Empathie im Film: Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie 9783839432587

The enduring fascination with film lies not least in its ability to move viewers to have an empathetic reaction - in sho

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Empathie im Film: Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie
 9783839432587

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Empathie im Film
Empathie und (filmische) Fiktion
Filmische Quellen empathischen Wissens
Einfühlung und Spiegelung. Eine phänomenologische Interpretation zu SHIRIN (2008)
Von Angesicht zu Angesicht. Die Herstellung von Subjektivität in Delmer Daves’ DARK PASSAGE
Perspektive und empathische Resonanz: Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen
Metaphorische Interaktion und empathische Verkörperung: Thesen zum filmischen Erfahrungsmodus
Ästhetik der Einfühlung und der McGuffins oder: Figuren- und objektbasierte Lesarten des Filmästhetischen
Empathie und Verkörperung im Material – Überlegungen zur dokumentarischen Filmarbeit
Empathie und existentielle Gefühle im Film
Autorinnen und Autoren
Filmverzeichnis

Citation preview

Malte Hagener, Íngrid Vendrell Ferran (Hg.) Empathie im Film

Film

Malte Hagener, Íngrid Vendrell Ferran (Hg.)

Empathie im Film Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung: Empathie im Film

Malte Hagener & Íngrid Vendrell Ferran | 7 Empathie und (filmische) Fiktion

Alex Neill | 31 Filmische Quellen empathischen Wissens

Lisa Katharin Schmalzried | 59 Einfühlung und Spiegelung. Eine phänomenologische Interpretation zu SHIRIN (2008)

Christian Ferencz-Flatz | 89 Von Angesicht zu Angesicht. Die Herstellung von Subjektivität in Delmer Daves’ D ARK P ASSAGE

Vivian Sobchack | 109 Perspektive und empathische Resonanz: Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen

Susanne Schmetkamp | 133 Metaphorische Interaktion und empathische Verkörperung: Thesen zum filmischen Erfahrungsmodus

Hermann Kappelhoff & Sarah Greifenstein | 167 Ästhetik der Einfühlung und der McGuffins oder: Figuren- und objektbasierte Lesarten des Filmästhetischen

Christiane Voss | 195 Empathie und Verkörperung im Material – Überlegungen zur dokumentarischen Filmarbeit

Judith Siegmund | 213

Empathie und existentielle Gefühle im Film

Jens Eder | 237 Autorinnen und Autoren | 271 Filmverzeichnis | 275

Einleitung: Empathie im Film M ALTE H AGENER & Í NGRID V ENDRELL F ERRAN

G ENESE

DES

B UCHES

Der vorliegende Band ist aus der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Filmwissenschaft entstanden. Im Sommersemester 2013 haben wir gemeinsam an der Philipps-Universität Marburg ein interdisziplinäres Seminar über »Emotionsforschung und Film« abgehalten. Unser Ziel dabei war, verschiedene affektive und emotionale Antworten in Bezug auf Film zu untersuchen. Gerade der Film ruft besonders heftige Reaktionen der Freude und Angst, des Ekels und Abscheus, der Lust und Anteilnahme hervor, so dass er als Objekt prädestiniert für derartige Untersuchungen schien. Dabei war uns wichtig, die unterschiedlichen theoretischen Strömungen zu berücksichtigen, welche die heutige Debatte geprägt haben. Im Auge hatten wir hauptsächlich die Beiträge zweier Denkrichtungen: des Kognitivismus und der ästhetischen Theorie. Unter Kognitivismus verstehen wir die verschiedenen Beiträge, die sich in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der analytischen Philosophie der Emotionen entwickelt haben. Diese Autoren vertreten eine Konzeption der Gefühle, der zufolge diese auf kognitiven Phänomenen wie Überzeugungen, Annahmen oder Wahrnehmungen gründen, intentional auf Gegenstände gerichtet sind und eine welterschließende Funktion haben.1 Unter ästhetischer Theorie verstehen wir Positionen, die sich stark an der Phänomenologie und der so genannten Kontinentalphilosophie beziehungsweise an poststrukturalistische Positionen anlehnen.2 Diese Beiträge betonen weniger die kognitiven Grundlagen der Gefühle, sondern das leibliche Af-

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Hauptvertreter dieser Richtung sind in Bezug auf den Film Murray Smith, Carl Plantinga, Ed Tan, Greg Currie, Noel Carroll, Berys Gaut und Torben Grodal.

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Dabei haben wir folgende Autorinnen und Autoren im Auge: Vivian Sobchack, Hermann Kappelhoff, Christiane Voss.

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fiziertseins. Auch wenn beide Denkrichtungen oft als Gegenpole in der Gefühlsforschung präsentiert werden, waren wir doch der Meinung, dass es sich um komplementäre Auffassungen des affektiven Lebens handelte und dass ein Dialog zwischen beiden Traditionen für das Verstehen unserer Gefühlsreaktionen in Bezug auf Filme sehr produktiv sein könnte. Besondere Aufmerksamkeit erhielt im Seminar die Frage danach, inwiefern eine Einfühlung mit filmischen Figuren möglich oder sogar wünschenswert sei, wie der Prozess der Einfühlung genau abläuft und welche Momente narrativer oder ästhetischer Art die Einfühlung der Zuschauerinnen und Zuschauern auslösen. Dabei fiel auf, dass der Begriff der »Empathie« trotz seiner starken Präsenz in den derzeitigen Debatten über unsere Reaktionen auf Filme erklärungsbedürftig ist. Welche Art von Bezug bezeichnet der Terminus Empathie? Gibt es eine Taxonomie des empathischen Verhaltens? Empathisiert man nur mit realen Menschen oder ist auch Empathie mit fiktiven Figuren und anderen Elementen des filmischen Universums möglich? Welche Konsequenzen hat der empathische Prozess mit Filmfiguren für das Verstehen fremder Psychen? Diesen Fragen, die in der heutigen Debatte noch offen sind, wollen wir in diesem Band nachgehen und damit eine Lücke in der heutigen Empathieforschung füllen, welche konkret die Möglichkeit des Empathisierens mit filmischen Alteritäten betrifft. Der Band ist als ein doppelter Dialog zwischen Disziplinen und Denkströmungen konzipiert. Die Aufsätze des Sammelbandes berufen sich zum Teil auf die Tradition der analytischen Philosophie, die bislang eher kognitivistisch orientiert war, zum Teil auf aktuelle Entwicklungen in der ästhetischen Theorie, die stärker unter dem Einfluss der phänomenologischen Tradition steht. Der Sammelband knüpft somit an Debatten an, die bislang in unterschiedlichen Denktraditionen verliefen, ohne wirklich in Dialog zu treten, und verfolgt das Ziel, beide in Verbindung zu setzen. Darüber hinaus wollten wir unser Interesse nicht nur auf Spielfilme beschränken (wie dies die Mehrheit der heutigen Beiträge über Empathie im Film macht), sondern auch auf nicht-fiktionale Filme ausdehnen, die bisher in der Diskussion über die Einfühlung wenig beachtet worden sind.

F ILM -E MPATHIE IN DER HEUTIGEN D EBATTE : EINE L ANDKARTE In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahm das Interesse an dem Thema »Empathie« in der Geistes- und Sozialwissenschaft stark zu. Philosophie, Soziologie, Psychologie und Anthropologie haben sich alle dem Phänomen

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»Empathie« gewidmet, um das Verstehen von fremden Psychen zu erklären. Empathie wurde als epistemisches Werkzeug bzw. Methode verwendet, um den anderen zu verstehen.3 Parallel zu dieser Renaissance der Untersuchungen über das empathische Vermögen nahm das Interesse an den Möglichkeiten der Empathie mit filmischen Figuren stark zu. So lassen sich in der Filmwissenschaft und der Philosophie eine zunehmende Anzahl an Veröffentlichungen finden, welche die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit Figuren zum Thema haben. In dieser Sektion wollten wir eine Landkarte dieser Ansätze zur FilmEmpathie skizzieren. Viele Beiträge aus einer kognitivistischen Richtung hatten als Ziel, den Begriff der Identifikation zu kritisieren, der stark von der Psychoanalyse geprägt wurde, und den Begriff der Empathie neu zu definieren.4 Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang bieten die Analysen von Berys Gaut, der den Begriff der Identifikation in der analytischen Debatte neu einzuführen versucht, ohne dabei auf den Terminus Empathie zu verzichten. Man kann sich laut Gaut mit verschiedenen Aspekten einer Figur identifizieren. Zu diesen Aspekten gehören die Wahrnehmungen, Überzeugungen, Gefühle und Wünsche der Figur.5 Die Identifikation findet dann statt, wenn wir uns vorstellen, wie es für die Figur ist, einen bestimmten mentalen Zustand zu haben. Das Phänomen der Empathie allerdings soll von der Identifikation – besonders von der Identifikation mit den Gefühlen der Figur – unterschieden werden, denn Empathie verlangt nicht nur, dass wir uns vorstellen, wie es für die Figur ist, in einer bestimmten emotionalen Verfas-

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Monika Dullstein hat dieses epistemische Verständnis der Empathie kritisiert. Denn der Andere wird bloß als Erkenntnisobjekt betrachtet. Ausgehend von Strawson unterscheidet sie zwischen einer objektiven und eine teilnehmenden Haltung gegenüber anderen Personen. Vgl. Dullstein, Monika: »Einfühlung und Empathie«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 93-108, hier S. 97.

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Der Begriff »Identifikation« wurde von Wollheim kritisiert: Wollheim, Richard: The Thread of Life, Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. 75. Eine konkrete Kritik für den Einsatz in Bezug auf Filme kann bei folgenden Autoren gefunden werden: Carroll, Noël: The Philosophy of Horror, New York/London: Routledge 1990, S. 96; Currie, Gregory: Image and Mind: Film, Philosophy, and Cognitive Science, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 174 und Smith, Murray: Engaging Characters: Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Clarendon Press 1995, S. 93.

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Gaut, Berys: A Philosophy of Cinematic Art, Cambridge: Cambridge University Press 2010, S. 260.

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sung zu sein, sondern, dass wir selbst dasselbe fühlen. Zu diesen kognitivistischen Versuchen, den Empathiebegriff neu zu definieren, gehörte auch die Bemühung, Empathie von verwanden Phänomenen wie Sympathie oder emotionale Ansteckung zu unterscheiden. Wichtig in diesem Kontext sind etwa Grodals Analyse der Beziehung zwischen kognitiver Identifikation und Empathie, Coplans Versuche, das Phänomen der affektiven Ansteckung von der Empathie zu trennen, Murray Smiths Theorie der Formen der Auseinandersetzung (»engagement«) mit filmischen Figuren oder Carrolls Idee einer »Assimilation« der Situation der Figuren aus einer internen Perspektive seitens des Zuschauers.6 Wiederholt wurden in diesem Zusammenhang neue Vorschläge gemacht, um den Begriff der »Empathie« zu vermeiden. Eine der wichtigsten Ergebnissen diese Auseinandersetzung mit dem Thema war, dass dadurch viele Aspekte, Facetten und Mechanismen der Empathie erhellt wurden. Einer dieser Aspekte betrifft die Rolle der Imagination beim Empathisieren. Sich die Perspektive einer Figur vorzustellen, gilt als Voraussetzung für entwickelte Formen der Anteilnahme wie im Fall der Empathie. Damit ich die Perspektive der Figur teile, muss ich mir zunächst diese Perspektive vorstellen können. Ein anderer Aspekt betrifft den Erwerb von so genanntem »empathischem Wissen«. Das Empathisieren mit filmischen Figuren vermittelt uns nicht nur einen internen Zugang zum inneren Leben der filmischen Figuren, sondern auch einen Einblick in die Psychen unserer Mitmenschen, d.h. es fungiert als Mechanismus, um eine interne Perspektive auf das Leben von Anderen zu gewinnen. Hinter dieser These steckt die Annahme, dass zwischen Kunst und Realität keine Kluft besteht und dass unsere Auseinandersetzung mit Kunst, uns Erkenntnis über das Leben vermitteln kann. Aus einem ganz anderen Blickwinkel hat die Filmwissenschaft die Funktionen und Möglichkeiten der Identifikation und Einfühlung diskutiert. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde dies im Zuge der so genannten Psychosemiotik meist in negativen Begriffen als »miscognition«, also als falsches Erkennen beziehungsweise Verkennen, konzeptualisiert. Der Zuschauer unterliegt also einer fundamentalen Fehlwahrnehmung des Realitätsstatus des Films und verwechselt die Gesichter und Körper auf der Leinwand mit seinen eigenen (oder Idealvorstellungen seiner selbst). Folgt man der Arbeit von Filmtheoretikern wie Jean-Louis Baudry, Laura Mulvey oder Christian Metz, so prä-

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Grodal, Torben: Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition, Oxford: Clarendon Press 1997; Coplan, Amy: »Understanding Empathy: Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 3-18; M. Smith: Engaging Characters; N. Carroll: The Philosophy of Horror.

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sentiert der Film ein falsches oder (ideologisch) verdrehtes Bild der Realität. Seit den 90er Jahren haben Wissenschaftler in einer kognitiven Tradition alternative Konzepte der Annäherung von Wahrnehmung, Affekten und Emotionen an Filmfiguren entwickelt.7 Aber auch in der ästhetischen Theorie wurden neue Ansätze entwickelt, die sich dem Zusammenhang von Emotion, Fiktionalität und Einfühlung widmen.8 Der Fokus war dabei bisher zumeist auf Figuren gerichtet – Objekte, Situationen, Genres oder Welten wurden dabei nicht oder nur ganz am Rande behandelt. Die Debatte über Empathie hat sich also auf die kognitiven Aspekte des Phänomens sowie auf das »Verkennen« und die (falsche) Wahrnehmung konzentriert. In diesem Kontext wurden aber verschiedene Aspekte der Empathie, die unseres Erachtens nach für die Beschreibung des Phänomens sehr wichtig sind, kaum behandelt. Auf diese Fragestellungen, die bislang eher wenig Beachtung gefunden haben, wollen wir in diesem Sammelband unserer Aufmerksamkeit richten.

E MPATHIE

UND ÄHNLICHE

P HÄNOMENE

Der Begriff der Empathie ist mehrdeutig. Zu dieser Mehrdeutigkeit hat mit Sicherheit ihre Begriffsgeschichte beigetragen. Der Terminus Empathie ist in der deutschen Sprache ein Neologismus, wenn auch ein weiterer Blick offenbart, dass hinter diesem neuen Terminus eine sehr verwickelte Begriffsgeschichte steckt. Im Rahmen der Ästhetik des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der »Einfühlung« verwendet, um ein inneres Nachvollziehen zu bezeichnen, das in

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Siehe beispielsweise M. Smith: Engaging Characters; T. Grodal: Moving Pictures; Plantinga, Carl: Moving Viewers. American Film and the Spectator’s Experience, Berkeley/CA: University of California Press 2009; Eder, Jens: Die Figur im Film: Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg: Schüren 2008.

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Siehe beispielsweise Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin/New York: De Gruyter 2004 und dies.: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, München: Fink 2013; Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004; Brütsch, Matthias et al. (Hg.): Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005; Brinckmann, Christine Noll: Farbe, Licht, Empathie. Schriften zum Film, Marburg: Schüren 2014.

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Anbetracht nicht lebendiger Objekte seitens des Zuschauers stattfindet.9 E.B. Titchener, ein englischer Schüler von Wundt, übersetzte Einfühlung ins Englische als »empathy«, auch wenn diese in der Folge nicht nur eine Form des Bezugs zum Objekt bezeichnete, sondern auch eine Form des interpersonalen Verhältnisses.10 Bevor dieser Terminus geprägt wurde, war nicht selten von Sympathie gesprochen worden, um das Phänomen eines Verstehens fremder Psychen zu bezeichnen.11 Ende des 20. Jahrhunderts wurde dieser englische Terminus als »Empathie« ins Deutsche rückübersetzt und damit auch die vielen Konnotationen transportiert, die der Begriff in der angelsächsischen Diskussion aufgenommen hatte. Heute wird Empathie hauptsächlich dafür verwendet, um eine Form des Verstehens fremder Psychen zu bezeichnen, während die Möglichkeit mit anderen nicht-lebendigen Entitäten zu empathisieren, kaum berücksichtigt wird. Diese Begriffsgeschichte ist teilweise dafür verantwortlich, dass wir es mit einem extrem mehrdeutigen Terminus zu tun haben. Was genau ist also unter Empathie zu verstehen? Prinzipiell wird der Begriff im heutigen Diskurs auf zwei Weisen verwendet. In einem weiten Sinne bezeichnet »Empathie« die verschiedenen und vielfältigen Formen, die Erfahrung eines anderen zu teilen. Es ist diese sehr allgemeine Auffassung, die wir im Auge haben, wenn wir von einer Person behaupten, dass sie »empathisch« sei. Damit wollen wir sagen, dass sie auf andere in einer anteilnehmenden Form reagiert, dass sie also nicht indifferent bleibt. Ein genauerer Blick auf dieses »empathisch sein« offenbart allerdings die Vielfältigkeit der Bezugsformen, die wir in Bezug auf andere haben können. Eine erste Unterscheidung kann zwischen Sympathie und Empathie getroffen werden. Während ich in der Empathie die mentalen Zustände des anderen erfahre (ich fühle deinen Schmerz), reagiere ich mit Sorge und Gefühl in der Sympathie mit dem Anderen

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Der wichtigste Theoretiker der Empathie dieser Zeit war Theodor Lipps. Der Aufsatz »Das Wissen von fremden Ichen« von 1907 gilt als klassischer Text über dieser Thematik. Vgl. Stueber, Karsten R.: Rediscovering Empathy: Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge: MIT Press 2006, S. 5ff. und Coplan und Goldie 2011 für einen Überblick: Coplan, Amy/Goldie, Peter: Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives. Oxford: Oxford University Press 2011. Siehe auch der Beitrag von Christiane Voss in diesem Band zu einer produktiven Neueinschätzung von Lipps.

10 Titchener, Edward B.: Lectures on Experimental Psychology of Thought-Process, New York: MacMillan 1909, S. 21. 11 Adam Smith spricht zum Beispiel in The Theory of Moral Sentiments (1759) von Sympathie, um das Phänomen zu bezeichnen, das wir heute als Empathie kennen.

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(ich reagiere affektiv auf deinen Schmerz). Neben diesen zwei Formen gibt es weitere Möglichkeiten. Wir können uns etwa emotional von den Gefühlen des anderen anstecken lassen. Dies wäre einen Fall von Gefühlsübertragung, bei der ich die Gefühle des anderen als eigene Gefühle übernehme und mich dann in demselben Zustand befinde.12 Wir können auch die Perspektive eines anderen zu übernehmen trachten oder mit den Brillen anderer die Welt sehen wollen. Im ersten Fall würden wir die Welt betrachten, als ob wir in der Situation des anderen wären (so genannte »ich-zentrierte Perspektivenübernahme«), während wir uns im zweiten Fall nicht nur in die Situation des anderen hineinversetzen würden, sondern auch in seine Person (»du-zentrierte Perspektivenübernahme«). All dies sind verschiedene Formen der Anteilnahme an fremden Psychen, die in einem sehr allgemeinen Sinne als Empathie oder als »empathisches Spektrum« gelten können.13 Diese Formen lassen sich auch auf den Bezug zu Filmfiguren übertragen, denn wir können uns auch von den Gefühlen der Figuren anstecken lassen, uns in ihre Situation hineinversetzen oder ihre Perspektive übernehmen. Diese Verwendung von »Empathie« in einem sehr allgemeinen Sinne aber birgt die Gefahr des inflationären Gebrauchs, denn es handelt sich um unterschiedliche Phänomene, die als solche von der Empathie im eigentlichen Sinne differenziert werden müssen. Was ist nun aber Empathie im »eigentlichen Sinne«? Diese Frage führt uns zu der Verwendung des Begriffs Empathie im engen Sinne, von dem oben die Rede war. Damit wird eine spezifische Bezugnahme auf andere Menschen bezeichnet, bei der uns das, was der andere erfährt, auch gegeben wird. Die konkreten Bedingungen für die Entwicklung eines Konzepts der Empathie im engeren Sinne sollen in der nächsten Sektion reflektiert werden.

12 Vgl. für eine Untersuchung der affektiven Ansteckung: Scheler, Max: »Wesen und Formen der Sympathie«, in: ders./Manfred Frings, Gesammelte Werke, Band 7, Bern/München: Francke 1973, S. 9-258 und Coplan, Amy: »Catching Characters’ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8 (2006), S. 26-38. 13 Eder spricht in diesem Zusammenhang von Nähe zu den Figuren. Damit will er die Bandbreite an Phänomenen berücksichtigen, die eine Rolle spielen, wenn wir uns mit den Figuren auseinandersetzen. Vgl. Eder, Jens: »Imaginative Nähe zu Figuren«, in: montage/av 15/2 (2006), S. 135-160.

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ASPEKTE

DER

E MPATHIE

Die Entwicklung einer operativen Definition des Phänomens »Empathie« verlangt die Behandlung einer Reihe von Fragen, die in der heutigen Debatte lebendig diskutiert werden, ohne dass dabei bisher ein Konsens erreicht wurde. Diese Fragen wollen wir in dieser Sektion anhand dreier Achsen artikulieren: Die Frage nach der Gegebenheit, die Frage nach der Form der Anteilnahme und die Frage nach der Daseinsunterscheidung. a) Die Frage nach der Gegebenheitsform Eine erste Frage zur Empathie, die geklärt werden soll, betrifft die Form, in der die mentalen Zustände eines anderen gegeben werden. Inwiefern wird mir die Fremderfahrung gegeben? Die jüngste Debatte über Empathie wurde hauptsächlich von zwei klassischen Optionen beherrscht: der Theorie-Theorie (TT) und der Simulationstheorie (ST). Beide Theorien teilen die Annahme, dass Fremdpsychisches nicht direkt wahrgenommen wird, sondern uns durch einen indirekten Mechanismus zugänglich gemacht wird. Sie unterscheiden sich jedoch in der Bestimmung des indirekten Mechanismus, der uns die fremde Psyche zugänglich machen soll. Die Theorie-Theorie Die Theorie-Theorie (TT) ist der Meinung, dass, wenn wir an den Erfahrungen von anderen teilhaben, (zumindest implizit) eine Theorie des Geistes besitzen, von der ausgehend wir dann Inferenzen ableiten. Ausgehend von der Beobachtung eines bestimmten Verhaltens schließen wir auf einen bestimmten mentalen Zustand, weil wir eine Theorie über die Verbindung zwischen Verhalten und mentalem Zustand besitzen. Wenn ich ein Lächeln sehe, schließe ich daraus, dass die lächelnde Person sich freut, weil ich von der Verbindung dieser zwei Tatbestände weiß. Die verschiedenen Versionen der TT versuchen, das Verhalten von Menschen genauso zu verstehen wie wir Gegenständen der Natur verstehen: indem wir Gesetze suchen und Theorien bilden, die wir dann darauf anwenden.14 Ein Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass er nicht die empathischen Reaktionen von jenen Lebewesen erklären kann, die wohl keine Theorie haben:

14 Vgl. Davies, Martin/Stone, Tony: Folk Psychology: The Theory of Mind Debate, Oxford: Blackwell 1995 und Carruthers, Peter/Smith, Peter K.: Theories of Theories of Mind, Cambridge: Cambridge University Press 1996.

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dabei denken wir an die Reaktionen von Neugeborenen, Menschen mit beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten oder auch Tieren. Eine Option, diesem Einwand zu entkommen, besteht darin, den Begriff der Theorie so stark zu erweitern, dass jede einfache Form des Denkens als Theorie gilt. Diese Alternative ist aber unbefriedigend, denn sie entspricht nicht dem heutigen Begriff von Theorie als System von Aussagen, welche die Realität erklären soll. Ein zweites Problem betrifft die Tatsache, dass, wenn wir andere Menschen verstehen, nicht immer theoretisieren müssen: wir müssen nicht immer Schlüsse und Inferenzen ziehen, um unsere Mitmenschen zu verstehen. Es ist sogar im Gegenteil so, dass, wenn wir viel theoretisieren müssen, um einen anderen zu verstehen, entweder unsere Fähigkeit zu verstehen und zu empathisieren beeinträchtigt ist (dies geschieht etwa im Fall des Autismus) oder der andere auf unerklärliche Art und Weise handelt. Die Simulationstheorie Im Falle der Simulations-Theorie (ST) dagegen stellen wir uns die Situation des anderen vor, ohne zu theoretisieren, indem wir uns in den anderen hineinversetzen und einen ähnlichen Zustand in uns selbst hervorrufen (d.h. simulieren).15 Um das Lächeln im Gesicht eines anderen zu verstehen, versetze ich mich in die Situation der anderen Person und simuliere, wie ich mich in dieser Situation fühlen würde. Erst dann kann ich verstehen, dass dieses Lächeln mit Freude in Verbindung steht. Ein Merkmal dieser Simulation des mentalen Zustandes eines anderen besteht darin, dass die simulierten Zustände in einem »off-line Modus« erlebt werden, d.h. ohne dass diese mentale Zustände Wirkungen auf unsere Psyche haben.16

15 Als Vertreter dieser Position gelten u.a. Feagin, Susan: Reading with Feeling. The Aesthetics of Appreciation, Cornell: Cornell University Press 1996; Currie, Gregory/Ravenscroft, Ian: Recreative Minds, Oxford: Clarendon Press 2002; Goldman, Alvin I.: Simulating Minds: The Philosophy, Psychology, and Neuroscience of Mindreading, Oxford: Oxford University Press 2006. 16 Vgl. für diese Position Currie, Gregory: »The Moral Psychology of Fiction«, in: Stephen Davies (Hg.), Art and Its Messages. Meaning, Morality, and Society, University Park: Pennsylvania State University Press 1997, S. 49-58, hier S. 51. Laut Currie ist es möglich, dass wir die Perspektive einer Figur übernehmen oder aperspektivisch bleiben können, wenn wir simulieren (Currie, Gregory: »Anne Bronte and the Uses of Imagination«, in: Matthew Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford: Blackwell 2006, S. 209-221, hier S. 213). Es gibt allerdings auch Versionen der Simulationstheorie, die personenzentriert sind (Stroud,

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Doch in diesem »off-line Status« liegt auch ein Problem begründet. Denn diese These setzt voraus, dass die Gefühle, Wünsche etc., die wir dank der Simulation erleben, von einer anderen Natur sind als die Gefühle, Wünsche etc., die wir angesichts der Realität erfahren. Nicht selten werden sie dann als Als-ObGefühle, Quasi-Gefühle, Make-Believe-Gefühle (und Wünsche etc.) bezeichnet. Als Argumente dafür werden etwa angeführt, dass die Gefühle, die dank der Simulation entstehen, uns nicht zum Handeln motivieren, dass sie mit einer anderen phänomenalen Qualität verspürt werden als »echte« Gefühle und dass sie auf Annahmen und Fantasien anstatt auf Überzeugungen und Wahrnehmungen fußen. Diese These und die entsprechenden Argumente stützen sich allerdings auf zweifelhafte Annahmen. Erstens setzt diese These der Quasi-Gefühle voraus, dass alle von der »realen Welt« hervorgerufenen Gefühle uns zum Handeln veranlassen, während alle in der fiktionalen Welt resultierenden Gefühle keine Handlung motivieren können. Achten wir allerdings auf die Tatsachen, erweist sich diese Annahme als falsch. Doch nicht alle Gefühle in Bezug auf die Realität motivieren Handlungen: So kann man beispielsweise Trauer angesichts eines realen Unglücks empfinden, das uns unbekannte Menschen betrifft, ohne dass diese Trauer eine Handlung veranlasst. Falsch ist auch die Annahme, dass sämtliche aus dem fiktionalen Feld stammenden Gefühle keine Handlungen nach sich ziehen. Die Beschäftigung mit einem fiktionalen Film kann uns so stark berühren, dass sie uns zum Handeln in der Welt bringt. Dies ist etwa der Fall, wenn die Auseinandersetzung mit der Fiktion uns für eine bestimmte Thematik sensibilisiert und wir dann entsprechend in der Realität handeln. Auch die Annahme, dass die von der Fiktion ausgelösten Gefühle von einer anderen Qualität sind als diejenigen, die auf die Realität zurückgehen, ist falsch: Die Angst angesichts eines realen Gewitters fühlt sich qualitativ ähnlich an wie die Angst vor einem fiktionalen Ungeheuer. Drittens setzt die These der Quasi-Gefühle voraus, dass »echte« Gefühle auf Wahrnehmungen oder Überzeugungen gründen, während Quasi-Gefühle auf Fantasien oder Annahmen fußen. Auch diese These ist kritisierbar, denn einige unserer Gefühle gegenüber dem Realen können auf Annahmen gründen. Wenn ich etwa hoffe, einen Preis zu gewinnen, gründet dieses Gefühl auf der Annahme, dass meine Arbeit eines solchen Preises würdig ist. Das simulationistische Modell hat ein weiteres Problem, denn es setzt voraus, was es eigentlich erklären will. Damit wir die mentalen Zustände des anderen simulieren können, müssen wir den anderen schon als einen anderen und nicht als bloßes Ding wahrgenommen haben. Damit haben wir auch schon eine Vorstellung

Scott R.: »Simulation, Subjective Knowledge, and the Cognitive Value of Literary Narrative«, in: Journal of Aesthetic Education 42/3 (2008), S. 19-41, hier S. 21.

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über seine Gefühlswelt, die wir ja gerade erst simulieren sollen, um sie zu verstehen. Direkte Wahrnehmung Oft wurde darauf hingewiesen, dass diese zwei Optionen bloß eine Scheinalternative bilden. Beide Theorien gehen von der Annahme des Wissens aus, dass mir der Andere als ein Anderer und nicht als lebloser Körper gegeben ist.17 Eine dritte Alternative hat sich in den letzten Jahren zunehmend verbreitet. Dieser Ansatz erklärt die Gegebenheit der fremden Erfahrungen über das Modell der direkten Wahrnehmung.18 Wenn ich das Lächeln sehe, ist mir schon im Lächeln die Freude des Anderen mitgegeben. Diese Variante kann erklären, was die anderen Alternativen schon voraussetzen, nämlich inwiefern wir den anderen als Lebewesen und nicht bloß als leblosen Körper auffassen. Wir nehmen unsere Mitmenschen nicht zunächst als fremde Körper wahr und danach schließen wir daraus, dass sie etwas empfinden: andere Menschen sind uns schon auf den ersten Blick als einheitliche Ganzheit gegeben. In der Fremdwahrnehmung wird uns der Andere unmittelbar gegeben, ohne die Vermittlung einer Inferenz, von der ausgehend wir dann die psychischen Zustände dieses Anderen erschließen.19 Eine Schwierigkeit dieser Theorie besteht allerdings darin, dass sie Fälle von Em-

17 Dies wird als »starting problem« bezeichnet: Vgl. Arnold, Thomas: »Gedankenlesen und Gedanken Lesen: Über das Verhältnis der Präsentationsmodi in den Phänomenen der Empathie mit realen und fiktiven alter egos«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 283-300, hier S. 288. 18 Dieser Ansatz wird heutzutage von Gallagher und Zahavi vertreten. Man kann dies auch als die phänomenologische Alternative bezeichnen, denn sie wurde im 20. Jahrhundert von Husserl, Scheler und Stein vertreten. Vgl. Gallagher, Shaun/Zahavi, Dan: The Phenomenological Mind, New York: Routledge 2012; Zahavi, Dan: »Simulation, Projection and Empathy«, in: Consciousness and Cognition 17/2 (2008), S. 514–522; Ders.: »Empathy, embodiment and interpersonal understanding: from Lipps to Schutz«, in: Inquiry 53/3 (2010), S. 285–306; Ders.: »Empathy and direct social perception«, in: Review of Philosophy and Psychology 2/3 (2011), S. 541-558. Vgl. für einen Überblick: Jensen, Rasmus T./Moran, Dermot: »Introduction: intersubjectivity and empathy«, in: Phenomenology and Cognitive Sciences 11/2 (2012), S. 125– 133, hier S. 127. Diesem Ansatz wäre auch Vivian Sobchack zuzuordnen, die in ihrem Beitrag in diesem Band an Emmanuel Levinas anknüpft. 19 Scheler hat dies als die These der psychophysischen Indifferenz des Ausdrucks formuliert. Vgl. M. Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, S. 256.

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pathie ohne direkte Wahrnehmung nur unzureichend oder gar nicht erklären kann. Dies betrifft nicht nur die Möglichkeit des Empathisierens mit Menschen, die außerhalb unserer perzeptive Reichweite sind, sondern auch und vor allem literarische Figuren. Diese werden ja nicht »wahrgenommen«, sondern in der Imagination von jeder Leserin und jedem Leser vergegenwärtigt: sie besitzen keine echte Präsenz, erscheinen uns aber dennoch lebendig. Angesichts der Vor- und Nachteile jeder dieser drei Möglichkeiten, die Gegebenheit der Fremderfahrung zu erklären, überrascht es nicht, dass Erklärungsmodelle entwickelt wurden, die eine Kombination dieser unterschiedlichen Ansätze vorschlagen. In diesen pluralistischen Ansätzen werden uns die emotionalen Erfahrungen von anderen manchmal durch Theoretisierung, manchmal durch Simulation und manchmal durch direkte Wahrnehmung oder als Zusammenspiel dieser verschiedenen Wege eröffnet. Damit aber verwenden wir den Terminus Empathie in einem weiten Sinne und die konkreten Kriterien sind dadurch nicht spezifiziert. b) Die Frage nach der Form der Anteilnahme Eine zweite wichtige Frage betrifft die Form, in der wir an den mentalen Zuständen anderer teilnehmen. Es wird oft behauptet, dass, wenn wir empathisieren, wir die mentalen Zustände eines anderen »teilen«. Um dieses »Teilen« bzw. »Anteilnehmen« näher zu bestimmen, müssen einige Aspekte geklärt werden. Die Form der Anteilnahme kann nicht auf die Form der Gegebenheit (des Anderen), die oben untersucht wurde, reduziert werden. Es gibt Fälle, in denen uns eine Fremderfahrung gegeben wird, ohne dass wir sie notwendigerweise teilen. Dies geschieht etwa, wenn wir die Gedanken eines anderen lesen. Wir können diese Gedanken nachvollziehen, ohne dass wir sie in irgendeiner Form teilen (müssen). Es gibt auch Fälle, in denen wir die Erfahrung eines anderen teilen, aber wir kein Bewusstsein der Gegebenheit dieser Erfahrung als Erfahrung eines anderen haben. Dies ist der Fall, wenn wir uns etwa emotional von den Gemütszuständen eines anderen oder einer Gruppe »anstecken« lassen. Um die Form der Anteilnahme an der Fremderfahrung näher zu bestimmen, sollen drei Punkte geklärt werden: Die Frage, inwiefern die Anteilnahme auf das eigene Selbst zentriert bleibt (1); die Frage nach den konkreten Erfahrungen, die empathisiert werden können (2) und die Frage nach der Notwendigkeit, dass die mentalen Zustände der empathisierten Person den mentalen Zuständen der empathisierenden Person ähneln (3).

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Ich-zentrierte Empathie vs. Du-zentrierte Empathie Die erste dieser konkreten Fragestellungen lautet: Wenn wir die Perspektive eines anderen übernehmen, inwiefern müssen wir auf den anderen eingehen? Sollen wir die Perspektive des anderen übernehmen und uns vorstellen, wie es für uns wäre, in dieser Situation zu sein? Oder sollen wir die Situation des anderen übernehmen und uns vorstellen, wie es für den anderen in der Tat ist, in dieser Situation zu stecken? Diese Fragen erlauben uns eine Unterscheidung zwischen zwei Modi der Empathie zu entwickeln: »Ich-zentrierte Empathie« und »Du-zentrierte Empathie.«20 Im letzteren Fall haben wir es mit einem viel ambitionierteren Projekt zu tun. Wir stellen uns nicht vor, wie es für uns wäre, in der Situation zu sein, sondern wie es für den anderen ist (oder sein könnte). Dies setzt voraus, dass wir so viel Informationen wie möglich über den anderen haben, damit wir dieses imaginative Projekt richtig vollziehen können: Wir müssen (möglichst) seine Biographie, seine Vorlieben, seine Hoffnungen, seine mentale Struktur, seine Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln kennen, damit wir die Fremdperspektive übernehmen können. Einige Autoren haben allerdings behauptet, dass eine so starke empathische Übernahme unmöglich ist, wir also niemals den eigenen Standpunkt zugunsten eines anderen verlassen können und oft bloß spekulieren, wie es für den anderen wäre.21 Für andere dagegen benötigt die Empathie unbedingt diese starke Form der Perspektivenübernahme, denn sonst bleiben wir bloß ich-zentriert und es gibt kein genuines Teilen der fremden Perspektive. Kognitive, affektive und konative Empathie Eine weitere Frage im Zusammenhang mit der Form der Anteilnahme betrifft jene Erfahrungen, die wir dank der Empathie verstehen. Welche psychischen Zustände des anderen kommen für die empathische Erfahrung in Frage? Auch über diese Frage streiten sich die Gemüter in der heutigen Debatte. Wenn wir über Fremderfahrung sprechen, kann diese Erfahrung in einer der folgenden drei Hauptkategorien klassifiziert werden: kognitive Phänomene (wie Gedanken, Überzeugungen oder Wahrnehmungen), konative Phänomene (wie Wünsche oder Willensakte) und affektive Phänomene (wie Lust und Schmerz, Emotionen und Stimmungen). Prinzipiell spricht nichts dagegen, dass alle diese verschiede-

20 Beide Formen der Einfühlung werden exemplarisch bei Coplan diskutiert: A. Coplan: Understanding Empathy, S. 9-15. 21 Vgl. für diese Kritik: Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 302-317.

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ne Erfahrungsarten Gegenstand der Empathie sind. Entsprechend wird zwischen einer kognitiven Empathie, einer konativen Empathie und einer affektiven Empathie unterschieden. In der Einfühlung wäre uns dann das ganze Spektrum von mentalen Zuständen eines anderen transparent.22 Auch wenn einige Beteiligte an der Debatte alle drei Formen mit dem Begriff »Empathie« versehen, gibt es die weit verbreitete Auffassung, dass das Wort »Empathie« für den Fall der »affektiven Empathie« reserviert bleiben sollte. Dabei spielen aber nicht alle affektiven Phänomene eine Rolle, sondern bloß eine Unterkategorie: die Emotionen. Diese Positionen beharren demnach auf der »Affektivität«, um von Empathie zu sprechen. Ob und inwiefern eine Empathie mit Schmerz- und Lustempfindungen, mit Vitalgefühlen oder Stimmungen möglich ist, bleibt bei den Theoretikerinnen und Theoretiker der »Affektivitätsbedingung« oft unbehandelt. Ähnlichkeit, Angleichung und Isomorphismus Schließlich gibt es eine dritte Frage, die sich auf den Ähnlichkeitsgrad zwischen den mentalen Zuständen des Empathisierenden und des Empathisierten bezieht. Reicht es, wenn wir Kenntnis über die Fremderfahrung erlangen, oder müssen wir dann in einen ähnlichen Zustand geraten? Im ersten Fall ist es nicht nötig, dass wir etwas Ähnliches erfahren, um den anderen zu verstehen.23 Wenn aber Letzteres der Fall ist: wie ähnlich müssen die beiden mentalen Zuständen sein? Auch über diese Frage herrscht kein Konsens. Einige Autoren sind der Meinung, dass beide mentalen Zustände in einer Relation des Isomorphismus stehen sollen, d.h. wenn es sich bei der Fremderfahrung um Trauer handelt, muss ich auch als empathisierende Person Trauer empfinden. Diese Position scheint allerdings zu stark zu sein, denn wir können die mentalen Zustände anderer verstehen, ohne dabei selbst in diese mentalen Zustände zu geraten. Ich kann verstehen, dass ein Mensch an einer Depression leidet, ohne dabei selbst depressiv zu sein. Eine zweite Möglichkeit wäre eine »Angleichung«, so dass wir uns an den mentalen Zuständen des anderen anpassen, ohne dass notwendigerweise beide mentalen Zustände isomorph sind. Wenn ich die Fremderfahrung der Trauer verstehe, muss ich etwas Ähnliches empfinden, etwa eine negative Stim-

22 Vgl. für eine Diskussion dieser verschiedenen Möglichkeiten, Empathie anhand des Werks Edith Steins aufzufassen: Szanto, Thomas: »Collective Emotions, Normativity, and Empathy: A Steinian Account«, in: Human Studies 38/4 (2015), S. 503-527. 23 Vgl. D. Zahavi: Empathy and direct social perception.

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mung oder eine Emotion, die sich unlustvoll anfühlt, aber deswegen muss ich nicht gleich Trauer erfahren.24 c) Die Frage nach der Daseinsunterscheidung Die dritte große Frage zur Empathie betrifft die Bewahrung des Unterschieds zwischen eigenen mentalen Zuständen und den mentalen Zuständen eines anderen. Wir müssen die mentalen Zustände eines anderen als mentalen Zustand einer fremden Psyche erfahren, damit wir über Empathie sprechen können. Wenn dagegen die Ich-Du Differenzierung nicht bewahrt wird, dann haben wir es mit einem Fall von Ansteckung oder Übertragung zu tun, aber nicht mit Empathie, weil wir dann nicht mehr vom Verstehen einer Fremderfahrung sprechen können. Ein Überblick dieser verschiedenen Aspekte, die mit einer Bestimmung des Phänomens »Empathie« einhergehen, führen zur berechtigten Frage, inwiefern es sich um unterschiedliche Facetten eines Phänomens handelt, oder ob wir es eigentlich mit mehreren Phänomenen zu tun haben.

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Die vorher erwähnten Fragen stellen sich in noch virulenterer Form, wenn es darum geht, die Empathie für Filmfiguren zu erklären. Oft scheint das Phänomen der Empathie für filmische Figuren ein Sonderfall zu bilden. Warum? Im Fall der Empathie für Figuren ist erstens die Frage nach der Gegebenheit der Fremderfahrung problematisch. Auch wenn eine Theoretisierung, Simulation oder direkte Wahrnehmung einer Figur im Film möglich ist, stellt sich die Frage danach, was für eine Erfahrung konkret wahrgenommen wird und wie diese medial verfasst ist. Auf den ersten Blick ist es so, dass wir in den Ausdrucksbewe-

24 Vertreter dieser Position sind: A. Coplan: Understanding Empathy, S. 6; Jacob, Pierre: »The Direct-Perception Model of Empathy: a Critique«, in: Review of Philosophy and Psychology 2 (2011), S. 519-540, hier S. 523; de Vignemont, Frédérique/Jacob, Pierre: »What is like to feel another´s pain?«, in: Philosophy of Science 79/2 (2012), S.295-316, hier S. 304. Eine Variante davon wäre die Kongruenzthese: Preston, Stephanie D./de Waal, Frans B.M.: »Empathy: Its Ultimate and Proximate Bases«, in: Behavioral and Brain Sciences 25 (2002). Vgl. für eine Diskussion dieser Möglichkeiten: Vendrell Ferran, Íngrid: »Empathy, Emotional Sharing and Feelings in Stein´s Early Work«, in: Human Studies 38/4 (2015), S. 481-502.

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gungen des Schauspielers oder der Schauspielerin eine Fremderfahrung wahrnehmen, die vermittelt wird über die Techniken des Films (Lichtgebung, Bildgestaltung, Montage, Ton etc.). Inwiefern ist aber diese Fremderfahrung wirklich vorhanden? Der Schauspieler oder die Schauspielerin tut unter Umständen bloß so, als ob sie diese Erfahrung hätte, ohne dass sie in der Tat die Erfahrung macht. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es sich um eine fiktive Psyche handelt, wenn wir behaupten, mit der filmischen Figur zu empathisieren. Es kann hier die ontologische Frage gestellt werden, ob überhaupt eine fremde Subjektivität vorhanden ist, wenn wir uns mit Filmfiguren auseinandersetzen. Zur ontologischen Frage tritt die Frage nach der Medialität hinzu, denn die spezifische Verfasstheit des ästhetischen Artefakts ist nicht einfach eine äußerliche Form, sondern konstitutiver Bestandteil, der uns überhaupt erst den Zugang zu filmischen Figuren und Narrationen gestattet. Ferner scheint im Fall der Empathie beim Film der Spielraum für die Projektion eigener Befindlichkeiten auf die Figur viel größer zu sein, als wenn wir uns auf reale Menschen richten. Wie soll die Anteilnahme verstanden werden? Wie kann es überhaupt möglich sein, dass wir etwas von einem fremden Bewusstsein wissen, wenn dieses Bewusstsein erfunden ist? Diese Frage betrifft nicht den ontologischen Status von Filmfiguren, sondern den epistemischen Status unserer empathischen Akte mit anderen ganz allgemein.25 Wenn wir uns mit Filmen beschäftigen, wenn wir dank vieler technischer Mittel eine Immersion in das Universum des Films erleben, scheint die Grenzen zwischen Empathie und Gefühlsansteckung oft zu verschwimmen. Starke Fälle der Identifikation mit den Figuren sind auch möglich, so dass eine Daseinsunterscheidung nicht immer bewahrt wird. Vor allem aber ist ein Film ein ästhetisches Artefakt, das den Zuschauerinnen und Zuschauern auch immer als ein solches begegnet – insofern müssen die ästhetischen Eigenschaften des Films berücksichtigt werden: die Kamerabewegungen und Lichtsetzungen, die Montage und Ausstattung, die Besetzung und Ausdruckstechnik der Darsteller usw. Der Film als audiovisuelles Objekt verkompliziert also die Frage nach der Empathie noch einmal, weil unter Umständen die Erweckung der Empathie erst in der spezifischen ästhetischen Gestalt liegt.

25 Die ontologischen und epistemologischen Fragen können nicht nur angesichts von Filmfiguren gestellt werden, sondern auch angesichts fremder Psychen im Allgemeinen. Vgl. Breyer, Thiemo: »Empathie und ihre Grenzen: Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?« in: ders. (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 13-44, hier S. 17.

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Wenn wir in Bezug auf Filme behaupten, Empathie zu empfinden, handelt es sich um dasselbe Phänomen wir die Empathie im intersubjektiven Kontext unseres täglichen Lebens? Oder sollten wir von einer spezifischen »Film-Empathie« sprechen, die trotz einiger gemeinsamer Merkmale mit der Empathie außerhalb des Films als eigenständiger Mechanismus funktioniert? Sollten wir aufgrund der oben erwähnten Unterschiede zwischen »Alltags-Empathie« und »FilmEmpathie«, im Fall von Filmen vielleicht sogar auf den Begriff verzichten? Dies sind einige der Fragen in Bezug auf die Möglichkeit, Empathie in, durch und mit Filmen zu erfahren, die wir in diesem Sammelband mit einer ganzen Reihe illustrer Autorinnen und Autoren behandeln.

Ü BERBLICK ÜBER DEN S AMMELBAND Der Sammelband besteht aus neun Beiträgen, von denen zwei Übersetzungen zentraler Texte über Empathie im Film sind, während es sich bei den übrigen Texten um Originalbeiträge handelt. Der erste übersetzte Text ist inzwischen als Klassiker der Debatte kanonisiert und gehört der kognitivistischen Tradition im Rahmen der analytischen Philosophie an. Alex Neills »Empathie und (filmische) Fiktion« erschien erstmals 1996 in der epochemachenden Anthologie PostTheory, die polemisch die damals dominante psycho-semiotische Filmtheorie herausforderte.26 Heute, mit 20 Jahren Abstand, kann man diese Auseinandersetzung getrost als historisch bezeichnen. Es gibt inzwischen zahllose Kontakte und Querverbindungen zwischen den ehemals getrennten Lagern, so dass auch Neills Text als Klassiker gelten kann, der eine Reihe von noch immer virulenten Fragen auf den Punkt bringt. Wie ist es möglich, dass wir emotional auf Fiktionen reagieren? Sind unsere emotionalen Reaktionen im Angesicht von Fiktionen von derselben Qualität wie unsere Emotionen in Bezug auf Reales? Sind wir rational, wenn wir auf Fiktionen mit Emotionen reagieren? Diese Fragen bilden den Kern einer sehr lebhaften Debatte um das so genannte »Paradox der Fiktion«, die seit den 1970er Jahren die analytische Ästhetik beschäftigt. Neill versucht, auf diese Fragen differenzierte Antworten zu finden, indem er die Vielfältigkeit unserer emotionalen Reaktionen betont und eine genaue Untersuchung des Phänomens der Einfühlung mit filmischen Figuren unternimmt.

26 Bordwell, David/Carroll, Noël: Post-Theory. Reconstructing Film Studies, Madison, WI: University of Wisconsin Press 1996.

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Lisa Schmalzried knüpft in ihrem Aufsatz direkt an die oben detailliert aufgefächerten Debatten an. Sie vertritt die These, dass fiktionale Filme psychologisch verlässliches empathisches Wissen vermitteln können, also Wissen, wie es in emotionaler Hinsicht für eine andere Person ist, eine bestimmte Situation zu erleben. Empathisches Wissen kann man u.a. durch eine erfolgreiche emotionale Identifikation gewinnen, also indem man sich vorstellt, eine Situation in emotionaler Hinsicht so zu erleben wie eine andere Person, und hierdurch den emotionalen Zustand dieser Person versteht und teilt. Da man sich auch mit fiktionalen Filmfiguren erfolgreich emotional identifizieren kann und manche Filme dazu einladen, sich mit ihren Figuren zu identifizieren und diese Identifikation anleiten und erleichtern, können sie empathisches Wissen über ihre Figuren vermitteln. Es geht also um die Frage danach, ob und unter welchen Bedingungen der Film eine verlässliche Quelle empathischen Wissens sein kann. Ebenfalls auf der Seite der Rezeption, also primär beim Anteil der Zuschauer, verortet sich der Beitrag von Christian Ferencz-Flatz, auch wenn er in einer deutlich anderen Theorietradition steht. Er wendet sich exemplarisch einem Film von Abbas Kiarostami zu, dessen Werke stets die Betrachter zur aktiven Beteiligung an der Sinnerzeugung auffordern. Diese Tendenz tritt am ausgeprägtesten in SHIRIN (2008) auf, da dieser Film die Situation eines Filmpublikums zum Thema hat. Dabei begnügt sich der Film allerdings nicht mit einer Darstellung von Publikumsreaktionen, sondern er impliziert vielmehr, aufgrund der Weise wie er seinen eigenen Betrachter affiziert, ein komplexes Zusammenspiel empathischer Bezüge, worin zum einen das Verhältnis zwischen dem aktuellen Betrachter des Films und den dargestellten Zuschauerinnen im Film, zum zweiten jenes zwischen den im Film gezeigten Zuschauerinnen und den Figuren des Films-im-Film, den sie sehen und wir bloß hören, und drittens jenes zwischen Filmautor und Betrachter fortwährend interferieren. Nicht nur dieser Text verweist wiederholt auf die phänomenologische Filmtheorie von Vivian Sobchack, von der die zweite Übersetzung in diesem Band stammt. In ihrem Beitrag interpretiert sie Delmer Daves’ Film DARK PASSAGE (US 1947, DAS UNBEKANNTE GESICHT) im Kontext von Emmanuel Levinas phänomenologisch geprägter Ethik. Der Film verdoppelt und spaltet den Protagonisten Vincent, gespielt von Humphrey Bogart, der nach einer Gesichtsoperation äußerlich verändert ist, indem in den ersten 60 Minuten des Films entweder subjektive Einstellungen zu sehen sind oder die filmische Inszenierung das Gesicht der Figur im Dunkeln lässt. In einer Mischung aus Archivrecherche zur Genese des Films, detaillierter ästhetischer Analyse der filmischen Gestaltung und theoretischen Erwägungen demonstriert Sobchack wie komplex die Mikrobewegungen sind, die uns den Filmfiguren annähern und uns wieder von ihnen entfernen.

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Erzählerstimme aus dem Off, angeschnittene Körperteile, Montage und Mise-enscène wirken zusammen, um uns vis-à-vis, von Angesicht zu Angesicht, zugleich innerhalb und außerhalb, der Figur, des Films und in letzter Konsequenz auch uns selbst zu positionieren. Empathie ist in dieser Lesart keine progressive, lineare Bewegung hin zu stärkeren oder differenzierteren Gefühlsähnlichkeiten gegenüber einem fixierten anderen, sondern die Medialität des Films ist konstitutiv für die (immer widersprüchlichen) Möglichkeiten der Nähe, die wir als Zuschauer empathisch dem Film und seinen Figuren gegenüber empfinden können. Susanne Schmetkamp entwirft ein zwischen Sobchacks Leibphänomenologie und der analytischen Tradition angesiedeltes Modell von Empathie als leiblichimaginativer Vergegenwärtigung der Perspektiven anderer, in diesem Fall von fiktiven Figuren. Dabei wird zugleich auch die Frage gestellt, was es eigentlich genau heißt, empathisch Perspektiven einzunehmen: Welche Perspektiven sind gemeint? Dies wird vor allem im Zusammenhang mit Film relevant, denn hier greifen technische Perspektivierungen (Kameraperspektiven, Erzählperspektiven) sowie Perspektiven im metaphorischen Sinne (epistemischer Standpunkt, ethisch-existentielle Sichtweise) ineinander. Film ist schließlich nicht bloß Erzählung, sondern auch fotografierte, bewegte, vertonte, kadrierte, montierte Darstellung, nicht bloß Narration, sondern auch Expression. Anhand der Operationen des Perspektivierens und empathischen Räsonierens in DAS WEISSE BAND (DE 2009, Michael Haneke) wird der Begriff der »Perspektive« entwickelt, der eine optische wie eine auditive, eine körperliche wie eine figurative Dimension aufweist. Damit korrespondiert bei der affektiven Zuschauerinvolvierung die Vorstellung von »Resonanz«, um zu beschreiben, wie wir diese Perspektiven erfahren und auf sie antworten. Empathie ist dabei ein Modus diverser, in der ästhetischen Erfahrung möglichen Resonanzmodi. Einen etwas anders gelagerten, aber durchaus verwandten Ansatz, der die Aufmerksamkeit von der Logik der Narration auf die audiovisuelle Gestaltung verschiebt, entwickeln Hermann Kappelhoff und Sarah Greifenstein. Sie fragen in ihrem Beitrag nach den medienspezifischen Bedingungen, das Filme-Sehen als einen Akt der Konstruktion verständlich macht. Den Erfahrungshorizont, innerhalb dessen sich die filmischen Bilder als sinnhafte Repräsentationen, als eine bedeutsame Welt darstellen, gilt es dabei selbst erst zu produzieren. Diesen Akt der Konstruktion entwirft der Aufsatz als einen Prozess der Fiktionalisierung, der sich gerade nicht auf den verstandesmäßigen Gebrauch von konventionalisierten Erzählmustern, genrespezifischen Stereotypen und Bezeichnungssystemen reduzieren lässt. Die Fiktionalisierungen des Filme-Sehens greifen vielmehr unmittelbar auf affektive Prozesse und Modulationen von Wahrnehmungsempfindungen zurück, die durch die Inszenierungsweisen filmischer Bilder struktu-

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riert werden. An zwei Beispielen – MAGNIFICENT OBSESSION (US 1953, Douglas Sirk) steht dabei für den melodramatischen Modus und THE AWFUL TRUTH (US 1937, Leo McCarey) für komödischen Modus – wird skizziert, wie die affektiven Perspektivierungen, also die metaphorische Interaktion und empathische Verkörperungen im Zuschauererleben durch die filmischen Bilder, als Basis dient, von der aus die dargestellten Sachverhalte erst im sinnhaften Wirklichkeitshorizont einer gänzlich fiktiven Subjektivität als diegetische Welt zu erschließen sind. Christiane Voss hat mit der Theorie des »Leihkörpers« (2013) einen wichtigen Beitrag zur Frage der filmischen Affizierung und Empathie geleistet, den sie in ihrem Beitrag zu diesem Band auf nicht-personengebundene Dinge und Dimensionen erweitert und ausdehnt. Über eine eingehende Diskussion und Neubewertung des Einfühlungs-Begriffs von Theodor Lipps nähert sich der Beitrag dem »MacGuffin«, jenen von Alfred Hitchcock vorgeschlagenen narrativen Anfangsverdacht und Ausgangsmoment, der sich am Ende als bloßer Vorwand entpuppt, als leeres Versprechen, das die narrative Maschine in Gang setzt und am Laufen hält. Damit eröffnen sich Alternativen zur üblicherweise stark personenzentrierten Vorstellung von Empathie, dieses Konzept auch jenseits von Figuren und Menschen zu verwenden. Die beiden abschließenden Beiträge des Bandes wenden sich dem nichtfiktionalen Film zu, der bisher in der Diskussion um die Empathie relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Im Fokus von Judith Siegmunds Beitrag steht die erkenntnistheoretische Betrachtung der Produktionssituation dokumentarischer Filmarbeit. Die leitende Fragestellung, die anhand des Empathiebegriffs von Amy Coplan entwickelt wird, ist die Frage nach einer möglichen beziehungsweise notwendigen Empathie, die Produzierende gegenüber den dargestellten Protagonisten und Protagonistinnen aufbringen. Anhand von zwei prominenten Filmbeispielen wird die Frage diskutiert, inwieweit sich verschiedene Fälle und Grade des empathischen Verhaltens denken lassen. Das Medium, sozusagen der Träger dieser Empathie, ist das filmische Material selbst. Daraus ergibt sich, dass neben einer Bestimmung der Situation des Filmens auch Fragen nach der Verkörperung der zwischenmenschlichen Situation, die die Autorin mit Hilfe der Begriffe Rhetorik und »instantiation« bei Arthur Danto entwickelt, im Material zu behandeln sind. Ebenfalls anhand des zeitgenössischen Dokumentarfilm – Joshua Oppenheimers THE LOOK OF SILENCE (DK 2014) – klärt Jens Eder zunächst einige grundlegende Fragen in Bezug auf Empathie im Film. Der Beitrag entwickelt dann anhand von philosophischen, psychologischen und filmwissenschaftlichen Theorien des Fremdverstehens, der Perspektivität und der Affektlenkung eine Theorie

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der Empathie als ein facettenreicher Prozess affektiver Perspektivenüberlagerung. Während des Filmsehens bilden Zuschauer mentale Modelle dargestellter Akteure und nähern sich deren situativen Wahrnehmungs-, Wissens-, Bewertungs-, Wollens- und Gefühlsperspektiven an. Indem Filme solche Annäherungen durch ihre Formen, Welten, Bedeutungen und Kontextbezüge lenken, vermögen sie gelegentlich eine Nähe zum Erleben anderer zu erzeugen, die in spezifischer Hinsicht über Empathie im Alltag hinausgeht und die Fremdheit zwischen Kulturen und Identitäten überbrückt. Dies schließt insbesondere jene fundamentalen Erlebnisse ein, die der Philosoph Matthew Ratcliffe als »existentielle Gefühle« bezeichnet: körperlich gefühlte Weltverhältnisse, etwa die Gefühle, gänzlich verloren oder aufgehoben zu sein. Dank an Dominic Chateau, Julian Hanich, Annie van den Oever, Bernhard Runzheimer, Martin Seel und Jeroen Sondervan.

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Empathie und (filmische) Fiktion A LEX N EILL

1 Seit einigen Jahren stellen wir uns wieder die uralten Fragen: Wie und warum kann es sein, dass wir auf Figuren und Ereignisse emotional reagieren, obwohl wir genau wissen, dass sie fiktional sind? Und ist das überhaupt rational? Diese Fragen stehen im Zentrum einer äußerst lebhaft geführten Diskussion auf dem Gebiet der zeitgenössischen Ästhetik. Diese Diskussion füllt nach wie vor die Seiten der Philosophiezeitschriften, obwohl sie bisher kaum Einigkeit darüber gebracht hat, worum es bei den betroffenen Themen eigentlich genau geht – von Lösungen ganz zu schweigen.1 Ein Grund für diese fehlende Klarheit liegt meiner Meinung nach darin, dass unsere emotionalen Reaktionen auf etwas, von dem wir wissen, dass es fiktional ist, monolithisch behandelt werden. So werden etwa seit Beginn der Diskussion Furcht und Mitleid, die ein fiktionales Werk in uns auslösen können, über einen Kamm geschoren. Dabei sind unsere emotionalen Reaktionen ‒ auf fiktionale ebenso wie auf reale Personen und Ereignisse ‒ keineswegs alle gleichartig. Wir unterscheiden zum Beispiel (zumindest grob) zwischen emotionalen Reaktionen, bei denen der Fokus auf einem selbst liegt (zum Beispiel Angst um das eigene Leben), und solchen, die jemand anderen oder etwas anderes betreffen. Unter diesen »anderweitig fokussierten« emotionalen Reaktionen können wir ferner zwischen sympathisierenden (»sympathetic«, z.B. wenn ich um dich fürchte) und empathischen Reaktionen (»empathetic«,

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Der erste Philosoph, der sich meines Wissens mit diesen Fragen beschäftigt hat, war der Sophist Gorgias. Siehe Barnes, Jonathan: The Presocratic Philosophers. Vol. 2. Empedocles to Democritus, London: Routledge, 1979, S. 161-164. Eine Liste der meisten wichtigen aktuellen Beiträge findet sich bei den Literaturhinweisen in Boruah, Bijoy H.: Fiction and Emotion, Oxford: Clarendon Press 1988.

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denn ich kann mich auch mit dir fürchten) differenzieren. Wenn wir die Vielfältigkeit unserer emotionalen Reaktionen, im Besonderen jene, die Fiktionen in uns hervorrufen können, näher betrachten, begreifen wir diese Reaktionen, ihre Rolle für unser Verständnis und unsere Bewertung von Fiktion und ihre Bedeutung im Hinblick auf breitere Themenfelder in der Geistes- und Gefühlsphilosophie vermutlich besser als wenn wir so tun, als handle es sich dabei um eine homogene Klasse. Mit dieser umfassenden Strategie im Hinterkopf möchte ich mich auf die Empathie konzentrieren und dabei insbesondere auf die Möglichkeit empathischer Reaktionen auf fiktionale Filme eingehen. Eine (stark vereinfachte) Art, dem Unterschied zwischen sympathisierenden und empathischen Reaktionen beizukommen, könnte so aussehen: Bei einer sympathisierenden Reaktion, also beim Fühlen für oder um andere(s), muss nicht reflektiert werden, was der, die oder das andere fühlt, ja es spielt nicht einmal eine Rolle, ob er, sie oder es überhaupt etwas fühlt. Deine Freude kann bewirken, dass ich mich für dich freue, aber sie kann mich auch ärgern; ebenso kann ich Mitleid für oder Furcht um dich empfinden, ganz egal, wie es sich mit deinen Gefühlen verhält. Reagiere ich umgekehrt empathisch auf eine andere Person, teile ich ihre Gefühle, fühle also mit ihr; sich ihr gegenüber empathisch zu zeigen, heißt, in ihrem aktuellen Gefühlszustand die gleiche(n) Emotion(en) zu erleben wie sie. Interessanterweise haben Empathie und empathische Reaktionen in der aktuellen Diskussion über das Wesen und die Sinnhaftigkeit unserer Gefühlsreaktionen auf Fiktion wenig Aufmerksamkeit erhalten. Das liegt zum Teil zweifelsohne an der erwähnten Tendenz, unsere emotionalen Reaktionen auf Fiktion als etwa Homogenes zu betrachten. Teilweise wird aber auch unterstellt, dass empathische Reaktionen für unsere emotionale Auseinandersetzung mit fiktionalen Arbeiten aus unterschiedlichen Genres überhaupt keine signifikante Rolle spielen. Richard Wollheim bemerkt etwa: »das empathische Publikum liefert nicht das Modell zum Verständnis des Dramas, und […] jedwede Theorie des Dramas, die es in den Vordergrund stellt, irrt sich diesbezüglich.«2 Dolf Zillman schreibt, es sei »eine weit verbreitete Ansicht, dass all jene, die einem Drama mit sympathischen, liebenswerten Protagonisten konfrontiert sind, sich mit diesen Protagonisten ›identifizieren‹ und ›stellvertretend erfahren‹, was diese Protagonisten erleben. Diese Ansicht gilt gemeinhin als sicheres und unbestrittenes Kernelement

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Wollheim, Richard: »Imagination and Identification«, in: On Art and the Mind, Cambridge: Harvard University Press 1973), S. 68.

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unseres Verständnisses der Erkenntnismöglichkeiten, die uns das Drama bietet.«3 Diese Ansicht jedoch – dass also empathische Reaktionen wesentlich für unser Erleben von Fiktion seien – sei laut Zillman weit davon entfernt, »sicher« und »unbestritten« zu sein. Er verweist dabei auf die Reaktionen von Kindern auf spannende Filme: »Sie sprechen ihre Helden an und warnen sie laut vor Gefahren (Gefahren, derer sich die Helden im Sinne der Spannung eben nicht bewusst sind).« (142) Wäre die Reaktion des Kindes empathisch, entspräche sie »dem Ausdruck der Ruhe und Selbstsicherheit des Helden oder wäre von diesem gesteuert«. Tatsächlich drückt die kindliche Reaktion aber keineswegs Ruhe oder Sicherheit aus. Die Hypothese, unsere Reaktionen auf spannungsgeladene Fiktion seien empathische Reaktionen, so Zillman, »scheitert nicht nur daran, die Unruhe zu erklären, mit der wir auf die meisten Szenen reagieren, in denen Fallen oder Bedrohungen vorkommen« (während sich der Held oder die Heldin ruhig und selbstbeherrscht verhält), sondern prognostiziert auch fälschlicherweise »ein Fehlen von Unruhe, solange der Held nicht in einer Situation von Schmerz und Leid angetroffen wird« (142). Zumindest im Hinblick auf fiktionale Spannung, so Zillman schließlich, sind unsere Reaktionen besser verständlich, wenn sie als »Fühlen für« (hier: Sympathie) betrachtet werden, denn als »Fühlen mit« (hier: Empathie).4 Ein ähnliches Argument bringt Noël Carroll im Zuge seiner Erörterung, wonach die Idee der »Charakteridentifikation« nicht dabei helfe, unsere emotionale Auseinandersetzung mit den Protagonisten fiktionaler Werke zu verstehen.5 Wie wir sehen werden, lässt Carroll jedoch Raum für die Empathie in der Auseinandersetzung mit Fiktion. Er argumentiert, dass in Horrorfiktionen die Reaktionen der Figuren auf Monster als »cues«, also Hinweisreize, für die jeweiligen Reaktionen des Publikums dienen und dass »unsere emotionalen Reaktionen als Zuschauer in den wichtigsten Belangen jenen der Figuren entsprechen sollen« (18). Carrolls Einwand gegen »Charakteridentifikation« basiert jedoch größtenteils auf seiner Behauptung, dass »in sehr vielen Fällen der Gefühlszustand des Publikums nicht den Zustand der Charaktere doppelt«. Hier führt er ein Beispiel an: »Wenn die Heldin fröhlich vor sich hin planscht und nicht ahnt, dass ein Kil-

3

Zillman, Dolf: »Anatomy of Suspense«, in: Percy H. Tannenbaum (Hg.), The Entertainment Functions of Television, Hillsdale/NJ: Lawrence Erlsbaum 1980, S. 133164, hier S. 141. Hervorhebung hinzugefügt.

4

Zillman selbst verwendet den Begriff »empathy« sowohl für »feeling for« als auch für »feeling with«.

5

Carroll, Noel: The Philosophy of Horror, or Paradoxes of the Heart, New York: Routledge 1990, S. 88-96.

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lerhai sich ihr nähert, um zuzubeißen, sorgen wir uns um sie. Sie jedoch macht sich keine Sorgen. Sie ist überglücklich« (90). Oder: »Wenn wir Mitleid empfinden, weil Ödipus erfahren musste, dass er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen hat, dann entspricht das nicht den Gefühlen von Ödipus. Er empfindet Schuld und Reue und macht sich Vorwürfe. Wir hingegen tun natürlich nichts dergleichen.« (91). Wenn ich Empathie wie oben als ein »MitFühlen« auslege, als ein Spiegeln des Gefühlszustands eines Protagonisten durch die Zuschauer, dann deuten Carrolls Aussagen darauf hin, dass empathische Reaktionen in unserer emotionalen Auseinandersetzung mit Fiktion eine eher unbedeutende Rolle spielen.

2 Und doch deutet eine Reihe von Faktoren darauf hin, es könne lohnenswert sein, die Rolle empathischer Reaktionen bei unserer Auseinandersetzung mit fiktionalen Arbeiten nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Zunächst ist laut Zillman die Vorstellung, unsere emotionale Auseinandersetzung mit Fiktion ‒ und insbesondere filmischer Fiktion ‒ wurzle in einer Art »Identifikation« mit den fiktionalen Charakteren und einer entsprechend empathischen Reaktion auf diese, sehr stark verbreitet. Selbst meine eigene Erfahrung zeigt mir das: Praktisch alle, die sich nicht »professionell« mit diesen Themen beschäftigen und mit denen ich darüber spreche, berufen sich auf Identifikation und Empathie, wenn sie ihre emotionale Auseinandersetzung mit Filmen erläutern. Carroll hat gewiss Recht mit seiner Beobachtung, dass oft unklar ist, was mit »Identifikation« im Zusammenhang mit unserer Auseinandersetzung mit Fiktion gemeint ist, und dass manche der Bedeutungen, die diesem Begriff gemeinhin zugeschrieben werden, diesen bestenfalls wenig aussagekräftig, wenn nicht sogar inkohärent wirken lassen. Die allgemeine Verbreitung der Behauptung, unsere affektiven Reaktionen auf ein fiktionales Werk seien in irgendeiner Form eine Folge unserer Identifikation mit dessen Figuren, und die ebenso häufig hergestellte Verknüpfung zwischen »Identifikation« und empathischer Reaktion legen nahe, dass wir uns davor hüten sollten, die Bedeutung empathischer Reaktionen für unsere emotionale Auseinandersetzung mit Fiktion zu unterschätzen. Kurz, es behaupten einfach viele Menschen, der Kern ihrer affektiven Auseinandersetzung mit Fiktion bestehe in empathischer Auseinandersetzung. Es kann natürlich auch sein, dass diese Menschen einfach die Bedeutung von »Identifikation« bzw. »Empathie« falsch deuten oder die Beschaffenheit ihrer eigenen Reaktionen durcheinanderbringen. Bevor wir jedoch zu einem solchen Schluss gelangen, sollten wir uns

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näher anschauen, was empathisches Reagieren auf Fiktion eigentlich alles beinhalten kann. Die allgemeine Tendenz, empathische Reaktion und Identifikation in einem Atemzug zu nennen, deutet auf einen weiteren und verwandten Grund dafür hin, dass sich eine solche Untersuchung lohnen könnte. Der Begriff der Identifikation erhält derzeit nämlich ebenfalls sehr viel Aufmerksamkeit von professionellen Filmtheoretikern. In der Filmtheorie hat das Nachdenken über Identifikation wenig überraschend einen Zug zur Psychoanalyse. So beschreibt etwa Anne Friedberg Identifikation als »das, was das Erkennen der Unähnlichkeit verschleiert und verzögert. Wenn Fetischismus eine Beziehung ist, die durch die Angst vor sexueller Differenz herbeigeführt wird, dann ist Identifikation eine Beziehung, die auf die Angst vor der reinen Differenz zurückgeht […] Der Prozess der Identifikation ist ein Prozess des Leugnens der Differenz zwischen dem Selbst und dem Anderen. Er ist ein Trieb, der die Annehmlichkeiten der Gleichheit aktiviert. Wenn das Subjekt in einer Reihe von Identifikationen konstituiert ist, die Ähnlichkeit erzwingen, ist Identifikation eine lange strukturelle Wiederholung dieser Leugnung der Differenz – eine Identitätskonstruktion auf der Grundlage der Gleichheit.«6 So betrachtet ist Identifikation ein pathologischer Vorgang, ein Vorgang der durch »Angst« erzeugten »Leugnung«. In dem Maße, in dem empathische Reaktionen von Identifikation abhängen oder diese beinhalten, legt eine solche Analyse nahe, dass unsere empathischen Reaktionen auf andere, ob sie nun fiktionale Figuren oder echte Menschen sind, im Kern pathologische Reaktionen sind, Symptome des Selbstbetrugs. Aber ist das wirklich so? Wenn das der Fall ist und wenn die Behauptungen vieler Menschen über den zentralen Charakter von Identifikation und Empathie für unsere Auseinandersetzung mit Fiktion zutreffen, dann sehen wir uns einer neuen Version eines der ältesten Kritikpunkte am Geschichtenerzählen gegenüber: Platons Vorwurf, die Dichtung appelliere auf Kosten der Vernunft an die Leidenschaften. Diese Möglichkeit ist gewiss Grund genug, sich das Wesen der empathischen Auseinandersetzung mit Fiktion noch einmal genauer anzusehen. Und es gibt noch weitere Beweggründe dafür. Die Vorstellung, dass empathische Auseinandersetzung mit anderen für Verständnis und Erklärung eine zentrale Rolle spielt, wurde und wird zunehmend in Zusammenhängen abseits unseres Themas der Auseinandersetzung mit Fiktion gestützt. Die Ansicht, dass

6

Friedberg, Anne: »A Denial of Difference: Theories of Cinematic Identification«, in: Elisabeth Ann Kaplan (Hg.), Psychoanalysis and Cinema, New York: Routledge 1990, S. 36-45, hier S. 40.

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historische und soziologische Erklärungen ein Verstehen7 beinhalten und davon abhängig sind, »Dinge vom Standpunkt eines anderen zu betrachten« ‒ eine, wie ich weiter unten ausführen werde, für empathisches Reagieren zentrale Ansicht ‒, geht auf eine bedeutende und einflussreiche Geschichte zurück.8 In der Moralphilosophie und in der Psychologie, von Adam Smiths und David Humes Theorien der »ethischen Gefühle« bis zu neueren und allgemein feministischen Arbeiten über »die Care-Ethik«, wurde unsere Fähigkeit zur empathischen Reaktion oftmals als Quelle der Moral erörtert.9 In letzter Zeit argumentiert zudem eine wachsende Zahl an Philosophen und Psychologen, Empathie sei wesentlich für unsere »alltägliche« Fähigkeit, das Verhalten unseres Umfelds zu verstehen, zu erklären und vorherzusagen ‒ jene »populäre« Zuschreibung mentaler Zustände gegenüber anderen hänge also von empathischem Verständnis ab.10 Kurz, in Theoretikerkreisen nimmt die Akzeptanz der Bedeutung von Empathie für Verständnis und Erklärung vielfach zu. Das heißt natürlich noch nicht automatisch, dass Empathie für unsere Auseinandersetzung mit und unser Verständnis von Fiktion eine große Rolle spielt. Aber wenn Empathie für unser Verständnis von Geschichte, Gesellschaft und anderen Menschen von so entscheidender Bedeutung ist, wäre es dann nicht zumindest etwas seltsam, daran festzuhalten, dass sie für unser Verständnis von Fiktion nur marginale oder geringe Bedeutung hat? Angesichts der historischen und zunehmenden Betonung der Rolle empathischen Denkens und Reagierens im Zuge des Versuchs der Menschen, sich mit Welten auseinanderzusetzen, sie zu verstehen und zu erklären, ist es also letzt-

7

Im Original deutsch.

8

In der Arbeit von Vico und Dilthey ist diese Ansicht beispielsweise zentral.

9

Beispiele finden sich etwa bei Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, Oxford: Clarendon Press 1976, Hume, David: A Treatise of Human Nature, Oxford: Clarendon Press 1978 und Gilligan, Carol: In a Different Voice, Cambridge: Harvard University Press 1982.

10 Siehe Robert Gordons vieldiskutierten Aufsatz »Folk Psychology as Simulation«, in: Mind and Language (1986): S. 158-171, sowie Kapitel 7 seiner Arbeit Gordon, Robert M.: The Structure of Emotions, Cambridge: Cambridge University Press 1987. Mind and Language 7, 1-2 (1992) ist eine Spezialausgabe, die sich zur Gänze der Diskussion der »Simulationstheorie« widmet, wonach empathisches Verständnis für unser alltägliches, vortheoretisches Verständnis anderer zentral ist. Ich bin hier Alvin Goldman und seiner äußerst hilfreicher Erhebung einiger der hier angesprochenen Hauptthemen in seiner Rede als Präsident der pazifischen Abteilung der APA zu Dank verpflichtet: Goldman, Alvin H.: »Empathy, Mind, and Morals«, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 66 (November 1992): S. 17-41.

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lich lohnenswert, weiter über die möglichen Rollen nachzudenken, die die Empathie für unsere Versuche spielen könnte, uns mit den Welten fiktionaler Werke auseinanderzusetzen und diese zu verstehen und zu erklären. Schließlich gibt es noch ein weiteres Argument, das manchmal für den Wert, den wir Fiktion zusprechen, angeführt wird und das darauf hindeutet, dass empathische Reaktionen nicht nur am Rande für unsere affektive Auseinandersetzung mit Fiktion von Bedeutung sind. Es wird oft argumentiert, dass der Wert der Fiktion weitgehend davon abhängt, wie viel sie zur Gefühlsbildung beiträgt. In seiner Poetik führt Aristoteles etwa aus, der Genuss, den mimetische Werke bereiten, sei ein Genuss, der aus dem Lernen gewonnen werde. Die Quelle des Genusses, den wir aus der Tragödie ziehen, sei die Erweckung und anschließende Katharsis von Furcht und Mitleid. Aristoteles verknüpft also »tragischen Genuss« sowohl mit Lernen als auch mit emotionaler Reaktion. Das legt nahe, dass der Wert der Tragödie (zumindest zum Teil) eben davon abhängt, was sie zu unserer Gefühlsbildung beitragen kann.11 Ähnliche Positionen zum Wert der Kunst finden sich in diversen Versionen der Ausdruckstheorie. Auch George Eliot schließlich, die sich selbst als »ästhetische« und nicht »doktrinäre« Lehrerin beschrieb, knüpfte den Wert der Fiktion an unsere affektive Bindung daran, indem sie erklärte, ihr Ziel sei es, die »edleren Gefühle« in ihren Lesern zu wecken, um es ihnen zu erleichtern, Mitleid und Mitgefühl in ihrem täglichen Leben zu empfinden.12 Aber welchen Beitrag zu unserer Gefühlsbildung kann die Fiktion leisten? Die Antwort auf diese Frage ist zum Teil gewiss darin zu finden, dass Fiktion, wie Eliot andeutet, uns den Zugang zu neuen emotionalen Erfahrungen öffnen kann. Nun erfahren wir in vielen Fällen durch Reflexion der sympathisierenden Reaktionen, die Fiktion in uns auslösen kann, etwas über das Wesen unserer Gefühle; indem wir zum Beispiel über die seltsam ambivalente Mischung von Bewunderung und Mitleid reflektieren, die der Titelheld von Werner Herzogs FITZCARRALDO (DE 1982) in uns auslöst, gewinnen wir Einblicke sowohl in das Wesen der Bewunderung als auch in jenes des Mitleids. Im Gegensatz zu derlei

11 Selbstverständlich ist in den letzten Jahrhunderten heftig darüber diskutiert worden, was Aristoteles in seiner Poetik mit Katharsis eigentlich meint. Der Forscher, der am meisten dafür getan hat, Katharsis mit gefühlsbezogenem Lernen bzw. »intellektueller Klärung« von Emotionen zu verbinden, ist Golden, Leon: Aristotle on Tragic and Comic Mimesis, Atlanta: Scholars 1992. Siehe auch Nussbaum, Martha: The Fragility of Goodness, Cambridge: Cambridge University Press 1986. 12 Zitiert von Peter Jones: Philosophy and the Novel (Oxford: Clarendon Press, 1975), S. 66.

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Fällen gibt es wahrscheinlich nur eine einzige Emotion, über die wir bei Nicholas Roegs DON’T LOOK NOW (IT/GB 1973, WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN) etwas erfahren: eben Trauer. Und doch trauern wir ja nicht um John und Laura Baxter (gespielt von Donald Sutherland und Julie Christie). Wenn wir also dank diesem Film aufgrund unseres Gefühlserlebens etwas über Trauer erfahren, dann hat das mit empathischer Reaktion zu tun: weil wir nämlich mit den beiden trauern. Abel Ferraras BAD LIEUTENANT (US 1992) ist zum Teil ein Film über Einsamkeit, aber Einsamkeit ist nicht etwas, das wir für oder um andere empfinden. Auch hier muss, sofern wir aus dem Film durch Gefühlserleben etwas über Einsamkeit erfahren, dieses Erfahren ein empathisches sein. Und tatsächlich ‒ hier lassen wir die Fiktion für einen Augenblick beiseite ‒ beruht einer unserer wichtigsten Zugänge zu neuen emotionalen Erfahrungen auf empathischer Reaktion. Es stimmt, dass unsere »sympathisierenden« Reaktionen auf andere uns neu sein können; oft sind wir überrascht darüber, wie wir empfinden oder worauf sich unsere Empfindungen richten. Indem wir aber miteinander empfinden, also empathisch und nicht sympathisierend, stellen wir fest, dass wir auf Arten und Weisen empfinden, die uns nicht nur neu, sondern geradezu fremd sind. Wenn wir sympathisierend auf andere reagieren, kann es sein, dass das auf eine Art geschieht, von der wir gar nicht wussten, dass wir sie »in uns« haben. Wenn wir hingegen empathisch reagieren, geschieht das meiner Ansicht nach auf eine Art, die überhaupt nicht in uns ist, sondern die die Gefühle und Reaktionen anderer spiegelt, deren Perspektiven und Erfahrungen sich von unseren eigenen oft sehr stark unterscheiden. Daher kann eine empathische Auseinandersetzung mit anderen für die Gefühlsbildung eine sehr wichtige Rolle spielen. Wenn uns Fiktion also Möglichkeiten sowohl einer empathischen als auch einer sympathisierenden emotionalen Auseinandersetzung eröffnet, rechtfertigt (und erklärt) das zu einem Gutteil die Behauptung, der Wert der Fiktion hänge stark mit ihrem Beitrag zur Gefühlsbildung zusammen.

