von diesem, ein personeller Glücksfall für die Region, zusammen mit weiteren klugen Köpfen erfolgreich über eine Dekade realisiert. Sie verzichtete zunächst auf die große Planansage, handelte aber im Gesamten höchst planvoll und mit einer regionalen Matrix im Gepäck. Die umfassende

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Emscher-Transformation wäre ohne die Gestaltungskraft beider Partner – IBA und Emschergenossenschaft (EG) – gerade in der Anfangsphase nicht möglich gewesen. Der Gesamterfolg hat die Plausibilität regionalen Denkens sehr befördert. Gab es dazu immer bei den regionalen Akteuren den notwendigen politischen Konsens? Ja und vor allem deshalb, weil das EG-Großprojekt ähnlich wie die IBA – und wiederum anders als jüngere nationale Infrastrukturprojekte – stets konservativ den Zeit- und Kostenrahmen eingehalten hat und frei geblieben ist von operativen Verwerfungen. Zudem gab es in jeder Phase ein sehr vertrauensbildendes Politik- und Kommunikationsmanagement. Das hat sich inzwischen bis auf die nationale Ebene herumgesprochen. Die Integrität und Effizienz öffentlichen Handelns sind der beste Garant für Kontinuität und Legitimation von Projekten dieser Größenordnung. Inzwischen legen Oberbürgermeister und Dezernenten großen Wert darauf, ihren Sachverstand in unsere Gremien einzubringen, was wiederum die institutionelle Transparenz erweitert, und unsere Schnittstellen bei unserer Arbeit vor Ort stärkt. Das Image der Emschergenossenschaft als tradiertes „Entsorgungs­organ” des Bergbaus hat sich erheblich gewandelt. Welche ideellen Mehrwerte entstanden durch das Projekt selbst und dessen Begleitbausteine wie Emscherkunst/Emscherkunstweg und Industrietourismus? Die Emschergenossenschaft ist von Auftrag und Geschichte her ein wasserwirtschaftlicher Ingenieurverband. Unsere „Kathedralen“ liegen unter der Erde, für die Öffentlichkeit nicht sichtbar, aber für das tägliche Leben hoch systemrelevant. Die finale Herstellung der Abwasserfreiheit ist eine Jahrhundertleistung unseres Technikbereichs. Die Ingenieur*innen sind dabei zunächst auf ihre eigentliche Aufgabe konzentriert. Aber zunehmend wuchs auch in unserem Haus die Erkenntnis, dass man eine Transformation dieses Umfangs mit zusätzlichen Formaten und Clustern eines weichen Strukturwandels profilieren muss. In ähnlicher Weise hat übrigens der frühere RAG-Chef Werner Müller das Projekt „Kulturhauptstadt Europas 2010“ geschickt für den Übergang seines Montanunternehmens in eine zukunftsorientierte Stiftungsstruktur und zum weiteren Imagewandel genutzt. Das Bild der Region wird bestimmt durch eine forcierte Ästhetisierung mit den Clustern Industriekultur und Industrienatur. Gab, gibt es plausible Alternativen zu diesem Kommunikations- und Konversionsansatz? Im Grunde wohl nicht. Die IBA betätigte sich hier als begnadete Erzählerin und sicherte sowohl die räumliche Lesbarkeit wie emotionale Akzeptanz der montanen Vergangenheit. Regionalmarketing kann ökonomische Innovation nicht ersetzen, hat aber unzweifelhaft zu einem neuen Heimatgefühl und Stolz auf die Relikte des Industriezeitalters geführt. Die galten bis dahin als Symbole des Niedergangs. Im Landschaftspark Duisburg-Nord, beim Westpark Bochum und bei PHOENIX in Dortmund kann man beispielhaft erleben, wie Menschen schichten- und altersunabhängig diese Areale neu entdecken und zu ihren eigenen machen. Die letzten Jahrzehnte waren und sind die Zeit von IBA Emscher Park, Ruhrtriennale, Ruhr 2010, Emscherkunst, Urbane Künste, also eines Strukturwandels durch Formate. Ist das genug? Alle Veranstaltungsformate haben die Region bereichert. Dennoch reichen alle diese Initiativen nicht aus, um jene strukturelle Neuaufstellung zu befördern, die wir für einen erfolgreichen Strukturwandel bei den großen Themen wie Klima, Mobilität, Digitalisierung und der Governance der Region benötigen. Festivali­ sierung, Kultur und Tourismus sind auf dem Weg zu einer wirklich modernen Metropole nicht genug. Die existenziellen Probleme der sogenannten Metropole Ruhr bedürfen eher eines chirurgischen Eingriffs. Für die Modernisierung der Infrastruktur zum Beispiel müssen Planung, Bau und Unterhaltung in einer institutionellen Hand liegen, das bisherige Kleinklein ist den Herausforderungen einer wirklichen Metropole nicht gewachsen.