3 Folgt man den hier umrissenen Gedanken, liegt nahe, dass eine tiefergehende Erforschung der Art, wie Empathie in unsere Auseinandersetzung mit fiktionalen Arbeiten hineinspielt, einiges Licht in unsere Beschäftigung mit dem Verständnis und der Bewertung fiktionaler Werke bringen könnte. Bisher habe ich noch nicht viel Konkretes über Empathie im Zusammenhang mit filmischer Fiktion gesagt. Teilweise weil ich der Meinung bin, dass die hier behandelten Themen von recht allgemeiner Bedeutung sind ‒ ich denke, dass jede genauere Erfor-

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schung empathischer Reaktionen Aussagekraft über unsere Auseinandersetzung mit allen Formen von Fiktion besitzt. Das bedeutet aber nicht, dass ich die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien der Fiktion nicht für wesentlich halte. Ich werde im Folgenden mehr zum Thema filmische Fiktion im Zusammenhang mit empathischen Reaktionen sagen. Vorerst jedoch sollen einige (zwangsläufig kurz gehaltene) Beispiele aus der Welt des fiktionalen Films darstellen, wie empathische Reaktionen mit dem Verständnis und der Bewertung eines fiktionalen Werkes in Verbindung gebracht werden können. Zunächst möchte ich auf eine hinlänglich bekannte Szene aus dem Film THE HAUNTING (US 1963, BIS DAS BLUT GEFRIERT) von Robert Wise eingehen. Es ist Mitternacht, Eleanor (Julie Harris) und Theodora (Claire Bloom) werden von einem klopfenden oder stampfenden Geräusch geweckt, das vom Flur her zu kommen scheint. Eine gefühlte Ewigkeit hält das Geräusch an, wird schwächer und wieder stärker (und jedes Mal, wenn es leiser wird, sind andere Geräusche aus dem Flur zu hören: Laufschritte eines Kindes, der Klang von etwas, das über den Boden gezogen wird, tierisches Knurren), bis es plötzlich ohrenbetäubend laut und scheinbar unmittelbar vor der Schlafzimmertür zu hören ist. Schließlich hört es ganz abrupt auf und wird durch das Lachen einer Frau oder eines Mädchens abgelöst. Eine wahrhaft furchterregende Szene, vielleicht eine der fürchterlichsten Szenen in der Geschichte des fiktionalen Films (und umso bemerkenswerter, wie simpel sie ist; abgesehen von den Toneffekten, die perfekt ausgeführt und mit Fug und Recht als »Spezial«-Effekte zu bezeichnen sind, ist der Schrecken hier durch keinerlei technischen Hokuspokus gestützt). Aber welche Art von Schrecken löst die Szene in uns Zuschauern aus? Wenn wir zuschauen, haben wir ja keine Angst um uns selbst; wir unterliegen nicht der Illusion, wir könnten in Gefahr schweben. Wir wissen, dass das da draußen vor dem Schlafzimmer nur in der Welt des Films »existiert« (und selbst das ist nicht gewiss). Wenn wir später, wenn der Film vorbei ist, nachdenken, kann uns das nervös machen, ja vielleicht sogar Angst bereiten, Angst vor den Gespenstern, die vielleicht vor unseren Schlafzimmertüren lauern. Während des Zuschauens jedoch fürchten wir nicht um uns selbst. Man könnte argumentieren, dass wir beim Zuschauen Angst um die beiden Frauen im Film haben, dass unser Schrecken also ein sympathisierender sei. Vielleicht ist das zum Teil auch so. Dabei wird aber außer Acht gelassen, wie stark unser Schrecken von deren Schrecken abhängt: Wenn sie nicht so erschrocken wären, müssten wir es auch nicht sein. Um es mit Carroll zu formulieren, sind ihre Reaktionen (die uns in Nahaufnahmen ihrer Gesichter gezeigt werden) die »Hinweisreize« (»cues«) für unsere Reaktionen. Das bedeutet natürlich nicht, dass unsere Reaktionen lediglich Nachahmung wären. Vielmehr ‒ und hierzu später mehr ‒ reagieren wir so, weil wir die Situation

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der beiden Frauen aus deren Blickwinkel sehen. Die Situation macht uns Angst, weil sie ihnen Angst macht. Kurz gesagt, unser Schrecken ist zumindest zum Großteil ein empathischer Schrecken; und ich behaupte, ohne die Rolle der Empathie in unserem Erleben der Szene anzuerkennen, wäre unser Schrecken kaum nachvollziehbar. Auch für unsere Reaktion auf Nicolas Roegs DON’T LOOK NOW und für unser Verständnis des Films spielt Empathie eine entscheidende Rolle. Der Film beginnt damit, dass die Tochter der Baxters ertrinkt; dieses Ereignis bzw. dessen Auswirkungen bilden den Motor des ganzen Films. Die ersten Momente des Films, die im Tod des Kindes kulminieren, sind extrem stark und fordern eine emotionale Reaktion von uns. Aber welche Art von Reaktion wird hier gefordert? Angesichts dessen, was ihnen zustößt, könnte man die Baxters bemitleiden. Aber diese Reaktion wäre meiner Ansicht nach nicht angebracht. Und das nicht nur, weil Mitleid sehr oft eine unangemessene Reaktion auf das Leid anderer ist, sondern auch und vielmehr weil eine andere Art von Reaktion erforderlich ist, um den Rest des Films vollständig zu verstehen. Als sie in Venedig ankommen, lernen die Baxters zwei ältere Schwestern aus England kennen, von denen eine blind ist und behauptet, übersinnliche Kräfte zu besitzen. Sie erklärt sogar, sie habe die Tochter der Baxters mit ihnen hier in Venedig »gesehen« und das kleine Mädchen versuche sie zu warnen, sie mögen die Stadt verlassen. Laura nimmt das sehr ernst. Der Gedanke, ihr Kind sei gewissermaßen immer noch bei ihnen, tröstet sie; also überredet sie John, sich mit den Frauen zu treffen und mit ihnen zu sprechen; und sie überredet die Frauen, »Kontakt« zu dem Mädchen herzustellen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass wir, die Zuschauer, Laura bei all dem ernst nehmen sollen. Tun wir das nicht und sehen wir nur eine (wenn auch verständlicherweise) hoffnungslos verblendete Frau in ihr – wenn nämlich Mitleid unsere beherrschende Reaktion auf sie ist –, dann kommt uns der Rest des Films abhanden, dann können wir die Bedeutung der später folgenden Ereignisse schlichtweg nicht verstehen. Laura hat nämlich (auf einer gewissen Ebene jedenfalls) ganz Recht damit, die Hellseherei ernst zu nehmen; und wenn wir ihr dabei nicht folgen können, wird Roegs außerordentlich kraftvoller Film zu einem mittelmäßigen Suspense-Thriller. Nehmen wir zum Beispiel Johns lange Suche nach Laura, nachdem er sie mit den beiden älteren Damen auf der Trauergondel entdeckt hat. Wenn wir die übersinnlichen Elemente der Handlung für reine Scharlatanerie der beiden Engländerinnen halten, der die verwirrte und bejammernswerte Laura aufgesessen ist, wird auch Johns Suche nach Laura zu etwas Jämmerlichem, einer wunderlichen Täuschung oder Verwechslung. Aber so ist es natürlich nicht; und um das ‒ und den gesamten Rest des Films ‒ zu verstehen, müssen wir wie Laura die übersinnlichen Möglichkeiten ernst

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nehmen. Das wiederum schaffen zumindest diejenigen unter uns, die nicht dazu neigen, derlei Dinge ernst zu nehmen, nur, wenn sie bereit sind, das Geschehen mit Lauras Augen zu sehen, ihre Perspektive als die unsere anzunehmen, kurz: wenn sie empathisch reagieren. Und sobald man das Geschehen mit ihren Augen betrachtet, bemitleidet man sie nicht, sondern empfindet selbst so etwas wie Grauen über den Verlust ihres Kindes. Ich behaupte also, dass unsere beherrschende Reaktion sowohl auf John als auch auf Laura nicht in Mitleid oder Mitgefühl besteht, sondern darin, dass wir das Grauen angesichts der Ereignisse, die ihr Leben verändert haben, teilen. Und nur dieses geteilte Grauen ermöglicht es uns, die weiteren Geschehnisse zur Gänze zu begreifen und von ihnen ergriffen zu werden.

4 Bisher habe ich also eine Reihe von Gründen angeführt, warum wir annehmen dürfen, dass es sich lohnt, uns mit dem Stellenwert der Empathie für unsere Auseinandersetzung mit Fiktion weiter zu beschäftigen: das Beharren vieler, dass zumindest manche ihrer Reaktionen auf Fiktion empathisch seien, die zunehmende Betonung der Rolle der Empathie für das Verständnis in anderen Bereichen der Philosophie und Psychologie, die möglichen Beziehungen zwischen empathischen Reaktionen und dem Wert, den wir der Fiktion zuschreiben – das alles legt nahe, dass das Thema eine genauere Betrachtung lohnt. Ich habe bisher jedoch sehr wenig darüber gesagt, was empathische Reaktionen eigentlich beinhalten, abgesehen davon, dass ich sie als Fühlen mit der anderen Person oder als Teilen ihrer Gefühle beschrieben habe. Das möchte ich nun weiter ausführen: Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass nicht alle Fälle einer geteilten Reaktion Fälle von Empathie sind. Wenn du und ich beide Briefe erhalten, in denen man uns mitteilt, dass wir nicht für ein lukratives und prestigeträchtiges Forschungsstipendium nominiert wurden, empfinden wir wahrscheinlich beide Enttäuschung, Wut, eine gewisse Sinnlosigkeit und so weiter. Dass wir diese Gefühle teilen, macht das aber noch lange nicht zu einem Beispiel für Empathie. Damit meine Gefühle empathisch sind, muss die Tatsache, dass ich mich so fühle, damit zu tun haben, wie du dich fühlst; grob formuliert heißt Empathie, dass ich mich so und so fühle, weil du dich so und so fühlst. Dieses »weil« bedarf natürlich näherer Ausführung: Welche Art von Beziehung muss zwischen der psychischen Verfassung zweier Menschen bestehen, damit sich die Reaktion des einen auf den anderen korrekterweise als empathisch beschreiben lässt?

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In einer philosophischen Studie hat Susan Feagin argumentiert, dass bei empathischen Reaktionen die Verbindung zwischen meiner geistigen Verfassung und deiner durch Überzeugungen hergestellt wird. Empathie ist demnach ein kognitiver Zustand; er besteht darin, dass ich gewissermaßen Überzeugungen zweiter Ordnung über deine Überzeugungen hege. Wenn ich für jemand anderen Empathie zeige, »betrifft mich die Überzeugung, dass ihm etwas passieren könnte, emotional genauso, als wäre ich er [...]. Die an empathischen Emotionen beteiligten Überzeugungen unterscheiden sich daher leicht von den Überzeugungen, die an den Emotionen beteiligt sind, die ich empathisch nachempfinde: Wenn ich empathisch Angst um meinen Neffen habe (und mit ihm), nämlich davor, dass er von der Schule fliegt, dann liegt das daran, dass ich davon überzeugt bin, dass er davon überzeugt ist, in Gefahr zu sein [...] oder dass ich überzeugt bin, dass er überzeugt ist, von der Schule zu fliegen, wenn er die Prüfung nicht besteht, ... und daran, dass ich überzeugt bin, dass er nicht von der Schule fliegen möchte.«13 »Empathische Emotionen«, so Feagin, »betreffen stets höherrangige Überzeugungen als jene, die die Emotion, die man empathisch nachempfindet, betreffen: Überzeugungen über die Überzeugungen von jemand anderem.« Feagins Behauptung, dass Empathie auf Überzeugung beruhe, wirft einige vertraut klingende Probleme hinsichtlich der Möglichkeit unserer Empathie für uns als fiktional bekannte Figuren auf. Fiktionale Figuren haben, da sie ja nicht existieren, keine Überzeugungen oder Gefühle, über die wir unsererseits Überzeugungen zweiter Ordnung bilden können. Daraus folgert sie: Ob wir die Emotionen einer realen Person nachempfinden, hängt davon ab, wie unsere Überzeugungen zweiter Ordnung lauten. Ob wir jedoch Empathie für eine fiktionale Figur zeigen, hängt nicht von unseren Überzeugungen zweiter Ordnung ab. Denn es gibt ja keine Überzeugungen (oder Wünsche oder sonstige psychische Zustände) erster Ordnung, von denen wir überzeugt sein könnten, da es weder fiktionale Figuren noch deren psychische Zustände wirklich gibt. Das Vorliegen der Empathie [für eine fiktionale Figur] hängt daher nicht davon ab, ob wir fühlen wie die [Figur] fühlt, und das aus den richtigen Gründen (493).

Feagin ist aber trotzdem der Auffassung, dass wir in der Lage sind, empathisch auf fiktionale Figuren zu reagieren, und schlägt vor, dass dabei eher das Vorstellungsvermögen eine Rolle spielt als unsere Überzeugungen. In derlei Fällen, meint sie, »bilden wir nicht Überzeugungen zweiter Ordnung über die ursprüng-

13 Feagin, Susan L.: »Imagining Emotions and Appreciating Fiction«, in: Canadian Journal of Philosophy 18 (1988): S. 485-500, hier S. 489-90.

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lichen Überzeugungen einer Person, sondern stellen uns vor, was diese Überzeugungen, Wünsche usw. sein könnten« (494). Auf der einen Seite beinhaltet Empathie für eine real existierende Person »das Bilden von Überzeugungen zweiter Ordnung über die Überzeugungen dieser Person«; in diesen Fällen »hängt Empathie von unseren Überzeugungen ab, was die Überzeugungen (Wünsche usw.) der Person, für die wir Empathie empfinden, beinhalten (oder lässt sich zumindest durch diese Überzeugungen erklären)« (496). Im Gegensatz dazu hängt unsere Empathie für eine fiktionale Figur davon ab, wie wir uns ihre Überzeugungen, Wünsche und dergleichen vorstellen. Feagins Darstellung enthält einige wertvolle Vorschläge, die ich im Folgenden herausarbeiten und weiterentwickeln möchte. Ihr Vorschlag jedoch, dass bei unseren empathischen Reaktionen auf Fiktion die Vorstellungskraft als Alternative zu Überzeugungen dient, führt zu einem verzerrten Bild von Empathie. Das sehen wir in dem Moment, da wir erkennen, dass das Bilden von Überzeugungen zweiter Ordnung über die Überzeugungen von jemand anderem keineswegs ausreicht, um Empathie hervorzurufen. Einerseits können mich meine Überzeugungen darüber, wovon du überzeugt bist, vollkommen kalt lassen. Andererseits können mich diese Überzeugungen auch zu einer sympathisierenden Reaktion bewegen; meine Überzeugung, dass du überzeugt bist, deine Rosen seien durch Blattläuse unwiederbringlich zerstört worden, kann mich zum Beispiel zu Mitleid (oder übrigens auch zu Hohn oder Schadenfreude) bewegen, also dazu, etwas für oder über dich und nicht mit dir zu empfinden. Diese auf Überzeugungen fokussierende Darstellung erfasst auch nicht den Aspekt, wonach Empathie für jemand anderen zumindest zum Teil damit zu tun hat, zu verstehen, wie es um diese Person steht. (Genau darin unterscheidet sich Empathie von Sympathie; um mit einer anderen Person zu sympathisieren, muss ich weder deren innere Verfassung noch sonst irgendetwas im Zusammenhang mit ihr richtig einschätzen. Schätze ich sie falsch ein, sympathisiere ich womöglich zu Unrecht, aber ich sympathisiere. Liege ich jedoch falsch in meiner Einschätzung der inneren Verfassung und/oder Situation der anderen Person, kann ich keine Empathie für sie aufbringen; dazu aber später.) Und egal, wie es sich mit diesem Verständnis der Situation der anderen Person verhält, geht es nicht einfach darum, (richtige) Überzeugungen zweiter Ordnung über ihre Überzeugungen zu erlangen. Empathie etwa für die Depression von jemand anderem zu empfinden, bedeutet, eine Ahnung von dem Grundton ihrer Überzeugungen, Gedanken, Wünsche und so weiter zu haben oder teilweise zu verstehen, wie es ist, bestimmte Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und Zweifel zu hegen.

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5 Diese etwas vagen Einsichten werden von Milan Kundera in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins14 erforscht und mit Substanz unterfüttert. Kunderas zentrales Thema (oder genauer gesagt eines seiner zentralen Themen) ist Mitleid. Er schreibt: »Es gibt nichts Schwereres als das Mitgefühl. Selbst der eigene Schmerz ist nicht so schwer wie der Schmerz, den man mit einem anderen, für einen anderen, an Stelle eines anderen fühlt, der sich durch die Vorstellungskraft vervielfältigt, sich in hundertfachem Echo verlängert.« (50) Obwohl er das »mit« und das »für« hier miteinander verknüpft, meint Kunderas »Mitgefühl« hier das, was ich als »Empathie« bezeichne. Er führt auch an, dass in den aus dem Lateinischen hervorgegangenen Sprachen das Wort »Mitleid« durch Verbindung der Vorsilbe »mit-« (com-) und dem Wortstamm »leiden« (passio) zusammengesetzt wird, während andere Sprachen das Wort durch ein Substantiv aus der Vorsilbe »mit-« und einem Wort für »Gefühl« bilden (Beispiele bei Kundera sind das tschechische soucit, das polnische wospolczucie, das deutsche Mitgefühl und das schwedische medkansla). Mitgefühl zu haben, bedeutet: »das Unglück des anderen mitzuerleben, genausogut aber jedes andere Gefühl mitempfinden zu können: Freude, Angst, Glück und Schmerz. Dieses Mitgefühl ... bezeichnet also den höchsten Grad der gefühlsmäßigen Vorstellungskraft, die Kunst der Gefühlstelepathie ....« (34f.). Kunderas Diskurs zum Mitleid, den er in seine fiktionale Erzählung einflicht, beleuchtet nicht nur die mögliche Reichweite der Beziehung seiner Leser zu den Figuren, sondern auch die Beziehungen zwischen den Figuren. Kurz nach dem Anfang des Romans eröffnet Tomas’ Freundin Teresa ihm, dass sie seinen Schreibtisch durchsucht und Liebesbriefe seiner Geliebten Sabina gefunden hat. Kundera schreibt: »Wer die teuflische Gabe des Mitgefühls nicht besitzt, der kann Teresas Verhalten nur kaltblütig verurteilen, denn die Privatsphäre des anderen ist heilig. Schubladen mit persönlicher Korrespondenz öffnet man nicht. Da aber das Mitgefühl für Tomas zum Schicksal (oder zum Fluch) geworden war, kam es ihm vor, als kniete er selbst vor der geöffneten Schublade seines Schreibtisches und könnte die Augen nicht losreißen von Sabinas Sätzen. Er verstand Teresa und war nicht nur unfähig, ihr böse zu sein, sondern er liebte sie noch viel mehr« (35). Statt Teresa hinauszuwerfen, fühlt Tomas ihren Schmerz: »Er ... nahm sogar ihre Hände und küßte ihr die Fingerspitzen, denn er spürte in jenem Augenblick selbst den Schmerz unter ihren Fingernägeln, als wären die

14 Kundera, Milan: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2009.

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Nerven ihrer Finger direkt mit seinem Gehirn verbunden.« Kunderas außergewöhnlich kraftvolle Darstellung der Beziehung zwischen Tomas und Teresa zeigt die Sinnlosigkeit des Versuchs auf, Empathie lediglich anhand von Überzeugungen zu beschreiben; es sind nicht einfach Tomas’ Überzeugungen von Teresas psychischem Zustand, die ihm ermöglichen, sie zu verstehen und ihren Schmerz zu teilen. Empathie für jemand anderen aufzubringen, so legt Kundera nahe, ist mehr als eine imaginierende Tätigkeit; es beinhaltet »den höchsten Grad der gefühlsmäßigen Vorstellungskraft«. Verweise auf die Vorstellungskraft sind jedoch allzu oft ein Hinweis darauf, dass man mit seiner Erklärung am Ende ist: Was genau stellt man sich vor, wenn man empathisch ist? Einige der Äußerungen von Noel Carroll bieten dazu Anregungen. Carroll argumentiert, dass unsere Reaktion auf fiktionale Figuren teilweise die »Angleichung« (»assimilation«) an ihre Situation zugrunde liegt. Zum Teil, erklärt er, »bedeutet das, eine Ahnung vom inneren Verständnis der Figur für die Situation zu haben, eine Ahnung davon, wie die Figur die Situation einschätzt.« Anders ausgedrückt: »Ich muss eine Vorstellung davon haben, wie die Protagonistin die Situation wahrnimmt; und ich muss Zugang zu dem haben, was ihre Einschätzung nachvollziehbar macht.« Carroll spricht hier vom »inneren« Verständnis der Situation einer Figur (95). Beim Gefühl des Grauens zum Beispiel ist dieses Verständnis leicht zu erlangen, wie er meint: Wir und die Protagonisten von Horrorerzählungen »teilen dieselbe Kultur, wir erkennen problemlos jene Merkmale der Situation, die sie für den Protagonisten so grauenerregend machen«; und aufgrund dieser unserer Ähnlichkeiten mit den Protagonisten »leuchtet uns schnell ein, warum die Figur das Monster unnatürlich findet« (96). Meiner Meinung nach hat Carroll Recht damit, die zentrale Bedeutung des »inneren« Verständnisses für unsere Auseinandersetzung mit Fiktion hervorzuheben. Er hat auch Recht damit, dass Horrorerzählungen (zumindest in vielen Fällen) dieses Verständnis erleichtern: Wir wissen, wie sich die Hauptfigur fühlt, wenn sie einem Monster begegnet, weil wir wissen, wie wir uns angesichts dieses Monsters fühlen würden. In anderen Fällen jedoch kann uns das Erlangen eines »inneren Verständnisses« der Situation einer Figur etwas mehr abverlangen. Nehmen wir den Fall von Laura Baxter in DON’T LOOK NOW: Wir »teilen dieselbe Kultur« wie sie, aber um ihre Reaktion auf die Behauptungen der Hellseherin zu verstehen, müssen wir mehr tun, als nur darüber nachzudenken, wie es uns mit solchen Behauptungen ginge. Wenn wir beispielsweise von Natur aus skeptisch sind oder noch nie ein Kind verloren haben, liefert unsere Reaktion wahrscheinlich nur einen sehr unzuverlässigen Hinweis darauf, wie es sich mit ihrer Reaktion verhält. In diesem Fall erfordert meiner Ansicht nach die Erlangung eines »inneren Verständnisses« einer anderen Person, sei sie fiktional oder echt,

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dass ich mir die Welt oder die Situation, in der sie sich befindet, aus ihrer Sicht vorstelle. Sie wird zur »Protagonistin« eines Vorstellungsprojekts, das darin besteht, dass ich mir ihre Gedanken, Überzeugungen, Wünsche, Gefühle und dergleichen so vergegenwärtige, als wären es meine eigenen.15 Um auf Kunderas Roman zurückzukommen: Nachdem Teresa nach Prag zurückgekehrt ist und Tomas in Zürich zurückgelassen hat, empfindet er zunächst eine »eigentümliche melancholische Verzauberung«. Nach ein paar Tagen ändert sich seine Stimmung komplett: Teresa brach in sein Denken ein: er fühlte, wie ihr zumute war, als sie den Abschiedsbrief schrieb; er fühlte, wie ihre Hände zitterten; er sah, wie sie mit der einen Hand den großen Koffer schleppte, mit der anderen Karenin an der Leine hielt; er stellte sich vor, wie sie die Prager Wohnung aufschloß, und spürte in seinem eigenen Herzen, wie Verlassenheit und Einsamkeit ihr ins Gesicht wehten, als sie die Türe öffnete (49).

Tomas’ Stimmung verändert sich nicht, weil er neue Überzeugungen in Bezug auf Teresas Überzeugungen erlangt, sondern weil er es schafft, sich ihre Situation aus ihrer Sicht vorzustellen, anstatt aus seiner eigenen. Dabei sieht er ihrer beider Welt so, wie Teresa sie sehen muss, er sieht, wie es bei ihr und für sie ist. Dabei wiederum ändert sich seine Stimmung nicht zu einer sympathisierenden – es entsteht kein Mitleid für sie –, sondern seine Stimmung entspricht zunehmend ihrer; Tomas stellt sich ihr Gefühl der »Verlassenheit und Einsamkeit« nicht nur vor, er spürt es selbst. Kundera beschreibt Tomas’ Mitgefühl als Krankheit, und ein Extrembeispiel für das von ihm so eindringlich beschriebene Phänomen ist bekannt von Männern, die sich in ihrer Fantasie derart stark in das Erleben ihrer schwangeren Frau einfühlen, dass sie selbst eine »Parallelschwangerschaft« oder einen »Sympathieschmerz« empfinden. Gemäß der oben beschriebenen Unterscheidung zwischen Sympathie und Empathie wäre es freilich treffender, derlei Fälle als »empathische Schwangerschaft« zu bezeichnen, denn was sie auszeich-

15 Hier beziehe ich mich auf Goldman, Alvin H.: »Empathy, Mind, and Morals«, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 66 (November 1992): S. 17-41, und insbesondere auf Richard Wollheims Ausführungen zur Empathie. Siehe seinen Aufsatz »Imagination and Identification«, in: On Art and the Mind, und Kapitel 3 (»Iconicity, Imagination and Desire«) seiner Arbeit The Thread of Life, Cambridge: Cambridge University Press 1984. Wollheim unterscheidet zwischen »zentralem« und »azentralem« (»central«, »acentral«) Imaginieren, was in mancher Hinsicht Parallelen zu Carrolls Unterscheidung zwischen »innerem« und »äußerem« (»internal«, »external«) Verständnis aufwirft.

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net, ist, was der betroffene Mann fühlt: Er fühlt, was die Frau fühlt; er fühlt mit ihr und sorgt sich nicht nur um sie. Indem er sich den physischen und psychischen Zustand einer schwangeren Frau geistig vergegenwärtigt, kann ein Mann selbst tatsächlich das fühlen, wovon er sich vorstellt, dass die Frau es fühlt. Fälle dieser Art erinnern uns daran, wie natürlich, ja instinktiv die imaginierende Tätigkeit ist, die den Kern der Empathie bildet. In vielen, wahrscheinlich den meisten Fällen müssen wir uns gar nicht bemühen, Empathie für jemand anderen aufzubringen; oft, wenn auch nicht immer, passiert uns einfach, dass wir uns etwas vorstellen können – es ist eine passive Erfahrung und nicht etwas, das wir aktiv verfolgen müssen.

6 Wenn Empathie im Wesentlichen eine imaginierende Tätigkeit ist, was machen wir dann mit Feagins Anregung, Empathie für jemand anderen beinhalte »das Bilden von Überzeugungen zweiter Ordnung zu den Überzeugungen dieser Person« (96)? Ich habe argumentiert, dass kein Fall, bei dem versucht wird, Empathie nur auf Überzeugungen und deren Bewertung zu gründen, dem Konzept auch nur ansatzweise gerecht werden kann; das bedeutet aber nicht, dass Überzeugungen keinerlei Rolle für die Empathie spielen. Das Vorhandensein von Überzeugungen der Art, mit der sich Feagin beschäftigt, ist schon einmal eine Voraussetzung für Empathie. Ich habe angedeutet, dass zu der für Empathie charakteristischen imaginierenden Tätigkeit dazugehört, sich die Sicht des anderen auf die Dinge anzueignen, sich also in der eigenen Vorstellung das Denken, die Überzeugungen, Wünsche und dergleichen vor Augen zu führen, als täte man es selbst. Um das tun zu können, muss man freilich wissen oder zumindest die eine oder andere Überzeugung hegen, wie die Gedanken, Überzeugungen und Wünsche des anderen lauten.16 Je weniger handfest das Wissen ist, das ich über die andere Person besitze, desto schwerer wird es mir fallen, mir Dinge aus ihrer Sicht vorzustellen; daher werden die meisten von uns auch Schwierigkeiten damit haben, sich die Welt aus der Sicht etwa eines Hannibal Lecter vorzustellen,

16 Laut Wollheim ist also eine der Einschränkungen für jemanden, den ich mir zentral vorstellen kann: Es muss »jemand sein, für den ich ein Substanzrepertoire oder die Fähigkeit, ein solches zu bilden, habe« (R. Wollheim: The Thread of Life, S. 74). Das »Repertoire«, über das man für eine Person verfügt, für die man Empathie empfindet, besteht aus den eigenen Überzeugungen von deren Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und so weiter.

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während ein Sachverhalt dann besonders einfach vorstellbar ist, wenn der Protagonist einfach eine Fantasieversion von einem selbst darstellt. Des Weiteren dienen die eigenen Überzeugungen zu einer anderen Person auch als Einschränkungen der imaginierenden Tätigkeit, die der Empathie für diese Person zugrunde liegt. Nehmen wir nur die Szenen in DON’T LOOK NOW, in denen John Baxter immer wieder die kleine Gestalt mit rotem Regenmantel und Kapuze erblickt. Wenn ich mir die dargestellten Ereignisse aus Johns Sicht vorstelle, kann ich die kleine Gestalt nicht »neutral« sehen; aufgrund meines Wissensstandes über John kann ich gar nicht anders, als die Gestalt so zu sehen wie er: als unglückliches Kind, als Erinnerung (und vielleicht sogar mehr als das) an seine Tochter. Die Richtungen, in die die Vorstellungen (in diesem Sinne) einer Person und somit auch ihre Empathie gehen können, sind dadurch gebunden, was die Person über die Protagonistin ihres Vorstellungsprojekts weiß oder annimmt. Nachdem wir nun die Rolle erkannt haben, die das eigene Wissen und die eigenen Überzeugungen über die andere Person für die Empathie spielen, können wir uns ansehen, auf welche Arten ein Versuch der Empathie für diese andere Person scheitern kann. Zunächst kann es sein, dass mein Wissen über sie so dünn ist, dass das Vorstellungsprojekt, das ich zuvor als wesentlich für die Empathie identifiziert habe, nicht so richtig in Gang kommt; wenn ich gar nichts über ihre psychische Verfassung weiß, kann ich sie mir nicht vor Augen führen, als wäre sie meine eigene, und kann daher unmöglich Empathie aufbringen. Alternativ dazu gelingt mir Empathie auch dann nicht, wenn meine Überzeugungen in Bezug auf die andere Person weitgehend unzutreffend sind. In diesem Falle handelt es sich bei manchen der Überzeugungen, Wünsche und so weiter, die ich mir vor Augen führe, als wären es meine eigenen, gar nicht wirklich um ihre Überzeugungen und Wünsche, sodass es mir nicht gelingt, die Dinge so zu sehen wie sie, geschweige denn – und höchstens zufällig17 – so zu empfinden wie sie. Je mehr meine Überzeugungen in Bezug auf die andere Person zutreffen, desto wahrscheinlicher werde ich erfolgreich Empathie für sie empfinden. Auch kann es sein, dass ich zur Empathie für die andere Person nicht in der Lage bin, wenn ich zwar alle korrekten Überzeugungen hinsichtlich ihrer geistigen Verfassung erlangt habe, es aber aus irgendeinem Grund nicht schaffe, sie mir vor Augen zu führen, als wären es meine eigenen. Um mir einen Sachverhalt aus der Sicht von jemand anderem vorstellen zu können, muss dieser andere bis zu einem gewis-

17 Hierbei denke ich an Fälle analog zu den Beispielen für tatsächliche, gerechtfertigte Überzeugungen, bei denen es sich dennoch nicht um Wissen handelt. Siehe Gettier, Edmund L.: »Is Justified True Belief Knowledge?«, in: Analysis 23/6 (1965): S. 121123.

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sen Grad so sein wie ich; und in manchen Fällen können seine Überzeugungen, Wünsche und dergleichen mir derart fremd sein, dass ich es nicht schaffe, sie mir vor Augen zu führen, als ob es meine eigenen wären. Wie wir sehen, ist Empathie im Wesentlichen eine imaginierende Tätigkeit, somit kann die Unfähigkeit, Empathie für jemand anderen aufzubringen, im Wesentlichen einem (mehr oder weniger verständlichen) Scheitern der Vorstellungskraft entsprechen. Die Rolle des Wissens und der Überzeugungen im Zusammenhang mit der Empathie für andere erklärt auch zu einem guten Teil die allgemeine Tendenz, filmische Fiktion als Medium zu betrachten, das stärker als literarische Fiktion empathische Reaktionen hervorruft oder sogar einfordert. Wie schon erwähnt haben fast alle Menschen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe, bei der Beschreibung ihrer Reaktionen auf Filme in irgendeiner Form Identifikation bzw. Empathie angeführt; spricht man über literarische Fiktion, begegnet man diesem Phänomen weit seltener. Diese Tendenz spiegelt sich schließlich auch in theoretischen Texten über unsere Auseinandersetzung mit Fiktion wider: Die Behandlung von Figuren- und Zuschaueridentifikation ist in Texten über das Medium Film wesentlich häufiger anzutreffen als in Texten über literarische Fiktion. Warum wird Empathie für unser Erleben von filmischer Fiktion als so viel wichtiger erachtet als für unser Erleben von literarischer Fiktion? Ich denke, die Antwort liegt teilweise darin, dass wir in der Belletristik sehr oft in allen Einzelheiten über die Situation einer Figur informiert werden und genauestens mitgeteilt bekommen, wie ihre Gedanken, Wünsche und dergleichen lauten. Das kann bedeuten, dass der Versuch, Empathie für fiktionale Figuren der Literatur aufzubringen, durchaus hohe Erfolgschancen hat; wie wir gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir erfolgreich Empathie für jemand anderen empfinden, umso höher, je umfassender unsere Kenntnis seiner psychischen Verfassung und Situation ist. Das Detailwissen, das uns über die psychische Verfassung fiktionaler Figuren aus der Literatur so oft zur Verfügung steht, kann jedoch auch ein Hindernis für unsere Empathie darstellen. Es kann sein, dass wir so viel über diese Figuren erfahren haben, dass wir gar keine Empathie mehr für sie brauchen, um sie zu verstehen. Unser Motiv dafür, Empathie für andere aufzubringen, ist meiner Meinung nach (möglicherweise unbewusst) unser Wunsch, zu verstehen, wie es sich mit ihnen verhält. Wenn wir genügend Informationen darüber besitzen, bedürfen wir zur Erreichung dieses Ziels keiner Empathie für die andere Person mehr. Natürlich heißt das nicht, dass wir niemals Empathie für fiktionale Figuren aus der Literatur empfinden können oder müssen. Aber die oben stehenden Erwägungen legen doch nahe, dass, wenn wir das tun, unsere Empathie durchaus einen anderen Charakter haben kann als unsere Empathie für reale Personen. Der

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Unterschied, der mir dabei vorschwebt, ist nicht der von Feagin herausgearbeitete Unterschied, also der Unterschied zwischen Empathie auf Basis von Überzeugungen und Empathie auf Basis der Vorstellungskraft. Der Unterschied, den ich meine, ist vielmehr, dass unserer Empathie für echte Menschen, selbst Menschen, die uns sehr nahe stehen, selten eine so detaillierte Kenntnis ihres psychischen Zustands und ihrer Situationen zugrunde liegt, wie sie uns bei fiktionalen Figuren aus der Literatur zur Verfügung steht. Empathie für reale Personen ist daher tendenziell eine prekäre Angelegenheit oder fühlt sich zumindest so an. Sie kann jedoch unsere einzig verfügbare Möglichkeit sein, einen Mitmenschen zu verstehen. Das Gleiche gilt in Bezug auf die Figuren filmischer Fiktion. Meistens wissen wir über diese Figuren wesentlich weniger als über fiktionale Figuren aus der Literatur; Empathie für sie ist daher tendenziell viel prekärer als Empathie für literarische Figuren. Ebenso wie bei echten Menschen kann das Aufbringen von Empathie für eine fiktionale Figur aus einem Film unsere einzige Möglichkeit sein, diese zu verstehen. Wenn wir uns also mit den fiktionalen filmischen Figuren auseinandersetzen, sind wir viel näher an der Position, in der wir uns befinden, wenn wir uns mit realen Personen beschäftigen, als wenn wir etwas über fiktionale literarische Figuren lesen. Selbstverständlich gibt es die offensichtliche Tatsache, dass in den erstgenannten Fällen unser Seh- und Hörvermögen eine entscheidende Rolle für unsere Auseinandersetzung spielt. Dazu kommt jedoch, dass in den erstgenannten Fällen Empathie für unser Verstehen entscheidend sein kann, was im letzteren Fall häufig nicht zutrifft. Und das verleiht meiner Ansicht nach der filmischen Fiktion teilweise ihren Wert: Sie übt uns in einer Art der Auseinandersetzung und Reaktion, die häufig für unseren Versuch, uns mit unseren Mitmenschen auseinanderzusetzen und sie zu verstehen, eine große Rolle spielt.

7 All das setzt voraus, dass unsere empathische Reaktion auf fiktionale Figuren überhaupt möglich ist. Es ließe sich auch argumentieren, dass nach der Definition von Empathie, die ich hier umrissen habe, jede Behauptung, bestimmte unserer affektiven oder emotionalen Antworten auf fiktionale Figuren könnten empathische Reaktionen sein, hochproblematisch ist. Das Problem, dem wir uns mit dieser Behauptung aussetzen, scheint sich sogar mit genau jenem Problem zu decken, das, wie zuvor erwähnt, Feagin beschäftigt. Denn ich habe ja argumentiert, dass Empathie sich zwar nicht einzig aufgrund von Überzeugungen und Urteilen deuten lässt, die imaginierende Tätigkeit, die empathischen Reaktionen

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vor allem zugrunde liegt, jedoch sowohl die eigene Kenntnis der psychischen Verfassung des anderen als auch Überzeugungen darüber einerseits voraussetzt und andererseits eben durch diese beschränkt ist. Wie Feagin aber bemerkt, existieren weder fiktionale Figuren noch ihre psychische Verfassung. Und wenn fiktionale Figuren keine psychische Verfassung haben, wie können wir dann Überzeugungen über ihre Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste hegen? Wenn also fiktionale Figuren keine Gefühle haben, welchen Sinn hat dann die Behauptung, dass manche unserer affektiven Reaktionen auf fiktionale Figuren letztlich beinhalten, dass wir ihre Gefühle teilen? Wie wir zuvor schon gesehen haben, versucht Feagin diesen Schwierigkeiten zu begegnen, indem sie die Vorstellungskraft heraufbeschwört: Während Empathie für echte Menschen das Bilden von Überzeugungen zweiter Ordnung über deren Überzeugungen beinhaltet, meint sie, dass wir uns, wenn wir Empathie für fiktionale Figuren empfinden, vielmehr vorstellen, wie deren Überzeugungen, Wünsche und so weiter aussehen könnten (494). Dabei ist jedoch klar, dass das Konzept der Vorstellungskraft, das Feagin hier vorschwebt, nicht dem Konzept entspricht, das ich weiter oben skizziert habe. Denn ich habe argumentiert, dass die für Empathie charakteristische imaginierende Tätigkeit Überzeugungen beinhaltet, während für Feagin der Sinn und Zweck ihrer Berufung auf die Vorstellungskraft darin besteht, eine Alternative zu Überzeugungen aufzuzeigen. Wenn Feagin Recht hat, unterscheidet sich die Empathie für eine fiktionale Figur sehr stark von der Empathie für eine reale Person, sowohl nach ihren eigenen Begriffen als auch gemäß meiner Beschreibung. Viel wichtiger ist jedoch, dass keineswegs feststeht, dass es sich bei Feagins Beschreibung von Empathie gegenüber einer fiktionalen Figur überhaupt um eine Beschreibung von Empathie handelt. Wie wir gesehen haben, kann der Versuch der Empathie für jemand anderen scheitern. Und ich habe weiter oben argumentiert, dass ein Scheitern des Versuchs, Empathie aufzubringen, sich unter Bezugnahme auf die Kenntnis oder Überzeugungen des Imaginierenden über die psychische Verfassung der Person erklären lässt, für die er Empathie aufzubringen versucht, aus deren Sicht er also versucht, sich etwas vorzustellen. Nach Feagins Ansicht haben wir jedoch keine Kenntnis und keine Überzeugungen über die psychische Verfassung einer fiktionalen Figur, weil fiktionale Figuren – und ihre jeweiligen psychischen Verfassungen – nicht wirklich existieren. Es stellt sich also die Frage, was die imaginierende Tätigkeit einschränkt oder bindet, die nach Feagins Beschreibung Empathie mit einer fiktionalen Figur darstellt, wenn diese Tätigkeit nicht durch Überzeugungen begrenzt wird? Feagin schweigt hierzu, und doch bedarf es einer Antwort auf diese Frage. Wenn nämlich das für Empathie gegenüber einer fiktionalen Figur charakteristische Vorstellungsprojekt uneingeschränkt erfolgt, gibt

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es nichts mehr, durch das sich der Erfolg eines solchen Projekts bestimmen ließe; es gibt also keine Möglichkeit zu entscheiden, ob Empathie aufgebracht wurde oder nicht. Da Empathie auf einer Art imaginierender Tätigkeit beruht, die scheitern kann, kann uneingeschränkte imaginierende Tätigkeit keine Empathie darstellen. Wenn wir Empathie mit fiktionalen Figuren anhand der Vorstellungskraft erklären sollen, brauchen wir irgendeine Erklärung dessen, was die Vorstellungskraft in diesem Zusammenhang einschränkt oder bindet. Tatsächlich liefert meiner Ansicht nach hier eine erfolgreiche Darstellung der Sprache der Fiktion die benötigte Erklärung. Ein Hauptkriterium für die Adäquatheit jedweder solchen Darstellung ist, dass sie in der Lage sein muss, zu erläutern, in welcher Hinsicht es stimmt oder zumindest »stimmt«, dass (beispielsweise) die Baxters in DON’T LOOK NOW eine ziemlich furchtbare Zeit hinter sich haben, und in weiterer Folge zu erklären, inwiefern wir überzeugt sein können, dass sie eine furchtbare Zeit hinter sich haben. Nach Kendall Walton lässt sich zum Beispiel argumentieren, dass die Existenz der Baxters eine Fiktion oder Illusion ist und dass innerhalb dieser Fiktion oder Illusion zutrifft, dass sie gewisse Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, Gefühle und ähnliches hegen; in diesem Fall können wir Überzeugung darüber erlangen, was innerhalb der Fiktion oder Illusion auf die Baxters und ihre psychische Verfassung zutrifft.18 Ich werde den Versuch unterlassen, über die komplexe Vielfalt verschiedener bisher aufgebotener Darstellungen der Sprache und Logik der Fiktion zu urteilen; aber irgendwo in diesem Bereich muss meiner Meinung nach die Wahrheit liegen. Und unsere Überzeugungen davon, was innerhalb einer Fiktion oder Illusion zutrifft, kann demnach die Art des Vorstellungsprojekts, die meiner Argumentation zufolge für Empathie gegenüber anderen charakteristisch ist, begründen und einschränken. Das heißt, Überzeugungen dieser Art können begründen und einschränken, wie wir uns eine Situation oder einen Sachverhalt aus der Sicht einer fiktionalen Figur vorstellen.19 Eine weitere Schwierigkeit, von der man meinen könnte, dass sie im Hinblick auf die Möglichkeit unserer empathischen Reaktion auf Fiktion entsteht, hat Richard Wollheim ins Spiel gebracht. Wie wir bereits erfahren haben, deutet Wollheim an, dass jedwede Darstellung unserer affektiven Reaktionen auf Fikti-

18 Siehe Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe, Cambridge: Harvard University Press 1990. 19 Weitere Gedanken zu diesem und ähnlichen Problemen im Zusammenhang mit Emotionen, Überzeugungen und Fiktion finden sich auch in meinem Aufsatz »Fiction and the Emotions«, in: American Philosophical Quarterly 30 (Januar 1993): S. 1-13.

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on, die empathische Reaktionen in den Vordergrund stellt, in dieser Hinsicht falsch liegen muss. Denn, so Wollheim, »der empathische Zuschauer wählt aus, wessen Handlungen und innere Verfassung er ins Zentrum seiner Imagination stellt. Wenn er sich König Lear ansieht, schreibt er [zum Beispiel] Shakespeares Text für sich so um, dass er aus Gloucesters Blickwinkel ausagiert werden kann.«20 Dabei wird impliziert, dass dieses »Umschreiben« eine unangemessene Art und Weise ist, sich mit dem Text auseinanderzusetzen, und daher, insoweit als Empathie so ein »Umschreiben« beinhaltet, auch eine unangemessene Art und Weise, auf die Figuren zu reagieren. Auf diese Behauptung ließe sich antworten, dass Wollheims Ausführungen mehr als nur einen Hauch von Ästhetizismus ausstrahlen; ein Theaterstück – oder ein Film – kann besser genießbar und lohnender sein, wenn es – oder er – auf genau diese Weise »umgeschrieben« wird; warum es also nicht »umschreiben«? Außerdem – und das ist noch viel wichtiger – muss das »Umschreiben« eines Werkes gar nicht notwendig sein, um auf eine oder mehrere seiner Figuren empathisch zu reagieren. Man muss zum Beispiel DON’T LOOK NOW beileibe nicht für sich »umschreiben«, um das Geschehen in der weiter oben beschriebenen Szene aus der Sicht von Eleanor und Theodora wahrzunehmen. Und Roegs Film wird nicht dadurch verzerrt, dass man seine Handlung aus Laura oder John Baxters Perspektive ansieht; im Gegenteil, laut meiner Argumentation müssen wir sogar Empathie für diese Figuren aufbringen und die Geschehnisse mit ihren Augen betrachten, wenn wir den Film verstehen wollen. Ebenso wenig muss man Shakespeares Text »umschreiben« oder verzerrt betrachten, um sich die Welt von König Lear durch Gloucesters Augen vorstellen zu können; möglicherweise würde ein Verzicht auf eine derartige Reaktion sogar nach sich ziehen, dass man eine der zentralen Erfahrungen, die das Stück zu bieten hat, verpasst. Es ließe sich glaubhaft argumentieren, dass eines der zahlreichen Kriterien für den Erfolg eines Autors oder einer Regisseurin darin besteht, das Publikum seine oder ihre fiktionale Welt von vielen verschiedenen Perspektiven und Standpunkten ihrer Figuren aus verstehen zu lassen und somit viele verschiedene empathische Reaktionen auf seine oder ihre Arbeit zu ermöglichen.

8 Ich vertrete also die Meinung, dass wir für eine annähernd adäquate Darstellung von Empathie erkennen müssen, dass Empathie wesentlich eine imaginative Tä-

20 R. Wollheim: »Imagination and Identification«, S. 68.

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tigkeit ist und dass die für Empathie charakteristische imaginierende Tätigkeit Überzeugungen sowohl voraussetzt als auch einschränkt. Nicht nur beinhaltet Empathie für reale Personen sowohl Vorstellungen als auch Überzeugungen, sondern auch Empathie für fiktionale Figuren beinhaltet Überzeugungen ebenso wie Vorstellungen. Feagin unterläuft also eine Fehlinterpretation, wenn sie behauptet: »Anders als die Empathie im realen Leben ist die Kunstemotion der Empathie [also die Empathie für fiktionale Figuren] nicht von unseren Überzeugungen abhängig, was die Überzeugungen (Wünsche usw.) der Person, für die wir Empathie empfinden, beinhalten (und lässt sich auch nicht durch diese Überzeugungen erklären)« (496). Hier ist bei allem Respekt gegenüber Feagin zu betonen, dass die Empathie für eine fiktionale Figur sich nicht radikal von der Empathie für eine reale Person unterscheidet. Wenn man Empathie für eine andere Person empfindet, ob diese nun echt oder fiktional ist, stellt man sich die Situation, in der sie sich befindet, aus ihrer Sicht vor; man führt sich ihre Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und dergleichen so vor Augen, als wären es die eigenen. Und in beiden Fällen kann das dazu führen, dass man tatsächlich fühlt, was die andere Person, gleich ob sie real oder fiktional ist, in der eigenen Vorstellung fühlt. Die Vorstellungskraft nimmt hier eine zentrale Stellung ein, nicht weil das konkret nötig wäre, um manche unserer affektiven Reaktionen auf fiktionale Figuren zu erklären, sondern weil sie Empathie an sich konstituiert. Aber da wir nun Empathie für fiktionale Figuren aufbringen können – warum tun wir es? Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach mehr oder weniger die gleiche wie die Antwort auf die Frage, warum wir Empathie für reale Personen aufbringen – dass wir manchmal das eine tun, ist nicht mehr oder weniger rätselhaft, als dass wir manchmal das andere tun. Jedenfalls bin ich in beiden Fällen nicht ganz sicher, ob ich die Fragen angemessen beantworten kann. In den meisten Fällen, denke ich, ist damit die Fragestellung gemeint, warum wir uns füreinander und für Fiktion überhaupt interessieren; und darauf angemessen zu antworten, übersteigt meine Kompetenz. Eines können wir aber darüber sagen, warum wir manchmal empathisch aufeinander reagieren: Indem wir das tun, erfahren wir, wie es um die anderen steht, indem wir die Welt aus ihrer Sicht betrachten, so wie sie sie sehen, und indem wir fühlen, wie sie sich fühlen. Kurz, wir verstehen sie dadurch besser, um in weiterer Folge bessere Chancen zu haben, zu verstehen, warum sie auf diese oder jene Art reagiert oder sich verhalten haben, und vorhersagen zu können, wie sie in der Zukunft reagieren bzw. sich verhalten werden.21 Und Empathie, soweit sie zu unserem Verständnis anderer beiträgt, ist von großem praktischen Wert für uns. Wenn man nun davon aus-

21 Siehe auch hierzu A. Goldman: »Empathy, Mind, and Morals«.

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geht, dass wir bei der Beschäftigung mit Fiktion die Figuren und Geschehnisse darin verstehen möchten und dass Empathie für andere (gleich ob fiktional oder real) zu diesem Verständnis beiträgt, überrascht es kaum, dass unsere Reaktion auf fiktionale Werke manchmal mit einer empathischen Reaktion auf deren Figuren einhergeht. Der Wert der Empathie liegt aber nicht nur darin, was sie zu unserem Verständnis anderer und ihrer Erlebniswelt beitragen kann. Empathie für andere eröffnet uns auch Möglichkeiten im Zusammenhang mit unserer eigenen Gefühlsbildung und Entwicklung. Wenn wir es schaffen, Dinge so zu sehen, wie andere sie sehen, und zu fühlen wie sie, verschafft uns das eine offenere Sicht auf die Welt, ein höheres Bewusstsein und besseres Verständnis der möglichen Arten, auf die Welt zu reagieren. Kurz, durch empathisches Reagieren auf andere sehen wir unsere Welt und unsere Möglichkeiten in einem neuen Licht. Das ist wertvoll. Und, wie zuvor angedeutet, liegt der Wert der Fiktion – der filmischen Fiktion im Besonderen – zum Teil darin, dass sie uns diese Öffnung des Blicks ermöglicht, indem sie uns zu empathischen Reaktionen ermutigt und diese manchmal sogar einfordert. Was bedeutet das nun für die Rolle der Identifikation in unserer Auseinandersetzung mit Fiktion? Weiter oben habe ich angemerkt, dass in manchen psychoanalytisch inspirierten Darstellungen die Identifikation als pathologischer Vorgang interpretiert wird, der symptomatisch für die eine oder andere Form der Angst und des Selbstbetrugs ist. Wenn nun empathische Reaktionen auf Identifikation beruhen, wie der allgemeine Sprachgebrauch das andeutet, dann müssen aufgrund dieser Darstellungen empathische Reaktionen selbst als pathologisch und in Angst und Selbstbetrug verwurzelt erachtet werden. Dem stimme ich nicht zu: Einer der Leitgedanken in diesem Aufsatz ist, dass unsere empathischen Reaktionen auf Fiktion für unser Verständnis von und Lernen aus fiktionalen Werken von unschätzbarem Wert sein kann; es handelt sich keineswegs um Symptome des Selbstbetrugs, sondern solche Reaktionen können zum besseren Verständnis unserer selbst und anderer dienen. Wenn das zutrifft, führt der allgemeine Sprachgebrauch vielleicht in die Irre: Vielleicht sind empathische Reaktionen auf andere eben gerade nicht von der Identifikation mit diesen abhängig. Umgekehrt basieren empathische Reaktionen womöglich tatsächlich auf Identifikation, und Identifikation ist nicht der pathologische Vorgang, den manche Theorien darin zu erkennen glauben. Diesen Konflikt lösen zu wollen, lohnt sich meiner Meinung nach nicht. Der Begriff »Identifikation« kann so viele unterschiedliche Arten von Vorgängen bezeichnen, dass er schlichtweg für die meisten Versuche, unsere emotionale Auseinandersetzung mit Fiktion zu beschreiben, nicht besonders zweckdienlich ist. D. W. Harding schreibt: »Mit dem Be-

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griff ›Identifikation‹ opfern wir kaum mehr als eine trügerische Formalität.«22 Ich schlage vor, dass wir den so oft in Diskussionen über dieses Thema verwendeten Ansatz auf den Kopf stellen: Statt von einer psychoanalytisch angeregten Darstellung von Identifikation auszugehen und dann deren Implikationen für unser Erleben von Fiktion zu betrachten, sollten wir mit unserem Erleben der Fiktion beginnen. Dabei werden wir meiner Ansicht nach feststellen, dass wir eine große Vielfalt an beschreibenden und erklärenden Ressourcen benötigen und entwickeln werden, die feinkörniger sind als der Begriff der Identifikation. Und eine solche Ressource, würde ich vorschlagen, ist die Empathie. Dank an David Bordwell, Curtis Brown, Noel Carroll und Marianne Neill für ihre nützlichen Vorschläge.

Aus dem Englischen von Martin Thomas Pesl. Übersetzung von Neill, Alex: »Empathy and (Film) Fiction«, in: David Bordwell/Noël Carroll (Hg.), Post-Theory. Reconstructive Film Studies, Madison, WI: University of Wisconsin Press 1996, S. 175-194.

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22 Harding, David W.: »Psychological Processes in the Reading of Fiction«, in: Harold Osborne (Hg.), Aesthetics in the Modern World, New York: Weybright & Talley 1968, S. 309. Siehe auch N. Carroll: The Philosophy of Horror, S. 88-96.

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Filmische Quellen empathischen Wissens L ISA K ATHARIN S CHMALZRIED

In dem Film A BEAUTIFUL MIND (US 2001, Ron Howard) spricht Alicia, die Ehefrau John Nashs, mit dem Psychiater Dr. Ross, kurz nachdem sie, und mit ihr auch der Zuschauer erfahren hat, dass John Nash schizophren ist. In diesem Gespräch sagt Ross mit Blick auf den ans Bett gefesselten John Nash: Das ist der Albtraum bei der Schizophrenie. Nicht zu wissen, was wahr ist. Stellen Sie sich vor, Sie würden plötzlich erfahren, dass die Menschen und die Orte und die Momente, die Ihnen am wichtigsten sind, nicht nur weg, nicht tot wären, sondern noch viel schlimmer: nie existiert hätten. Was für eine Hölle wäre das?

Der Zuschauer – indirekt hier angesprochen – kann zumindest ansatzweise wissen, was es für eine Hölle wäre, nicht zu wissen, was wahr ist, auch wenn er selbst psychisch gesund ist. Der Film A BEAUTIFUL MIND hat ihm dieses Wissen vermittelt, indem er den Zuschauer die Welt aus Sicht John Nashs hat erleben lassen, ohne zu Beginn des Filmes Hinweise auf dessen Schizophrenie zu geben. Und daher muss der Zuschauer selbst erst verkraften, dass Nashs sympathischer bester Freund Charles, dessen süße Nichte Marcee und auch der unheimliche Agent Parcher nicht existieren. Es scheint als könne A BEAUTIFUL MIND empathisches Wissen vermitteln, d.i. das Wissen, wie es in emotionaler Hinsicht für eine andere Person ist, eine Situation zu erleben. Doch kann ein Film wirklich eine Quelle für solch empathisches Wissen sein und welche Voraussetzungen müssen hierfür erfüllt sein? Dies ist die zentrale Frage dieses Aufsatzes. Diese Fragestellung knüpft an die Debatte um den ästhetischen Kognitivismus an. Berys Gaut folgend kann man den ästhetischen Kognitivismus in zwei

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Thesen untergliedern, in die ästhetische und die epistemische These.1 Laut der ästhetischen These wirkt es sich positiv auf die Bewertung eines Werkes als Kunst aus, wenn das betreffende Werk kognitiv wertvoll ist, d.h. wenn es Wissen vermitteln kann. Die ästhetische These baut auf der epistemischen These auf. Laut dieser können Kunstwerke die Voraussetzungen erfüllen, Wissen zu vermitteln. Zunächst differenziert weder die ästhetische noch die epistemische These zwischen unterschiedlichen Kunstformen, Wissensformen oder Wissensbereichen. Gerade für die Frage, ob man die epistemische These verteidigen sollte, kann es aber unter Umständen einen Unterschied machen, ob man sich auf abstrakte, darstellende oder erzählende Werke, auf fiktionale oder nicht-fiktionale Werke oder auf Werke der Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur oder des Films konzentriert. Es könnte auch einen Unterschied machen, ob man über propositionales Wissen (»Know-That«), praktisches Wissen (»Know-How«) oder phänomenologisch-affektives Wissen (»Know-How-It-Is-Like«) nachdenkt, ebenso wie es einen Unterschied machen könnte, ob man vom moralischen, politischen oder psychologischem Wissen spricht, um einige Beispiele zu nennen.2 Dieser Artikel beschäftigt sich mit einem Teilaspekt der epistemischen These, der epistemischen These des empathischen Wissens, und untersucht diese in Bezug auf fiktionale Filme. Es soll untersucht werden, ob ein fiktionaler Film die Voraussetzungen erfüllen kann, empathisches Wissen zu vermitteln. Gleich zu Beginn sollten mögliche Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden. Die epistemische These behauptet nicht, alle Kunstwerke könnten Wissen im gleichen Ausmaß vermittelten. Die epistemische These des empathischen Wissens erlaubt demnach, dass manche Filme gar kein empathisches Wissen und manche mehr empathisches Wissen als andere vermitteln können. Zweitens sollte man die eher triviale von der nicht-trivialen epistemischen These unterscheiden. Es erscheint unstrittig, dass man durch ein Kunstwerk Wissen über dieses Kunstwerk und dessen fiktionale Welt, sowie über Kunst im Allgemeinen erwerben kann. Weniger offensichtlich und umso interessanter ist, ob Kunstwerke, gerade wenn man an fiktionale Werke denkt, Wissen vermitteln können, das hierüber hinausgeht, d.i. Wissen über die reale Welt.3 Entsprechend untersucht

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Siehe Gaut, Berys: »Art and Knowledge«, in: Jerrold Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford/New York: Oxford University Press 2003, S. 436450, hier S. 436; Gaut, Berys: Art, Emotion and Ethics, Oxford/New York: Oxford University Press 2007, S. 137.

2 3

Siehe auch B. Gaut: Art and Knowledge, S. 437-439. Siehe Novitz, David: Knowledge, Fiction and Imagination, Philadelphia: Temple University Press 1987, S. 118.

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dieser Artikel, ob Filme empathisches Wissen über reale Personen und Situationen vermitteln können. Und drittens sollte man die epistemische These nicht als empirische Aussage interpretieren. Die Behauptung ist nicht, dass Kunstwerke de facto Wissen vermitteln, sondern dass sie unter Umständen die Voraussetzungen erfüllen, um Wissen vermitteln zu können. Auch wenn ein Kunstwerk diese Voraussetzungen erfüllt, kann es passieren, dass sein Publikum nichts von ihm lernt, beispielsweise wenn es das Werk fehlinterpretiert, sich nicht auf das Werk einlässt oder aber bereits über das entsprechende Wissen verfügt. Das empathische Wissens eines Filmpublikums bevor und nachdem es einen Film gesehen hat zu vergleichen, ist demnach nicht der geeignete Weg um die epistemische These des empathischen Wissens zu be- bzw. zu widerlegen. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die epistemische These des empathischen Wissen zu verteidigen: Mancher fiktionale Film erfüllt die Voraussetzungen, psychologisch verlässliches empathisches Wissen zu vermitteln, da er eine emotionale Identifikation mit seinen Filmfiguren anregt, anleitet und erleichtert. 4 Um dieses argumentative Ziel zu erreichen, untergliedert sich dieser Aufsatz in fünf Abschnitte. Zunächst wird dargestellt, mit welchem Verständnis von Empathie und von empathischem Wissen dieser Artikel arbeitet und weshalb empathisches Wissen zu besitzen wünschenswert ist. Der zweite Abschnitt zeigt, dass eine emotionale Identifikation mit fiktionalen Filmfiguren möglich ist und wir somit empathisches Wissen über sie besitzen können. In einem dritten Schritt wird argumentiert, dass Filme die Voraussetzungen dafür erfüllen können, empathisches Wissen über ihre Filmfiguren zu vermitteln. Der vierte Abschnitt zeigt auf, dass dieses Wissen auf reale Personen und Situationen übertragbar, d.h. psychologisch verlässlich sein kann. Der fünfte Abschnitt wirft abschließend einen Blick auf das Filmpublikum und argumentiert, dass dieses nicht nur – wie Carroll behauptet – ein sympathisierendes, sondern durchaus auch ein empathisierendes Publikum sein kann. Ein empathisierendes Publikum identifiziert sich emotional mit Filmfiguren und ihm kann somit ein Film empathisches Wissen vermitteln. Es wird außerdem argumentiert, dass eine empathisierende Filmbetrachtungsweise relevant für die Filmkritik sein kann.

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In diesem Artikel verteidige ich explizit nur die epistemische These des empathischen Wissens. Dies erlaubt keine Rückschlüsse darauf, ob sich nur diese Teilthese der epistemischen These oder auch die epistemische These in ihrer allgemeinsten Form verteidigen lässt.

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E MPATHISCHES W ISSEN In der philosophischen und psychologischen Literatur findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen von Empathie. Teilweise unterscheiden diese sich nur marginal, teilweise fundamental. 5 So besteht beispielsweise Uneinigkeit darüber, ob man mit anderen Personen nur hinsichtlich ihrer Emotionen oder auch hinsichtlich ihrer Wünsche, Gedanken, Vorstellungen und Überzeugungen empathisieren kann. Oder es wird zum Beispiel diskutiert, ob es bei Empathie darum geht, dass man die Emotionen, Wünschen und Kognitionen versteht, oder auch darum, dass man diese teilt. M.E. ist es schwierig, angesichts der Vielzahl unterschiedlicher, teilweise so verschiedener Verständnisse von Empathie darüber zu entscheiden, welches Verständnis das »richtige« ist. Für die meisten Definitionsvorschläge gibt es gute Gründe (philosophiegeschichtliche, alltagssprachliche etc.), warum man Empathie so definieren sollte bzw. kann, aber auch Gründe, die dagegen sprechen. Bei einer Definition von Empathie geht es m.E. weniger um eine Begriffsanalyse, als um eine begriffliche Festsetzung. Um Verwechslungen unterschiedlicher Definitionen zu vermeiden, sollte man klar darlegen, was man unter Empathie verstehen möchte. Der etymologischen Bedeutung von Empathie als Einfühlungsvermögen folgend, sei im Folgenden unter Empathie die Fähigkeit verstanden, den emotionalen Zustand einer anderen Person verstehen zu können und diesen emotionalen Zustand selbst nachzuempfinden, eben weil die andere Person sich in diesem Zustand befindet.6 Anlehnend an dieses Verständnis von Empathie besitzt man empathisches Wissen, wenn man weiß, wie es in emotionaler Hinsicht für eine andere Person ist, eine bestimmte Situation zu erleben.7 Genauer definiert besitzt Person x empathisches Wissen über Person y in Bezug auf Situation s genau dann, wenn (1) x weiß, in welchem emotionalen Zustand y sich in s befindet und

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Für einen Überblick siehe z.B. Carroll, Noël: »On Some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 162-184, hier S. 162-164; Coplan, Amy: »Understanding Empathy: Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 3-18, hier S. 4.

6

Ich greife hier auf eine Definition von Nancy E. Snow zurück: »Empathy«, in: American Philosophical Quarterly 37/1 (2000), S. 65-78, hier S. 68.

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Die genaue Verbindung zwischen Empathie und empathischen Wissen wird im Folgenden ausgearbeitet.

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(2) x weiß, wie es ist, sich in diesem bzw. einem ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand zu befinden. Bedingung (1) kann man als kognitive, Bedingung (2) als affektive Bedingung bezeichnen. Um empathisches Wissen zu besitzen muss man somit erstens den emotionalen Zustand einer anderen Person verstehen. Man muss verstehen, wie eine andere Person emotional auf eine bzw. in einer Situation reagiert, d.h. welche Emotionen sie in dieser Situation hat, worauf ihre Emotionen gerichtet sind und welche Überzeugungen, Vorstellungen, Wünsche und Handlungsimpulse mit ihren Emotionen einhergehen. So muss man beispielsweise verstehen, dass jemand in einer Situation Angst vor einem Hund hat, weil er glaubt, dieser Hund sei gefährlich, und deswegen wünscht zu fliehen. Um empathisches Wissen zu besitzen, muss man darüber hinaus wissen, wie es ist, sich in diesem bzw. einem ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand zu befinden. Dies kann man nur wissen, wenn man sich selbst schon einmal in diesem bzw. einem ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand befunden hat und sich an dieses Erleben erinnern kann. Die emotionalen Zustände zweier Personen ähneln sich ausreichend, wenn die betreffenden Personen dem Typus nach die gleichen Emotionen empfinden, diese auf die gleichen bzw. vergleichbare Objekte gerichtet sind und zumindest ansatzweise mit gleichen bzw. vergleichbaren Überzeugungen, Vorstellungen, Wünschen und Handlungsimpulsen einhergehen. Damit sich zwei emotionale Zustände ausreichend ähneln, müssen die Emotionen nicht in genau der gleichen Intensität empfunden werden.8 Empathisches Wissen kann mehr oder weniger akkurat sein. Wie akkurat das empathische Wissen von x ist, ist abhängig davon, wie gut und wie vollständig x den emotionalen Zustand von y verstanden hat und wie ähnlich sich die emotionalen Zustände von x und y sind.9 Wie kann man empathisches Wissen gewinnen? Man könnte annehmen, dass x empathisches Wissen besitzt, wenn x selbst schon einmal eine Situation wie s erlebt hat, sich an seinen emotionalen Zustand in dieser Situation erinnert und diesen reflektiert und verstanden hat. Man weiß, wie es ist, einen nahestehenden Menschen verloren zu haben oder glücklich verliebt zu sein, wenn man selbst schon einmal einen nahestehenden Menschen verloren hat oder aber glücklich verliebt war, so die Annahme. Wäre dies die einzige Möglichkeit empathisches Wissen zu erlangen, könnte man nur empathisches Wissen in Bezug auf Situationen besitzen, die man selbst erlebt hat, bzw. solche, die diesen ausreichend äh-

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Siehe z.B. Coplan, Amy: »Empathic Engagement with Narrative Fictions«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 62/2 (2004), S. 141-152, hier S. 144; A. Coplan: Understanding Empathy: Its Features and Effects, S. 6.

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Für einen ähnlichen Gedanken über Empathie siehe N. Snow: Empathy, S. 68-69.

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neln. Diese Begrenztheit kann man mit einem Verweis auf unsere Vorstellungskraft auflösen. Indem x sich eine Situation wie s vorstellt, kann x empathisches Wissen erlangen. X sollte sich diese Situation dabei nicht aus der Außenperspektive vorstellen, sondern aus der Innenperspektive. Stellt man sich eine Situation aus der Außenperspektive vor, stellt man sich vor, dass sich diese Situation ereignet. Stellt man sich eine Situation aus der Innenperspektive vor, stellt man sich vor, diese Situation selbst zu erleben.10 Gelingt es x, sich eine Situation s so vorzustellen, als ob er diese wirklich erleben würde, mag x emotional auf die vorgestellte Situation reagieren. Die Vorstellung der Situation s versetzt x in einen emotionalen Zustand. Reflektiert und versteht x diesen, mag x hierdurch das Wissen erlangen, wie es in emotionaler Hinsicht ist, eine Situation wie s zu erleben. Unabhängig davon, ob x eine Situation s erlebt hat oder sich dies nur vorstellt, kann x hierdurch zunächst nur das Wissen erlangen, wie es für x in emotionaler Hinsicht ist, eine Situation wie s zu erleben. Das zentrale Element empathischen Wissens liegt jedoch im Perspektivwechsel.11 Es geht darum zu wissen, wie es für y in emotionaler Hinsicht ist, eine Situation wie s zu erleben. Da unterschiedliche Personen eine Situation emotional verschieden erleben können, ist das Wissen, wie es für einen selbst in emotionaler Hinsicht ist, eine bestimmte Situation zu erleben, nicht zwingend auf das Erleben einer anderen Person übertragbar. Unterschiedlichste Faktoren beeinflussen wie eine Person emotional auf eine und in einer Situation reagiert. Ich nenne sie E-Faktoren. Zu diesen zählen u.a. Charaktereigenschaften und intellektuelle Fähigkeiten, die durch eine Situation angesprochen werden, Erfahrungen, Überzeugungen, Vorstellungen und Wünsche, die einen Bezug zu der betreffenden Situation haben, die Art, wie und welche Aspekte einer Situation wahrgenommen werden, die Stimmungslage, in der man sich befindet, und nicht zuletzt Faktoren der psychischen Gesundheit.12 Unterscheiden x und y sich hinsichtlich der E-Faktoren nicht gravierend, ist anzunehmen, dass sich x und y in einer Situation s in dem gleichen bzw. einem ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand befinden würden. Goldie spricht

10 Siehe Walton, Kendall: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1990, S. 28-38; Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 302-317, hier S. 306. 11 Siehe z.B. A. Coplan: Understanding Empathy: Its Features and Effects, S. 13-15. 12 P. Goldie kommt in »Anti-Empathy« auf ähnliche Faktoren zu sprechen.

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hier von basalen Fällen.13 In einem nicht-basalen Fall unterscheiden sich x und y entscheidend hinsichtlich der E-Faktoren, d.h. sie können eine Situation in emotionaler Hinsicht somit sehr unterschiedlich erleben. Nur in einem basalen Fall, den x als solchen erkennt, ist es für x legitim, empathisches Wissen über y in Bezug auf Situation s aus dem Wissen, wie es für x in emotionaler Hinsicht ist, eine Situation wie s zu erleben, zu erschließen.14 Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann x empathisches Wissen auch in nicht-basalen Fällen erlangen? Um empathisches Wissen auch in nicht-basalen Fällen zu erwerben, sollte man sich vorstellen, eine Situation so zu erleben, wie eine andere Person sie erleben würde. Anders ausgedrückt, sollte man sich mit der anderen Person identifizieren. Hierzu muss man sich keine vollständige Identität zwischen sich und der anderen Person vorstellen. Stellt x sich vor, er wäre y, ist dies ein anderes imaginatives Projekt als wenn x sich vorstellt, y wäre x.15 Um sich mit y zu identifizieren genügt es, wenn x sich vorzustellt, er sei y. Hierzu muss x sich vorstellen, alle Eigenschaften zu besitzen, die y besitzt. Doch dieses imaginative Vorhaben scheint uns in unseren imaginativen Fähigkeiten zu überfordern.16 Ist es wirklich möglich, sich vorzustellen, genauso auszusehen wie eine andere Person, genauso zu denken, zu fühlen oder wahrzunehmen wie sie, all ihre Charaktereigenschaften, geistigen Fähigkeiten, Erfahrungen, Erinnerungen, Überzeugungen zu besitzen? Gaut löst diese Schwierigkeit, indem er zwischen globaler und aspekt-bezogener Identifikation unterscheidet.17 Um verstehen und nachempfinden zu können, wie y Situation s emotional erlebt, muss x sich nicht vorstellen alle Eigenschaften mit y zu teilen. Es genügt, wenn sich x vorstellt mit y in den für die Situation s relevanten E-Faktoren übereinzustimmen. Es geht hier somit um eine emotionale Identifikation. Damit eine solche zu empathischem Wissen führt, sollte sie erfolgreich sein.18 Man sollte durch sie erstens verstehen, in welchem emotionalen Zustand sich das Identifikationsobjekt befindet, zweitens soll-

13 Siehe P. Goldie: Anti-Empathy, S. 307-308. 14 Siehe z.B. N. Snow: Empathy, S. 71. 15 Siehe Gaut, Berys: »Identification and Emotion in Narrative Film«, in: Noël Carroll/Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures. An Anthology, Malden, MA: Blackwell Pub. 2006, S. 260-270, hier S. 262. 16 Siehe ebd., S. 263. 17 Siehe ebd., S. 263-264. 18 Für einen ähnlichen Gedanken siehe Feagin, Susan: »Imagining Emotions and Appreciating Fiction«, in: Canadian Journal of Philosophy 18/3 (1988), S. 485-500, hier S. 489.

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te man diesen emotionalen Zustand selbst nachempfinden und drittens sollte das Identifikationsobjekt sich wirklich in diesem Zustand befinden. Doch kann eine emotionale Identifikation mit einer anderen Person wirklich dazu führen, dass man deren emotionalen Zustand teilt? Goldie bezweifelt dies.19 Um sich emotional mit y zu identifizieren, muss sich x bewusst und absichtlich vorstellen, die Situation s emotional so zu erleben wie y, d.h. x muss sich bewusst und absichtlich vorstellen, mit y in deren für die Situation s relevanten EFaktoren übereinzustimmen. Y ist sich jedoch unter Umständen nicht bewusst, dass diese E-Faktoren auf sie zutreffen. Insoweit unterscheidet sich der emotionale Zustand von y von dem von x. Daher kann eine emotionale Identifikation, wenn diese das Ziel verfolgt, den emotionalen Zustand von y zu reproduzieren, nicht erfolgreich sein. Empathisches Wissen setzt jedoch keine vollständige Übereinstimmung der emotionalen Zustände von x und y voraus, sondern lediglich eine ausreichende Ähnlichkeit. Der emotionale Zustand von x mag dem von y demnach ausreichend ähneln, wenn beide so ähnlich wie möglich sind. Verhindert das Bewusstsein, dass man sich etwas bewusst und willentlich vorgestellt hat, eine weiterreichende Übereinstimmung, kann man die entsprechenden emotionalen Zustände als ausreichend ähnlich bezeichnen. »Ausreichend ähnlich« impliziert »so ähnlich wie möglich«. Indem eine erfolgreiche emotionale Identifikation als Möglichkeit beschrieben wird, empathisches Wissen in nicht-basalen Fällen zu gewinnen, wird nachvollziehbar, weshalb ich empathisches Wissen als empathisches Wissen bezeichne. Indem man sich erfolgreich mit einer anderen Person emotional identifiziert, kann man deren emotionalen Zustand verstehen und diesen selbst nachempfinden. Empathie kann man demnach als die Fähigkeit bezeichnen, sich erfolgreich mit einer anderen Person emotional zu identifizieren.20 Soweit die Charakterisierung empathischen Wissens. Weshalb konzentriere ich mich auf diese Art von Wissen? Warum ist es wünschenswert, empathisches Wissen zu besitzen? Erstens kann empathisches Wissen zu einem vertieften Verständnis anderer Personen führen und dabei helfen deren Verhalten und Handeln in einer Situation besser erklären, verstehen und vorhersagen zu können. Der emotionale Zustand einer Person beeinflusst ihr Verhalten und ihr Handeln. Um ihr Verhalten und Handeln zu verstehen, sollte man daher ihren emotionalen Zustand kennen. Um den emotionalen Zustand einer Person vollständig zu erfassen, dessen gesamte Komplexität auf kognitiver, gefühlsmäßiger und motivationaler Ebene zu verstehen, sollte man aber auch nachvollziehen können, wie es ist, sich

19 Siehe P. Goldie: Anti-Empathy, S. 308-316. 20 Siehe z.B. B. Gaut: Identification and Emotion in Narrative Film, S. 264.

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in solch einem emotionalen Zustand zu befinden. Daher ist nicht nur die kognitive, sondern auch die affektive Komponente empathischen Wissens entscheidend. Zweitens kann empathisches Wissen zu moralisch wünschenswerten Handlungen führen.21 Verstehe ich beispielsweise, dass eine Person sich in einer Situation in einem sehr unangenehmen emotionalen Zustand befindet bzw. befinden würde oder entrüstet ist bzw. wäre, kann mich dies dazu motivieren, dass ich versuche, diese Situation zu verhindern bzw. zu verbessern.22 Drittens kann empathisches Wissen dabei helfen die Empathiefähigkeit zu schulen. Dieser Gedanke mag verwundern. Setzt empathisches Wissen nicht bereits eine gut geschulte Empathiefähigkeit voraus? Nicht zwingend. In einem basalen Fall kann es passieren, dass man empathisches Wissen erlangt, indem man selbst eine Situation erlebt hat bzw. sich vorstellt, diese zu erleben. Außerdem mag es in Bezug auf eine Person und eine bestimmte Situation gelungen sein, sich erfolgreich emotional zu identifizieren, auch wenn alles im allen betrachtet die eigene Empathiefähigkeit noch weiter geschult werden kann. Besitzt man nun empathisches Wissen über eine Person in Bezug auf eine Situation, kann man dieses Wissen aktivieren und/oder als Richtschnur nehmen, wenn man sich mit einer anderen, aber ausreichend ähnlichen Person in einer anderen, aber vergleichbaren Situation emotional identifizieren möchte.23 Es mag weitere Gründe geben, weshalb empathisches Wissen wichtig ist.24 Doch bereits diese drei Überlegungen sollten genügen, um zu zeigen, dass empathisches Wissen zu besitzen wünschenswert ist – und zwar empathisches Wissen über möglichst unterschiedliche Personen in Bezug auf möglichst unterschiedliche Situationen. Und dies motiviert die Frage, ob und inwieweit Filme solches Wissen vermitteln können?

21 Siehe hierzu im Detail Schmalzried, Lisa Katharin: Kunst, Fiktion und Moral, Münster: Mentis 2014, S. 133-143. 22 Hiermit ist nicht gesagt, dass empathisches Wissen immer zu moralisch wünschenswertem Verhalten führt, noch wird ausgeschlossen, dass es unter Umständen missbraucht werden kann. 23 Siehe auch L.K. Schmalzried: Kunst, Fiktion und Moral, S. 156. 24 Siehe z.B. Neill, Alex: »Empathy and (Film) Fiction«, in: Noël Carroll/Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures. An Anthology, Malden, MA: Blackwell Pub. 2006, S. 247-259, hier S. 250. Eine deutsche Übersetzung findet sich in diesem Band.

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E MPATHISCHES W ISSEN ÜBER F ILMFIGUREN Filme können nur dann empathisches Wissen vermitteln, wenn wir uns erfolgreich emotional mit Filmfiguren identifizieren und hierdurch empathisches Wissen über sie erlangen können. Doch ist dies möglich? Im ersten Moment mag diese Frage verwundern. Wir behaupten immer wieder, dass wir uns mit einer Filmfigur (emotional) identifizieren könnten bzw. identifiziert hätten.25 Warum sollte dies unmöglich sein? Das erste Problem ergibt sich aus der Fiktionalität vieler Filmfiguren und situationen. Fiktionale Filme handeln größtenteils von rein bzw. teils fiktionalen Figuren und zeigen rein bzw. teils fiktionale Situationen. Rein fiktionale Figuren und Situationen entspringen der Fantasie des Drehbuchautors, existieren bzw. ereignen sich somit nur in der fiktionalen Welt der jeweiligen Filme. Eine teils fiktionale Figur existiert, eine teils fiktionale Situation ereignet sich ebenfalls in der fiktionalen Welt der Werke, es gibt jedoch reale Personen bzw. Situationen, auf welche die teils fiktionale Figur bzw. Situationen Bezug nehmen. Doch auch wenn eine fiktionale Figur auf einer realen Person beruht, so besitzt sie in der fiktionalen Welt (meist) andere Eigenschaften, erlebt andere Dinge oder trifft andere Personen als die reale Person. Selbst wenn fiktionale Filme reale Begebenheiten und Situationen nacherzählen, weichen sie häufig von der Realität ab. Auch wenn beispielsweise der Film A BEAUTIFUL MIND die Lebensgeschichte des Nobelpreisträgers John Nash schildert, erzählt er diese nicht eins zu eins nach. Der Film-Nash bezieht sich zwar auf die reale Person John Nash, teilt viele Eigenschaften mit diesem und erlebt Ähnliches, aber es gibt keine hundertprozentige Übereinstimmung. Warum sollte die Fiktionalität der Filmfiguren und -situationen ein Problem darstellen? Damit eine emotionale Identifikation zu empathischen Wissen führt, muss sie erfolgreich sein. Wie bereits ausgeführt, muss man erstens den emotionalen Zustand der Identifikationsfigur verstehen, zweitens diesen bzw. einen ausreichend ähnlichen Zustand teilen und drittens muss sich die Identifikationsfigur tatsächlich in solch einem emotionalen Zustand befinden. Die Erfolgskriterien für eine emotionale Identifikation beinhalten somit den Bezug auf die Identifikationsfigur und deren emotionalen Zustand. Im Falle einer rein fiktionalen Figur existiert aber keine solche reale Identifikationsfigur und auch bei einer teils fiktionalen Figur wird der Vergleich schwierig, unterscheidet sich diese in ihren E-Faktoren von der realen Bezugsperson oder erlebt sie eine rein bzw. teils

25 Siehe z.B. B. Gaut: Identification and Emotion in Narrative Film, S. 260; A. Neill: Empathy and (Film) Fiction, S. 248.

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fiktionale Situation. Es fehlt somit die externe Vergleichsbasis. Ohne diese kann eine emotionale Identifikation aber nicht erfolgreich genannt werden.26 Erfinde ich eine Figur und eine Situation frei und stelle mir vor, wie diese Figur diese Situation in emotionaler Hinsicht erleben würde, ist es in der Tat schwierig, von einer erfolgreichen emotionalen Identifikation zu sprechen. Fiktionale Filmfiguren sollte man jedoch nicht mit rein privaten Fantasiefiguren verwechseln. Fiktionale Filmfiguren sind öffentliche Figuren. Sie sind Teil der fiktionalen Welt des jeweiligen Films. Filme erschaffen eine fiktionale Welt, indem sie explizit oder implizit zeigen, welche Sachverhalte in ihrer Filmwelt Geltung haben sollen, d.h. was in dieser Welt als wahr gelten soll. Teil der fiktionalen Wahrheiten kann sein, dass eine Figur eine bestimmte Situation erlebt und sich in dieser in einem bestimmten emotionalen Zustand befindet. Insoweit gibt es auch bei einer emotionalen Identifikation mit einer fiktionalen Filmfigur eine externe Vergleichsbasis.27 Hieraus folgt, dass man nur empathisches Wissen über Figuren in Bezug auf Situationen erlangen kann, die im Film gezeigt werden. Auch muss die Situation und der emotionale Zustand der Figur in dieser Situation so detailliert gezeigt werden, dass man eine Vergleichsbasis besitzt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann auch eine emotionale Identifikation mit einer fiktionalen Filmfigur im Hinblick auf alle drei Kriterien erfolgreich genannt werden. Sich erfolgreich mit einer Filmfigur emotional zu identifizieren bedeutet (in vielen Fällen), dass man Emotionen empfindet, die auf fiktionale Figuren bzw. Situationen gerichtet sind, von denen man weiß, dass sie nicht raum-zeitlich existieren bzw. sich nicht raum-zeitlich ereignen.28 Laut Walton sind solche

26 Siehe z.B. S. Feagin: Imagining Emotions and Appreciating Fiction, S. 493. 27 Siehe Harold, James: »Empathy with Fictions«, in: The British Journal of Aesthetics 40/3 (2000), S. 340-355, hier S. 347-348. 28 Hiermit sei nicht gesagt, dass alle fiktionalen Figuren und Situationen nicht existieren. Wie eben ausgeführt besitzen teils fiktionale Figuren und Situationen reale Bezugspersonen bzw. -situationen. In diesem Sinne mögen teils fiktionale Figuren und Situationen nicht nur in der fiktionalen Welt eines Werkes, sondern auch raum-zeitlich existieren. Zweitens ist es eine strittige ontologische Position, dass rein fiktionale Figuren nicht existieren. Meinong (1904) oder Parsons (1980), um zwei Beispiele zu nennen, würden dies bestreiten. Im Zuge dieses Artikels will und muss ich mich hinsichtlich dieser ontologischen Frage nicht positionieren, denn auch Meinong und Parsons behaupten nicht, dass rein fiktionale Figuren raum-zeitlich existieren, so wie sie in einer fiktionalen Welt existieren. Wenn im Folgenden von Existenz die Rede ist, sei hiermit eine raum-zeitliche Existenz in der aktualen Welt gemeint. Meinong, Alexius:

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Emotionen nun keine echten Emotionen, sondern nur »Quasi-Emotionen«.29 Quasi-Emotionen fühlen sich an wie echte Emotionen. Doch wohingegen eine objekt-bezogene Überzeugung Teil einer echten Emotion ist, fehlt eine solche Überzeugung bei einer »Quasi-Emotion«. Einen echten Hund kann ich fürchten, da ich davon überzeugt sein kann, dass dieser gefährlich ist. Einen fiktionalen, nicht-existenten Hund kann ich nicht fürchten, da ich nicht glaube, dass er existiert, und daher nicht davon überzeugt sein kann, dass er gefährlich ist. Da man nicht davon überzeugt ist, dass das Objekt einer Quasi-Emotion existiert, unterscheiden sich Quasi-Emotionen auch in motivationaler Hinsicht von echten Emotionen. Habe ich echte Angst vor einem Hund, flüchte ich; habe ich QuasiAngst vor einem fiktionalen, nicht-existenten Hund, bleibe ich ruhig in meinem Kinosessel sitzen. Auch Radford sieht es als Problem an, wenn uns eine positive Existenzüberzeugung über das Objekt unserer Emotionen fehlt. Doch auch wenn für ihn Emotionen gegenüber Nicht-Existentem echte Emotionen sind, sind sie dank der fehlenden Existenzüberzeugung allesamt unbegründet und führen zu Inkonsistenz und Inkohärenz.30 Angst zu haben ist unbegründet, wenn ich nicht davon überzeugt bin, dass es etwas gibt, was gefährlich ist. Beide Sichtweisen stellen ein Problem für die Auffassung dar, man könne empathisches Wissen über Filmfiguren erlangen. Anders als die Emotionen desjenigen, der sich mit diesen Figuren emotional identifiziert, sind die Emotionen der fiktionalen Identifikationsfiguren weder »Quasi-Emotionen« noch allesamt unbegründet. Demnach unterscheiden sich die emotionalen Zustände der Filmfiguren entscheidend von denen derjenigen, die sich emotional mit ihnen identifizieren. Daher kann man kein echtes empathisches Wissen über Filmfiguren erlangen, wenn dieses Wissen Emotionen voraussetzt, die auf etwas bekanntermaßen Nicht-Existentes gerichtet sind. Doch warum sollte man akzeptieren, dass Emotionen, die auf etwas bekanntermaßen Nicht-Existentes gerichtet sind, entweder unecht oder unbegründet

»Über Gegenstandstheorie«, in: Alexius Meinong (Hg.), Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Leipzig: J.A. Barth 1904; Parsons, Terence: Nonexistent Objects, New Haven: Yale University Press 1980. 29 Siehe Walton, Kendall: »Fearing Fictions«, in: The Journal of Philosophy 75/1 (1978), S. 5-27; K. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. 30 Siehe Radford, Colin: »How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 49 (1975), S. 67-80, hier S. 78-79.