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Interview

Landschaftspark Duisburg-Nord, Duisburg-Meiderich

Regionalmarketing   k a n n ökonomische Innovation  n i c h t ersetzen, hat aber  unzweife l h a f zu einem neuen  Heimatge f ü h l und Stolz auf die  Relikt e   d e s Industriezeitalters   g efü h r t .

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Die Emschergenossensc h a f t ist in ihrer Verantwortungsku l i s s e eine regionale  Entwicklungsakt e u r i im europäischen  For m a t .

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Interview

n

Digitalisierung ist das Leitthema der Zeit. Welche Optionen folgen daraus für Konstitution, Organisation und Governance (in) der Metropole Ruhr? Im Moment lässt sich beobachten, dass viele Kommunen im Revier Initiativen zur Digitalisierung ihrer Verwaltungen und des öffentlichen Raums anstoßen und dort viel Gutes entsteht. In Summe muss man jedoch festhalten, dass diese vielen Einzelentwürfe nicht an die Strahlkraft von Smart-City-Initiativen wie in Barcelona oder Paris heranreichen. Auch droht die Gefahr von Insellösungen, sodass Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel statt einer App für die Region ganz viele für die einzelnen Städte installieren müssen. Wir brauchen auch hier ein gemeinsames Projekt, das zeigt, wohin das Ruhrgebiet in Sachen Smart City möchte. Mit Blick auf konkurrierende Digitalisierungsmodelle beispielsweise in den USA, die die inhaltliche Ausgestaltung von Smart City weitestgehend den Interessen mächtiger Unternehmen überlassen, oder in China, wo Digitalisierung in weiten Teilen der staatlichen Überwachung und dem Abbau von Bürgerrechten dient, muss in Europa gezeigt werden, wie eine smarte Stadt in den Dienst der Bürgerinnen und Bürger gestellt wird und so mehr Partizipation und Emanzipa­ tion ermöglichen kann. Dazu gehört zum Beispiel, dass Daten in öffentlicher Hand bleiben, dass politische Entscheidungen mithilfe smarter Tools und Open Data transparenter gemacht werden und Beteiligung ermöglichen oder dass der Betrieb der IT-Systeme in öffentlicher Hand bleibt. Barcelona oder Paris haben in dieser Hinsicht sehr interessante Smart-City-Konzepte vorgelegt. Diese internationale Strahlkraft erreichen wir im Ruhrgebiet nicht, wenn jede Stadt alleine für sich losmarschiert. Der letzte Masterplan, „Emscher-Zukunft. Das neue Emschertal“, wurde 2006 vorgestellt. Gibt es Anschlussstrategien für die urbane Flusslandschaft Emscher 21+? Die politische Emanzipation des Emscher-Lippe-Raums ist bereits in den 1980er Jahren politisch vorangetrieben worden. Ein Ergebnis war das genannte ÖPELProgramm. Es folgte mit der IBA das große Infrastruktur- und Konversionsformat. Die Emschergenossenschaft ist in ihrer Verantwortungskulisse eine regionale Entwicklungsakteurin im europäischen Format. Das wird sie noch verstärken. Deswegen denken wir auch über einen neuen Masterplan bzw. eine geeignete Fortschreibung nach. Die konzeptionelle Phase hat bereits begonnen.