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sind?31 Diese Auffassung ergibt sich aus einer strikten kognitiven Emotionstheorie. Diese interpretiert Emotionen als strukturierte, komplexe Entitäten. Emotionen werden definiert über eine kognitive Komponente, genauer gesagt über objekt-bezogene Überzeugungen, über eine Gefühls- bzw. Empfindungskomponente und über eine motivationale Komponente, wobei die drei Komponenten voneinander abhängen.32 Angst wird beispielsweise definiert über die Überzeugung, dass etwas gefährlich ist, verbunden mit dem Angstgefühl und den hieraus resultierenden Wunsch zu fliehen oder anzugreifen. Um eine Überzeugung über x haben zu können, muss man aber davon überzeugt sein, dass x existiert. Ich kann nur davon überzeugt sein, dass ein Hund gefährlich ist, wenn ich glaube, dass der Hund existiert. Deswegen sind echte und begründete Emotionen notwendig mit der Überzeugung verbunden, dass ihr intentionales Objekt existiert. Im Vergleich mit einer rein gefühlsbasierten Emotionstheorie, die Emotionen mit Gefühlen bzw. Gefühlsclustern gleichsetzt, verfügt eine strikte kognitive Emotionstheorie über eine größere Erklärungskraft. Sie kann unterschiedliche Eigenschaften, die man Emotionen zuschreibt, besser erklären. Sie kann erklären, wie Emotionen intentionale Objekte haben können, weshalb man zwischen akuten und dispositionalen Emotionszuständen unterscheiden kann und weshalb Emotionen (mehr oder weniger) begründet sein können. Auch ist es schwierig, auf der reinen Gefühlsebene unterschiedliche Emotionen angemessen voneinander zu unterscheiden.33 Eine weite kognitive Emotionstheorie verfügt jedoch über dieselbe Erklärungskraft. Diese Theorie definiert Emotionen ebenfalls über eine kognitive, eine gefühlsmäßige und eine motivationale Komponente. Im Unterschied zu einer strikten kognitiven Emotionstheorie kann gemäß einer weiten kognitiven Emotionstheorie die kognitive Komponente eine objekt-bezogene Überzeugung oder aber eine Vorstellung sein.34 Damit ich Angst vor etwas habe, muss ich nicht zwangsläufig davon überzeugt sein, dass das Objekt meiner Angst existiert, es

31 Sowohl Waltons als auch Radfords These wurde im Zuge der Diskussion des sogenannten Paradoxes der Fiktionalität formuliert. Dieses Paradox wurde eine Zeit lang intensiv diskutiert und hierbei wurden sowohl Waltons als auch Radfords These kritisiert und zurückgewiesen, siehe z.B. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror, New York: Routledge 1990; B. Gaut: Art, Emotion and Ethics. 32 Siehe z.B. S. Feagin: Imagining Emotions and Appreciating Fiction, S. 487-489. 33 Siehe hierzu im Detail L.K. Schmalzried: Kunst, Fiktion und Moral, S. 75-81. 34 Siehe z.B. B. Gaut: Art, Emotion and Ethics, S. 211; Greenspan, Patricia: Emotions and Reasons: An Inquiry into Emotional Justification, New York: Routledge 1988, Kap. 2.

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kann genügen, wenn ich mir dies vorstelle.35 Emotionen gegenüber bekanntermaßen nicht existierenden, fiktionalen Figuren bzw. Situationen scheinen gerade Beispiele wider eine strikte und für eine weite kognitive Emotionstheorie zu sein. Um zeigen zu können, wann solche Emotionen begründet bzw. unbegründet sind, genügt der Verweis auf eine weite kognitive Emotionstheorie nicht. Akzeptiert man diese, folgt hieraus lediglich, dass eine Emotion nicht allein deswegen unbegründet ist, weil eine positive Existenzüberzeugung in Bezug auf ihr intentionales Objekt fehlt. Eine Emotion gegenüber Fiktionalem kann aus unterschiedlichen Gründen unbegründet sein. Exemplarisch seien folgende vier Kriterien angesprochen.36 P* hat eine unbegründete Emotion gegenüber einem nichtexistenten, fiktionalem x*, (1) wenn p* glaubt, dass x* existiert bzw. sich ereignet, obwohl p* eigentlich wissen sollte, dass x* nicht existiert bzw. sich nicht ereignet, (2) wenn p* keine passende x*-bezogene Vorstellung hat und dennoch die Emotion E gegenüber x* zeigt, (3) wenn p* sich etwas über x* vorstellt, was nicht durch das betreffende fiktionale Werk autorisiert ist, und deswegen die Emotion E gegenüber x* zeigt oder (4) wenn die Emotion E gegenüber x* p* zu Handlungen motiviert, obwohl p* entsprechende handlungs-relevanten Überzeugungen fehlen. Meine Furcht vor Voldemort ist beispielsweise unbegründet, (1) wenn ich glaube, Voldemort existiere, obwohl ich es besser wissen sollte, oder (2) wenn ich Voldemort fürchte, obwohl ich mir nicht vorstelle, er sei gefährlich, oder (3) wenn ich Voldemort fürchte, weil ich glaube, er würde einen Selbstmordanschlag in New York planen, oder (4) wenn mich meine Furcht vor Voldemort dazu motiviert, mich in meiner Wohnung zu verbarrikadieren, obwohl ich weiß, dass er nicht existiert. Trifft keines dieser vier Kriterien (oder ein vergleichbares) zu, kann eine Emotion, die auf etwas bekanntermaßen nichtexistentes Fiktionales gerichtet ist, begründet sein. Verbindet man solche Kriterien mit einer weiten kognitiven Emotionstheorie, kann man sowohl Waltons als auch Radfords Annahme zurückweisen, dass Emotionen, die auf etwas bekanntermaßen Nichtexistentes gerichtet sind, entweder unecht oder unbegründet sein müssen. Insoweit spricht nichts dagegen, dass man empathisches Wissen über fiktionale Figuren erlangen kann, auch wenn dies Emotionen voraussetzt, die auf etwas bekanntermaßen nicht-existentes Fiktionales gerichtet sind. Gegen die Möglichkeit, durch eine emotionale Identifikation empathisches Wissen über eine Filmfigur zu erlangen, kann ein weiterer Einwand vorgebracht

35 Siehe z.B. N. Carroll: The Philosophy of Horror, S. 79-87. 36 Diese Kriterien sind inspiriert durch Gauts Rationalitätskriterien für Emotionen, siehe B. Gaut: Art, Emotion and Ethics, S. 216-226.

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werden. Während die Filmfigur davon überzeugt ist, dass ein Hund gefährlich ist, stellen wir uns dies lediglich vor. Während eine Filmfigur den Hund tatsächlich angreift bzw. flieht, greifen wir weder den Hund an, noch fliehen wir. Wir mögen somit zwar ebenso echte und begründete Emotionen wie eine Filmfigur haben, aber trotzdem unterscheiden sich unser emotionaler Zustand und der der Filmfigur voneinander. Teil ihres emotionalen Zustandes ist eine objektbezogene Überzeugung, Teil unseres emotionalen Zustandes nur eine Vorstellung; Teil ihres emotionalen Zustandes ist ein ausgeprägter Wunsch zu fliehen, wohingegen kein ausgeprägter Wunsch zu fliehen Teil unseres emotionalen Zustandes ist. Um diesem Einwand zu begegnen, muss man nochmals genauer überlegen, wann zwei emotionale Zustände als ausreichend ähnlich angesehen werden können. Unterscheiden sich die emotionalen Zustände zweier Personen darin, dass eine Person Angst empfindet, weil sie glaubt, dass ein Hund gefährlich ist, wohingegen die andere sich dies lediglich vorstellt, kann man beide Zustände dennoch als ausreichend ähnlich betrachten. Entscheidend ist, dass die Überzeugung und die Vorstellung die gleiche bzw. eine ausreichend ähnliche Proposition ausdrücken, beispielsweise dass ein Hund gefährlich ist. Außerdem kann man aus der Beobachtung, dass eine Person flieht, eine andere jedoch nicht, nicht darauf zurückschließen, dass nur die erstere den Wunsch hat zu fliehen. Wenn ich davon überzeugt bin, dass etwas gefährlich ist, ist dies ein guter Grund, warum ich fliehen sollte. Stelle ich mir dies lediglich vor, mag ich zwar den Fluchtimpuls verspüren, diesen jedoch unterdrücken. Außerdem mag der Wunsch zu fliehen zwar vorhanden, aber weniger stark ausgeprägt sein, wenn ich nicht glaube, sondern mir nur vorstelle, dass der Hund gefährlich ist.37 Wünschen sich zwei Personen das Gleiche bzw. etwas Ähnliches, sind ihre Wünsche aber unterschiedlich stark ausgeprägt, ähneln sich ihre emotionalen Zustände dennoch stark. Eine emotionale Identifikation mit einer fiktionalen Figur mag zwar nicht deren emotionalen Zustand replizieren, jedoch zu einen ausreichend ähnlichen führen. Wir können uns somit mit Filmfiguren emotional identifizieren und hierdurch empathisches Wissen über sie erlangen.

37 Siehe für einen ähnlichen Punkt J. Harold: Empathy with Fictions, S. 349.

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F ILME ALS Q UELLEN EMPATHISCHEN W ISSENS ÜBER F ILMFIGUREN Um manchen Film richtig zu verstehen, kann es notwendig sein, den emotionalen Zustand einer Filmfigur zu verstehen und diesen unter Umständen auch nachempfinden zu können. Verstehe ich beispielsweise nicht, dass eine Figur in eine andere verliebt ist, und weiß ich nicht, wie es ist, verliebt zu sein, kann es schwierig sein, einem Liebesfilm zu folgen. Hiermit ist jedoch noch nicht die epistemische These empathischen Wissens bewiesen. Damit ein Film als Quelle empathischen Wissens angesehen werden kann, sollte eine emotionale Identifikation mit Filmfiguren nicht nur möglich oder notwendig für das Verständnis des Filmes sein, der Film sollte eine solche Identifikation vielmehr anregen, anleiten und erleichtern. Um eine emotionale Identifikation anregen zu können, sollten Filme ihr Publikum dazu auffordern, sich eine Situation so vorzustellen wie eine Filmfigur sie erlebt. Filme kann man nun im Sinne Waltons als darstellende Werke interpretieren.38 Walton analysiert darstellende Werke als Requisiten in sogenannten »Stell-Dir-Vor«-Spielen (»games of make-believe«). Darstellende Werke erschaffen fiktionale Welten bzw. Spielwelten, indem sie explizit oder implizit festlegen, welche Sachverhalte als Wahrheiten in der Welt des betreffenden Werkes gelten sollen. Laut Walton fordert ein darstellendes Werk sein Publikum dazu auf, sich diese fiktionalen Wahrheiten als wahr vorzustellen, sich somit auf ein durch das Werk angeleitetes »Stell-Dir-Vor«-Spiel einzulassen. Es ist die Funktion von darstellenden Werken, ihr Publikum dazu einzuladen, sich bestimmte Sachverhalte als wahr vorzustellen.39 Hierbei laden sie ihr Publikum auch dazu ein, sich diese Sachverhalte auf eine bestimmte Art und Weise vorzustellen. Manche Werke laden nun dazu ein, sich vorzustellen, eine Situation so zu erleben wie eine der Filmfiguren. Diese Einladung kann ein Werk beispielsweise aussprechen, indem es primär Informationen über diese Figur vermittelt, sie in Hinblick auf die E-Faktoren charakterisiert, einen Einblick in deren emotionalen Zustand gewährt oder aber diese Figur zum Sympathieträger aufgebaut.

38 Siehe K. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts; siehe auch Currie, Gregory: Image and Mind. Film, Philosophy and Cognitive Science, Cambridge [England]/New York, NY: Cambridge University Press, 1995, S. 147. 39 Siehe K. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, S. 52.

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Manche darstellende Werke laden somit dazu ein, sich mit einer ihrer Figuren in einer bzw. in mehreren Situationen emotional zu identifizieren. Nur zu einer emotionalen Identifikation einzuladen, genügt nicht, damit ein Werk wirklich empathisches Wissen vermitteln kann. Es sollte des Weiteren den Erfolg der emotionalen Identifikation unterstützen. Es sollte erstens beim Verstehen des emotionalen Zustands helfen. Dies kann gelingen, indem das Werk einen Einblick in das Innenleben der Filmfigur gibt, oder indem es implizit zeigt, in welchem emotionalen Zustand sich eine Figur in einer bestimmten Situation befindet. Auch wie eine Situation beschrieben wird, liefert Hinweise darauf, in welchem emotionalen Zustand sich eine Figur befindet. Ein darstellendes Werk sollte zweitens dem Publikum dabei helfen, den emotionalen Zustand einer Figur zu teilen. Durch den gezielten Einsatz künstlerischer Mittel kann ein Werk emotionale Reaktionen beim Publikum auslösen bzw. erleichtern, die zu einem ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand führen wie jener der betreffenden Figur. Filme als darstellende Werke können somit die Voraussetzungen erfüllen, empathisches Wissen zu vermitteln. Wird in der ästhetischen Debatte Empathie in Bezug auf Kunst diskutiert, dienen gerne literarische Werke als Beispiele. In der Tat scheinen literarische Werke besonders gut geeignet zu sein, zu einer emotionalen Identifikation einzuladen und den Erfolg dieser im Hinblick auf die kognitive Komponente zu unterstützen. Literarische Werke können Situationen konsequent aus der Perspektive einer Figur heraus erzählen, beispielsweise wenn ein Ich-Erzähler die Geschichte schildert. Sie können auch besonders gut, so scheint es, einen Einblick in das emotionale Erleben ihrer Figuren geben. Mithilfe eines inneren Monologes lässt sich beispielsweise der Gedankengang einer Figur nachvollziehen oder aber deren emotionaler Zustand wird detailliert be- bzw. umschrieben. Dem visuellauditiven Filmmedium stehen nicht die gleichen Möglichkeiten offen, Einblicke in den emotionalen Zustand ihrer Figuren zu geben. Nur in den seltensten Fällen schildert ein Film ein Geschehen konsequent aus der Perspektive einer Filmfigur. Selbst wenn der Zuschauer kurzfristig sieht bzw. hört, was die Filmfigur in einer Situation sieht bzw. hört, sieht bzw. hört man in der nächsten Einstellung wiederum die Figur selbst, verkörpert durch einen Schauspieler, und zwar nicht so, wie man sich selbst sieht oder hört. Auch bekommt man meist keine allzu detaillierte Beschreibung des emotionalen Zustandes einer Filmfigur. Die Methoden, die eine emotionale Identifikation mit einer literarischen Figur anleiten und erleichtern, sind somit nur bedingt auf Filme übertragbar. Und dies könnte be-

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deuten, dass Filme nicht besonders gut geeignet sind, empathisches Wissen zu vermitteln.40 Um eine emotionale Identifikation anzuleiten und anzuregen, müssen Filme aber nicht auf genau dieselben Methoden zurückgreifen wie literarische Werke. Das visuell-auditive Medium des Films bietet andere Möglichkeiten. Im Film sieht man mithilfe des Schauspielers die Gestik und Mimik einer Filmfigur unmittelbar, man hört und sieht, was sie tut und wie sie es tut, was sie sagt und wie sie es sagt usw. Während ein literarisches Werk all dies sprachlich be- bzw. umschreiben muss, sieht und hört man dies im Film direkt. Hierdurch kann man erkennen, in welchen emotionalen Zustand sich eine Filmfigur, befindet.41 Insoweit ähneln Filme der Realität. Doch Filme replizieren diese nicht einfach. Der Blick des Zuschauers wird gelenkt. Wird beispielsweise ein Gesicht in Nahaufnahme gezeigt, kann dies besonders gut den emotionalen Zustand der Filmfigur verdeutlichen.42 Aber nicht nur der Blick auf die Filmfigur bzw. den Schauspieler spielt eine Rolle. Schnitt, Kameraeinstellung und -führung, all dies lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers, zeigt auf, welche Aspekte einer Situation wichtig sind, und teilweise wird dabei bereits eine Wertung des Gezeigten impliziert. Filmmusik und Soundeffekte bieten weitere Möglichkeiten, eine Situation »emotional einzufärben«.43 Wie eine Situation gezeigt wird, lässt unter Umständen Rückschlüsse auf den emotionalen Zustand einer Figur in dieser Situation zu. Dem visuell-auditiven Filmmedium stehen außerdem besondere Möglichkeiten offen, seinem Publikum dabei zu helfen, den emotionalen Zustand einer

40 Wenn Filme anders als literarische Werke keinen Einblick in den emotionalen Zustand ihrer Figuren vermitteln könnten, diesen zu verstehen jedoch notwendig ist, um den Film zu verstehen, wäre eine erfolgreiche emotionale Identifikation mit Filmfiguren umso wichtiger, siehe A. Neill: Empathy and (Film) Fiction, S. 255. Diese Antwort führt jedoch zu der bereits angesprochenen Schwierigkeit. Filme würden zwar eine erfolgreiche emotionale Identifikation erfordern, diese jedoch nicht anleiten und erleichtern. Insoweit würden sie kein empathisches Wissen vermitteln. 41 Siehe z.B. B. Gaut: Identification and Emotion in Narrative Film, S. 266; Plantinga, Carl: »Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film«, in: montage/av (13/02/2004, engl. zuerst 1999), S. 7-27, hier S. 9. 42 Siehe C. Plantinga: Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film. 43 Siehe z.B. Tan, Siu-Lan/Matthew P. Spackman/Matthew A. Bezdek: »Viewers’ Interpretations of Film Characters' Emotions: Effects of Presenting Film Music Before or After a Character is Shown«, in: Music Perception: An Interdisciplinary Journal 25/2 (2007), 135-152.

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Filmfigur zu teilen. Drei Beispiele seien hierfür genannt: Zum einen gibt der Einsatz von Filmmusik nicht nur Hinweise auf den emotionalen Zustand einer Figur, sondern vermag entsprechende Emotionen auch beim Publikum hervorzurufen. Musik spricht sehr direkt unsere Emotionen an. Hört man eine bestimmte Art von Musik, beispielsweise eine traurige oder fröhliche, wird man leicht in einen entsprechenden emotionalen Zustand versetzt. Zweitens können Filme mit der sogenannten emotionalen Ansteckung arbeiten. Hatfield, Cacioppo und Rapson definieren emotionale Ansteckung als »the tendency to automatically mimic and synchronize expressions, vocalizations, postures, and movements with those of another person’s and, consequently, to converge emotionally.«44 Eine emotionale Ansteckung ist möglich, wenn man eine andere Person (oder das bewegte Bild einer anderen Person) sieht bzw. hört. Daher kann ein Film dank seines visuell-auditiven Mediums eine emotionale Ansteckung einkalkulieren, um den Zuschauer in einen ähnlichen emotionalen Zustand zu versetzen wie den der Filmfigur.45 Drittens können Filme auf die Methode der kritischen Vorfokussierung zurückgreifen, wie Carroll sie nennt.46 Bestimmte Bilder zu zeigen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu lenken, das Gezeigte emotional aufzuladen usw. kann beim Publikum Emotionen auslösen, die dem der Filmfigur ausreichend ähneln. Das visuell-auditive Medium verfügt somit über besondere Möglichkeiten, beim Publikum emotionale Reaktionen auszulösen.47 Einem Film mag es nun aber gelingen durch den gezielten Einsatz von Filmmusik, einkalkulierter emotionaler Ansteckung oder kritischer Vorfokussierung ein Publikum in einen emotionalen Zustand zu versetzen, der dem einer Filmfigur ähnelt, ohne dass das Publikum hierdurch empathisches Wissen gewinnt. Dem Publikum muss nicht bewusst sein, dass der emotionale Zustand, in dem es sich befindet, dem emotionalen Zustand einer Filmfigur ausreichend äh-

44 Hatfield, Elaine/Cacioppo, John T./Rapson, Richard L.: Emotional Contagion, Cambridge [England]/New York: Cambridge University Press 1994, S. 5. 45 Siehe z.B. Coplan, Amy: Catching Characters’ Emotions: »Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8 (2006), S. 26-38; Coplan, Amy: »Empathy and Character Engagement«, in: Paisley Livingston/Carl Plantinga (Hg.), The Routledge Companion to Philosophy and Film, London/New York: Routledge 2009, S. 97-110, hier S. 105; C. Plantinga: Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film. 46 Siehe N. Carroll: On Some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions, S. 169-171. 47 Siehe hierzu im Detail C. Plantinga: Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film.

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nelt.48 Doch auch wenn Filmmusik, emotionale Ansteckung und kritische Vorfokussierung allein noch kein empathisches Wissen bewirken, können sie dennoch eine erfolgreiche emotionale Identifikation unterstützen. Doch kann man überhaupt von einer erfolgreichen Identifikation sprechen, wenn man sich nicht allein deswegen in einem emotionalen Zustand befindet, weil man erkannt hat, dass eine andere Person sich in einer Situation in diesem bzw. einem vergleichbaren befindet? Coplan beispielsweise trennt eine erfolgreiche emotionale Identifikation strikt von emotionaler Ansteckung oder kritischer Vorfokussierung.49 Liegt der Fokus auf empathischem Wissen, muss man diese Auffassung nicht teilen. Ob man nun zuerst den emotionalen Zustand einer anderen Person versteht und dann diesen nachempfindet, oder ob man diesen erst teilt und dann versteht, oder ob Verstehen und Nachempfinden Hand in Hand gehen oder sich gegenseitig bedingen, kann alles gleichermaßen zu empathischen Wissen führen. Außerdem muss nicht gefordert werden, dass man sich allein deswegen in einem emotionalen Zustand befindet, weil man sich bewusst vorgestellt hat, eine Situation so zu erleben wie eine andere Person. Es kann passieren, dass man sich eine Situation auf bestimmte Weise vorstellt, um dann erst zu erkennen, dass man sich hierdurch mit einer anderen Person emotional identifiziert hat.50 Zusammenfassend kann man festhalten: Darstellende Werke und hierzu zählen auch Filme können die Voraussetzungen erfüllen, empathisches Wissen über ihre Figuren zu vermitteln. Dem Filmmedium stehen hierbei besondere Möglichkeiten offen, eine emotionale Identifikation mit ihren Figuren zu leiten und eine emotionale Reaktion des Publikums zu erleichtern.

Ü BERTRAGBARKEIT UND PSYCHOLOGISCHE V ERLÄSSLICHKEIT DES EMPATHISCHEN W ISSENS Zu Beginn dieses Artikels wurde betont, dass die nicht-triviale epistemische These nicht nur behauptet, Kunstwerke könnten Wissen über sich selbst, ihre fiktionalen Welten und über Kunst per se vermitteln, sondern Wissen über die reale Welt. Dementsprechend sollte auch das empathische Wissen, welches Filme

48 Siehe z.B. N. Carroll: On Some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions, S. 170; A. Coplan: Empathic Engagement with Narrative Fictions, S. 145. 49 Siehe ebd.; A. Coplan: Catching Characters’ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film, S. 31-35. 50 Für einen ähnlichen Punkt siehe N. Snow: Empathy, S. 70-73.

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vermitteln, einen Bezug zur Realität haben. Bis jetzt wurde jedoch lediglich argumentiert, dass Filme empathisches Wissen über Filmfiguren in Bezug auf im Film beschriebene Situationen vermitteln können. Insoweit bezieht sich das empathische Wissen auf die fiktionale Welt der Filme und ist kein Wissen über die reale Welt. Auch wenn empathisches Wissen personen- und situationsbezogen ist, kann es dennoch übertragbar sein: Wenn ich weiß, wie es in emotionaler Hinsicht für y ist, eine Situation s zu erleben, dann weiß ich auch, wie es in emotionaler Hinsicht für y° ist, eine Situation s° zu erleben, vorausgesetzt y und y° und s und s° ähneln sich im ausreichenden Maße. Weiß ich beispielsweise, wie es für eine ängstliche, schüchterne, aber gut vorbereitete Person ist, eine mündliche Prüfung abzulegen, ist dieses empathische Wissen auf vergleichbare Personen und Situationen übertragbar. Fiktionale Figuren und Situationen mögen realen Personen und Situationen nun zwar hinsichtlich ihres ontologischen Status nicht ähneln, jedoch können sie ihnen in anderer Hinsicht ähneln. Besitzt Person p* die Eigenschaft E und besitzt eine Figur f* in der Welt eines Filmes ebenfalls die Eigenschaft E, so ähneln sich p* und f*. Insoweit kann empathisches Wissen über fiktionale Filmfiguren in Bezug auf fiktionale Filmsituationen auf ausreichend ähnliche reale Personen und Situationen übertragen werden. Filme vermitteln somit zwar zunächst empathisches Wissen über Filmfiguren in Bezug auf Filmsituationen, jedoch ist dieses Wissen unter Umständen auf reale Personen und Situationen übertragbar. Damit das empathische Wissen, das ein Film vermitteln kann, auf reale Personen übertragbar ist, muss es psychologisch verlässlich sein. Das empathische Wissen über eine fiktionale Figur ist nur auf eine ausreichend ähnliche reale Person übertragbar, wenn sich diese in einer vergleichbaren realen Situation in einem emotionalen Zustand befindet bzw. befinden würde, der dem emotionalen Zustand der Filmfigur ausreichend ähnelt. Dies wirft nun eine weitere Schwierigkeit auf.51 Damit Filme als Quellen empathischen Wissens angesehen werden können, sollten sie nicht nur übertragbares, psychologisch verlässliches emotionales Wissen vermitteln, sie sollten dem Publikum die psychologische Verlässlichkeit auch versichern, könnte man meinen. Das Publikum sollte durch einen

51 Dieser Einwand ist inspiriert durch einen Einwand gegen die epistemische These im Bezug auf propositionales Wissen, siehe z.B. Carroll, Noël: »The Wheel of Virtue: Art, Literature, and Moral Knowledge«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 60/1 (2002), S. 3-26, hier S. 5; B. Gaut: Art and Knowledge, S. 441. (Fiktionale) Kunstwerke, so der Einwand, können zwar wahre Überzeugungen vermitteln, doch scheitern diese darin, verlässlich zu begründen.

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Film erfahren, dass das vermittelte empathische Wissen übertragbar ist. Wüsste man beispielsweise, dass ein Drehbuchautor selbst schon einmal eine bestimmte Situation erlebt hat, diese Situation, in seinem Film beschreibt, eine Filmfigur dem Autor ausreichend hinsichtlich der E-Faktoren ähnelt, und der Autor sich an seinem eigenen Erleben orientiert und dies verlässlich schildert, so wäre dies ein guter Grund zu glauben, dass das empathische Wissen psychologisch verlässlich ist. Gleiches gilt, wenn ein Werk verlässlich das emotionale Erleben einer realen Person in einer realen Situation schildert oder aber wenn der Autor psychologisch geschult ist, daher weiß, wie Menschen mit bestimmten E-Faktoren auf bestimmte Situationen reagieren, und auf dieses Wissen zurückgreift. Das erste Problem ist, dass viele fiktionale Werke keine dieser drei Bedingungen (oder vergleichbare) erfüllen. Auch wenn einige Werke autobiographisch inspiriert sind oder auf wahren Begebenheiten beruhen, bilden sie die Realität nicht eins zu eins ab und als fiktionale Werke sind sie nicht dazu verpflichtet. Das zweite Problem ist, dass, auch wenn ein Werk diese Bedingungen erfüllt, das Wissen, dass es diese Bedingungen erfüllt, nicht durch das Werk vermittelt wird. Man gewinnt dieses Wissen durch zusätzliche Informationen über das Werk, dessen Entstehungsgeschichte, dessen Autor etc. Fiktionale Filme mögen zwar psychologisch verlässliches empathisches Wissen vermitteln können, konzentriert man sich jedoch allein auf das betreffende Werk, kann man nicht wissen, ob es psychologisch verlässlich ist. Konzentriert man sich jedoch allein auf einen Film, ohne Hintergrundinformationen zu beachten, gibt es durchaus gewisse Hinweise für bzw. wider die psychologische Verlässlichkeit des empathischen Wissens. Zum einen kann man überlegen, ob die explizit bzw. implizit beschriebenen emotionalen Zustände der Filmfiguren angesichts ihrer Charakterisierungen und der Beschreibung der Situation psychologisch nachvollziehbar sind. Für die psychologische Verlässlichkeit spricht auch, wenn man durch eine emotionale Identifikation den emotionalen Zustand der Filmfiguren tatsächlich nachempfinden kann. Zweifelsohne sind dies lediglich Hinweise und keine Beweise der psychologischen Verlässlichkeit. Letztendlich muss man immer die werkinterne Perspektive verlassen und sich fragen, ob reale Personen in emotionaler Hinsicht wirklich wie beschrieben reagieren. Aber auch wenn mir eine Person ihre eigenen Erlebnisse bzw. die einer anderen Person schildert oder über psychologisches Wissen verfügt, so kann ich nur sicher sein, dass das empathische Wissen psychologisch verlässlich ist, wenn ich weiß, dass es übertragbar ist. Dass letztendlich immer der werkexterne Blick bestätigen muss, dass das empathische Wissen psychologisch verlässlich ist, spricht daher nicht gegen die epistemische These empathischen Wissens.

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Als Folge dieser Überlegungen sollte man akzeptieren, dass Filme unter Umständen »falsches«, also nicht übertragbares empathisches Wissen vermitteln können. Solche Werke verfügen über die Fähigkeit eine emotionale Identifikation mit einer ihrer Filmfiguren anzuregen, anzuleiten und zu erleichtern, der beschriebene emotionale Zustand des Figur erscheint nachvollziehbar und das Publikum teilt einen ausreichend ähnlichen emotionalen Zustand. Demnach hat man Grund, an die psychologische Übertragbarkeit zu glauben. Das Werk hat einen jedoch in die Irre geleitet. Das empathische Wissen erscheint nur übertragbar zu sein, ist es aber nicht, es ist nicht psychologisch verlässlich. Verteidigt man die epistemische These empathischen Wissens, so geht diese Hand in Hand mit der epistemischen These empathischen Nicht-Wissens.

E MPATHIE , S YMPATHIE

UND

D ISTANZIERTHEIT

Die bisherigen Abschnitte haben die epistemische These des empathischen Wissens in Bezug auf fiktionale Filme verteidigt. Der Fokus der Überlegungen lag hierbei auf den Filmen und nicht auf dem Publikum. Selbst wenn ein Film jedoch die Voraussetzungen erfüllt, empathisches Wissen zu vermitteln, kann er dieses Wissen nur einem Publikum vermitteln, das sich auf eine emotionale Identifikation mit den Filmfiguren einlässt. Ein solches kann man als empathisierendes Publikum bezeichnen. Wäre es nun atypisch für ein Filmpublikum, sich emotional mit Filmfiguren zu identifizieren, wäre ein Filmpublikum somit kein empathisierendes, würde dies die epistemische These des empathischen Wissens zwar nicht widerlegen, jedoch würde diese These lediglich auf eine rein hypothetische Möglichkeit der Wissensvermittlung hinweisen und wäre demnach relativ uninteressant. Wollheim unterscheidet drei Publikumstypen: ein empathisierendes, ein sympathisierendes und ein emotional distanziertes Publikum.52 Das sympathisierende Publikum ist zwar darum bemüht, den emotionalen Zustand der fiktionalen Figuren zu verstehen, reagiert auch emotional auf diesen, teilt ihn jedoch nicht. Es empathisiert nicht, sondern sympathisiert mit den Figuren. Ein empathisierendes Publikum identifiziert sich emotional mit den Figuren, um zu fühlen, was sie fühlen. Es fühlt sich in die Figuren ein. Ein sympathisierendes Publikum identifiziert sich nicht emotional mit den Figuren. Es fühlt nicht dasselbe wie

52 Siehe Wollheim, Richard: The Thread of Life. William James Lectures, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1986, S. 67-68.

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diese. Es fühlt sich nicht in sie ein, es fühlt mit ihnen.53 Laut Carroll ist ein Filmpublikum eher ein sympathisierendes, denn ein empathisierendes.54 Dies sähe man daran, dass das Publikum häufig Emotionen zeige, die andere intentionale Objekte haben als die Emotionen der Filmfiguren, sich in seinem Wissen von dem der Filmfiguren unterscheide und Wünsche hinsichtlich des Fortgangs der Geschichte habe, die eine Filmfigur nicht hat bzw. nicht haben kann. Es sei nun weder bestritten, dass viele Filme dazu einladen, (in manchen Szenen) mit ihren Figuren zu sympathisieren, noch, dass wir häufig mit Filmfiguren sympathisieren. Dieses Eingeständnis würde nur dann zu einem Problem werden, wenn Filme ausschließlich dazu einladen würden, mit ihren Figuren zu sympathisieren, und ihr Publikum ausschließlich mit Filmfiguren sympathisieren würde. Die vorangegangen Abschnitten haben jedoch erstens gezeigt, dass manche Filme dazu einladen, sich (in manchen Szenen zumindest) emotional mit einer Filmfigur zu identifizieren, also mit ihr zu empathisieren. Betrachtet man zweitens unsere emotionalen Reaktionen auf Filme zeigt sich eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Reaktionsweisen.55 Mit einer Filmfigur zu sympathisieren, erscheint nur eine Möglichkeit unter mehreren zu sein. Mit einer Filmfigur zu empathisieren ist m.E. eine andere Möglichkeit. So kann es sein, dass man mit mancher Filmfigur eher sympathisiert, mit einer anderen eher empathisiert. Es kann auch passieren, dass man in einer Szene mit einer Figur sympathisiert und in einer anderen Szene mit ihr empathisiert. Drittens kann man überlegen, ob Empathie und Sympathie sich gegenseitig ausschließen müssen.56 Bedenkt man, dass man sich erfolgreich mit einer Filmfigur emotional identifizieren kann, ohne dass man sich in genau demselben emotionalen Zustand befindet, könnte es möglich sein, dass ich mit einer Filmfigur zugleich sympathisiere und empathisiere. In diesem Fall ähnelt ein Teil meines emotionalen Zustandes dem der Filmfigur ausreichend, auch wenn weitere Emotionen, Überzeugungen, Wünsche etc. meinen emotionalen Zustand ausmachen.57

53 Siehe z.B. A. Coplan: Empathic Engagement with Narrative Fictions, S. 145-146; J. Harold: Empathy with Fictions, S. 343-346; Neill: Empathy and (Film) Fiction, S. 247; N. Snow: Empathy, S. 66. 54 Siehe N. Carroll: The Philosophy of Horror, S. 90-96; On Some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions, S. 173-175. 55 Siehe z.B. A. Coplan: Empathic Engagement with Narrative Fictions, S. 146; A. Neill: Empathy and (Film) Fiction, S. 247. 56 Siehe A. Coplan: Empathic Engagement with Narrative Fictions, S. 149; J. Harold: Empathy with Fictions, S. 354. 57 Siehe A. Coplan: Empathic Engagement with Narrative Fictions, S. 148.

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Ein emotional distanziertes Publikum versteht zwar den emotionalen Zustand von Filmfiguren, bleibt aber emotional davon unberührt58 Diese emotionale Unberührtheit scheint es zu ermöglichen, künstlerische bzw. filmische Mittel als solche wahrzunehmen und zu beurteilen. Lässt man sich emotional auf einen Film ein, ist dies schwieriger. Es ist schwierig, sich auf den Einsatz und die Wirkungsweise filmischer und künstlerischer Mittel zu konzentrieren, tritt man – bildlich gesprochen – vollkommen in die fiktionale Welt des Filmes ein und lässt man das fiktionale Geschehen emotional auf sich wirken. Kunst- bzw. Filmkritik setzt nun aber voraus, dass man künstlerische bzw. filmische Mittel als solche wahrnimmt und beurteilt. Daher könnte man argumentieren, dass eine distanzierte Betrachtungsweise die eigentlich richtige Art und Weise ist, Filme anzusehen. Einem emotional distanzierten Publikum kann ein Film jedoch kein empathisches Wissen vermitteln und daher ist die Fähigkeit eines Werkes, empathisches Wissen vermitteln zu können, ästhetisch irrelevant, so der Einwand. Dieser Einwand richtet sich jedoch nicht gegen die epistemische These des empathischen Wissens, sondern gegen die ästhetische These des empathischen Wissens. Laut dieser kann es sich positiv auf die Bewertung eines Filmes als Kunst auswirken, wenn das betreffende Werk empathisches Wissen vermitteln kann. Obwohl der Fokus dieses Artikels auf der epistemischen These des empathischen Wissens liegt, sei abschließend zumindest kurz eine Anmerkung zu dieser ästhetischen Fragestellung gemacht. Zunächst kann man hinterfragen, ob sich emotional auf einen Film einzulassen und sich zugleich auf den Einsatz und die Wirkungsweise filmischer bzw. künstlerischer Mittel zu konzentrieren sich gegenseitig ausschließen müssen. Ich kann beispielsweise durchaus erkennen, dass eine bestimmte Filmmusik in einer Szene eingesetzt wird um Furcht zu wecken, und dennoch zugleich Furcht empfinden. Zweitens muss man nicht verneinen, dass eine distanzierte Betrachtungsweise Merkmale eines Films erkennen lassen kann, die man anderenfalls nicht erfassen könnte. Aber auch durch eine sympathisierende bzw. eine empathisierende Betrachtungsweise mag man Eigenschaften eines Films erkennen, die mit einer distanzierten Betrachtung verschlossen blieben. Indem man einen Film distanziert, sympathisierend oder empathisierend anschaut, mag man ihn immer wieder neu entdecken. Um manchen Film vollständig erfassen, verstehen und wertschätzen zu können, mögen alle drei Betrachtungsweisen relevant sein. Manch anderer Film mag eher eine distanzierte oder sympathisierende oder empathisierende Betrachtungsweise erfordern. Manche Filme wollen emotional berühren, andere nicht. Lädt nun ein Film u.a. dazu ein, sich mit einem seiner Charaktere emotional zu identifizieren, ist es legitim

58 Siehe R. Wollheim: The Thread of Life. William James Lectures, S. 67.

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zu fragen, ob und inwieweit der Film wirklich die Voraussetzungen erfüllt, empathisches Wissen zu vermitteln. Insoweit misst man einen Film daran, ob er seinen selbst gesetzten Zielen nachkommt.59

S CHLUSSFOLGERUNG Dieser Artikel hat die Frage aufgeworfen, ob fiktionale Filme die Voraussetzungen erfüllen können, psychologisch verlässliches empathisches Wissen zu vermitteln, d.h. das Wissen, wie es für eine andere Person ist, eine Situation in emotionaler Hinsicht zu erleben. Empathisches Wissen kann man u.a. durch eine erfolgreiche emotionale Identifikation gewinnen, d.h. indem man sich vorstellt, eine Situation in emotionaler Hinsicht so zu erleben wie eine andere Person, und hierdurch den emotionalen Zustand einer anderen Person versteht und teilt. Da es möglich ist, sich erfolgreich mit fiktionalen Filmfiguren emotional zu identifizieren, und da manche Filme zu solch einer emotionalen Identifikation mit ihren Filmfiguren einladen und diese anleiten und erleichtern, können sie empathisches Wissen über ihre Figuren vermitteln. Ist dieses Wissen psychologisch verlässlich, ist es auf vergleichbare reale Personen und Situationen übertragbar. In diesem Fall kann ein Film psychologisch verlässliches empathisches Wissen vermitteln. Filme können somit die Voraussetzungen erfüllen, empathisches Wissen zu vermitteln. Dies bedeutet nicht, dass empathisches Wissen ausschließlich durch Filme vermittelt werden kann, sondern nur dass Filme eine mögliche Quelle für solches Wissen sind. Nichtsdestotrotz ist mancher Film dank des gelungenen Einsatzes künstlerischer bzw. filmischer Mittel besonders gut geeignet, empathisches Wissen zu vermitteln. Ein weiterer Vorteil ist, dass Filme ihre Zuschauer dazu einladen können, sich mit unterschiedlichsten Figuren in unterschiedlichsten Situationen emotional zu identifizieren. So können Kunstwerke und Filme beispielsweise auch empathisches Wissen hinsichtlich psychischer Erkrankungen oder in Bezug auf Extremsituationen vermitteln. Auch laden sie unter Umständen dazu ein, sich mit Figuren zu identifizieren, mit denen man sich im »realen« Leben nicht emotional identifizieren würde, bzw. solchen, bei denen es einem sehr schwer fallen würde, sich erfolgreich emotional zu identifizieren. Aber gerade solch empathisches Wissen zu besitzen, ist besonders wünschenswert, da es uns schwerer fallen mag die betreffenden Personen zu verstehen und unsere Empathiefähigkeit hier besonders herausgefordert wird. Filme sind somit nicht

59 Siehe L.K. Schmalzried: Kunst, Fiktion und Moral, S. 275.

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die einzige, unter Umständen aber eine besonders gut geeignete Quelle für empathischen Wissens.60

L ITERATUR Carroll, Noël: »On Some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 162-184. Carroll, Noël: »The Wheel of Virtue: Art, Literature, and Moral Knowledge«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 60/1 (2002), S. 3-26. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror, New York: Routledge 1990. Coplan, Amy: »Understanding Empathy: Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 3-18. Coplan, Amy: »Empathy and Character Engagement«, in: Paisley Livingston/Carl Plantinga (Hg.), The Routledge Companion to Philosophy and Film, London/New York: Routledge 2009, S. 97-110. Coplan, Amy: »Catching Characters’ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8 (2006), S. 26-38. Coplan, Amy: »Empathic Engagement with Narrative Fictions«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 62/2 (2004), S. 141-152. Currie, Gregory: Image and Mind. Film, Philosophy and Cognitive Science, Cambridge [England]/New York, NY: Cambridge University Press, 1995. Feagin, Susan: »Imagining Emotions and Appreciating Fiction«, in: Canadian Journal of Philosophy 18/3 (1988), S. 485-500. Gaut, Berys: Art, Emotion and Ethics, Oxford/New York: Oxford University Press 2007. Gaut, Berys: »Identification and Emotion in Narrative Film«, in: Noël Carroll/Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures. An Anthology, Malden, MA: Blackwell Pub. 2006, S. 260-270.

60 Frühere Versionen dieses Artikels habe ich auf der EPSSE Conference 2014 und als Beitrag für die Vortragsreihe »Affekt und Gefühl« der Philosophischen Gesellschaft Basel vorgestellt. Ich danke denjenigen, die meine Vorträge gehört haben, für ihre hilfreichen Nachfragen und ihr konstruktives Feedback.

86 | L ISA K ATHARIN S CHMALZRIED

Gaut, Berys: »Art and Knowledge«, in: Jerrold Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford/New York: Oxford University Press 2003, S. 436-450. Greenspan, Patricia , Emotions and Reasons: An Inquiry into Emotional Justification, New York 1988. Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 302-317. Harold, James: »Empathy with Fictions«, in: The British Journal of Aesthetics 40/3 (2000), S. 340-355. Hatfield, Elaine/Cacioppo, John T./Rapson, Richard L.: Emotional Contagion, Cambridge [England]/New York: Cambridge University Press 1994. Neill, Alex: »Empathy and (Film) Fiction«, in: Noël Carroll/Jinhee Choi (Hg.), Philosophy of Film and Motion Pictures. An Anthology, Malden, MA: Blackwell Pub. 2006, S. 247-259.61 Novitz, David: Knowledge, Fiction and Imagination, Philadelphia: Temple University Press 1987. Meinong, Alexius: »Über Gegenstandstheorie«, in: Alexius Meinong (Hg.), Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Leipzig: J.A. Barth 1904. Parsons, Terence: Nonexistent Objects, New Haven: Yale University Press 1980. Plantinga, Carl: Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film, in montage/av (13/02/2004, engl. zuerst 1999), S. 7-27. Radford, Colin/Weston, Michael: »How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 49 (1975), S. 67-80. Schmalzried, Lisa Katharin: Kunst, Fiktion und Moral, Münster: Mentis 2014. Snow, Nancy E.: »Empathy«, in: American Philosophical Quarterly 37/1 (2000), S. 65-78. Tan, Siu-Lan/Spackman, Matthew P./Bezdek, Matthew A.: »Viewers’ Interpretations of Film Characters’ Emotions: Effects of Presenting Film Music Before or After a Character is Shown«, in: Music Perception: An Interdisciplinary Journal 25/2 (2007), 135-152. Walton, Kendall: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1990. Walton, Kendall: »Fearing Fictions«, in: The Journal of Philosophy 75/1 (1978), S. 5-27.

61 Eine deutsche Übersetzung dieses Textes findet sich in diesem Band.

F ILMISCHE Q UELLEN

EMPATHISCHEN

W ISSENS

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Wollheim, Richard: The Thread of Life. William James Lectures, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1986.

Einfühlung und Spiegelung. Eine phänomenologische Interpretation zu SHIRIN (2008) C HRISTIAN F ERENCZ -F LATZ

D ER Z USCHAUER

ALS

F ILMAUTOR

UND UMGEKEHRT

Der Gedanke der Mitwirkung des Zuschauers an der Herstellung des von ihm betrachteten Films geht vermutlich schon auf die frühe russische Avantgarde zurück. So vertritt beispielsweise Pudovkin in etlichen seiner Schriften den Gedanken, dass sowohl Zeit und Raum, wie auch die von den Darstellern ausgedrückten Gefühle im Film sich erst in und mittels der Wahrnehmung des Filmzuschauers konstituieren.1 Solche Behauptungen sind freilich nicht auf den Gemeinplatz, Realität liege bloß in den Augen des Betrachters, oder auf Scheinfragen wie jene, ob ein gefällter Baum auch ohne Augen- und Ohrenzeugen kracht, zurückzuführen. Was Pudovkins Bemerkungen von solchen müßigen Spekulationen unterscheidet, ist vielmehr eine Eigenheit der filmischen Darstellung und Rezeption selbst. So zeigt Pudovkin – im Rückgriff auf die berühmten Experimente Lev Kuleshovs2 –, dass sowohl Zeit und Raum, wie auch das Gefühlsleben der dargestellten Figuren im Kino nicht einfach fotografisch aufgenommen

1

Pudovkin, Wsewolod: Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze, Erinnerungen, Werkstattnotizen, Berlin: Henschel 1983, z.B. S. 329-349.

2

Kuleshov bemerkte bekanntlich, indem er eine ausdruckslose Gesichtsaufnahme des Schauspielers Ivan Mosjukin mit unterschiedlichen Aufnahmen: eines Revolvers, eines Säuglings, einer unbekleideten Frau usw. zusammenstellte, dass die Zuschauer aufgrund dieser Zusammenstellung denselben Gesichtsausdruck Mosjukins in einer entsprechend unterschiedlichen Färbung auffassten.

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werden, so wie sie in Wirklichkeit erscheinen, um dann auf der Leinwand reproduziert zu werden, sondern sie werden vielmehr von den Zuschauern kraft der Montage erfasst, ohne vorhin eigentlich aufgenommen zu werden. Indem der Zuschauer so nämlich einen Zusammenhang zwischen zwei aufeinanderfolgenden Aufnahmen herstellt, trägt er entscheidend zur Konstruktion dessen bei, was der Film »darstellt«, ohne eigentlich zu »zeigen«. Dem entspricht offensichtlich in einem anderen Zusammenhang die von Christian Metz aufgestellte Definition der filmischen »trucage«: »Wir können jedesmal von trucage reden, wenn der Zuschauer verleitet ist, die Gesamtheit der ihm auf der Leinwand gegebenen visuellen Elemente der Diegesis zuzuschreiben.«3 Dabei versteht Metz hier den Begriff der »Diegesis« nicht im Sinne der französischen Filmologie mit Bezug auf die dargestellte Welt der filmischen Narration überhaupt, so wie etwa Étienne Souriau diese Stufe von der »spektatioriellen« Stufe des Kinosaals und der »kreatoriellen« Ebene der Filmproduktion abgrenzt,4 sondern in einem viel engeren Sinn, der ausschließlich das im Film fotografisch Reproduzierte umfasst. Demnach bezeichnet die Trucage für Metz überhaupt den Zuschuss, der sich im Film fortwährend zu dem, was die Kamera tatsächlich aufnimmt, hinzufügt, indem Metz folgerichtig und durchaus im Sinne der russischen Avantgarde auch die Montage im Allgemeinen als Grundform der Trucage bezeichnet.5 Dieser Zuschuss, dessen bloße Sonderform der sogenannte »Kuleshov-Effekt« ist, beruht nun aber grundsätzlich darauf, dass der Zuschauer – sei dies auch nur aufgrund eines passiven Automatismus der Filmrezeption – den Film fortwährend mit etwas bereichert, was sich nicht direkt in seinem fotografischen Material befindet, indem er etwa einen kontinuierlichen Raum apperzipiert, den es vor der Kamera nie gab, einen Gefühlsausdruck imaginiert, den kein Darsteller je aufzeigte, oder eine spannungsvolle Situation erlebt, die sich nie abspielte. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, im Ausgang von Abbas Kiarostamis Film SHIRIN (2008) die empathische Bezugnahme des Zuschauers auf die filmischen Figuren als Sonderform dieser Mitwirkung des Zuschauers am Film zu verstehen.6

3

Metz, Christian: »Trucage et cinéma«, in: Essais sur la signification du cinéma, Paris: Klincksieck 1973, S. 183 (Übersetzung des Autors).

4

Souriau, Étienne: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«, in: montage/av 6/2 (1997 ), S. 140-157.

5 6

C. Metz: Trucage et cinéma, S. 189. Zum Thema der aktiven Zuschauerschaft, vgl. auch Hanich, Julian: »Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers – eine Annäherung«,

E INFÜHLUNG

UND

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Abbas Kiarostami hat sich schon früh mit dem Thema der Mitwirkung des Zuschauers am Film beschäftigt und in seinen eigenen Werken daraus radikale Konsequenzen gezogen. In einem Vortrag auf der Pariser Tagung Das Kino vor seiner zweiten Jahrhundertwende sieht Kiarostami 1995 die künftige Entwicklung des Kinos ausdrücklich im Zeichen einer wachsenden Tendenz, den Zuschauer grundsätzlich nicht länger bloß als passiven Rezipienten, sondern vielmehr als einen Partner zu betrachten, dessen Einsatz für die Konstitution des Films unentbehrlich ist. Kiarostami vertritt dabei seinerseits ein »halbfertiges« Kino, das erst durch den Beitrag und unter Kooperation der Zuschauers vervollständigt wird: »Ich glaube an ein Kino, das seinem Zuschauer mehr Zeit und mehr Möglichkeiten zulässt. Ein Kino, das halbfertig und unvollständig ist, das seine Vervollständigung erst durch die Kreativität des Zuschauers erlangt«7. Dabei setzt Kiarostami diesen eigenartigen Filmtypus den amerikanischen Standardfilmen entgegen, die als gebrauchsfertige Massenartikel in allen Hinsichten vollständig sind und somit dem Zuschauer keine Rezeptionsfreiheit zulassen, sondern ihn vielmehr zur Passivität eines bloßen Rezipienten verurteilen. In Kiarostamis Sicht kann der Zuschauer sich aus dieser Stellung erst dann befreien, wenn er eine aktive Rolle in der Konstruktion des Films übernimmt, d.h. wenn der Film selbst ihn mit Brüchen, Mängeln und Rätseln konfrontiert, die seine Anstrengung zur Lösung beanspruchen. Somit kann der Zuschauer nur dann kreativ in seinem Verhältnis zum Film werden, wenn der Film ein bloßer »Halbfilm« bleibt, wie Kiarostami ihn bezeichnet. Er plädiert damit für einen Film, der nicht vollständig ist und den Eingriff des Zuschauers benötigt, um fertiggestellt zu werden. Was Kiarostami dabei vorschwebt, ist allerdings gewöhnlich nur jene gesteigerte Interpretationsfreiheit, die die diffuse narrative Struktur seiner Filme ihren Zuschauern gewährt. So ist nämlich, dank der Ellipsen und Widersprüche, die seine Filme durchsetzen und somit vielfache Interpretationsmöglichkeiten zulassen, jeder Zuschauer frei, seine eigene Version des vorgegebenen Halbfilms abzuschließen, in Ausübung jener »interpretativen Kooperation«, die etwa auch Umberto Eco in seiner Analyse des gegenseitigen Verhältnisses zwischen dem literarischen Text und seinem Leser im Falle der »offenen Kunstwerke« beschreibt.8 Bedeutend ist hier allenfalls, dass der gesamte Prozess der Einbeziehung des Zuschauers als Mitwirkender in der Herstellung des Films in Kiarosta-

in: Julian Hanich/Hans Jürgen Wulff (Hg.), Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, Paderborn: Fink 2012, S. 7-33. 7

Kiarostami, Abbas: Textes, entretiens, filmographie complete, Paris: Cahiers du cinéma 2008, S. 122 (Übersetzung des Autors).

8

Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, Kapitel I.

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mis Sicht – wie schon in seinem Pariser Vortrag – notwendig mit einem bestimmten Rollenwechsel, genauer: mit einer Minderung der Rolle des Regisseurs im Film zusammenhängt. Indem der Zuschauer nämlich zum Teilzeit-Filmautor befördert wird, übt der Autor selbst nicht länger vollständig Kontrolle über alle Aspekte seines Films aus, sondern er kommt vielmehr seinerseits wenigstens vorübergehend dazu, auf die Position eines bloßen Zuschauers heruntergestuft zu werden. Unter Kiarostamis Filmen vollzieht SHIRIN (2008) diesen Rollenwechsel zwischen Autor und Zuschauer in ihrer empathischen Wechselbeziehung zu den dargestellten Filmfiguren in einer äußerst bemerkenswerten Weise.

S HIRIN Der Film ist anscheinend wenig ereignisvoll und somit leicht zusammenzufassen. Nach einigen Aufnahmen bunter Illustrationen aus einem alten persischen Manuskript wird uns schließlich eine lange Reihe Großaufnahmen von Zuschauerinnen gezeigt, die einen Film betrachten, den wir selbst nur hören, aber nicht sehen können. Es handelt sich demnach – wie dies schon öfters bemerkt wurde – um einen Film, der sich gerade der Filmbetrachtung als solcher, d.h. der Situation des Filmpublikums widmet. Wäre das der ganze Sinn der Sache, so wäre dies schon keineswegs geringzuschätzen. Denn obwohl es freilich zahlreiche Filme gibt, deren Szenen sich bisweilen in einem Kino abspielen,9 so begnügen sich doch die meisten davon damit, Zuschauer zu zeigen, die alles andere tun, als einfach den Film zu betrachten, beispielsweise sich vor einem Verfolger verstecken. Somit war der bloße Akt der Zuschauerschaft in der schlichten Banalität seiner charakteristischen Gesten, in den unterschiedlichen Schwankungen seiner Aufmerksamkeit usw. bisher ein zumeist übersehenes Thema im Film,10 während Kiarostamis SHIRIN nicht einfach eine Szene, sondern einen gesamten Spielfilm

9

Etliche solcher Szenen sind in der bekannten Anthologie CHACUN SON CINEMA (FR 2007) zu finden, die auch Kiarostamis ersten Versuch zum Thema, den Kurzfilm Where is my Romeo?, beinhaltet.

10 Man könnte hier etwa noch an Tsai Ming-liangs GOODBYE, DRAGON INN (TW 2003) denken, wobei der Fokus des Films letzten Endes doch wiederum ein anderer ist. Dasselbe trifft auch im Falle von Herz Franks TEN MINUTES OLDER (LV 1978) zu, eine Dokumentation die sich zwar ähnlich wie bei Kiarostami schlicht auf Zuschauerreaktionen richtet, dabei aber bloß die außergewöhnlichen Gefühlsreaktionen von Kindern und nicht das banale und unscheinbare Verhalten erwachsener Filmzuschauer verfolgt.

E INFÜHLUNG

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um dieses Thema gestaltet. Diese Themenwahl ist freilich schon an sich provozierend und damit in Übereinstimmung mit etlichen der jüngeren Filme Kiarostamis wie etwa FIVE DEDICATED TO OZU (IR 2003), doch zugleich bestätigt sie auch eine gewisse ältere Tendenz, die schon in seinen weniger experimentellen Filmen zum Ausdruck kam. Denn wenn wir mit Walter Benjamin eine grundlegende Funktion des Films in dessen Fähigkeit sehen, das »optisch Unbewusste«, d.h. jene Sphäre unserer Umwelt die unserem normalen Wahrnehmungsbewusstsein entgeht, zu erhellen, dann erweist sich Kiarostami in der Tat schon früh als ein Meister darin, Menschen so zu zeigen, wie sie niemand sieht11 – man erinnere sich hier etwa an die sorgsam registrierten Gesten der Frau in TEN (IR 2002), die sich allein in einem Auto beiläufig mit Blick in den Rückspiegel zurecht macht. SHIRIN stellt dabei eine Radikalisierung dieser Tendenz dar – denn man sieht ja Zuschauern bei der Filmbetrachtung gewöhnlich eben nicht zu – doch ist dies weiterhin bloß eine Oberflächenbeschreibung dessen, was in diesem Film tatsächlich geschieht. Was die in Kiarostamis Film aufgenommenen Zuschauerinnen betrachten, ist eine Adaption von Chosrau und Schirin, ein Epos des persischen Dichters Nezami aus dem XII. Jahrhundert. Das Epos verfolgt die verwickelte Liebesgeschichte zwischen dem persischen König Chosrau und der armenischen Prinzes-

11 Freilich wird damit Benjamins Begriff etwas weiter als gewöhnlich gefasst. In Benjamins Sicht bezieht sich nämlich der Gedanke des »optisch Unbewussten« primär auf die Fähigkeit der filmischen Repräsentation, aufgrund spezifischer Techniken wie Zeitlupe oder Zoom Dimensionen unserer sichtbaren Dingwelt aufzuzeigen, die normalerweise dem bloßen Auge nicht sichtbar sind. Indessen weist Benjamin selbst in einer kurzen Aufzeichnung aus dem Umkreis seines Kunstwerk-Aufsatzes auch auf eine andere mögliche Lesart des Begriffs hin, indem er sich auf den Gesichtsausdruck eines ruhenden Menschen bezieht. Dieser bezeugt, so Benjamin, ein Aussehen, das gewöhnlich höchstens seinen intimsten Vertrauten sichtbar ist, während sein öffentliches Aussehen gewöhnlich »auf der Hut« ist, in Bereitschaft anderen zu begegnen. Gerade darin liegt nun aber laut Benjamin einer der grundsätzlichsten Vorzüge des Films, dass er diesen primär unzugänglichen, privaten Bereich einer öffentlichen, kollektiven Betrachtung zugänglich macht. Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 297. Aufgrund dieser Anregung kann nun auch der Begriff des »optisch Unbewussten« in einem weiteren Sinn gefasst werden, um so all das zu bezeichnen, was unserem normalen Sichtfeld entgeht – sei dies wegen physiologischer Beschränkungen, wegen sozialer Hemmungen, oder einfach wegen der Verblendung einer allzu großen Vertrautheit – dabei aber durch den Film enthüllt werden können.

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sin Schirin. Nach zahlreichen Umwegen und Verzögerungen wird Letztere schließlich zur Gemahlin des Ersteren, kurz bevor beide zu Tode kommen: Chosrau wird von seinem eigenen Sohn aus Liebe für Schirin ermordet, während Schirin sich umbringt, um ihrem bösen Stiefsohn zu entgehen. Das Schauspiel, das Kiarostami als rein akustischen Hintergrund für seinen eigenen Film benutzt, vereinfacht diese Geschichte einigermaßen, indem es sie dem Standardmaß einer Filmdarstellung (90 Minuten) und der linearen Struktur eines filmischen Melodramas anpasst, das ähnlich wie soviele Melodramen mit dem üblichen Kunstgriff einer Rückblende ansetzt. Indessen ist die Geschichte selbst, deren Auswahl Kiarostami schon einige Mühe kostete – der erste Versuch zu diesem Thema im Kurzfilm WHERE IS MY ROMEO? bezog sich noch auf eine Adaptation von Shakespeares Romeo und Julia – hier weniger bedeutend als die eigentümliche Lage, in der der Zuschauer durch diesen Ansatz versetzt wird. Übrigens hat bei der Premiere des Films in Venedig eine anhaltende Störung der Untertitel seine ersten Zuschauer gezwungen, den Film ohne ein klares Verständnis der Geschichte im Hintergrund zu betrachten, während sich die Projektion dennoch nach Kiarostamis eigener Schilderung als ein Erfolg erwies. Darüber hinaus wollte Kiarostami laut einem Interview auf Basis desselben Materials auch eine Videoinstallation gestalten – das Projekt kam dann schließlich nicht mehr zum Abschluss –, in der auf die Geschichte im Hintergrund gänzlich verzichtet werden sollte.12 Die Installation sollte einen langen Korridor darstellen mit Bildschirmen auf beiden Seiten, auf denen simultan Großaufnahmen der hundert Zuschauerinnen aus SHIRIN ohne jeden akustischen Hintergrund gezeigt werden sollten. Was Kiarostami laut seiner eigenen Erklärung an diesem Projekt interessierte, war nun somit nicht die Geschichte, sondern vielmehr der Bezug, der sich zwischen dem Besucher der Galerie und den aufgenommenen Zuschauerfiguren herstellt, die etwas betrachten, was ihm selbst verschlossen bleibt. Dennoch wäre nun aber die Wirkung des SHIRIN-Films von der Abwesenheit der Tonspur gewiss beeinträchtigt. Denn hier kommt jenes Verhältnis zwischen dem Zuschauer des Filmes und der Zuschauerin im Film, das Kiarostami bezüglich seiner geplanten Installation beschreibt, gerade dadurch ausdrücklicher zum Vorschein, dass sich den zwei angeführten Seiten des Verhältnisses noch ein drittes Element hinzufügt: die Figuren der Geschichte von Chosrau und Schirin, die wir auf der Tonspur vernehmen. In der Tat beruht die gesamte Wirkungskraft des Films auf der eigentümlichen Weise, wie sich die abgebildeten Zuschauerin-

12 Vgl. Khoshbakht, Ehsan: »Abbas Kiarostami, Up Close«, https://www.fandor.com/ keyframe/abbas-kiarostami-up-close (24.8.2016).

E INFÜHLUNG

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nen auf der Leinwand in ihrer Abfolge und die Ereignisse auf der Tonspur aufeinander auswirken. Wenn nämlich Kiarostami in etlichen seiner Interviews ausdrücklich seine Bewunderung für Robert Bresson und insbesondere für dessen Überlegungen zum Verhältnis von Bild und Ton erklärt, so passt vielleicht keine besser zu der eigenartigen Weise, in der Bild und Ton in SHIRIN miteinander um die Aufmerksamkeit des Zuschauers wetteifern, als diese: »Ist nur das Auge gefordert, wird das Ohr ungeduldig, ist nur das Ohr gefordert, wird das Auge ungeduldig. Die Ungeduld nutzen. Macht des Kinematografen, der sich an zwei Sinne richtet, auf regulierbare Weise.«13 Aus dieser Sicht ist freilich leicht ersichtlich, weshalb Jonathan Rosenbaum SHIRIN als eine audio-visuelle Variation des Kuleshov-Effektes bezeichnen konnte.14 Denn laut Kiarostamis eigener Schilderung wurden die Zuschauerinnen, die wir auf der Leinwand als vermeintliches Publikum betrachten und die zumeist bekannte Schauspielerinnen sind, in Wirklichkeit in seinem eigenen Haus vor einer beleuchteten Wand aufgenommen, indem Kiarostami sie bloß dazu aufforderte, sich irgend eines Ereignisses in ihrer Vergangenheit zu entsinnen. So improvisieren sie eigentlich nur blindlings die Gesten und Haltungen eines Filmzuschauers, während ihre Aufnahmen dann aufgrund der Zusammenstellung mit der Geschichte von Chosrou und Schirin auf der Tonspur ähnlich Bedeutung erhalten wie der blanke Gesichtsausdruck des Schauspielers Mosjukin in Kombination mit anderen Aufnahmen in den Experimenten Kuleshovs. Indessen hat das Wechselspiel von Bild und Ton in SHIRIN auch noch eine weitere und aus unserer Sicht wichtigere Folge, indem es zwischen dem realen Zuschauer des Films, dem abgebildeten Publikum auf der Leinwand und den akustischen Ereignissen auf der Tonspur ein eigenartiges Netz empathischer Resonanzbezüge herstellt.

E MPATHISCHE S TUFENGEBILDE In einem Interview beschreibt Kiarostami seinen Film wie folgt: »was der Zuschauer auf der Leinwand betrachtet, ist seine eigene Geschichte, so wie sie auf

13 Bresson, Robert: Notizen zum Kinematographen, Berlin: Alexander-Verlag 2007, S. 53. 14 Rosenbaum, Jonathan: »Kiarostami’s SHIRIN: A Fiction« (veröffentlicht am 31.8. 2008). https://www.jonathanrosenbaum.net/2008/08/kiarostamis-shirin-a-fiction/ (24. 8.2016).

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dem Gesicht der Personen, die er betrachtet, sichtbar wird.«15 Diese Beschreibung wird von etlichen zuschauerpsychologischen Überlegungen unterstützt, die Kiarostami in einem anderen Interview, etliche Jahre später, ausführt. Auf die Frage des Interviewers, der nahelegt, dass man »auf den Kummer anderer Leute im Film […] eigentlich stets mit dem eigenen Gram, der einem die Tränen in die Augen bringt«, reagiert, bestätigt Kiarostami: »Ja, die Leute suchen bloß einen Vorwand, um über ihre eigenen Sorgen und Leiden zu weinen«, und fügt gleich hinzu: »Die Ereignisse auf der Leinwand können von der Vergangenheit und von den Erinnerungen des Zuschauers durchaus nicht getrennt werden.«16 Etliche Äußerungen in der Geschichte von Schirin reflektieren diesen Gedanken:

15 Mohammad, Arsalan: »A Conversation with Kiarostami « (veröffentlicht am 5.1.2009). http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/tehranbureau/2009/01/a-conversation-withkiarostami.html (24.8.2016). 16 Khoshbakht, Abbas Kiarostami, Up Close.

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Wenn wir nun aber von der Tatsache ausgehen, dass diese eigenartige Interferenz zwischen dem Zuschauer und den Filmfiguren in SHIRIN buchstäblich auf dem Angesicht der filmisch dargestellten Zuschauerfiguren stattfindet, so können die in Kiarostamis Kommentar angedeuteten Einsichten aus einer phänomenologischen Perspektive aufgrund der Überlegungen Husserls näher ausgeführt und verdeutlicht werden. In der fünften Cartesianischen Meditation unternimmt Husserl seine wohl bekannteste phänomenologische Analyse der »Einfühlung« oder »Fremdwahrnehmung«.17 Sie gilt in Husserls eigener Darstellung vornehmlich der Absicht, zu zeigen, worauf sich für ein Ego überhaupt das apperzeptive Bewusstsein eines Alter Ego gründet, das ihm in leibhaftiger Gegenwart wahrnehmungsmäßig vorgegeben ist. Der zentrale Begriff dieser Analyse ist jener der Paarung, ein Terminus der in Husserls Auslegung eine eigenartige »Synthesis der Assoziation« bezeichnet und der hier zunächst folgenderweise definiert wird: »In einer paarenden Assoziation ist das Charakteristische, dass im primitivsten Falle zwei Daten in der Einheit eines Bewußtseins in Abgehobenheit anschaulich gegeben sind und aufgrund dessen wesensmäßig schon in purer Passivität, also gleichgültig ob beachtet oder nicht, als unterschieden Erscheinende phänomenologisch eine Einheit der Ähnlichkeit begründen, also eben stets als Paar konstituiert sind.«18 So werden etwa zwei gleiche Gegenstände in unserem Wahrnehmungsfeld automatisch für uns zusammengekoppelt. Wenn nun aber Husserl auch im Falle der Fremdwahrnehmung von einer Paarung spricht, so kennzeichnet sich diese durch zweierlei. Zum einen dadurch, dass hier nicht einfach zwei isomorphe Gegenstände im Feld – etwa zwei Leiber in schlichter Außenperspektive –, sondern vielmehr ein Gegenstand im Feld (der fremde Leib) und ein Gegenstand der zwar im Bezug zum Feld präsent ist, aber nicht seinerseits als äquivalenter Gegenstand im Feld fungiert (der eigene Leib), in Korrelation treten. In der Fremdwahrnehmung bilden mein Leib und der fremde Leib passiv ein Paar, doch dies beruht keineswegs bloß auf der Tatsache, dass sich beide rein äußerlich als Leiber ähneln. Zum anderen aber bringt die Paarung hier, dadurch dass

17 Bei Husserl wird der Terminus »Einfühlung« allgemein als Äquivalent der Fremderfahrung überhaupt gebraucht, indem Husserl sogar ausdrücklich bemerkt, dass der Begriff an sich eigentlich insofern unpassend ist, als er eine Art emotionale Versetzung in ein fremdes Subjekt zu implizieren scheint. Einfühlung ist nämlich für Husserl selbst eigentlich gar kein »Fühlen«. Vgl. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil (1905-20), Den Haag: Nijhoff 1973a, S. 335. 18 Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen , Hamburg: Meiner 1995, S. 142.

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sie nicht einfach zwei Gegenstände im Feld zusammenkoppelt, sondern den eigenen Leib in ein intentionales Verhältnis engagiert, nicht bloß eine indifferente intentionale Einheit, die gegenständlich erfasst wird, sondern zugleich auch eine Modifikation des Selbstbezugs ins Spiel, die Husserl bisweilen auch als »Betroffenheit« bezeichnet. Jeder fremde Leib, der für mich in Erscheinung tritt, stellt somit unmittelbar ein apperzeptives Gegenpart meines eigenen Leibs dar, mit dem es automatisch in eine anschauliche Verbindung, genauer: in ein Resonanzverhältnis eingeht. Husserl selbst beschreibt diesen Prozess mit der Behauptung, die Erscheinungsweise des anderen Leibes »erinnere« mich fortwährend »an mein körperliches Aussehen, wenn ich dort wäre«,19 indem er dies ebensowohl auch als eine »Fernüberschiebung« bezeichnet, aufgrund welcher die Erfahrung des fremden Leibes fortlaufend mit der Erfahrung meines eigenen Leibes kommuniziert.20 Zwei Jahre vor seinen Pariser Vorträgen, aus denen späterhin die Cartesianischen Meditationen erwachsen sollten, und vor der Einführung des Begriffs »Paarung«, verwendete Husserl 1927 für die Bezeichnung dieser Bezüge interkorporeller Gegenseitigkeit noch den Begriff der »Spiegelung«, indem seine Be-

19 Ebd., S. 147. 20 Zu Husserls Begriff der Einfühlung, vgl. auch Ferencz-Flatz, Christian: »Zur »Anschaulichkeit« der Einfühlung bei Husserl«, in: Tijdschrift voor Filosofie 76/1 (2014), S. 87-118. Im Unterschied zu den meisten Auslegungen der Husserlschen Intersubjektivitätslehre, die in der Fremdwahrnehmung vorwiegend das Moment des Zusammenspiels von selbstgebender Präsentation (des fremden Leibkörpers) und bloßer Appräsentation (des fremden Bewußtseinslebens) betonen und dabei die Ähnlichkeit des eigenen und des fremden Leibes bloß akzessorisch zur Begründung jener Appräsentation erwähnen (vgl. Held, Klaus: »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie«, in: Ulrich Claesges/Klaus Held (Hg.), Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Für Ludwig Landgrebe zum 70. Geburtstag von seinen Kölner Schülern, Den Haag: Nijhoff 1962, S. 39-42; Arnold, Thomas: »Gedankenlesen und Gedanken lesen. Über das Verhältnis der Präsentationsmodi in den Phänomenen der Empathie mit realen und fiktiven alter egos«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, Paderborn: Fink 2013, S. 283-298 u.a.), versucht die vorliegende Interpretation vielmehr das Geschehen der Paarung an sich als eigenständiges und entscheidendes Erfahrungsmoment der Einfühlung phänomenologisch zu bewerten. Damit wird allerdings ein Moment in Husserls Auslegung der Einfühlung betont, das dann auch in Merleau-Pontys Ansatz zum Intersubjektivitätsproblem stark in den Vordergrund tritt.

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schreibungen dieser Phänomene grundsätzlich mit der Feststellung endeten, der eigene Leib und der Leib des Anderen »spiegeln« einander im Vollzug der Fremdwahrnehmung. Dieser Begriff wurzelt vermutlich zunächst in Husserls Versuch, seine Auffassung der Intersubjektivität Ende der zwanziger Jahre in einer an Leibniz anschließenden Perspektive und Terminologie neu zu überdenken. In Leibniz’ Monadologie sollte nämlich in der Tat jede Monade alle anderen fortwährend spiegeln, wobei dies bei Leibniz eine notwendige Folge dessen war, dass die Monaden als »fensterlos« bestimmt werden. Denn da die Monaden unfähig sind den Bereich der Immanenz zu transzendieren, um zur äußeren Welt zu gelangen, können sie ihre Perzeption offensichtlich bloß auf den Bildern ausüben, die sie in sich tragen, so wie der Spiegel das Bild der reflektierten Welt in sich trägt. Bei Husserl erhält der Begriff indessen eine viel konkretere Bedeutung, indem er gerade jene Fernüerschiebung bezeichnet, die in der Fremdwahrnehmung fremde und eigene Leiblichkeit miteinander paart: »So ›spiegelt‹ sich die fremde Subjektivität in der meinen, indem sie sich mit ihr deckt.«21 Ähnlich wie sich im Falle der Selbstbetrachtung im Spiegel die Außenperspektive meiner Reflexion durch den Vollzug der Rückspiegelung mit meiner Innenperspektive diesseits des Spiegels deckt, so dass ich mich zugleich im Spiegel ansehe und den gesehenen Außenleib »fühle«, ist auch die Fremdwahrnehmung in Husserls Sicht so etwas wie ein Ansatz zur Rückspiegelung, der allerdings nicht komplett durchgeführt werden kann, wobei eben dieses intentionale Phänomen späterhin als Paarung bezeichnet werden soll. Der Begriff der Spiegelung ist indessen zugleich auch für eine Interpretation der in SHIRIN beschriebenen Situation kinematografischer Rezeption erhellend, da hier die für uns nur auf der Tonspur wahrnehmbaren Figuren, die von den Zuschauerfiguren auf der Leinwand betrachtet werden, als solche gerade dadurch konstituiert sind, dass sie sich – in einer eigenartigen Veranschaulichung der Husserl’schen Auffassung – auf den Gesichtern der dargestellten Zuschauer spiegeln. Diese Einsicht wird zudem in einer von Schirin selbst geäußerten reflexiven Frage berührt:

21 Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil (1921-28), Den Haag: Nijhoff 1973b, S. 502. Vgl. dazu auch Lotz, Christian: »Mitmachende Spiegelleiber. Anmerkungen zur Phänomenologie der konkreten Intersubjektivität bei Husserl«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56/1 (2002), S. 72-95.

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Dies ist hier indessen keineswegs bloß eine Metapher, sondern vielmehr eine buchstäbliche Umschreibung des intersubjektiven Effekts, auf den der Film seine eigenartige Wirkung gründet. Denn während der gesamten Dauer des Films werden wir uns fortwährend nicht nur der stetigen Kommunikation zwischen der vermeintlichen Vergangenheit der Zuschauerinnen auf der Leinwand und den Erfahrungen der Figuren auf der Tonspur, mit denen sie sich empathisch einlassen, bewusst, wie Kiarostami dies nahelegt, sondern diese Figuren erhalten darüber hinaus für uns schlichtweg visuell die Angesichter der dargestellten Zuschauerinnen, in denen sie sich »spiegeln«; d.h. sie werden apperzeptiv verkörpert durch ihren flüchtigen Abglanz auf den Gesichtern, mit denen sie sich für uns paaren, indem wir somit eigentlich auf der Leinwand eben die fortlaufende Variation eines interkorporellen Geschehens – hundert Spiegelbilder von Schirin im Wechsel – betrachten. Wenn Husserl selbst aber in seinen Werken öfter, etwa bezüglich der Bilder oder der Erinnerungen zweiter Stufe (d.h. der Bilder von Bildern oder der Erinnerungen von Erinnerungen), von »intentionalen Stufengebilden« spricht, so bringt Kiarostamis Film damit offensichtlich ein analoges Phänomen im Bereich der Einfühlung ins Spiel, indem er uns eben eine Fremdwahrnehmung zweiter Stufe (die Fremdwahrnehmung einer Fremdwahrnehmung) als Zuschauer erfahren lässt.

E INFÜHLUNG UND R EFLEXION Wenn wir nun aber den Film aus dieser Perspektive betrachten, so beschreibt er offensichtlich für uns zunächst die Situation einer durchgehend empathischen Filmrezeption, in der die Zuschauer mit den Figuren in einem tiefgreifenden Resonanzverhältnis stehen. Indessen ist es in diesem Zusammenhang wichtig festzustellen, dass diese Rezeptionsform nicht eigentlich der Weise entspricht, in der

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Kiarostamis Film selbst rezipiert werden will. Kurzum: SHIRIN thematisiert ein Modell kinematografischer Rezeption, das es andererseits mitnichten selbst zu verkörpern trachtet. Im Gegenteil: Eben dieses Modell wird fortwährend durch einige der auffallendsten Effekte des Films infrage gestellt. Auf drei dieser Effekte soll hier kurz näher eingegangen werden. a) Zunächst fällt einem aufmerksamen Betrachter des Films sogleich die eigenartige Weise auf, in der die empathischen Interferenzen zwischen den Figuren auf der Tonspur und dem dargestellten Publikum auf der Leinwand aufgrund der Montage instrumentalisiert wird. Während der Film nämlich jenen vorhin besprochenen Effekt der Ferndeckung oder Spiegelung zwischen den beiden auslöst – indem die Figuren der Schirin-Geschichte intermittierend durch und mit den Angesichtern ihrer empathischen Zuschauerinnen visualisiert sind – erfolgt die Assoziation von Bild und Ton aufgrund der Montage so, dass ihre Entsprechung fortwährend gestört und verwirrt wird, indem der Bildschnitt niemals genau mit einer Veränderung auf der Tonspur übereinstimmt.22 Zumeist spricht da eine Figur auf der Tonspur – etwa Schirin selbst – und wir beginnen sie immer prägnanter mit den Gesichtszügen der gerade auf der Leinwand erscheinenden Zuschauerin zu assoziieren. An dieser Stelle wird nun Kiarostami niemals mit dem Schnitt abwarten, bis die Figur auf der Tonspur ihre Rede beendet, um das Bild und somit die betrachtete Zuschauerin zu wechseln, sondern er wird stets das Bild in der Mitte der Rede unterbrechen und somit unsere empathische Assoziation in ihrer vollen Ausübung stören. Zudem kontrastiert die neu erscheinende Betrachterin zumeist auffallend durch ihre Physiognomie oder durch ihr Alter mit der Vorangehenden, was unsere empathische Assoziation fortwährend überrascht und unsere gesamte Perspektive auf die so apperzipierte Figur der Schirin-Geschichte umwirft. In der Tat machen nun aber gerade diese wohl berechneten Störungen unserer empathisch widerspiegelten Bezugnahme auf die Figuren, diese Bezugnahme selbst ausdrücklich sichtbar für uns, indem sie unsere Aufmerksamkeit reflexiv auf ihren sonst impliziten Vollzug lenken. Somit wird in Kiarostamis Film die Struktur der empathischen Rezeption nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Tatsache thematisch, dass der Film diese Rezepti-

22 Die Diskordanz zwischen Bild und Ton wird emblematisch im Vorspann und Nachspann des Films thematisiert. Während der Vorspann in kompletter Stille mit den schon erwähnten persischen Illustrationen beginnt und die Musik der SchirinGeschichte erst später plötzlich anstimmt, so setzt der Nachspann ebenso unerwartet vor Ende der Geschichte auf der Tonspur ein, indem die letzten Repliken auf der Tonspur noch vor dem Hintergrund des Verzeichnisses der Filmbesetzung auf der Leinwand laufen.

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onsweise systematisch verstört. Der Hinweis auf Bertolt Brechts Kritik der empathischen Rezeption ist wohl in diesem Zusammenhang ein Gemeinplatz, doch er ist hier nicht bloß deshalb berechtigt, weil Brecht ebenfalls der unmittelbaren Einfühlung des Zuschauers eine distanziertere, reflexive Rezeptionsweise entgegensetzte, sondern vornehmlich weil Brecht selbst in seinem Arbeitsjournal öfters einsieht, dass die Aufhebung der Einfühlung durch Aufwand von Verfremdungseffekte weiterhin auf einen bestimmten Einsatz der Einfühlung fußt und somit gerade eine Wechselwirtschaft dieser beiden Rezeptionsweisen vorschlägt,23 die auch Kiarostami in SHIRIN – zwar nicht sowohl zur Kritik, als vielmehr zur Darstellung der filmischen Empathie – prägnant einsetzt.24 b) Zweitens sind wir bei der Betrachtung des Films mehrfach und offenbar zufällig mit einer seltsamen Situation konfrontiert, wenn wir uns plötzlich im Wechsel der Betrachterinnen auf der Leinwand einer Figur gegenüber sehen, die dieselbe leibliche Haltung einnimmt wie wir, etwa mit dem Kopf in den Händen oder leicht zur Seite geneigt. Dieser Effekt ist durchaus verblüffend, denn die somit hergestellte vollständige leibliche Übereinstimmung mit der Figur steigert keineswegs unsere Immersion in den Film, indem sie etwa unser empathisches Resonanzverhältnis verstärkt, sondern sie unterbricht dieses Verhältnis eben, indem sie in uns dasselbe Unbehagen hervorruft, das wir normalerweise empfinden, wenn jemand uns nachäfft oder eine Person aus Zufall neben uns dieselbe Stellung einnimmt wie wir. Situationen dieser Art sind zwischenleiblichen Schocks zu vergleichen, die uns automatisch dazu bewegen, unsere Haltung zu ändern. Es ist dabei freilich schwer zu entscheiden, inwiefern dieser Effekt hier tatsächlich im Detail absichtlich eingesetzt wird oder überhaupt werden kann, aber es ist dennoch gewiss, dass die Haltungen der dargestellten Figuren genügend mannigfaltig sind und die Situation ihrer Aufnahme durch uns derart gestaltet wird, dass solche Zufälle fast unvermeidlich eintreffen. Freilich ist die stark gegenempathische Wirkung solcher Momente an sich insofern paradox, als dieser Effekt ja gerade durch eine Steigerung und nicht durch eine schlichte Störung jener zwischenleiblichen Korrespondenz, die als Grundlage der (nicht bloß filmischen) Empathie überhaupt gilt, zustande kommt. Die empathische »Spiegelung« zwischen dem realen Zuschauer und der im Film gezeigten Zuschauerin

23 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1942, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 224 und 239. 24 Als Verfremdungseffekte bezeichnete Brecht eine Reihe dramatischer Techniken – wie Unterbrechungen, grobe Stilisierungen, skurrile Lieder u.ä. –, die der emotionalen Einfühlung in das repräsentierte Geschehen entgegenwirken und dem Zuschauer eine kritische Stellungnahme zu den behandelten Themen erlauben.

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scheint hier, so könnte man sagen, so kritisch buchstäblich zu werden, dass sie schlichtweg entgleist, was auch zeigt, wie wesentlich jenem Husserl’schen »wie wenn ich dort wäre« der Fremdwahrnehmung Unerfüllbarkeit und Differenzbewusstsein eingeschrieben sind. c) Drittens sind dann die expressiven Reaktionen der Zuschauerfiguren auf der Leinwand zu den von ihnen betrachteten Filmszenen stets nur unvollkommen an die Geschichte auf der Tonspur angepasst. Freilich könnte dies unter den eigenartigen Umständen, unter denen der Film laut Kiarostamis Bericht gedreht wurde, als ein unbeabsichtigter Mangel betrachtet werden. Schließlich werden hier zwei durchaus unterschiedliche Materialien miteinander verknüpft: zum einen die Bilder der Schauspielerinnen, die sich irgendeiner zufälligen biografischen Begebenheit erinnern, und zum Anderen eine akustisch vermittelte Geschichte, die nachträglich ohne jeden direkten Zusammenhang zu den Bildern hergestellt wurde. Somit musste offensichtlich die Übereinstimmung dieser beiden Elemente, trotz der besten Anstrengungen sie aufeinander abzustimmen, dennoch unvermeidlich gewisse Unstimmigkeiten aufweisen. Dem Einwand ist freilich nicht zu widersprechen, nur entgeht einem dabei der wesentliche Umstand, dass diese Diskrepanzen keineswegs zum Nachteil von Kiarostamis Film wirken, sondern diesen vielmehr mit zwei weiteren Momenten bereichern. Zum einen legen sie für den Zuschauer bezüglich der Geschichte von Chosrau und Schirin die Vermutung nahe, dass es neben der Tonspur hier auch eine visuelle Dimension des Films gibt, zu der wir keinen Zugang haben und die in den Zuschauerinnen Reaktionen auslösen, die wir daher nicht schlichtweg nachvollziehen können. Jene Zuschauerinnen könnten also auf visuelle Details reagieren, die wir selbst nicht wahrnehmen können. Zum anderen kommt aber damit die Tatsache zum Ausdruck, dass die gerade ablaufende Szene der Geschichte, auf die wir anders als die dargestellten Betrachterinnen zu reagieren tendieren, bei ihnen eben auf einen anderen biografischen Hintergrund trifft und somit andere Resonanzprozesse auslöst. Aus dieser Sicht bekräftigen diese Diskrepanzen offensichtlich gerade Kiarostamis Bemerkung: »[D]ie Ereignisse auf der Leinwand können von der Vergangenheit und von den Erinnerungen des Zuschauers durchaus nicht getrennt werden.«25 Während der Zuschauer von SHIRIN unablässig dazu tendiert, mittels einer Einfühlung zweiter Stufe sich jenseits der Betrachterfiguren schlichtweg auf die von ihnen betrachtete Geschichte zu beziehen – was öfters zu Kurzschlüssen zwischen den beiden Stufen führt –, stören die von Kiarostami bemühten Effekte diesen Durchblick fortwährend, indem sie ihm

25 Khoshbakht, Abbas Kiarostami, Up Close.

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reflexiv eben die Stufenfolge der hier mitspielenden empathischen Investitionen explizit zu Bewusstsein bringen.

S CHLUSS Kiarostami hat ausdrücklich die Weise, in der amerikanische Mainstreamfilme die emotionalen Reaktionen ihres Publikums steuern – indem sie etwa musikalische Themen aufgreifen, die ihm den Befehl erteilen: »werde sentimental!« –, mit der totalen Kontrolle des Filmautors über den Film in Zusammenhang gesetzt, die dem Zuschauer keinen Spielraum zur Interpretation gewährt. In einem solchen Film, den Kiarostami als filmisches Fertigprodukt bezeichnet, sind alle möglichen Variablen schon auf Weisung des diktatorischen Autors vorbestimmt und somit auch die Reaktionen des Publikums vorentschieden. Im Gegensatz zu diesem Muster strebt die diffuse, elliptische und fragmentarische Weise, in der die Reaktionen des dargestellten Publikums in SHIRIN aufgrund der drei vorhin besprochenen Effekte reflektiert werden, grundsätzlich einen Rückzug des Autors aus dem Film zugunsten des jeweiligen Zuschauers an. Dies betrifft nicht bloß das Verhältnis der Zuschauer zum Film und seiner Figuren, sondern ebenso ihr Verhältnis zueinander. Kiarostami hat wiederholt kundgetan, dass er sich im Kino gerne von der Leinwand abwendet, um seine Mitzuschauer zu betrachten und somit den Film bloß indirekt, gleichsam in seiner empathischen Spiegelung zu verfolgen. SHIRIN stellt dabei offensichtlich den Versuch dar, dieses Experiment auch förmlich auf Film darzustellen. Somit bringt der Film nicht bloß Fragen bezüglich der empathischen Bezugnahme auf die Filmfiguren, sondern ebensowohl auch Fragen bezüglich des intersubjektiven Verhältnisses zu den Mitzuschauern ins Spiel. Wenn wir nun Kiarostamis Film aus dieser Sicht, also aus Sicht des Verhältnisses zwischen der eigenen Reaktion und jene der (seien sie auch nur virtuellen) Mitzuschauer zum Film, betrachten, so gibt es vermutlich keinen schärferen Gegensatz zu dem Kiarostami vorschwebenden Muster kinematografischer Rezeption als die sogenannten »Lachkonserven«, die bei TV-Komödien vom Band abgespielt werden. Denn wenn bei Letzteren das Publikumsgelächter in einer vollkommen eindeutigen Korrespondenz, ausdrücklich und präzise wie Interpunktionszeichen die Momente diktatorisch vorgibt, an denen gelacht werden soll, so erfährt dieses Muster bei Kiarostami, mit der differenzierten Bezugnahme auf die Figuren ihrerseits eine Differenzierung, indem die Reaktionen des dargestellten Publikums uns selbst keine eindeutige Reaktion vorgeben. Freilich ist dabei auch der Umstand zu bedenken, dass die narrative Unterlage des Films ein Me-

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lodrama und keine Komödie ist, während man das Weinen einem wohl nicht ebenso vorspielen kann wie das Lachen. Nun gibt es aber in Kiarostamis Film, neben den mannigfaltigen Szenen, in denen die Zuschauerfiguren weinen, auch eine prägnante Lachszene, deren eigenartige Inszenierung durchaus aufschlussreich ist. Sie beginnt mit einer bestimmten Ungewissheit, ob das Gelächter, das wir hören, tatsächlich von den Zuschauerfiguren oder eher von der betrachteten Filmgeschichte ausgeht. Wäre Letzteres der Fall, so wäre dies die erste und einzige Szene, die zudem auch die kollektive Seite der Filmrezeption direkt hervorhebt, doch im Fortgang der Szene wird es immer offensichtlicher, dass das Gelächter eigentlich einem lustigen Gastmahl der Tonspur-Geschichte entstammt. Zudem sind die Reaktionen der verschiedenen Zuschauerfiguren während dieser gesamten Szene nicht wirklich konsistent. So sehen wir beispielsweise öfter in derselben Aufnahme zwei Figuren – die eine in Nahaufnahme, die andere im Hintergrund – wobei bloß die eine lächelt, während die andere gänzlich ungerührt scheint. Danach wird sogleich auf die nächste Figur geschnitten, die kaum lächelt, während dann die nächste wiederum todernst dahinblickt und die nächste aus vollem Herzen lacht usw.

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Während diese Effekte nun ebenfalls zur Destabilisierung unserer indirekten empathischen Bezugnahme auf die Figuren der Schirin-Geschichte beitragen, indem sie fortwährend verfremdende Ungewissheiten in unserer Auffassung jener Szenen ins Spiel bringen, heben sie zugleich auch ein Muster der intersubjektiven Bezüge zwischen den jeweiligen Zuschauern selbst hervor (insofern wir die Zuschauerfiguren auf der Leinwand als virtuelle Mitzuschauer betrachten). In dieser Hinsicht scheint Kiarostami allerdings zunächst eher konservativ zu sein, indem er allem Anschein nach die traditionelle These vertritt, die immersive Rezeption des Films impliziere letztendlich die Vereinzelung des Zuschauers und seine Abtrennung von den Mitzuschauern – ähnlich heißt es bekanntlich auch bei Bazin: »Der Kinosaal setzt sich aus einer Menge von einsamen Individuen zusammen«26 –, während kollektive Reaktionen wohl bloß aufgrund der standardisierten Zuschauermanipulation möglich erscheinen. Indessen kommt im Ansatz des Films doch auch eine andere Sichtweise zum Ausdruck, gemäß welcher sich in der Erfahrung des Films durchgehend Autor und Zuschauer, Zuschauer und Mitzuschauer, und allesamt mit den Figuren der betrachteten Geschichte in einem komplexem Netzwerk intersubjektiver Bezüge verschränken, wobei Positionsänderungen auf der Seite des Autors entsprechende Änderungen auf der Seite des Zuschauers, und Einstellungsänderungen im Bezug zu den Mitzuschauern Modifikationen im Bezug zu den Figuren bewirken. In diesem Zusammenhang wäre aber auch das Problem der Empathie im Film prinzipiell neu zu stellen, indem damit nicht länger wie üblich bloß das Verhältnis des einzelnen Zuschauers zur einzelnen Filmfigur gemeint ist, sondern vielmehr drei Stufen intersubjektiver Bezugnahme – das Verhältnis des Zuschauers zu seinen Mitzuschauern, zu dem »empathischen Feld«27 der Filmfiguren und zu dem direkt oder indirekt vermeinten Autor – die fortwährend miteinander kommunizieren. Etwas von dieser Kommunikation zwischen Autor, Zuschauer und Figur sollte auch im vorliegenden Beitrag anhand von Kiarostamis Film aufgezeigt werden.28

26 Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander-Verlag 2009, S. 214. 27 Der Begriff geht bekanntlich auf Hans J. Wulff zurück, vgl. Wulff, Hans J.: »Das empathische Feld«, in: Jan Sellmer/ Hans J. Wulff (Hg.), Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase?, Marburg: Schüren 2002, S. 109-121. 28 Diese Verhältnisse möchte der Verfasser in einem laufenden Forschungsprojekt am Husserl Archiv der Universität zu Köln unter dem Titel »Film als soziale Erfahrung« mit der Unterstützung der Alexander von Humboldt Stiftung untersuchen.

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L ITERATUR Arnold, Thomas: »Gedankenlesen und Gedanken lesen. Über das Verhältnis der Präsentationsmodi in den Phänomenen der Empathie mit realen und fiktiven alter egos«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, Paderborn: Fink 2013, S. 283-298. Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander-Verlag 2009 [franz. erstmals 1958-62]. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938-1942, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. Bresson, Robert: Notizen zum Kinematographen, Berlin: Alexander-Verlag 2007 [franz. erstmals 1975]. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 [ital. erstmals 1962]. Ferencz-Flatz, Christian: »Zur ›Anschaulichkeit‹ der Einfühlung bei Husserl«, in: Tijdschrift voor Filosofie 76/1 (2014), S. 87-118. Hanich, Julian: »Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers – eine Annäherung«, in: Julian Hanich/Hans Jürgen Wulff (Hg.), Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers, Paderborn: Fink 2012, S. 7-33. Held, Klaus: »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie«, in: Ulrich Claesges/Klaus Held (Hg.), Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Für Ludwig Landgrebe zum 70. Geburtstag von seinen Kölner Schülern, Den Haag: Nijhoff 1972, S. 39-42. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil (1905-20), Den Haag: Nijhoff 1973a. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil (1921-28), Den Haag: Nijhoff 1973b. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen, Hamburg: Meiner 1995 [erstmals 1950]. Kiarostami, Abbas: Textes, entretiens, filmographie complete, Paris: Cahiers du cinéma 2008. Lotz, Christian: »Mitmachende Spiegelleiber. Anmerkungen zur Phänomenologie der konkreten Intersubjektivität bei Husserl«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56/1 (2002), S. 72-95.

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Metz, Christian: »Trucage et cinéma«, in: Essais sur la signification du cinéma, Paris: Klincksieck 1972. Pudovkin, Wsewolod: Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze, Erinnerungen, Werkstattnotizen, Berlin: Henschel 1983. Souriau, Étienne: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie«, in: montage/av 6/2 (1997), S. 140-157 [franz. erstmals 1951]. Wulff, Hans J.: »Das empathische Feld«, in: Jan Sellmer/ Hans J. Wulff (Hg.), Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase?, Marburg: Schüren 2002, S. 109-121.

Von Angesicht zu Angesicht. Die Herstellung von Subjektivität in Delmer Daves’ D ARK PASSAGE V IVIAN S OBCHACK Da die Form beständig die Manifestation des Anderen verrät – sie gerinnt in eine plastische, nämlich dem Selben angeglichene Form –, entfremdet sie die Exteriorität des Anderen. EMMANUEL

LÉVINAS,

TOTALITÄT

UND

UNENDLICHKEIT1 Es gibt unterschiedliche Arten, ein Gesicht zu sein. EMMANUEL LEVINAS, »ON OBLITERATION«2

E RSTE P ERSON P ARALLAXE Es gibt einen unheimlichen Moment recht früh in Delmer Daves’ DARK PASSAGE (US 1947, DIE SCHWARZE NATTER / DAS UNBEKANNTE GESICHT), der das Paradox – oder besser: die Parallaxe – der verkörperten Subjektivität sichtbar macht. Auch wenn wir Vincent Parry noch nicht »gesehen« haben, einen Sträf-

1

Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München: Alber 1987, S. 87.

2

Lévinas, Emmanuel: »On Obliteration: Discussing Sacha Sosno«, in: Art & Text 33 (Winter 1989), S. 30-41, hier S. 38.

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ling, der fälschlicherweise beschuldigt wird, seine Frau getötet zu haben, so ist er doch in einem von mehreren großen Metallfässern versteckt aus San Quentin entkommen, die auf der offenen Ladefläche eines Lastwagens befördert werden. Der einzige objektiv sichtbare Hinweis auf seine Präsenz besteht in einem Paar Händen, die den Rand des runden Behälters von innen festhalten, als der Lastwagen eine verlassene Straße entlang fährt. Wir sehen dann, dass der Behälter von innen geschaukelt wird, bis er vom Wagen fällt und einen Hügel hinunterrollt, eine Bewegung, während der wir plötzlich auf schwindelerregende Weise an Vincents desorientierender Sicht aus dem rotierenden Behältnis hinaus teilhaben. Diese erste Verwendung der Kamera in der ersten Person ist kurz, aber kinetisch wirkungsvoll. Der rotierende Blick verschwimmt und verdunkelt sich, ehe wir uns wieder, objektiv, außerhalb der rollenden Tonne befinden, die plötzlich in einem Bach unter einer Highway-Überführung zum Liegen kommt. In diesem Moment wird die gesamte Leinwand schwarz, bis auf einen Schimmer von reflektiertem Licht und dann geschieht etwas Außerordentliches: die Schwärze entpuppt sich als Vincents Rücken, denn wir sehen mehr und mehr Tageslicht, während er sich vorwärts und aus der Trommel heraus in die sichtbare Figuration bewegt. Anschließend sehen wir, wie er sich von der unbewegten Öffnung des Behälters in die Distanz entfernt, das dunkle kreisförmige Innere rahmt nun die äußere Welt des Tageslichts. In diesem unheimlichen Moment scheint Vincent als Subjekt gespalten und doch verdoppelt zu sein, er wird sowohl, und zugleich, der Sehende wie auch der Gesehene. Gewiss erweckt diese Einstellung den Anschein, wie J.P. Telotte schreibt, »einer Distanz, die sich an eine Form von visueller Identifikation heftet, in der die Figur, dessen Perspektive wir teilen, von uns entfremdet bleibt.«3 Wirklich unheimlich ist jedoch nicht unsere eigene Entfremdung, sondern die von Vincent. Tatsächlich scheint Vincent, als er aus diesem begrenzten schwarzen Loch in das objektive Licht von Tag und Sichtbarkeit herausstolpert, auch der Begrenzung seiner eigenen subjektiven Sicht zu entkommen. Durch diesen »Augenspielertrick« wird die Entfernung zwischen »erster« und »dritter« Person zugleich enggeführt und konstituiert, durch die Vincent Parry materiell in der Narration und in der visuellen und ontologischen »Parallaxe« der verkörperten Subjektivität »hervorgebracht« wird. Wie Slavoj Žižek jedoch ausgeführt hat, wird die Parallaxe, also die »scheinbare Verschiebung eines Objekts (die Veränderung seiner Position vor einem Hintergrund)« nicht einfach durch den Wechsel der Beobachterposition verursacht, »weil dasselbe Objekt,

3

Telotte, Jay Paul: Voices in the Dark. The Narrative Patterns of Film Noir, Urbana, IL: University of Illinois Press 1989, S. 122.

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das ›da draußen‹ existiert, von zwei verschiedenen Standpunkten oder Blickwinkeln gesehen wird«.4 Stattdessen tritt das Phänomen der Parallaxe auf, weil die materialisierten und welthaltigen Subjekte und Sichtobjekte sich inhärent gegenseitig medialisieren. Deshalb – und philosophisch dramatisiert in Vincents komplexer Einrichtung als verkörpertes Subjekt, das sehen und gesehen werden kann – schreibt Žižek: Materialismus steht nicht für die direkte Behauptung meiner Inklusion in die objektive Realität […]; vielmehr beruht er auf der reflexiven Wendung, mittels deren ich selbst in das von mir konstituierte Bild mit eingeschlossen bin, und es ist dieser reflexive Kurzschluß, diese notwendige Verdopplung meiner selbst als außerhalb und innerhalb meines Bildes befindlich, der bzw. die meine materielle Existenz bezeugt.5

Vincent tritt in die Sichtbarkeit und Figuration durch einen buchstäblichen »Kurzschluss« ein, eine reflexive und reflektierende »dunkle Passage«, die ihn sowohl »innerhalb« wie »außerhalb« seines eigenen (wie auch unseres) Bildes einführt und »verdoppelt«. Dadurch wird seiner anfänglichen, angemessen schwindelerregenden, Sicht eine sichtbare objektive Form verliehen, eine »materielle Existenz«. Wie Žižek jedoch ausführt, besteht die Folge dieser Materialisierung darin, dass »die Realität, die ich sehe, niemals ›ganz‹ ist […], weil sie einen Makel enthält, einen blinden Fleck, der meine Inklusion in sie anzeigt.«6 Vincents verkörperte Subjektivität konstituiert jedoch nicht nur den »blinden Fleck«, sondern taucht in der Metalltonne auch auf unheimliche Weise aus diesem auf, wobei der »Kurzschluss« in der Verbindung besteht, die ihn reflexiv verdoppelt und in Subjekt und Objekt teilt, in Gesehenen und Sehenden. Und es ist tatsächlich, ganz buchstäblich der Metallkanister, der zuvor Vincents subjektive Sicht rahmte, der jetzt von seiner objektiven »materiellen Existenz« zeugt: In diesem Moment seiner »Spaltung« und »Verdopplung« sehen wir ihn daher, sich von hinten betrachtend, als er vor sich selbst davon stolpert, um – wie wir alle – aus seiner eigenen Sicht zu verschwinden. In der Tat eine Parallaxe! Angesichts dieses enorm komplexen Leinwandmoments ist es wenig überraschend, dass der Regisseur des Films sich, wie Žižek, ebenfalls über die Parallaxe und ihre chiasmische Anlage Gedanken machte, die zugleich eine Dezentrierung der Subjektivität und ihrer materiellen Verkörperung anzeigt. Für Daves stellt die Parallaxe jedoch eher ein technisches als ein philosophisches Problem

4

Žižek, Slavoj: Parallaxe. Frankfurt: Suhrkamp 2006, S. 21.

5

Ebd., S. 21.

6

Ebd., S. 21f.

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dar. In einem Dokument, das er über die Kameraversuche vor den Dreharbeiten von DARK PASSAGE schrieb, hielt Daves fest, dass die meisten Filmkameras zu jener Zeit tatsächlich ein »Problem mit der Parallaxe«7 hätten. Die physische Entfernung zwischen der Kameralinse und dem Sucher führte häufig zu einer falsch ausgerichteten oder »fehlerhaften Rahmung« des Bildes. Diese Falschausrichtung machte sich insbesondere in subjektiven Einstellungen bemerkbar und stellte damit die Glaubwürdigkeit jener Bilder in Frage, die auf der Leinwand als Vincent Parrys intentional ausgerichtete Sicht erschienen. In dieser Hinsicht entschieden sich Daves, sein Chefkameramann Sid Hickox und der für die Spezialeffekte zuständige Fotograf H.F. Koenekamp nach Versuchen mit drei leichten Kameras für die »deutsche Kamera« (die in einem späteren Interview als eine angeblich von den Deutschen erbeutete Arriflex identifiziert wird).8 Der wichtigste Faktor für Daves’ Entscheidung war, dass dies die einzige ihm bekannte Kamera mit einem prismatischen Sucher »direkt an der Blende« war, so dass, »was während des Drehens durch den Sucher zu sehen ist, das ist, was sich auf der Leinwand zeigt«. Er schreibt: »Alle anderen Kameras haben ein Problem mit der Parallaxe, das insbesondere für nahe Einstellungen gilt, etwa bei Händen vor der Kamera, und bei Detailaufnahmen. […Die Arriflex] schaltet das Rätselraten bei Einstellungen dieser Art aus, von denen es in DARK PASSAGE viele gibt.«

7

Daves, Delmer: »Notes on Experimental Camera Work on Dark Passage«, 23. Oktober 1946, Warner Bros. Pictures, Inc. Story Department (Los Angeles, CA: USC Warner Bros. Archive: Box or File: D-61, n.p.).

8

Die anderen beiden Kameras, die getestet wurden, waren die extrem mobile »Cunningham [Combat] Camera«, die im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, und eine »amerikanische Kamera«, deren Marke nicht genannt wird. In Bezug auf die Marke und den Ursprung der »deutschen Kamera« gibt Daves in einem späteren Interview an, er wäre »der erste gewesen, der die Ariflex [sic] in den Vereinigten Staaten verwendete. Wir bekamen sie von der Regierung, es handelte sich um eine erbeutete Nazi-Kamera.« Wickering, Christopher: »Interview with Delmer Daves«, in: Screen, 10/4-5 (1969), S. 55-66, hier S. 61. Der Filmhistoriker Barry Salt bestätigt dies: »Erbeutete Arriflexe wurden in Hollywood nach dem Krieg gelegentlich benutzt«, auch wenn die »tatsächliche Verwendung der Kamera [für einige Zeit] sehr begrenzt blieb« trotz des Einsatzes in DARK PASSAGE. Er bemerkt auch, dass die Arriflex »kontinuierliche Sicht durch die Linse ermöglichte, 400 Fuß Film im Magazin hatte und leer 13 Pfund wog.« Salt, Barry: »Film Style and Technology in the Forties«, in: Film Quarterly, 31/1 (Autumn 1977), S. 46-57, hier S. 46.

V ON A NGESICHT

»B EOBACHTUNGEN ZUR K AMERA, EINE P ERSON HANDELT «

ZU

A NGESICHT

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DIE WIE

Daves hielt die Ergebnisse seines Experiments vor Drehbeginn in einem Bericht für Warner Bros im Oktober 1946 fest. Die Ergebnisse der Versuche mit den drei Kameras – »Bemerkungen zur experimentellen Kameraarbeit« – füllten eine Seite, die restlichen vier Seiten waren den »Beobachtungen zur Kamera, die wie eine Person handelt: DARK PASSAGE«, gewidmet. Auch hier setzte sich Daves eher mit praktischen als mit philosophischen Problemen auseinander, die dennoch in Žižeks »reflexivem Kurzschluss« verankert sind – das heißt, der Filmemacher muss seine Hauptfigur »verdoppeln«, so dass sie sowohl innerhalb wie außerhalb seines eigenen Films steht, und sicherstellen, dass der Film sichtbar seine subjektive Sicht und seine »materielle Existenz« bezeugt. Für Daves, zugleich Drehbuchautor und Regisseur des Films, wurde diese »Verdoppelung« weniger durch die Ontologie diktiert, als vielmehr durch die filmische Treue dem gleichnamigen Roman gegenüber, auf dem DARK PASSAGE basierte9, aber verkompliziert wurde sie dadurch, dass mit Humphrey Bogart ein Star die Hauptrolle spielte. Im Roman unterzieht sich Vincent einer plastischen Operation, um »anders« als er selbst auszusehen, so dass sich Daves dem Problem gegenüber sah, dass die Hauptfigur vor und nach der Operation unterschiedlich aussieht. Zwei Schauspieler in der Rolle zu besetzen, stellte für Daves keine Option dar, wie er in einem Gespräch formulierte: »Die Stimme von Humphrey Bogart konnte nicht aus einem Mann kommen, der nicht Bogart war, denn er ist zu bekannt […]. Man musste eine Vor-Bogart-Figur erschaffen und die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, war mit der subjektiven Kamera.«10 Daher ist in den ersten 62 Minuten des Films – vor seiner Gesichtsoperation wie auch postoperativ, wenn er in Verbände gehüllt ist – Vincents »materielle Existenz« nur mittelbar »im Bild« sichtbar, ob er nun in der »ersten« oder in der »dritten Person« gefilmt wird.11 Für mehr als die Hälfte von DARK PASSAGE »bezeugt« die subjektive Kamera nur seine Hände und Füße, wie sie in seinem »eigenen Blick« auftauchen oder er steht, objektiv aufgenommen, im Dunkeln, sein voroperatives Gesicht im Schatten versteckt und sein »neues« Gesicht verbunden, ehe es als Bogarts enthüllt wird. Vincents sichtbare Verkörperung als »selbstähnliches« Subjekt wird weiterhin durch die kurz eingeblendeten Aufnahmen zweier Zei-

9

Goodis, David: Dark Passage, New York: Messner 1946.

10 C. Wickering: »Interview with Delmer Daves«, S. 61. 11 In dieser Hinsicht war der Studioboss Jack Warner unglücklich, dass der Star des Films für mehr als die Hälfte des Films nicht vollständig sichtbar sein würde.

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tungsfotos des Flüchtigen in Unruhe versetzt. Diese zeigen sein »ursprüngliches« Gesicht als voroperativer »Anderer«, der er, wie wir wissen, wegen Bogarts Stimme nicht sein kann. Daves interessierte sich weniger für diese »Falschausrichtung« als vielmehr für die praktischen Probleme, die sich im Film aus der Beglaubigung von Vincents »materieller Existenz« ergaben, da er doch die meiste Zeit vollständig oder teilweise durch seinen eigenen Blick verdrängt war, so dass er im subjektiven »blinden Fleck« seines eigenen Films hauste. Da die Kamera »wie eine Person handelte«, ging es zum einen darum, das Problem der Erschütterungen der aus der Hand geführten Arriflex zu lösen, insbesondere in nahen Einstellungen, die buchstäblich Vincents subjektive Aufmerksamkeit »fokussierten«, denn »je begrenzter das [visuelle] Feld ist, desto wahrnehmbarer sind die Erschütterungen«. Deshalb wurden ein spezieller Kreisel und ein Tragegurt entwickelt, die (wie bei der heutigen Steadicam) Erschütterungen aus der Hand über den Arm in die Schulter übertrugen. Der Tragegurt war auch darauf ausgelegt, die Kamera auf »Augenhöhe« zu halten, so dass sie »ging, wenn der Mann ging«.12 In dieser Hinsicht, so vermerkt der Bericht, muss die Kamera »jederzeit dieselbe Augenhöhe zeigen«, die in der ersten Person etabliert wird. Diese muss später beachtet werden, »wenn die Kamera nicht länger ein Darsteller ist«, weil sich »das Publikum daran gewöhnt haben wird, zu den anderen Figuren hinab oder hinauf zu blicken«. Schwieriger hingegen stellte es sich dar, Bewegungen und optische Perspektive mit einer »Person« zu koordinieren. Subjektive »Geheinstellungen« waren besonders problematisch, weil der menschliche Körper schaukelt, wenn er »von einem Fuß auf den anderen tritt und mit jedem Schritt auf und ab wippt«. Ferner bot die Tatsache, dass menschliche Augen »ein Sichtfeld von nahezu 180° eröffnen, während der Blickwinkel des Objektivs begrenzt ist« ein weiteres Problem, denn die weitesten Kameraobjektive, die sich der menschlichen Wahrnehmung annähern, verstärken die Vibration und verzerren zudem das Blickfeld, »so dass der Umfang der Blende sich bei Bewegung der Kamera zusammenzuziehen schien«. Daves’ Kompromiss bestand in einer mittleren 35mm Optik. Das Zusammenkauern, das Kriechen und das Laufen stellten weitere Probleme dar. Es musste nicht nur eine kreiselnde Basisstation konstruiert werden, um die »freie« (oder in der Hand gehaltene) Kamera bei solchen Handlungen zu stabilisieren, sondern Daves entdeckte, dass es in »bewegten, von unten aufgenommenen Einstellungen, wie beim Kriechen«, notwendig war, einen Gegenstand in der Szene zu haben, »wie einen Zaun oder ein anderes Objekt im Vordergrund«, um »eine

12 C. Wickering: »Interview with Delmer Daves«, S. 62.

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Vorstellung des Maßstabs« wie auch von Vincents Entfernung vom Boden zu etablieren. Ohne derartige Hinweise, so bemerkte er, schien die Kamera »weiter vom Boden entfernt zu sein als es tatsächlich der Fall war«. Daves schrieb: »Wenn wir uns auf den Boden legen, bleiben die Horizontlinie und alle anderen derartigen Linien horizontal […]. Wenn die Kamera sich auf die Seite legt, werden die horizontalen Linien vertikal […, daher] muss die Kamera horizontal verbleiben und auf ein Bett oder Sofa heruntergeführt werden, um die normale Horizontlinie einer liegenden Person aufrechtzuerhalten.« Ferner hielt Daves fest, dass »die Illusion nicht erfolgreich sein würde«, sofern nicht Hinweise auf die Handlung hinzugefügt würden, wie Dialog oder den Blick der subjektiven Kamera »vorwärts in der Zeit«, etwa auf den Stuhl, auf dem Vincent Platz nehmen würde. Daves’ eher praktischer als philosophischer »Materialismus« führte auch zu Experimenten mit jenen buchstäblichen »Körperteilen« von Vincent, die sichtbar in seinem eigenen (wie in unserem) Gesichtsfeld figurieren. Die größte Sorgfalt galt seinen Händen und Füßen, doch sie dehnte sich bis auf seine Wimpern aus (aller Wahrscheinlichkeit nach in der Sequenz, in der Vincent vor der Operation betäubt wurde).13 Daves fand, dass »es die Gefahr der perspektivischen Verkürzung gibt«, wenn »die Hände des Schauspielers, von dem man annimmt, dass er die Kamera ist […], direkt vor der Linse sind«. Er schlägt dafür zwei Lösungen vor – entweder »…den sichtbaren Teil des Arms auf einen Ellbogen oder die Länge einer Fingerspitze zu begrenzen« oder dafür zu sorgen, dass Vincents Kleidung »im Bereich des Oberarms eng am Körper sitzt«, um die Verzerrung abzuschwächen. Experimente verdeutlichten, dass durch die gleichzeitige Verwendung eines rechten und linken Armes zweier unterschiedlicher Schauspieler die Vorstellung entstand, dass »die Kamera sich in der Mitte zwischen den Schultern befand«, während bei einem einzigen Schauspieler »die Illusion erzeugt wurde, dass die Kamera über die eine oder die andere Schulter hinweg schauen würde.«14 (Daves merkte dazu an, dass wir »bei den meisten normalen

13 Daves wollte weitere Experimente durchführen, um ein herabsinkendes Augenlid zu simulieren, wohl für die Szene, in der Vincent vor der Operation betäubt wird. »Geöltes Papier« erwies sich als zu durchsichtig für den »richtigen Effekt« und er schlug vor, »dass ein fransiger Bogen, ein fusseliger Umriss« zur Darstellung der Wimpern erprobt und ein rotes, halb-opakes Papier oder Glas eingesetzt werden sollte, um den Effekt eines sich tatsächlich schließenden Augenlids zu erzeugen. 14 In einem späteren Interview gab Daves an, dass, indem er »zwei Männer [einsetzte], um die zwei Arme zu sein«, beide »direkt neben der Kamera« sein mussten, so dass er

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Handlungen mit unseren Händen« eher beide als eine sehen.) Daves plädierte für eine ähnliche Strategie bei der Aufnahme von Vincents Füßen und empfahl darüber hinaus, »zwei mit Gelenken versehene, getrennte Bein[attrappen] abgestimmt auf das Kostüm des Schauspielers« bereit zu halten, ebenso wie eine Attrappe von »Kopf und Schultern der Kamera-Figur, so dass wir unseren eigenen Schatten erzeugen können, wo wir wollen.«

H ILFE ! I CH BIN IN EINEM K ÖRPER GEFANGEN

MENSCHLICHEN

Wie faszinierend und kinematografisch notwendig die Aufmerksamkeit auf Körperteile auch ist, es steckt eine gewisse erdrückende Enge in der Fokussierung auf materielle Details, die den Körper einer »Person« auf nichts als seine »Immanenz« reduziert – selbst wenn dieser Körper paradoxerweise aus mehreren Schauspielern besteht oder über Attrappen und »Pappkameraden« verteilt ist, ist er niemals wirklich »da«. Tatsächlich klingen, wenn man so will, Daves’ Aufzeichnungen gelegentlich philosophisch (wenn nicht ganz direkt) »zum Gruseln«: »Bei Einstellungen, in denen ein anderer Darsteller anscheinend in die Augen und das Gesicht der Kamera blickt, die unsere Hauptfigur verkörpert, wird das Objektiv zu den Augen, der untere Rand der Streulichtblende wird zum Kinn, der obere Rand zur Stirn und die Seiten zu den Ohren des KameraDarstellers.« All diese »Bezeugungen« von Vincents »materieller Existenz«, seiner objektiven Immanenz, selbst wenn er sich »außerhalb des Bildes« aufhält, neigen zur Überwältigung des Körpers wie er subjektiv »gelebt« wird – und transzendieren deshalb immer eine ausschließliche (und seelenlose) fratzenhafte Existenz. Daves war sich hingegen der Notwendigkeit bewusst, nicht die buchstäbliche Bedeutung durch Figuration zu provozieren – nämlich das Gefühl, in einem menschlichen Körper »gefangen« zu sein, ob nun in dem von Vincent oder in unserem eigenen. Wenn der Körper also durch die intensive Aufmerksamkeit auf seine Materialität in der Immanenz (wenn auch nicht immer in der Sichtbarkeit) »geerdet« ist, dann schrumpft die Welt sichtbar zusammen, »faltet sich ein« anstatt sich nach außen auf das Blickfeld auszudehnen. Korrelativ schrumpft die Subjektivität dieses Körpers auf eine Dimension zusammen, seine intentionale Gerichtetheit fokussiert nur darauf, was objektiv vor seinen Augen ist. In seinem

»sogar drei Kameraleute für eine Einstellung benötigte, um den Fluss der Kontinuität zu gewährleisten.« (C. Wickering: »Interview with Delmer Daves«, S. 62).

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Text enthüllt Daves daher seinen Plan, die Kamera in schnellen »Reißschwenks« zu »peitschen« und Zwischenschnitte, Inserts und extrem kurze Einstellungen zu verwenden – dies nicht nur, um Vincents Blicke aus der ersten Person anzureichern, sondern auch um durch die Abwechslung in Maßstab und Rhythmus die Dynamik und Beweglichkeit seines intentionalen Interesses an der Welt und an Anderen sichtbar zu machen. Um beispielsweise Vincent und den Zuschauer aus den »kontinuierlichen Kamera-Techniken« zu befreien, die an das materielle Beharren auf der Immanenz seines Körpers »in« seiner Sicht wie auch »außerhalb« davon gebunden sind, schreibt Daves: »Ein paar extrem kurze Einstellungen wären damit vereinbar […], als würde die Kamera-Figur zwei oder drei kurze Blicke auf Objekte werfen, ehe er seine eigene Bewegung fortsetzt.« Und, so fügt er bezeichnenderweise hinzu: »Darüber hinaus bin ich sicher, dass Ton für Schnitte verwendet werden kann, die die Perspektive der Kamera verlassen, als würde die Kamera-Figur, wenn sie etwas hört, seinen Geist zu jenem Objekt transportieren, etwa ein vorbeifahrendes Auto, um es zu visualisieren. […] Dies ermöglicht, von seiner tatsächlichen Sicht zu einem Schwenk dessen, was er hört, zu schneiden.« Dennoch gab es die »Gefahr«, den Zuschauer derart zu »täuschen«, dass er annimmt, die Kamera-Figur würde »derartige Schnitte sehen«. Daher schlägt Daves Hinweise wie Überblendungen, Veränderungen der Größenverhältnisse und insbesondere »Reißschwenks« vor, um anzuzeigen, dass es sich bei diesen Schnitten nicht um Vincents subjektive Sicht der objektiven Welt handelt, sondern eher um die subjektive Imagination oder »innere« Sichtweise. Daves verwendet jedoch einige dieser Techniken auch, um Übergänge von der ersten zur dritten Person herbeizuführen. Das filmische Ergebnis besteht darin, dass uns für kurze Zeit eine gewisse produktive »Verwirrung« – eine destabilisierende Ungewissheit – ergreift, die uns als Zuschauer, wie Vincent, zugleich »innerhalb« wie »außerhalb« des Filmes fixiert.15 Was in dem Dokument von Warner Bros allerdings keine Erwähnung findet, vielleicht weil die Aufnahme zu jener Zeit nicht besonders problematisch erschien, war die Stimme von Vincent und Bogart als wichtigem Merkmal von Vincents Subjektivität. Gewiss bot ihre besondere (und vertraute) »Körnung« eine Kontinuität des Selbst im Film, die über Vincents physische Transformation –

15 Daves gibt in einem Interview zu Protokoll: »Jede Einstellung war ein Problem und anstatt zu schneiden, setzte ich rasche Schwenks ein. Ich schwenkte die Kamera rasch, wenn wir uns drehten, und die nächste Einstellung begann mit dieser Bewegung. Ich entwickelte diese Technik früh, weil ich herausfand, dass ich schwenken musste, um zu einem anderen Bild und einem anderen Ort zu gelangen. Also machte ich das alles in raschen Schwenks.« (C. Wickering: »Interview with Delmer Daves«, S. 62).

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und Bogarts scheinbare »Abwesenheit« – hinausreicht, ob er nun im Bild sichtbar ist oder nicht. Für die Produktion, auch wenn sich dies nicht in Daves’ Text niederschlägt, erforderte daher die enge Beziehung zwischen Vincents Stimme und seinen subjektiven Handlungen, wenn er nicht »im Bild« ist, besondere Aufmerksamkeit. Tatsächlich berichtete Daves später, wie Bogart »die Dialogspur direkt bei den Dreharbeiten sprach und ich die Aufnahme zeitlich seiner Stimme anpasste«.16 Wenn die Aufnahme einer separaten Tonspur sich praktisch nicht realisieren ließ, schrieb Daves den Text von Vincent nach den Dreharbeiten derart, dass er »zu dem, was ich hatte, passte«.17 Insgesamt bemühte sich Daves durch die umsichtige Beachtung der Synchronizität zwischen Vincents Verhalten und seiner Sprache in den subjektiven Sequenzen darum, jeden Eindruck von »voice over« zu zerstreuen, in der die Narration – sogar jene des »Selbst« – in Zeit und Raum von den auf der Leinwand sichtbaren Handlungen getrennt erscheint. Tatsächlich könnte man hier das Wortspiel anbringen, dass Daves insbesondere für Vincents subjektive »innere Rede« (unhörbar außer für uns) eine »voice under« konstruieren wollte.18 Die Entscheidung von Daves, zugleich Regisseur und Drehbuchautor des Films, Vincent mit dieser Fähigkeit der inneren Rede auszustatten, verleiht seiner »materiellen Existenz« eine erheblich transzendentale Dimension, insbesondere wenn er nicht sichtbar ist. Der häufig verzweifelte Ausdruck seiner Gedanken und Gefühle vermittelt hörbar (anstatt sichtbar Zeugnis abzulegen) etwas über seine verkörperte Subjektivität, verleiht damit seiner Sicht aus der »ersten Person« Präsenz und verdichtet das Bild in dem Sinne, dass Vincent »da« ist, selbst wenn er nicht »hier« vor uns ist. Dennoch schwächt Vincents »innere Rede«, die zugleich unser Gefühl für seine Subjektivität und Kohärenz als Subjekt stärkt, jede simple Vorstellung von Selbstidentität, um stattdessen immer wieder die Entfernung von »sich selbst« zu betonen. Vincents »innere Rede« deutet somit darauf, dass seine Subjektivität inhärent geteilt und »verdoppelt« und damit immer schon asynchron »mit sich selbst« ist. Gewiss trifft das, was Zizek allgemein über das »Noir-Subjekt« schreibt, im Besonderen nicht nur auf das sprechende Subjekt Vincent Parry, sondern auch, und transparenter noch, auf das se-

16 C. Wickering: »Interview with Delmer Daves«, S. 63. 17 Ebd. 18 Für Ausführungen zum Konzept der »inneren Rede« im Kino, in Abgrenzung zur externalisierten Signifikation, obwohl es – wie letzteres – auf den linguistischen und verbalen Bereich aufsetzt, siehe Eichenbaum, Boris: »Probleme der Filmstilistik«, in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis der Films im russischen Formalismus, Frankfurt: Suhrkamp 2005, S. 20-55.

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hende Subjekt des Films zu: »Alles, was ich positiv bin, jeder enunziative Inhalt, auf den ich hindeuten und sagen kann, ›das bin ich‹ ist nicht ›Ich‹ – ich bin nur die Lücke, die bleibt, die leere Distanz zu jedem Inhalt.«19 Die Konstitution dieser »Lücke«, die das sehende Subjekt ist, wie auch ihre »leere Distanz« vom gesehenen Objekt beginnt, wie ich anderswo ausgeführt habe, mit der filmischen Enunziation selbst (ob nun in der »ersten« oder »dritten« Person).20 Diese originäre filmische »Lücke« und »leere Distanz« wird überführt und explizit gemacht in der narrativen »Wiederverdopplung« und parallaktischen »Teilung« von Vincent als sehendem und sprechendem Subjekt – »lückenhaft« durch seine Präsenz, aber auch seine Abwesenheit im Blick der »ersten Person« und indem er in der reflexiven »inneren Rede« weder hier noch dort ist, wodurch er in der »leeren Distanz« zwischen »ich« und »mir« verortet wird. Auf diese Weise setzt DARK PASSAGE Vincent buchstäblich als einen »Außenseiter« ein und figurativ als einen Mann, der »sich selbst« in der Dialektik von »erster« und »dritter Person« entfremdet ist, die die »leere Distanz« dazwischen zugleich als negative Lücke wie als konstitutive Positivität erforscht – eingeführt wird dies durch die Tatsache der materiellen Existenz, aber manifest wird es in den reflexiven und transzendenten Spaltungen von Blick und Stimme.

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Diese »Lücke« oder »leere Distanz« zeigt sich jedoch nicht nur in Vincents Blicken aus der »ersten Person« oder in seiner reflexiven Sprache, sondern auch dann, wenn er deutlich auf der Leinwand sichtbar und daher nicht konstitutiv für das Bild ist. In den ersten 62 Minuten des Films mit seiner vorherrschend subjektiven Kamera (»Kamera-Ich«, wie es zu jener Zeit genannt wurde) sehen wir Vincent immer häufiger in der dritten Person, doch in diesen Momenten ist er beinahe völlig versteckt, von uns abgewandt oder teilweise von Schatten verdeckt. So sehen wir mit Ausnahme des befremdlichen – und entfremdeten – Inserts mit dem Zeitungsfoto, das wir nicht wirklich glauben können, niemals sein Gesicht. Unter dem Strich bewohnt Vincent, selbst dann, wenn wir ihn »positiv« auf der Leinwand sehen, einen »negativen Raum« und versteckt sich so im Of-

19 Žižek, Slavoj: »›The Thing that Thinks‹: The Kantian Background of the Noir Subject«, in: Joan Copjec (Hg.): Shades of Noir, London: Verso 1993, S. 199-226, hier S. 211. 20 Sobchack, Vivian: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton: Princeton University Press 1992.

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fensichtlichen. In der Tat wird Vincent in einer anderen ungewöhnlichen Sequenz, die eher rührend als unheimlich ist, quasi zum sichtbaren Schauplatz (und zum Blick) seines eigenen negativen Raums und konstitutiven »blinden Flecks«. Die recht lange Sequenz beginnt direkt nach Vincents Gesichtsoperation und eröffnet seine (und die des Films) scheinbare Entlassung aus jedem weiteren Ausdruck des subjektiven Blicks. Trotz einiger mehrdeutiger Momente ist Vincent daher für den Rest des Films auf der Leinwand nicht als ein Subjekt der »ersten Person« sichtbar, sondern als ein Objekt des Kamerablicks in der »dritten Person«. Dennoch bleibt Vincent, auch als er aus dem Schatten und ins Licht gebracht wird, ein »unsichtbarer Mann«. Sein Gesicht ist mit Ausnahme seiner bittenden Augen und seines schweigenden Mundes vollständig von Verbänden bedeckt. Was auch immer er für eine dürftige materielle Präsenz in der Sichtbarkeit gewinnt, verliert er narrativ durch die Anordnung des Arztes, nicht zu sprechen ehe der Verband abgenommen wird. Während er also in der Wohnung von Irene Jansen (gespielt von Lauren Bacall), die ihn gerettet und unterstützt hat, wieder zu Kräften kommt, bleibt er noch immer unseren Blicken verborgen, wie auch seiner Stimme beraubt – bezeichnenderweise auch seiner »inneren Rede«. In der objektiven »dritten Person« ist er darauf zurückgeworfen, kurze Notizen für Irene zu schreiben oder zu zwinkern, um mit ihr zu kommunizieren. Und Vincents Augen – Augen ohne Gesicht – beherrschen diese Sequenz. Nicht nur werden sie (endlich) als Bogarts Augen enthüllt, sondern sie sind auch unerwartet bewegend in ihrer hilflosen Abhängigkeit und flehenden Stille. Tatsächlich bewegen sie uns zu einer ganz anderen Ordnung der Anerkennung und einem anderen Verständnis des Subjekts und der Subjektivität, wie es nicht in der materiellen Existenz geformt und bezeugt wird, sondern bezeichnenderweise in ethischen Beziehungen zu anderen. So gesehen liefert Emmanuel Lévinas die gelungene Beschreibung einer Filmsequenz, die er aller Wahrscheinlichkeit nach nie gesehen hatte: »Die Augen, die unverhehlbare Sprache der Augen, brechen durch die Maske hindurch. Das Auge leuchtet nicht, es spricht.«21 Das heißt, mit einer Expressivität, die in gewisser Weise weniger aufschlussreich wäre, wenn wir sein ganzes Gesicht sehen und seine Stimme hören könnten, sprechen Vincents Augen in dieser Sequenz nicht nur von seiner »gesichtswahrenden« Zurückhaltung, sondern auch von seiner »Selbst-Unterwerfung« einem Anderen gegenüber. Wenn wir jedoch Lévinas folgen, dann ist dies keine Verringerung von Vincents Subjektivität, sondern eher ihre positive Konstitution. So wie es sich für Vincent fast über die gesamte Dauer des Films ergibt, so wird für Levinas sowohl die Subjektivität als auch die ethische Verantwortung in und durch

21 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 89.

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die eigene Unterwerfung unter einen »Anderen« in Begegnungen von Angesicht zu Angesicht hervorgebracht – in dieser bewegenden Sequenz Vincent in seiner Hilflosigkeit Irene gegenüber und sie in der Versorgung ihm gegenüber. In einer asymmetrischen und irreduziblen Beziehung der Alterität ist es die absolute Undefinierbarkeit einer anderen Person, die nicht nur die eigene »SelbstÄhnlichkeit« und »Identifikation« bestätigt, sondern auch jegliche reduktive Vorwegnahme zurückweist. Tatsächlich behalten Vincent und Irene für die gesamte Dauer des Films eine respektvolle »Distanz« bei, die die wechselseitige Alterität anerkennt, selbst als sie zunehmend intim werden. Subjektivität wird somit aus Intersubjektivität gezeugt, doch es entsteht nicht aus der Reduktion der »Differenz« des Anderen auf die »Gleichheit« dessen, was das »Ich« im Hinblick auf seine eigene Existenz weiß und kategorisiert. Es ist stattdessen eine ethisch verantwortungsvolle Anerkennung des Anderen als stets ein »Anderer« – der, wie Vincent auf der Flucht, die vollständige epistemologische Erfassung und Eingrenzung überwindet und transzendiert.

»D ER ANDERE ,

DER SICH IN EINEM

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ZEIGT …«

In dieser Hinsicht tritt Vincent, sobald seine Verbände abgenommen werden, in eine Sichtbarkeit, die noch immer mehrdeutig ist und sich uns entzieht, auch wenn wir sie sehen können. Seine materielle Präsenz sträubt sich dagegen, »im Angesicht« verstanden zu werden – selbst wenn dieses verspricht, uns die bekannte »Identität« von Humphrey Bogart zu zeigen. Vincents Gesicht behält damit viel von seinem Geheimnis, gibt sich auch nicht auf und unterwirft sich nicht dem herrschenden Blick der Kamera in der »dritten Person« – oder, was das betrifft, Bogarts »Star-Image« (wir haben schließlich hinter dieses Image und in die unerwartete Demut seiner Augen geblickt.) Angesichts all der Gestalten (vielleicht besser »Verkleidungen«), in denen Vincent vor und hinter der Kamera erscheint, kann man von ihm behaupten, was Levinas über das Gesicht allgemein geschrieben hat: »Das Antlitz ist gegenwärtig in seiner Weigerung, enthalten zu sein. In diesem Sinne kann es nicht begriffen, d.h. umfaßt werden. Weder gesehen noch berührt […].«22 Wenn Irene Vincents Verbände abnimmt und er in die volle Sichtbarkeit und Stimme tritt, untersuchen und kommentieren sie und er sein »neues« Gesicht mit Verwunderung. Irene, die sein Gesicht vor der Operation gesehen hatte, erkennt ihn nun ganz buchstäblich als einen »Anderen«, doch darin erkennt sie auch seine Subjektivität und Präsenz an, die seine

22 Ebd., S. 277.

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manifeste Form transzendiert. In einer Passage, die über das »erstarrte Bild« des Gesichts herausweist, das man als gegeben annimmt und als »bekannt« ansieht, schreibt Lévinas: »Der Andere, der sich im Antlitz kundgibt, durchbricht in gewisser Weise seine eigene plastische Wesensform […] Die Gegenwart des Anderen besteht darin, sich der Form zu entkleiden, von der er doch schon zum Vorschein gebracht wurde.«23 Indem sie sich um ihn kümmert und sich in Vincent verliebt, egal wie er aussieht, »sieht« Irene über den materiellen Umriss– die oberflächliche Fassade – seines Gesichts hinaus bis zur viel tieferen und ethisch konstitutiven Beziehung der Alterität zwischen Selbst und Anderem, die Levinas als »Fazialität« bevorzugt. Vincents Präsenz transzendiert so seine Form, die – wie Levinas vorschlägt – »beständig« die Alterität des Subjekts »verrät«, seine »radikale Exteriorität«, indem er »dem Selben angeglichen« ist.24 In dieser gesamten Sequenz wie auch in vorherigen, in denen er im Off, aber »im Bild« ist, bestätigen sowohl Irene, die ihn rettet, wie der Film, der sich dem Zeigen seines Gesichts verweigert hat, Vincents Subjektivität und weigern sich, seine »radikale Exteriorität« auf das rein Sichtbare zu reduzieren. Gewiss »durchschlägt« Daves’ Einsatz der Kamera in der »ersten Person« ganz buchstäblich nicht nur die »plastische Essenz« von Vincent, sondern auch die des Films, entblößen beide ihrer »erstarrten« Form. Der gesamte Film nimmt die Hauptfigur buchstäblich wie figurativ in den Dienst des offenen, ungewissen und ungelösten Prozesses des anders »Werdens« als er war oder ist. Obwohl Vincent aus dem Gefängnis flieht, um herauszufinden, wer seine Frau ermordet hat, ist sein wichtigster Auftrag im Film herauszubekommen, wer er selbst ist. Er tut dies nicht nur in der »ersten Person«, sondern auch im Angesicht von Anderen. Wenn man Lévinas folgt, tritt Vincents »Selbst« (wie vorläufig und veränderbar es auch immer sei) in die volle Existenz erst in den Begegnungen »von Angesicht zu Angesicht« mit anderen. DARK PASSAGE ist daher ein Film voller und über Gesichter – nicht nur das von Vincent, sondern auch jene, die man durch seine Augen in Großaufnahme sieht. Dies sind die Gesichter, die ihn sichtlich bedrohen – oder nähren.

23 Lévinas, Emmanuel: »Die Bedeutung und der Sinn«, in: ders.: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Felix Meiner 1989, S. 9-59, hier S. 40f. 24 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 87.

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GEGENÜBERTRETEN

Lévinas’ Betonung des »Antlitz« ist jedoch metaphorisch und bis zu seinem Spätwerk hat er das Sehen verworfen als reduktive (und häufig gewalttätige) Art der Herrschaft über – anstatt die Unterwerfung unter – die »radikale Exteriorität« eines Anderen. Wie Chloe Taylor schreibt: »Da Form den Anderen verrät, ist für Lévinas das ethische Antlitz nicht das Gesicht, dessen Form wir mit unseren Augen wahrnehmen.«25 Während dieses philosophische Argument auf Vincent zutreffen mag, dessen Gesicht auf und neben der Leinwand seine Form transzendiert und »gegenwärtig in seiner Weigerung, enthalten zu sein«, ist, scheint dies (auf den ersten Blick?) weniger relevant für die Bilder der sichtbaren Gesichter zu sein, die wir durch Vincents Augen bei seinen Begegnungen »von Angesicht zu Angesicht« sehen. Tatsächlich verwirft Lévinas das Verständnis des »Bildes« als einfache mimetische Repräsentation, insofern es das Anlitz des Anderen auf eine rein ästhetische Form festlegt und reduziert, anstatt dieses als »Öffnung« und »blinden Fleck« zu betrachten, ausdrücklich markiert durch eine stets flüchtige und nicht figurierbare Subjektivität. Das Antlitz, so schreibt er, »strahlt […] nicht wie eine Form, die einen Inhalt bekleidet, wie ein Bild, sondern als die Blöße des Prinzips, hinter dem es nichts mehr gibt.«26 Fazialität ist daher ein konzeptuelles Prinzip: eine grundlegende und ethische Beziehung der radikalen Alterität zwischen ausdrucksfähigen Subjekten, deren »Blöße« nur notdürftig von der puren Fassade ihres mimetischen Bildes bedeckt würde. Wie Marty Slaughter jedoch aufzeigt, »führt die Erfahrung der Alterität selbst – notwendigerweise mit einem Körper (und seinen Trieben) zusammenhängend – zu seiner Figuration.«27 Tatsächlich vertreten Slaughter und andere Wissenschaftler wie Chloe Taylor und Philippe Crignon die Auffassung, dass »Lévinas im Endeffekt nicht das Visuelle oder das Bild an sich ablehnt, sondern eher das auf seine Funktion als Repräsentation reduzierte Bild.«28 Die Begegnung von »Angesicht zu Angesicht« ist die Nähe zwischen »zwei Verletzlichkeiten, die der Form beraubt sind«, aber diese »Verletzlichkeiten« sind »weder un-

25 Taylor, Chloe: »Hard, Dry Eyes and Eyes That Weep: Vision and Ethics in Levinas and Derrida«, in: Postmodern Culture, 16/2 (2006), S. 1. 26 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 382. 27 Slaughter, Marty: »Levinas, Mercy and the Middle Ages«, 12. Diese unpublizierte Fassung eines Kapitels aus Levinas, Law, Politics, hrsg. M. Diamantides (London: Routledge-Cavendish, 2007) online unter http://kar.kent.ac.uk (26.11.2010). 28 M. Slaughter: »Levinas, Mercy and the Middle Ages«, S. 11.

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körperlich noch unsichtbar, noch sind sie Repräsentationen«.29 Eher, so Slaughter weiter, ist ein solcher »Kontakt der Nähe eine Art der Figuration, wie eine Spur«, die, so argumentiert Crignon, nicht festlegt oder »repräsentiert«, sondern stattdessen »eine Abwesenheit anzeigt, die nicht präsentiert werden kann«.30 In der Tat schlug Lévinas später vor, dass die »Verdrehungen und Entstellungen« der »realistischen Bilder […] eine unheimliche Tiefe und Innerlichkeit erzeugen [könnten], die mit dem realistischen Außen oszilliere und die Unmöglichkeit der Figuration dessen, was zwischen den beiden liege, nahe legten.«31 Der ausdrückliche Verweis auf die »Verzerrungen« der »realistischen Bilder« bringt uns damit endlich auf indirektem Weg zurück zur Parallaxe und damit zu Žižeks unfigurierbarer »Lücke« und »leeren Distanz«, die das dauerhaft flüchtig im chiasmischen Raum zwischen Objektivität (als real gegeben) und Subjektivität (als »erfahren« wahrgenommen) ver- und entortete Subjekt ist. Die Parallaxe und die Distanz und »Verdrehung«, die es einrichtet, wird daher selbst »verdoppelt« in der fast-Konvergenz, aber destabilisierenden Entfernung zwischen Žižek und Lévinas – beide konstituieren das Subjekt in der Alterität, doch der Erste betont den Raum, der das »Ich« und das »Mir« verbindet, wenn auch trennt, der andere den Raum, der das »Ich« und den »Anderen« verbindet und trennt. Nichtdestotrotz sind beide dieser »leeren«, wenn auch konstitutiven Räume notwendig für die Herstellung von Subjektivität. Vincent wird also nicht nur als »Subjekt« produziert, indem er reversibel oszilliert zwischen einem Zustand »innerhalb« und »außerhalb« seines eigenen Bildes und zwischen seiner reflexiven Distanz vom »Ich« zum »Mir«. Er wird auch als Subjekt, sowohl buchstäblich wie figurativ, hergestellt durch eine »Oszillation«, die die reversible Distanz zwischen den »objektiven« oder »realistischen Bildern« der Anderen und seinen eigenen »subjektiven« und »verdrehten« »parallaktischen Ansichten« von ihnen nachverfolgt – Letztere »dis-figurieren« Erstere in ihrer Nähe zu ihm.

29 Ebd., S. 12. Slaughter macht sich hier Philippe Crignons Argument zu eigen; siehe Crignon, Philippe: »Figuration: Emmanuel Levinas and the Image«, in: Yale French Studies 104 (2004), S. 100-125. 30 P. Crignon: Figuration, S. 124. 31 M. Slaughter: »Levinas, Mercy and the Middle Ages«, S. 12. Slaughter bemerkt, dass Lévinas »zwei wenig bekannte Essays« schrieb, in denen »er die Arbeit des Malers Jean Atlas und des Bildhauers Sacha Sosno« diskutiert und Letzteren einen »Künstler der Vernichtung« nennt. Siehe »On Obliteration«, op. cit., und Lévinas, Emmanuel: »Jean Atlan et la tension de l’art«, in: Catherine Chalier/Miguel Abensour (Hg.), Cahier Lévinas, Paris: L'Herne 1991.

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Tatsächlich wird jede von Vincents Begegnungen »von Angesicht zu Angesicht«, wie Dana Polan bemerkt hat, »zunächst aufgezeichnet als eine Art Schock, als ein Eingriff in den Bildrahmen durch eine zunächst fremde Macht.«32 Angesichts von Vincents Situation, insbesondere direkt nach seinem Entkommen aus dem Gefängnis, ist er bei jeder potentiell lebensbedrohenden Begegnung mit einem anderen bewusst und vorsichtig eingestellt; die Kamera in der »ersten Person« des Films und die Großaufnahmen intensivieren sowohl die »Aggressivität des Kamerablicks wie die Aggressivität der Außenwelt gegen diesen Blick«.33 In der Summe gestattet Vincents Status als Flüchtling (ontologisch und narrativ) nicht, dass er sich irgendeiner Sache sicher sein kann; für ihn sind alle Blicke, alle Gesichter, alle Anderen rätselhaft und in der Alterität begründet. Obwohl er als Außenseiter »sich selbst enteignet« ist, so ist sich Vincent doch auch ausdrücklich der Tatsache bewusst, dass seine Existenz daran hängt, »sich in die Hände anderer zu begeben«. Dies zeigt sich buchstäblich darin, dass Vincents in seiner filmischen Präsenz in der »ersten Person« von den Händen anderer abhängt, doch es zeigt sich auch figurativ und figural an anderen Stellen im Film. Polan schreibt daher von den Begegnungen »von Angesicht zu Angesicht«: »Interaktion wird zum Scharnier eines grundlegenden Wechselspiels zwischen Angst und Sicherheit, die einander umkreisen.«34 Darüber hinaus trägt die grundlegende – und ethisch aufgeladene – »Fazialität« dieser Wechselwirkung nicht nur dazu bei und modifiziert, wer Vincent ist, sondern auch wer er werden könnte. Wie Lévinas schreibt: »Kontakt bedeutet nicht dem Sein offen gegenüber zu sein, sondern dem Sein ausgesetzt zu sein.«35 Und daher, so hebt Crignon hervor, erschöpft sich, »was sich zu sehen gibt« in diesem Kontakt »von Angesicht zu Angesicht«, nicht in der Repräsentation, sondern »richtet sich als Spur und Figuration selbst an eine Sensibilität und Anfälligkeit.«36 Anfangs ist jede der Sequenzen von Vincents Begegnungen in der »ersten Person« subjektiv entstellt durch seine Angst davor, entdeckt und gefasst zu werden, die Polan als eine »paranoide Umkehrbarkeit« beschreibt, in der der

32 Polan, Dana: Power & Paranoia. History, Narrative, and the American Cinema 19401950, New York: Columbia University Press 1986, S. 196. 33 Ebd., S. 195. 34 Ebd., S. 196. 35 Lévinas, Emmanuel: Otherwise than Being, or Beyond Essence, trans. Alphonso Lingis, Pittsburgh: Duquesne University Press 1998, S. 101. 36 P. Crignon: »Figuration: Emmanuel Levinas and the Image«, S. 124.

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Blick sein »Vertrauen in das Sehen«, seine Zuver-Sicht, verliert.37 Baker, der als erster anhält, um Vincent mitzunehmen und später (in der »dritten Person«) zurückkehrt, um ihn zu erpressen, scheint zunächst gesprächig. In übertriebenen Großaufnahmen, die zu nah sind, um noch behaglich zu wirken, beginnt er Vincents »Anfälligkeit« zu bemerken, und fixiert –durchbohrt – ihn mit einem durchdringenden Blick und Fragen, auf die der Flüchtende keine Antwort hat außer der Bitte, aus dem Auto gelassen zu werden, woraufhin er den Mann bewusstlos schlägt und ihm die Kleidung raubt. Vincent wird dann von Irene Jansen mitgenommen, die aus dem Nichts erscheint und zu wissen scheint, wer er ist. Als sie ihm anbietet, ihn zu verstecken, fixiert Vincents Blick sie in vorsichtiger Distanz, doch die Großaufnahme wird dadurch weicher, dass er Hilfe braucht und sie »Sensibilität« zeigt, wie dies in ihren weder bedrohten noch bedrohlichen Blicken auf ihn nachgezeichnet wird. Als Vincent später im Film in einer Sequenz, die vor allem in der »dritten Person gedreht ist, Sam trifft, einen Taxifahrer, den Vincent – versteckt im Schatten auf dem Rücksitz des Autos – ansieht und mit dem er widerwillig spricht, stellt sein eigener Blick in der »ersten Person« kurz im Rückspiegel Blickkontakt mit dem Fahrer her, wodurch, wie Telotte bemerkt, »die Bedrohung, die zuvor solchen ausgetauschten Blicken eingeschrieben war, objektiviert wird.«38 Sam ist jedoch, wie Irene, verständnisvoll und fragt nur wenig, schätzt ihn als hilfsbedürftig ein und unterstützt ihn. Als er nach dem Grund dafür gefragt wird, antwortet er, »Ich kann viel aus Gesichtern lesen«, und fügt später hinzu, »Ich studiere die Gesichter der Leute.«

U NTERWERFUNG UND S UBJEKTIVITÄT Irene und Sam weisen derart beide, wie Telotte es formuliert, »auf die Möglichkeit von [Vincents] richtiger Identifikation und von einer Ebene, auf der der Blick nicht durch eine Verknüpfung von Angst und Bedrohung definiert wird«39, hin. In einer ethischen Beziehung der »Fazialität« übersteigt diese »richtige Identifikation« die oberflächliche Form, um etwas »Unfigurierbares« in Erwägung zu ziehen – das Antlitz des Anderen in seiner expressiven »Blöße« als abjekter Schrei nach Hilfe wie auch als Forderung nach Respekt. Insofern ist es nicht überraschend, dass Sam keine Skrupel hat, Vincent zu einem zwielichtigen Gesichtschirurgen zu geleiten, um seine Erscheinung zu verändern – wie auch

37 D. Polan: Power & Paranoia, S. 193. 38 J.P. Telotte: Voices in the Dark, S. 125. 39 Ebd.

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Irene keine Probleme mit Vincents Übernahme einer neuen Identität als »Alan Lynell« hat. Indem sich Vincent sowohl Irene wie Sam unterwirft, indem er sich ihnen selbst ausliefert, wird seine eigene Subjektivität mit der Zeit moduliert. Tatsächlich strahlt sie, als er allmählich für sie sorgt, in seinem Blick – das ist jedoch nicht, was Lévinas als »Selbstgenügsamkeit« des »schönen Bildes« bezeichnet hat, dessen Perfektion »Stille aufzwingt, ohne sich um etwas anderes zu kümmern«.40 Stattdessen wird die »Perfektion« von Irenes objektiver ästhetischer Schönheit durch Vincents Augen in eine ethische Entstellung überführt, ohne Irenes Alterität zu verneinen, und enthüllt so ihren eigenen ruhigen Ruf nach Vincents Anerkennung und Sorge. Es ist dann auch passend, dass die letzte Szene des Films gerade eine der Anerkennung ist. Es ist nicht deutlich, wieviel narrative Zeit verstrichen ist, aber Vincent, dem es nicht gelungen ist, seinen Namen reinzuwaschen, auch wenn er den Mord an seiner Frau aufgeklärt hat, ist mit seinem anderen Gesicht und fremden Namen geflohen, um in einem »ständigen Exil« und einer »Entfremdung« geografischer Art zu leben. Wir sehen ihn alleine in einem Nachtclub in Peru sitzen und niemanden anschauen. Die bekannte Musik beginnt und wir sehen ihn in der »dritten Person« aufschauen, seine Augen wechseln in einer halbnahen Einstellung von einem fragenden zu einem zärtlichen Blick, als er Irene erblickt, die aus der Entfernung zurückblickt. Die Einstellung platziert sie in einem mehrdeutigen, aber auch privilegierten Raum zwischen Vincents »erster« und der »dritten Person« der Kamera, während sie lächelnd und unbewegt in einem Pulk von Tänzern steht. DARK PASSAGE ist natürlich ein Film Noir und daher von Angst durchdrungen, sein finaler »Traum der Totalität«, wie Polan schreibt, »ein zerbrechlicher, umkehrbarer und instabiler – eine Verletzlichkeit, die insbesondere im Film Noir auftritt.«41 In dieser Hinsicht ist es wert daran zu erinnern, dass im Jahr 1947 eine Reihe von Hollywood Noirs in die Kinos kamen, die in unterschiedlichem Ausmaß subjektive Kameraführung einsetzten. Im Januar kam der erste und bemerkenswerteste jener Filme mit durchgehendem Kamera-Ich heraus, Robert Montgomerys LADY IN THE LAKE, den MGM produzierte.42 DARK PASSAGE fand

40 M. Slaughter: »Levinas, Mercy and the Middle Ages«, S. 12. Das innere Zitat stammt aus E. Levinas: »On Obliteration«, S. 30. 41 D. Polan: Power & Paranoia, S. 194. 42 Die anderen Film noirs aus dem Jahr 1947, die mit subjektiver Kamera experimentieren, waren POSSESSED und HIGH WALL, beide unter der Regie von Curtis Bernhardt (wenig überraschend ein deutscher Exil-Filmemacher, der expressionistische Techniken kannte und der nach dem Machtantritt der Nazis nach Hollywood geflüchtet war). Siehe J.P. Telotte, Voices in the Dark, S. 19.

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acht Monate später seinen Weg in die Filmtheater, am Ende eines sehr kurzen »Trends«. Wie Telotte bemerkt: »Danach verschwand die erweiterte subjektive Narration praktisch aus dem Film Noir«, weil die meisten Kritiker und die Öffentlichkeit den durchgehenden Einsatz zunächst als unkonventionelle kinematografische Kuriosität ansahen, aber schon bald als einen ablenkenden – und verwirrenden – »Gimmick«.43 Die erzwungene »Identifikation« mit dem Blick des Protagonisten verursachte Unbehagen und entfremdete paradoxerweise die Zuschauer. In dieser Hinsicht überschattete LADY IN THE LAKE nicht nur DARK PASSAGE, sondern untergrub auch seine Leistungen, indem der Film den Zuschauern ein Versprechen machte, das er nicht erfüllen konnte: »DU nimmst die Einladung einer Blondine in ihre Wohnung an! DU wirst von einem Mordverdächtigen geschlagen!«44 Im Gegensatz zu DARK PASSAGE lässt LADY IN THE LAKE, sowohl kinematografisch wie narrativ, nicht die konstitutive Alterität zu, die das Selbst vom Anderen unterscheidet. Damit beharrt der Film auf dem Zusammenfallen der ontologischen Differenz und der absoluten Distanz nicht nur zwischen Zuschauer und dem Privatdetektiv Philip Marlowe, sondern auch zwischen Marlowe und den Figuren der Narration, die keinen anderen existenziellen Zweck zu haben scheinen, als Marlowes Präsenz anzuerkennen, wie unsichtbar auch immer er ist.45 Darüber hinaus lässt der Film die konstitutive Alterität nicht zu, die Marlowe als Subjekt spalten würde. Während Vincents Subjektivität vorwiegend als instabil, bedroht und oft abjekt dargestellt wird, ist Marlowes Subjektivität starr »abgesichert« und gebunden. Trotz seiner primären Existenz im »blinden Fleck« seines eigenen Bildes verweigern Marlowe und der Film, seine eigene »Auslöschung« anzuerkennen, oder dass sein subjektiver Blick ihn von »ihm selbst« trennt. Wie geisterhaft auch immer sein Körper sein mag, so drücken Marlowes gebieterischer (und beschlagnahmender) Blick und seine Präsenz allem, was wir sehen, seinen Stempel auf, im Gegensatz zu Vincent, der nicht gebietet, sondern der »unterworfen wird« – dem Blick der Anderen. Indem Marlowe seine Machtposition gegenüber der Welt und Anderen einnimmt, so schrumpft beides in der Eingrenzung seiner Sicht zusammen. Der flüchtige Vincent hingegen schrumpft aus der Sicht, ob nun in »erster« oder »dritter« Person und so umfasst die Welt, die wir sehen, – und nicht nur durch seine Augen – ihn, eher als umgekehrt. An-

43 Ebd. 44 Zitiert in Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction, Reading, MA: Addison-Wesley 1979, S. 148. 45 Ich diskutiere diese Fragestellungen ausführlicher und mit etwas anderer Perspektive als hier in The Address of the Eye, op. cit., S. 230-246.

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ders als Vincent gibt Marlowe auch niemals seine Gedanken preis, weder uns noch anderen Personen gegenüber, sondern er dient in den wenigen Sequenzen in »dritter Person« im Film als selbstdarstellender und öffentlicher »Erzähler« der Geschichte, deren Ende er bereits kennt – statt einer »inneren Rede«, die reflexiv seine Subjektivität spalten könnte. In der Summe erscheint Marlowe aufgrund seiner bedingungslosen und starren Selbstbeherrschung und narrativen Handlungsfähigkeit, ob nun inner- oder außerhalb des Bildes, als ein weniger menschliches Subjekt als Vincent. Er ist sicher darin, »wer« er »ist«, statt mit der offenen Ungewissheit des »Werdens« im Angesicht der Anderen beschäftigt zu sein. Marlowe erscheint narrativ und kinematografisch beschränkt und seine »Subjektivität« als eindimensional: Alles, was er macht, ist ein Verbrechen »zu lösen« statt »sich selbst zu lösen«. In dieser Hinsicht hat Pascal Bonitzer argumentiert, dass die Verwendung der subjektiven Kamera für den Filmzuschauer nicht nur deshalb verwirrend ist, weil die Figur, deren Sicht wir einzunehmen gefragt sind, in einem »blinden Fleck« haust, der nicht unser eigener ist, sondern auch weil »dies lediglich eine Figur rätselhaft macht, die in der Geschichte nicht rätselhaft ist«46. Marlowe ist definitiv »nicht rätselhaft«. Indem er jeglicher subjektiver Dimension und Komplexität ermangelt, indem er jeglicher transzendentaler Qualitäten ermangelt, die seine Undefinierbarkeit als »Anderer« sich selbst gegenüber markieren könnte oder subjektiv andere für ihn undefinierbar figurieren könnte, wird Marlowe buchstäblich als »leere Distanz« hergestellt – verkleidet mit der Fassade menschlicher Subjektivität anstatt die undefinierbare Ausdruckskraft seines Gesichts zu enthüllen. Tatsächlich können wir uns nicht mit Marlowes »erster Person« »identifizieren«, weil diese immer, wie Lévinas sagen würde, eine »Manifestation desselben« bleibt und sich hartnäckig der destabilisierenden Selbstentfremdung und Alterität verweigert, die menschliche Subjektivität aus objektiver und ontischer »materieller Existenz« gewinnt. Vincent jedoch ist von Anfang an rätselhaft und bleibt bis zum Ende nicht nur selbst-entfremdet, sondern sich auch der Alterität der Anderen bewusst. Mit seiner Subjektivität in ständigem Fluss, ständig unsicher in seiner Beziehung zu Anderen und daher immer in der Welt der »dritten Person«, wie auch inner- und außerhalb seines eigenen Bildes, so verfolgt und gestaltet Vincent seine eigene Dimension und Komplexität wie auch die von Anderen. Durch sein Beharren – und das Beharren des Films – auf Selbst-Entfremdung und Alterität blicken wir hinter die Fassade der Selbstähnlichkeit und einer reduktiven »Identifikation« mit dem Anderen als Affirmation der Subjektivität (ob filmisch oder anders).

46 Bonitzer, Pascal: »Partial Vision: Film and the Labyrinth«, in: Wide Angle 4/4 (1981), S. 56-63, hier S. 58.

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Subjektivität, wie sie sich in DARK PASSAGE zeigt, wird stattdessen weitreichender bestätigt, in einer Dialektik der Alterität zwischen der »ersten« und »dritten« Person, zwischen »Innerlichkeit« und »Äußerlichkeit« und zwischen »Selbst« und »Anderem« in einer ethischen Beziehung, die ihre Konvergenz anerkennt, aber ihre Verschmelzung verweigert. Im Gegensatz zu LADY IN THE LAKE ermutigt uns der Film, etwas für Vincent zu empfinden, aber nicht als er. Filmisch mag DARK PASSAGE weniger radikal »experimentell« erscheinen als LADY IN THE LAKE, der außer seinem Beginn, zwei zwischengeschalteten Sequenzen und dem Ende die subjektive Kamera durchgängig beibehält. DARK PASSAGE übertrifft dennoch LADY IN THE LAKE ganz buchstäblich in dessen »fixierten« und daher begrenzten figuralen Projekt der »Kamera, die wie eine Person handelt«. Während Daves’ Dokument sich in der Tat auf die Herausforderungen konzentriert, die entstehen, wenn die subjektive Kamera die Wahrnehmungen und Ausdrücke eines menschlichen »gelebten Körpers« nachahmt, so »zeugt« der Film selbst von den philosophischeren Fragen, die sich ergeben, wenn man die »materielle Existenz« der Subjektivität auch als transzendent denkt. Tatsächlich bietet DARK PASSAGE, in dem die Narration die filmische Dialektik aus »erster« und »dritter« Person ergänzt, einen außergewöhnlich reichen und komplexen Text, durch den die Herstellung der (filmischen) Subjektivität als notwendigerweise sowohl immanent wie transzendent, sichtbar wie unsichtbar, getrennt wie von sich selbst distanziert erkundet werden kann – und stets in einen fortlaufenden Prozess des Werdens im Angesicht der Anderen verstrickt. Aus dem Englischen von Malte Hagener Übersetzung von Sobchack, Vivian: »The Man Who Wasn’t There. The Production Of Subjectivity in Delmer Daves’ Dark Passage«, in: Dominic Chateau (Hg.), Subjectivity. Filmic Representation and the Spectator’s Experience, Amsterdam: Amsterdam University Press 2011, S.69-84.

L ITERATUR Bonitzer, Pascal: »Partial Vision: Film and the Labyrinth«, in: Wide Angle 4/4 (1981), S. 56-63. Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction, Reading/MA: Addison-Wesley 1979.

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Crignon, Philippe: »Figuration: Emmanuel Levinas and the Image«, in: Yale French Studies 104 (2004), S. 100-125. Daves, Delmer: »Notes on Experimental Camera Work on Dark Passage«, 23. Oktober 1946, Warner Bros. Pictures, Inc. Story Department (Los Angeles, CA: USC Warner Bros. Archive: Box or File: D-61, n.p.). Eichenbaum, Boris: »Probleme der Filmstilistik«, in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis der Films im russischen Formalismus, Frankfurt: Suhrkamp 2005, S. 20-55. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München: Alber 1987. Lévinas, Emmanuel: »On Obliteration: Discussing Sacha Sosno« (Übers. R. Cohen), in: Art & Text 33 (Winter 1989), S. 30-41. Lévinas, Emmanuel: »Die Bedeutung und der Sinn«, in: ders.: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Felix Meiner 1989, S. 9-59. Lévinas, Emmanuel: »Jean Atlan et la tension de l’art«, in: Catherine Chalier/Miguel Abensour (Hg.), Cahier Lévinas, Paris: L’Herne 1991. Lévinas, Emmanuel: Otherwise than Being, or Beyond Essence, trans. Alphonso Lingis, Pittsburgh: Duquesne University Press 1998. Polan, Dana: Power & Paranoia. History, Narrative, and the American Cinema 1940-1950, New York: Columbia University Press 1986. Salt, Barry: »Film Style and Technology in the Forties«, in: Film Quarterly, 31/1 (Autumn 1977), S. 46-57. Slaughter, Marty: »Levinas, Mercy and the Middle Ages«, 12. unpublizierter Beitrag zu M. Diamantides (Hg.), Levinas, Law, Politics, London: Routledge-Cavendish, 2007; online unter http://kar.kent.ac.uk (26.11.2010). Sobchack, Vivian: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton: Princeton University Press 1992. Sobchack, Vivian: »The Man Who Wasn’t There. The Production Of Subjectivity in Delmer Daves’ Dark Passage«, in: Dominic Chateau (Hg.), Subjectivity. Filmic Representation and the Spectator’s Experience, Amsterdam: Amsterdam University Press 2011, S.69-84. Taylor, Chloe: »Hard, Dry Eyes and Eyes That Weep: Vision and Ethics in Levinas and Derrida«, in: Postmodern Culture, 16/2 (2006). Telotte, Jay Paul: Voices in the Dark. The Narrative Patterns of Film Noir, Urbana, IL: University of Illinois Press 1989. Wickering, Christopher: »Interview with Delmer Daves«, in: Screen, 10/4-5 (1969), S. 55-66.

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Žižek, Slavoj: »›The Thing that Thinks‹: The Kantian Background of the Noir Subject«, in: Joan Copjec (Hg.): Shades of Noir, London: Verso 1993, S. 199-226. Žižek, Slavoj: Parallaxe. Frankfurt: Suhrkamp 2006.

Perspektive und empathische Resonanz: Vergegenwärtigung anderer Sichtweisen S USANNE S CHMETKAMP

E INLEITUNG Richard Rorty vertritt in seinem Aufsatz »Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit« die These, dass fiktionale Werke wie etwa Romane uns die Möglichkeit böten, uns aus der eigenen egoistischen Perspektive zu lösen und so unseren Horizont ethisch wertvoll zu erweitern: »Um sich zu verändern, kommt es darauf an, an einen Ort gebracht zu werden, von dem aus Neues sichtbar wird«.1 Diese Art der Selbsttransformation setze voraus, dass wir unseren Standort änderten. Mit anderen Worten: Dass wir unsere Perspektive verändern, um die Perspektiven anderer zu verstehen.2 Ein Weg zu dieser Veränderung führt über Empathie, welche wir nicht nur im alltäglichen realen Leben, sondern auch beim Verstehen von fiktiven Charakteren in Romanen oder Filmen einsetzen.3 In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Menge über Empathie und über deren Rolle in der Rezeption narrativer Fiktionen geschrieben worden: Empathie ist, grob gesagt, das Vermögen, die mentalen Zustände anderer nachzuvollziehen, das

1

Rorty, Richard: »Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit«, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 49-66, hier S. 52; vgl. auch ebd. S. 64.

2 3

Ebd. S. 56. Vgl. neben Rorty auch Nussbaum, Martha: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge: Cambridge University Press 2003.

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heißt Gefühle oder auch Wünsche und Überzeugungen zu verstehen.4 Empathie hat dann eine epistemische Funktion. Es kann ihr aber auch eine soziale und ethische Leistung zugesprochen werden, die darin besteht, dass sie unsere egoistische Aufmerksamkeit auf die Belange anderer lenkt. Oder anders gesagt: auf deren fremde Perspektive. Gerade fiktive Geschichten, so die These Rortys, aktivierten unser empathisches Vermögen, uns von uns selbst zu lösen.5 Aber was heißt es eigentlich, Perspektiven einzunehmen? Von welchen »Perspektiven« sprechen wir? Eine Perspektive ist technisch betrachtet das Verhältnis zwischen einem Blickpunkt und einem Objekt im Raum. Wir verwenden den Begriff aber auch metaphorisch und verstehen darunter eine wertende Sichtweise oder Haltung, zum Beispiel existenzieller, moralischer oder politischer Art. Alltagssprachlich sprechen wir ferner von »Handlungsperspektiven« im Sinne von Alternativen oder Optionen. Gerade bei einem Film – ich konzentriere mich hier auf den fiktiven Spielfilm – mit seinen vielseitigen audiovisuellen Techniken, seiner Narration und den Sichtweisen seiner Figuren liegt die Frage auf der Hand, was wir darunter verstehen, eine Perspektive »einzunehmen«, wenn es so viele Möglichkeiten gibt: Ist es die visuelle Perspektive? Ist es die Erzählperspektive? Ist es die Weltsicht der Figuren oder eines allwissenden Erzählers oder gar des Autors/Regisseurs? Können wir sogar von Perspektiven von Gegenständen und Körpern sprechen? Film ist nicht bloß Erzählung, sondern auch fotografierte, bewegte, vertonte, kadrierte, montierte Darstellung, nicht bloß Narration,

4

Vgl. für einen aktuellen Überblick z.B. die Einleitung in Coplan, Amy/Goldie, Peter (Hg.): Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011.

5

Diese und andere Leistungen bescheinigen vor allem der Literatur auch unter anderen Martha Nussbaum (2003), Gottfried Gabriel (2014) und Catrin Misselhorn (2005; 2011). M. Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions. Gabriel, Gottfried, »Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis der Literatur«, in: Christoph Demmerling/Ingrid Vendrell Ferran (Hg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur, Berlin: Akademie-Verlag 2014, S. 163-180. Misselhorn, Catrin: »Literatur, Wahrheit und Philosophie«, in: Catrin Misselhorn/Schamma Schahadat/Irina Wutsdorff (Hg.), Erkenntnis und Darstellung: Formen der Philosophie und der Literatur, Paderborn: Mentis 2011, S. 21-39. Dies.: »Ästhetische Erfahrung und die Perspektive der ersten Person«, in: Thomas Grundmann et al. (Hg.), Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 417-437. Auf die breite Diskussion der These des epistemischen und ethischen Werts der Empathie weist außerdem Alex Neill in seinem Aufsatz in diesem Band hin.

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sondern auch Expression 6, und zwar, wie Vivian Sobchack schreibt, der Ausdruck von Erfahrung durch Erfahrung.7 Es gibt für RezipientInnen eine Pluralität an Möglichkeiten, auf verschiedene Perspektivenangebote des Films kognitiv, affektiv und leiblich zu reagieren. Im Folgenden möchte ich den Zusammenhang von Perspektiven und solchen Reaktionen anhand einer Konzeption empathischer Resonanz in der filmästhetischen Erfahrung erläutern. »Resonanz« bezeichnet wörtlich ein »Wiederhallen« oder »Mitschwingen«, zum Beispiel eines Instrumentes beim Erklingen eines anderen Instrumentes oder eines Tons. Alltagssprachlich meinen wir mit Resonanz häufig so etwas wie ein »Feedback«. In der Philosophie und Psychologie wird der Begriff sowohl deskriptiv wie auch normativ verwendet für das intersubjektive und interkorporale Mitgehen des menschlichen Leibes in Anbetracht affektiver Vorgänge.8 Hinsichtlich »Perspektive« möchte ich einen weiten, integrativen Ansatz plausibilisieren, wonach eine Perspektive sowohl optisch als auch auditiv, sowohl körperlich, als auch figurativ zu verstehen ist. Ein Perspektivwechsel ist also nicht nur damit verbunden, dass etwas Neues sichtbar wird, wie es bei Rorty heißt, sondern zum Beispiel auch hörbar, spürbar und denkbar. Deshalb möchte ich auch von verschiedenen Formen von »Resonanz« sprechen, wie wir diese Perspektiven erfahren und auf sie antworten. Empathie ist ein Modus diverser, in der ästhetischen Erfahrung möglichen Resonanzmodi. Zur Resonanz zählen aber auch noch andere Einfühlungs- und Mitgefühlformen. Während der Begriff der Perspektiveneinnahme üblicherweise mit einem kognitiven Prozess in Verbindung gebracht wird, berücksichtigt »Resonanz« gerade die Leiblichkeit dieser Prozesse.9

6

Vgl. zu dieser »doppelten« Natur des Films auch Aumont, Jacques: »Der Point of View«, in: montage/av 16/1 (2007, frz. zuerst 1983), S. 13-44, hier S. 18.

7

»More than any other medium of human communication, the moving picture makes itself sensously and sensibly manifest as the expression of experience by experience«, Sobchack, Vivian, The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton: Princeton University Press 1992, S. 3.

8

Der Leib wird als »Resonanzraum« oder »Resonanzkörper« von Stimmungen und Gefühlen bezeichnet, vgl. Fuchs, Thomas: »Zwischen Leib und Körper«, in: Martin Hähnel, Marcus Knaup (Hg.), Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, S. 82-93, hier S. 84.

9

»Resonanz« in einem normativ anspruchsvolleren Sinne ist zudem als ein substanzieller, ethischer Begriff für die gelungene Beziehung zwischen Ich und Welt zu konzeptualisieren, wie es Hartmut Rosa macht. Demnach wären zum Beispiel auch Anerken-

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Zunächst werde ich kurze Vorbemerkungen zum konzeptionellen Rahmen der Untersuchung machen. Im zweiten Abschnitt werde ich die Komplexität der Perspektiven im Film verdeutlichen. Am Beispiel der Einstiegssequenz von Michael Hanekes DAS WEISSE BAND werde ich den Perspektivenbegriff genauer erläutern und auf die verschiedenen Möglichkeiten von Perspektiven eingehen. Der dritte Abschnitt widmet sich vier verschiedenen Theoriegruppen zur Empathie, die ich anhand einer anderen Filmszene aus DAS WEISSE BAND diskutieren werde. Ich werde dort für einen phänomenologisch orientierten Empathiebegriff argumentieren, welcher eine imaginative Perspektiveneinnahme einerseits mit einer leiblichen Resonanz andererseits verknüpft. Der vierte Teil ist ein abschließendes Fazit.