Kläranlage Bottrop

Wie könnte ein fortschreibender EG-Masterplan, ein Strategieatlas integrativen Handelns bei der Regionalentwicklung nicht zuletzt als Benchmark zur Hellwegzone, der etablierten strategischen WestOst-Entwicklungsachse in der Region, aussehen? Die Themen werden Städtebau mit blau-grüner Infrastruktur, Klima, Digitali­ sierung und Mobilität sein. Der neue Masterplan soll eine Einladung an alle und wird nur erfolgreich sein, wenn sich die verantwortlichen Akteur*innen zum verantwortungsvollen Mitspielen verpflichten. Das Beteiligungsverfahren muss deshalb hochprofessionell sein. Bei der Mobilität darf man aber nicht separativ, sondern muss gesamträumlich denken, nicht zuletzt, weil dem ÖPNV im Norden, also dem Emscher-Lippe-Raum, die effizienten, schnellen Verbindungen zum Süden fehlen. Wäre eine IBA in der nächsten Dekade als konditionierendes Element besonders zu den Leitthemen Mobilität und Verkehr an Rhein, Ruhr und Emscher vorstellbar? Das sollte man zumindest andenken. In anderen europäischen Ländern wird weit in die Zukunft gedacht: Die französische Hauptstadt Paris plant zum Beispiel gegenwärtig drei neue U-Bahn-Trassen. Das benachbarte Düsseldorf hat die Wehrhahn-Linie und projektiert eine neue Trasse zum Flughafen und über den Rhein. Für die Bewerbungsinitiative zu Olympia RheinRuhrCity 2036/2040 könnte man sowohl den regionalen Konsens wie den nachhaltigen Kern der Bewerbungspartitur insbesondere bei den Elementen Klima und Mobilität für einen Plan B, eine IBA in der Gebietskulisse des heutigen Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) nutzen. So würde der strategische Impuls des Projekts die Zukunft an Rhein und Ruhr befördern.

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Interview

Phoenix-See, Dortmund-Hörde

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Interview

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Emscher-Mündung in den Rhein bei Dinslaken

Literaturnachweise

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Rat der Stadt Castrop-Rauxel, selbständiger Gärtnermeister. 09.06.2021 Interview Dr. Oliver Lind, Mitglied im Rat der Stadt Castrop-Rauxel, Vorsitzender Planungsausschuss, Beigeordneter Stadt Herten. Ouiam Aissaoui aus Emschererwachen (Teil V, Nr. 18 Dortmund), ein Urban Fantasy-Roman hrsg. von Sarah Meyer-Dietrich und Sascha Pranske, Essen 2015. Dietwald Gruehn: Die Emscher-Revitalisierung Albert, C. et al. 2012, Ökosystemdienstleistungen – Alter Wein in neuen Schläuchen oder ein Impuls für die Landschaftsplanung. Naturschutz und Landschaftsplanung 44 (5): 142-148. Albert, C. et al. 2014, What ecosystem services information do users want? Investigating interests and requirements among landscape and regional planners in Germany. Landscape Ecology 29:13011313. BMU & BfN 2021, Auenzustandsbericht 2021. Flussauen in Deutschland. Braat, L. et al. 2014, Framework for integration of valuation methods to assess ecosystem service policies. EU FP7 OpenNESS Project Deliverable 4.2. Emschergenossenschaft 2006, Masterplan Emscher-Zukunft. Das Neue Emschertal. Gruehn, D. 2005, Zur Validität von Bewertungsmethoden in der Landschafts- und Umweltplanung – Handlungsbedarf, methodisches Vorgehen und Konsequenzen für die Planungspraxis, aufgezeigt am Beispiel der Validitätsprüfung praxistauglicher Verfahrensansätze zur Bewertung von boden- wasserund klimarelevanten Landschaftsfunktionen. Gruehn, D. 2006, Landscape Planning as a Tool for Sustainable Development of the Territory – German Methodology and Experience. In: Vogtmann, H. & Dobretsov, N. [Ed.]: Environmental Security and Sustainable Land Use – with special reference to Central Asia: 297-307. Haase, G. 1978, Zur Ableitung und Kennzeichnung von Naturraumpotentialen. Petermanns Geographische Mitteilungen 122 (2): 113-125. Maes, J. et al. 2016, Mapping and Assessment of Ecosystems and their Services. Urban Ecosystems. Publications Office of the European Union. Marks, R. et al. 1989, Anleitung zur Bewertung des Leistungsvermögens des Landschaftshaushaltes. Forschungen zur deutschen Landeskunde 229. Millennium Ecosystem Assessment Board 2005, Millennium Ecosystem Assessment; Ecosystems and Human Well-being. Synthesis. Petry, D. 2001, Landcape function assessment and regional planning: Creating knowledge bases for sustainable landscape development. In: Krönert, R. et al. [Eds.]: Landscape Balance and Landscape Assessment: 251-280. Projekt Ruhr GmbH 2005, Masterplan Emscher Landschaftspark 2010: 208 ff. TEEB 2010, The Economics of Ecosystems and Biodiversity. Ecological and Economic Foundations. Edited by Pushpam Kumar. Christian Gerten, Stefan Siedentop, Sabine Weck: Soziale Folgen des Emscher-Umbaus Bauer, T., Budde, R., Micheli, M., Neumann, U. (2015): Immobilienmarkteffekte des Emscherumbaus? Raumforschung und Raumordnung 73, 269-283. Cho, M.-R (2010): The Politics of Urban Nature Restoration: The case of Cheonggyecheon restoration in Seoul, Korea. In: International Development Seoul, Korea. In: International Development Planning Review 32, 145-165.