1. V ORBEMERKUNGEN ZUR ( FILM -) ÄSTHETISCHEN E RFAHRUNG Einen motivationalen Hintergrund der folgenden Überlegungen bildet die allgemeinere Fragestellung, was eigentlich die filmästhetische Erfahrung ausmacht. Dabei gehe ich davon aus, dass die Filmerfahrung mindestens durch zwei wichtige Parameter bestimmt ist: Erstens zeichnet sich Film durch eine Polyperspektivität aus audiovisuellen Techniken, Erzähltechniken und metaphorischen Perspektivierungen aus. Einige der Perspektivenangebote, die der Film macht – wie etwa die Kamera- und die Erzählperspektive – müssen wir allein schon aus filmund narrationsontologischen Gründen annehmen, um dem Film folgen zu können (wir können nicht die Augen verschließen, ohne etwas Wesentliches zu verpassen, noch können wir einem subjektiven Erzähler folgen, wenn es keinen gibt). Auch kann zum Beispiel eine Tragödie nicht einfach (ohne ironische Brechung oder künstlerische Sinnveränderung) als Komödie rezipiert werden. Zweitens erfasst uns Film mit seinen expressiven Eigenschaften affektiv und leiblich, so dass es zu kurz gegriffen wäre, das Verfolgen der Perspektiven auf kognitive Vorgänge zu reduzieren. Ferner ist der Begriff der »Erfahrung« als normativer und existenzieller Begriff zu verstehen; er meint nicht nur, dass wir in der ästhetischen Rezeption etwas erfahren (eine Geschichte kennen lernen), sondern et-

nungsbeziehungen Resonanzbeziehungen und Resonanz nicht bloß auf eine direkte affektiv-leibliche Wahrnehmung reduziert. Aus Platzgründen ist aber auf diese normative Erweiterung, die ausführlich begründet werden müsste, hier zu verzichten. Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016.

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was in einer Weise erfahren, welche besonders, reichhaltig und wertvoll ist, sogar eine »embodied and meaningful activity«.10 Wir machen mit Filmen wie mit anderen Kunstwerken eine Erfahrung, welche sich von nicht-ästhetischen Erfahrungen dahin gehend unterscheidet, dass sie zum Beispiel besonders konzentriert, intensiv, zeitlich gerahmt und ganzheitlich – das heißt leiblich und mental – ist.11 Einen solchen anspruchsvollen Begriff vertritt John Dewey, wobei wir solche Erfahrung Dewey zufolge nicht nur mit Kunst, sondern auch im Alltag erleben können. Er entwickelt »Erfahrung« unter anderem als einen abgerundeten (»rounded out«), zeitlich gegliederten und dynamischen Prozess mit einem Anfang, einem Höhepunkt und einem Abschluss.12 Nach Dewey erfahren wir das Objekt unserer ästhetischen Erfahrung (bzw. die Erfahrung selbst) immer in einem und aus einem Kontext heraus und im Verhältnis zu einer subjektiven Perspektive. Ein solcher Erfahrungsbegriff eignet sich meines Erachtens besonders gut für eine Untersuchung des Films.13 Meine These ist aber, dass das, was die filmästhetische Erfahrung ausmacht, auch mit den Erfahrungsperspektiven zusammenhängt, die wir empathisch vergegenwärtigen und so im imaginativleiblichem Nachvollzug neue Sichtweisen kennenlernen.14

10 V. Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, xvii. Vgl. zur philosophischen Diskussion von Erfahrung als existenziellem Begriff im Unterschied zu einem phänomenologischen und einem epistemologischem Begriff Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin: »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, in Dies. (Hg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 7-37, hier S. 7 ff. 11 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass wir solche Erfahrungen nicht auch in unserem alltäglichen Leben machen können. Im Anschluss an Dewey ist vielmehr davon auszugehen, dass ästhetische Erfahrungen nicht nur auf den klassischen Bereich des Ästhetischen (Kunst, Natur) zu beschränken sind, sondern dass wir z.B. auch im wissenschaftlichen Denken, beim Sport oder – ganz banal – beim Aufräumen ästhetische Erfahrungen machen können. »Ästhetisch« sind sie, wenn sie in besonderer Weise, wie oben angegeben, geschehen. Vgl. Dewey, John: Art as Experience, Carbondale, IL: Southern Illinois University Press 1989. [erstmals 1934]. 12 J. Dewey: Art as Experience, S. 37 u. 47 ff. 13 Aus Platzgründen kann nicht die Frage beantwortet werden, ob die hier konstatierten Charakteristika der speziell filmästhetischen Erfahrung auch für allen anderen ästhetischen Erfahrungen in der gleichen Weise gelten. 14 V. Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, xix u. 95 f.

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2. D ER B EGRIFF DER P ERSPEKTIVE UND DIE P ERSPEKTIVE ( N ) DES F ILMS Das Drama DAS WEISSE BAND. EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE von Michael Haneke (DE 2009) beginnt mit einem Schwarzfilm, auf dem in weiß der Titel des Films geschrieben steht. Im Voice-Over teilt ein Mann mit, dass er von »seltsamen Ereignissen« eines Dorfes erzählen müsse, weil diese »möglicherweise auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.«15 Der (extradiegetische) Erzähler, so stellt sich später heraus, ist in der Geschichte der Dorflehrer, dessen subjektive Perspektive er nun rückblickend wiedergibt. Er wird aber nicht von dem gleichen Schauspieler (Christian Friedel), sondern von einer anderen Person (Ernst Jacobi) gesprochen. Er wisse nicht, sagt er, ob die Geschichte in allen Details der Wahrheit entspreche und ob er sich immer richtig erinnere. Aber er sieht sich selbst offenbar in der Verantwortung, diesen Ereignissen nachzugehen und diese schließlich auch zu erzählen. Über die Länge der Erzählung in diesem ersten Bild wird langsam das nächste Bild aufgeblendet. Man sieht Wiesen, Felder, und aus der Tiefe des Raumes einen Mann auf einem Pferd herangaloppieren, während die Erzählerstimme weiter über dem Bild und dessen leisen O-Ton spricht: »...Begonnen hat alles, wenn ich mich recht entsinne, mit dem Reitunfall des Arztes.«16 Welche Perspektiven bieten uns die ersten Sequenzen des Films? Im Hinblick auf Film ist bei dem Begriff Perspektive zunächst an die optische Kameraperspektive zu denken: Der Standort und der Betrachtungswinkel der Kamera auf ein Objekt. »Point of View« oder »Point de Vue«, wie es passender im Englischen und Französischen heißt, ist der Punkt des Blickes, auf den und von wo der Blick fällt.17 Eine Kamera kann zum Beispiel ihr Objekt auf gleicher Höhe filmen und so die natürliche perspektivische Wahrnehmung imitieren. Beim Film sind die Kameraperspektiven häufig aber unnatürlich oder unrealistisch: Der Blickwinkel aus der Untersicht bzw. Froschperspektive etwa ist einer, den

15 Haneke, Michael: Das weiße Band. Eine deutsche Kindergeschichte. Das Drehbuch zum Film, Berlin: Berlin Verlag 2010, S. 7. 16 Ebd.

17 Vgl. J. Aumont: Der Point of View, S. 13 ff. Edward Branigan unterscheidet zwischen verschiedenen »Shots«, die eine optische Perspektive in Relation zu einer filmischen Figur jeweils unterschiedlich wiedergeben, je nachdem, wo sich die Kamera befindet: Etwa der Blick über die Schulter der Figur oder der subjektive Point of View Shot, Branigan 1992. Branigan, Edward: Narrative Comprehension and Film. London, New York: Routledge 1992.

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wir im alltäglichen Leben eher selten einnehmen. Auch die Einstellungsgröße des Kamerabildes offeriert Perspektiven: Eine Großaufnahme eines Gesichts etwa bietet uns eine andere Sichtweise an als eine Totale auf einen Raum. »Perspektive« ist also nicht nur im strengen Sinne als der Abstand und Winkel der Kamera zu den Objekten zu verstehen. Ich werde im Folgenden grob zwischen einer technischen und einer metaphorischen Verwendung des Begriffs der Perspektive unterscheiden. Unter der technischen lässt sich feiner zwischen der visuellen, auditiven, schnitt- und erzähltechnischen Perspektive differenzieren.18 Unter Perspektiven im metaphorischen Sinne fallen evaluative, ethische, politische, ideologische, handlungsoptionale Sichtweisen – wie wir die Welt wahrnehmen, beurteilen und uns in ihr bewegen – sowie affektive Sichtweisen in Form von Emotionen und Stimmungen, welche auch eine Weise sind, die Welt auf eine bestimmte Art wahrzunehmen.19 Der Begriff ist dem lat. perspicere entlehnt, dessen Bedeutung von »hindurchsehen« über »genau betrachten« bis hin zu »erkennen« reicht. Schon in unserer Alltagssprache verwenden wir diese verschiedenen Implikationen, wenn wir zum Beispiel davon sprechen, dass wir etwas in einem »anderen Licht betrachten« oder »aus einer anderen Warte«. Dies sind Metaphern dafür, dass wir etwas anders sehen bzw. erkennen, als wir es bislang gewohnt waren: Wir sehen durch das Gegebene hindurch auf etwas anderes. Das geschieht nicht in erster Linie dadurch, dass wir visuell eine andere Perspektive einnehmen, sondern indem wir unsere Imagination gebrauchen.20 Im Fall von DAS WEISSE BAND scheint nun aber das erste Bild, der Schwarzfilm mit dem Titel, aperspektivisch zu sein, denn aus einer Kameraperspektive ist es nicht gefilmt. Als aperspektivisch wäre das erste Bild jedoch nur zu bezeichnen, wenn wir »Perspektive« auf eine visuelle Sichtweise reduzierten. Wir hören aber auch eine Erzählstimme. Ohne schon den Inhalt der Erzählung zu be-

18 Vgl. etwa auch Francois Josts Unterscheidung zwischen Ocularisation (visuell, bildlogisch), Auricularisation (auditiv, tonlogisch) und Focalisation (narrativ, handlungslogisch); dieser Hinweis ist entnommen Schweinitz, Jörg/Tröhler, Margrit: »Editorial zum Themenschwerpunkt Figur und Perspektive (2)«, in: montage/av 16/1 (2007), S. 3-11, hier S. 7. 19 Vgl. zum Begriff der »Perspektive« in Kunst, Philosophie und Rechtswissenschaft die Texte im Sammelband von Koch, Gertrud (Hg.): Perspektive – Die Spaltung der Standpunkte. Zur Perspektive in Philosophie, Kunst und Recht, München: Fink 2010. Außerdem Schulte-Sasse, Jochen: »Perspektive/Perspektivismus« (= Ästhetische Grundbegriffe, Band 4), Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 758-778. 20 Vgl. Scruton, Roger: Art and Imagination. A Study in the Philosophy of Mind, London: Methuen 1974.

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rücksichtigen, können wir hier eine Erzählperspektive ausmachen, die uns auditiv vermittelt wird: Wir hören synchron zum Bild etwas über den Standpunkt eines Mannes: Sein Standort in der Geschichte und seine Sicht auf zurückliegende Geschehnisse. Indem hier jemand von vergangenen Ereignissen spricht, an die er sich nicht in allen Details erinnert, wird deutlich, dass eine Perspektive auch existenziell, kontextual und zeitlich an einen Standort gebunden ist; sie ist persönlich und subjektiv. Als geübte ZuschauerInnen begreifen wir sehr schnell, dass das, was erzählt wird, aus einer subjektiven Perspektive und vor einem historischen Hintergrund erzählt wird. Dies wird durch zwei ästhetische Mittel verstärkt: Erstens wirken das erste Schwarz- und die darauffolgenden SchwarzweißBilder historisch und anti-naturalistisch: Sie betonen die subjektive Erinnerung des Erzählers, indem sie als Schwarzweiß-Bilder den Artefaktcharakter der Geschichte betonen und damit die, wie Haneke selbst es formuliert, »Wahrheit oder Wirklichkeit der Geschehnisse« in Zweifel ziehen lassen. 21 Dies verweist zudem auf eine extradiegetische Metaperspektive: Aumont nennt dies die mentale Haltung, die die Darstellung der Figuren oder des filmischen Ganzen überformt.22 Den zweiten Hinweis für eine zeitliche Diskrepanz zwischen Erzählinstanz und Erzähltem gibt die Stimme des Sprechers, wobei wir dies erst erkennen, wenn der Erzähler aus dem Off sich als intradiegetische Figur in der Geschichte erweist. Die Erzählerstimme klingt älter als die Stimme der Figur. So können wir dem Erzähler zwei Perspektiven zuordnen, einmal jene, die er einnahm, als er damals als Dorflehrer Zeuge »mancher Vorgänge« wurde, zum anderen jene, die er in der extradiegetischen Gegenwart rückblickend und reflektierend – aus der Perspektive eines alten Mannes – einnimmt. Die Perspektivenvielfalt geht aber noch weiter: Der Erzähler richtet sich mit seiner Geschichte an eine fiktive und eine reale Zuhörerschaft, deren Sicht auf Ereignisse – wieder ein alltagssprachliches Synonym – sich möglicherweise durch die Erzählung verändert: Es würde eventuell etwas »Neues«, um auf Rorty zurückzukommen, sichtbar werden. Auch dass es überhaupt diesen Erzähler gibt, ist ein perspektivierendes Mittel:

21 In einem Interview vertritt Haneke die These, Farbe provoziere eine »verlogene Illusion von naturalistisch wiedergegebener Wirklichkeit, »sie tut so als wüßten wir wie es damals war. Und niemand weiß wirklich, wie es damals war. Das Schwarzweiß unterstreicht den Artefakt-Charakter.«, M. Haneke: Das weiße Band. Eine deutsche Kindergeschichte. Das Drehbuch zum Film, S. 147. Vgl. auch Cieutat, Michel/ Rouyer, Philippe: Haneke über Haneke, Berlin/Köln: Alexander Verlag 2013 (frz. zuerst 2012), S. 313. 22 J. Aumont: Der Point of View; vgl. außerdem J. Schweinitz/M. Tröhler: Editorial zum Themenschwerpunkt Figur und Perspektive (2), S. 8.

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Es unterstreicht die wertende Position des Films, denn der Erzähler schreibt sich selbst eine evaluative Funktion zu, indem er die Ereignisse im Rückblick interpretierend berichtet, weil er meint, sie berichten zu müssen, da sie Erklärungspotenzial haben.23 Ich habe eben bereits die ästhetischen Mittel angesprochen: Ein Schwarzweiß-Bild ist nicht nur narrativ unterstützend, es hat auch eine eigenständige, expressive Qualität, deren Expression sich von einem Farbbild zum Beispiel darin unterscheidet, dass eine Distanz hergestellt wird, weil auf etwas Altes, Vergangenes verwiesen wird. Es vermittelt aber auch eine bestimmte Stimmung und Atmosphäre. Auch dies können wir als Perspektive begreifen. Denn Stimmungen sind, wie angedeutet, selbst Weisen, die Welt wahrzunehmen.24 In einer depressiven Stimmung haben wir eine andere Perspektive auf die Welt als in einer leichten, gehobenen, lustigen Stimmung. Eine Stimmung der Angst ist mit der Perspektive auf eine Situation als bedrohlich konstitutiv verknüpft usw. Wie bei dieser knappen Darstellung deutlich werden sollte, sind Perspektiven im Film nicht auf die visuelle Kamera noch auf die narrativen, handlungslogischen Perspektiven der fiktiven Figuren beschränkt. Gerade der Film weist eine komplexe Perspektivenvielfalt auf. Denn beim Film greifen technische, erzählerische und metaphorische Perspektiven visuell, auditiv, editorisch ineinander und machen in ihrer Beziehung untereinander die vielschichtige filmästhetische Erfahrung aus. Ihnen jeweils innewohnen können verschiedene Affizierungsprozesse: So wird etwa eine narrative Perspektive durch eine ausgedrückte Emotion oder Stimmung der Figur begleitet, die Metaperspektive durch eine filmischexpressive Atmosphäre zum Ausdruck gebracht (ein Film Noir hat eine andere Atmosphäre als eine zeitgenössische konventionelle Liebeskomödie), und die technischen Perspektiven können ihrerseits Mittel sein, die verschiedenen Arten von Affekten der Erzählung zu unterstützen.25

23 Zu solchen Erzählerinstanzen vgl. Nünning, Ansgar: »Die Funktion von Erzählinstanzen. Analysekategorien und Modelle zur Beschreibung des Erzählerverhaltens«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 30 (1997), S. 323-349., S. 336. 24 Wellbery, David: Stimmung (=Ästhetische Grundbegriffe, Band 5), Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 703-733. 25 »Affekt« wird hier als Oberbegriff für alle affektiven Phänomene wie Emotionen oder Stimmungen verwendet. Der Begriff der Atmosphäre ist eng mit dem der Stimmung verwandt. Gernot Böhme, der den Begriff in der philosophischen Diskussion als ein Grundbegriff einer neuen Ästhetik stark geprägt hat, beschreibt »Atmosphäre« als eine stimmungshafte Eigenschaft einer räumlichen Umgebung, deren Ausstattung und Beziehung zum leiblich anwesenden Subjekt, vgl. Böhme, 2013. Der Phänomenologe

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Zwischen Perspektiven des Films, im Film und beim Betrachten eines fiktiven Films auf der einen Seite und den Perspektiven in nicht-ästhetischen oder nicht-fiktionalen Kontexten gibt es einige wichtige Unterschiede: Was die Perspektiven im Film bzw. unsere Zuschauerrezeption dieser Perspektiven betrifft, sind wir nämlich zugleich freier und eingeschränkter. Eingeschränkter sind wir, da der Film als narratives, fiktionales Konstrukt und als Ausschnitt uns Perspektiven vorgibt. Während wir in der Realität einer Vielzahl von Möglichkeiten ausgesetzt sind, unser Umfeld aus der einen oder anderen Perspektive sehen zu können, indem wir faktisch oder metaphorisch unseren Standort ändern, ohne dass uns stets jemand vorgibt, wohin wir unseren Blick wenden sollen, wird unser Blick auf die fiktiven Figuren »vorperspektiviert«.26 Wir wissen nur das über sie oder erfahren nur jenes über sie, was uns der Film und der Filmemacher über die Narration und Expression erfahrbar macht und was wir auf dieser Grundlage imaginativ ergänzen.27 Carroll spricht hierbei von einem kriteriellen Vorfokussieren: Das, was in Bild und Erzählung dargestellt wird, ist so ausgewählt, dass es den Fokus der ZuschauerInnen auf bestimmte Details richtet, die bestimmte emotionale Regungen und moralische Urteile evozieren.28 Die Kameraeinstellungen und andere expressive Mittel bestimmen dabei die narrative Perspektive konstitutiv mit.29 Solche starken und eindeutigen Vorperspektivierungen haben

Hermann Schmitz definiert »Gefühle als räumlich ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären« und Atmosphären als Besetzungen eines flächenlosen Raums. Vgl. Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Bielefeld: Edition Sirius 2007. 26 J. Schweinitz/M. Tröhler: Editorial zum Themenschwerpunkt Figur und Perspektive (2), S. 3. Das trifft auch auf den Dokumentarfilm zu, der über seine Erzählstruktur, Kameraführung etc. die Perspektivierungen ebenfalls lenkt. Ich konzentriere mich hier aber auf den fiktiven, narrativen Film. 27 Das gehört nicht zuletzt auch zu der manipulativen Kraft, die Film haben kann. 28 Carroll, Noël: »On some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 162-184, hier S. 169. Vgl. auch Carroll: »Film, Emotion, and Genre«, in: Carl Plantinga/Greg M. Smith (Hg.), Passionate Views, Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press 1999, S. 21-47, hier S. 29: »[...] the filmmakers have already done much of the work of emotionally organizing scenes and sequences for us through the ways in which the filmmakers have foregrounded what features of the events in the film are salient.« 29 Vgl. J. Schweinitz/M. Tröhler: Editorial zum Themenschwerpunkt Figur und Perspektive (2), S. 5.

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wir in der Wirklichkeit jenseits von Fiktionen nicht.30 Freier aber sind wir in zweierlei Hinsicht: Da wir uns auf diese vorgegebenen Perspektiven konzentrieren können, müssen wir erstens keine ablenkende Kontextualisierungs- und Zuordnungsarbeit leisten, sondern können uns ganz auf die ästhetische Erfahrung – die eine Art Spiel ist – einlassen. Denn eine Narration schafft mit ihren Vorperspektivierungen und Lenkungen zugleich auch Strukturierung, Einordnung und Distanz.31 Zudem sind wir ethisch freier, das heißt entlastet, was unsere Handlungsmöglichkeiten und -pflichten betrifft, da wir in das Geschehen nicht eingreifen können. Wir können Perspektiven ausprobieren, ohne dass dies von uns ein direktes Handeln in ethischer Hinsicht erfordert.32 Und schließlich macht uns eine Perspektiveneinnahme auch in existenzieller Hinsicht freier, indem uns neue Möglichkeiten des Seins eröffnet werden.33 Die Perspektivenmöglichkeiten der Wirklichkeit – in welchem Lichte wir jemanden betrachten können – sind hingegen nur scheinbar freier, denn sie sind auch diffuser, episodischer und fragmentarischer;34 vielfach scheitern wir, da wir zu wenig über die Menschen, die uns im alltäglichen Leben begegnen, wissen. Vielmehr müssen wir uns dieses Wissen mühsam erarbeiten und wir können nicht mit den Perspektiven unserer Umgebung spielen. Wir müssen jemanden genau kennen lernen, um seine oder ihre Perspektive – zum Beispiel auf eine politische Frage oder auf das Leben als Ganzes – verstehen zu können. Im Gegensatz zu unserem Umgang mit Fiktionen sind wir dabei auch ethisch gefordert, zu handeln, wenn wir eingreifen können.

30 Es gibt auch in der Wirklichkeit Fiktionalisierungen und fiktionale, narrative Zusammenhänge, etwa bei Stadtführungen, die lenkend die Geschichte einer Stadt erzählen. Vgl. zum Verhältnis von Realität und Fiktion Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. 31 Vgl. Breyer, Thiemo: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2015, S. 262. 32 »In entering a fictional world, we are exercising our feelings, but not acting from them«, Scruton, Roger: The Aesthetics of Music, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 355, Herv. i.O.. 33 »[...] the possibilities of becoming other than what is«, V. Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, xix. 34 Vgl. dazu auch die Unterscheidung zwischen alltäglicher und virtueller Erfahrung von Vendrell Ferran, Ingrid: »Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination«, in: Christoph Demmerling/Ingrid Vendrell Ferran: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, Berlin: De Gruyter 2014, S. 119-140, S. 129.

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Haben auch Gegenstände, nicht-menschliche Entitäten und Körper im Film Perspektiven? Wir können davon ausgehen, dass auch die »Dinge im Film« anders wahrgenommen werden als in nicht-ästhetischen Zusammenhängen: Gerade da der Film mit seiner Kameraperspektive und seinem Narrativ Vorperspektivierungen schafft, erhalten die Dinge eine Bedeutung oder werden als etwas »behandelt«, wie Cavell schreibt, was sie in Wirklichkeit nicht sind.35 Gegenstände, so unscheinbar sie erscheinen mögen, haben im Film ihren Platz, ihre Rolle.36 Cavell betont, dass hierfür die Imagination und der Perspektivenwechsel wichtig sind, um Dinge als etwas anderes wahrzunehmen. Auch Landschaften, Natur, Bäume, Meer, Straßen, Häuser etc. sind im Film nicht bloße Requisiten, sondern drücken Stimmungen, Atmosphären aus, unterstützen insofern eine Metaperspektive oder Figurenperspektiven oder sind selbst als Perspektiven zu verstehen. Körper können als Perspektiven bestimmt werden, wenn wir davon ausgehen, dass wir a) als menschliche Wesen, die sich in der Welt bewegen, immer mit einem Körper in der Welt sind und diese wahrnehmen, b) die Welt auch an unserem Körper empfinden: So fangen wir etwa an zu zittern oder wollen fliehen, wenn wir einer Bedrohung ausgesetzt sind, uns c) körperlich ausdrücken, wenn wir unser Fühlen und Denken vermitteln und d) kognitive Prozesse nicht von unserem leiblichen In-der-Welt-Sein zu trennen sind. Die Aspekte a-d werden vor allem in phänomenologischen Ansätzen und jüngst in Theorien einer Philosophie der Verkörperung innerhalb der Kognitionswissenschaften vertreten.37 Die hier bloß knappe Darstellung der Polyperspektivität des Films und der Rezeption ist nicht als rein deskriptiv zu verstehen, sondern als normativ: Perspektiven werden in der filmästhetischen Erfahrung angeboten, und die FilmzuschauerInnen sind aufgefordert, ihrerseits diese Angebote aufzugreifen, um dem Film kognitiv und affektiv folgen zu können. Das damit notwendig unterstellte

35 Cavell, Stanley: »Was wird aus den Dingen im Film«, in: Dimitri Liebsch (Hg.), Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn: Mentis 2006 [engl. zuerst 1978], S. 100-110, hier S. 102. 36 Vgl. dazu etwa die metaphorische und handlungslogische Rolle der Gegenstände im Film AMOUR (F/D/A 2012) von Michael Haneke. So wurden zum Beispiel die Bücher in den Regalen in der Wohnung der Hauptfiguren alphabetisch und nach Thema geordnet, obwohl man in keiner Einstellung die Titel auf den Büchern lesen kann. Haneke ist der Überzeugung, dass man solche Details dennoch »in den Bildern spürt«, M. Cieutat/P. Rouyer: Haneke über Haneke, S. 355. 37 Fingerhut, Joerg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 9.

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Interesse an den Perspektiven des Films ist nicht nur instrumentell, sondern auch darin begründet, dass wir mit der Perspektiveneinnahme einen epistemischen und ethischen Wert verbinden und darin auch den Gesamtwert der ästhetischen Erfahrung mit Kunstwerken bzw. Film sehen können: Indem wir andere Perspektiven einnehmen, lernen wir Neues kennen, erweitern unser Wissen, unseren Horizont und gelangen möglicherweise, wie es Rorty vorschwebt, zu mehr moralischer Reife und Autonomie.38 Dazu bedarf es mindestens eines menschlichen Vermögens, dem ich nun den zweiten Teil dieses Aufsatzes widmen möchte, nämlich der Empathie. Sie ist es, die wir einsetzen müssen, wenn wir Perspektiven nachvollziehen wollen, was Bedingung ist, um dem Film folgen zu können.

3. E MPATHIE Wenn wir in der Rezeption einem Film in seiner Ästhetik und Handlungslogik folgen wollen, so gehört dazu ein integrales Interesse, mehr über die Figuren und deren Wünsche, Überzeugungen, Emotionen, Stimmungen, Handlungen und Handlungsmotive etc. zu erfahren, um verstehen und beurteilen zu können, warum sie wie denken, fühlen und handeln. Nur so bleiben wir überhaupt »am Ball«.39 Folgen können wir dem Film und seinen Figuren, so meine These, indem wir Perspektiven einnehmen. Dies ist freilich nicht nur so gemeint, dass wir die Kameraperspektive visuell einnehmen, sondern vor allem, dass wir uns die Sichtweisen des Films und der Figuren zu vergegenwärtigen versuchen. Dazu verhilft uns unsere Fähigkeit der Empathie. Empathie bedeutet, allgemein gesagt, die mentalen Zustände anderer Personen oder Figuren, vor allem deren komplexe Emotionen und Überzeugungen, nachzuvollziehen und zu verstehen. Ich unterscheide grob vier größere verschiedene Theoriegruppen, innerhalb derer jeweils verschiedene Ansätze unterschieden werden: Zur ersten Gruppe zähle ich Ansätze, welche Empathie als Nachahmung, Ansteckung oder Spiegelung definieren. Unter Empathie wäre dann der mimetische, präreflexive Vorgang des Mitgehens auf affektiver Ebene zu verstehen, was Kritiker einer solchen Konzeption zu Recht begrifflich als »Ansteckung« von Empathie unterscheiden. Da diese Theoriegruppe aber zugleich bedeutend für die Empathiedis-

38 R. Rorty: Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit. 39 Gertrud Koch nennt dies die »und dann? und dann...?«-Erwartung, die ZuschauerInnen und LeserInnen an Geschichtenerzähler haben, vgl. Koch, Gertrud: Breaking Bad, Zürich/Berlin: Diaphanes 2015, S. 12.

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kussion ist, soll sie hier auch unter dem Begriff der Empathie und der basalleiblichen Resonanz vorgestellt werden. Zur zweiten Gruppe gehört die Theory Theory, nach welcher wir nach einem volkspsychologischen Modell auf die mentalen Zustände Anderer inferentiell schließen. Die dritte Gruppe bildet die Simulationstheorie, wonach wir uns imaginativ in die Lage des Anderen hineinversetzen und die entsprechenden Zustände simulieren. Unter die vierte Gruppe fallen phänomenologisch geprägte Ansätze, welche Empathie in erster Linie als direkte Wahrnehmung des Ausdrucksverhaltens anderer verstehen. Ich subsumiere meinen eigenen Ansatz unter diese Gruppe, allerdings verknüpfe ich dabei das Kriterium der leiblichen Ausdruckswahrnehmung mit dem der imaginativen Perspektiveneinnahme. Ich möchte zur Veranschaulichung der verschiedenen Empathietheorien wieder auf das Filmbeispiel DAS WEISSE BAND zurückkommen, dieses Mal aber eine Szene im ersten Drittel des Films analysieren, welche im Haus des strengen Pfarrers spielt, der seine Kinder autoritär erzieht. In einer einzigen langen Einstellung folgt die Kamera zunächst der Pfarrersfrau, die zwei ihrer Kinder, Martin und Klara, in ihren Zimmern abholt und mit ihnen zum Esszimmer geht. Die visuelle Perspektive der Kamera ist darauf gerichtet, wie die Mutter die Tür öffnet. Wir sehen den Pfarrer und die anderen Kinder am Tisch sitzen. Die Mutter, Martin und Klara gehen in den Raum. Die Tür wird geschlossen. Die Kamera verharrt unbeweglich in einigem Abstand, so dass der lange Flur zu sehen ist, an dessen Ende die verschlossene Tür ist. Das Bild enthält wichtige handlungsbezogene sowie extradiegetische, selbst-reflexive Implikationen: Die Kadrierung ist akkurat und geometrisch, ein von Haneke häufig verwendetes Stilmittel, das die filmisch selbstreferentielle Rahmen- und Türsymbolik des Innen und Außen widerspiegelt: Als ZuschauerInnen sind wir in ontologischer Hinsicht grundsätzlich vom Geschehen auf der Leinwand abgeschirmt. Cavell verwendet dafür den doppeldeutigen Begriff des »screened«: Ein Film ist auf die Leinwand (»screen«) projiziert und schirmt uns davon zugleich ab, denn wir können nicht selbst in den Film durch die Leinwand hindurch in das Filmgeschehen hineinsteigen. »The world of a moving picture is screened [...] What does a silver screen screen? It holds me from the world it holds – that is, makes me invisible.«40 In der Szene des Haneke-Films wird dies aufgegriffen; wir bleiben wie ein unbeobachteter Beobachter draußen. Wir sehen aber nun distanziert aus der Kameraperspektive, wie Martin den Raum verlässt und mit einem Rohrstock zurückkehrt. Anschließend hören wir die Stimme des Vaters und dann in regelmä-

40 Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition, Cambridge, MA: Harvard University Press 1979 (erstmals 1971), S. 24.

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ßigen Abständen das Geräusch der Rohrstockschläge sowie Martins Schreie. Zur visuellen Perspektive kommt hier entscheidend der Ton hinzu, der über die Geräusche und Stimmen aus dem verschlossenen Raum eine eigene Perspektive wiedergibt. Wie reagieren wir in dieser Szene empathisch? Meines Erachtens gibt es entsprechend der vier Theoriegruppen auch vier verschiedene Möglichkeiten, auf diese Situation zu reagieren. Ob wir jede dieser Möglichkeiten tatsächlich Empathie nennen sollen, wird im Folgenden zur Diskussion stehen. 1. Nach der Nachahmungstheorie wäre anzunehmen, dass wir beim Hören der Schreie zusammenzucken und den Schmerz oder zumindest das damit verbundene Leid, die Angst etc. automatisch mitempfinden. Traditionell liegt dieser Theorie Theodor Lipps’ Einfühlungsbegriff zugrunde, der Empathie als instinktiven Vorgang der Gefühlsnachahmung und automatischen Projektion beschreibt.41 Die einfühlende Person spiegelt in dem Fall die mentalen Aktivitäten oder Erfahrungen Anderer auf der Grundlage der Beobachtung körperlicher Akte oder Expressionen (wie Gestik, Mimik). Es kommt dann mindestens zu einer Tendenz, die beobachteten Abläufe körperlich zu imitieren, zum Beispiel beim Anblick eines verärgerten Gesichts selbst ein solches Gesicht zu machen. Gerade weil hier von einer Spiegelung gesprochen wird, kann auch die seit den 1990er Jahren viel diskutierte Theorie der Spiegelneuronen unter diese Kategorie zusammengefasst werden.42 Nach dieser Theorie werden, kurz gesagt, beim Anblick einer Emotion eines Anderen spiegelhaft die gleichen Neuronen aktiviert wie wenn wir selbst diese Emotion originär spüren. Ferner gehört zu dieser Gruppe das Konzept der emotionalen »Gefühlsansteckung«, welches das Phänomen einfängt, dass wir von Gefühlen anderer reflexartig infiziert werden können, zum Beispiel, wenn wir in eine Menschenmenge geraten, die aggressiv aufgeladen ist. In allen diesen Fällen ist der Vorgang ein unbewusster, bei dem Gefühle einer anderen Person automatisch angenommen werden.

41 Vgl. Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1903, S. 713-719. 42 Vgl. z.B. Rizzolatti, Giacomo/Fadiga, Luciano/Fogassi, Leonardo/Gallese, Vittorio: »Resonance Behaviour and Mirror Neurons«, in: Archives Italiennes de Biologie Nr. 137 (1999), S. 85-100. Für einen Überblick vgl. auch Goldman 2006. Stueber spricht im Zusammenhang mit den spiegelneuronalen Mechanismen von einer »basalen Empathie«. Vgl. Stueber, Karsten R.: Rediscovering Empathy, Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge: MIT Press 2006. Um dies von Empathie im anspruchsvollen Sinne besser abzusetzen, schlage ich vor, von einer Form basaler neuronaler Resonanz, die sich leiblich ausdrückt, zu sprechen. Die Spiegelneuronentheorie wird häufig auch unter die Gruppe der Simulationstheorie subsumiert.

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Gerade den Film betreffend, scheint diese Theorie einiges an Plausibilität zu besitzen: Die Erfahrung mit fiktiven, narrativen Filmen wird häufig auch als »immersiv« bezeichnet.43 Der Begriff der Immersion meint, dass wir in das Filmerlebnis eintauchen, impliziert eine Selbst- und Weltvergessenheit und ist verbunden mit einer Art Überwältigung durch das filmische Geschehen. 44 Der mimetische Einfühlungsbegriff nach Lipps scheint zur Beschreibung dieses Phänomens genau das geeignete terminologische Werkzeug: Wenn wir an unsere Reaktionen in schnell geschnittenen und einem mit uns buchstäblich einlullenden »Surround Sound« versehenen Action-Filmen denken, so sind diese genau so zu beschreiben: Wir bleiben dabei nicht konzentriert verhalten im Kinosessel sitzen, sondern schrecken unwillkürlich zurück, sinken ein, spüren unser Herz rasen etc. Aber nicht nur der naheliegende Action-, auch der ruhige ArthouseFilm kann solche immersiven Prozesse in Gang setzen, wenn er uns mit langen Einstellungen in eine ruhige oder gespannte Stimmung versetzt.45 Auch für die Erklärung des Einflusses der expressiven Mittel ist Lipps Einfühlungstheorie hilfreich: Nach Lipps geschieht die Imitation auch mit Gegenständen, zum Beispiel Steinen, Bäumen etc. Wir ahmen dann deren Tendenz nach, zum Beispiel die Abwärtsbewegung eines Steins, der einen Berg hinabrollt.46 Ein akkurat kadrierter Kameraausschnitt mit Schwarzweiß-Bildern könnte demnach in uns ein Gefühl der Strenge, Ordnung, Präzision, Kühle und Distanz hervorrufen. Es ist eine leibliche Resonanz, also ein Mitschwingen oder Widerhallen auf die Atmosphäre oder die Stimmung des Bildes. Obwohl dies ein reflexhafter Vorgang ist, können wir auch auf diese Weise Perspektiven wahrnehmen, nämlich leiblich. Indem wir Stimmungen kontagiös erfassen bzw. sie uns, erfassen wir auch die damit verbundenen Perspektiven, die wir uns zwar nicht bewusst vergegenwärtigen, die wir aber am eigenen Leib spüren: Ein stimmungshaftes In-der-WeltSein ist auch eine Weise, die Welt wahrzunehmen.

43 Vgl. Curtis, Robin: »Immersion und Einfühlung«, in: montage/av,17/2 (2008), S. 89107. 44 Ebd. 89 f. 45 Ein Beispiel wäre der dreistündige, fast vollständig auf Sprache verzichtende Dokumentarfilm DIE GROSSE STILLE (F/CH/D 2005) von Philip Gröning über das Schweigekloster Grande Chartreuse. 46 Vgl. T. Lipps: Leitfaden der Psychologie, S. 193. Vgl. Voss, Christiane: »Einfühlung als epistemische und ästhetische Kategorie bei Hume und Lipps«, in: Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.), Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, Paderborn/München: Fink 2009, S. 31-47, hier S. 40.

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Wie aber sollen wir wissen, dass es sich um eine neue Perspektive handelt und vor allem warum diese Perspektive besteht? Sind wir überhaupt so distanzlos und »verloren« im Kino, wie es Immersions- und Einfühlungstheorien nach Lipps nahelegen?47 Die Konzeption von Lipps wurde häufig als eine egozentrische Konzeption kritisiert, wonach die Rezipientin nur weiß, was sie selbst fühlt und dies auf den eigenfühlten Gegenstand oder die Person projiziert.48 Auch scheint es in der beschriebenen Haneke-Szene besonders schwierig, von einer direkten Nachahmung zu sprechen, da die Kamera in Distanz zu dem Geschehen tritt, das wir dann nur noch hören, während der Empathie-Vorgang nach Lipps eine optische Wahrnehmung der Bewegungen, Gestiken, Mimiken etc. Anderer voraussetzt. Ein zentrales Problem dieser Konzeption im Hinblick darauf, wie wir andere verstehen, besteht unter anderem darin, dass bei der Ansteckung oder Nachahmung das Gefühl unreflektiert übernommen wird, ohne dass man über dessen Ursachen, Objekte und Konsequenzen im Klaren ist. Die Gefühle des Anderen werden hier nicht verstehend nachvollzogen, sondern infektiös übernommen. Lipps’ Ansatz ist ein gänzlich anti-hermeneutischer Ansatz, bei dem es in der ästhetischen Erfahrung gerade nicht um Verstehensbemühungen geht.49 Kognitives Urteilen und Fühlen fallen bei ihm auseinander. Für eine Ästhetik, welche einen epistemischen und ethischen Wert von Perspektiveneinnahmen in der Ästhetik sowie eine Verbindung von Leib und Geist, Denken und Fühlen annimmt, eignet sich dieser Ansatz nicht.50 Ein weiteres Problem, das bereits angedeutet wurde, ist, dass beim Lipps’schen Ansatz die Distanz zwischen Rezipientin und eingefühlter Figur gerade verloren gehen soll und es dann nicht mehr deutlich ist, dass es die Figur ist, welche fühlt. Gerade zu einer ästhetischen Erfahrung gehört aber auch eine Distanz, damit sie sich von einer rein lustvollen Konsumation unterscheidet. Haneke wendet in der beschriebenen Szene ein sehr starkes Distanzierungs- und Reflexionsmittel an, indem die Kamera wie ein unbeteiligter Beobachter außen vor bleibt und wir das Geschehen nur auf auditiver Ebene mitgeteilt bekommen anstatt zum Beispiel aus der Perspektive »über der Schulter« der beobachtenden Mutter oder aus dem subjektiven Point of View des schlagenden

47 Voss, die zwar eine Illusionsästhetik vertritt, bestreitet das und wendet sich kritisch gegen jene Immersionstheorien, welche Immersion und Reflexion/Distanz als Gegensatz verstehen. Vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, Paderborn: Fink 2013, S. 184. 48 Ebd. S. 205 ff. 49 Ebd. S. 205 ff., insb. S. 210 f. 50 Vgl. für einen anti-reduktionistischen Versöhnungsansatz auch ebd.

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Vaters. Wie veranschaulichen wir uns das, was hinter der Tür vorgeht? Reicht dazu der Hörsinn aus, um sich das Ganze der Situation zu vergegenwärtigen? Und schließlich besteht ein Problem darin, dass wir als RezipientInnen oft gar nicht dasselbe fühlen wie die Figur, ja gerade nicht fühlen müssen und dennoch (oder gerade dann) verstehen, in welcher Situation sie sich befindet. Nach dem Nachahmungsansatz würden wir aber bei jeder Gestik und Darstellung von Gefühlen diese automatisch imitieren. Noël Carroll hat dagegen berechtigterweise vermehrt Kritik vorgebracht.51 Die Gefühle einer Filmfigur und die der Zuschauerin sind nämlich sehr häufig asymmetrisch und sollen es auch sein. Zum Beispiel können wir uns um die Figur Martin sorgen, während er gerade schreit – er selbst sorgt sich möglicherweise gar nicht um sich, sondern kann sich nur auf seine Schmerzen konzentrieren. Wir aber fürchten etwa um das Leben der Figur, haben Mitleid mit ihm und empfinden Wut auf den Vater.52 Unsere Emotion ist dann ein sympathetisches Mitgefühl, nicht ein mimetisches gleiches Fühlen. Statt von Empathie sollte man in den Fällen der Nachahmung, Spiegelung und Ansteckung daher von einem passiven, unbewussten Mitfühlen sprechen. Es ist nicht mit der komplexen Empathie als Verstehensprozess der Emotionen und anderen mentalen Prozesse gleichzusetzen.53 Mit der Kritik an diesen Modellen soll aber nicht der Vorgang der Ansteckung, Spiegelung usw. als solcher zurückgewiesen werden – denn natürlich gibt es diese Erfahrung gerade beim Film. Wie oben angegeben, haben wir es dabei durchaus mit einer sehr basalen, primitiven Form der Resonanz zu tun, die auch ein konstitutiver Teil der Filmerfahrung ist. Worauf es mir an dieser Stelle aber ankommt, ist, dass diese Form der Resonanz nicht mit einer differenzierenden Empathie zu verwechseln ist54 und

51 Vgl. etwa N. Carroll: On some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions. 52 Ebd. S. 168. 53 Ebenso wenig ist es mit einem gemeinsamen Fühlen gleichzusetzen, bei dem das intentionale Gefühlsobjekt bewusst geteilt wird, wie das etwa bei einem komplexen Miteinander- oder geteilten Fühlen der Fall ist. Vgl. dazu die Konzeption von Angelika Krebs im Anschluss an Max Scheler in Krebs, Angelika: Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 220. Vgl. außerdem Carrolls Konzeption des »vectorially converging emotive state«, N. Carroll: On some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions, S. 171 ff. 54 Margrethe Bruun Vaage etwa unterscheidet deshalb zwischen einer bloßen unreflektierten Ansteckung und einer »embodied empathy«, bei der die Differenz zwischen einfühlendem und eingefühltem Subjekt klar ist. Diese »embodied empathy« Konzep-

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dass sie uns auch nicht hilft, a) zwischen den Gefühlen der Rezipientin und der Figur klar zu unterscheiden und b) die Hintergründe, Kontexte, Gründe bestimmter Gefühle zu erklären, denn dazu bedarf es der Imagination und der Reflexion.55 Wie Carroll schreibt, ist ihnen aber durchaus die Funktion zuzuschreiben, uns überhaupt für emotionale Reaktionen zu aktivieren, indem sie uns aufmerksam machen kann für die generelle Wertigkeit der Gefühle der Figuren.56 2. Bestimmte Vertreter einer Theory of Mind (ToM) sind dagegen der Ansicht, dass wir, um die Gefühls- und Interessenlagen anderer zu verstehen, eine allgemeine volkspsychologische Theorie anwendeten. Nach der sogenannten Theory Theory wenden wir als Rezipienten eine im Laufe der Kindheit erlernte basale Theorie des Geistes an (eine Art Volkspsychologie), mit der wir von bestimmten Mustern mentaler Zustände wie Emotionen, Stimmungen, Wünschen und Überzeugungen ausgehen und damit auch auf diese Zustände anderer inferentiell schließen, um deren Hintergründe und Handlungsfolgen zu verstehen.57 Nach der Theory Theory wird aus einer Dritten-Person-Perspektive allgemeines Wissen auf eine spezifische Situation eines anderen angewendet, das Verstehen einer anderen Person ist primär theoretischer Natur.58 Je weniger wir über eine fiktive Figur wissen, desto hilfreicher scheint eine solche Anwendung. Angenommen, wir werden Zeuge oben beschriebener Szene: So können wir, ohne etwas anderes zu wissen, schlussfolgern, dass der Junge, der hinter verschlossener

tion könnte daher gut zu dem passen, worauf ich weiter unten im Zusammenhang mit dem Ansatz von Edith Steins Phasentheorie der Empathie zu sprechen komme. Vgl. Vaage, Margrethe Bruun: »Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement«, in: Midwest Studies in Philosophy XXXIV (2010), S. 158-179, S. 163. 55 Vgl. zu Rolle der Reflexion auch N. Carroll: On some Affective Relations between Audiences and the Characters in Popular Fictions. 56 Ebd. S. 177 ff. Carroll spricht in diesem Zusammenhang von »Mirror Reflexes« und behandelt sie als eigene Kategorie im Unterschied zu den infektiösen Identifikationen. Wir können diese Kategorien aber meines Erachtens unter eine zusammenfassen, denn bei beiden liegt der Fall einer Gefühlsübereinstimmung auf leiblicher und präreflexiver Ebene vor. 57 Für einen hilfreichen, kritischen Überblick vgl. Zahavi, Dan/Overgaard, Søren: »Empathy without Isomorphism: A Phenomenological Account«, in: Jean Decety (Hg.), Empathy: From Bench to Bedside, Cambridge, MA: MIT Press 2012, S. 3-20.und Zahavi, Dan: Self and Other, Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame, Oxford: Oxford University Press 2014. 58 S. Overgaard/D. Zahavi: Empathy without Isomorphism, S. 3; T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 18 ff.

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Tür mit dem Rohrstock geschlagen wird, körperliche und seelische Schmerzen empfindet, dass er sich gedemütigt fühlt, dass sein Wille gebrochen wird und so weiter. Wir können auch einige Schlussfolgerungen auf die anderen Personen im Raum anstellen: Die Strenge des Pfarrers, die Angst der Geschwister am Esstisch etc. Wenn wir auch das kennen, was der Szene vorausliegt, können wir weitere Hintergründe narrativ ergänzen, unsere Theorie mit Wissen um die Figuren versorgen und über das Schlussfolgern dieses Wissen vervollständigen und auf dieser Grundlage Situationen wie die dargestellte dann verstehen. Wie aber kommen wir überhaupt zu einem solchen Wissen und welcher Art ist es? Über das inferentielle Schließen kommen wir zwar zu einem propositionalem Wissen, einem »knowing that«: Wenn eine Figur in Tränen ausbricht, nachdem sie gerade gedemütigt wurde, so folgern wir, dass sie traurig, verletzt, verärgert ist und nicht, dass sie Freudentränen vergießt. Wir wissen allerdings nicht, wie es für sie ist, traurig, verletzt, verärgert zu sein, nachdem sie gedemütigt wurde. Dies ist einer der Schwachpunkte der Theory Theory: Sie ist schlicht zu theoretisch, um das, was andere Personen oder auch fiktive Figuren ausmacht, zu verstehen, nämlich ihre konkrete kontextuale und leibliche, verkörperte Eingebundenheit in eine Umwelt, innerhalb derer sie sich bewegen, interagieren und ausdrücken. Perspektiven sind konkrete Erfahrungsperspektiven, die uns über narrative Fiktionen in einer pointierten, prägnanten und verdichteten Weise vergegenwärtigt werden.59 Das, was die besondere epistemische und ethische Leistung von narrativer Fiktion im Besonderen und Kunst im Allgemeinen gegenüber anderen Wissensquellen wie etwa Sachbücher, Nachrichtenfilmen etc. auszeichnet, ist ihr non-propositionaler Erkenntniswert: Das Vermitteln eines erfahrungsbezogenen »knowing how«, des Wissens, wie sich etwas anfühlt oder wie es ist, in einer bestimmten Situation zu sein.60 Was genau in der Figur vorgeht und wie es sich für sie konkret anfühlt, bleibt uns bei dem rein kognitiv und vor allem theoretisch ablaufenden Schließen nach der Theory Theory verborgen. Nun ließe sich einwenden, dass uns dies auch bei fiktiven Figuren verborgen bleibt61, schon aus ontologischen Gründen, da diese fiktiven Figuren tatsächlich ja nicht fühlen,

59 Vgl. dazu etwa auch Gabriel, Gottfried: »Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis«, in: Ders., Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen in Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1991, S. 2-18. u. I. Vendrell Ferran: Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination. 60 Vgl. Gabriel, Gottfried: Erkenntnis, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 57 ff. u. S. 97 ff. 61 Diesen Hinweis verdanke ich Malte Hagener.

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sondern wir nur so tun, als ob sie fühlten. Ein anderer Grund, warum uns dies bei fiktiven Figuren verborgen bleiben könnte, ist, dass sie uns nicht wirklich leibhaftig gegenüberstehen. Die leibliche Interaktion des empathischen Prozesses wird hierbei – besonders beim Film – aber durch die expressiven Mittel ersetzt und kann durchaus ähnlichen phänomenalen Erfahrungscharakter haben.62 Um jemanden zu verstehen, reicht es nicht, Modelle auf andere anzuwenden. Auch ist mir nicht klar, wie dadurch Neues sichtbar werden kann. Das mag auch der Grund für das Argument von Jinhee Choi sein, wonach wir sogar umso mehr die Erfahrungsperspektive imaginieren müssten, je weniger wir wissen.63 Margrete Bruun Vaage nennt dies den »restricted knowledge view on empathy«.64 Demnach würden wir gerade dann zum Imaginieren – und zwar aus der ErstenPerson-Perspektive – aufgefordert, wenn wir besonders wenig wissen. Ohne dass ich an dieser Stelle ausführlich auf dieses Argument eingehen kann, gibt es mindestens einen Schwachpunkt: Denn dies würde bedeuten, dass wir weniger mit Hauptfiguren perspektivisch imaginierten, sondern vor allem mit Nebenfiguren. Wir würden uns imaginativ viel mehr für diese engagieren, denn über diese wissen wir das wenigste. Das ist aber empirisch und handlungslogisch unplausibel. Außerdem führt das Imaginieren einer Perspektive, über deren Kontext, Hintergrund, Persönlichkeit etc. wir wenig bis gar nichts wissen, sehr schnell ins Leere oder ins Spekulieren. 3. Unter eine dritte Gruppe möchte ich die Simulationstheorien subsumieren, auch wenn es innerhalb dieser sehr heterogene Ansätze gibt.65 Die Simulationstheorie ist eine Gegenposition zur Theory Theory innerhalb der ToM-Debatte und behauptet, dass wir nicht theoretisches Wissen über den menschlichen Geist, sondern unsere eigenen mentalen Zustände als Modell verwenden, um mit Hilfe unseres Imaginationsvermögens die Zustände anderer zu erschließen. Wir stellen uns vor bzw. simulieren, wie wir in der Situation des anderen fühlen würden.66 Goldman argumentiert, dass unser Verstehen darin gegründet sei, dass wir uns

62 Vgl. dazu auch das Konzept des Leihkörpers von Christiane Voss im Anschluss an Sobchack, C. Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. 63 Choi 2005, 23, zitiert nach M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement. 64 M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement, S. 162. 65 Vgl. Goldman 2006; K.R. Stueber: Rediscovering Empathy, Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences. 66 Vgl. T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 18 ff.

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selbst imaginativ in die Situation des Anderen hineinprojizieren würden.67 Peter Goldie nennt dies »In-his-shoes-Imagining«: man nimmt die eigenen Eigenschaften und Hintergründe mit in die imaginierte Situation.68 Am Beispiel der oben beschriebenen Filmszene illustriert, heißt das, dass wir uns vorstellen, wie wir an der Stelle des Jungen fühlen würden, wenn wir in dem Esszimmer von unserem Vater mit dem Rohrstock verprügelt würden. Für diese Sichtweise gibt es wiederum Pro- und Contra-Argumente: Ein Vorteil ist, dass uns die Konzeption hilft zu erklären, wie wir neue Perspektiven mit unseren eigenen in Verbindung bringen. Um darüber zu reflektieren, wie wir das Fühlen und Handeln des Anderen beurteilen, kann es hilfreich sein, zu imaginieren, wie wir selbst in derselben Situation fühlen und handeln würden. Ein zweiter Vorteil ist, dass diese Konzeption dem Zuschauer wesentlich mehr Aktivität und kognitive Eigenleistung zugesteht als zum Beispiel die passiven Ansteckungs- und Spiegeltheorien. Allerdings, und dies sind die ersten beiden problematischen Punkte, gibt es einen epistemischen und einen normativen Einwand: Der erste Einwand lautet, dass wir, wenn wir simulieren sollen, in der Situation des Jungen zu sein, uns konsequenterweise auch vorstellen sollten, unser, nicht sein Vater würde uns schlagen. Denn was haben wir bzw. hat unsere persönliche Perspektive schließlich mit seinem Vater zu tun? Doch dann bewegen wir uns sehr weit von der eigentlichen Perspektive, die wir verstehen wollen, weg, nämlich der des Jungen, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs von einem sehr strengen Vater, der Pfarrer ist, gezüchtigt wird. Oder stellen wir uns vor, wir würden eben zu jener historischen Zeit von einem sehr strengen Vater geschlagen werden, der Pfarrer ist? Auch das ist eher unplausibel. Ungeachtet der epistemischen Schwierigkeiten, würde ein normativer Einwand lauten, dass durch die egozentrische Simulation nicht die konkrete Fremdperspektive eingenommen wird, also nichts Neues kennen gelernt wird, womit wir unsere eigene Perspektive reflektieren könnten. Die Simulationstheorie bleibt einem cartesianischen Denken verhaftet, wonach uns nur unsere eigenen mentalen Zustände zugänglich seien. Dann aber handelt sich bei dem »In-his-shoes-Imagining« nur um das Spiel mit der eigenen Perspektive und ist somit eine »egozentrische. Transposition«.69 Dies ist von einer allozentrischen Perspektiveneinnahme zu unterscheiden, bei der die komplexe Sichtweise, Persönlichkeit und Perspektive des Anderen

67 Vgl. zur Darstellung dieser und der anderen Positionen D. Zahavi: Self and Other, Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame. 68 Vgl. Goldie, Peter: The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford: Clarendon Press 2000. 69 T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 169.

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berücksichtigt werden soll.70 Es gibt aber eine Variante innerhalb der Simulationstheorie, welche von der Möglichkeit eines »central imagining« oder »imagining from the inside« ausgeht und den Cartesianismus aufhebt.71 Demnach vollzögen wir aus der Perspektive des Anderen Überzeugungen und Gefühle nach und kämen über eine Form des »reenactments« zu übereinstimmenden Gefühlen.72 Der technisch ideale Auslöser dafür kann der Point of View Shot sein, also die subjektive Kameraperspektive. Ein Problem bei diesem Ansatz ist jedoch, dass er davon ausgeht, dass es zu einer affektiven Identifikation zwischen einfühlendem und eingefühltem Subjekt komme. Aber muss ich tatsächlich genau dasselbe fühlen, um zu verstehen, wie es dem Anderen geht?73 Beziehungsweise, ist eine Gefühlsübereinstimmung nicht eher eine neue affektive Phase, ein sympathisches Mitfühlen? Ein weiteres Problem der Simulationstheorien – und dies betrifft beide Varianten – ist, dass die Konzeptionalisierung dieses Vorgangs wiederum vor allem kognitivistischer Natur ist; die expressiven Eigenschaften des Films und der dargestellten Situation und damit auch die leibliche Adressierung und Involvierung des Filmzuschauers finden hier zu wenig Beachtung. In den vergangenen Jahren sind phänomenologische Ansätze und Theorien der Verkörperung zunehmend in den Vordergrund gerückt, die die Rolle des Leiblichen, der Sinne und des Expressiven stärker berücksichtigen.74 4. Ich möchte mich im Folgenden für eine phänomenologisch orientierte Empathie-Konzeption aussprechen: Phänomenologische Ansätze rücken die unmittelbare Wahrnehmung expressiver Qualitäten in den Vordergrund.75 In meiner Erweiterung und Anwendung dieses Ansatzes auf den fiktionalen Film kommt innerhalb des empathischen Prozesses aber noch ein imaginativer Vor-

70 Ebd. S. 27 f. 71 Vgl. z.B. K.R. Stueber: Rediscovering Empathy, Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences. 72 Ebd. 73 Vgl. für eine Kritik dazu P. Goldie: The Emotions. A Philosophical Exploration. 74 Vgl. zu dieser Entwicklung die spannende Filmtheorie zur Einführung von Thomas Elsaesser und Malte Hagener, die sich in ihrer Diskussion der verschiedenen Theorien stets an der jeweiligen Beziehung zwischen Film und Körper orientiert. Vgl. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, zum Trend der Verkörperungstheorien insb. S. 212 ff. Vgl. außerdem J. Fingerhut et al.: Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. 75 Vgl. etwa Zahavis »direct perception proposal«: Zahavi, Dan: »Empathy and Direct Social Perception. A Phenomenological Proposal«, in: Review of Philosophy and Psychology 2 (2011), S. 541-558.

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gang zur direkten Wahrnehmung hinzu. Über die imaginative Perspektiveneinnahme können wir erst, so meine These, den komplexen Gründen und Kontexten der Gefühlsexpression auf den Grund gehen. Da es hierbei darum geht, sich Gefühle und damit zusammenhängende mentale Prozesse zu vergegenwärtigen, ohne dass sie notwendig gegenwärtig (aktual) werden, nenne ich meinen Ansatz »Vergegenwärtigungsansatz«.76 Zur Empathie gehört nach diesem Ansatz ein Prozess, bei dem die spezifische Lage einer Person, ihre Gefühle und Handlungen wahrgenommen werden, und zwar wie sie sich in der leiblichen Expression und aus ihrer spezifischen Perspektive manifestieren. Die Perspektiveneinnahme wäre dann eine, welche nicht nur kognitiv, sondern auch leiblich abläuft, insofern es immer auch Perspektiven von Körpern, Dingen, Stimmungen sind, die vergegenwärtigt werden. Vor allem aber kommt die Imagination noch hinzu, um Kontexte und Gründe einer Gefühlssituation nachvollziehen zu können. Anhand mehrerer Textstellen in Edith Steins Dissertation »Das Problem der Einfühlung« lässt sich Empathie als ein Prozess bestehend aus drei auf einander aufbauenden Phasen plausibilisieren. 77 Die erste Phase besteht in der Wahrnehmung des unmittelbaren Ausdrucks: Der Ausdruck des Anderen taucht »mit einem Schlage« vor uns auf.78 Der andere wird als Anderer (an)erkannt. Dies ist verbunden mit einer direkten, non-inferentiellen Wahrnehmung der Emotionen, Sinneswahrnehmung oder anderen mentalen Zuständen des Anderen, die anhand des Ausdrucks unmittelbar verstanden werden.79 Im Unterschied zur Position von Lipps mündet dieser basale Vorgang aber nicht in einer Ansteckung oder Nachahmung des fremden Gefühls. Es ist daher auch nicht mit einer »mimetischen Resonanz« zu verwechseln.80 Es ist eine Wahrnehmung auf ganzheitlicher Ebene und darum schon relativ informativ: Perzeption ist nicht nur visuell, wir nehmen unsere Umwelt – und daher auch das Geschehen auf der Leinwand – mit unserem ganzen eingebetteten Leib wahr und nehmen den Ausdrucksleib des

76 Edith Stein verwendet in ihrer Dissertation zur »Einfühlung« selbst den Ausdruck »Vergegenwärtigung«, vgl. Stein, Edith: Zum Problem der Einfühlung, Freiburg im Breisgau: Herder 2008 (1917), insb. S. 16, S. 20, S. 23. Vgl. zu diesen Positionen außerdem etwa S. Overgaard/D. Zahavi: Empathy without Isomorphism; T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, insb. S. 208. 77 Man könnte auch von Stufen, Vollzugsebenen oder Etappen sprechen. 78 E. Stein: Zum Problem der Einfühlung, S. 19. 79 S. Overgaard/D. Zahavi, Empathy without Isomorphism, S. 16. 80 T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 51.

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Anderen wahr, der Bedeutungsträger ist für die gesamte Situation.81 Beim Film wird dies durch die Körper und Dinge, durch die Atmosphäre, die ästhetischen Mittel etc. unterstützt: In der beschriebenen Szene aus DAS WEISSE BAND nehmen wir die Spannung der gesamten Szene zum Beispiel über das Mittel der einzigen Einstellung und die fließende Bewegung der Kamera wahr – es gibt keinen Schnitt, keine Unterbrechung. Auch dass eine Stille in einer klar abgesteckten Struktur herrscht, wird leiblich wahrgenommen. Vor allem aber sind es die Schreie des Jungen, die wir hören, während unsere Augen starr den langen Flur entlang blicken, die »mit einem Schlage« vor uns auftauchen. Nun haben wir es aber im Fall des fiktionalen, narrativen Films mit einem entscheidenden Unterschied zur Wirklichkeit zu tun: Während phänomenologische Ansätze davon ausgehen, dass es bei der intersubjektiven Empathie auf das direkte Aufeinandertreffen zweier lebendiger Körper ankommt, trifft der Zuschauerkörper beim Film auf einen zweidimensionalen Leinwandkörper, auf den Körper von Schauspielern projiziert sind, die fiktionale Figuren repräsentieren. Eine echte Interaktion kann aus filmontologischen Gründen nicht stattfinden.82 Stattdessen können aber die expressiven Mittel für einen Eindruck des Lebendigseins und der Adressie-

81 Christiane Voss entwickelt dazu im Anschluss an Vivian Sobchacks Konzept des »cinesthetic subject« die Idee des »Leihkörpers«, der sich zwischen Leinwand und realem Zuschauerkörper schiebt und der das Zweidimensionale der Leinwand in Dreidimensionalität verwandelt und ihr damit Körperlichkeit – und ich würde mit Blick auf meine oben angegebenen Bedeutungen von »Perspektive« – verkörperte Perspektive verleiht. Mit Blick auf die Konzeption Steins ließe sich der empathische Vorgang dann als einer beschreiben, bei dem dieser perspektivische Leihkörper imaginativ betreten wird bzw. dieser vom Zuschauer als dreidimensionaler Körper den Figuren »geliehen« wird. Voss schreibt hier von einer sensorisch-affektiven und geistigen Resonanz, weshalb ihre Konzeption, anders als die stark narratologisch- und hermeneutischkritische Position Sobchacks, mit der hier von mir vorgestellten Konzeption von Empathie als ganzheitlicher, komplexer Prozess aus Körperausdruck, -wahrnehmung und imaginativer Vergegenwärtigung vereinbar ist. Vgl. C. Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, insb. S. 108ff. Sobchack sieht die eigentlichen Verstehensleistungen in der filmästhetischen Erfahrung gerade nicht in Reflexionsbemühungen, sondern in den unmittelbaren, präreflexiven leiblichen Reaktionen manifestiert. Vgl. dazu C. Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, S. 115. 82 Breyer spricht mit Verweis auf Fuchs von »fiktionaler Empathie«, T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 218 f.

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rung sorgen.83 Zu diesem Eindruck gehören neben der Illusion – des Als-ObBewusstseins – eine Form der Imagination: Imagination wird häufig reduziert auf den mentalen Vorgang, sich eine Situation eines Anderen bildlich zu repräsentieren. Imagination ist aber viel komplexer und meint unter anderem auch, etwas »als etwas« zu sehen, zum Beispiel die Schauspieler als fiktionale Charaktere einer Geschichte wahrzunehmen (und nicht bloß als Schauspieler). Wir setzen auch unsere Imagination ein, um in jemandes Ausdruck etwas zu sehen, zum Beispiel seine Traurigkeit. Imagination vollbringt eine Syntheseleistung, die für die Deutung von etwas notwendig ist. So ergänzen wir auch das Filmbild um das, was man nicht im Bild sieht, was aber zur Situation dazu gehört.84 Zur näheren Erläuterung möchte ich abermals auf die beschriebene Szene zurückkommen: Der direkten Perzeption sind hier nämlich Grenzen gesetzt. Der Leib des Jungen ist nur durch seine Schreie gegenwärtig. Dadurch ist er uns nur eingeschränkt zugänglich. Gleichzeitig sind wir visuell auf die Ausdrucksqualität der Kameraperspektive gerichtet. Bereits wie im ersten Filmbild zu Beginn des Films sind wir synchron auf zwei Perspektiven eingelassen, eine visuelle und eine auditive, die wir mit Hilfe unserer Imagination verbinden. Zweitens ist das Ganze eingebettet in einen narrativen Kontext, den wir imaginativ ergänzen. Beide Aspekte weisen auf eine Distanz und Handlungsunfähigkeit des Zuschauers hin, der betrachten, aber nicht aktiv handeln – zum Beispiel zur Tür gehen – kann. Zudem ließe sich angesichts dieser Distanz herstellenden Ästhetik auch die Frage aufwerfen, ob wir an dieser Stelle überhaupt nur Emotionen gegenüber dem narrativen Geschehen entwickeln oder eher auf eine Metabene mit ArtefaktEmotionen, wie Ed Tan sie konzipiert hat, gehoben werden.85 Eine Artefakt Emotion richtet sich auf den Film als ästhetisches Artefakt und nicht auf die Narration. In jedem Fall scheint die direkte Wahrnehmung in dieser Szene für das Erfassen und Vergegenwärtigen der eigentlich relevanten Gefühlssituation nicht ausreichend zu sein, um sich ein umfassendes Bild der Perspektive der Situation zu vergegenwärtigen. Aber wir können durchaus auf diesem Wege die Metaperspektive des impliziten Autors, Regisseurs oder Films als Ganzem erfahren, der

83 Vgl. abermals das Konzept des Leihkörpers von C. Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion sowie V. Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. 84 Zu den verschiedenen Bedeutungen von Imagination vgl. die sehr ausführliche und analytisch sehr saubere Darstellung von R. Scruton: Art and Imagination. A Study in the Philosophy of Mind.

85 Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine, Mahwah, NJ: Erlbaum 1996, S. 81 ff.

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über solche Mittel das Gemachtsein der Geschichte und die damit verbundene Hilflosigkeit der Zuschauer aufdeckt. Um sich nun die konkreten Gefühle des Jungen und deren Gründe erfahrbar und erklärbar zu machen, muss zum leiblich-perzeptiven ein mentaler, imaginativer Vorgang der Vergegenwärtigung der Situation hinzukommen, der auch das gesamte Narrativ, das heißt, das was vor der Situation liegt und was sie antizipiert, berücksichtigt. Dies ist ein komplexer kognitiver Vorgang, der meines Erachtens zu einem höherstufigen Prozess der Empathie dazugehört; auch beschreibt Stein den Vorgang so, dass es nach der direkten Wahrnehmung des Ausdrucksverhaltens zu einem Hineinversetzen kommt: In der zweiten Phase oder »Vollzugmodalität«, wie Stein schreibt, tritt man dann an die Stelle des Anderen, wendet sich »seinem Objekt« zu, das heißt, seinem Gefühlsobjekt. Stein bezeichnet diesen Vorgang als »erfüllende Explikation«.86 Aufbauend auf dem, was wir bereits leiblich unmittelbar erfahren haben, können wir uns nun die ganzheitliche Erfahrungsperspektive der Person bzw. fiktiven Figur imaginativ vergegenwärtigen. »Erfahrung« impliziert, wie zuvor unter Rückgriff auf den anspruchsvollen Begriff Deweys angedeutet, Leiblichkeit, Kontextualität, Situierung, Historizität, Narrativität sowie Denken, Fühlen, Handeln, welche sich in den je konkreten Perspektiven entfalten; die Gesamtheit der Erfahrungsperspektive kann aber nicht selbst nur leiblich erfasst, sondern muss auch imaginativ vergegenwärtigt werden. Auf dieser zweiten Vollzugsebene kann es nach Stein zwar zu einem »inneren Mitmachen« der eingefühlten »Tendenzen« kommen, das aber wiederum nicht zu verwechseln sei mit einem identischen »Einssein« oder mit einem »originären Erleben«.87 Der Vorgang ist stets mit einer Ich-DuDifferenz markiert und geht mit dem Bewusstsein der einfühlenden Person einher, dass sie nicht selbst die fühlende Instanz ist. Anders als bei einer mimetischen Resonanz der präreflexiven Gefühlsadaption, wie ich sie am Beispiel Lipps beschrieben habe, führt dieser Vorgang gerade nicht zu einem Verlust des Selbst- und Weltgewahrseins. Mehr noch: Die Perspektiven des Anderen werden vor ihrem jeweiligen Hintergrund, aber auch vor dem Hintergrund der je eigenen Perspektiven der empathischen Person vergegenwärtigt, gerade weil wir als Personen die Welt immer aus einer bestimmten Perspektive wahrnehmen, wie Merleau-Ponty betont: »Heißt Sehen nicht immer, irgendwoher sehen?«.88 Anders aber als beim theoretischen Nachvollzug ist dies auch nicht nur ein rein kogniti-

86 E. Stein: Zum Problem der Einfühlung, S. 19. 87 Ebd. S. 22. 88 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, S. 91.

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ver Vorgang und ein »Wissen, dass«, sondern vielmehr ein Erfahrungswissen, ein »Wissen, wie«, denn wir vergegenwärtigen uns die Situation leibhaftigexpressiv und lebhaft-imaginativ. Auch anders als bei der Simulationstheorie ist dies nicht bloß ein kognitiver Vorgang, bei dem die Geschehnisse mental repräsentiert werden oder bei dem wir uns nur selbst in der gegebenen Situation vorstellen, sondern es geht um die Perspektive des Anderen. Gleichzeitig kommt es aber nicht notwendig zu einer Gefühlsreplikation, sondern qua direkter leiblicher Wahrnehmung steigen wir in die Situation ein und vergegenwärtigen sie uns konkret, indem wir uns an die Stelle des Anderen versetzen, ohne aber das Gleiche fühlen zu müssen; ein originäres Gefühl wäre vielmehr eine neue Modalität: Ein paralleles Fühlen oder sympathisches Mitfühlen. Es gibt dazu eine interessante, aber nicht gerade sehr einfach zu deutende Textstelle bei Max Scheler, der schreibt, dass es sich bei dem empathischen Vorgang (er nennt ihn »Nachfühlen« oder »Nachleben«) wohl um »ein Fühlen des fremden Gefühls« handele. Es sei »kein bloßes Wissen um es oder nur ein Urteil, der Andere habe das Gefühl; gleichwohl ist es kein Erleben des wirklichen Gefühls als eines Zustandes. Wir erfassen im Nachfühlen noch die Qualität des fremden Gefühls – ohne daß es in uns herüberwandert oder ein gleiches reales Gefühl in uns erzeugt wird.«89 Das Erfassen der Qualität ließe sich mit dem »inneren Mitmachen«, wie Stein es beschreibt, vergleichen, das stattfindet, ohne dass es zu einem originären Gefühl kommt: Meine Erachtens kommt es hier zu einem Nachfühlen der Gefühlsqualität, aber nicht zu einem Übernehmen des vollständigen Gefühls mit seiner Intentionalität, Evaluierung und Kontextualität. Gerade aber weil die erste Phase eine des Wahrnehmens des leiblichen Ausdrucks ist und gerade weil uns die Expressivität unmittelbar leiblich berührt, ist hier nach meiner Lesart davon auszugehen, dass der phänomenale Grundton des Gefühls als gut oder schlecht, schwer oder leicht, bedrohlich oder entspannend, lustvoll oder unlustvoll etc. eine Resonanz hervorruft, also auf einer leiblichen Ebene gespürt wird, denn gerade diese ist nicht allein dem Subjekt gegenwärtig, sondern befindet sich auch als Atmosphäre im »intersubjektiven Raum«.90 Oder, um es am spezifischen Beispiel der filmästhetischen Erfahrung zu modifizieren, in dem über die expressiven Mittel des Films entstehenden Resonanzraum zwischen Zuschauerkörper und Filmkör-

89 Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie, Frankfurt am Main: SchulteBulmke 1948 (Herv. i.O.). 90 Slaby, Jan: »Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn. Bausteine einer phänomenologischen Gefühlstheorie«, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein, Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 125-138, hier S. 133.

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per. Deshalb ist selbst eine solche komplexe Empathiekonzeption, welche mit imaginativen Vorgängen wie der Perspektiveneinnahme einhergeht, mit einem Konzept von leiblicher Resonanz zu vereinen. Gerade über das Zusammenspiel von leiblichem Mitschwingen und imaginativer Vergegenwärtigung können außerdem zusätzliche Perspektiven oder Aspekte einer Gefühlssituation aufgefangen werden: Denn Emotionen treten nicht einzeln auf, noch sind sie bloß ein punktuelles Ereignis. Sie sind vielmehr als Teil eines Clusters aus anderen Emotionen, Stimmungen und Hintergrundgefühlen zu verstehen, stehen im Kontext bestimmter Wertmaßstäbe, Überzeugungen oder Konventionen und haben damit auch eine sehr komplexe narrative und persönliche Struktur. Die dritte Phase nach dem Stein’schen Modell enthält schließlich eine »Klärung«, »Vergegenständlichung« oder »Reflexion« des fremden Erlebnisses.91 Hier tritt die empathisierende Person quasi wieder einen Schritt zurück in die distanzierte Beobachterposition, worin sich dieser Vorgang zum Beispiel von einem Ansteckungsvorgang unterscheidet. Indem der empathische Prozess aus drei Phasen besteht, kann auch er selbst als ein narrativer Erfahrungsvorgang bezeichnet werden, der einen Anfang, nämlich das visuelle und leibliche Wahrnehmen des Ausdrucks, eine Mitte, nämlich den Perspektivenwechsel, und einen Abschluss, nämlich die reflektierende Objektivierung aufweist. Da dieser Prozess leiblich und geistig so komplex ist, produziert er zwar nicht notwendig sichereres oder detaillierteres Wissen über den Zustand des Anderen als etwa die anderen möglichen Formen des »mindreading«, wie sie etwa die Theory Theory oder die Simulationstheorien vorschlagen. Er ist aber auf den Anderen in seiner Ganzheitlichkeit bezogen und nimmt diesen als Anderen ernst, versucht also den Anderen als konkreten Anderen mit seiner partikularen Perspektive zu verstehen.92 Der Empathie ist in dieser Form denn auch eine ethische »Einstellung eingeschrieben, die die Fremdheit als solche registriert, respektiert und in den Imaginationsprozess integriert.«93 Ob man richtig liegt, ist dann Sache der Interpretation, vor allem bei Kunst und Fiktionen, welche sich einer eindeutigen propositionalen Festlegung ja gerade entziehen. Oder, wie zuvor angegeben, ist vielmehr von einem »Wissen« in einem weiteren, nämlich nicht-propositionalen »Wissen, wie es ist« auszugehen, wel-

91 E. Stein: Zum Problem der Einfühlung, S. 17, S. 19 u. S. 51. 92 Zu Empathie als ein »ernst nehmen« vgl. auch A. Neill: Empathie und (filmische) Fiktion, in diesem Band. 93 T. Breyer: Verkörperte Intersubjektivität und Empathie, S. 207. Zur Empathie als »Wissen« vgl. Schmalzried in diesem Band.

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ches als nicht-propositionales nicht auf einen Begriff oder eine wahrheitsfähige Aussage zu reduzieren ist.

F AZIT Ich habe zwischen verschiedenen Arten von Perspektiven unterschieden und verschiedene Theorieansätze der empathischen Resonanz vorgestellt, die zum Einsatz kommen können, wenn ZuschauerInnen auf die Perspektivenangebote von fiktiven narrativen Filmen reagieren. Dabei habe ich selbst einen imaginativleiblichen Vergegenwärtigungsansatz entwickelt, der meines Erachtens das trifft, wie wir auf die komplexen Perspektiven von fiktionalem Film und seinen Figuren sowie deren Zusammenspiel auf narrativer wie expressiver Ebene umfassend reagieren oder reagieren sollten, um die konkreten und komplexen Perspektiven zu verstehen. Dabei habe ich im Anschluss an Edith Stein gezeigt, dass wir uns die Gefühle, Stimmungen und Atmosphären, wie sie der Film und seine fiktiven Figuren zum Ausdruck bringen, in drei aufeinanderfolgenden und miteinander in dynamischer Wechselwirkung stehenden Phasen vergegenwärtigen: Eine direkte sensorisch-leibliche Ausdruckswahrnehmung, ein explizierendes Sich-Hineinversetzen und eine reflektierende Objektivierung. Dieser Prozess ist nicht notwendig mit einer Gefühlsübertragung verbunden. Vielmehr kann es zu einem Mitschwingen kommen, die Entwicklung eines vollen Gefühls wäre aber ein neues Phänomen. Aufgrund der Komplexität einer solchen Empathie ließe sich einwenden (wie etwa Goldie in Bezug auf das »imaginative perspective-shifting«), dass diese eher selten, und wenn nur in einfach strukturierten Fällen gelingt.94 Im Bezug auf narrative Fiktionen würde ich jedoch behaupten, es ist genau das Gegenteil: Wie oben bereits angegeben, erzählen narrative Fiktionen detailreiche Geschichten und lenken die Aufmerksamkeit ihrer RezipientInnen auf bestimmte, verdichtete Aspekte: Sie sind vorperspektiviert und affektiv präfokussiert. Fiktive narrative Filme, Literatur sowie die neuen Langzeitserien des so genannten »Quality TV« eignen sich für die Erläuterung und Erfahrung der komplexen Vorgänge der vergegenwärtigenden Empathie darum besonders gut, da sie in einem mehr oder weniger abgeschlossenen Rahmen eine Geschichte einer oder mehrerer Figuren kompakt und ausführlich erzählen. Das heißt aber auch, sie statten die RezipientInnen mit einem handlungslogischen und figurenbezogenen Wissen aus, wie es im alltäglichen Leben bei Begegnungen mit anderen Personen üblicherweise

94 P. Goldie: The Emotions. A Philosophical Exploration, S. 194 ff., S. 203.

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nicht so gegeben ist. Selbst wenn Gefühle und Handlungen der Figuren ambivalent sind, müssen sie nicht opak sein, sondern bieten der Rezeption vielmehr ein vielseitiges Perspektivenangebot, sie zu interpretieren. Der Film im Besonderen eignet sich darüber hinaus für die hier entwickelte Form der Empathie in einer Weise, da er aufgrund seiner hohen Expressivität auch die leibliche Seite des Prozesses sehr stark anspricht und so auch ein spezifisches Wissen des Körpers involviert.

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EMPATHISCHE

RESONANZ

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Metaphorische Interaktion und empathische Verkörperung: Thesen zum filmischen Erfahrungsmodus H ERMANN K APPELHOFF & S ARAH G REIFENSTEIN

Filmische Bilder modellieren die raum-zeitlichen Parameter und Schemata unserer alltäglichen Wahrnehmung. Diese These zielt auf einen theoretischen Topos, der von den Anfängen der Filmtheorie bis in die Gegenwart philosophischer Debatte den Film begleitet: dass nämlich filmische Bilder neue Formen des Denkens, ein ›Denken der Bilder‹1 anzeigen. Dabei kommt eine Vorstellung zum Tragen, die gleichsam das Credo der Medientheorie betrifft: der Gedanke nämlich, dass in den Medientechniken die apriorischen Bedingungen des Verstehens, Erkennens und Urteilens zu rekonstruieren sind.2 Demnach betreffen filmische Bilder die ›Konstruktion und Transformation von Perzeptionsverhältnissen‹; sie legen die Relationen von Raum, Zeit und Bewegung und damit die Bedingungen des Wahrnehmens selber fest und bestimmen die wechselnden Rahmungen kognitiver Prozesse des Verstehens. Nun ist die These längst common sense kulturwissenschaftlicher Forschung.3 Geradezu unüberschaubar ist die medientheoretische und philosophische Diskus-

1

Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997 (zuerst 1985).

2

Engell, Lorenz/Hartmann, Frank/Voss, Christiane (Hg.): Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München: Fink 2013.

3

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sion, die filmische Bilder als apriorische Formen des Denkens,4 des Embodiment5 oder der (Neuro-)Kognition6 thematisiert. Diesen theoretischen Debatten stehen jedoch große Bereiche sozialwissenschaftlicher und kulturhistorischer Forschung zum Film gegenüber, die – im krassen Widerspruch dazu – audiovisuelle Bilder ausschließlich mit Blick auf repräsentierte Inhalte verhandeln.7 Wenn Filme als historische Dokumente, als Texte oder Diskurse untersucht oder in Diskursen verortet werden, geschieht dies fast immer mit Blick auf die in den Bildern repräsentierten Sachverhalte (narrative, ikonografische sowie andere Darstellungs- und Bedeutungsmuster). In aller Regel werden diese Repräsentationen so behandelt, als gründeten sie auf einer dem Bild selbst äußerlichen referenziellen Funktion, die unabhängig von der medienästhetischen Verfasstheit des Bildes gegeben ist. In diesem Punkt unterscheiden sich die kognitionspsycholo-

Cambridge, Mass.: MIT Press 1990; Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post, 1751-1913, Berlin: Brinkmann & Bose 1993; Nanz, Tobias/Siegert, Bernhard (Hg.): Ex machina. Kulturtechniken und Medien, Weimar: VDG 2006. 4

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5

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6

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7

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M ETAPHORISCHE I NTERAKTION

UND EMPATHISCHE

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gischen Ansätze häufig nicht von den diskursanalytischen Zugängen der Geschichts-, Kultur- oder Sozialwissenschaften. Letztlich macht es keinen Unterschied, ob die referenzielle Beziehung als abbildliches Verhältnis, als kulturelles Deutungsmuster oder vermittelt über universelle perzeptive Schemata und kognitive Konzepte gedacht wird; so oder so werden filmische Bilder mit dem in eins gesetzt, was sie repräsentieren. Dies gilt nicht zuletzt für die dargestellten Figuren. Werden sie doch in aller Regel in den Körpern der Schauspieler als eine per se gegebene Repräsentation vorausgesetzt, auf die sich die narrativen Prozesse und empathischen Aktivitäten der Zuschauer gründen.8 Was aber bedeutet es, wenn wir die These ernst nehmen und weder von gegebenen Repräsentationen noch von universellen Wahrnehmungsschemata ausgehen? Wenn wir auch und gerade auf der Ebene der Analyse des Diskurses filmischer Bilder davon ausgehen, dass sich die Bedingungen der Wahrnehmung historisch, kulturell und medial permanent verändern? Was, wenn wir filmische Bilder selber als Agenten dieser Veränderung begreifen, die keineswegs poetische Konventionen und wirkungsästhetische Muster reproduzieren, sondern die apriorischen Formen menschlichen Wahrnehmens, Empfindens und Denkens modellieren?9 Um diese Fragen beantworten zu können, ist die grundlegende Prämisse aller kognitionstheoretischen Ansätze zum Filmverstehen in einem entscheidenden Aspekt zu korrigieren. Wenn diese lautet, dass Zuschauer im Prozess des FilmSehens eine diegetische Welt konstruieren, zu der sie sich verhalten, als ob sie mit einer real sie umgebenden Welt interagierten,10 bezeichnet genau dieses Als-

8

Das wird besonders bei den jüngsten Versuchen deutlich, welche die kognitive Narratologie und kognitive Filmtheorie als transmediales Konzept im Sinne einer cognitive media theory ausweiten. Siehe Kuhn, Markus: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/Boston: De Gruyter 2013 und Nannicelli, Ted/Taberham, Paul (Hg.): Cognitive Media Theory, New York: Routledge 2014.

9

Vivian Sobchack entwirft in The Address of the Eye eine Perspektive, in der sie die sich historisch verändernden kinematografischen Verfahren als Verkörperungen und Sinnformungen gleichermaßen auffasst. Sie skizziert die Entwicklungen von Filmtechnologien als eine Anordnung kinematografischer Formen von Ausdruck und Wahrnehmung, die sie »history of cinematic embodiment« nennt. V. Sobchack: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, S. 256.