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Bildnachweise

Henning Maier Jantzen 1972 geboren, hat sein Diplom Studium der Fotografie an der Folkwang-Hochschule in Essen 2002 mit Auszeichnung abgeschlossen. Seitdem arbeitet er als freischaffender Fotograf mit Sitz in Essen und Berlin mit den Schwerpunkten Landschaftsarchitektur, Corporate-Reportage und Porträt. Hierbei liegt sein Augenmerk auf der Konzeption von themenspezifischen Bildsprachen. Im Fall der vorliegenden Bilder geht es darum, die besondere Charakteristik der Orte in jeweils einem Bild verort- und erfahrbar zu machen. Seine Erfahrungen hat er bereits als Lehrbeauftragter der Universität der Künste in Berlin weitergegeben. www.maier-jantzen.de

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6/7 © Henning Maier-Jantzen 10/11 © Henning Maier-Jantzen 12/13 © Henning Maier-Jantzen 14 © Henning Maier-Jantzen 19 © Henning Maier-Jantzen 22/23 © Gerber Architekten 24 links © EGLV 24 rechts © EGLV 25 © EGLV 26 © Gerber Architekten 27 © Gerber Architekten 28/29 © Henning Maier-Jantzen 30 © EGLV 31 © Rupert Oberhäuser 32 © EGLV 33 © Rupert Oberhäuser 36 © Archiv EGLV 37 © Reinhard Felden 40 © Markus Greulich 47 © Klaus Baumers 48 © Klaus Baumers 50 © Nikita Teryoshin/EGLV 52 © alle Bilder EGLV 58 © Ute Jäger 59 © Andreas Fritsche 60 © Ute Jäger 62 © Henning Maier-Jantzen 66 © Henning Maier-Jantzen 67 © Henning Maier-Jantzen 68 © Henning Maier-Jantzen 69 beide Bilder © Archiv EGLV 70/71 © Henning Maier-Jantzen 72/73 © Henning Maier-Jantzen 74 © Mike Henning 76 © Mike Henning 79 © Rupert Oberhäuser 80 © Andreas Fritsche 81 © Klaus Baumers 84 © Henning Maier-Jantzen 86 © Martin Baier 87 © Andreas Fritsche 89 © Ute Jäger 92 © Hans Blossey 94 © Klaus Baumers 97 © Henning Maier-Jantzen 98 © Jochen Durchleuchter 99 © Klaus Baumers 100 © Henning Maier-Jantzen 103 © Rupert Oberhäuser 105 © Klaus Baumers 106 © Markus Greulich 107 © Klaus Baumers 110/111 © Henning Maier-Jantzen 112/113 © Henning Maier-Jantzen 114/115 © Henning Maier-Jantzen 116/117 © Henning Maier-Jantzen 118/119 © Henning Maier-Jantzen 120 © Andreas Fritsche 126 EGLV 128/129 oben © Archiv EGLV 129 © unten © Rupert Oberhäuser

131 © Rupert Oberhäuser 132 © Ute Jäger 140 © Jochen Durchleuchter 142 © Rupert Oberhäuser 143 © Rupert Oberhäuser 144 © Bildbearbeitung Oliver Hasselluhn, EGLV 147 © Andreas Fritsche 148/149 © Henning Maier-Jantzen 150/151 © Henning Maier-Jantzen 152/153 © Henning Maier-Jantzen 154/155 © Henning Maier-Jantzen 156/157 © Henning Maier-Jantzen 158/159 © Henning Maier-Jantzen 160/161 © Henning Maier-Jantzen 162/163 © Henning Maier-Jantzen 164/165 © Henning Maier-Jantzen 167 © Andreas Fritsche 168 © Christian Nielinger 169 © Ralph Lueger 172 © Klaus Baumers 175 © Rupert Oberhäuser 176 © Andreas Fritsche 178 © Klaus Baumers 180/181 © Henning Maier-Jantzen 182/183 © Henning Maier-Jantzen 184 © Rupert Oberhäuser 186 © Andreas Fritsche 187 © Klaus Baumers 188 © Daniel Sadrowski 189 © Henning Maier-Jantzen 192/193 © Andreas Fritsche 194 © Kirsten Neumann 195 © Ute Jäger 196 © Gabi Lyko 198 © Thorsten Arendt 199 © Gabi Lyko 201 © Gabi Lyko 202 © Katja Illner 204 © Christian Palm 205 links © Thomas Berns 205 rechts © Matthias Horn 208 © Martin Baier 211 © Henning Maier-Jantzen 212/213 © Helmut Kuhfuß 214/215 © Klaus Baumers 216/217 © Henning Maier-Jantzen 218/219 © Henning Maier-Jantzen 220/221 © Henning Maier-Jantzen 222/223 © Henning Maier-Jantzen 224/225 © Angela Raab 226/227 © SHA Scheffler Helbich Architekten GmbH/Christian Eblenkamp 228/229 © bbz landschaftsarchitekten berlin 230 oben © Rupert Oberhäuser 230 © Cornelia Suhan 231 © Roland Gorecki 232 © bbz landschaftsarchitekten berlin 234 © VIVAWEST 238 © Andreas Fritsche 240/241© EGLV 242 © Andreas Fritsche

244/245 © Paul Giencke GM013 Landschafts­ architektur 246 © Paul Giencke GM013 Landschaftsarchitektur 247 © Paul Giencke GM013 Landschaftsarchitektur 248/249 © Paul Giencke GM013 Landschafts­ architektur 250 © Stadt Bottrop, Stadtplanungsamt 253 © Stadt Bottrop, Stadtplanungsamt 254 © Stadt Bottrop, Stadtplanungsamt 256 © Stadt Bottrop, Stadtplanungsamt 257 © Stadt Bottrop, Stadtplanungsamt 260 © Hans Blossey 262 © Henning Maier-Jantzen 263 © Klaus Baumers 264/265 © Henning Maier-Jantzen 266/267 © Henning Maier-Jantzen 268/269 © Ismail Aksoy 272/273 © Joachim Schumacher 274 © Joachim Schumacher 278/279 Henning Maier-Jantzen 280 © Rupert Oberhäuser 282/283 © GM013 Landschaftsarchitektur, Berlin 285 © wbp Landschaftsachitekten GmbH, Bochum 286/287 © GREENBOX Landschaftsarchitekten Hubertus Schäfer + Markus Pieper PartG mbB 291 © Martin Baier 292/293 © Jörg Saborowski 295 © Jörg Saborowski 296 © EGLV 300 © Fabio Chironi 302 © Lothar Fuchs 303 © Florian Boer 305 © Antje Stokman 308/309 © Henning Maier-Jantzen 310/311 © Henning Maier-Jantzen 312 © Klaus Baumers 315 © Klaus Baumers 316 © Jörg Saborowski 318/319 © Henning Maier-Jantzen 320/321 © Henning Maier-Jantzen