10 Dieser Aspekt filmischer Rezeption steht in der Diskussion um die Immersion im Zentrum. Vgl. Ryan, Marie Laure: Narrative as virtual reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press, 2001; Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge,

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ob den kritischen Punkt. Es weist auf einen Prozess der Fiktionalisierung,11 mit dem in die Schemata und Affektskripte der Alltagswahrnehmung neue Differenzen eingeführt werden. Diese Differenzierungen betreffen die kognitive Verarbeitung filmischer Bewegungsbilder selbst in ihrer je spezifischen medienästhetischen Ausprägung. Wir schlagen deshalb vor, den Prozess der Narration – allgemeiner gesprochen, den Diskurs der filmischen Bilder – nicht als Rekonstruktion repräsentierter Akteure und Ereignisfolgen, sondern als Fiktionalisierung medial generierter Raum-Zeit-Schemata zu begreifen, die sich refigurierend und modellierend zu bestehenden perzeptiven Schemata verhalten. Die Repräsentationen (Räume, Figuren, Handlungen und Dinge, aus denen sich der filmische Diskurs aufbaut) sind selbst noch das Ergebnis und nicht der Ausgangspunkt eines solchen Fiktionalisierungsprozesses. Die fiktionalisierende Übersetzung eines physiologischen Sinneserlebens von audiovisuellen Bildern in konkrete raum-zeitliche Wahrnehmungsfigurationen ist der basale Verkörperungsprozess des Filme-Sehens, der aller filmischen Repräsentation vorausgeht. Sie bildet die grundlegende Interaktion zwischen Zuschauer und audiovisuellem Szenario, auf die sich alle weiteren Verstehens- und Empathieprozesse gründen. Ein solcher Prozess wäre als sukzessives Auftauchen von Sinnbezügen aus den Affizierungen wahrnehmender Körper (dem notwendig verkörperten Erleben des Filme-Sehens) zu fassen, die von den Zuschauern als fiktionale Ereignisse, Figuren, Handlungen repräsentiert werden.12 Wie sich ein solcher Prozess der Fiktionalisierungen audiovisueller Bilder verstehen lässt, kann mit Blick auf die Theorie der Metaphern greifbar werden. Denn die metaphorische Emergenz von Bedeutungen wird selbst wiederum als ein Phänomen der Übertragung verkörperter

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Aktions- und Bewegungsschemata zwischen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen beschrieben.13

M ETAPHORIZITÄT

UND

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Mit der Fiktionalisierung, dem medial angeordneten Prozess eines Als-ob kommt ein Erfahrungsmodus in den Blick, der auch in den theoretischen Bestimmungen der Metapher angesprochen ist. Verbindet die Metapher doch – um eine der prominentesten Positionen aufzurufen – zwei Erfahrungsbereiche durch eine solche Als-ob-Relation: metaphor as »understanding and experiencing one kind of thing in terms of another«.14 Folgt man der kognitionswissenschaftlichen Metaphernforschung, dann ist häufig nur vom ersten Teil der Definition, dem »understanding«, die Rede. Das metaphorische »as« wird allzu oft als eine rein verstandesmäßige Übertragung gedacht.15 Dem gegenüber rücken die Embodimenttheorien16 eine Erfahrungsdimension im Prozess der Metaphernbildung in den Vordergrund, die neben den bedeutungskonstruierenden Relationen von Similaritäten auch ästhetische Überkreuzungen, d.i. affektive und perzeptive Ähnlichkeitsund Vergleichsrelationen einbezieht, die sich nur auf der Ebene verkörpernden Sinneserlebens herstellen: In dieser Perspektive verknüpfen Metaphern zwei Wahrnehmungskonstellationen, die in ihrer affektiven, perzeptiven und sinnhaften Dimension als konkrete, verkörperte Erfahrung aufeinander bezogen werden. Mit Blick auf den Film wird damit ein Erfahrungsbegriff in Anschlag gebracht, der nicht auf das Verarbeiten abstrakter Informationen oder Schemata abhebt, sondern in den Operationen des Filme-Sehens und -Hörens eine Interaktion zwischen Filmbild und Zuschauerkörper unterstellt, in der Sinnesempfin-

13 Gibbs, Raymond: Embodiment and Cognitive Science, Cambridge: Cambridge University Press, 2006. 14 Lakoff, George/Johnson, Mark: Metaphors we live by, Chicago: University of Chicago Press 1980, S. 3. 15 Metaphern werden immer noch in vielen Ansätzen als rein kognitive, entkörperlichte, abstrakte Konzeptualisierungen gefasst. Siehe hierzu Gibbs’ Kritik: R. Gibbs: Embodiment and Cognitive Science, S. 121f. 16 R. Gibbs: Embodiment and Cognitive Science; Johnson, Mark: The Meaning of the Body: Aesthetics of Human Understanding, Chicago: University of Chicago Press 2007; Müller, Cornelia: Metaphors: Dead and Alive, Sleeping and Waking. A Dynamic View, Chicago: University of Chicago Press 2008.

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dungen, Reflexionen und affektive Reaktionen auf das audiovisuelle Szenario zu einem ›Gefühl für die Einheit der Erfahrung‹17 zusammengefasst werden. Ein solches »Gefühl für die Einheit der Erfahrung« lässt sich keineswegs auf ein Set physiologisch determinierter Image-Schemata zurückführen;18 führt es doch höchst disparate kulturelle, historische und subjektive Faktoren mit physiologischen Bewegungs- und Aktionsschemata zusammen. Es meint auch dezidiert nicht jene wirkungsästhetischen Reaktionsmuster, die von der neuro-kognitiven Narratologie unter dem Stichwort von Emotion und Affekt aufgerufen werden. Erfahrung ist gerade dadurch zu definieren, dass in ihr die Dauer des Sinneserlebens, seine zeitliche Struktur reflexiv als Form des eigenen Empfindens erfasst wird. Wir folgen mit diesem Verständnis Dewey,19 der in seinem Erfahrungsbegriff etwas greifbar macht, das aus unserer Sicht für den Film zentral ist: Erfahrung meint ein bewusstes Wahrnehmen des eigenen konkreten, sinnlichen Erlebens gegenüber einem Wahrnehmungsobjekt, das Ausfalten eines Objektbereichs zu einem Gegenstand in einem sich zeitlich entfaltenden Gefühl für die Wahrnehmung einer konkreten Sache. Erfahrung meint demnach das reflexive Gewahr-Werden dieses Vorgangs, der sich in aller Regel automatisiert und ohne bewusste Selbstwahrnehmung für das sich entwickelnde Gefühl vollzieht. Für uns bieten Deweys Überlegungen einen Ansatz, filmische Kognition vom bildrepräsentativen Verständnis abzulösen und als Fiktionalisierungsprozess auf die Temporalität der Bewegungsbilder selbst zu beziehen. Die Sinnkonstruktionen gründen dann auf der reflexiven Selbstwahrnehmung im Prozess des Wahrnehmens filmischer Bilder, die man – mit Dewey – als temporale Form des Gefühls auffassen kann. ›Gefühl‹ ist in dieser Perspektive nicht als Synonym zu Emotion, affektivem Appraisal oder Sinnesempfinden (Sensation) zu verstehen, sondern als intuitives Monitoring (Feeling),20 das die unterschiedlichen Sinneseindrücke, Emotionen und affektiven Prozesse mit den kognitiven Operationen reflexiv zu einer Sinnkonstruktion zusammenfasst. Kurz: Der Fiktionalisierungsprozess schließt immer einen Subjektivierungsakt – eine Erfahrung der Einheit des Gefühls für sich selbst, als ein Gefühl für die gegebene Welt – mit ein. Filme artikulieren ein subjektives Welterleben, welches der Zuschauer als eigenes körperliches Empfindungserleben realisiert und zugleich als eine spezifische Art und

17 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980 (zuerst 1934), S. 47ff. 18 M. Johnson: The Meaning of the Body: Aesthetics of Human Understanding. 19 J. Dewey: Kunst als Erfahrung. 20 Damasio, António R.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München: List 2000.

M ETAPHORISCHE I NTERAKTION

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Weise, die Welt wahrzunehmen. Spezifisch, das meint gerade nicht die Welt in den Schemata unserer alltäglichen Weltwahrnehmung, sondern im Modus eines davon verschiedenen, eines fremden Erlebens durch eine andere Instanz. In diesem Sinne definiert Sobchack die Erfahrung von Kinozuschauern »as the expression of experience by experience«21; wir nehmen im Filme-Sehen an einem anderen Erfahrungsakt teil, nehmen eine fremde Art und Weise wahr, die Welt zu erleben und realisieren dies als ob es unser eigenes Wahrnehmungserleben, unser Gefühl für die Welt sei. Genau dieses Als-ob des filmischen Erlebens bildet die Einsatzstelle für eine Fiktionalisierung, die wir als metaphorischen Prozess der Sinngebung fassen wollen. Lässt sich doch an diesem Punkt die phänomenologische Definition des filmischen Erfahrungsmodus (als »expression of experience by experience«) und die kognitionstheoretische Metapherndefinition Lakoffs und Johnsons unmittelbar aufeinander projektieren. Sobchack bezieht das Filmerleben auf die Wechselbeziehungen voneinander unterschiedener Modi der Erfahrung von Welt – die je besondere Erfahrungsweise des Films und die alltägliche der Zuschauer. Das filmische Bild artikuliert Wahrnehmungsakte, in denen eine fremde Erfahrung – ein im filmischen Bild externalisierter Wahrnehmungsvorgang (z.B. der Kamerablick) – mit der körpereigenen, leiblichen Erfahrung des Zuschauers verkoppelt wird. Lakoff und Johnson wiederum sehen in der Metapher zwei prinzipiell geschiedene konzeptuelle Erfahrungsbereiche miteinander in Beziehung gesetzt, die unserem Denken, unserer Wahrnehmung und Sprache unterliegen. Während im ersten Fall das Als-ob die Interaktion zweier unterschiedlicher Modi von Weltwahrnehmung betrifft, sind im zweiten Fall vorderhand zwei unterschiedliche Erfahrungsbereiche aufeinander projektiert, die auf eine universelle Psychologie menschlicher Wahrnehmung rekurrieren.22

21 Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, S. 3. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (Hg. von Christian Bermes), Hamburg: F. Meiner Verlag 2003 (zuerst 1961); Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, in: Film Quarterly 44/4 (1991), S. 2-13; V. Sobchack: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture; L. Marks: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses. Vgl. auch Curtis, Robin (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink 2009; Voss, Christiane: »Film Experience and the Formation of Illusion. The Spectator as ›Surrogate Body‹ or the Cinema«, in: Cinema Journal 50/4 (2011), S. 136-150; C. Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. 22 Lakoff and Johnson zeigen ihre These von der Universalität metaphorischer Konzepte anhand des Begriffs der »primary metaphor« auf, den sie im Verständnis von Joseph Grady beschreiben: »Primary metaphors are part of the cognitive unconscious. We

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Der Vorgang des Embodiment, der verkörpernden Aktion der Metaphorisierung, wird in der konzeptuellen Metapherntheorie jedoch nicht als transformative Aktion gedacht, in der die Koordinaten der Erfahrung sich permanent verändern, je nachdem, welche kulturellen, situativen und subjektiven Kontexte sie bedingen. Vielmehr spricht die kognitive Metapherntheorie vom Mapping als einer festgelegten Operation zwischen existierenden Konzepten; sie setzt die Ähnlichkeitsbeziehung als eine fixe Gegebenheit voraus resp. führt sie auf universelle ImageSchemata zurück. Doch lässt sich die Formel der Metapher als »understanding and experiencing one kind of thing in terms of another« sehr wohl auch auf dynamisch wandelbare Erfahrungsmodi im phänomenologischen Sinne beziehen.23 Als einer der ersten hat Max Black die Metapher nicht nur als Medium kognitiver Operationen, sondern auch als Vorgang dynamisch sich wandelnder Erfahrungsmuster beschrieben.24 Für Black ist das »metaphorische Statement« immer an eine offene Interaktion zwischen einem primären und einem sekundären Referenzbereich gebunden; die metaphorische Interaktion gründet sich keineswegs ausschließlich auf Ähnlichkeiten, die realisiert und reproduziert werden, sondern kann selbst solche Ähnlichkeiten neu entdecken und herstellen: »It would be more illuminating (...) to say that the metaphor creates the similarity than to say that it formulates some similarity antecedently existing.«25 Blacks Vorstellung geht davon aus, dass durch das Erleben des primären Gegenstands

acquire them automatically and unconsciously via the normal process of neural learning and may be unaware that we have them. We have no choice in this process. When the embodied experiences in the world are universal, then the corresponding primary metaphors are universally acquired. This explains the widespread occurrence around the world of a great many primary metaphors.« Lakoff, George/Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought, New York: Basic Books 1999, S. 57. 23 Mark Johnson deutet diese Verbindung an, wenn er schreibt: »In the visual arts, it is images, patterns, qualities, colors, and perceptual rhythms that are the principal bearers of meaning. The obvious fact that we usually cannot put into words, what we have experienced in our encouter with an artwork does not make the embodied, perceptual meaning any less a type of meaning.« M. Johnson: The Meaning of the Body: Aesthetics of Human Understanding, S. 234. 24 Vgl. Winkler, Hartmut: »Metapher, Kontext, Diskurs, System«, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotika. An International Journal of Semiotics, Vol. 12, Nr. 1/2 (1989), S. 2140. 25 Black, Max: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1962, S. 37.

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(principal subject) bestimmte Merkmale des sekundären Gegenstandes (subsidiary subject) hervortreten, dass nur ganz bestimmte Eigenschaften des ersten auf das zweite übertragen werden (›projected upon‹),26 bzw. dass Ersteres bestimmte Charakteristika beim Zweiten filtere (›filters‹), transformiere (›transforms‹) oder auch auswähle (›selects‹).27 Sprechen wir z.B. von einer mächtigen Institution als einem schwerfälligen Tanker, dann nehmen wir die zu verhandelnden Sachverhalte (etwa Führungsprobleme) durch die Brille eines gänzlich anderen Verhältnisses zur Welt wahr, welches die Teilnehmer einer Lagebesprechung am Konferenztisch beherrscht; nämlich als ein Gefühl zur Welt, dass das Denken und Handeln eines Schiffsteuermanns angesichts eines Anlegemanövers bestimmt. Entscheidend ist, dass in einem solchen Verständnis der Metapher als dynamische Interaktion zweier Erfahrungsbereiche das bildlich-perzeptive Prinzip eines figurativen Denkens skizziert ist, das nicht auf gegebenen Ähnlichkeitsbeziehungen gründet, sondern diese als solche produziert. Metaphern im Sinne Blacks sind also nicht auf vorab existente Konzepte rückführbar, die als »Bildspende-« und »Bildempfängerbereich«28 bzw. als Quell- und Zielbereich der Metaphorik fix gegeben sind. Vielmehr sind sie selbst als Produkte dynamischer Interaktionen zwischen fiktiven Wahrnehmungsszenarien und Schemata der Alltagswahrnehmung anzusehen, in die unterschiedlichste Bewegungs- und Sinnesqualitäten und die damit verbundenen Wahrnehmungsempfindungen, Affekte und Gefühle Eingang finden. Das Medium dieser Interaktion ist immer die Empathie eines verstehenden Subjekts, das in den Relationen zwischen distinkten Erfahrungsbereichen sich die spezifische Perspektive einer anderen Subjektivität erarbeitet. Denn als prototypischer Akteur der metaphorischen Interaktion gilt der Rezipient.29 In der Metapher werden, so gesehen, nicht zwei statische Konzepte, Objekte, Bereiche oder Sachverhalte aufeinander bezogen; vielmehr ist die Metapher

26 Ebd., S. 41. 27 Ebd., S. 42. 28 Vgl. Weinrich, Harald: »Semantik der kühnen Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983 (zuerst 1963), S. 316-339. 29 In diesem Sinne spricht Black davon, dass sein Gebrauch des Begriffs Interaktion selbstredend figurativ sei, weil die Metapher immer die Übernahme der Perspektive des metaphorischen Statements durch ein rezipierendes Subjekt impliziert, dessen Denken das Medium ist, in dem sich die metaphorische Interaktion vollzieht. Vgl. M. Black: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, S. 28.

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selbst das Produkt einer dynamisch sich entwickelnden Interaktion, zweier von einander getrennter Erfahrungsbereiche, die in dieser spezifischen Verbindung als Interface zwischen distinkten subjektiven Erfahrungshorizonten fungieren.30 Die Voraussetzung freilich ist, dass wir die gemeinsam geteilte Wahrnehmungswelt nicht als universelle Gegebenheit – etwa der Gesetze menschlicher Kognition – begreifen, sondern als Ergebnis immer neuer Beschreibungen, neuer Perspektiven. »...some metaphors enable us to see aspects of reality that the metaphor’s production helps to constitute. But that is no longer surprising if one believes that the world is necessarily a world under a certain description – or a world seen from a certain perspective. Some metaphors can create such a perspective.«31 In die von Black beschriebene Konstruktion einer Perspektive schließt die metaphorische Verknüpfung daher immer auch die Differenzierung und Verortung unterschiedlicher Subjektpositionen ein; die Metapher betrifft die Subjektivierung als Akt des Transportierens, Neukonstituierens oder Variierens gegebener Weltbeschreibungen. In der Annahme, dass sich die metaphorische Interaktion mit Akten der Subjektivierung verbindet, besteht aus unserer Sicht der eigentliche Schnittpunkt zum Konzept verkörperter Filmerfahrung. Darin verbinden sich das Filme-Sehen und das Metaphorisieren in einer Zuschaueraktivität, die in ihrem Grund einen Prozess der Empathie voraussetzt: Die Erfahrung der Erfahrungsweise eines anderen Subjekts als eigenes körperliches Empfinden der Welt. In diesem Sinne ist die Metapher ein genuines Element des Prozesses der Fiktionalisierung, dessen Anordnung in seinen basalen aber auch komplexeren Dimensionen primär auf der Ebene filmischer Wahrnehmung zu greifen ist; eine Wahrnehmung, die sich einerseits als körperliche Realität verhält, die der unserer Alltagswahrnehmung gleicht und die doch zugleich in strenger Differenz zu dieser als eine fremde Art und Weise erlebt wird, die Welt wahrzunehmen, als ein von mir unterschiedenes Gefühl für die Welt.32

30 Zum triadischen Modell, in welchem der Prozess der Metaphorizität eine entscheidende Rolle spielt, siehe C. Müller: Metaphors: Dead and Alive, Sleeping and Waking. A Dynamic View. 31 Black 1993 (zuerst 1979), S. 38. Black, Max: »More about metaphor«, in: Andrew Ortony (Hg.), Metaphor and thought. 2nd edition, Cambridge: Cambridge University Press, 1993, S. 19-41. 32 Ratcliffe, Matthew: Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford: Oxford University Press, 2008. Wie Ratcliffe 2008 ausführt, ist unsere Weltwahrnehmung bestimmt durch ein grundlegendes Gefühl für die Welt, dass unserer Fühlen und Denken strukturiert. Damit ist ein Verständnis von Empathie an-

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Man kann also den Prozess der Empathie des Zuschauers als eine metaphorische Interaktion rekonstruieren, welcher die am eigenen Leib erlebten Erfahrungen ins Verhältnis setzt zu Erfahrungsmodalitäten anderer Subjektpositionen. Diesen Prozess möchten wir als Zusammenspiel von filmischer Expressivität33 und audiovisueller Metaphernbildung beschreiben. Wir zielen damit auf die dynamische Produktion von Metaphern, in der perzeptive Schemata und symbolische Konzepte mit expressiven Qualitäten audiovisueller Bilder auf der Ebene konkreter filmischer Inszenierungen als Erfahrungsmodi konfiguriert und in ihrer Differenz (metaphorisch) aufeinander bezogen werden. Es ist mehr als nur ein anekdotisches Detail, dass die Wahrnehmungsformen filmischer Bilder für Black als evidentes Beispiel dienen, an dem eine solche Veränderung unserer Welt durch neue Beschreibungen, durch neue Perspektiven greifbar wird.34 Denn bezogen auf audiovisuelle Bilder ist das Konzept der In-

gesprochen, das auf die Phänomenologie Edith Steins zurückgeht. Der Zugang zu einer fremden Erfahrung wird über die Wahrnehmung expressiven Verhaltens begreifbar. Siehe Ratcliffe, Matthew: »Phenomenology as a Form of Empathy«, in: Inquiry, 55/5 (2012), S. 473-495, hier S. 475-476. 33 Der Begriff der Ausdrucksbewegung beschreibt die zeitliche Entfaltung verschiedener Ausdruckselemente zu einem gestalthaften Gefüge, einer kinematografischen Bewegung, die sich kongruent zur Gefühlsbewegung des Zuschauers ausprägt. Das filmische Bild weist eine große Anzahl an dynamischen Komponenten auf, welche eine solche Bewegungsfiguration zu erzeugen vermögen: Mise-en-scène, Montage, Kamera- und Kaderbewegung, Sound Design, Ausstattung und Schauspiel. Diese sind weniger als Filmstilistiken oder -techniken denn als inszenatorische Elemente zu begreifen, die den Wahrnehmungsprozess des Zuschauers modellieren. Sie ordnen diesen Prozess an und prägen sich in ihren unterschiedlichen zeitlichen und ästhetischen Gestaltungsweisen als affektive Modi aus, als Horror, Thrill, Suspense, Rührung, Komik oder Heiterkeit. In dieser Hinsicht erzeugt die filmische Expressivität Bewegungsmuster und Wahrnehmungsszenarien, welche sich unmittelbar als Erfahrungsmodalitäten im Filmerleben des Zuschauers manifestieren. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle: das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004; zum Analysemodell siehe Scherer, Thomas/Greifenstein, Sarah/Kappelhoff, Hermann: »Expressive movement in audio-visuals: Modulating affective experience«, in: Cornelia Müller/Alan Cienki/Ellen Fricke/Silva H. Ladewig/David McNeill/Jana Bressem (Hg.), Body – Language – Communication: An International Handbook on Multimodality in Human Interaction, Bd. 2, Berlin/Boston: De Gruyter Mouton 2014, S. 2081-2092. 34 M. Black: More about metaphor, S. 37.

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teraktion von besonderer Bedeutung, lassen sich doch Metaphern hier per se nicht, wie im gesprochen Diskurs, anhand von lexikalen Kriterien identifizieren und klassifizieren.35 Die Prozesse der Metaphorisierung sind vielmehr unmittelbar auf Wahrnehmungsfigurationen bezogen. Die Metapher ist als eine Interaktion zu konzipieren, die auf der Ebene des Sehens und Hörens von Zuschauern liegt, ein Sehen und Hören, das im Abgleich mit den kulturellen Konventionen und Mustern der Alltagswahrnehmung ein fiktionales Szenario entstehen lässt. Sie entsteht im Prozess der Wahrnehmung selbst, die den »images, patterns, qualities, colors, and perceptual rhythms« (Johnson)36 eines Films, d.i. seiner Expressivität, eine bedeutungstragende Gestalt verleiht. Audiovisuelle Metaphern sind – dem skizzierten Verständnis folgend – dynamische Verknüpfungen unterschiedener Erfahrungsbereiche, die im ästhetischen Arrangement filmischer Expressivität als eigenleibliche Erfahrung konstituiert und zugleich als eigensinniger Erfahrungsmodus einer anderen Subjektivität von der eigenen Subjektivität unterschieden werden.37 In diesem Sinne generieren filmische Bilder ein Verstehen und Denken, das sich keineswegs in der Reproduktion bestehender kognitiver Schemata von Bewegung, Raum und Zeit erschöpft, sondern neue Differenzen und Modalitäten hervorbringt. Es sind die Zuschauer, die im Akt des Filme-Sehens neue Metaphern, neue Verbindungen zwischen unterschiedlichen Erfahrungsmodi produzieren, indem sie aus filmischen Bildern fiktive Welten entstehen lassen. Die Interaktion der Metapher (im Sinne Blacks) ist als eine grundlegende Form filmischer Erfahrung zu untersuchen, die sich über verschiedene Genres und mediale Formate audiovisueller Bilder hinweg realisiert und aus empathischen und affektiv-verkörperten Prozessen hervorgeht. Im Folgenden möchten wir mit der Analyse zweier Filmsequenzen die skizzierte Perspektive konkret erläutern. Wir haben dabei Filme gewählt, die uns in vielerlei Hinsicht als Beispiel dienen, um die unterschiedlichen affektiven Perspektivierungen zu thematisieren, die man als distinkte Erfahrungsmodi des Genrekinos fassen kann: eine Szene aus MAGNIFICENT OBSESSION als Beispiel

35 Vgl. Steen, Gerard/Dorst, Aletta/Herrmann, Berenike: A Method for Linguistic Metaphor Identification: From MIP to MIPVU, Amsterdam/Philadelphia (Pa.): John Benjamins publishing company 2010. 36 M. Johnson: The Meaning of the Body: Aesthetics of Human Understanding, S. 234. 37 Kappelhoff, Hermann/Müller, Cornelia: »Embodied meaning construction. Multimodal metaphor and expressive movement in speech, gesture, and feature film«, in: Metaphor and the Social World 1/2 (2011), S. 121-153.

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für den melodramatischen und eine Szene aus THE AWFUL TRUTH für den komödischen Modus.

D ER MELODRAMATISCHE M ODUS DER V ERKÖRPERUNG – M AGNIFICENT O BSESSION (US 1953, D OUGLAS S IRK ) Die Frau allein in einem Zimmer – bei der folgenden Szene aus MAGNIFICENT OBSESSION handelt es sich um eine melodramatische Grundkonstellation: Die Heldin sieht sich von ihrem Geliebten verlassen; sie stürzt aus der Illusion der Liebe in das Bewusstsein radikaler Verlassenheit. Helen, die bei einem Unfall ihr Augenlicht verlor, ist in die Schweiz gereist, um sich von ärztlichen Spezialisten helfen zu lassen. Am Ende erweisen sich alle ärztlichen Bemühungen als vergeblich. Sie ist und bleibt blind. Dem Film wird der Umstand der Blindheit selbst zum inszenatorischen Motiv, um die Einsamkeit einer von ihrem Liebhaber verlassenen Frau in Szene zu setzen. Ein Dialog mit der Stieftochter, kurz bevor diese das Zimmer verlässt, gibt gleichsam das Vehikel der metaphorischen Übertragung vor (›it does get darker‹, ›my emotions‹, ›there won’t be any dawn‹), welche die Szene dann im Folgenden strukturiert: Man sieht Helen (Jane Wyman) schließlich allein im Hotelzimmer; die zuvor gesprochenen Worte finden ihre Entsprechung in der darauf folgenden Inszenierung der Wandlung des filmischen Bildraums; es dämmert und die wachsende Verdunklung des Bildes lässt bei den Zuschauern selbst ein Gefühl für ein zunehmendes Nicht-mehr-sehen-Können entstehen. Die Wahrnehmungsempfindungen der Zuschauer werden zum Ausgangspunkt einer metaphorischen Übertragung, die in den Modulationen des Bildraums die heraufziehende Nacht als wachsende Verzweiflung der Protagonistin greifbar werden lässt. Langsam hebt Helen sich aus dem Sessel; man sieht Helen, wie sie sich tastend durch den Raum bewegt, der von schroffen Lichtkontrasten zerteilt ist. Ihre unsicher vorsichtigen Bewegungen, ihr leerer Blick, der ins Ungewisse außerhalb des Kaders abschweift, instrumentieren ihre gerade noch gesprochenen Worte: ›there won’t be any dawn‹. Sie verschwindet aus dem Bildkader, die nächste Einstellung zeigt sie in der Mitte des Bilds. Vom Balkon her fällt ein helles Licht ein, es beschreibt eine breite diagonale Schneise, die das Bild in hart kontrastierte Schattenfelder teilt. Ein weiteres Seitenlicht wirft, gebrochen durch die Gardinenmuster, ein unruhiges Netz von Schattenlinien über die Bildfläche. Helen macht einen Schritt auf einen gedrechselten Holzpfosten zu, lehnt sich an ihn und sinkt etwas zusammen. Ihre Gestalt ist dem Licht abgekehrt, dem dunklen Pfosten sich zuneigend taucht sie in den Schatten; schließlich verschwindet

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ihr Gesicht gänzlich im Dunklen. Die Lichtgebung unterstreicht auf diese Weise die unsichere Bewegung der Blinden; sie instrumentiert gleichsam die schauspielerische Aktion, während die immer neuen Schattenmuster einen zunehmend düsteren Grundton entfalten. Eine Drehung des Körpers vom Pfosten hin zur Balkontür eröffnet eine neue Bewegungsfiguration. Auf einmal ist ihr Gesicht deutlich heller ausgeleuchtet; der Wechsel der Schattenmuster wird dynamischer, die Musik schneller und lauter. Waren zuvor die tastenden Bewegungen der Schauspielerin auf die langsame Verdunkelung bezogen, ist ihre abrupte Wendung mit dem Ins-Licht-Treten und der ansteigenden Musik verknüpft (Abbildung 1). Abbildung 1: Das Licht der Lampe und das Gesicht von Helen (Jane Wyman) sind kreisförmig im Zentrum der sonst dunklen und schwarzen Bildteile angeordnet, sie sind jedoch von nur schwacher und diffuser Helligkeit.

Quelle: MAGNIFICENT OBSESSION (US 1953, Douglas Sirk).

Man schreibt der Schauspielerin zu, was doch wesentlich ein Effekt der filmischen Komposition ist. Vom Empfinden der Figur artikuliert die Schauspielerin selbst nicht mehr, als dass sie ihren Kopf hebt, ihren Körper streckt, ihren Blick, der doch zuvor leer war, auf einen fernen Punkt ausrichtet. Für die Zuschauer ist die Szene von vornherein zweigeteilt: Einerseits sehen sie eine ›Frau, allein in einem abendlichen Hotelzimmer‹, andererseits erleben sie im Fortgang der Inszenierung den sich wandelnden Bildraum als Ausdruck eines affektiven Prozesses, als ein ›ich empfinde‹ der blinden Frau. Doch ist das »Ich« dieser Empfindung zunächst und vor allem in der Physis der Zuschauer selbst verortet. Es

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meint deren Erleben der Modulationen des filmischen Bildes als eine inszenatorische Figur der Zeit. In der Zeit der sich sukzessive entfaltenden Szene wird für die Zuschauer die Dauer des sich wandelnden Bildraums in der Rückwendung auf das eigene Wahrnehmungserleben erfahrbar als Ausdruck eines Gefühls. Erst aus der Rückwendung auf das eigene körperliche Wahrnehmungserleben kann die heraufziehende Nacht zur Metapher für das Gefühl wachsender Verzweiflung der Figur und die Blindheit zur Metapher ihrer Verlassenheit werden. Helen tritt auf den Balkon, man hört den ansteigenden Chorgesang. Immer schneller wechseln Schattenmuster, die sich auf dem Gesicht in der Bildbewegung überlagern. Dann leuchtet ihre Mimik für einen kurzen Moment hell auf, doch gleich werfen schon wieder die Schatten der Bäume Dunkelheit auf ihr Gesicht, bis schließlich ihr blindes Tasten nach dem Handlauf einen Blumentopf hinabstürzen lässt. Die Kamera folgt dem fallenden Topf. Das Zerschellen des Topfes füllt genau die Stille der begleitenden Musik. Der akustische Raum, der so entsteht, das Warten auf das Krachen des herabstürzenden Tontopfs, bildet eine letzte Entsprechung zwischen dem Motiv der ansteigenden Dunkelheit und dem, was sich dem Zuschauer als filmisches Bewegungsbild vermittelt. Dieser akustische Raum, diese Spanne des Wartens auf das Geräusch, auf den berstenden Tontopf, misst buchstäblich den Abgrund aus, der sich vor Helen auftut, obwohl sie ihn doch nicht sehen kann. Wir sehen die angespannte Gestalt der Frau – sie verharrt noch einen Moment, dann wirft sie ihr Gesicht in die Hände und sinkt in sich zusammen. Ihr Weinen wird eingefasst von einem furiosen Klavierlauf tiefer, dunkler Töne. Von der Abendstunde über das Dunkel der Blindheit wird es Nacht und die Verzweiflung wächst an. Auf den Zuschauer bezogen ist diese Entwicklung der Szene die Zeit, in der sich ein Verstehen konstituiert, welches das eigene Empfinden projektiv auf die sichtbaren Schauspielbewegungen bezieht und so als eine Empfindungswelt der Figur konstituiert. Ihm erschließt sich die Verzweiflung der Figur als gefühlte Wandlung des kinematografischen Bilds. Man versteht, dass die Verzagtheit der Figur Helen immer mehr ansteigt, bis sie am Ende in völliger Verzweiflung sich entlädt. Doch dieses Verstehen des Gefühls der Figur basiert im Wesentlichen auf der Gefühlsbewegung, die man als Zuschauer selbst in der Erfahrung des sich wandelnden audiovisuellen Filmbilds durchläuft, was sich als ein Bewegungsmuster skizzieren lässt: alle Elemente der Inszenierung entwickeln sich von einer langsamen, zaghaft-kontinuierlichen Bewegung zu einer Beschleunigung und kulminieren in einem fulminanten Schlussmoment. In diesem expressiven Bewegungsmuster sind alle ästhetischen Wandlungen, die Veränderungen des Bildraums eingefasst: Ein Innenraum wird zu einem Außenraum, starke Hell/Dunkel-Kontraste werden zu einer helleren Bildinszenierung,

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während die Montage von eher langsamer zu schnellerer Dynamik wechselt. Gleichzeitig wird eine ruhige Melodie zu einer lauteren und beschleunigten Musik, in der sich hohe Chorstimmen mit dunklen Klaviertönen kontrastieren. Die dynamische Entwicklung ist kongruent zu der in der Inszenierung eingefassten Schauspielbewegung (ein langsames Tasten, das zu einer raschen, sich entladenden Geste wird: das Bedecken des Gesichts mit den Händen). Die inszenatorischen Gestaltungselemente des Audiovisuellen (die hohe musikalische Intensität, die sich schneller wandelnden Schattierungen, die Montage) beschreiben somit in ihrer Wandlung eine dynamische Zuspitzung, welche kongruent ist zu der im Bild eingefassten Schauspielbewegung. Aufgrund dieser Kongruenz – so die These – überträgt man das, was man selbst als emotive Wandlung erfährt, auf den im Filmbild sichtbaren Körper der Schauspielerin.38 Das Ausdrucksmuster macht die Verzweiflung in ihrem Höhepunkt wahrnehmbar: die Zuspitzung von extrem gegensätzlichen Hör- und Sehweisen – zwischen oben und unten, Licht und Schatten, hohen Stimmen und tiefen Klaviertönen, zwischen Innen und Außen. Die Entsprechungen von Bewegungsqualitäten, Farb-, Licht- und Klangkompositionen beschreiben das expressive Ineinander der Zeitlichkeit des Bilds und der affektiven Empfindungsbewegung im Zuschauer. Die Szene etabliert einen Wahrnehmungsmodus, in dem alle Elemente der Inszenierung als Figur-Grund-Konstellation erscheinen. Es ist als ob die Bewegungen von Helen wie an einem seidenen Faden verbunden wären mit allen anderen Bildelementen: Helens Aufstehen lässt die Musik lauter werden, ihr Tasten das Bild dunkler, ihre Drehung beschleunigt die Schattierungen, ihr ins LichtTreten macht die Chöre schriller, das Herunterfallen des Topfes und die Kamerabewegung des Stürzens verbinden sich mit dem Zusammensacken des Körpers, mit der Verdeckung des Gesichts. Durch all diese sinnlichen Kongruenzen wird das Gefühl der Ausweglosigkeit, welches die audiovisuelle Kompositorik erzeugt, auf die sich bewegende Schauspielerin bezogen. Eine ästhetischaudiovisuelle Figuration, in der alle Bildelemente zusammenwirken, lässt das

38 Diese Auffassung ist nicht zu verwechseln mit den Begriffen alignment und allegiance, wie sie Murray Smith geprägt hat (siehe Smith, Murray: Engaging characters: Fiction, emotion, and the cinema, Oxford: Clarendon Press 1995). Er beschreibt damit das emotionale Verhältnis des Zuschauers zu den Figuren, einmal in eher räumlicher Nähe bzw. als Nachvollzug der Figurenperspektive (alignment, ebd., S. 142f), einmal als emotionale Bewertung bzw. durch Anti- und Sympathie (allegiance, ebd., S. 187f). Indem Smith mit den Begriffen von in der Diegese repräsentierten Figuren ausgeht, die ein Eigenleben (mit Gefühlen, Ansichten, Einstellungen) führen, stehen die Begriffe kontrastiv zu der hier dargestellten Perspektive.

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subjektive Erleben einer Figur entstehen, die nicht von der Filmerfahrung getrennt zu denken ist, denn das Zuschauerempfinden konstituiert sie erst. In diesem Vorgang werden alle Gegenstände, selbst wenn sie in einem diegetischen ›Außenraum‹ stattfinden, in einen subjektiven Innenraum verwandelt. Dieser Prozess ist als metaphorische Bedeutungsemergenz zu beschreiben: Zwei Erfahrungsbereiche, die man innerhalb der Szene durchläuft, interagieren miteinander: zum einen entsteht ein Raum, der eine Frau in ihrem Alleinsein zeigt. Zum anderen sieht man in der fortschreitenden Entfaltung der Szene diesen Raum immer weniger als ein äußere Realität, vielmehr erlebt man es durch die Inszenierung als das Werden einer gefühlten Innerlichkeit. Äußere Gegenstände werden im Wahrnehmungserleben der Zuschauer zum Ausdruck eines dramatischen inneren Geschehens, Licht und Dunkelheit zu Gefühlsnuancen, Farbwerte zu einem Stimmungsbild. In der Dauer der Entfaltung der Szene wird aus dem Hotelzimmer, in dem eine Frau allein ist, sich erhebt und auf den Balkon tritt, der Raum eines Gefühls, ein absolutes Interieur. Es ist die Zeit, in der für den Zuschauer die beiden Bildordnungen in der metaphorischen Interaktion zweier Erfahrungsbereiche ein filmisches Bild ergeben. Die erste Ordnung ist die Ebene, die man als Handlungsraum – eine Frau, ihre Bewegungen, ein Innenraum – benennen könnte. Die zweite Ordnung ist die Ebene filmischer Expressivität; sie ist an die temporale Entfaltung des kinematografischen Bewegungsbildes gebunden, die sich als Prozess der Affizierung des Zuschauers verstehen lässt. In der zeitlichen Entfaltung der Szene interagieren beide Ordnungen auf eine Weise miteinander, die den Zuschauer schließlich das, was er als eigenes leibhaftes Empfinden des Film-Sehens realisiert, als Innerlichkeit einer fiktiven Figur repräsentieren lässt. Im Genremodus des Melodramatischen ist der Prozess der Metaphorisierung – das sollte an der Szene aus MAGNIFICENT OBSESSION gezeigt werden – auf ein Bild der Innerlichkeit ausgerichtet. Ihr Zentrum bildet das Gefühl als Ausdruck der Individualität. Im Folgenden wird mit einer Szenenanalyse aus der Screwball Comedy THE AWFUL TRUTH ein vergleichbarer Prozess mit Blick auf den Modus der Komödie untersucht. Im Zentrum steht hier das Gefühl als Ausdruck des Gemeinschaftlichen.

D ER KOMÖDISCHE M ODUS DER V ERKÖRPERUNG – T HE AWFUL T RUTH (US 1937, L EO M C C AREY ) Liebesgeständnisse auf der Türschwelle – die Szene ist paradigmatisch für das Komödiengenre: In ihr sind die Protagonisten mit den Widrigkeiten sozialer Beziehungen konfrontiert; die Szene beginnt in Lucys (Irene Dunne) Apartment mit

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einem Gespräch über die Scheidung zwischen Lucy und ihrem Exmann Jerry (Cary Grant). Als Jerry sich verabschieden will, hört man die Stimme von Lucys neuem Verlobten Dan (Ralph Bellamy) im Gang. Darauf schiebt Lucy die Tür soweit zurück, dass Jerry im Inneren des Raums hinter der Tür verschwindet (Abbildung 2). Abbildung 2: Jerry (Cary Grant) belauscht das Liebesgeständnis, das Dan (Ralph Bellamy) seiner Verlobten Lucy (Irene Dunne) in Reimen vorträgt. Die Kompositorik des geteilten Bildraums – hier innerhalb einer Einstellung durch die vertikale Trennlinie der Tür angeordnet – setzt sich im Laufe der Szene in der Montage zu einem kontrastiven Muster fort und entwickelt dadurch eine Aufteilung der Mitsichten in ein heimliches (Jerry und Lucy) und in ein offizielles Kommunizieren (Dan und Lucy).

Quelle: THE AWFUL TRUTH (US 1937, Leo McCarey).

Man sieht ein in zwei Räume geteiltes Bild. Links hinter der Tür steht Jerry und rechts in der geöffneten Tür Dan und Lucy, die miteinander sprechen. Im Folgenden wird diese doppelte Bild-Konstellation durch Montage, Bildkomposition und Schauspiel zur Szene eines komödiantischen Spiels zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verstecken. Dan trägt Lucy ein Liebesgedicht vor, sagt ihr, dass er ih-

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retwegen nachts nicht schlafen könne und wirbelt sie am Ende der Szene nach einem Kuss auf die Wange überschwänglich herum. Parallel zu dieser gleichsam ausgestellten Seite der Begegnung gibt es eine Interaktion, die Lucy vor Dan zu verbergen sucht, die aber dem Zuschauer als eigentliche Attraktion präsentiert wird: Von seinem Versteck aus interveniert Jerry immer wieder in das Gespräch zwischen Dan und Lucy, etwa indem er Lucy, während Dan das Gedicht vorliest, mit einem Bleistift unter den Achseln kitzelt. Lucy wehrt mit Stößen gegen die Tür Jerrys Störungen ab. Als Dan endlich gegangen ist, endet die Szene mit einem kurzen Dialog zwischen Lucy und Jerry, dann verlässt dieser ebenfalls die Wohnung. Inszeniert ist das Komische der Szene durch die Diskrepanz zwischen offiziellem und verstecktem Kommunizieren, das allein von der Wahrnehmung des Zuschauers her zugänglich ist. Das Spiel um Lucy, ihre Mittlerposition zwischen einem Gespräch mit ihrem neuen Verlobtem und einem heimlichen non-verbalen Austausch mit ihrem Exmann adressiert in mehrfacher Weise die affektive Resonanz des Publikums. Zum einen als Lust des unsichtbaren Beobachters, der dabei zusieht, wie sich eine stereotype Handlungskonstellation in ein dramatisches Geschehen um Täuschung und Verstellung wandelt; wobei die Tür die Funktion des Theatervorhangs einnimmt und ein On-Stage und Off-Stage der sozialen Interaktion markiert. Für die Zuschauer wird Jerry zum Meister der verborgenen Regie und soufflierenden Rede; er kitzelt Lucy rhythmisch immer zu einem bestimmten Zeitpunkt am Ende einer Zeile oder eines Reims, so dass ihr Lachen stets als Antwort auf Dans Worte erscheint (was dessen Liebeschwüre ins Lächerliche zieht). Zum anderen erscheinen die wiederkehrenden Störmanöver als ein leidenschaftliches Spiel zwischen Lucy und Jerry. Dem Zuschauer werden die verborgene Berührung und körperliche Vertrautheit zu einem zärtlichen Liebesspiel hinter der Tür, das im schroffen Kontrast zur klischeehaften Liebesszene vor der Türe steht. Die dadurch entstehende affektive Spannung entlädt sich immer neu in Lucys Lachen. Die Montage moduliert die affektive Spannung im Dreieck von heimlicher Berührung, klischierter Liebesszene und dem Lachen der Protagonistin in einer streng rhythmischen Gestaltung. Man sieht Jerrys Hand in der Großaufnahme; langsam, fast zärtlich bewegt er den Bleistift in Richtung ihres Oberarms, und in der nächsten Einstellung sieht man Lucy von Nahem laut glucksend und lachend. Gleich darauf sieht man ihre Bewegung, wie sie die Tür nach hinten drückt, was wiederum unmittelbar die Großaufnahme von Jerry auszulösen scheint. Man sieht, wie er zunehmend in die Ecke gedrängt wird. Der Rhythmus, der in diesem wiederkehrenden Wechsel von Nah- und Großaufnahmen entsteht, lässt das Gespräch mit Dan immer wieder ganz in den Hintergrund

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treten – das offizielle Gespräch rückt ins filmische Off. Man hört Dans geflissentliche Rede, während die Montage den Fokus auf Jerrys Hand, auf ihren Oberarm, auf sein Gesicht und ihr Lachen verlegt. Es etabliert sich ein Rhythmus aus Montage, Schauspiel und Rede, der zwischen langgezogenen, gedehnten und kurzen, abrupten Elementen wechselt. Dieser Rhythmus steigert seine Intensität, indem er in seinem weiteren Verlauf sich verändert zu Variationen von ›lang – kurz, kurz, kurz‹. Lang ist die langsame, kontinuierliche Rede Dans, die ihre Entsprechung in den längeren Einstellungen hat (die Lucy und Dan zeigen). Kurz ist die Großaufnahme des Gesichts Grants, kurz ist die Handbewegung in einer Großaufnahme, die den Bleistift hält und kurz ist das abrupte, laute Glucksen und Lachen Lucys. Dieser Rhythmus wird wiederholt, bevor er sich durch das Telefonklingeln und den damit verbundenen Einstellungswechsel auflöst. Darauf folgt eine distanziertere Einstellung, in der Dan Lucy hochhebt, sie herumschwingt und dann aus dem Bild abgeht. Die Art und Weise, in der die Inszenierung das Kitzeln in der Großaufnahme ausstellt, die sinnlich-belebte Weise des Schauspiels von Dunne und Grant, die rhythmische Montage der Körperteile und Gesichter lassen für die Zuschauer ein Bild von Flirt und Begehren entstehen. In der Verknüpfung von Montage, Schauspiel und Bildkomposition versetzt der kinematografische Rhythmus die Wahrnehmung des Zuschauers in eine Art Pendelbewegung. Der Bildraum hat an der Tür (und bei Lucy) seine Mitte und schwenkt durch die Einstellungswechsel mal zur einen (zu Jerry) und dann zur anderen Seite (zu Dan) aus. Die kinematografische Bewegungsfiguration wird am Ende der Sequenz in die Schauspielbewegung überführt, wenn Dan Lucy hochhebt und wie eine Puppe herumschwingt. Das Zuschauerempfinden, das über die ganze Szene entsteht, lässt sich dabei als sich wiederholendes Herstellen von Gleichgewicht (Pendeln) beschreiben, das jedoch ständig ins Wanken gerät, unregelmäßig wird bzw. überzukippen droht. Hinzu kommt, dass die mimischen Interaktionen höchst prononciert in Szene gesetzt sind. Doch sind die schematischen Mimiken schauspielerischer Emotionsausdrücke – z.B. die Peinlichkeit in Dunnes Gesicht, Schadenfreude bei Grant und Fröhlichkeit bei Bellamy – keineswegs unmittelbar auf die Zuschauer bezogen. Die stereotypen Ausdrücke bilden gleichsam ein rhetorisches Gewebe, an dem der komische Affekt im rhythmischen Aufbau affektiver Spannungen gegensätzlicher Emotionsadressierungen entsteht. Die Mimiken etikettieren Emotionen, und werden als solche – als stereotype Zeichen von Emotionen – in die Montage eingefügt, die eine Pendelbewegung des Zuschauerempfindens zwischen dem Gleichgewicht-finden und Aus-dem-Gleichgewicht-Kommens präfiguriert. Erst auf der Ebene dieser übergreifenden Bewegung entsteht eine un-

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willkürliche Affizierung der Zuschauer als körperliches Selbstempfinden. Mit Blick auf diese genuine Expressivität filmischer Bewegungsbilder sprechen wir von ›Ausdrucksbewegungen‹.39 Sie bezieht sich immer auf die Interaktion aller inszenatorischen Elemente des Films. Durch das Interagieren aller inszenatorischen Elemente entsteht ein Bewegungsbild, das in seinen expressiven Qualitäten selbst zum Grund einer metaphorischen Übertragung werden kann. Für die Zuschauer bedeutet das, dass die Szene selbst nicht gesehen werden kann, ohne die beschriebene Bewegungsfiguration in der einen oder anderen Weise zu verkörpern. Eben darin grundieren solche Bewegungsfigurationen als Prozesse der Verkörperung jede filmische Bedeutungsgebung. So lässt sich doch das, was in der Szene zur Darstellung kommt, nur auf das Empfindungserleben der Zuschauer selbst beziehen: Das körperliche Selbstempfinden der Zuschauer im Prozess des Filme-Sehens wird zum Vehikel einer metaphorischen Übertragung,40 in der das im Film zur Anschauung kommende Beziehungsgefüge als eine ins und aus dem Gleichgewicht geratene Pendelbewegung erlebt wird. In welchem Sinne eine filmische Metapher Möglichkeiten eröffnet, den Übergang von der physiologisch-sinnlichen Verkörperung des Bewegungsbildes zur Bedeutungskonstruktion zu beschreiben, mag mit Blick auf die Figurenkonstruktion deutlich werden. Denn auch die Figuren sind keine für sich bestehenden Repräsentationen, sondern komplexe Bedeutungskonstruktionen, die letztlich auf die basalen Übertragungsprozesse zwischen verkörpernder Filmwahrnehmung und sich konstituierender Metaphorik rückführbar sind. Den drei sich wiederholenden Elementen aus der Montage entspricht so auch die Konstruktion der drei Figuren innerhalb der Szene: ein anstoßendes Element (Jerry), ein reagierendes und rückstoßendes Element (Lucy) und ein bremsendes Element (Dan). Jede Figur ist durch jene Ausdrucksqualitäten (anstoßend, rückstoßend, bremsend) definiert, die in der Montagebewegung als Gesamtgefüge spürbar werden und die sich als Kompositionselemente des filmischen Bewegungsbild jeweils mit dem einzelnen Schauspielerkörper verbinden. Jede Figur wird demnach zunächst als ein Bewegungstypus greifbar, der seine spezifische Qualität als Element innerhalb der gesamten Bewegungsfiguration der Szene erfährt.

39 Zum Begriff der Ausdrucksbewegung siehe Fußnote 33. 40 Cameron, Lynne: »Patterns of metaphor use in reconciliation talk«, in: Discourse and Society 18/2 (2007), S. 197–222.; Cameron, Lynne/Maslen, Robert/Todd, Zazie/Maule, John/Stratton, Peter/Stanley, Neil: »The Discourse Dynamics Approach to Metaphor and Metaphor-Led Discourse Analysis«, in: Metaphor and Symbol 24 (2009), S. 63–89.

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Dabei finden Entsprechungen zwischen Schauspielbewegungen und filmischer Inszenierung statt: Die Figur Dan ist das Ergebnis einer Komposition, in der sein langes und langsames Sprechen der Kadrierung entspricht: dass man ihn fast nur in längeren und distanzierteren Einstellungen sieht. Die Figur Jerry entsteht hingegen aus dem wechselhaften Emotionsgebaren Grants, das mit den nahen, kurzen, abrupten und wechselhaften Einstellungen in Einklang ist. Die Figur Lucy wiederum entsteht aus dem wechselhaften Changieren im Schauspiel, das der Montagebewegung im Ganzen sowie beiden Bildaufteilungen entspricht. Die Figuren – so die These – sind zuallererst Konstruktionen, wiederkehrende Teile und Funktionen der gesamten Montagebewegung, die man erlebt als ein ungeteiltes Gefühl von Vitalität und Gemeinschaft. Man versteht die Figuren – der metaphorischen Konstruktion entsprechend – immer schon als Teile eines ins Wanken geratenden, sozialen Beziehungsgeflechts (und niemals etwa als durch individuelle Gefühle bestimmt); dies ist eine metaphorische Konstruktion, die allein durch die Zuschauerwahrnehmung im Erleben der Szene, des sich zeitlich entfaltenden Filmbilds, entsteht. Mit den beiden Beispielanalysen haben wir versucht, den Zusammenhang von Expressivität, Zuschauergefühl41 und metaphorischer Bedeutungskonstruktion aufzuzeigen. Die beiden Analysen verdeutlichen die unterschiedlichen Erfahrungsmodalitäten zweier Genres, des Melodramas und der Komödie. Während das melodramatische Genießen dadurch bestimmt ist, dass in der Szene über die Zeit ein Gefühl von Innerlichkeit entsteht, welches im Zuschauergefühl konstituiert, aber an die Figur der Heroine zurückgebunden wird, ist der komödische Modus dadurch gekennzeichnet, dass mit ihm ein kontrastives Erleben eines Gemeinschaftsgefühls inszeniert wird. Dabei ist die Bedeutungskonstitution, wie wir sie als metaphorischen Prozess beschrieben haben, an die Wahrnehmung und Gefühlsmodellierung gebunden. Mit diesem Prozess beschreiben wir das ZurBedeutung-Kommen in der Zeit als ein figuratives Ineinander von Schauspielkörper und filmischer Inszenierung.

D IE P OESIS

DES

F ILME -S EHENS

Wir haben versucht zu zeigen, in welcher Weise der empathische Prozess selbst grundlegend ist für die Erfahrung filmischer Bilder (d.i. die Erfahrung einer spe-

41 Zum Begriff des Zuschauergefühls siehe Kappelhoff, Hermann/Bakels, Jan-Hendrik: »Das Zuschauergefühl. Möglichkeiten qualitativer Medienanalyse«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 5/2 (2011), S. 78-95.

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zifischen Art und Weise die Welt zu erfahren). Auf diesen Grund stützt sich alle narrative Konstruktion. Wir sind dabei von der These ausgegangen, dass solche narrativen Konstruktionen in Filmen keineswegs auf der Ebene repräsentierter Sachverhalte gegeben sind. Realität gewinnen sie erst als Ergebnis der Aktivitäten von Zuschauern. Die diegetische Welt ist ein von Zuschauern im Akt des Zuschauens hergestellter Sinnhorizont. In diesem Sinne haben wir in den Analysen versucht, zu beschreiben, wie in den Modulationen des Bildraums die filmische Welt als ein sukzessives Zur-Erscheinung-Kommen des Sichtbaren und Hörbaren entsteht. Die diegetische Welt scheint – um es mit Deleuze zu sagen –, »eine Konsequenz der selbst sichtbaren Bilder und ihrer direkten Kombination zu sein, niemals aber etwas Gegebenes.«42 Es ist die Bewegung des Films selbst, welche die Modulationen des Bildraums – die sichtbaren Dinge, die Gegenstände, die Figuren – auf eine sich permanent wandelnde Bedeutsamkeit bezieht; sie lässt den Sinnhorizont aus dem Rhythmus hervorgehen, mit der sie als Sichtbarkeiten und Hörbarkeiten in die filmische Welt eintreten und sich verändern. Was sich dem Zuschauer als Narration erschließt, ist ein ›Sinn‹, der unmittelbar aus dem Wahrnehmungsprozess der Bewegungsbilder herauszuarbeiten ist. Die Repräsentation endlich (die Räume, Figuren, Handlungen und Dinge, aus denen sich der filmische Diskurs aufbaut) ist selbst das Produkt eines Fiktionalisierungsprozesses; man könnte sagen, es ist die Dichtung von Zuschauern. Ein solcher Prozess ist analytisch als die doppelte Bewegung zu rekonstruieren, in der sich der Film als ein in der Zeit sich entfaltender Bildraum und zugleich als Modulation der Wahrnehmungsempfindungen von Zuschauern ereignet. Das meint die Zeit des stetig sich erneuernden Durchlaufs zwischen der Expressivität audiovisueller Bilder und der sich entfaltenden diegetischen Welt. Die Zeit, in der die filmische Welt im Blick der Kamera als ein Bildraum entsteht, der immer neue Bedeutungen annimmt, ist als der Rhythmus zu rekonstruieren, in dem diese Welt im Erleben der Zuschauer, d.i. im Akt des Filme-Sehens zu einem wahrnehmenden, fühlenden, denkenden Körper wird. In dieser Perspektive können die Empathieprozesse als metaphorische Interaktion gefasst werden, die als Scharnier zwischen der Wahrnehmung audiovisueller Bilder und dem Prozess ihrer Fiktionalisierung (d.i. der Konstruktion eines fiktionalen Sinnhorizonts) verstanden werden. Die Metapher konstruiert eigensinnige Perspektiven und Beschreibungen von Welt, indem sie zwei distinkte Erfahrungsdomänen oder -modi interagieren lässt. Das Medium dieser Interaktion sind die Körper der Zuschauer selbst, die empathische Verkörperung der meta-

42 G. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino II, S. 43.

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phorischen Figuration. Das Einnehmen neuer Perspektiven, die Verkörperung fremder Erfahrungsweisen wären in diesem Sinn grundlegend für den Akt der Filmerfahrung.

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Ästhetik der Einfühlung und der McGuffins oder: Figuren- und objektbasierte Lesarten des Filmästhetischen C HRISTIANE V OSS

E INLEITUNG Dass die Fähigkeit zum emphatischen Mitschwingen für soziale Kommunikation und intersubjektives Verständnis zentral ist, ist mittlerweile ein stehender Topos in der praktischen Philosophie, der Pädagogik, Psychologie und Sozialphilosophie.1 Dass die Fähigkeit zur Empathie auch mit ästhetischen Konstrukten möglich und wichtig ist, dürfte ebenfalls unstrittig sein.2 Nicht umsonst hat es die Ästhetik seit jeher mit einer Logik des Sinnlichen zu tun und von daher mit der Weise, in der speziell Kunstwerke Wahrnehmungen und Affekte konfigurieren

1

Milch, Wolfgang: »Einfühlung, Empathie«, in: Wolfgang Mertens (Hg.), Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 152-157; Bolognini, Stefano: Die psychoanalytische Einfühlung, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012; Rifkin, Jeremy: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt am Main/New York: Campus 2010; Thomä, Dieter: »Leben als Teilnehmen. Überlegungen im Anschluss an Johann Gottfried Herder«, in: Stascha Rohmer/Ana María Rabe, (Hg.), Homo Naturalis. Zur Stellung des Menschen innerhalb der Natur, München: Karl Alber 2012, S. 57-97.

2

Stern, Daniel: »Die Einheit der Sinne«, in: Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.), Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München: Fink 2010, S. 29-49.

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sowie Bedeutungen in Form sinnlicher Erscheinungen kommunizieren.3 Im Medium des emphatischen Mitschwingens, so scheint es, wird allererst so etwas wie lebendige Zeit, Dynamik und Gehalt einer Darstellung erfahrbar, auch wenn damit noch nichts über deren ästhetische Qualitäten oder konkrete Inhalte gesagt ist. In der einfühlenden Anteilnahme an einem fiktionalen Geschehen gewinnt dieses selbst an Plastizität und Wertigkeit. Erst darauf aufbauend stellt sich z.B. so etwas ein wie ein filmischer Realitätseindruck, kann ein lustvolles Navigieren in einer fiktiven Welt anheben, das von freudiger Belebung, Thrill und/oder Spannung begleitet wird.4 Da Empathie für intersubjektives Verstehen wichtig ist und generell das anthropozentrische Interesse groß ist, mag es naheliegen, auch in ästhetischen Kontexten, zumal in narrativen, primär figurenbezogene Empathie in den Blick zu nehmen. Was die personalen Figuren einer Erzählung tun, denken, fühlen und lassen und voreinander sowie vor sich selbst und dem Publikum verbergen oder zeigen, sind dann die Dimensionen, die es über die Technik des ›Sich-hinein-versetzens‹ in sie nachzuvollziehen gilt. Aus dieser Sicht bilden die Intentionen sowie Zeit-Raum-Wahrnehmungen, die dem fiktiven Personal einer Geschichte zuschreibbar sind, die zentralen Themen der ganzen Fiktion.5 Allerdings gilt es darüberhinaus zu bedenken, dass auch nichtpersonengebundene Dinge und Dimensionen wichtige Funktionen in der ästheti-

3

Gadamer, Hans Georg: »Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewusstseins«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 59-70.

4

Das navigierende Moment, das u.a. darin besteht, die Matrix, den Indikativ und die Axiomatik einer fiktional gesetzten Welt auch in logischer Hinsicht anzuerkennen und als modales Bezugssystem vorübergehend ernst zu nehmen, ist für Marie-Laure Ryan ein zur Immersion notwendig hinzutreten-müssendes Element im Umgang mit Fiktionen. Sie nennt es »fictional recentering« in: Ryan, Marie-Laure: »Fiktion, Kognition und nichtverbale Medien«, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), »Es ist, als ob«. Fiktionalität in Philosophie, Film und Medienwissenschaft, München: Fink 2009, S. 69-87.

5

Brigitte Hilmer gibt dem eine interessante Wendung, indem sie die Bedingungen für Fiktionalität und Fiktionsverstehen an die zeitliche Situierung von Personen bindet: »Meine These ist, dass das Eintauchen in die autonom gewordene Zeit ohne Figuren nicht möglich wäre, die als Ich-Origines den Vorgriff in die Zukunft und das Zurückbehalten (oder Abwerfen) der Vergangenheit repräsentieren.«, Hilmer, Brigitte: »Die Zeit der Figuren als Prinzip filmischer Fiktion«, in: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.), »Es ist, als ob«. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Fink 2009.

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schen Affekt- und Verständnissteuerung übernehmen. Dazu zählen auf Film bezogen z.B. die Musik, Kamerabewegungen, die Farblichkeiten und Atmosphären von Raumgestaltungen, konkrete Objekte und Materialien. Im Folgenden geht es um die Frage, wie ästhetische Empathie speziell in Bezug auf das Filmmedium genauer gefasst werden kann. Dafür wird zunächst das wirkmächtige Konzept »ästhetischer Einfühlung« von Theodor Lipps in seinen Grundzügen zu rekonstruieren sein, das trotz seiner Bekanntheit selten explizit auf filmästhetische Fragestellungen bezogen wird.6 In einem zweiten Teil wird auf einen filmästhetischen Operationsmodus umzulenken sein, der für die Animation von (narrativer) Bewegung im Film und für den Aufbau von Spannung zuständig ist: Der McGuffin. Dabei handelt es sich um ein von Alfred Hitchcock erfundenes filmtechnisches Mittel, das die Funktion hat, sämtliche Handlungsstränge und Bewegungen innerhalb eines narrativen Universums anzutreiben, obwohl es sich als selbst belanglos und leer, als Bluff, am Ende einer Geschichte herausstellt.7 Der McGuffin interessiert hier, weil er zur personengebundenen Empathie-Lesart filmdramaturgischer Anordnungen auf noch ungeklärte Weise in Spannung steht. Die erklärende Beschreibung der Funktionen dieses filmtechnischen Operationsmodus, so lautet eine Intuition dieses Aufsatzes, erfordert tendenziell eine nicht-figurenzentrierte und a-psychologische Lesart. Von dorther wäre gegebenenfalls auch das ästhetische Einfühlungskonzept erweitert zu denken, so dass die immer noch gängigen anthropomorphen bis -zentrischen Überformungen des Filmästhetischen um fehlende Dimensionen ergänzt, wenn nicht gar überflüssig gemacht werden können.

ÄSTHETISCHE E INFÜHLUNG Theodor Lipps handelt in seiner Schrift »Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst« (1906) von der Einfühlung, die für ihn eine spezifisch menschliche Form der Wahrnehmung von Fremdpsychischem und Gegenständlichem darstellt. Dabei unterscheidet er zwischen den Vollzugsakten der Einfühlung und ihren Objekten. Die Selbstempfindung im Akte der Einfühlung sei der ›idiopathische‹ Aspekt. Der andere Aspekt der Fremdwahrnehmung sei die Selbsteinfüh-

6

Erwähnt wird Lipps allerdings in Curtis, Robin: »Synästhesie und Immersion. Räumliche Effekte in Bewegung«, in: Robin Curtis/Marc Glöde et al. (Hg.), SynästhesieEffekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Erfahrung, München: Fink 2010, S. 144.

7

Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne 2003, (franz. erstmals 1966), S. 125-126.

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lung in ein Gegenüber, das dergestalt analog zur eigenen Individualität in seiner Individualität abgemessen werden könne. Das idiopathische Selbstempfinden geht im Fall von Empathie demnach unmittelbar einher mit Fremdempfinden, wobei sich beide Seiten oder Aspekte dieser einfühlenden Relation wechselseitig qualifizieren. Wie weit eine solche Einfühlung die Differenz zwischen Ego und Alter einebnen soll und ab wann einfühlendes Verstehen womöglich deshalb in Missverstehen umschlagen könnte, lässt Lipps offen. Wie auch immer sich das in epistemischer Hinsicht verhalten mag: Wenn das Differenzbewusstsein zwischen Ego und Alter aufgehoben und die Frage nach der objektiven Wirklichkeit des eingefühlten Gegenstandes suspendiert ist, handelt es sich für Lipps um ästhetische Einfühlung im engeren Sinne des Wortes.8 Die ästhetische Unterform von Empathie ist für Lipps allerdings kein ausschließlich intersubjektives Phänomen. Dies verdeutlicht er an der Einfühlung in einen vermeintlich toten Gegenstand: Indem ich den Felsen sukzessive auffasse und Teil zu Teil hinzunehme, wird er für mich ein Ganzes. Indem ich das Mannigfaltige, das der Fels in sich schließt, sukzessive auffasse, fasse ich es zugleich zur Einheit eines Dinges. Damit ist der letzte Moment der Einfühlung bezeichnet. Das ›Ding‹ ist für mich jederzeit ein Individuum, dem einzigen Individuum, das ich unmittelbar kenne, nämlich mir selbst, vergleichbar. Vielmehr, es ist dieses Individuum.9

Dass Einfühlung in Dinge möglich sein soll, liegt an einer Asymmetrie in Lipps’ Konzeption: Die Aktivität liegt stets auf Seiten des sich einfühlenden Subjekts. Es erhält im Rückwirkungseffekt seiner Einfühlungsaktivität den Eindruck von Lebendigkeit des Gegenübers zurück. Für Lipps stellt das allerdings keine (sinnliche) Täuschung dar. Im Gegenteil. Ästhetische Einfühlung konstituiert ihm zufolge allererst die ästhetische Sphäre als ein in sich abgeschlossenes Wirklichkeitsregime eigenen Rechts. Er spricht deshalb auch von der ›ästhetischen Isoliertheit‹ der ästhetischen Dinge und Wesen. Ästhetische Einfühlung wird aus Lipps’ Sicht sogar in dem Maße zerstört oder unterbrochen und verzerrt, wie Reaktionen, Methoden und Fragen aus dem alltäglichen Umgang mit der empiri-

8

Als »praktische Einfühlung« bezeichnet Lipps die Form des Wissens, die auf die objektive Wirklichkeit des Eingefühlten zielt. Lipps, Theodor: »Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst«, in: ders., Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, Bd. 2, Hamburg: Leopold Voss 1906, S. 34.

9

Lipps, Theodor: »Einheit und Freiheit in der Natur. Die Einfühlung und die Einheit«, in: ders., Grundlegung der Ästhetik, 1. Teil, Hamburg: Leopold Voss 1903, S. 193.

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schen Realität darin eingetragen würden. Dieser Punkt entspricht in der Sache ungefähr dem, was Kant als ›interesseloses Wohlgefallen‹ des ästhetischen Urteils qualifiziert hat. Und ähnlich wie Kant grenzt Lipps auch die ästhetische Einfühlung von bloß körperlichen und rein peripherischen Gefühlen ab. Dasjenige, was über ästhetische Einfühlung sodann in Erscheinung trete, sei eine innere Kraft, etwas Lebendiges des so Wahrgenommenen. Diese lebendige Dimension des ästhetischen Einfühlungsgehaltes belegt Lipps dann mit dem Begriff des »Symbols«, das er so den semiotisch engeren Bestimmungen enthebt. Er schreibt: Symbol nennen wir das Wahrgenommene, indem wir unmittelbar ein Anderes, nämlich ein Streben, ein inneres Tun und eine entsprechende innere Zuständlichkeit oder Weise der inneren Erregtheit, kurz, eine Weise unserer inneren Lebensbetätigung, unmittelbar erleben. […] Und wir reden insbesondere von einem ästhetischen Symbol, wenn die Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit dieses inneren Tuns und dieser inneren Zuständlichkeit in dem Wahrgenommenen gar nicht in Frage kommt.10

In diesem Zitat wird folgender, ästhetisch grundlegender Gedanke verteidigt: Die Suspension von Zweifel und die Affirmation der ästhetischen Erscheinungshaftigkeit als Existenzform eigenen Rechts sind maßgebliche Ingredienzen ästhetischer Einfühlung und ihrer ›Symbolverarbeitung‹. Mit der Einfühlung geht folglich auch die normative Anerkennung ästhetischer Autonomie einher. Einer ästhetischen Erscheinung muss man sich Lipps zufolge in einer Art Hingabe überlassen, nur dann gebe sie einem ihr ›Innerstes‹ preis. Eine solche Hingabe ist nicht dasselbe wie hermeneutische Interpretationsbemühung. Vielmehr umfasst sie als affektive Form eine performative, kognitiv-synästhetische Integrationsleistung und Partizipation am Wahrgenommenen. Ästhetische Betrachtung soll in dem Sinne allerdings ›reine‹ Betrachtung bleiben, wie Lipps wiederholt betont, als sie frei von empirischen Kontextualisierungen des eingefühlten Gegenstandes und vor allem von subjektiven Projektionen auf ihn sein müsse. »Illusion« ist für Lipps dann ein anderer und positiver Name für das Ergebnis der spezifisch ästhetisierenden Auslöschung der Differenz zwischen Einfühlendem und eingefühltem Gegenstand. Demgegenüber halten unter anderem Maurice Merleau-Ponty, Bernhard Waldenfels und Barbara Becker m.E. zu Recht daran fest, den Chiasmus von Subjekt und Objekt in der Einfühlung nicht als Einswerdung, sondern als nichtstillstellbares Oszillieren zwischen Eigen und Fremd zu fassen. Dazu gehört, Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht als direkt miteinander ver-

10 Ebd., S. 140.

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schaltet zu denken, wie Lipps es tut, sondern sie als eine reversible Relation von Vorder- und Hintergrundempfindung zu denken und damit dynamisch zu fassen.11 Die zugespitzt klingende Entdifferenzierung zwischen Betrachter- und Werkposition ist denn auch der Einfallspunkt für Kritik an Lipps’ Konzept, die jedoch andernorts behandelt wird und hier nicht Thema sein soll.12 Weil nun für Lipps aus ästhetischer Einfühlung etwas Eigenständiges, nämlich Ästhetisches, emergiert, geht es ihm zufolge im Ästhetischen nie um eine Mimesis der Wirklichkeit. […] die Übereinstimmung mit den Gesetzen der Wirklichkeit ist nicht positiver Grund der ästhetischen Illusion in dem Sinne, dass wir um dieser Übereinstimmung willen das Dargestellte als ein Wirkliches nähmen, sondern ist negativer Grund der Illusion in dem Sinne, dass die Störung der Wirklichkeitsgemäßheit uns auf die Wirklichkeit hinlenken und uns aus der Illusion, d.h. der reinen betrachtenden Hingabe an das Dargestellte, reißen würde. Die Frage: Wie ist das möglich? würde in uns geweckt. Und diese Frage ist die Aufhebung der ästhetischen Betrachtung. Für diese muss die Möglichkeit selbstverständlich sein.13

Ästhetische Gegenstände, das ist der so konsequente wie radikale Gedanke bei Lipps, gibt es überhaupt nur in Akten ästhetischer Einfühlung. Dieser Abspaltung einer fiktional-ästhetischen von einer empirischen Wirklichkeit entspricht auf der Seite des Betrachters bei Lipps der Hiatus zwischen einem realen und ästhetischen Ich. Nur zum ästhetischen Ich (es gibt offenbar für Lipps auch andere, zum Beispiel politische oder philosophische Ichvarianten) soll ein ästhetisches Objekt in Beziehung treten können.14 Ästhetische Einfühlung ist, so betrachtet,

11 Becker, Barbara: Taktile Wahrnehmung. Phänomenologie der Nahsinne, München: Fink 2011. 12 Das Lipps’sche Konzept der Einfühlung ist u.a. von Edith Stein und Edmund Husserl kritisiert worden. Die Einfühlung setze ihnen zufolge bereits die Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich voraus, weil man sonst weder wüsste, worin es sich einzufühlen gälte, noch dass je ich es bin, die/der sich einfühlt. Hier liege eine Zirkularität in der Argumentation vor, weil ein Wissen von einem Gegenüber vorausgesetzt wird, das doch erst das Ergebnis der Einfühlung sein sollte. Vgl. Schloßberger, Matthias: Die Erfahrung des Anderen. Gefühle im menschlichen Miteinander, Berlin: Akademie 2005. 13 T. Lipps: Einheit und Freiheit in der Natur. Die Einfühlung und die Einheit, S. 78. 14 Lipps schreibt: »Es findet eine Isolierung statt, auch des Ich, das im ästhetischen Objekt betrachtend und genießend weilt, von dem sonstigen Ich, sowohl dem in der wirk-

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immer auch eine Bewegung der Negation von Erfahrung, von Vorwissen, festen Deutungen und von Subjektivität. Ästhetische Empathie ist in ihrer transformatorischen Prozesshaftigkeit eine Schwellenerfahrung, so lässt sich Lipps hier reformulieren, in der eine kritische Ich- und Weltlosigkeit mit der Intensität illusionärer Wahrnehmung verknüpft ist. In einer Art ästhetischer Selbstentleerung scheint für Lipps sogar die höchste Form von Freiheit zu liegen. Nahezu pathetisch heißt es nämlich bei ihm, es sei: »Eine Befreiung des Ich von sich selbst; eine Hinaushebung über sich selbst; auch eine Befreiung von jedem sonstigen ideellen Ich«.15 Ohne alle Aspekte der Lipp’schen Einfühlungsästhetik hier berücksichtigen zu können, reicht das bisher Rekonstruierte aus, um sie an filmphänomenologische Ansätze anschließen zu können. Einige kinematographische Illusionsästhetiken gehen z.B. ebenfalls davon aus, dass der sogenannte ›Realitätseindruck des Films‹ eine abhängige Funktion immersiver Einlassungen auf das bewegtbildliche und tonale Geschehen ist.16 Was über die Einbeziehung der Lipp’schen Einfühlungsästhetik für filmästhetische Bestimmungen hinzugewonnen werden kann, ist die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Gleichwertigkeit der heterogenen Elemente des Mediums in der emphatischen Integration und Transformation. Auf den Film bezogen heißt dies, dass Faktoren wie z.B. die Farbstimmung einer Szene und Sequenz, der Sound, der Rhythmus der Montage, die Dialoge und Dramaturgie, Kameraeinstellungen und -bewegungen, Ausstattung, Dinge, Körper, u.a. gleichermaßen an der ästhetischen Illudierung mitarbeiten. Filmästhetische Einfühlung kann, muss so betrachtet aber nicht auf die Zuschreibung von Intentionalität und Welthaltigkeit zu Figuren im Film beschränkt sein. Die Fixierung auf Plot und Story, auf Charaktere und ihre Intentionen dominiert zwar nicht zuletzt die Filmkritik bis heute. Allerdings geht damit eine problematische, anthropozentrische und texthermeneutische Reduktion der Filmästhetik einher. Unterbestimmt bleiben dabei sowohl die audiovisuelle Dichte wie die

lichen Welt lebenden, als dem eigene Gedanken spinnenden, also auch von dem durch jenes oder dieses affizierten Ichs; eine Befreiung des Ich von sich selbst; eine Hinaushebung über sich selbst; auch eine Befreiung von jedem sonstigen ideellen Ich.« Ebd. S. 87. 15 Ebd. 16 Vgl. dazu Vivian Sobchacks Konzept des »cinästhetischen Körpers« in Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew: The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh«, in: dies., Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley, Los Angeles/London: University of California Press 2004, S. 53-84 sowie Voss, Christiane: Der Leihkörper. Ästhetik und Erkenntnis der Illusion, München: Fink 2013.

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Technizität und Überdeterminiertheit des Filmästhetischen.17 Legt man nun Lipps’ Konzept ästhetischer Einfühlung auf das komplexe Filmmedium an, so zeigt sich, dass wir es genau genommen mit einer Verteilung unterschiedlicher sinnlicher Modalitäten (haptische, sensorische, visuelle, akustische etc.) über die verschiedenen medialen und temporalen Ebenen eines in sich immer schon multimedialen Films hinweg zu tun bekommen. Diesen Punkt hat Felix Guattari in anderem Zusammenhang als anti-ideologische Potenz des Kinos beschrieben: Sie besteht für ihn in der Zersprengung der Sinnlichkeit, der Aufsprengung einer homogenen Subjektposition und damit in einer Desubjektivierung und Deterritorialisierung des Rezipienten in Akten der Filmeinfühlung.18 Insofern im Erzählkino die narrativ-temporale Strukturierung eines Filmgeschehens gleichwohl Anhaltspunkte für eine Integration der verschiedenen Facetten eines Films liefert, bleibt die Verteilung der Sinnlichkeit über die vielen Filmebenen hinweg normalerweise nicht völlig frei schwebend, unzusammenhängend und chaotisch. Vielmehr läuft etwas Vergleichbares ab zu dem, was Lipps über die Einfühlung in Dinge beschrieben hat und was hier als Zitat nochmals wiederholt werden soll. Man braucht nur »der Felsen« durch »den Film« im Zitat zu ersetzen und erhält eine mögliche Beschreibung von Filmwahrnehmung: »Indem ich [den Film] sukzessive auffasse und Teil zu Teil hinzunehme, wird er für mich ein Ganzes. Indem ich das Mannigfaltige, das [der Film] in sich schließt, sukzessive auffasse, fasse ich es zugleich zur Einheit eines Dinges.«19 Eine sukzessive Synthetisierung von Heterogenem versteht Einheit als eine temporale Größe, die nicht wie etwa ein abgeschlossener Sinn gegen Differenz und Heterogenität ausgespielt werden muss. Eine sukzessive Synthese ist nicht identisch mit kohärenter Synthese und von daher trifft der Vorwurf nicht per se auf sie zu, eine unbotmäßige Priorisierung von vereinheitlichendem Sinn gegenüber den materiellen, nicht-sinnhaften Facetten eines Films vorzunehmen. Michael Polanyi hat nun Lipps’ Konzept von Einfühlung im Kontext empirischer Wahrnehmungsexperimente wiederaufgenommenen und als eine Form von »implizitem Wissen« ausgewiesen.20 Die Weise, in der er das tut, läuft auf eine

17 So wird die Rolle der Empathie u.a. in der Filmwissenschaft diskutiert, Wulff, Hans J.: »Empathie als Dimension des Filmverstehens«, in: montage/av, 12. Januar (2003), S. 136-161. 18 Voss, Christiane: »Kinematografische Subjektkritik und ästhetische Transformation«, in: Helmut Draxler/Susanne Leeb et.al. (Hg.), Felix Guattari. Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion, Berlin: b_books 2011, S. 53-62. 19 Siehe FN. 9. 20 Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985.

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immanente Verknüpfung von Sinn- und Nicht-Sinnförmigem hinaus, die in einer Art von Übersetzung bestehen soll. Sinn und Bedeutung entstünden immer dann, wenn wir uns von einem naheliegenden (proximalen) Term aus, der z.B. durch körperliche Empfindungen abgebildet werden kann und den wir nicht in Sprache ausdrücken können, auf einen entfernteren (distalen) Term beziehen, der z.B. einen identifizierbaren Sachverhalt der Außenwelt darstellt, um von diesem her rückwirkend unseren proximalen Term zu deuten. Im Fall von implizitem Wissen verschieben wir nach Polanyi stets unsere Aufmerksamkeit von etwas auf etwas anderes hin: »[...] genauer gesagt: vom ersten auf den zweiten Term jener stummen Relation.«21 Das lässt sich hier abschließend auf ästhetische Filmeinfühlung zurückbeziehen. In Begriffen der audiovisuellen Bewegtbildlichkeit können wir unsere an sich selbst nicht ausdrückbaren, synästhetischen und sonstigen einfühlenden Einlassungen bedeutungshaft refigurieren. Das funktioniert, weil idiopathische Selbstempfindungen sich in das Leinwandgeschehen eintragen, das umgekehrt seine Qualitätsbestimmungen zurückprojiziert. Der Aspekt der Selbstempfindung, den Lipps stärker als Polanyi betont, sorgt dabei dafür, dass die proximalen Regungen nicht einfach in der Übersetzung in distale Terme zum Verschwinden gebracht werden. Hier greift womöglich erneut die Idee von der Oszillation und Reversibilität zwischen ausdrückbaren und nichtausdrückbaren Aspekten in der Einfühlung, wie es in Bezug auf die phänomenologische Deutung in der Linie Merleau-Pontys weiter oben angesprochen wurde. Einfühlung ist so gesehen auch keine einseitige Angelegenheit, wie Lipps meint. Das Leinwandgeschehen trägt immerhin sich in die Wahrnehmungsmodalitäten ein, wird darin mithin selbst aktiv. Was hier mit der Eigenaktivität filmischer Operationalität gemeint sein soll, lässt sich anhand konkreter Filmtechniken anschaulicher machen.

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Die Aufmerksamkeit von etwas her auf etwas anderes zu richten, das man erwartet, ist auf Film bezogen eine andere Formulierung für ›Spannung‹. Der »Master of Suspense«, Alfred Hitchcock, hat dafür sogar eine eigene Technik und einen eigenen Begriff entwickelt: den McGuffin. Bei McGuffins handelt es sich um eine spezielle Sorte von Motiven. Sie werden als über alles begehrte Entitäten vorgestellt, zu deren Erreichung alle Handlungsstränge und Bewegungen eines Film hinführen. Und dann – so will es Hitchcock – stellen sie sich regelmäßig als

21 Ebd. S. 19.

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Bluff heraus. Das wirft die Frage auf, was es denn dann war, das so spannend wirkte, wenn es doch nichts war? Was geschieht mit den Handlungen, Wirklichkeiten und Wendungen, die im Namen eines McGuffins vollzogen oder unterlassen wurden, wenn ihre Zielursache und ihr motivationaler Zusammenhang sich in nichts auflöst? Normalerweise ist eine solche Lage entweder eine des Dramas oder gar der Tragödie oder es wäre zumindest eine komische: Alles wird investiert, um die Erreichung eines Ziels wahrscheinlich zu machen und sobald man es endlich mühsam erreicht hat, entlarvt es sich als nichtig und leer. Filme, die mit McGuffins arbeiten, gehorchen dieser generischen Logik jedoch nicht. Ihre Auflösung in Nichts bleibt merkwürdig folgenlos und zwar sowohl für den Verlauf und das Genre der narrativen Entwicklung, wie für die Reaktionen des diegetischen Personals darauf. Die Figuren, die mit McGuffins zu tun bekommen, sind in ihrer Gegenwart überhaupt auffallend nüchtern bis abgespalten. Sie verhalten sich, als ob sie alle Energie auf den jeweiligen McGuffin richten müssten und dabei jeglicher sozialen Empathie entledigt würden. Dass McGuffins soziale Empathie tendenziell überflüssig machen, ist besonders markant in Alfred Hitchcocks 39 STEPS (GB 1935, 39 STUFEN). Eine Spionin, Annabelle Smith (Lucie Mannheim), wird gleich am Anfang des Films von dem Kanadier Richard Hannay (Robert Donat) aus einer Schießerei in einem Theater gerettet. Kaum erzählt sie ihm in seiner Wohnung von einem entwendeten Geheimdokument, deren Verbreitung unbedingt verhindert werden müsse und erwähnt die mysteriösen ›39 Stufen‹, wird sie kurz darauf umgebracht. Hannay reagiert darauf keineswegs betroffen, obwohl er weder kriminell noch sonstwie anormal ist. Er übernimmt geradezu automatisch ihre Rolle und wird fortan selbst zum Jäger nach dem Dokument und zum Gejagten. So geht es auch weiter und alle, die Hannay auf seiner Suche nach der Geheimformel treffen, werden sofort ihrerseits zu Jägern oder Gejagten. Das geht solange, bis endlich der McGuffin aufgelöst wird. Auch dessen Auflösung wird merkwürdig anti-klimaktisch inszeniert: Ein Gedächtnisakrobat, Mr. Memory, der die lange Geheimformel auswendig gelernt hat, tritt eines Tages im Theater auf. Dort fragt ihn Hannays eigentlich unfreiwillige Komplizin, Pamela (Madeleine Carroll), was sich hinter dem Ausdruck ›39 Stufen‹ verberge. Mr. Memory antwortet auf diese Frage prompt in aller Öffentlichkeit, das sei eine ausländische Spionageorganisation, obwohl ihn das sein Leben kostet. Noch auf der Bühne des Theaters im Sterben liegend, verrät er die gesuchte Geheimformel mit letzter Atemkraft. Doch das scheint ihm ebenso wie allen anderen im Raum gleichgültig zu sein und der Film hört einfach auf. Prozesse des Zauderns und Überlegens, des Zweifelns und Problematisierens oder auch nur der Desorientierung und Suche nach Wegen und Lösungen scheinen überflüssig zu werden, wenn McGuffins im Spiel sind. Ihre motivationale Kraft

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wirkt instantan und erlischt ebenso abrupt mit ihnen. Sie werden typischerweise gesucht bis gejagt und verwandeln alle, die mit ihnen räumlich und physisch in Kontakt kommen, prompt in Jagende oder Gejagte. Physische und narrative Bewegungen verursachen sie schlicht dadurch, dass sie sich selbst bewegen und z.B. als Übergabeobjekte zwischen unterschiedlichen Erzählinstanzen, Trägern und Orten wechseln. Von daher eignen sich Tragedinge gut als McGuffins. So ist der McGuffin in Roman Polanskis FRANTIC (US/FR 1988) ein verwechselter Koffer, der zu dramatischen Verwicklungen eines Ehepaars mit gewalttätigen Agenten führt; in Tom Tykwers LOLA RENNT (D 1998) ist es eine verlorene Tasche voller Geld, die unbedingt gefunden werden will; In PULP FICTION (US 1994) von Quentin Tarantino ist es wiederum ein schwarzer Koffer mit geheimnisvollem Inhalt, dessen Entwendung und Verfolgung einige Menschen das Leben kostet.22 Das Erscheinen von McGuffins erübrigt weitere Erklärungen und Motivationen für Handlungen oder Einfühlungsbemühungen, die auf ein irgendwie ›tieferes‹ Verstehen abzielen. Sie selbst werden jedoch durchaus affektiv besetzt und zwar typischerweise mit einer Mischung aus Furcht, Neugierde und Begehren. Dabei interessiert weniger, wer diese Gefühle wie und warum durchlebt, als vielmehr ein überpersönlicher Funktionsaspekt daran, nämlich die motivationale und dramatisierende Kraft dieser Affekte selbst. Neugierde treibt Erkundungen an und damit ein Verhalten des Wissen-Wollens; Furcht motiviert Faszination und Fluchtverhalten zugleich und führt zur Ambivalenz gegenüber McGuffins. Und das Begehren nach ihrem Besitz sorgt für ihre imaginäre Überhöhung. Da diese Affekttrias an McGuffins gekoppelt ist, kann sie ebenfalls als Effekt ihres Erscheinens beschrieben werden. Tarantinos Einsatz des McGuffins in PULP FICTION kann in vielem als repräsentativ für solche Einsätze generell genommen werden. Der schwarze Aktenkoffer mit goldenem Zahlenschloss, das durch den teuflischen Code 666 geöffnet werden kann, wird am Anfang eingeführt (Minute 16:45), dann wiederholt aufgerufen (z.B. visuell eingeblendet, erwähnt oder umschrieben) und am Schluss des Handlungsverlaufs (127.-143. Minute) noch einmal platziert. Der Koffer fungiert in PULP FICTION als ein Relais zwischen drei ansonsten autarken Episo-

22 In dem mehrfach verfilmten Roman Maltese Falcon von Dashiell Hammett (1930) ist es eine kostbare Statuette, die von vielen unbedingt in Besitz gebracht werden will. McGuffins können allerdings auch Rätsel sein, wie das geheimnisvolle Wort »Rosebud«, dessen Enträtselung in CITIZEN KANE (US 1941) von Orson Welles das Geheimnis der Hauptfigur preiszugeben verspricht oder Aufträge, von deren Erfüllung nicht selten die Sicherheit der ganzen Welt und Menschheit abhängt, wie in vielen Agenten-Filmen.