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Herausgeber

Uli Paetzel 1971 geboren, ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender zweier Wasserverbände, von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV), mit Sitz in Essen. Er studierte Sozialwissenschaft und Romanistik an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und an der Université François Rabelais in Tours. 2001 Promotion an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB, dort seit 1999 auch als Lehrbeauftragter tätig. 2002 wurde er Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing einer Softwarefirma und war von 2004 bis 2016 hauptamtlicher Bürgermeister von Herten, der ehedem größten Bergbaustadt Europas. Seit 2018 ist er Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, seit 2019 Präsident der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V. (DWA).

Dieter Nellen studierte nach dem Abitur (1968) Geschichte, Latein und Germanistik mit Abschluss Staatsexamen (1974) und Promotion (1977) in der Abteilung Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Nach Landesdienst NRW (ab 1974) und politischen Funktionen wurde er 1989 Direktor der Volkshochschule Bottrop und war von 1996 bis 2014 Fachbereichsleiter und Geschäftsführer (Ruhrtourismus GmbH) mit dem Schwerpunkt Kommunikation, Kultur, Destinationsmanagement beim Regionalverband Ruhr (RVR). Er ist jetzt freier Berater und Pub­lizist mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Stadt- und Regionalentwicklung. Er erhielt Lehraufträge an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Fachbereich Geschichte/Philosophie), der Ruhr-Universität Bochum (Institut für Theaterwissenschaft) und an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund.

Stefan Siedentop ist seit August 2013 wissenschaftlicher Direktor im Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) in Dortmund und im Rahmen einer gemeinsamen Berufung Professor für Stadtentwicklung in der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund. Er studierte Raumplanung an der Universität Dortmund (1988–1994) und promovierte dort im Jahr 2001. Nach einer Forschungstätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, Dresden, war er von 2007 bis 2013 Professor für Raumentwicklungs- und Umweltplanung an der Universität Stuttgart, verbunden mit der Leitung des Instituts für Raumordnung und Entwicklungsplanung (IREUS). In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Strategien und Instrumenten nachhaltiger Siedlungsentwicklung sowie des regionalen Wachstumsmanagements.

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Impressum

© 2022 by jovis Verlag GmbH Das Copyright für die Texte liegt bei den Autor*innen. Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotograf*innen/Inhaber*innen der Bildrechte. Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Oktober Design, Bochum Hrsg. für die Emschergenossenschaft von: Uli Paetzel, Dieter Nellen und Stefan Siedentop Konzeption und Gesamtverantwortung: Dieter Nellen Koordination: Friedhelm Pothoff, Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit Emschergenossenschaft Redaktion, Beratung und Begleitung: • Ludger Claßen, Dieter Nellen • Emschergenossenschaft: Klaus Baumers (Bild), Caroline Baumgart (Geodienstleistungen), Meike Beste (Projektassistenz), Verena Klos (Graphik, Gestaltung, Bild), Anne-Kathrin Lappe, Andrea Rickers, Ilias Abawi (Lektorat) Fotoessay: Henning Maier-Jantzen, Essen/Berlin Lektorat: Miriam Seifert-Waibel Gestaltung und Satz: Oktober Design, Bochum Gedruckt in Deutschland Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. jovis Verlag GmbH Lützowstraße 33 10785 Berlin www.jovis.de jovis-Bücher sind weltweit im ausgewählten Buchhandel erhältlich. Informationen zu unserem internationalen Vertrieb erhalten Sie von Ihrem Buchhändler oder unter www.jovis.de. ISBN 978-3-86859-748-6 (Softcover) ISBN 978-3-86859-799-8 (E-PDF)

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