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den und zudem als die dramaturgische Orientierungsinstanz. Der Rahmengeschichte zufolge müssen zwei Auftragsmörder, Jules Winnfield (Samuel Jackson) und Vincent Vega (John Travolta), einen geklauten Koffer im Auftrag des Gangsterbosses Marcellus Wallace (Ving Rhames) zurückerobern, wobei sie für ihn Rache an den untreuen Geschäftspartnern nehmen sollen. Das tun sie auch und der Koffer wird nach den Tötungen seiner Diebe durch die beiden Protagonisten und nachdem andere exkursartige Nebenerzählungen abgelaufen sind, wie gefordert zu Mr. Wallace zurückgebracht. Allerdings versetzt Tarantino die Episoden des Films in ein achronologisches Abfolgeverhältnis. Der Schluss des Films, der den verspielt-triumphalen Abgang der zwei Protagonisten aus einem amerikanischen Diner zeigt, ist nicht derselbe Schluss, den die narrative Logik vorsieht. Ihr zufolge wird einer der beiden Protagonisten, Vincent Vega, von dem Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis) erschossen, der mit dem Koffer direkt nichts zu tun hat. Butch gehört zu einer in sich abgeschlossenen Parallelerzählung, in der er mit dem Besitzer des Koffers, Mr. Wallace, einen eigenen Deal abgeschlossen hat: Butch soll gegen viel Geld in der fünften Runde eines Boxkampfes zu Boden gehen und darauf sollen Wetten gesetzt werden. Vor Wallace muss Butch dann jedoch fliehen, da er ihn betrügt und den Boxkampf sowie eigene Wetten auf seinen Sieg gewinnt. Daraufhin erhält Vincent Vega den Auftrag von Wallace, Butch zu töten. Doch es kommt anders und Butch erschießt den in seiner Wohnung auf ihn wartenden Vega (87. Minute). Nach einigen Verwicklungen kann Butch mit seiner Freundin Fabienne (Maria de Medeiros) erfolgreich Los Angeles verlassen (107. Minute). Das ist das eigentliche Ende der Erzählung. Doch die letzte Szene des Films spielt stattdessen wie gesagt in einem amerikanischen Diner, dem »Hawthorne Grill«, wie schon der Prolog des Films. In diesem Erzählstrang plant ein verrücktes Paar, Pumpkin (Tim Roth) und Honey Bunny (Amanda Plummer), einen Überfall auf die Gäste und Kasse des Diners. Diese Episode spielt erzählzeitlich vor der Flucht von Butch, bildet jedoch in der filmzeitlichen Montage eine Klammer zwischen Anfang und Ende des Films. In der letzten Szene (140. Minute) sehen wir Vincent Vega und Jules Winnfield mit dem schwarzen Koffer in der Hand und in synchronem Schritt den Diner verlassen, nachdem sie die Lage dort geklärt haben und das Paar mit dem geklauten Geld, aber ohne den auch von ihnen begehrten Koffer, haben laufen lassen. In einer früheren Szene (Minute 23:33) haben wir die erzählzeitlich eigentliche Anschlussszene daran gesehen, in der Vincent und Jules den schwarzen Koffer zu Wallace bringen, der gerade in seiner Bar mit Butch besagten Deal erst verhandelt. Würden wir den Koffer nicht zu sehen bekommen, wäre es unmöglich die Butch-Sequenz und überhaupt die narrative Reihenfolge der Ereignisse zeitlich einordnen zu können. Der Film würde ohne den McGuffin in völlig

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unabhängige Episoden auseinanderfallen. Von seiner Erscheinung im Bild hängt also nichts Geringeres als die Orientierung durch die narrative Strukturlogik des Ganzen ab. Er ist das entscheidende Verbindungsglied, wobei es wie gesagt genügt, den Koffer auf der Oberfläche der Leinwand in allen Episoden erscheinen und magisch wirken zu lassen. Zugleich erzählt der McGuffin auch etwas über die Hierarchie der zwei Protagonisten, denn der Koffer ist stets in den Händen von Jules, nie von Vincent. Damit zeichnet er Jules als eigentliche Hauptfigur aus.

K ONTAKTMAGISCHE A NZIEHUNG DER M C G UFFINS Sich nicht zum Ort und Gegenstand sowie Inhalt eines McGuffins stark hingezogen zu fühlen, scheint diegetisch wie ästhetisch unmöglich zu sein. In PULP FICTION wird der Koffer zwei Mal geöffnet und jedes Mal strahlt ein überirdisch wirkendes, goldenes Licht aus ihm hervor, das seine Betrachter sofort in den Bann schlägt. Wer ihn vor sich hat, stiert hinein und schwärmt, wie Vincent Vega, davon, wie schön und glücklich machend es ist, was er da sieht (Minute 17:17). In der zweiten Szene, die im Diner spielt (76. Minute), muss Honey Bunny drei Mal erfolglos fragen, was ihr Freund, Pumpkin, denn nun sieht, als ihm der mit der Waffe bedrohte Jules den Koffer geöffnet übergibt und so das Strahlen des Koffers auf Pumpkins sprachloses Gesicht fällt. »It’s beautiful!«, sagt Pumpkin nur nach der zweiten Frage und gibt so nichts preis vom McGuffin. Als Honey Bunny das dritte Mal schreit »Goddamn it, what is it?« nutzt Jules das Gebanntsein von Pumpkin aus und entreißt ihm den Koffer wieder (87. Minute). Wir als Zuschauer des Films bekommen nie zu sehen, was sich in dem Koffer befindet. Hier wie auch in anderen McGuffin-Filmen, etwa in Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY (US 1968, 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM), ist der McGuffin magisch anziehend, ohne dafür eine symbolisch-sinnhafte Dimension zu eröffnen. Er wirkt auf kontaktmagische Weise. Wer in PULP FICTION mit dem geheimnisvollen schwarzen Koffer in Berührung kommt, wird durch sein Verhalten genau genommen zum Mitverursacher (s)eines Geheimnisses. Das Strahlen des Koffers stellt sich ein, wenn er geöffnet wird, gewinnt aber erst seine spezifisch geheimnisvolle Wertqualität, wenn er staunend betrachtet wird. Erst diese wiederholte, spezifische Handhabung durch verschiedene Akteure in PULP FICTION macht den schwarzen Koffer zu einem magischen und imaginär besetzbaren Objekt. Die Magie des McGuffins ist somit Teileffekt der Handlungsvollzüge, die selbst erst Effekte seiner Magie sein sollen. Die Anziehungskraft der McGuffins wird dabei zum Teil in der Performanz

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der vermeintlichen Reaktionen auf sie de facto erst miterschaffen. In der wechselseitigen Projektion von Ding und Handhabung des Dings gewinnt beides so erst Kontur. Man könnte auch sagen: Es fühlt sich eine Praxis (affektive Besetzung) in ein Ding ein (Koffer) und umgekehrt. Diese zirkuläre Dynamik gehört zur spielerischen Logik des in sich abgezirkelten Wirkungskreises von McGuffins. Diese zirkulär-tautologische Struktur ist es auch, die andere Motivationen überflüssig macht. Insofern McGuffins Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ausrichten, leiten sie durch die narrative Dichte und audiovisuelle Eindrucksvielfalt eines Erzähluniversums hindurch. Damit übernehmen sie wichtige narrative Funktionen, nämlich Reduktion und Orientierung.23 Filmische McGuffins werden außerdem häufig nach Art von ›Deus-ex-machina-Motiven‹ in eine Erzählung eingefügt. Ihr Auftauchen hat etwas Plötzliches an sich. Dazu passt und gehört, dass sie selbst keine Geschichte, Biographie oder Genealogie haben oder brauchen. Ursprungslos sind sie einfach da. Und so vermögen sie etwas Neues in Gang zu bringen, einen Unterschied zu machen: etwa die besagte Verwandlung der Akteure ihrer Umgebung in Jagende und Gejagte zu betreiben. Die bisherige, kurze Beschreibung der zeit- und spannungsantreibenden Kraft von McGuffins kommt ohne psychologisierende Interpretationen aus. Das führt abschließend zu der Frage, wie sich dies zu Slavoj Žižeks psychoanalytischer Lesart der McGuffins verhält? Er identifiziert sie mit den von Lacan her bekannten ›Objekten klein a‹ in Bezug auf ihr Potenzial, Aufmerksamkeit libidinös zu binden und durch ihre Intransparenz Begehren nach ihnen in Gang zu halten.24 Und obwohl es einleuchtet, dass McGuffins ähnlich unerreichbar sind und in ihrer Überschätztheit ähnlich verkannt werden, wie die ›Objekte klein a‹ gibt es m.E. auch markante Unterschiede, die in dieser Perspektivierung zu sehr übergangen werden. Denn McGuffins sind z.B. nicht gleichermaßen wie ›Objekte klein a‹ einer Substitutionsgesetzmäßigkeit unterworfen. McGuffins ersetzen nichts, außer sich selbst. Ihre Entlarvung verweist von daher auch nie auf eine nächsttiefere Bedeutungsebene, da sie nicht primär Symbole sind, sondern affektiv aufgeladene, dingförmige Motive. Deshalb und auch aufgrund ihrer ursprungslosen Ahistorizität sind McGuffins nicht in derselben Weise wie ›Objekte klein a‹ an die ontologische Ur- und Mangelerfahrung von Subjektivität zu-

23 Reduktion ist Albrecht Koschorke zufolge die elementare Operation narrativer Konstruktionen überhaupt. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013. 24 Žižek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jaques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin: Merve Verlag 1991.

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rückgebunden. Bei und mit ihrer Auflösung in Nichts wird kein melancholischer Wiederholungszwang ausgelöst. An der narrativ abschließenden Funktion von McGuffins hängt sogar eine Art neutraler Lustgewinn. Denn mit der Auflösung von McGuffins in Nichts geht zugleich die Ablösung von ihrer Anziehungskraft einher und die mit ihnen gesetzte Notwendigkeit fortgesetzter Bewegung entfällt. Die vormals an sie gebundenen, affektiven Energien, die sich im Film handlungs- und ereignisförmig verdichten konnten, werden wieder für andere Bindungen (und Filme) freigesetzt. Eben deshalb ist die Auflösung der McGuffins in Nichts weder tragisch noch komisch. Ihnen geht kein Verlust voraus und es folgt keine Serie. Dass McGuffins unverbunden mit weiterführenden Sinnund Wertsetzungen dennoch Spannung und Bewegung erzeugen können, ist auch schon der ganze Clou. Ihr Erzeugnis ist filmische Faktizität, verstanden als erwartungskonstituierende, koordinierte Bewegung unterschiedlicher Körper und Dinge. Filme, in den McGuffins dominieren, sind deshalb nicht gänzlich ohne jede ästhetische Einfühlung zu denken. Sie beschränkt sich dann nur größenteil auf den kinetisch-affektiven Mitvollzug der vorwärtstreibenden Bewegungen, die durch die Verfolgung des McGuffins auf der Oberfläche der Erzählung zustandekommen. Dieses Nichts, um das McGuffin-Filme offen und lustgenerierend kreisen, ist aber vielleicht auch weniger weit entfernt als man denken könnte, von dem, was Lipps mit der ästhetischen Einfühlung anspricht. Wo er von der freien Heraushebung aus allen gewöhnlichen und empirischen Erfahrungsbezügen durch ästhetische Einfühlung spricht, scheint er selbst einem Nichts das Wort zu reden, das durch ein Subjekt- und Objekt-übergreifendes, indifferentes ›Da‹ allein affiziert. Die Einfühlungsästhetik mit der filmischen Motivforschung zu verbinden, wie sie von Lorenz Engell und André Wendler entwickelt wurde, die den Akteurs-Status von filmischen Dingen, wie etwa einer Jalousie oder Lampe, ernst nehmen, wäre eine interessante Weiterentwicklung der Filmästhetik, die hier nur angedeutet werden konnte.25 Davon könnten beide Ansätze profitieren: Die Affektvergessenheit dieser ANT-orientierten Motivforschung wäre dabei ebenso zu überwinden, wie die Objekt- und Technikvergessenheit der Einfühlungsästhetiken.

25 Engell, Lorenz: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2000; Engell, Lorenz/Wendler, André: »Medienwissenschaft der Motive« in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Oktober 1 (2009), S. 38-50.

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Empathie und Verkörperung im Material – Überlegungen zur dokumentarischen Filmarbeit J UDITH S IEGMUND

E INLEITUNG »However, there has been a new awareness of the fact that media products are not only produced by discourses and ideologies, but also by individuals of flesh and blood«.1 Dieser scheinbar so selbstverständliche Satz aus der Einleitung zu einem Buch über Visual Authorship weist auf ein theoretisches Feld, das bisher nicht ausreichend im Fokus philosophischer Überlegungen gestanden hat – auf die Theorie der filmischen Produktion. Die Fähigkeit zur Empathie – so eine der Thesen des vorliegenden Beitrags – stellt eine wesentliche Qualifikation dar, wenn es um dokumentarische Formate geht. Damit sei nicht gesagt, dass Empathie nicht auch für die Arbeit an gänzlich fiktiven Filmformaten eine Rolle spielen würde; jedoch stellt sich die Frage nach ihr dort in einer anderen Art und Weise. Eine Differenz zwischen Mainstream-Spielfilm und Künstler-Film liegt laut Torben Grodal darin, dass Mainstreamfilme als von Schauspielern ›erzählte‹ erfahren werden, während künstlerische Filme als von Filmemachern erzählte rezipiert werden.2 Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf dem zweitgenannten Fall, speziell noch einmal in der Einengung auf das Dokumentarische.

1

Grodal, Torben: »Agency in Film, Filmmaking, and Reception«, in: Torben Grodal/Bente Larsen/Iben Thorving Laursen (Hg.), Visual Authorship. Creativity and Intentionality in Media, Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2004, S. 15-36, hier S. 7.

2

T. Grodal: Agency in Film, Filmmaking, and Reception, S. 17f.

214 | J UDITH SIEGMUND

In der dokumentarischen Arbeit geht es immer um ein Verhältnis derer, die Filme herstellen, zu denjenigen Menschen (oder evtl. auch Tieren, Dingen, Institutionen, Regionen), die gezeigt werden. Aber nicht nur die Einstellung der Autorin zum Dargestellten, auch das Verhältnis der Autorin zum Werk muss in einer Theorie des dokumentarischen Films behandelt werden. Die Fragestellung nach der Empathie in der Filmproduktion verkompliziert sich dadurch noch einmal als eine Fragestellung nach einer Verkörperung der Empathie im Sinne ihrer Instantiierung im (einzelnen) filmischen Werk. Lässt sich im Rahmen einer solchen Verkörperung von einem gelungenen versus einem nicht gelungenen Film sprechen? Gibt es so etwas wie eine Verfehlung der oder des im Film Dargestellten? Ausgehend von einer Betrachtung der filmkünstlerischen Praxis muss diese letzte Frage bejaht werden – ja, es gibt Filme, in denen sich die fehlende Empathie der Autoren abbildet. Die spezifische Herausforderung meines essayistischen Textes ist es, diesen praktischen Sachverhalt philosophisch einzuholen. Um von Empathie im filmischen Arbeiten zu sprechen, ist es zunächst notwendig, eine Vorstellung davon zu geben, wie sich Empathie allgemein bestimmen lässt. Ich möchte mich dabei auf einen Empathiebegriff beziehen, der von Amy Coplan ausbuchstabiert wurde und der viele Ähnlichkeiten mit einer Definition des Fremdverstehens aufweist, die u.a. von Thiemo Breyer ausgearbeitet wurde.3 Der Begriff der Empathie hat in den letzten Jahren in den unterschiedlichsten Zusammenhängen eine enorme Beachtung erfahren. Coplan etwa zitiert für den englischsprachigen Diskurs folgende Bereiche: »popular press, political campaigns, and in the study of a wide range of topics including autism spectrum disorders, psychopathy, political ideologies, medical care, ethics and moral development, justice and the court, gender differences, engagement with art and the media, therapeutic methods in clinical psychology, mirror neurons and theory of mind«.4 Im deutschsprachigen Kontext wird Empathie oft von Theodor Lipps herkommend an den Begriff der »Einfühlung« geknüpft, der von Max Scheler, ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts, weiter ausdifferenziert wor-

3

Coplan, Amy: »Understanding Empathy: its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011; Breyer, Thiemo: »Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?«, in: Empathie und ihre Grenzen, ders. (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 13-42.

4

Zu allen Gebieten gibt Coplan Literaturhinweise, die aus Platzgründen hier nicht komplett aufgeführt werden. (Coplan 2011, 4f.)

E MPATHIE UND V ERKÖRPERUNG

IM

M ATERIAL

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den ist.5 Unter der Hinsicht von Sichtbarkeit und Erblicktwerden kommt der Begriff z.B. bei Hans Blumenberg vor;6 dem korrespondiert, dass Empathie phänomenologisch mit der Thematik des leiblichen Ausdrucks verknüpft wird. In der englischsprachigen Perspektive, in der Amy Coplan und Peter Goldie stehen, wird hingegen eine »Narrativität« im Empathiediskurs betont, mit der sich die Gedanken und Gefühle einer anderen Person imaginieren lassen, die konzeptuell von meiner Person unterschieden ist.7 Die Pointe einer Entgegensetzung des Narrativen gegenüber Konzepten der Einfühlung, der Gefühlsansteckung (Scheler) und des leiblichen Ausdrucks erscheint mir unter anderem darin zu bestehen, dass in letztgenannten in letzter Konsequenz das empathisch fühlende Subjekt doch hauptsächlich mit sich und seinen eigenen Affekten beschäftigt bleibt. Demgegenüber betont der narrative Ansatz, »that I be aware of the other as a center of consciousness distinct from myself«. Diese Akzentuierung des Anderen als eines fremden (natürlich nicht körperlosen) Bewusstseins scheint mir für eine Analyse filmischen Arbeitens sehr geeignet, weil sie sich überschneidet mit ethischen Fragestellungen künstlerischer Arbeit über andere bzw. mit anderen Menschen, wie sie z.B. in partizipativen Formaten und so auch in der filmischen Arbeit an dokumentarischen Darstellungen wichtig wird. Das Erlebnis der strikten Getrenntheit von denjenigen, denen man sich als Künstlerin annähern möchte, scheint aus einer praktischen Perspektive gesehen konstitutiv für jede empathische Bewegung ihnen gegenüber. Dies schließt ein, dass es unmöglich ist, als Filmerin anderen einfach »eine Stimme zu geben«.8 Die hier zu behandelnde wichtige Frage ist die nach dem je individuellen Umgehen mit dem Erlebnis und der Erkenntnis von Distanz. So sind von Anfang an zwei Ebenen prozessualer Empathie in dokumentarischen Prozessen zu unterscheiden. Die erste bezieht sich auf die Frage: Wie gehe ich mit den Gefilmten im Prozess des Filmens um? Die zweite bezieht sich auf die Frage: Welche Entscheidungen treffe ich als Re-

5

Lipps, Theodor: »Das Wissen von fremden Ichen«, in: ders. (Hg.), Psychologische Untersuchungen, Bd. 1, Leipzig: Engelmann 1907, S. 694-722; Scheler, Max: Wesen und Formen der Sympathie. Der »Phänomenologie d. Sympathiegefühle«, Bonn: Friedrich Cohen 1923.

6 7

Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 795. Vgl. Goldie 2000, 195: » [...] it is necessary that I have a grasp of the narrative which I can imaginatively enact with the other as narrator.«

8

Siegmund, Judith: »Intervenierende kontextbezogene Kunst – autonom und nützlich zugleich?«, in: Kristina Volke (Hg.): Intervention Kultur: Von der Kraft kulturellen Handelns, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 122-131, hier S. 127f.

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gisseurin im Bezug auf den Einsatz konkreter filmischer Mittel? Beide Ebenen sind mit ganz verschiedenen Techniken und anders gewichteten philosophischen Perspektiven verknüpft: Auf der ersten Ebene geht es z.B. darum, die Größe und Aktionsweise eines Filmteams in seiner Wirkung auf das Verhalten der Dargestellten zu bedenken, Beleuchtungsarten, Interview-Umgebungen auszuwählen, die eigene Machtposition hinter der Kamera bzw. am Set zu reflektieren usw.; auf der zweiten Ebene geht es z.B. um Entscheidungen im Schnitt und die Frage nach eventuellen Wirkungen, um den Einsatz von Ton und Musik, um die Konstruktion von filmischen Narrativen und dergleichen mehr.

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GEGENÜBER DENEN , DIE DARGESTELLT WERDEN Die allgemeine Begriffsbestimmung der Empathie lässt sich gut anwenden auf die erstgenannten Situationen der Recherche und des Drehs. Amy Coplan fasst sie anhand von drei maßgeblichen Merkmalen zusammen: »affective matching, other-oriented perspective-taking, and self-other-differentiation« (Coplan 2011, 6). Es kommt laut Coplan erstens darauf an, dass eine affektive Passung, ein Zusammenstimmen von Affekten stattfindet.9 In dieser Formulierung bezieht sich die Ausgangslage bei Coplan auf mindestens zwei Subjekte. Die Zusammenstimmung oder Passung muss nicht notwendig kognitiv sein, sondern es handelt sich vielmehr um eine gefühlte Stimmung im Sinne einer Ansteckung. »Initiated by direct sensory perception, these processes do not involve the imagination, nor are they based on any cognitive evaluation or complex appraisal« (Coplan 2011, 8). Diese – einer Empathie im Sinne Coplans zu Grunde liegende – Ansteckung kann bewusst oder unbewusst stattfinden.10 Sie zeigt sich in körperlichen, teils unbewussten Verhaltensweisen. Coplan stellt auch fest, dass Empathie oft allein unter dem Konzept der Ansteckung verhandelt wird; ihr Argument gegen diese

9

A. Coplan: Understanding Empathy, S. 6.

10 In ihrem Text über die emotionale Involviertheit von Filmzuschauern »Catching Characters‘ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film« behält Amy Coplan die Unterscheidung von Ansteckung und Empathie bei. Ansteckung ist bei ihr das affektive Fundament für eine eher kognitiv erläuterte Empathie, sie kann aber auch allein auftreten. Coplan behauptet jedoch nicht, dass in Filmen – im Gegensatz zur Rezeption von Literatur – einzig und allein Ansteckung eine Rolle spielt. Coplan, Amy: »Catching Characters' Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8/1 (July 2006), S. 26-38.

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Gleichsetzung ist, dass wir uns in solchen Situationen der Ansteckung nur selbst erleben (»we experience them [emotions] as our own«, Coplan 2011, 9), das Verhältnis zu dem oder der Anderen ist laut Coplan in solchen Situationen nicht in einem starken Sinn gegeben.11 Im Gegensatz zum Phänomen der Ansteckung ist Empathie aber nach Coplans Meinung zweitens nie völlig unmittelbar (unmediated), sondern eine Perspektive wird empathisch ergriffen. Coplan trennt die selbstorientierte von der auf andere orientierten Perspektive. Obwohl sie mit der Selbstorientierung, in der sich das empathische Subjekt die Frage stellt, was es selbst an der Stelle der anderen denken und fühlen würde, falsche Consensus-Effekte und generelles Missverstehen der Anderen meint, betont sie doch, dass »experiencing the other as a version of ourselves« in vielen Situationen einen Gewinn darstellt – jedenfalls im Vergleich dazu, die Anderen nur in instrumentellen Mustern wahrzunehmen (Coplan 2011, 13). Das Begehren, die Erfahrungen anderer zu verstehen, ist ein Wert an sich, auch wenn man sich selbst dabei als Maßstab setzt. Eine andere Form des Ergreifens einer Perspektivierung (other-oriented perspective-taking) findet statt, wenn man versucht, falsche Konsenseffekte, persönliche Bedrängnis sowie Vorhersagen aufgrund persönlicher Vorurteile zu vermeiden (Coplan 2013, 13). Hinter einer solchen Aktivität steckt unter Umständen schon eine reflexive Leistung, mentale Flexibilität, wie Coplan schreibt, und harte Arbeit (Coplan 2011, 13f.). Bereits hier stellen sich vielleicht erkenntnistheoretische Fragen nach der generellen Möglichkeit einer solchen Perspektivierung auf andere, die nicht mit einer Perspektivenübernahme verwechselt werden darf. Ich möchte nicht behaupten, dass Coplan solche prinzipiellen Fragen lösen kann, jedoch zeichnet sich bereits an dieser Stelle ab, dass Empathie, so wie sie sie fasst, etwas mit bewusst eingeübten Haltungen und mit Absichten zu tun hat, die immer verschiedene Verhaltensvarianten voraussetzen. Empathie ist, so gedacht, nicht etwas, was anthropologisch definiert werden kann und den Menschen zukommt oder nicht zukommt; sondern sie ist eine Haltung, die gegenüber Anderen eingenommen werden kann und deshalb ist sie für die Explikation der Frage nach Einstellungen von Künstlerinnen in der dokumentarischen Arbeit geeignet. Das dritte und zweifellos wichtigste Merkmal, durch das Coplan Empathie charakterisiert, ist aber die Unterscheidung des Selbst vom Anderen (self-otherdifferentiation). Diese Unterscheidung bezeichnet sie als wesentlich für erfolgreiche Empathie; zugleich stellt sie diese als das entscheidende Kriterium dar,

11 Dieses Argument verbindet sie auch mit einem Kommentar zu Schelers Begriff der Gefühlsansteckung, dessen Konzept sie damit nicht zurückweist, sondern vielmehr in ihre eigene Auffassung von Empathie integriert.

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mit dem sich Empathie von verwandten psychologischen Prozessen unterscheiden lässt. »Taking up one’s perspective without clear self-other-differentiation can result in enmeshment or in self-oriented perspective-taking, which prevents one from successfully representing the other’s experience [...]« (Coplan 2011, 17). Und genau mit den Grenzen des Verstricktseins, den Spannungen zwischen eigenen und fremden Perspektiven gehen Filmschaffende mehr oder weniger bewusst im Prozess des Filmens sowie in seinen Vorbereitungen um. Die »Selfother-differentiation« ist nicht nur Praxis, sondern auch Thema der Auseinandersetzung im konkreten Kontext. Coplan nennt Empathie in ihrer dritten Charakterisierung »a form of experiential understanding«, was sich als Erfahrungsverstehen übersetzen lässt. Das kann ein Verstehen der Erfahrung des Anderen sein im Sinne eines mehr oder weniger phänomenologischen Erfahrungsbegriffs, der Erfahrung nicht als »Wissen« auslegt. Wichtig ist ihr, dass diese Erfahrung sowohl die Beobachterin als auch (im Modus des Repräsentiertseins) die Beobachteten betrifft und dass in solchen Repräsentationen nicht allein Gründe und Effekte eine Rolle spielen. Die Formulierung »Repräsentation von Erfahrungen«, die Coplan vorschlägt, verweist auf eine Beobachtung zweiter Ebene, in der die Beobachtende sich selbst beobachtet (d.h. sich nicht nur erlebt, sondern reflektiert) bei der Erfahrung eines anderen. Wiewohl sich der Begriff der Repräsentation in künstlerischen Zusammenhängen nicht immer als unproblematisch erwiesen hat, erfüllt er doch bei Coplan die Funktion, einen Verweisungszusammenhang anzuzeigen. Wir erleben also nicht unmittelbar die Anderen (unmittelbar sind unsere Affekte, wenn wir beobachten), sondern wir erleben eine Repräsentation, man kann übersetzen, eine eigene Vorstellung von der Erfahrung, die andere machen oder haben (Coplan 2013, 18). So bedeutet z.B. eine empathische Einstellung gegenüber den Sexarbeiterinnen, die ich im Film abbilde, nicht, dass ich mich als Filmautorin in ihre Erfahrungen, in ihr Leben hineinfühlen könnte; sondern empathisch ihnen gegenüber verhalte ich mich gerade dann, wenn ich davon ausgehe, dass alle meine Vorstellungen über sie eben meine Vorstellungen ihrer Erfahrung sind. Das klingt nach weniger, als es ist. Denn durch die bewusste »Self-other-differentiation« bin ich in der Lage, von meinen Absichten, die sich auf das richten, was ich herstellen möchte (die Dokumentation), abzusehen und experimentell modifizierend auf Bedürfnisse der Protagonisten, verstanden und anerkannt zu werden, einzugehen. Ich werde beispielsweise reflektieren, ob ich Prostituierte ohne legalen Aufenthaltsstatus gefährde, wenn ich sie so zeige, dass sie erkennbar sind; ich denke darüber nach, ob sie als Akteure oder Opfer dargestellt werden sollen, wieviel Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit ich ihnen zuschreibe; ich reflektiere, inwieweit ich sie nur als eine Projektionsfläche für meine Fragen benutze. Das

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ist nicht so zu verstehen, als ob irgendetwas verboten wäre, es gibt Momente unempathischen Verhaltens, die nicht selten mit Momenten eines ›übergeordneten‹ Interesses am Produkt, am Film zusammenfallen. Nur sind das nicht mehr die Momente der Empathie im Prozess der Zusammenarbeit, sondern Momente, in denen ich mich als Autorin mit ›Gewalt‹ gegen andere durchsetze, und es bleibt die Entscheidung eines jeden Filmers bzw. einer jeden Filmautorin, wie weit er oder sie diesbezüglich gehen möchte. Die interessante Frage ist aber, was dann auch für den Film verlorengeht (oder auf einer anderen Ebene gewonnen wird). In Abgrenzung zu den starken Affekten der Antipathie und Sympathie beschreibt Thiemo Breyer Empathie neutraler, »mehr auf das Verstehen des Zustands ausgerichtet, in dem der Andere sich befindet, distanzierter und dabei emotionale und kognitive Elemente integrierend«.12 Er kommt damit der von Coplan geforderten Orientierung nahe. »Aus einer gewissen Entfernung hält die Empathie einen Zwischenbereich zwischen Selbst und Anderem aus – ein Bereich, in dem sich die Betroffenheit, das Pathos, das in der Begegnung steckt, mit der interessierten Eigenaktivität des Verstehenwollens verbindet.« Die Willentlichkeit des Hineinfühlen und Hineindenkens bezeichnet Breyer als »intentionales Vermögen«, welches sich seinerseits auf einen »spezifischen Gehalt der intentionalen Zustände des Anderen« ausrichtet, »nicht auf deren bloßes Vorhandensein«.13 Das Verstehen anderer wird von ihm in seiner Kontextbezogenheit mit dem Verstehen von Sätzen oder Textpassagen verglichen, was einen Brückenschlag zum Ausdruck der »Narration« bei Coplan ermöglicht. Das Fremdverstehen geht demnach auch mit einem Verstehen des Kontextes, in dem Andersheit erscheint, einher. Ähnlich wie ein einzelner Satz oder eine Textpassage nur im Zusammenhang des ganzen Textes wirklich verständlich wird, verstehen wir den Ausdruck oder die Handlung eines Anderen nur wirklich im Hinblick auf die Situation, in der wir sie wahrnehmen, und darüber hinaus vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte, die wiederum in größere soziokulturelle und historische Horizonte eingebettet ist.14

12 T. Breyer: Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?, S. 13. 13 Ebd., S. 38. 14 Ebd.

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Z WEI F ILMBEISPIELE – L AS H URDES UND T HE H OUSE

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Ein Vergleich zweier prominenter Beispiele aus der Geschichte des Dokumentarfilms soll veranschaulichen, dass sich fehlende bzw. vorhandene Empathie derjenigen, die an der Dokumentation arbeiten, im jeweiligen Film abbildet. Es geht dabei um die These, dass in verschiedenen Graden und Spielarten von Empathie jeweils ein anderes Produkt entsteht; diese Behauptung ist zugleich eine These über die Sichtbarkeit von Einstellungen im Filmischen. Abwägend zur Debatte gestellt werden soll die Notwendigkeit oder aber Beliebigkeit einer empathischen Einstellung von Autorinnen und Autoren und anderer Menschen, die an der Filmherstellung beteiligt sind. Der Film LAS HURDES (ES 1933, Luis Buñuel, LAND WITHOUT BREAD/TIERRA SIN PAN) ist Buñuels einziger Dokumentarfilm. Er zeigt das Elend der Bewohner einer gleichnamigen Gegend, einer Gebirgsregion im Norden der Extremadura in Spanien in den 30er Jahren. Buñuel und Eli Lotar (Kamera) nähern sich den Menschen, indem sie den Film als Performance einer ethnologischen Studie über fremde exotische und zurückgebliebene Völker anlegen. Der Widerspruch – einer von vielen Widersprüchen die, glaubt man den Kritikern, bewusst von Buñuel angelegt sind – ist, dass es sich bei den Dokumentierten um mitteleuropäische christliche Spanier handelt, somit die kulturelle Entfernung zu ihrer Lebensweise teilweise von den Autoren konstruiert bzw. vorgespielt ist. Der Film ist sehr häufig besprochen worden, und viele Kritikerinnen und Kritiker von LAS HURDES kommen auf ein Hauptmerkmal des Films zu sprechen: auf seine interne Widersprüchlichkeit.15 Hier sollen nur einige Beispiel dafür gegeben werden: Die Stimme, mit der Buñuel die Bilder der Menschen aus Hurdes aus dem Off selbst kommentiert, ist kalt und distanziert: »cold distant commentary«.16 Auch sind die Sätze seltsam zusammenhanglos: »Thoughts and sentences are connected by inappropriate linkage [...]«.17 Im Gegensatz dazu stehen die teilweise ergreifenden gefilmten Szenen; Buñuel scheut sich beispielsweise nicht, die Mundhöhle eines sterbenden Mädchens zu filmen und darauf hinzuweisen, dass hier die Ursache des baldigen Todes sichtbar sei. Während er

15 Stellvertretend beziehe ich mich auf einen Aufsatz von Vivian Sobchack: »Synthetic Vision. The Dialectical Imperative of Luis Buñuel’s Las Hurdes«, in: Barry K. Grant/Jeanette Sloniowski (Hg.), Documenting the Documentary. Close Readings of Documentary Film and Video. Detroit: Wayne State University Press 1998, S. 70-82. 16 Ada Kyrou, Luis Buñuel, New York: Simon & Schuster 1963, S. 25. 17 Sobchack, Synthetic Vision, S. 77.

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als Sprecher auf die Zurückgebliebenheit der Abgebildeten hinweist, wird diese anhand der Abbildungen keineswegs immer deutlich. Es handelt sich z.B. um die Behauptung, die abgebildeten Menschen seien größtenteils schwachsinnig, was Inzucht und mangelnder Hygiene geschuldet sei. Diese Aussage spricht den Abgebildeten (nach damaligen Vorstellungen) den Status von Subjekten ab. Eine Gebirgsziege stürzt beispielsweise den Hang hinunter – man sieht bei genauem Hinsehen, dass sie aus der Distanz erschossen wird (am Rand des Bildkaders ist das Abfeuern eines Gewehrs sichtbar) –, und dazu erhält man die Auskunft, dass den Menschen lediglich Fleisch von abgestürzten Ziegen zur Verfügung stehe. Hinzu kommt eine pathetische Musik, die vierte Symphonie von Brahms, der Vivian Sobchack metaphorisch eine »bestimmte Blindheit und Taubheit« bescheinigt.18 Dies und vieles andere lässt Sobchack zusammenfassen: »[T]he Hurdanos are [...] decontextualized and dehumanized by their position as mere objects of the camera and the narrator’s scrutiny«.19 In solch einer Einschätzung des Films stimmt zunächst die Filmkritik mit vielen Zuschauerinnen und Zuschauern überein, die beim Anschauen ein Missbehagen empfinden. Ich denke, hier lässt sich im Namen fast aller Zuschauer sagen, dass Buñuel und Lotar sozusagen jede Empathie mit den Menschen, die sie zeigen, abhandengekommen zu sein scheint; es gab nicht einmal den Versuch einer empathischen Annäherung. Interessant ist aber nun zu verfolgen, wie solch eine Empathielosigkeit und Instrumentalisierung theoretisch gerechtfertigt, in welche Zusammenhänge sie filmgeschichtlich gebracht wird. Hier variieren die Vorschläge. Buñuel selbst geht es, zumindest in der Auslegung durch Földényi, um seine eigenen großen Gedanken und ums Universelle. Er schreibt 1982: »Mir erscheint es keinesfalls notwendig, dass diese Welt existiert, und auch nicht, dass wir gerade hier leben und hier sterben. Wir sind Kinder des Zufalls, auch ohne uns könnte das Universum bis ans Ende der Zeiten existieren.«20 Sobchack schlägt hingegen zwei andere Lesarten vor, sie spricht davon, dass der Film durch eine Hegelsche Dialektik geprägt sei, die wiederum durch eine surrealistische Gegenüberstellung erreicht werde.21 Am Ende ihres Beitrags zitiert sie Carlos Fuentes, der über Buñuels Film resümiert: »He never exploits this marginality [of social orders], because he makes it central to his vision. He has set the highest standards for true

18 Ebd., S. 74. 19 Ebd., S. 75. 20 Diesen Zusammenhang sieht László F. Földényi: »Der Blick auf eine Welt ohne Gott«, in: Neue Zürcher Zeitung (13.05.2006). 21 V. Sobchack: Synthetic Vision, S. 71.

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cinematic freedom«.22 Mit Freiheit und Respekt meint Fuentes aber die Freiheit der Zuschauer, denn in der Rezeption der Summe aller aufgezählten filmischen Elemente sei dieser Zuschauer nicht festgelegt, also frei.23 In Übereinstimmung mit den Zitierten kann man schlussfolgern: LAS HURDES zeigt fehlende Empathie gegenüber seinen Protagonisten und stellt die weltanschauliche Idee seines Autors auf interessante Weise in den Vordergrund. Auch wenn der Film als ein Angriff auf das Genre des ethnografischen Films in den 30er Jahren gesehen wird, wird er als ein Statement von Buñuel zu diesem Thema interpretiert. Das Nachdenken über den Film bezieht sich demzufolge auf die Ideen und Absichten des Filmautors – andere Fragen, die zum Film oft gestellt werden sind: Hat Buñuel eine revolutionäre Verbesserung der Lebensbedingungen der Hurdanos im Auge oder nicht? Führt er vor, wie ›Film an sich‹ funktioniert? Verweist er uns auf die generelle Problematik des Verhältnisses voyeuristischer Zuschauer zu denen, die gezeigt werden? Wie funktioniert die surrealistische Dekonstruktion der Konventionalität des Dokumentarischen in den 30er Jahren? Zurückfragen lässt sich aus heutiger Perspektive: Wie wichtig ist die Freiheit der Zuschauer im Verhältnis zu dem Anspruch der Gefilmten auf eine menschliche Behandlung durch die Filmautoren? Hier befindet man sich auf dem Feld ethischer (wenn nicht sogar kolonialistischer und postkolonialistischer) Fragestellungen, die bekanntermaßen in der Kunstgeschichte der Moderne oft als ein Außen der Kunst definiert worden sind. Während sich an LAS HURDES also zeigen lässt, wie sich eine ethische Einstellung gegenüber den Dargestellten (evtl. zugunsten einer ihr übergeordneten Ethik der Zuschauerinnen und Zuschauer) in der Filmarbeit nahezu ausschließen lässt, wird dem Dokumentarfilm THE HOUSE IS BLACK (IR 1962, KHANEH SIAH AST) von Forough Farrokhzad im Gegenteil bescheinigt, das ethische Dilemma, das sich mit der Abbildung kranker oder, allgemeiner formuliert, aus der Gemeinschaft ausgeschlossener Menschen verbindet, mithilfe künstlerischer Mittel zu unterlaufen. Damit komme dem Film gerade eine ethische Dimension zu.24 Es handelt sich bei THE HOUSE IS BLACK um einen 20-minütigen Dokumentarfilm über ein sogenanntes Leprosarium (einen Ort, an dem Leprakranke leben und versorgt werden) in Azerbaijan. Die iranische Lyrikerin Forough Farrokhzad

22 Fuentes, Carlos: »The Discreet Charm of Luis Buñuel«, in: New York Times Magazine (11.03.1973), S. 77. 23 Ebd. 24 Price, Jason: »Forough Farrokhzad and The House is Black«, http://www. firouzanfilms.com/ArticlesAndEssays/Articles/JasonPrice_ForoughFarrokhzadAnd TheHouseIsBlack.html (2006-2010), abgerufen am 02.03.2016.

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drehte ihn 1962 im Alter von 27 Jahren; bis heute wird diesem Dokumentarfilm eine wegweisende Bedeutung für das iranische Autorenkino zugeschrieben.25 Der Film gibt Menschen, die über ihre Krankheit, Armut und räumliche Trennung in den Status von Objekten gefallen sind, wieder ihr Subjektsein zurück, so Jason Price. »For the only way we can empathize with people is to understand them as people – not pitiable objects or lifeless caricatures«.26 THE HOUSE IS BLACK wird damit allen Dokumentationen entgegengesetzt, in denen nur »ausgewählte Bilder eines außerordentlichen Leidens konsumiert werden« und die Dargestellten als »Symbole« dessen aufgefasst werden, was sie repräsentieren.27 Das Darstellungspostulat im Dokumentarischen stellt im Vergleich zu den oben philosophisch und psychologisch erläuterten Bedingungen für Empathie eine weitere Verkomplizierung der Beziehungen von Filmautorinnen und -autoren zu den Dargestellten dar: »[M]ore than morality is involved; ethical assumptions have aesthetic consequences and aesthetic assumptions have ethical consequences«.28 Wie ist es Farrokhzad gelungen, ihr eigenes empathisches Verhältnis zu den Leprakranken im Film zu zeigen? Biografisch lässt sich rekonstruieren, dass es eine Annäherung auf persönlicher Ebene gab: »Forough [...] expressed deep personal satisfaction with the project insofar as she had been able to gain the lepers’ trust and become their friend while among them [...]«.29 Dieses Vertrauensverhältnis ermöglichte ihr eine bestimmte Art zu arbeiten, die hier anhand von Beispielen diskutiert werden soll: Die Vielfalt an Möglichkeiten in der Kameraführung wird eingesetzt, um das Spiel von Nähe und Distanz in Bildern zu inszenieren und damit als ethisches Grundproblem zu thematisieren. Von einer distanzierten und ruhigen Kamera, die dem Distanzbedürfnis der Zuschauer zum Anfang des Films entspricht, wechselt die Kamera, geführt von Soleiman Minasian, in eine stärkere Bewegung, die auch von den später in der Montage gesetzten Schnitten verstärkt wird. Nahaufnahmen in intimen wie alltäglichen Momenten, wie z.B. dem Kämmen und Schminken, dem Stillen eines Babys oder der Teilnahme am Schulunterricht erzeugen eine Nähe zu den Dargestellten.30 Der Film

25 Naficy, Hamid: A Social History of Iranian Cinema, Volume 2, The Industrializing Years, 1941 –1978, Durham: Duke University Press 2011, S. 82-89. 26 J. Price: Forough Farrokhzad and The House is Black, S. 18. 27 Ebd. 28 Pryluck 1988. 29 Hillmann, Michael C.: A Lonely Woman: Forough Farrokhzad and Her Poetry, London: 1986, S. 43. 30 J. Price: Forough Farrokhzad and The House is Black, S. 17f.

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beginnt mit dem Voiceover einer männlichen Stimme aus dem Off, gesetzt zu einem Schwarzbild. Diese Stimme teilt den Zuschauern mit: »On this screen will appear an image of uglyness [...] a vision of pain no caring human being should ignore. To wipe out this ugliness and to relieve the victims [...] is the motive of this film and the hope of its makers«.31 Der männlichen Stimme kommt hier – ähnlich wie in dem Beispiel von Buñuel – die Rolle eines objektivierenden Kommentierens zu.32 Sie wird kontrastiert mit einer weiblichen Stimme – der Stimme der Regisseurin aus dem Off, die poetische Ausschnitte aus dem Alten Testament, dem Koran und aus ihren eigenen Gedichten spricht. Sie steht für das Sich-Öffnen gegenüber den Leprakranken und für ein Teilen der Poesie mit den Protagonisten, dem Teilen einer Dichtung, die Farrokhzad substantiell wichtig ist.33 Price nennt das einen »spirituellen Wiedereinschluss« der Ausgeschlossenen. Er resümiert: »[O]nly by making herself fully open and available to her subjects did she disappear into the scenery. By making herself fully visible she became invisible. By exposing herself [...] she exposed the other«.34 Er macht deutlich, dass es sich nicht um die Abbildung einer Beziehung handelt, sondern dass durch die Empathie (im Sinne der Anerkennung und gleichzeitigen Verhandlung einer Distanz) gegenüber den Gezeigten erst bestimmte filmische Strategien, technisch möglich werden wie etwa die Verwendung einer Einstellung eines lächelnden Kindes in einer ganz anderen Szene.

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Der Erläuterung der beiden Beispiele ist zu entnehmen, dass es einen Zusammenhang zwischen interpersonalen Konstellationen während der Herstellung von dokumentarischen Filmen und ihrer filmischen Materialisierung gibt, dass sich –

31 Ebd. 32 Der Dokumentarfilm erhielt laut Eva Hohenberger seine »Glaubwürdigkeit durch Sprache«. Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8 1998. Vgl. auch zur Erzählstimme im Dokumentarfilm »als absolute Quelle des Wissens und der Wahrheit« Heiser, Christina: Erzählstimmen im aktuellen Film, Strukturen, Traditionen und Wirkungen der Voice-OverNarration, Marburg: Schüren 2014, S. 47-87, insb. S. 75 sowie zur Geschichte der Voice-Over-Narration als »Wort, welches Macht besitzt, Recht spricht und Wissen stiftet« als maskuliner Stimme des Vaters (patrius serma), S. 334. 33 J. Price: Forough Farrokhzad and The House is Black, S. 19f. 34 Ebd., S. 15.

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anders gesprochen – interpersonale Konstellationen im Hergestellten manifestieren, die auch die Zuschauenden in einer bestimmten Art und Weise ansprechen, d.h. auch die Empathiefähigkeit der Betrachterinnen und Betrachter mehr oder weniger evozieren. Dies zu erläutern, ist eine erkenntnistheoretische Herausforderung. Zuerst lässt sich empirisch bemerken, dass es die Filme selbst sind, die zu Rückschlüssen auffordern. Eine solche Aufforderung kann nicht durch einen protokollarischen Bericht oder durch Zeitzeugen, die bei den Filmaufnahmen anwesend waren, ersetzt werden. Vielmehr ist der entscheidende Befund, dass sich in den Filmen etwas vom Selbstverständnis ihrer Autorinnen und Autoren abbildet. Im Umkehrschluss lässt sich behaupten, dass unterschiedliche Filme entstehen, je nachdem wie die Autorinnen und Autoren sich gegenüber den oder dem zu Dokumentierenden während des filmischen Produktionsprozesses verhalten. Zugrunde liegt die Annahme, dass Dokumentarfilme oder dokumentarische Arbeiten schlechthin Verkörperungen von etwas sind, ohne dass damit bestritten würde, dass eine solche Verkörperung stets in verschiedenen Varianten möglich ist. Während der Verkörperungsbegriff im rezeptionsästhetischen Zusammenhang auf Änderungen und Reaktionen im Körper der Rezipienten rekurriert,35 steht derselbe Begriff produktionsästhetisch für eine Denkfigur der Entäußerung in den Gegenstand. Allein, dass wir einen Körper bzw. Leib haben, rechtfertigt, dass Hegel in diesem produktionsästhetischen Sinne von Verkörperung spricht, so Brigitte Hilmer. Mit Hegel denkt sie den »Leib als Ort der Entstehung von Bedeutung im Wege der ›Umstülpung‹ von Innen und Außen«.36 Diese grundsätzliche philosophische Verankerung des Verkörperungsbegriffs erlaubt es ferner, ihn auch auf künstlerische Gegenstände anzuwenden, die nicht in direktem haptischen Körperkontakt (sondern z.B. durch den gezielten Einsatz von technischen Apparaten) entstanden sind, denn Verkörperung ist grundsätzlich mit der Genese von Bewusstsein verbunden. Der hegelsche Ansatz weist somit auch in die Richtung einer kognitiven Dimension, die dem Verkörperungsbegriff zukommt, denn was sich verkörpert, ist nicht ein Gefühl, sondern es verkörpert

35 Vgl. etwa die Arbeit von Christiane Voss, Gertrud Koch, Hermann Kappelhoff. 36 Hilmer, Brigitte: »Kunst als verkörperte Bedeutung«, in: Annemarie GethmannSiefert/Lu de Vos/Bernadette Collenberg-Plotnikov (Hg.), Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, München: Fink 2005, S. 53-65, hier S. 64. Brigitte Hilmer bemerkt in einer Fußnote, dass »[d]iese Idee vom menschlichen Leib als ›universellem bedeutendem natürlichen Zeichen‹ [...] Gemeingut der Zeit Hegels« war. Ebd., S. 62.

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sich ein Verständnis von Welt (in das allerdings Gefühle als eingeschlossen gedacht werden müssen).37 Genau hier knüpft auch Arthur Danto an mit seiner Erklärung eines nichtbeliebigen Zusammenhanges zwischen der Welt einer Künstlerin, die etwas macht oder herstellt, und dem, was das Hergestellte repräsentiert.38 Danto benutzt für seine Theorie den Begriff »instantiation« und nicht »embodiment«; beide Ausdrücke lassen sich im Deutschen mit Verkörperung übersetzen.39 Während »instantiation« auf eine Instanziierung im (filmischen) Material verweist, lässt sich »embodiment« besser auf Prozesse des Körperlichwerdens in der Begegnung (mit dem Film) anwenden. Zunächst geht es Danto darum, mithilfe des Begriffs der Rhetorik die Situation zwischen Künstlerin und Rezipientin als eine zu beschreiben, in der die Künstlerin die Absicht hat, die Rezipienten zu beeinflussen, bestimmte Einstellungen im Bezug auf das Kunstwerk einzunehmen.40 Auf der Grundlage der Feststellung dieses Aufeinanderbezogenseins mittels des künstlerischen Gegenstands und der Technik seiner Herstellung erläutert er näher, wie sich eine solche (hegelsche) Entäußerungsfigur für moderne Kunst denken lässt.41 Steht der Rhetorikbegriff für »die Beziehung zwischen Darstellung und Zuhörerschaft«, so steht der Stilbegriff für »die Beziehung zwischen der Darstellung und demjenigen, der die Darstellung macht«.42 Dantos Bestimmung: »Stil ist die Art und Weise, wie der Mensch unter Absehung von allem Erlernten und Erworbenen ist«43 bedarf einer näheren Erläuterung. Danto stellt selbstkritisch die Frage »Was ist denn in Wirklichkeit der Mensch selbst‹?«.44 Mit Aristoteles

37 Die hier aufgeführte Denktradition der Verkörperung, die von Hegel über Edgar Wind bis zu John Michael Krois reicht, unterscheidet sich von anderen Konzepten der Verkörperung. Unter anderem durch John Michael Krois und Horst Bredekamp wurde die Verkörperungstheorie Edgar Winds wieder neu diskutiert und als Ursprung heutiger Debatten wiederentdeckt. Vgl. zur aktuellen Debatte Fingerhut, Joerg/ Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013. 38 Danto, Arthur: »Metapher, Ausdruck und Stil«, in: ders., Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 252-315. 39 Ebd., S. 38. »Instantiation« ist in der deutschen Ausgabe übersetzt mit Verkörperung. 40 Ebd., S. 252ff. 41 Dantos Kunstbeispiele stammen aus der Bildenden Kunst; ich möchte versuchen, sie auf filmische Gegenstände anzuwenden. 42 Ebd., S. 300. 43 Ebd., S. 305. 44 Ebd., S. 309.

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weist er auf einen Unterschied hin, und zwar auf den Unterschied zwischen »maßvoll sein« und »maßvoll handeln«. Der Zweck dieser Unterscheidung ist es, festzustellen, dass es einen Unterschied ums Ganze darstellt, ob man moralisch handelt, um das Richtige zu tun, d.h. indem man Kriterien, von denen man weiß, dass sie die richtigen sind, abarbeitet; oder ob man handelt, weil die Handlung aus dem Charakter hervorgeht, anders gesprochen, weil sich in ihr die Wahrheit für die Handelnde als ein Glaube an die Richtigkeit der Handlung repräsentiert. Im zweiten Fall ist man auch in der Lage, auf bisher ungekannte Situationen im Sinne einer eigenen Weltsicht zu reagieren. »Gütig sein heißt schöpferisch sein, in neuartigen Situationen das tun, was jedermann als gütig anerkennen wird«.45 Die Pointe dieser Unterscheidung liegt für Danto darin, dass sich das, was ein Werk ausdrückt, nicht trennen lässt vom Wie des Ausdrucks.46 Denn ausdrücken würde das Werk – in Dantos Begrifflichkeit – im Sinne eines Stils die Realität des Künstlers, d.h. es würde so »die spontane Fähigkeit des Künstlers, seine Art, die Welt zu sehen, für uns sichtbar machen«.47 Es handelte sich aber bloß noch um eine Manier (man könnte vielleicht sagen um ein manieristisches Kunstwerk), wenn das Werk uns die Ansichten des Künstlers über die richtige Herstellung des Werks zeigte; diese lassen sich (z.B. als Regeln) erlernen und erkennen. Wie dem auch sei, mir scheint, daß das, was wir mit Stil meinen, jene Qualitäten von Repräsentationen sind, die der Mensch selbst ist, von außen physiognomisch gesehen. Und der Grund dafür, weshalb es zwar keine Kunst oder Wissenschaft für den Stil, wohl aber für die Manier geben kann, ist der, daß die äußerlichen Aspekte von Repräsentationen gewöhnlich dem Menschen, dessen Repräsentationen sie sind, nicht gegeben sind: Er sieht zwar die Welt durch sie, aber nicht sie. Die Eigenschaften dieser Repräsentationen sind zwar für die anderen sichtbar, aber nicht für ihn [...].48

Ein gelungener Film ist dieser Lesart zufolge eine Verkörperung dessen, wie eine Künstlerin die Welt sieht, wobei dem Weltbegriff (den Danto benutzt) hier seine Problematik genommen werden soll, indem wir statt Welt das einsetzen können, von dem der Film handelt (ein Ausschnitt der Welt vielleicht oder ein

45 Ebd., S. 306. 46 Ebd., S. 293. Wir können, das, was das Werk ausdrückt, nicht ohne Weiteres davon trennen, wie es das ausdrückt. Danto gibt das Beispiel: »Versuchen Sie nur einmal, Proustsche Eifersucht mit Hemingwayschen Sätzen zu beschreiben«. Ebd., S. 298. 47 Ebd., S. 313. 48 Ebd.

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historischer Kontext). Eine weitere Problematik besteht in der Tatsache, dass Filme in der Regel nicht von einer Person hergestellt werden; daher muss von einer Überschneidung verschiedener Stile ausgegangen werden. Dies stimmt mit dem Sprachgebrauch der Feststellung von Regiestilen und Kamerastilen überein. Im Gegensatz zum Spielfilm scheint mir aber die Gruppe der an der Produktion beteiligten Personen bei dokumentarischen Formaten in der Regel übersichtlich zu sein. Bezüglich multipler Autorenschaft könnte auch der Begriff einer »geteilten Intentionalität« weiterführen, den Hilge Landweer unter Rückgriff auf Michael Tomasellos Theorie der Sprachentstehung aus einer phänomenologischen Perspektive erläutert.49 Da zudem Künstlerinnen und Künstler ihre Weltsicht auch aus ihrer Biografie speisen, die wiederum in historischen Kontexten entsteht, ist es denkbar, dass es auch kollektive Anhaltspunkte im Stilbegriff dantoscher Prägung geben kann, ohne dass die Weltsicht der Einzelnen ganz in ihrem historischen Kontext aufgehen muss.50 An dieser Stelle kann es hilfreich sein, auf den Verkörperungsbegriff von Edgar Wind zu verweisen. In Winds Sinne verkörpert das Experiment (wie man an eine Sache herangeht) bereits die kognitive Dimension der Weltsicht einer Wissenschaftlerin oder Künstlerin bzw. steht das experimentelle Setting – so wie das Kunstwerk – für die Einheit von Anschauung und Denken. Die Art, wie ich technisch vorgehe, den Ablauf gestalte, mit den Menschen umgehe etc. ist bereits die Verkörperung einer Sicht der Welt, man könnte sagen, einer vorausliegenden Theorie, deren Grund natürlich u.a. auch in meiner Körperlichkeit liegt.51 Anders ausgedrückt lässt es sich so sagen: Jedes Handeln ist mit Vorannahmen verbunden.52 Die »Fähigkeit des Künstlers, seine Art, die Welt zu sehen für uns

49 Hilge Landweer spricht ebenfalls von einer »Rhetorik des Zeigens«. Landweer, Hilge: »Zeigen, Sich-zeigen und Sehen-lassen. Evolutionstheoretische Untersuchungen zu geteilter Intentionalität in phänomenologischer Sicht«, in: Karen van den Berg/Hans Ulrich Gumbrecht, Politik des Zeigens, München: Fink 2010, 31f. 50 Vgl. Siegmund, Judith: »Gedanken zu einer sozialen Handlungstheorie der Kunst«, in: Judith Siegmund/Daniel Martin Feige (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld: Transcript 2015, S. 124-128. 51 Eine solche Körperlichkeit als allen theoretischen Ergebnissen zugrunde liegend thematisiert z.b. Michael Polanyi mit seinem Begriff des impliziten Wissens, den er in Bezug auf naturwissenschaftliche Forschungen herausarbeitet (vgl. dazu: Jung 2016). 52 Vgl. Collenberg-Plotnikov, Bernadette: »Forschung als Verkörperung. Zur Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind«, in: Judith Siegmund (Hg.), Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?, Bielefeld: Transcript 2016.

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sichtbar zu machen«53 determiniert jede einzelne Handlungsentscheidung in Bezug auf die Entstehung des filmischen Produkts.

R HETORIK UND E MPATHIE

IN DER

R HETORIK

Filmen als eine rhetorische Praxis aufzufassen, bedeutet, von einem Fokus auszugehen, der sich nicht allein auf Herstellungsfragen beschränkt, sondern die Reaktionen der Rezipierenden auf das poietisch Hergestellte (die Dokumentation/den Film) einschließt. »Es ist die Funktion der Rhetorik als Praxis, die Zuhörer einer Rede zu veranlassen, zum Gegenstand der Rede eine bestimmte Einstellung einzunehmen«.54 Mithilfe des Begriffs der Transfiguration erläutert Danto, dass es in der Rezeption immer auch um ein Wiedererkennen geht, welches nicht vollständig ein Wiedererkennen eines schon ganz Gekannten ist, trotzdem aber anknüpft an ein Kennen und Wissen seitens der Zuschauer – und hier kann es sich durchaus um ein anschauliches Wissen handeln. In dieser Vermittlung gibt es eine Konstante – Autorin und Zuschauer sind sich einig darüber, wer hier abgebildet wird (z.B. Napoleon), auf dem Spiel steht aber, als was er in diesem konkreten Fall abgebildet wird (z.B. Napoleon als antiker Kaiser). Dabei geht es, wie Carl R. Plantinga betont, in Dokumentarfilmen nicht um die Reproduktion eines Realen, sondern um (verkörperte) Behauptungen über Reales: »Nonfiction film makes no claim to reproduce the real, but rather makes claims about the ›real‹ just as any nonfiction communication does. [...] Nonfictions are rhetorical, not primarily representations«. 55 In Dantos Worten heißt das bezogen auf die Rezeption, dass das Sujet der Identität durchgängig aufrechterhalten wird.56 Es steht also nicht laufend in Frage, wovon der Film handelt, aber es steht laufend in Frage, wie er sein Thema darstellt und vermittelt. Das »antwortende Verstehen«57 von Seiten der Zuschauerinnen lässt sich beschreiben als Prozess eines »verkörperten Involviertseins«58 – involviert sind sie in ihre Erfahrung der Dar-

53 A. Danto: Metapher, Ausdruck und Stil, S. 313. 54 Ebd., S. 252f. 55 Plantinga, Carl R.: Rhetoric and Representation in Nonfiction Film, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 38. Daniel Martin Feige drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: »Es gibt [...] keinen Dokumentarfilm, der ohne interpretatorische Entscheidungen etwas zeigen könnte« (Feige 2015, 181). 56 Vgl. A. Danto: Metapher, Ausdruck und Stil, S. 255f. 57 Ebd., S. 266. 58 Siehe Einführung der HerausgeberInnen.

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gestellten als »personalem Gegenüber«, aber auch in die Erfahrung dargestellter Situationen und Dinge.59 Und hier steht der Empathiebegriff für die affektiven und verstehenden Reaktionen auf im Film Dargestellte und Dargestelltes, man kann sagen: auf fiktive Personen und Dinge; fiktiv in dem Sinne, dass die Zuschauer wissen, dass es sich nicht um Charaktere oder vollständig arrangierte Szenen wie im Genre des Spielfilms handelt. Dokumentarfilme sind getragen von dem Wissen der Rezipienten, dass es die Protagonistinnen und Protagonisten gibt oder gab: »What I claimed [...] is that nonfiction films are those that assert that the states of affairs they present occur(red) in the actual world. Perhaps a clearer way to put it is to say that nonfictions assert a belief that given objects, entities, states of affaires, events, or situations actually occur(red) or exist(ed) in the actual world as portray(ed).«60 Es ist heute Allgemeinwissen, dass mit solch einer Beschreibung nicht der Anspruch auf absolute Wahrheit des dokumentarischen Formats gemeint sein kann. Statt alles – auch das Dokumentarische – ganz unter dem Begriff des Fiktiven als Gegenkonzept zur Wahrheit der Dokumente zu fassen, schlage ich vor, im Sinne Plantingas von dem Glauben der Zuschauer zu sprechen, dass die im Film gezeigten Gegenüber (Menschen und Dinge) existierten oder existieren. Damit kommt der immer wieder geäußerten Feststellung, ›alle Filme, auch die dokumentarischen, sind fiktiv‹, in Abgrenzung von empha-

59 Vgl. Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers: The Aesthetic Paradox of Pleasurable Fear, New York/London: Routledge 2010, S. 15: »Phenomenology tries to uncover what is buried in habituation and institutionalisation, what is taken for granted and accepted as given, or what we have never been fully aware of the first place. In its focussing on the subjectively experianced phenomenal or livedbody (the Leib) – as opposed to the objectively analyzable physiological body (the Körper) – and its thematizing of experiances of self and other, phenomenology will prove particularly suitable for my purposes.« Hanich geht es um Horrorfilme und Thriller, die phänomenologische Bestimmung des verkörperten Involviertseins ist m.E. auch auf andere Formate wie z.B. den Dokumentarfilm anwendbar, auch wenn in ihm Angst und Furcht nicht im Vordergrund stehen. 60 C. Plantinga: Rhetoric and Representation in Nonfiction Film , S. 18. Dies verweist auf die semiopragmatische Theorie des Dokumentarfilms z.B. vertreten durch Roger Odin: »Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre«, in: Eva Hohenberger (Hg.) (1998) Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8 1998

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tisch geäußerten Wahrheitsansprüchen, eher der Status einer polemischen Bemerkung zu, die sich auf das Faktum ihres Gemachtseins bezieht.61 Die im Film Dargestellten sind einerseits Personen, deren Darstellung sich aus dem (mehr oder weniger empathischen) Verhältnis ergibt, das sich zwischen der Autorin des Films und seinen Protagonisten entwickelt hat, zweitens sind ihre Darstellungen »Resultate« künstlerischer Entscheidungen hinsichtlich des Einsatzes bestimmter filmischer Mittel, deren Absicht sich auch auf die Zuschauerinnen und Zuschauer des Films richtet und denen eine Rhetorik als die Absicht, die Rezipienten zu involvieren (ihre Empathie zu evozieren) eingeschrieben ist. Im Film finden beide ›Bewegungen‹ ihre Verkörperung – erstens: die Fähigkeit der Autorin, die Andersheit der Darzustellenden einzubeziehen (auch auf der Grundlage eines affektiven Verhältnisses zu ihnen), auch mit deren Entscheidung umzugehen, sich preiszugeben oder nicht preiszugeben;62 und zweitens die Fähigkeit, die richtigen technischen, organisatorischen und ästhetischen Entscheidungen zu treffen. So sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer im Film nicht allein die Ansichten über bzw. die Verwendung der Protagonisten (und auch Dinge) durch die Filmautorin, sondern sie sehen auch, ob die Dargestellten etwas von sich preisgegeben haben, sie sehen die Konkretheit eines empathischen (oder nicht empathischen) Verhältnisses während der Produktion. LAS HURDES und THE HOUSE IS BLACK können wir insofern vergleichen, als wir sehen, dass der Anteil der Gefilmten am Film bei Buñuel ein grundsätzlich anderer (bzw. geringerer) ist als bei Farrokhzad. Und wenn wir es sehen, dann ist das nicht dasselbe, als wenn uns jemand davon erzählt. Aus der bisherigen Erläuterung ergibt sich nun, dass die Empathie der Betrachterinnen mit den (dem) im Film Gezeigten sich nicht nur auf ihre eigenen Gefühle bzw. Affekte (also die der Betrachterinnen) bezieht, sondern auch darauf, wie die Personen von der Regisseurin des Films behandelt wurden.63 Dies

61 Vgl. auch: »The arguments of Comolli, Wiseman and Maysles function as an important countermesasure to the claim that nonfiction offers pure, unmediated truth. C. Plantinga: Rhetoric and Representation in Nonfiction Film, S. 10. 62 »Vielmehr schiene die Kunst [...] darin zu liegen, verständnisvoll auf das zu reagieren, was die andere Person von sich preisgibt«. Dullstein, Monika: »Einfühlung und Empathie«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 93-107, hier S. 94. 63 »Entscheidend ist somit nicht die Frage, ob wir mit einer anderen Person interagieren oder nicht, sondern vielmehr die Art und Weise, wie wir sie dabei behandeln«. Strawson, Peter: Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and other Essays, London: 2008, S. 1-28, vgl. M. Dullstein: Einfühlung und Empathie, S.

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konnotiert den Empathiebegriff ethisch und nicht mehr allein erkenntnistheoretisch.64 Offensichtlich gibt es ein Differenzkriterium gegenüber einer Empathie der ›normalen Situation‹, die im direkten Kontakt zwischen den Personen stattfindet – die Autorin bleibt für die Filmzuschauerinnen und -zuschauer involviert, denn man interagiert nicht direkt mit Menschen oder in Situationen, sondern mit verkörperten Darstellungen von ihnen, die von jemandem in der Auswahl ganz bestimmter Mittel angefertigt worden sind.65 Die Körper der Autoren, die der Protagonisten und die der Zuschauerinnen – so lässt sich resümieren – sind in einem bestimmten vermittelten Verhältnis in eine Situation der Rhetorik integriert, die in einer Art gedachter Klammer die Akteure miteinander verbindet. Ein Film lässt sich also auch als eine Art von Reaktion verstehen auf den Anspruch der Gefilmten, verstanden bzw. anerkannt zu werden, und somit nicht nur als ein Mittel, sich als Filmerin oder Filmer, als Kameramann oder -frau selbst mit etwas oder jemandem zu beschäftigen. Über die Symmetrie empathischer Prozesse sagt Monika Dullstein: An die Stelle des Erkenntnisobjekts tritt nun eine Person, von der man einerseits erwarten kann, dass sie etwas von sich preisgibt, die aber andererseits auch den Anspruch erhebt, dass ihre psychischen Zustände anerkannt werden. Dies stellt die Person, die zu verstehen sucht, vor neue Aufgaben: Sie muss durch ihre Antwort offen legen, wie sie die andere Person verstanden hat – und sie muss willens sein, sich darin kritisieren oder gar zurückweisen zu lassen.66

Der Film ist eine Antwort im oben beschriebenen Sinne. Je nach Persönlichkeit – und das lässt sich mit dem dantoschen Stilbegriff sagen – verhalten sich Künstlerinnen und Künstler verschieden, auch als unterschiedlich Involvierte. Es ist

99f., übers.v. Dullstein. Vgl. »... innere Distanzierung drückt sich im Fehlen von reaktiven Gefühlen und Einstellungen aus« (P. Strawson: Freedom and Resentment, vgl. M. Dullstein: Einfühlung und Empathie, S. 99f., übers. v. Dullstein. 64 Vgl. zur Entwicklung des Empathiebegriffs in den verschiedenen Debatten M. Dullstein: Einfühlung und Empathie, S. 93-107. 65 Damit habe ich nicht behauptet, dass die Wahl der Mittel und die Spezifität des filmischen Produktes nur auf bewussten Entscheidungen beruht, dass also die Autorinnnen und Autoren eine vollständige Kontrolle über den Film ausüben wollten oder könnten. Unbewusste Entscheidungen und Verstrickungen gegenüber den Protagonistinnen und Protagonisten sind im Rahmen der vorgeschlagenen systematischen Erläuterung ebenfalls denkbar. 66 M. Dullstein: Einfühlung und Empathie, S. 103.

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gleichwohl selbstverständlich, dass die Empathie der Filmautorinnen und -autoren nicht als einfache Unterordnung unter die Anerkennungsansprüche ihrer Protagonisten verstanden werden darf. Erst das Ringen mit den als schwierig erscheinenden Seiten darzustellender Personen und die Auseinandersetzung mit ihren schwer verständlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen macht die Besonderheit guter dokumentarischer Arbeiten aus.

L ITERATUR Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Breyer, Thiemo: » Empathie und ihre Grenzen. Diskursive Vielfalt – phänomenale Einheit?«, in: ders. (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 1342. Collenberg-Plotnikov, Bernadette: »Forschung als Verkörperung. Zur Parallelisierung von Kunst und Wissenschaft bei Edgar Wind«, in: Judith Siegmund (Hg.), Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?, Bielefeld: Transcript 2016. Coplan, Amy: »Catching Characters’ Emotions: Emotional Contagion Responses to Narrative Fiction Film«, in: Film Studies 8/1 (July 2006), S. 26-38. Coplan, Amy: »Understanding Empathy: its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011. Danto, Arthur: »Metapher, Ausdruck und Stil«, in: ders., Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 252-315. Dullstein, Monika: »Einfühlung und Empathie«, in: Thiemo Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München: Fink 2013, S. 93-107. Feige, Daniel Martin: »Die Form künstlerischen Handelns. Eine Analyse aus dem Geiste ästhetischen Gelingens«, in: Judith Siegmund/Daniel Martin Feige (Hg.), Kunst und Handlung. Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven, Bielefeld: Transcript 2015, S. 173-194. Fingerhut, Joerg/Hufendiek, Rebekka/Wild, Markus (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin: Suhrkamp 2013. Földényi, László F.: »Der Blick auf eine Welt ohne Gott«, in: Neue Zürcher Zeitung (13.05.2006).

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Empathie und existentielle Gefühle im Film J ENS E DER

E INLEITUNG Audiovisuelle Medien tragen dazu bei, »Kulturen der Empathie« zu formen, die unserem privaten und politischen Handeln zu Grunde liegen.1 Sie lenken empathische Prozesse, üben sie ein, richten sie auf bestimmte Gruppen der Gesellschaft. Spielfilme, Dokumentarfilme, Fernsehsendungen oder Webvideos unterscheiden sich in ihren Formen der Empathisierung, weisen aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten auf und werden im Folgenden unter der Bezeichnung »Film« zusammengefasst.2 Empathie im Film ist verbunden mit Hoffnungen auf ästhetische Erfahrung, mitfühlendes Verstehen und altruistisches Handeln, aber auch mit Sorgen vor falschen Gefühlen, Missverständnissen und Sentimentalität. Die Forschung zu diesem Thema folgt entsprechend vielfältigen Erkenntnisinteressen: Welche Rolle spielt Empathie im Erleben der Zuschauer? Welche ästhe-

1

Zu »Kulturen der Empathie« s. Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, zu Empathie und Politik s. Aschheim, Steven E.: »The (Ambiguous) Political Economy of Empathy«, in: Aleida Assmann/Ines Detmers (Hg.), Empathy and Its Limits, New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 21-37, Kozloff, Sarah: »Empathy and the Cinema of Engagement: Reevaluating the Politics of Film«, in: Projections: The Journal of Movies and Mind 7/2 (2013), S. 1-40.

2

Zu den Unterschieden vgl. Brinckmann, Christine Noll: »Empathie im Dokumentarfilm. Eine Fallstudie«, in: Farbe, Licht, Empathie. Schriften zum Film 2, Marburg. Schüren 2014 , S. 192-221, zu den Gemeinsamkeiten Eder, Jens: »Films and Existential Feelings«, in: Projections: The Journal for Movies and Mind, 2016/im Druck., Grodal, Torben: Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture, and Film. Oxford: Oxford University Press 2009, 184f. Auch fiktionale Filme lösen reale Gefühle aus; das »Paradox of Fiction« beruht auf falschen Prämissen.

238 | J ENS EDER

tischen, politischen und ökonomischen Funktionen erfüllt sie? Verändert sie Wahrnehmungsformen und Weltverhältnisse? Kann sie dazu beitragen, andere Personen besser zu verstehen, etwa Privilegierten vermitteln, wie sich Ausgegrenzte fühlen? Und kann eine solche Affizierung hinausreichen über ein »sentimentales Genießen«3 der eigenen Rührung? Um solche Fragen zu beantworten, muss zunächst grundlegend geklärt werden, (1) was Empathie im Film eigentlich ist, (2) inwiefern sie es ermöglicht, die Erlebnisse dargestellter Personen und Figuren zu teilen, sowie (3) unter welchen Bedingungen sie entsteht und durch welche Verfahren sie erzeugt, gelenkt oder blockiert wird. Mein Beitrag entwickelt frühere Vorschläge zur Beantwortung dieser Grundfragen weiter, indem er Theorien des Fremdverstehens, der Perspektivität und der Affektlenkung miteinander verbindet.4 Empathie wird als ein facettenreicher Prozess affektiver Perspektivenüberlagerung aufgefasst, der mit anderen Vorgängen der Filmrezeption auf vielfältige Weisen interagiert. Sie manifestiert sich in einer partiellen Überschneidung des affektiven Erlebens von Zuschauern und dargestellten Akteuren, ihrer Affekte, Emotionen und Gefühle (Termini, die ich bewusst synonym und im weitesten Sinne verwende5). Während des Filmsehens bilden Zuschauer mentale Modelle fiktionaler oder nichtfiktionaler Figuren und nähern sich deren situativen Wahrnehmungs-, Wissens-, Bewertungs-, Wollens- und Gefühlsperspektiven graduell an. Indem Filme solche Annäherungen durch ihre Formen, Welten, Bedeutungen und Kontextbezüge lenken, vermögen sie gelegentlich eine Nähe zum Erleben dargestellter Personen zu erzeugen, die in spezifischer Hinsicht über Empathie im Alltag hinausgeht und die Fremdheit zwischen Kulturen, Identitäten, Lebenssituationen überbrückt. Derartige Versuche einer empathischen Annäherung können fehlschlagen. Aus ihnen folgt auch nicht unbedingt, dass Filme das mitfühlende Handeln befördern. Ich werde aber die These vertreten, dass manche Filme ein Verständnis der Erlebnisweisen anderer Personen vermitteln, das sich weder durch Alltagserfahrungen noch durch andere Medien erreichen lässt. Sie bereichern die menschliche Erfahrung durch spezifische Formen der Empathie.

3

Vgl. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004.

4

Siehe Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg: Schüren 2008; mit »Figuren« bezeichne ich inzwischen alle dargestellten Akteure, auch nichtfiktionale.

5

Warum, begründe ich in Eder, Jens: Films and Existential Feelings und – stark verkürzt – am Ende dieses Beitrags.

E MPATHIE UND

EXISTENTIELLE

G EFÜHLE IM FILM

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Was dies bedeutet, soll im Verlauf dieses Beitrags schrittweise entwickelt werden. Als Ausgangspunkt und wiederkehrendes Beispiel fungiert Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm THE LOOK OF SILENCE (DK 2014). Wie frühere Filme des amerikanischen Regisseurs setzt er besonders ungewöhnliche und subtile Strategien der Empathie ein, um den Zuschauern die traumatische Geschichte und Gegenwart Indonesiens nachvollziehbar zu machen. Nach dem Putsch von General Suharto im Jahr 1965 ermordeten indonesische Soldaten, Paramilitärs und Zivilisten Hunderttausende angeblicher Kommunisten. Bis heute werden die Massenmorde verdrängt, die Täter geehrt, die Opfer diskriminiert. Dass vor wenigen Jahren eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen begann, ist nicht zuletzt Oppenheimer, seinem Team und seinen Protagonisten zu verdanken. Seit 2003 drehten sie mehrere Filme über das kollektive Verbrechen und dessen traumatische Folgen für die Gesellschaft – kinematografische Vorarbeiten zu einem erhofften Prozess der Restorative Justice. In Interviews erläuterte der Regisseur sein Ziel, bei den Zuschauern Empathie sowohl mit den Opfern als auch mit den Tätern hervorzurufen. Internationales Aufsehen erregte zunächst der Film THE ACT OF KILLING (DK 2012), der sich auf die Perspektive eines früheren Mörders einließ.6 Auf Kritik daran entgegnete Oppenheimer: »Empathy is not a zero sum game. When you empathize with the perpetrators that does not mean you have any less empathy for survivors. On the contrary you probably have more.«7 Dementsprechend wandte sich sein nächster Film THE LOOK OF SILENCE der komplementären Perspektive eines Opfers zu. In quälenden Zusammenkünften befragt der Optiker Adi, dessen Bruder bei den Massakern erschlagen wurde, mehrere gealterte Täter. Sie zeigen keinerlei Reue, sondern begegnen ihm mit Kälte, Wut und Drohungen. Oppenheimers Aussagen über diesen erschütternden Film enthalten Gedanken, die für das Verständnis filmischer Empathie höchst aufschlussreich sind: While making THE LOOK OF SILENCE I had this feeling that I wanted to … create a film that would immerse the viewer in this haunted space, make the viewer feel like what it would be like to be forced to live for 50 years in that silence, being afraid, unable to grieve, unable to mourn, unable to work through trauma and therefore by necessity unable to heal. Haunted by the past, haunted by the dead, who have … never been given a proper

6 7

Vgl. Eder, Jens: »Aus der Täterperspektive«, in: montage/av 25/1 (2016/im Druck). Oppenheimer, Joshua: »Empathy after The Act of Killing«, im Gespräch mit Rafael Dernbach, in: The King’s Review vom 9.12.2014, http://kingsreview.co.uk/maga zine/blog/2014/12/09/empathy-after-the-act-of-killing/#top (12.2.2016).

240 | J ENS EDER burial, still surrounded by those powerful perpetrators, who murdered your relatives. That, for me, is not about words, as it is about an immersive sensory physical experience. I do believe that empathy can be triggered by words, but what really triggers it is often the physical, or an imagining what would it be like to be that body, to be in that space, in that temperature, in that emotional state. And so it is very important to me that cinema is a sensory and immersive medium, because I actually think that it is a terrible medium for words. To contrary [!], however, it is a wonderful medium for doubt, for silences, for pauses, for moments when people don’t know what to say or don’t believe the words they are saying or hearing.8

Oppenheimers Äußerung legt einige Annahmen über filmische Empathie im Allgemeinen nahe, denen ich in diesem Beitrag nachgehen möchte: Demnach ist Empathie nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches und moralisches Phänomen. Sie ist gesellschaftlich bedeutsam, kann kollektive Traumata und Erinnerungsgewebe nachvollziehbar machen. Dabei ist sie nicht zwingend an einseitige Parteinahme gebunden, ist flexibel, kann sich nacheinander verschiedenen Personen und Konfliktparteien zuwenden. Auch Empathie mit Tätern ist möglich und nötig, sie kann die Empathie mit Opfern sogar vertiefen, zum Verständnis ihrer Situation beitragen. Filmische Empathie hängt möglicherweise weniger von Worten und sprachförmigem Denken ab (obwohl gerade Oppenheimers Filme auf Sprache angewiesen sind). Sie ist zunächst physisch und sinnlich, entsteht in der Begegnung mit Körpern, durch die Immersion in Räume und Atmosphären. So tauchen die Zuschauer von THE LOOK OF SILENCE in eine Welt der Schatten und dunkel leuchtenden Farben ein, eine Welt der schweißglänzenden Körper und kontrollierten Gesichter, der langsamen Bewegungen und der lastenden Stille. Diese Stille, das Schweigen, der Zweifel fordern empathische Bewegungen offenbar heraus. Mindestens zwei Arten von Empathie scheinen dabei ineinander zu greifen: das Erspüren verborgener Gedanken und Handlungsmotive und das physische Miterleben einer räumlich-situativen Umwelt. Dabei erinnert Oppenheimers Charakterisierung filmischer Empathie als immersives, sinnliches Gefühl, ein anderer Körper in einer anderen Umwelt zu sein, an jene fundamentalen, schwer greifbaren Erlebnisse, die der Philosoph Matthew Ratcliffe als »existentielle Gefühle« (existential feelings) bezeichnet. Gemeint sind körperliche, präintentionale Gefühle des eigenen Verhältnisses zur Welt

8

Oppenheimer, Joshua: »Human, All Too Human: The Look of Silence«, Interview ohne Angabe des Gesprächspartners, in: Four by Three Magazine, URL: http:// www.fourbythreemagazine.com/joshua-oppenheimer-interview.html (12.2.2016).

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insgesamt, etwa allumfassende Gefühle der Verlorenheit oder des Aufgehobenseins, der Bedeutsamkeit oder Sinnlosigkeit, der Realität oder Irrealität.9 Diese vorbewussten Körpergefühle des In-der-Welt-Seins lassen sich phänomenologisch hinsichtlich ihrer Sinnes-, Antizipations- und Weltstrukturen beschreiben und bilden eine Basis für andere Erfahrungen und Realitätsbezüge.10 Filme ermöglichen es offenbar, sogar derart grundlegende Erlebnisse empathisch zu teilen. Im Folgenden werde ich diese vorläufigen Annahmen schrittweise präzisieren und theoretisch begründen. Zunächst betrachte ich verschiedene Definitionen von »Empathie«, dann die Arten von Szenen, die als typische Beispiele für Empathie angeführt werden. Auf diesem Hintergrund positioniere ich mein eigenes Modell der Empathie im Film und komme schließlich auf das Mitempfinden existentieller Gefühle im Film zurück. Der Argumentationsgang soll nebenbei zeigen, dass Analysen der Empathie im Film auch verschiedene Grundprobleme philosophischer und psychologischer Empathie-Theorien erhellen, und zwar gerade deshalb, weil sich die Filmerfahrung von direkten Alltagsbegegnungen unterscheidet, eigene Möglichkeiten empathischen Erlebens bietet und empathische Mechanismen besonders klar hervortreten lässt.

E MPATHIEBEGRIFFE Bei der Beschäftigung mit Empathie kommt es regelmäßig zu Missverständnissen, weil der Alltagsbegriff von Empathie überaus diffus ist und in der Wissenschaft die unterschiedlichsten Definitionen kursieren.11 Einige lassen sich unter dem Oberbegriff der kognitiven Empathie zusammenfassen. Ihnen gilt Empathie als Vorgang des Wahrnehmens, Denkens oder Imaginierens, durch den man mentale Prozesse einer anderen Person erfasst, ohne notwendigerweise selbst Gefühle zu empfinden. Dabei wird angenommen, dass man entweder (1) den Zu-

9

Ratcliffe, Matthew: »The Feeling of Being«, in: Journal of Consciousness Studies 12/8-10 (2005), S. 43-60, S. 49

10 J. Eder: Films and Existential Feelings. 11 Das Folgende stützt sich vor allem auf Battaly, Heather D.: »Is Empathy a Virtue?«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 277-301 und Coplan, Amy: »Understanding Empathy. Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Goldie, Peter (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 3-18.

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stand der anderen direkt wahrnimmt, (2) alltagspsychologisches Wissen auf die andere Person anwendet, (3) sich selbst in deren Situation versetzt, oder (4) sich vorstellt, die andere Person mit ihren Eigenschaften in ihrer Situation zu sein. Dagegen lässt sich eine Reihe weiterer Konzepte unter dem Oberbegriff der affektiven Empathie subsumieren: Man reagiert affektiv auf die wahrgenommenen Gefühle oder Situationen einer anderen Person, indem man (5) sie mitempfindend teilt, (6) sich zu ihnen mit eigenen Gefühlen verhält (etwa faszinierter Schaulust) oder (7) am Wohlergehen der anderen Anteil nimmt (ob nun mit Sympathie oder Antipathie). Zudem können empathische Prozesse einerseits als vorbewusst und automatisch angesehen werden (lower-level empathy), andererseits als bewusst und kontrolliert (higher-level empathy).12 Das vorbewusste, körperliche Mitempfinden wird auch als somatische Empathie oder embodied empathy bezeichnet und der bewusst imaginierenden Empathie gegenübergestellt.13 Theorien der erweiterten Empathie (oder der Einfühlung) gehen überdies davon aus, dass sensorisch-affektives Mit-Fühlen sich auch auf unbelebte Objekte richtet: Demzufolge kann man etwa mitempfinden, wie sich ein »leicht dahinschwebendes« Frisbee fühlen würde, wenn es ein empfindungsfähiges Wesen wäre.14 Manche Autoren bezeichnen bereits einzelne der genannten Vorgänge als Empathie, doch eine Mehrheit nimmt an, dass eine spezifische Verbindung solcher Prozesse vorliegen muss. Dabei sind die vorgeschlagenen Kombinationen abermals unterschiedlicher Art. Die meisten Theorien führen affektive Empathie auf kognitive zurück, doch sind sie sich höchst uneinig darüber, wie dieses Mitfühlen-durch-Fremdverstehen genau geschieht.

12 Coplan, Amy/Goldie, Peter: »Introduction«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, ix-xlvii, xxxiii. 13 Vgl. C.N. Brinckmann: Empathie im Dokumentarfilm. Eine Fallstudie; Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man. Somatic Empathy and Imaginary SelfExtension

in

Arnold

Schwarzenegger’s

Hard-Body

Movies«,

in:

Simon

Wendt/Michael Butter/Patrick Keller (Hg.), Arnold Schwarzenegger. Interdisciplinary Perspectives on Body and Image. Heidelberg: Winter 2011, S. 103-127; Bruun Vaage, Margrethe: »Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement«, in: Midwest Studies in Philosophy 34/1 (2010), S. 158-179. 14 Vgl. Currie, Gregory: »Empathy for Objects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 82-95; Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink 2009.

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Die Bandbreite unterschiedlicher Konzepte zeigt, dass es sinnlos wäre, über den »richtigen« Empathiebegriff zu streiten. Empathie lässt sich letztlich nur durch eine stipulative Definition bestimmen, die für die jeweilige Fragestellung geeignet ist. Mir geht es in diesem Beitrag um die Fragen, inwieweit Filme das Erleben ihrer Zuschauer dem Erleben dargestellter Wesen annähern können, welche Formen eines solchen Mit-Fühlens es gibt und durch welche Verfahren es erzeugt wird. Mein Beitrag konzentriert sich deshalb auf die Empathie mit Personen und rückt das Teilen oder Mitempfinden affektiver Erlebnisse in den Mittelpunkt. Im Folgenden wird unter »Empathie« vorläufig ein Prozess der Annäherung eigener Gefühle an die Gefühle anderer Personen verstanden. Der Ausdruck »Annäherung« lässt den Vorgang und sein Ergebnis zunächst bewusst offen: Empfinden die Empathisierenden die gleichen, ähnliche oder kongruente Gefühle? Mischen diese sich mit weiteren Affekten, bleiben grundsätzliche Differenzen des Fühlens bestehen? In jedem Fall erfordert Empathie in diesem Verständnis eine Form der affektiven Übereinstimmung zwischen Personen. Auf dieser Annahme beruht auch die lange etablierte Unterscheidung zwischen Empathie als Fühlen mit jemandem und Sympathie als Fühlen für jemanden.15 Das klassische Filmbeispiel für eine sympathisierende Parteinahme ohne empathisches Mit-Fühlen ist die Anfangssequenz von JAWS (US 1975, Steven Spielberg, DER WEISSE HAI).16 Fröhlich badet ein junges Mädchen im nächtlichen Meer, während die Zuschauer schon angstvoll ahnen, dass es gleich von einem gewaltigen Hai attackiert wird. Gerade weil sie sich für das Wohlergehen des Mädchens interessieren, könnte ihre entsetzte Erwartung kaum weiter von dessen Ausgelassenheit entfernt sein. Diskrepante Anteilnahme ist aber auch in Komödien verbreitet (als Lachen über Figuren) oder kann die Form von Antipathie annehmen (etwa Schadenfreude über das Unglück von Schurken). Die meisten Theorien gehen davon aus, dass Sympathie und Antipathie wesentliche Formen des Filmerlebens darstellen. Dagegen ist umstritten, wann, wo und wie häufig Empathie im Film vorkommt. Die theoretischen Positionen zu dieser Frage lassen sich drei Gruppen zuordnen: (A) Empathisches Mit-Fühlen kommt im Film fast nie vor, allenfalls als Nebenaspekt von Sympathie; (B) es ist der vor-

15 »By the 1960s, the idea that to sympathize meant ›to feel for‹ or ›to pity,‹ whereas to empathize meant ›to feel with‹ or to experience the thoughts and feelings of another, was becoming dominant.« (Hammond, Meghan Marie/Kim, Sue J. (Hg.): Rethinking Empathy through Literature, New York: Routledge 2014) 16 Vgl. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, New York: Routledge 1990; Neill, Alex: »Empathie und (filmische) Fiktion«, in diesem Band.

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herrschende Modus des Filmerlebens; oder (C) es ist auf Filmsequenzen mit bestimmten Merkmalen beschränkt. (A) Einige Filmtheorien halten das empathische Mitfühlen im Film für unwahrscheinlich, ungreifbar oder unwichtig. So verwenden Ed Tan und Hans J. Wulff zwar den Terminus »Empathie«, definieren ihn aber so weit, dass er auch das sympathisierende Fühlen für jemanden einschließt.17 Auch Carl Plantinga geht davon aus, dass Zuschauer stets eine unauflösliche Mischung aus Sympathie und Empathie empfinden.18 Murray Smith unterscheidet zwischen Sympathie und Empathie, weist letzterer aber nur eine dienende Nebenrolle zu.19 Sie alle sind der Ansicht, dass sich Zuschauer- und Figurenperspektiven prinzipiell voneinander unterscheiden, weil das Verstehen sozialer Handlungsräume und Situationsbedeutungen einen ständigen Wechsel der Zuwendung zu verschiedenen Figuren erfordert. (B) Im Gegensatz dazu gehen andere Autoren davon aus, dass empathisches Mitfühlen – auch mit wechselnden Figuren – sich als dominante Form des Erlebens durch den gesamten Film zieht.20 Zurückgeführt wird dies zum einen auf unwillkürliche somatische Ansteckungsphänomene (etwa spiegelneuronale Reaktionen auf Handlungen oder Ausdrucksverhalten beobachteter Akteure), zum anderen auf gemeinsam mit diesen Akteuren wahrgenommene Handlungsoptionen dargestellter Situationen, die in Prozessen körperlich-situierter Wahrnehmung »simuliert« werden (beispielsweise Möglichkeiten des Abstiegs von einer Klippe). Solche Handlungsimpulse werden von den Zuschauern zwar nicht ausagiert, zeigen sich aber z.B. beim Festklammern am Kinosessel, wenn eine Figur abzustürzen droht. Demzufolge findet Empathie als mitfühlende »Simulation«

17 Vgl. Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine. MahWah, NJ: Erlbaum 1996, S. 173f.; Wulff, Hans. J.: »Empathie als Dimension des Filmverstehens: Ein Thesenpapier«, in: montage/av 12/1 (2003), S. 136-161, S. 144. 18 Vgl. Plantinga, Carl: Moving Viewers: American Film and the Spectator’s Experience, Berkeley: University of California Press 2009, S. 72, 99. 19 Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Oxford University Press 1995. 20 Mit unterschiedlichen Akzenten: T. Grodal: Embodied Visions, S. 181-204; Gallese, Vittorio/Guerra, Michele: »Embodying Movies: Embodied Simulation and Film Studies«, in: Cinema. Journal of Philosophy 3 (2012), S. 183-201, http://www. neurohumanitiestudies.eu/archivio/3_Gallese__Guerra.pdf; Cook, Roger F.: »Embodied Simulation, Empathy and Social Cognition: Berlin School Lessons for Film Theory«, in: Screen 56/2 (2015), S. 153-171.

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der Situation beobachteter Akteure immer dann statt, wenn ein Film entsprechende Reize (beispielsweise Körperbewegungen, Gesichtsausdrücke oder Zielobjekte) visuell oder akustisch hervorhebt. Würden die Zuschauer allerdings mit jeder körperlich handelnden Figur empathisieren, die gerade in Bild und Ton erscheint, ließe sich beispielsweise Empathie in Situationen, in denen kein körperliches Handeln gezeigt wird, sondern nur Sprechakte oder gar Schweigen wie in THE LOOK OF SILENCE, nur schwer erklären. So nennt Torben Grodal weitere Faktoren, die das Mitfühlen beeinflussen21: die antizipierten Folgen der Situation, die Werte der Zuschauer, distanzierende »Filter« (z.B. komische Übertreibung) und die Frage, ob die Figur selbst zum Objekt von Handlungsimpulsen der Zuschauer wird (etwa des Helfens oder der Aggression). Nur im letzteren Fall entwickelt sich laut Grodal Sympathie bzw. Antipathie.22 Filmzuschauer positionieren sich demnach zwar gelegentlich als distanzierte Beobachter oder imaginäre Interaktionspartner der dargestellten Figuren, meist vollziehen sie jedoch deren Situationen körperlich-affektiv mit.23 (C) Damit schlägt Grodal eine Brücke zu einer dritten Gruppe, deren Vertreter davon ausgehen, dass Empathie eine wichtige Form des Filmerlebens ist, aber nur in bestimmten Arten von Filmsequenzen besonders hervortritt.24 Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass er die variablen Grade der Übereinstimmung mit den Gefühlen von Figuren beschreiben und auf Merkmale der Filmsequenzen zurückführen kann. Allerdings differieren die prototypischen Beispiele verschiedener Theorien ganz erheblich. Angeführt werden mindestens vier Typen von Szenen: (1) vervollständigungsbedürftige Konfliktszenen, (2) expressive Szenen intensiver Emotionen (mit oder ohne Konflikt), (3) ruhige Szenen der Informationsreduktion sowie (4) Szenen des Teilens von Antagonisten-Zielen. Der fol-

21 T. Grodal: Embodied Visions, S. 201f. Vgl. auch J. Hanich: Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man. 22 Vgl. T. Grodal: Embodied Visions, S. 199 23 Ebd., S. 203 24 Zu dieser Gruppe zähle ich etwa Barratt, Daniel: »Tracing the Routes to Empathy: Association, Appraisal, or Simulation?«, in Film Studies: An International Review 8 (2006), S. 39-52; Gaut, Berys: »Empathy and Identification in Cinema«, in: Midwest Studies in Philosophy. Special Issue: Film and the Emotions 34/1 (2011), S. 136-157; Stadler, J.: »Empathy and Film«, in: Heidi L. Maibom (Hg.), Routledge Handbook of Philosophy of Empathy, New York: Routledge 2016/im Druck; M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement; J. Hanich: Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man.

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gende Vergleich veranschaulicht die verschiedenen Erklärungen für das Entstehen von Empathie, die sich mit diesen Beispielen verbinden.

E MPATHIESZENEN (1) In seinem viel diskutierten Buch Kulturen der Empathie geht Fritz Breithaupt davon aus, dass empathische Prozesse in der Literatur und im Film durch vervollständigungsbedürftige Konfliktszenen freigesetzt werden. Die »Urszene« narrativer Empathie ist ihm zufolge eine »Dreierszene«, in der ein Beobachter Partei in einem Konflikt ergreift: »Empathie ist die Zugehörigkeit, die man empfindet, wenn man die Partei für den einen (und nicht den anderen) ergriffen hat. Hervorgerufen wird diese Zugehörigkeitsempfindung durch die (emotionalen und rationalen) Strategien, durch die man seine Entscheidung zur Parteinahme narrativ legitimiert«.25 Erst die Parteinahme führe dazu, dass Blockaden des körperlich-affektiven Mitfühlens aufgehoben würden und sich dieses auf ein bestimmtes Ziel richte. Theorien, die von einem ständigen Mitfühlen ausgehen (Gruppe B), könnten sonst nicht erklären, warum sich dieses gerade auf bestimmte Figuren einer Konfiguration richte und nicht auf andere. Breithaupt illustriert dieses Empathieverständnis anhand von Fontanes Roman Effi Briest, seine Aussagen lassen sich auf manche seiner Verfilmungen übertragen. Die Titelheldin Effi gerät durch ihre unglückliche Ehe und eine Liebesaffäre in Konflikt mit ihrem Mann, ihrer Familie und der Gesellschaft. Als Empathie-Beispiele führt Breithaupt Szenen an, in denen Effi durch andere Figuren, darunter ihre eigene Mutter, verkannt wird. Wir empathisieren, so Breithaupt, gerade deshalb mit ihr, weil die anderen Figuren dies nicht tun und die Erzählung Informationen über Effis Innenleben zurückhält. Diese Leerstellen der Narration zwängen das Publikum zu imaginativen Vervollständigungsbewegungen, die Effis Verhalten erklären, spontane Parteinahme für sie begründen und Blockaden des Mitfühlens aufheben. Das Medium Film erschwere solche narrativen Imaginationen allerdings durch seine Konkretheit und Zeitlichkeit, es rufe nur schnelle, kurzlebige Imaginationsbewegungen hervor und sei dadurch weniger empathisch als die Literatur.26

25 F. Breithaupt: Kulturen der Empathie, S. 116. Murray Smith (1995) würde die Parteinahme als sympathisierende allegiance mit einer Figur bezeichnen. Demnach wäre Sympathie der entscheidende Faktor zur Freisetzung von Empathie. M. Smith: Engaging Characters. 26 F. Breithaupt: Kulturen der Empathie, S. 145.

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Es überrascht wenig, dass die Filmwissenschaft dies ganz anders sieht. Zum einen kann sie durchaus auf Filme verweisen, die ihre Zuschauer durch langsames Erzählen und narrative Leerstellen zu vervollständigenden Imaginationen anregen. Bei THE LOOK OF SILENCE ist dies beispielsweise der Fall. Wir haben es hier oft mit Situationen zu tun, wie sie Breithaupt beschreibt: Wir beobachten Konflikte zwischen Opfer und Täter, in denen beide versuchen, ihre Emotionen zu kontrollieren, sie dem anderen nicht preiszugeben. Wenn man die Situation verstehen will, ist man gezwungen, sich vorzustellen, was beide Gesprächspartner denken und fühlen: etwa den mühsam beherrschten Groll und die verzweifelte Hilflosigkeit des Hinterbliebenen, die zurückgedrängten Schuldgefühle des Mörders, seine Ängste vor Rache. Die dafür erforderliche Zeit gewähren längere Phasen der Stille während der Gespräche und zwischen ihnen. Auf Grundlage der imaginativen Vervollständigung könnte die sympathisierende Parteinahme mit dem Opfer auch ein empathisches Mitfühlen freisetzen. (2) Doch führen Filmwissenschaftlerinnen als prototypische Beispiele für Empathie auch Szenen an, die sich erheblich von Breithaupts konflikthaften »Dreierszenen« unterscheiden. In mehrerer Hinsicht konträr dazu verhalten sich etwa die expressiven Szenen intensiver Emotionen, die Carl Plantinga als »Szenen der Empathie« bezeichnet27: Am Ende von STELLA DALLAS (US 1937, King Vidor) beobachtet Stella, im Regen auf der nächtlichen Straße stehend, die Hochzeit ihrer Tochter, die sich ihr entfremdet hat; Tränen treten in ihre Augen. Am Schluss von YANKEE DOODLE DANDY (US 1942, Michael Curtiz) gerät der gealterte Showstar George Cohan in eine Militärparade, in der eines seiner patriotischen Lieder gesungen wird; tief bewegt stimmt er ein. In CITY LIGHTS (US 1931, Charlie Chaplin, LICHTER DER GROßSTADT) erkennt das vormals blinde Blumenmädchen im verspotteten Tramp Charlie endlich ihren früheren Wohltäter. Bei diesen Beispielen handelt es sich um Bittersweet Endings, doch vergleichbare Sequenzen finden sich auch in früheren Erzählphasen, etwa wenn die junge Morvern Callar im gleichnamigen Film um ihren Freund trauert und sich durch Musik von der Außenwelt abkapselt.28 In keiner dieser emotionalen Nachklang-Szenen befinden sich die Protagonisten in einer konflikthaften Auseinandersetzung, wie Breithaupt es voraussetzt. Sie sind allein, von Anwesenden ab-

27 Plantinga, Carl: »The Scene of Empathy and the Human Face on Film«, in: Carl Plantinga/Greg M. Smith (Hg.), Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999, S. 239-257, S. 239f. Trotz der Bezeichnung geht er von einer Mischung aus Empathie und Sympathie aus. 28 Vgl. z.B. Bruun Vaage, Margrethe: »Empathie. Zur episodischen Struktur der Teilhabe am Spielfilm«, in: montage/av 16/1 (2007), S. 101-120.

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geschieden oder in innige Zweisamkeit vertieft. Ihr äußerer Konflikt ist aufgelöst oder ruht vorläufig (auch wenn innere Konflikte fortbestehen), die Figuren empfinden jedenfalls keine agonalen Konflikt-Gefühle wie Wut, Angst oder Hass, sondern starke Gefühle der Liebe oder der Hoffnung, des Schmerzes oder des Glücks, die von den Zuschauern mit Rührung begleitet werden. Dabei halten die Szenen auch keineswegs Informationen über das Innenleben der Figuren zurück, vielmehr steigern sie dessen Ausdruck gerade mittels Großaufnahmen des Gesichts, Point-of-View-Strukturen, Mood Music und anderer Verfahren. Diese expressive Intensität soll die Zuschauer laut Plantinga dazu bewegen, die inneren Vorgänge der Figuren zu erfassen und kongruente Gefühle zu entwickeln, die mit den Wünschen der Figuren übereinstimmen29: Wenn die Figur trauert, sollen die Zuschauer zumindest Mitleid empfinden, nicht Schadenfreude. Während Plantingas »Szenen der Empathie« weder einen interpersonalen Konflikt zeigen noch Informationen über das Innenleben der Figuren zurückhalten, verweisen andere Theorien auf Empathie-Sequenzen, die jeweils nur eines dieser beiden Merkmale erfüllen. Margrethe Bruun Vaage untersucht attraction scenes wie die Höhepunktszene von Peter Jacksons KING KONG (US 2005)30: Von seiner menschlichen Freundin Ann begleitet, verteidigt sich der Riesengorilla auf der Spitze des Empire State Building mit wilder Verzweiflung gegen angreifende Flugzeuge. Die Kampfsequenz ist eingerahmt von elegischen »Szenen der Empathie«, doch auch während des Kampfes werden die filmischen Stilmittel überaus expressiv eingesetzt und sollen bei den Zuschauern offenbar Gefühle hervorrufen, die denen Anns oder Kongs ähneln: etwa Schwindelgefühle angesichts der Höhe, Erschrecken über die vorbeibrausenden Flugzeuge, Zuneigung zu Ann und Kong, Wut auf die Angreifer und Traurigkeit über Kongs unvermeidlichen Tod. Expressive Empathieszenen können also durchaus konflikthaft sein und agonale Emotionen vermitteln. Entscheidend ist, dass die Figuren durch ihren Ausdruck intensiver Emotionen bei den Zuschauern ähnliche oder kongruente Gefühle auslösen. Solche ausdrucksstarken Höhe- und Wendepunkte entsprechen vermutlich am ehesten dem Alltagsverständnis von Empathie im Film. (3) Wiederum in markantem Gegensatz dazu stehen Szenen der Informationsreduktion, die innere Konflikte oder alltägliche Spannungen darstellen, die kaum ausagiert werden. Bruun Vaages Beispiel ist eine Szene aus Hou HsiaoHsiens CAFÉ LUMIÈRE (TW/JP 2003)31: Die schwangere Yoko wird von ihrem

29 C. Plantinga: The Scene of Empathy and the Human Face on Film, S. 245. 30 M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement, S. 168f. 31 Ebd., S. 172-175.

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Vater und ihrer Stiefmutter in Tokio besucht. Als sie in ihrer Wohnung zusammen essen, eröffnet Yoko den beiden, dass sie den Vater ihres Kindes nicht heiraten wird. Es entsteht eine angespannte Atmosphäre. Während die Stiefmutter nachhakt, isst Yokos Vater schweigend weiter und vermeidet jeden Blickkontakt. Da er in der Halbtotalen und im Profil gezeigt wird, sind keine Details seiner Mimik sichtbar. Yokos Gesicht wird durch den Körper ihrer Stiefmutter verdeckt. Die Zuschauer haben also keine mimischen oder sprachlichen Anhaltspunkte, um die Gefühle der Figuren zu erkennen; sie werden auf den situativen Kontext verwiesen. Das Verhalten beider Figuren könnten sie darauf zurückführen, dass es Vater und Tochter nicht gelingt, miteinander zu reden: Yoko wagt nicht, ihren Vater anzusprechen, und er findet keine angemessene Reaktion. Daraus resultierende Stimmungen der Anspannung können sich auf die Zuschauer übertragen, wenn diese sich an eigene Lebenserfahrungen erinnern. Entdramatisierte Szenen dieser Art sind im Independent- und Autorenfilm verbreitet, etwa bei Antonioni oder der Berliner Schule. Um die Zuschauer zum imaginativen Mitvollzug des Figurenerlebens einzuladen, erfolgt die Darstellung der Alltagssituationen typischerweise ruhig und langsam. Filmische Ausdrucksformen werden zurückhaltend eingesetzt: Die Kamera nimmt Distanz zum Geschehen, die Schauspieler »unterspielen«, im Dialog kommen Gefühle nicht zur Sprache etc.32 Wollen die Zuschauer die Gedanken und Gefühle der Charaktere verstehen, sind sie darauf angewiesen, sich in ihre Situation hineinzuversetzen und dabei auf Kontextinformationen und eigene Erfahrungen zurückzugreifen. Solche Szenen weisen Ähnlichkeiten zu Breithaupts vervollständigungsbedürftigen Konfliktszenen auf, sind aber keineswegs mit ihnen gleichzusetzen. Zwar enthalten auch sie kaum Informationen über das Innenleben der Figuren und fordern dadurch die Imagination der Zuschauer heraus. Doch im Gegensatz zu Breithaupts »Dreierszenen« ist in ihnen oft keine eindeutige Parteinahme möglich. Sie lösen eher ambivalente Haltungen aus, zumal die Figuren häufig keine klaren Gegner haben oder alleine mit inneren Konflikten ringen. Empathie sollte daher nicht auf Parteinahme zurückgeführt werden, sondern eher auf ein mitvollziehendes Problemlösen, das auch Einzelne betreffen kann. Strittig ist zudem, ob solche Szenen Breithaupts Kriterium erfüllen, das körperliche Mitfühlen freizusetzen. Bruun Vaage zufolge rufen sie keine embodied empathy hervor, sondern imaginative Empathie eher intellektueller Art.33

32 Vgl. Chatman, Seymour: Antonioni, or, The Surface of the World, Berkeley: University of California Press 1985. 33 M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement, S. 167.

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(4) Eine letzte Gruppe von Empathie-Beispielen sind Szenen, in denen die Zuschauer die Ziele von Antagonisten teilen (was zeigt, dass sie keineswegs nur mit sympathischen Figuren empathisieren). Dazu gehört etwa die Szene aus PSYCHO (US 1960, Alfred Hitchcock), in der Norman Bates nach dem Mord an Marion Crane ihren Wagen im Sumpf versenken will, um Spuren zu verwischen. Als das Auto für einen Moment stecken bleibt, sollen die Zuschauer gemeinsam mit Bates darauf hoffen, dass es endlich ganz versinkt. Dokumentierte Reaktionen deuten darauf hin, dass viele tatsächlich so empfinden. Abermals handelt es sich um ein Gegenbeispiel zu Breithaupts Entwurf: Weder liegt eine »Dreierszene« vor (Auto oder Sumpf sind keine Personen, mit denen man empathisieren könnte) noch ein Konflikt zwischen zwei Parteien, und würden die Zuschauer Bates’ Motive erschließen, würden sie wohl nicht für ihn Partei ergreifen. Dass die Zuschauer vorübergehend seinen nervösen Wunsch teilen, das Auto möge versinken, lässt sich zudem weder auf spiegelneuronales Mitempfinden körperlicher Aktionen zurückführen (Norman sieht nur zu) noch auf Emotionsauslöser der Situation (diese sind nur schwach ausgeprägt). Daniel Barratt erklärt die Reaktion der Zuschauer dadurch, dass diese bei der Beobachtung von Handlungen automatisch eine selbstbezogene Perspektive einnähmen (ich bin es, der dies gerade erlebt), wenn es keine starken Gegenindikatoren gebe.34 Die Situationswahrnehmung »Jemand versenkt ein Auto« aktiviere unbewusst das selbstzentrierte Handlungsschema »Ich versenke ein Auto«. Die Einstellungen auf Norman führten dann dazu, dass die Zuschauer ihm dasselbe Ziel zuschrieben. So könnte ein Mitfühlen mit Psychopathen gerade deshalb stattfinden, weil die Zuschauer deren Innenleben nicht imaginativ erschließen, sondern ihnen ihre eigenen situationsbezogenen Gefühle unterstellen.

E MPATHIE

ALS VIELSCHICHTIGES

P HÄNOMEN

Die Unterschiedlichkeit der Beispielszenen und ihre teils komplementären Erklärungen deuten darauf hin, dass Empathie ein vielschichtiges Phänomen ist, das auf diversen Wegen hervorgerufen werden kann. Das spricht gegen eng gefasste Definitionen wie jene der Philosophin Amy Coplan, die drei Kriterien für Empathie nennt35: Die Beobachterin soll erstens affektive Vorgänge desselben Typs wie die Beobachtete erleben, z.B. Freude. Dies soll zweitens aufgrund einer aktiven Perspektivenübernahme geschehen, bei der die Beobachterin sich vorstellt,

34 D. Barratt: Tracing the Routes to Empathy. 35 A. Coplan: Understanding Empathy.

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sie sei die Beobachtete in deren Situation. Zugleich soll sie sich drittens stets bewusst sein, dass sie nicht die Beobachtete ist. Derart anspruchsvolle Definitionen markieren einen idealtypischen Kern des Begriffs, schließen aber viele der obigen Beispiele aus und erschweren es, die Ausgangsfrage zu beantworten: wie Filme ein mitfühlendes Verständnis anderer Personen unterstützen können. Dafür geeignetere Empathie-Begriffe haben Frans de Waal und Martin Hoffman entwickelt. Hoffman versteht unter Empathie Prozesse, in denen eine Person Gefühle entwickelt, die eher zur Situation eines anderen als zur eigenen passen.36 Dies könne nicht nur durch bewusste Perspektivenübernahme oder ein Nachdenken über eigene Erfahrungen erfolgen, sondern auch vorbewusst durch motor mimicry, konditionierte Reize oder die Assoziation emotionaler Erinnerungen. In vergleichbarer Weise unterscheidet De Waal zwischen mehreren Schichten empathischen Mitfühlens37: Dessen Kern bilde die automatische Tendenz, wahrgenommene Handlungen anderer ähnlich wie eigenes Handeln zu erleben (perception-action mechanism), auf der komplexere Schichten des bewussten Mitfühlens aufbauen. Solche Ansätze haben gegenüber engen Empathie-Definitionen den Vorteil, dass sie das Zusammenwirken verschiedener Formen des Mitfühlens beschreiben können, dabei nicht nur bewusste Emotionen erfassen, sondern auch unterschwellige Stimmungen und Empfindungen, und der Zeitlichkeit von Empathie Rechnung tragen. Selbst die von Coplan beschriebenen Prozesse müssen ja nicht simultan stattfinden, sondern können aufeinander folgen: Ein unwillkürliches Mitfühlen löst eine bewusste Perspektivenübernahme aus; nach einem Film beginnt man sich intensiver in die Hauptfigur einzufühlen usw. Deshalb ist es wichtig, die Dynamik empathischer Prozesse in ihren zeitlichen Wechselwirkungen beschreiben zu können, die im Film durch medienspezifische Verfahren gezielt gelenkt werden. Etliche filmspezifische Empathieprozesse werden durch bisher vorliegende Theorien nicht erfasst. Im Folgenden skizziere ich deshalb in gedrängter Form meinen eigenen Vorschlag zum Verständnis der Empathie im Film als einem mehrschichtigen Phänomen des Mit-Fühlens und der Perspektivenüberlagerung.38

36 Hoffman, Martin: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge: Cambridge University Press 2000. 37 De Waal, Frans: »Putting the Altruism back into Altruism. The Evolution of Empathy«, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), S. 279-300. 38 Vgl. J. Eder: Die Figur im Film; ders.: Aus der Täterperspektive; ders.: Films and Existential Feelings.

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Wie alle affektiven Phänomene bestehen empathische Prozesse aus mehreren miteinander verkoppelten Teilprozessen, die sich im Zeitverlauf entwickeln: (1) perzeptuelle und kognitive Reaktionen auf äußere und innere Reize, (2) neuronale, hormonelle, muskuläre und andere Körpervorgänge, (3) Verhaltenstendenzen des Ausdrucks und des Handelns sowie (4) subjektives Erleben dieses Gesamtzusammenhangs.39 Filme lenken die affektiven Prozesse ihrer Zuschauer durch eine komplexe Konstellation intersubjektiv wirksamer Reize auf vier Ebenen: wahrnehmbare Formen (Bilder, Klänge, Bewegungsmuster etc.), dargestellte Welten (Figuren, Objekte, Ereignisse etc.), übergeordnete Bedeutungen (Themen, Aussagen, Symbolik etc.) und über den Film hinausweisende Kontextbezüge (Para- und Peritexte, Zitate etc.). In Reaktion auf diese affektiven Reize entwickeln sich diverse Arten von Zuschauergefühlen (Empfindungen, Stimmungen, Emotionen u.a.) über vier Rezeptionsebenen hinweg: die vorbewusste Wahrnehmung von Bildern und Tönen, die mentale Modellierung dargestellter Welten, das Erschließen übergeordneter Bedeutungen und die Reflexion über kommunikative Kontexte (einschließlich der ästhetischen Form des Films und der eigenen Zuschauerreaktionen). Diese Rezeptionsebenen interagieren miteinander; die heuristische Differenzierung zwischen ihnen macht jedoch deutlich, dass filmische Empathie in ein Feld affektiver Wirkungsbezüge eingebettet ist, das über die dargestellte Welt und ihre Figuren hinausreicht. Sie wird durch die Formen, Bedeutungen und Kontextbezüge des Films beeinflusst, kann sich auch auf Erzählinstanzen und Filmemacher erstrecken und hängt mit Meta-Emotionen zusammen, die selbstreflexiv auf eigene Zuschauergefühle reagieren (etwa Stolz auf die eigene Empathiefähigkeit). Das wird in etlichen Theorien übersehen, die ausschließlich das Verhältnis der Zuschauer zu den Figuren betrachten. Die dargestellte Welt und ihre Figuren bleiben für empathische Prozesse zentral, doch ist Empathie auch hier eingebettet in weitere Formen der affektiven Anteilnahme an Figuren, etwa die Faszination durch das Ungewöhnliche; Sympathie oder Antipathie aufgrund intersubjektiver Werte moralischer wie außermoralischer Art (Vitalität, Humor, Intelligenz); Anteilnahme aufgrund subjektiver Interessen (erotisches Begehren, politische Ziele) oder die neugierige, gespannte und überraschte Beobachtung von Konflikten.40 Diese sympathetischen Reaktionen mischen sich mit empathischen. Dargestellte Figuren und Situationen sind den Filmzuschauern dabei nicht unmittelbar gegeben, sondern werden von ihnen erfasst, indem sie mentale Modelle bilden: multimodale, dynamische

39 Vgl. z.B. Moors, Agnes: »Theories of Emotion Causation: A Review«, in: Cognition & Emotion 23/4 (2009), S. 625-662. 40 J. Eder. Die Figur im Film, Kap. 12 und 13.

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mentale Repräsentationen, die sprachliche, bildliche, akustische und andere Impulse des Films mit Wissensbeständen der Zuschauer zu einer anschaulich erlebten Ganzheit verknüpfen, die sich im Zeitverlauf verändert. Mentale Figurenmodelle repräsentieren die Eigenschaften dargestellter Wesen in einer bestimmten Struktur und Perspektivierung. Sie sind wiederum in Modelle narrativer und kommunikativer Situationen eingebettet und korrespondieren mit Selbstmodellen der Rezipienten. Mit diesem Ansatz zur Filmrezeption, den ich anderswo ausführlicher dargelegt habe41, lassen sich aktuelle philosophische Theorien des Fremdverstehens nahtlos verbinden, insbesondere Albert Newens Personenmodell-Theorie.42 Newen entwickelt aus einer Kritik etablierter Erklärungen des Fremdverstehens (Theorie-Theorie, Simulationstheorie, Interaktionstheorie, Narrationstheorie) zunächst den Multiplicity View, der besagt, dass es für das Verstehen anderer keine Standardstrategie gibt, sondern je nach Situation und Erfahrungshintergrund auf eine Vielfalt verschiedener Strategien zurückgegriffen wird (direkte Wahrnehmung, Interaktion, Simulation, alltagspsychologische Schlüsse). Dabei stützt sich der Verstehensprozess auf Vorwissen über die betreffende Person, ihre soziale Gruppe, Personen im Allgemeinen, die beobachtende Person selbst sowie über gegenwärtige und andere relevante Situationen. Dieses Wissen ist in Form mentaler Modelle organisiert. Um Empathie im Film zu erklären, reicht eine solche Theorie des Fremdverstehens aber nicht aus. Erstens muss medienspezifisches Wissen der Zuschauer berücksichtigt werden (z.B. das Wissen, dass ein Protagonist meistens moralisch gut ist). Zweitens werden die Verstehensprozesse durch den Film und dessen Formen, Themen und Kontextbezüge gelenkt. Drittens sind mentale Modelle perspektivisch. Unter »Perspektive« verstehe ich das körperlich-mentale Verhältnis zu Gegenständen einer Umwelt in Akten des Wahrnehmens, Denkens, Bewertens, Wollens und Fühlens.43 Die perzeptuellen, epistemischen, evaluativen, motivationalen und affektiven Perspektiven von Figuren, Erzählinstanzen und Zuschauern lassen sich zueinander in Beziehung setzen und können sich mehr oder weniger ähneln.44 Die klassische Narratologie beschränkt sich hier auf den Aspekt der perzeptuellen und epistemischen Fokalisierung: Was sieht, hört

41 J. Eder. Die Figur im Film. 42 Newen, Albert: »Understanding Others. The Person Model Theory«, in: Thomas Metzinger/Jennifer M. Windt (Hg.), Open MIND. Philosophy and the Mind Sciences in the 21st Century, Frankfurt am Main 2015, doi: 10.15502/9783958570320 43 Näher ausgeführt ist dieses Konzept in J. Eder: Die Figur im Film, S. 565-646. 44 Vgl. auch B. Gaut: Empathy and Identification in Cinema.

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und weiß die Figur, was die Zuschauerin? Doch muss man darüber hinausgehen: Wie bewerten Figuren, Erzählinstanzen und Publikum die Situation? Welche Gefühle empfinden sie jeweils? Solche Vergleiche von Figuren- und Zuschauerperspektiven können nur retrospektiv, aus analytischer Sicht erfolgen; »Empathie« ist ein Beobachtungsbegriff. Von »Empathie« spreche ich dann, wenn eine partielle Überblendung oder Überlagerung der affektiven Perspektiven von Figur und Zuschauer vorliegt bzw. eine Annäherung der Zuschauer- an die Figurenperspektive stattfindet. Das bedeutet, dass beide zeitweise etwas Ähnliches fühlen, auch wenn sich ihre Gefühle in anderer Hinsicht unterscheiden können (beispielsweise durch zusätzliche Affektebenen der Zuschauer wie ein sentimentales Genießen). Ihre Gefühle müssen allerdings in relevanter Hinsicht ähnlich sein, also hinsichtlich zentraler Reize, Werte, Interessen, Ziele oder Weltverhältnisse. Filme weisen charakteristische Profile der Entwicklung von Empathie auf, des Wechsels zwischen verschiedenen Formen vorbewussten Mitfühlens und bewusster Perspektivannäherung. Beispielsweise können Filme gezielt Prozesse vorbewussten Mit-Fühlens auslösen, die zu einer aktiven Annäherungsbewegung an die affektive Perspektive der betreffenden Figur erst auffordern. Auch nach dem Film können sich solche Prozesse fortsetzen. Dabei bleiben jedoch stets unüberbrückbare Differenzen, es findet nie eine Übernahme der Perspektive statt, sondern nur eine graduelle Annäherung und partielle Überlagerung. Empathie hat Grenzen: Die Perspektive von Zuschauern weicht von der Perspektive der Filmakteure unvermeidlich ab. Die Propriozeption der Zuschauer ist in der Regel geprägt durch eine entspannte Haltung, ihre Emotionen sind BeobachterEmotionen (witness emotions45). Auch wenn Zuschauer virtuell mit-handeln, verfügen sie nie über dasselbe Gefühl der situativen Handlungsmächtigkeit wie dargestellte Akteure.46 Deren identitäre Emotionen wie Schuld oder Scham können sie allenfalls begrenzt mitempfinden47, und das Innenleben der Akteure kann so widersprüchlich oder pathologisch sein, dass es für Zuschauer nicht nachvollziehbar ist. Zur Distanz der Beobachtung kommt jene der Medialität. Die Erfahrungen von Mediennutzern sind grundiert durch ein unterschwelliges Medialitäts-, Kommunikations- und oft auch Fiktionsbewusstsein (»Es ist nur ein Film.«). Ih-

45 E. Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film. 46 Vgl. Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 302-317. 47 C. Plantinga: Moving Viewers, S. 156-166

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re Wahrnehmung wird gelenkt durch Montage, Bild- und Tongestaltung. Ihre Perspektive ist meist flexibel, wechselt zwischen verschiedenen Figuren. Ihre Empathie ist nur Teil eines affektiven Feldes, das viele andere Gefühle umfasst. Neben dieser empathischen Distanz bleiben stets empathische Lücken: Die Zuschauer teilen Figuren-Perspektiven nur in bestimmter Hinsicht, während andere Erlebnisse nicht mitempfunden werden. Je nach Merkmalen des Films und Perspektivenbeweglichkeit der Zuschauer kann Empathie unterschiedliche Intensität, Tiefe, Genauigkeit und Nachhaltigkeit erreichen. Empathische Tiefe betrifft die Frage, welche Gefühle eines Akteurs nachgebildet werden: Erfasst eine Zuschauerin nur wenige offenkundige Emotionen des Protagonisten, oder gelingt es ihr, darüber hinaus subtile Nuancen schwer greifbarer, fundamentaler Gefühle mitzuempfinden? Mit empathischer Genauigkeit ist der Grad gemeint, in dem die Gefühle der Zuschauer tatsächlich jenen des beobachteten Akteurs gleichen oder von ihnen abweichen. Und schließlich kann Empathie als nachhaltig bezeichnet werden, wenn sie auch nach dem Film wieder aufgerufen, vertieft und auf ähnliche Situationen und Personen übertragen werden kann. Die Tiefe, Genauigkeit und Nachhaltigkeit der Empathie, die ein Film bei seinem Publikum erreicht, können als Kriterien für seine Bewertung herangezogen werden.

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Die Frage ist nun, wie solche Formen der Empathie durch Filme hervorgerufen werden. Um dies zu veranschaulichen, komme ich auf THE LOOK OF SILENCE zurück. Dass der Film auch einem westlichen Publikum die Traumatisierung der indonesischen Gesellschaft durch die Massenmorde von 1965 näherbringen soll (die USA waren darin verwickelt), bedeutet eine doppelte Herausforderung für die filmische Lenkung von Empathie: Es gilt nicht nur, extreme, komplexe Gefühle mitempfindbar zu machen, sondern auch Unterschiede zur indonesischen Emotionskultur zu überbrücken, deren Ausdrucks- und Gefühlsregeln eine stärkere Kontrolle negativer sozialer Emotionen wie Wut oder Hass fordern.48 THE LOOK OF SILENCE wurde 2012 gedreht, hatte 2014 Premiere und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Es handelt sich um einen partizipatorischen Dokumentarfilm, dessen Situationen durch die Filmemacher provoziert werden, aber nicht weniger real sind. Er verzichtet auf jeglichen Erzählerkommentar und auf Spielfilm-typische Ausdrucksmittel. Sein Protagonist ist Adi, ein

48 Vgl. Heider, Karl G.: Landscapes of Emotion. Mapping Three Cultures of Emotion in Indonesia, Cambridge: Cambridge University Press 2006.

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Optiker mittleren Alters, dessen Bruder Ramli im Zuge der Kommunistenjagd auf bestialische Weise ermordet wurde. Teils unter dem Vorwand, ihnen neue Brillen anzupassen, konfrontiert Adi mehrere Täter mit ihren Verbrechen. Er möchte erreichen, dass sie ihre Schuld einsehen, ihre Taten bereuen und das Leid seiner Familie anerkennen, zugleich möchte er die Täter verstehen und ihnen vielleicht vergeben. Sein Bemühen darum wird in einer sich wiederholenden, losen Alternation von vier Sequenztypen erzählt: (1) Adi sieht sich frühere Interviews mit den prahlenden Mördern an, die Oppenheimer 2003 bei Recherchen gedreht hatte. (2) Er führt Gespräche mit einem Überlebenden, vier Mördern sowie den Frauen und Kindern zweier weiterer Täter. (3) Im Kreis seiner engsten Familie – Mutter, Vater, Frau und Kinder – verarbeitet er das Geschehen und tauscht sich darüber aus. (4) Diese Sequenzen werden durch ruhige Zwischenbilder voneinander geschieden, überwiegend Dämmerungs-Panoramen von Schauplätzen der Morde. Die Erzählung beginnt mit symbolischen Anfangsbildern und einer vorsichtigen Exposition des früheren Mordgeschehens mittels Oppenheimers Videomaterial, einer alten Fernsehreportage, Äußerungen von Zeitzeugen, vor allem aber der Voice Over von Adis greiser Mutter. Nach Erkundungen über die Gefühle der Täter und Opfer wird der Ablauf der Morde im Gespräch mit einem Täter und einem Überlebenden rekonstruiert, dann spricht Adi mit früheren Anführern, die mit Drohungen reagieren. Es stellt sich heraus, dass sein eigener Onkel in die Verbrechen verwickelt war. Ein Riss geht auch durch die Familie eines Täters: Dessen Tochter bittet Adi um Vergebung. Eine andere Täterfamilie lehnt ein Schuldeingeständnis dagegen aggressiv ab. Die Schlussbilder scheinen zu fragen, wie Adis Familie mit dieser Situation weiterleben kann. Um nachzuvollziehen, wie der Filmverlauf die empathischen Bewegungen der Zuschauer lenkt, entwickle ich einen Vorschlag aus früheren Arbeiten weiter und differenziere zwischen vier Grundformen empathischen Mitfühlens49: somatischer, situierter, projektiver und imaginativer Empathie (siehe Tabelle 1). Diese Formen der Empathie sind definiert durch die ihnen zugrunde liegenden Rezeptionsprozesse und entsprechende filmische Verfahren. Sie können einzeln vorkommen, in der Regel wirken sie aber zusammen und bilden ein Feld affektiver Impulse, die zu film- und situationsspezifischen Weisen des Mitfühlens führen.

49 Vgl. J. Eder: Die Figur im Film, S. 561-681; ders.: Aus der Täterperspektive; ders.: Films and Existential Feelings; die Terminologie wurde leicht geändert.

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Tabelle 1: Formen, Prozesse und Verfahren der Empathie im Film Empathieform

Zugrundeliegender Prozess

Filmische Verfahren

Somatische Empathie

Ansteckung durch körperliches Verhalten (Aktion, Ausdruck)

Expressive Präsentation des Figuren-Körpers

Situierte Empathie

Ähnliche Reaktionen auf geteilte Situationen

Präsentation der Situation (»Fokalisierung«, »emotionale Präfokussierung«)

Projektive Empathie

Projektion eigener Gefühle auf die Figur (jenseits geteilter Situationen)

Außerdiegetische, der Figur unzugängliche Sequenzen, Erzählerkommentare und Stilmittel (z.B. Musik)

Imaginative Empathie

Aktives Erschließen der Situationsbedeutung und Imagination aus der Perspektive der Figur

Informationsvergabe über Figur und Situation (Lücken, Neugierde)

Somatische Empathie: Die Beobachtung des körperlichen Handelns und Ausdrucksverhaltens anderer Personen kann bei Zuschauern ähnliche Gefühle in schwächerer Intensität auslösen.50 Diese unwillkürliche Affektübertragung lässt sich auf mehrere physische Ursachen zurückführen, insbesondere auf Spiegelneuronen und affektive Nachahmung (affective mimicry). Sie kommt besonders in Szenen intensiver Emotion und physischer Aktion zum Tragen, in Szenen des Kämpfens oder Tanzens, des Lachens oder Weinens (etwa in KING KONG oder Plantingas »Szenen der Empathie«). Somatische Empathie setzt reizintensive, realistische Darstellungen entweder der körperlichen Handlung oder des mimischen, gestischen und stimmlichen Ausdrucks der beobachteten Akteure voraus. Filme können deren expressives Körperverhalten durch Montage, Bild- und Tongestaltung hervorheben: Sie zeigen zitternde Mundwinkel in Großaufnahme, lassen angestrengtes Atmen sehr nah klingen, folgen akrobatischen Luftsprüngen mit der Kamera. In THE LOOK OF SILENCE ist eine solche Körperempathie eher

50 Vgl. oben über Theoriegruppe B und expressive Szenen; etwa T. Grodal: Embodied Visions; F. de Waal: Putting the Altruism back into Altruism; M. Hoffman: Empathy and Moral Development.

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schwach ausgeprägt. Die Konflikte des Films sind nicht physischer, sondern psychosozialer Art. Die Akteure sitzen meist. Ihre Körper sind stillgestellt, passiv, träge oder mit Alltagsroutinen befasst. Oft zeigen die nahen Einstellungen nur die Gesichter. Die der Täter werden mehrfach durch die Optikerbrille verfremdet und dadurch zu grotesken Gegenstände analytischer Aufmerksamkeit, nicht der Empathie. Adis Ausdrucksverhalten in den Konfliktgesprächen wirkt überaus beherrscht, nur gelegentlich wird die Anstrengung dieser Kontrolle spürbar oder durch Mikroexpressionen von Traurigkeit, Entsetzen oder Ekel in Adis Gesicht durchbrochen. Möglicherweise fühlen die Zuschauer solche Momente mit, empfinden eine unterschwellige Lähmung oder Verkrampfung. Die folgenden Faktoren erscheinen jedoch wichtiger. Situierte Empathie: Bei dieser Form des Mitfühlens reagieren Figuren und Zuschauer mit ähnlichen Emotionen auf die Merkmale einer von beiden wahrgenommenen Situation.51 Im Gegensatz zur somatischen Empathie muss die Figur in dieser Situation weder körperlich in Bewegung sein noch Gefühle zeigen. Entscheidend ist allein, dass ihre Bewertungen intersubjektiver Reize jenen der Zuschauer ähnlich sind und zu ähnlichen Gefühlen führen. Dabei müssen die Figuren ihre Emotionen nicht einmal zeigen: Die Zuschauer unterstellen automatisch, dass sie dasselbe empfinden, wenn sie ihre Aufmerksamkeit denselben Dingen zuwenden und es für diese Dinge intersubjektive Normen angemessenen Fühlens gibt. Ähnliche Emotionen setzen allerdings ähnliche Werte und Interessen voraus. In THE LOOK OF SILENCE ist die Wertediskrepanz zu den Tätern offensichtlich. Wenn die Mörder ihre Gräueltaten schildern und jegliches Schuldeingeständnis verweigern, werden die meisten Zuschauer darauf mit ähnlichen Emotionen reagieren wie Adi: Befremden, Grauen, Entsetzen, Empörung, Ekel. Ihre Affektperspektiven überlagern sich in dieser entscheidenden Hinsicht. Zugleich können die Zuschauer viele Situationen als imaginär MitHandelnde erleben (s.o.: Barratt, de Waal): Aufgrund gemeinsamer Wertorientierungen, Interessen oder Handlungsschemata teilen sie die Ziele einer Figur. Dies kann durch die Parteinahme im Konflikt verstärkt werden. In THE LOOK OF SILENCE liegt eine Kombination dieser Faktoren vor: Die Zuschauer reagieren auf signifikante Reize (etwa die Prahlerei der Mörder) und ergreifen zugleich Partei für Adi, mit dem sie sympathisieren. Gemäß Breithaupts Ansatz könnte diese Parteinahme wiederum dazu führen, dass die Zuschauer somatische Empathie mit Adi empfinden und sich durch sein Ausdrucksverhalten berühren lassen,

51 Vgl. oben über Theoriegruppe B, Konfliktszenen und die Empathie mit Tätern; etwa T. Grodal: Embodied Visions; D. Barratt: Tracing the Routes to Empathy.

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nicht aber durch das der Mörder. Filme lenken die Aufmerksamkeit der Zuschauer oft gezielt auf gemeinsame Reize, indem sie diese durch Kameraführung, Sound Design, Licht, Farbe, Montage und andere Mittel hervorheben (»emotionale Präfokussierung«52). Zudem kann die Darstellungsweise der perzeptuellen und epistemischen Perspektive der Figur angenähert werden (»Fokalisierung«53). Bild, Ton und Point-of-View-Strukturen des Films können den Eindruck verstärken, sich im selben Wahrnehmungs- und Bedeutungsraum wie die Figur zu befinden, können gemeinsame Aufmerksamkeitsgegenstände und Handlungsmöglichkeiten in den Blick rücken. In THE LOOK OF SILENCE geschieht dies etwa durch Nahaufnahmen der Täter-Gesichter und die Anordnung ihrer Redebeiträge. Spielfilme können darüber hinausgehen, indem sie subjektive Wahrnehmungen, Imaginationen und Fantasien ihrer Figuren zeigen. Projektive Empathie: Jenseits von Situationen, die von Zuschauer und Filmakteur gemeinsam wahrgenommen werden, können empathische Gefühle auch durch expressive Filmelemente ausgelöst werden, die auf die Figur nicht (gleichzeitig) wirken.54 Dazu gehören etwa Teile der dargestellten Welt, die von ihr nicht wahrgenommen werden (z.B. atmosphärische Räume); außerdiegetische Sequenzen und Kommentare von Erzählinstanzen (z.B. eine kommentierende Voice Over); Metaphern und Symbole55 (z.B. bedeutungstragende Objekte); vor allem aber das gesamte Spektrum audiovisueller Stilmittel (z.B. außerdiegetische Filmmusik, Sound Design, filmische Ausdrucksbewegungen56, Farbdramaturgie etc.). Diese Filmelemente können bei den Zuschauern eigene Gefühle auslösen, die dann auch den Figuren unterstellt werden. Nicht selten handelt es sich dabei um Stimmungen oder umfassende Gefühle, die das Leben in der dargestellten Welt insgesamt prägen. In THE LOOK OF SILENCE fallen in dieser Hinsicht neben

52 Vgl. Carroll, Noël: »Movies, Moral Emotions, and Sympathy«, in: Midwest Studies in Philosophy. Special Issue: Film and the Emotions 34/1 (2011), S. 1-19. 53 Vgl. M. Bruun Vaage: Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement. 54 Zur philosophischen Klärung des Expressionsbegriffs vgl. Robinson, Jenefer: »Expression and Expressiveness in Art«, in: Postgraduate Journal of Aesthetics 4/2 (2007), S. 19-41. 55 Vgl. Fahlenbrach, Kathrin: Audiovisuelle Metaphern. Zur Körper- und Affektästhetik in Film und Fernsehen, Marburg: Schüren 2010. 56 Gemeint ist der expressive Zusammenhang aufeinander bezogener Bewegungen der Figuren, Objekte, Formen und Texturen im Bild, der Bewegungen der Kamera und der Montage. Vgl. Kappelhoff, Hermann et al.: »Multimodale Metaphorik und Ausdrucksbewegung«, http://www.hermann-kappelhoff.de/node/24 (24.8.2016).

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der brüchigen, sorgenvollen Voice over von Adis Mutter vor allem die ruhigen Tableaus der Mordschauplätze auf. In Dämmerlicht oder nächtliche Dunkelheit gehüllt, wirken sie beunruhigend, geheimnisvoll, unveränderlich, dabei gleichgültig gegenüber menschlichem Leben, das in den langen, unbewegten Panoramaeinstellungen wie eine vorübergehende Randerscheinung wirkt. Zugleich rufen sie die Aussagen über die Morde in Erinnerung. Imaginative Empathie: Während die drei vorigen Formen empathischen Mitfühlens sich unbewusst und unwillkürlich entwickeln, erfordert imaginative Empathie, dass die Zuschauer sich aktiv in die Situation der Figur hineindenken, wie es Amy Coplans emphatischer Empathiebegriff voraussetzt.57 Die aktive Annäherung an die Figurenperspektive kann alle Aspekte dieser Perspektive betreffen, und sämtliche Formen des Fremdverstehens können dabei zum Einsatz kommen: Simulation, alltagspsychologisches Erschließen, Aktivierung eigener Erinnerungen, erklärende Mikronarrationen etc. Oft kann nur durch solche Verstehensbewegungen eine tiefe, genaue und nachhaltige Empathie erreicht werden. Damit die Zuschauer die Mühe solcher (oft kognitiv dissonanten) Imaginationsprozesse auf sich nehmen, müssen bestimmte Bedingungen gegeben sein. Grundlegend sind Aufmerksamkeit und Interesse für die Figur und ihre Situation. Dazu setzen Filme verschiedene dramaturgische Verfahren ein: Beispielsweise können sie vertraute oder ungewöhnliche Figuren in Problem- und Konfliktsituationen präsentieren und durch die Zurückhaltung von Informationen Spannung, Neugierde und Überraschung hervorrufen.58 Imaginative Empathie wird durch Techniken der Informationsvergabe herausgefordert, die eine Balance zwischen Wissen und Nichtwissen der Zuschauer erreichen: Einerseits ist Mitfühlen ohne Vorwissen nicht möglich, andererseits muss durch das Zurückhalten von Informationen verhindert werden, dass Figuren auch ohne Empathie sofort verständlich sind. Erst das punktuelle Zurückhalten von Informationen erzeugt Ambivalenzen, Rätsel und empathische Neugier. THE LOOK OF SILENCE hält die Darstellung seines außergewöhnlichen, elementaren Konflikts in der Schwebe zwischen Wissen und Nichtwissen und ver-

57 S.o.: Konfliktszenen und Szenen der Informationsreduktion. Zum Imaginationsbegriff: Currie, Gregory/Ravenscroft, Ian: Recreative Minds, Oxford: Oxford University Press 2002; M. Smith: Engaging Characters, S. 76 und B. Gaut: Empathy and Identification in Cinema. Zum Fremdverstehen: A. Newen: Understanding Others; F. Breithaupt: Kulturen der Empathie. 58 Wuss, Peter: »Konflikt und Emotion im Filmerleben«, in: Matthias Brütsch et al. (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005, S. 204-220.

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mittelt in mehrerer Hinsicht nur sparsame Informationen über das Innenleben der Akteure. Das Verstehen ihrer kontrollierten Mimik bleibt oft den Zuschauern überlassen, auf Erzählerkommentare wird verzichtet. Doch erleichtert die Wiederholung ähnlicher Gesprächssituationen eine schrittweise Vertiefung des Verstehens und eine Intensivierung der Empathie. Das Ausmaß des Leidens der Opfer und die qualvollen Umstände ihres täglichen Lebens zwischen furchteinflößenden Mördern werden allmählich spürbar. Es wächst das Bewusstsein für die Gefahren, denen sich Adi aussetzt, die Einsicht, dass ein Durchbrechen des Schweigens nur zeitweise im prekären Raum eines Filmdrehs geschehen konnte. Dabei bilden die Täter für das Fremdverstehen die größere Herausforderung: Wie konnten sie so grauenvolle Dinge tun, wie können sie jetzt noch damit prahlen? Warum wehren sie die Versöhnungsangebote ab – aus Misstrauen, um ihre Machtposition nicht zu gefährden, ihre Verdrängungsmechanismen nicht zusammenbrechen zu lassen? Trotz dieser kognitiven Empathie fühlt man nicht mit den Tätern, sondern mit deren Opfern. Gerade indem die Zuschauer sich auf die Täter konzentrieren, teilen sie Adis zentrales Ziel: das Verstehen-Wollen. Die affektive Empathie richtet sich also vor allem auf Adi, seine Mutter und die Frage, wie beide mit den Zumutungen ihrer Situation umgehen und zurechtkommen. Die vier Empathie-Formen stehen in vielfältigen Zusammenhängen. Oft verstärken sie einander, etwa in der Schuss-Gegenschuss-Montage der Konfliktgespräche. Viele Einstellungen, die die Täter beim Reden zeigen, dürften bei den Zuschauern situative Empathie mit Adi hervorrufen und vergleichbare Gefühle auslösen – etwa Entsetzen und Abscheu, wenn ein Mörder beschreibt, wie das Blut seiner Opfer geschmeckt habe. Der Gegenschuss auf Adis Gesichtsausdruck kann dieses Mitfühlen durch somatische Empathie verstärken (und zusätzlich Sympathie und Bewunderung für seine Selbstbeherrschung hervorrufen). Projektive und imaginative Empathie können ebenfalls zusammen wirken: So lassen die wiederkehrenden Makroaufnahmen sich bewegender Springbohnen unterschwellig das Schlüpfen der sich darin bewegenden Schmetterlinge erwarten, das aber nie erfolgt. Dieses Muster enttäuschter Erwartung lässt sich auf benachbarte Einstellungen übertragen, in denen die enttäuschte Hoffnung Adis und seiner Mutter anklingt, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Allgemeiner kann festgehalten werden, dass Filme die Wahrscheinlichkeit von Empathie durch ein breites Spektrum von Techniken erhöhen: eine ›realistische‹ Darstellungsweise; eine zurückhaltende Informationsvergabe; ein langsames Erzählen, das Zeit für Imagination lässt; die Darstellung interessanter (Konflikt-)Situationen; vielschichtige Figuren mit akzeptablen Werten; das raumzeit-

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liche Begleiten dieser Figuren; die immersive, konkrete und anschauliche Darstellung situativer Affektreize; die Zurschaustellung physischer Aktion und intensiver Emotionsausdrücke der Akteure; die Darstellung des Innenlebens durch subjektive Fokalisierung; explizite oder implizite Empathie-Appelle von Erzählinstanzen; sowie ein expressiver Stil.

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Solche Techniken tragen dazu bei, dass Filme ein besonderes empathisches Potenzial besitzen. Im eingangs zitierten Interview benennt Joshua Oppenheimer ein weiteres Charakteristikum des Mediums: Filme vermitteln immersive, sinnlich-körperliche Eindrücke davon, wie es sich anfühlt, sich in einem bestimmten Körper, Raum oder Zustand zu befinden. Diese Annahme, dass Filme grundlegende, sprachlich schwer fassbare Aspekte subjektiven Erlebens mitfühlbar machen können, lässt sich mithilfe von Matthew Ratcliffes Konzept der existentiellen Gefühle präzisieren.59 Die Mehrheit gegenwärtiger Affekt- und Emotionstheorien gliedert das Feld affektiver Phänomene entweder (wie die Affect Studies60) in präpersonale »Affekte« und bewusste »Emotionen« oder (wie kognitive Emotionstheorien61) in objektbezogene »Emotionen«, objektlose »Stimmungen« und spontane »Körperaffekte«. Empathie würde sich demnach auf das Miterleben solcher Arten von Gefühlen beschränken. Zu den empathisch miterlebbaren Emotionen in THE LOOK OF SILENCE zählen wohl Entsetzen, Ekel und Empörung über die brutalen Morde, Aggression und Verachtung angesichts der Täter, Enttäuschung über ihre Verweigerung jeder Schuldeinsicht, Sorge um die bedrohten Hinterbliebenen sowie Hoffnung auf eine zukünftige Aufarbeitung der Verbrechen. Die Stimmungen des Films sind schwieriger zu fassen, sicherlich gehören Grauen, Traurigkeit und Melancholie dazu. Die in der Literatur behandelten Körperempfindungen – etwa Schreckreaktionen oder Schwindelgefühle – scheinen dagegen keine größere Rolle zu spielen.

59 M. Ratcliffe: The Feeling of Being; Ders.: »The Phenomenology of Existential Feeling«, in: Jörg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hg.), Feelings of Being Alive, Berlin: De Gruyter 2012, S. 23-53. Zur Bedeutung von Ratcliffes Ansatz für die Spielfilmanalyse siehe J. Eder: Films and Existential Feelings. 60 Z.B. Massumi, Brian: »The Autonomy of Affect«, in: Cultural Critique 31 (1995), S. 83-109. 61 Z.B. C. Plantinga: Moving Viewers.

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Phänomenologische Ansätze machen jedoch darauf aufmerksam, dass die etablierten Gliederungen der Emotionstheorie viele Arten affektiver Prozesse ausblenden. Von besonderer Bedeutung sind darunter laut Ratcliffe die existentiellen Gefühle, da sie eine Grundlage anderer Affekte bilden. Er definiert sie als präintentionale, körperlich gefühlte Weltverhältnisse (»feelings in the body, which are experienced as one’s relationship with the world as a whole«62) und führt zahlreiche Beispiele auf, etwa »feeling alive, dead, distant, detached, dislodged, estranged, isolated, otherworldly, indifferent to everything, overwhelmed … at peace with things or part of things«.63 Solche Gefühle haben einiges mit dem etablierten Konzept der Stimmungen (moods) gemeinsam, können jedoch in drei phänomenologischen Aspekten näher beschreiben werden: als sinnlich-körperliche Empfindungen (alles fühlt sich angenehm/unangenehm an), als empfundene Möglichkeiten des Wahrnehmens und Handelns (es kann nur Gutes/Schlechtes geschehen) sowie als gefühlte Verhältnisse zur Welt insgesamt (bestimmte Elemente der Welt treten hervor oder verschwinden).64 Meine These ist, dass Filme die existentiellen Gefühle ihrer Zuschauer in diesen drei Hinsichten temporär verändern und dadurch Eindrücke davon vermitteln können, wie sich die dargestellten Akteure in so grundlegender Hinsicht fühlen. Kurz: Filme beeinflussen (1) prä-intentionale Körpergefühle, (2) empfundene Möglichkeitsräume sowie (3) gefühlte Weltverhältnisse. Prä-intentionale Körpergefühle: Filme rufen angenehme oder unangenehme Sinnesempfindungen der Proprio- und Exterozeption hervor, die den Zuschauerkörper auf seine wahrgenommene Umwelt (die Welt des Films) ausrichten. Audiovisuelle Medien sind multisensorisch: Sie vermögen Seh- und Hörsinn direkt anzusprechen, auf indirekte, synästhetische Weise aber auch weitere Sinne, darunter Geruch, Geschmack, Haptik, Kinästhetik, Thermozeption, Zeit- und Gleichgewichtssinn.65 Sinneseindrücke sind crossmodal miteinander verbunden, etwa hinsichtlich ihrer Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Tonalität und Intensität66: So-

62 M. Ratcliffe: The Feeling of Being, S. 49. 63 M. Ratcliffe: The Phenomenology of Existential Feeling, S. 68. 64 Vgl. J. Eder: Films and Existential Feelings. 65 Vgl. Antunes, Luis: The Multisensory Film Experience. A Cognitive Model of Experiential Film Aesthetics, Chicago: University of Chicago Press 2016 sowie zahlreiche Arbeiten von Vivian Sobchak. 66 Vgl. Stern, Daniel M.: Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy and Development, Oxford: Oxford University Press 2010, S. 26.

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wohl Bewegtbilder als auch Klänge können als »weit«, »ruhig«, »hell«, »schnell« oder »freundlich« empfunden werden. In THE LOOK OF SILENCE dominieren milde Lichtverhältnisse und natürliche Farben, Grün- und Brauntöne, die als angenehm empfunden werden könnten, würden sie nicht immer wieder ins bedrückend Trübe, Dunkle absacken: Grau ist der Himmel, über vielen Szenen liegt Dämmerung. Auf der Tonebene verbreitet das permanente Zirpen von Zikaden unterschwellige Unruhe. Formen, Farben, Haptik und Geräusche bringen die Assoziation schwüler Hitze mit sich. Viele Texturen – etwa alter Spinnweben, runzliger Haut, modernder Blätter – suggerieren Verfall. Sowohl die Körperbewegungen der Akteure als auch die Montage wirken langsam, träge, schleppend. Die statischen Totalen verstärken das Gesamtgefühl lastender Schwere und Lähmung. Diese Paralyse steigert sich zeitweise ins Unangenehme, wenn der mitempfundene Ausdruck der Akteure körperliche Anspannung hervorruft oder eine grauenvolle Morderzählung von unangenehmen Subliminalgeräuschen begleitet wird. Möglichkeitsräume: Unbeweglichkeit, ja Unveränderlichkeit kennzeichnet auch die Räume möglicher Erfahrung in THE LOOK OF SILENCE.67 Filme formen vorbewusst-körperliche Erwartungen darüber, was in der (dargestellten) Welt kurz-, mittel- und langfristig möglich ist, bis hin zur sensomotorischen Antizipation bestimmter Bewegungsmuster.68 Dies schließt die grundsätzliche Möglichkeit ein, bestimmte Arten von Objekten, Ereignissen und Beziehungen wahrzunehmen und zu erfahren, etwa die Möglichkeit von Schönheit oder Hoffnung. In THE LOOK OF SILENCE verlaufen die Bewegungen, die Gespräche, die Alltagsroutinen langsam. Durch die stillgestellten Körper, die Gleichförmigkeit der Farben und Geräusche, die Dauer der Einstellungen verfestigt sich das unterschwellige Gefühl, dass in der Welt des Films Veränderung kaum möglich ist. Verstärkt wird dies durch die zyklisch wiederholte Situationsabfolge: Videosichtung – Gespräch mit einem Täter – Zurückweisung – Regeneration in der Familie. Nur einmal wird dieses Strukturmuster durchbrochen, indem die Tochter eines Täters um Vergebung bittet. Die Schichtung der Zeitebenen (durch Voice-over, Videosichtung und Zeugenerzählungen) erweckt den Eindruck, dass die Vergangenheit all-gegenwärtig ist. Während ein positiver Wandel der Welt kaum möglich scheint, vermitteln die statischen, düsteren Tableaus der Mordschauplätze eine

67 Vgl. M. Ratcliffe: The Phenomenology of Existential Feeling. 68 Vgl. Hogan, Patrick Colm: Affective Narratology: The Emotional Structure of Stories, Lincoln: University of Nebraska Press 2011.

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ominöse Atmosphäre, eine trügerische Ruhe, aus der jederzeit wieder eine Bedrohung hervorbrechen kann. Gefühlte Weltverhältnisse: Körpergefühle und Möglichkeitsräume bilden die Basis für gefühlte Verhältnisse zur Welt insgesamt. Diese umfassenden Weltverhältnisse können in ihren raumzeitlichen, sinnlichen und weiteren Aspekten beschrieben werden, etwa als Gefühl, man selbst oder bestimmte Elemente der Welt seien übermächtig, bedeutungslos oder irreal. Filme erzeugen solche Weltverhältnisse, indem sie die Zuschauer durch audiovisuelle Immersion, emotionale Präfokussierung, crossmodale Stimuli und verkörperlichte Metaphern in ihre dargestellten Welten »transportieren«. Für THE LOOK OF SILENCE kann ich nur einige wenige Aspekte andeuten. So verdichtet sich unterschwellig die paradoxe Spannung, dass ein Menschenleben zugleich sehr wenig und sehr viel wert ist: Es kann sofort sinnlos ausgelöscht werden oder Gegenstand täglicher Sorge und Pflege sein (wie Adis greiser Vater). Wiederkehrende Bilder von Alter, Nacktheit, Tieren, Schmutz rücken die Kreatürlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens in den Vordergrund. Die Thematik des Todes und Verfalls ist omnipräsent. In den Gesichtern und Körpern der gealterten Menschen, in moderndem Laub, Spinnweben und trüben Gewässern, in der Ergebnislosigkeit der Handlungen entfaltet der Film eine bedrückende, bedrohliche, morbide Welt, in der nur Weniges mit der Hoffnung auf Veränderung verbunden ist: etwa Adis Mut oder die Lebendigkeit seiner Kinder. Durch den Wechsel empathischer und anderer Gefühle – Ekel, Erheiterung, Horror, Groteske, Sorge – sucht der Film eine Art instabilen Schwindelzustand hervorzurufen. Dabei suggeriert er, dass die Hinterbliebenen diese Welt ähnlich erleben, und vermittelt so einen Eindruck traumatischer Erfahrung.69 THE LOOK OF SILENCE ist ein Beispiel dafür, dass Empathie auf der Ebene existentieller Gefühle erforderlich sein kann, um die Bedeutung von Filmen zu erfassen, und dass sie politische Relevanz besitzt. Oppenheimers Werk veranschaulicht zudem, dass manche Filme durch tiefe, genaue und nachhaltige Formen des Mitfühlens bestimmte Politiken der Gefühle nahelegen, beispielsweise des Umgangs mit kollektiven Traumata. Sie können dazu beitragen, kulturelle Fremdheit zu überbrücken und die Affektstrukturen fremder Lebenswelten zu verstehen. Und sie veranschaulichen, warum aktuellen Positionen der pauschalen

69 Trauma »can produce a radically destabilized, dislocated sense of self – often described by victims as a loss of self or a loss of trust in the bond between the self and the world« (Bloom, Paul: »Against Empathy«, in: Boston Review vom 10. September 2014. https://bostonreview.net/forum/paul-bloom-against-empathy, S. 211).

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Ablehnung oder Glorifizierung von Empathie als politischer Haltung70 mit differenzierteren Kategorien und Betrachtungsweisen begegnet werden sollte.

L ITERATUR Antunes, Luis: The Multisensory Film Experience. A Cognitive Model of Experiential Film Aesthetics, Chicago: University of Chicago Press 2016. Aschheim, Steven E.: »The (Ambiguous) Political Economy of Empathy«, in: Aleida Assmann/Ines Detmers (Hg.), Empathy and Its Limits, New York: Palgrave Macmillan 2016, S. 21-37. Barratt, Daniel: »Tracing the Routes to Empathy: Association, Appraisal, or Simulation?«, in Film Studies: An International Review 8 (2006), S. 39-52. Battaly, Heather D.: »Is Empathy a Virtue?«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 277-301. Bloom, Paul: »Against Empathy«, in: Boston Review vom 10. September 2014. https://bostonreview.net/forum/paul-bloom-against-empathy Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. Brinckmann, Christine Noll: »Empathie im Dokumentarfilm. Eine Fallstudie« [zuerst 2005], wiederabgedruckt in: Farbe, Licht, Empathie. Schriften zum Film 2, Marburg. Schüren 2014, S. 192-221. Bruun Vaage, Margrethe: »Empathie. Zur episodischen Struktur der Teilhabe am Spielfilm«, in: montage/av 16/1 (2007), S. 101-120. Bruun Vaage, Margrethe: »Fiction Film and the Varieties of Empathic Engagement«, in: Midwest Studies in Philosophy 34/1 (2010), S. 158-179. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, New York: Routledge 1990. Carroll, Noël: »Movies, Moral Emotions, and Sympathy«, in: Midwest Studies in Philosophy. Special Issue: Film and the Emotions 34/1 (2011), S. 1-19. Chatman, Seymour: Antonioni, or, The Surface of the World, Berkeley: University of California Press 1985. Cook, Roger F.: »Embodied Simulation, Empathy and Social Cognition: Berlin School Lessons for Film Theory«, in: Screen 56/2 (2015), S. 153-171. Coplan, Amy: »Understanding Empathy. Its Features and Effects«, in: Amy Coplan/Goldie, Peter (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 3-18.

70 Z.B. P. Bloom: Against Empathy.

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EXISTENTIELLE

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Coplan, Amy/Goldie, Peter (Hg.): Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011. Coplan, Amy/Goldie, Peter: »Introduction«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, ix-xlvii. Currie, Gregory: »Empathy for Objects«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 82-95. Currie, Gregory/Ravenscroft, Ian: Recreative Minds, Oxford: Oxford University Press 2002. Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink 2009. De Waal, Frans: »Putting the Altruism back into Altruism. The Evolution of Empathy«, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), S. 279-300. Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg: Schüren 2008. Eder, Jens: »Aus der Täterperspektive«, in: montage/av 25/1 (2016a/im Druck). Eder, Jens: »Films and Existential Feelings«, in: Projections: The Journal for Movies and Mind, 2016b/im Druck. Fahlenbrach, Kathrin: Audiovisuelle Metaphern. Zur Körper- und Affektästhetik in Film und Fernsehen, Marburg: Schüren 2010. Gallese, Vittorio/Guerra, Michele: »Embodying Movies: Embodied Simulation and Film Studies«, in: Cinema. Journal of Philosophy 3 (2012), S. 183-201, http://www.neurohumanitiestudies.eu/archivio/3_Gallese__Guerra.pdf Gaut, Berys: »Empathy and Identification in Cinema«, in: Midwest Studies in Philosophy. Special Issue: Film and the Emotions 34/1 (2011), S. 136-157. Goldie, Peter: »Anti-Empathy«, in: Amy Coplan/Peter Goldie (Hg.), Empathy. Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press 2011, S. 302-317 Grodal, Torben: Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture, and Film. Oxford: Oxford University Press 2009. Hammond, Meghan Marie/Kim, Sue J. (Hg.): Rethinking Empathy through Literature, New York: Routledge 2014. Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man. Somatic Empathy and Imaginary Self-Extension in Arnold Schwarzenegger’s Hard-Body Movies«, in: Simon Wendt/Michael Butter/Patrick Keller (Hg.), Arnold Schwarzenegger. Interdisciplinary Perspectives on Body and Image. Heidelberg: Winter 2011, S. 103-127.

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Heider, Karl G.: Landscapes of Emotion. Mapping Three Cultures of Emotion in Indonesia, Cambridge: Cambridge University Press 2006. Hoffman, Martin: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge: Cambridge University Press 2000. Hogan, Patrick Colm: Affective Narratology: The Emotional Structure of Stories, Lincoln: University of Nebraska Press 2011. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004. Kappelhoff, Hermann et al.: »Multimodale Metaphorik und Ausdrucksbewegung«, http://www.hermann-kappelhoff.de/node/24 (24.8.2016). Kozloff, Sarah: »Empathy and the Cinema of Engagement: Reevaluating the Politics of Film«, in: Projections: The Journal of Movies and Mind 7/2 (2013), S. 1-40. Massumi, Brian: »The Autonomy of Affect«, in: Cultural Critique 31 (1995), S. 83-109. Moors, Agnes: »Theories of Emotion Causation: A Review«, in: Cognition & Emotion 23/4 (2009), S. 625-662. Moore, Alexandra Schultheis: »In the Aftermath of Mass Murder. Visuality and Vertigo in the Films of Joshua Oppenheimer«, in: Vulnerability and Security in Human Rights Literature and Visual Culture, New York: Routledge 2015, S. 198-238. Neill, Alex: »Empathy and (Film) Fiction«, in: David Bordwell/Noël Carroll (Hg.), Post-Theory: Reconstructing Film Studies, Madison: University of Wisconsin Press 1996, S. 175-194. Newen, Albert: »Understanding Others. The Person Model Theory«, in: Thomas Metzinger/Jennifer M. Windt (Hg.), Open MIND. Philosophy and the Mind Sciences in the 21st Century, Frankfurt am Main 2015, doi: 10.15502/9783958570320 Oppenheimer, Joshua: »Empathy after The Act of Killing«, im Gespräch mit Rafael Dernbach, in: The King’s Review vom 9.12.2014, http://kingsreview.co.uk/magazine/blog/2014/12/09/empathy-after-the-actof-killing/#top, (12.2.2016). Oppenheimer, Joshua: »Human, All Too Human: The Look of Silence«, Interview ohne Angabe des Gesprächspartners, in: Four by Three Magazine, URL: http://www.fourbythreemagazine.com/joshua-oppenheimer-interview. html (12.2.2016). Plantinga, Carl: »The Scene of Empathy and the Human Face on Film«, in: Carl Plantinga/Greg M. Smith (Hg.), Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999, S. 239-257.

E MPATHIE UND

EXISTENTIELLE

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Plantinga, Carl: Moving Viewers: American Film and the Spectator’s Experience, Berkeley: University of California Press 2009. Ratcliffe, Matthew: »The Feeling of Being«, in: Journal of Consciousness Studies 12/8-10 (2005), S. 43-60. Ratcliffe, Matthew: »The Phenomenology of Existential Feeling«, in: Jörg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hg.), Feelings of Being Alive, Berlin: De Gruyter 2012, S. 23-53. Robinson, Jenefer: »Expression and Expressiveness in Art«, in: Postgraduate Journal of Aesthetics 4/2 (2007), S. 19-41. Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema, Oxford: Oxford University Press 1995. Stadler, J.: »Empathy and Film«, in: Heidi L. Maibom (Hg.), Routledge Handbook of Philosophy of Empathy, New York: Routledge 2016/im Druck. Stern, Daniel M.: Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy and Development, Oxford: Oxford University Press 2010. Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine. MahWah, NJ: Erlbaum 1996. Wulff, Hans. J.: »Empathie als Dimension des Filmverstehens: Ein Thesenpapier«, in: montage/av 12/1 (2003), S. 136-161. Wuss, Peter: »Konflikt und Emotion im Filmerleben«, in: Matthias Brütsch et al. (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren 2005, S. 204220.

Autorinnen und Autoren

Jens Eder ist Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Analyse und Dramaturgie audiovisueller Medien; Figuren, Narration und Emotion; visuelle Diskurse im Medienwandel; Webvideos und Bildhandeln in politischen Konflikten. Neuere Publikationen als Autor Die Figur im Film (2008), Affekt und Emotion in audiovisuellen Medien (in Vorbereitung); als Herausgeber Characters in Fictional Worlds (mit Ralf Schneider, Fotis Jannidis, 2010), Medialität und Menschenbild (mit Joseph Imorde, Maike Reinerth, 2012), Image Operations (mit Charlotte Klonk, 2016), www.videoactivism.net (mit Britta Hartmann, Chris Tedjasukmana, 2016). Christian Ferencz-Flatz forscht zur Philosophie am Institute for Research in the Humanities, Universität Bukarest und ist Fellow der Alexander von Humboldt Stiftung am Husserl-Archiv der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Philosophie der Geschichte, Filmphänomenologie und Bildtheorie. Neuere Publikationen als Autor: Sehen Als-ob. Ästhetik und Pragmatik in Husserls Bildlehre (2016), Incursiuni fenomenologice în noul film românesc (2015); als Herausgeber: Studia Phaenomenologica XVI: Film and Phenomenology (mit Julian Hanich, 2016). Sarah Greifenstein ist Juniorprofessorin für Medien, Kultur und Kommunikation an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Theorie und Analyse audiovisueller Bilder, affektive Verkörperung und audiovisuelle Kommunikation, Sprache und Audiovisualität. Neueste Publikation als Autorin: Tempi der Bewegung – Modi des Gefühls. Expressivität, heitere Affekte und die Screwball Comedy (erscheint 2017).

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Malte Hagener ist seit 2010 Professor für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschichte, Ästhetik und Theorie des Films an der PhilippsUniversität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Film- und Mediengeschichte, Filmtheorie, Cinephilie und Filmkultur, Medienbildung. Neuere Publikationen als Autor Filmtheorie zur Einführung (mit Thomas Elsaesser, 2007), The European Avantgarde and the Invention of Film Culture, 1919-1939 (2007); als Herausgeber The Emergence of Film Culture (2014), Medienkultur und Bildung Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke. (mit Vinzenz Hediger, 2015), Pedro Costa (mit Tina Kaiser, 2016). Hermann Kappelhoff ist seit 2003 Professor am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er promovierte 1993 mit einer Dissertation zur Poetologie des Weimarer Autorenkinos (Der möblierte Mensch. G.W. Pabst und die Utopie der Sachlichkeit, 1995) und habilitierte sich 2001 über das Melodramatische des Kinos als Paradigma einer Theorie der künstlichen Emotionalität (Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, 2004). Er ist Sprecher der Kolleg-Forschergruppe »Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder«, die im Oktober 2015 ihre Arbeit aufgenommen hat. Zuvor war er Sprecher des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« sowie Fachvertreter der Medienwissenschaft im Fachkollegium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (2007-2015). Außerdem leitet er das Teilprojekt »Migrantenmelodramen und Einwanderungskomödien: Medienformate deutsch-türkischer Gemeinschaftsgefühle« im SFB »Affective Societies« und entwickelt E-Science-Projekte zur systematischen Filmanalyse. Aktuelle Publikationen: Genre und Gemeinsinn: Hollywood zwischen Krieg und Demokratie (2016) und The Politics and Poetics of Cinematic Realism. (2015). Alex Neill ist Vize-Präsident (für Lehre) und Professor für Philosophie an der Universität Southampton, UK. Sein Hauptinteresse in der Philosophie gilt der Geschichte der Ästhetik. Lisa Schmalzried ist Oberassistentin am philosophischen Seminar der Universität Luzern. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetik und Ethik. Momentan arbeitet sie an ihrer Habilitationsschrift zum Thema »Menschliche Schönheit«. Neuere Publikationen als Autorin: Philosophie der Führung (mit Dieter Frey, 2013), Kunst, Fiktion und Moral (2014).

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Susanne Schmetkamp ist Vertretungsprofessorin für »Philosophie - Geschichte der Philosophie« an der Universität Siegen. Sie schreibt an einem Habilitationsprojekt an der Universität Basel über »Perspektive und Resonanz. Kernelemente filmästhetischer Erfahrung«. Promoviert wurde sie an der Universität Bonn mit einer Arbeit über »Respekt und Anerkennung«. Forschungsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik, insbesondere Theorien der ästhetischen Erfahrung, Filmphilosophie, Philosophie der Gefühle, Empathietheorien, Pragmatismus, John Dewey, Politische Philosophie. Wichtigste Publikationen: Respekt und Anerkennung (2012), »Bis hierhin und nicht Whiter? Moralische Ambivalenzen und Perspektivenverschiebungen«, in: Ambivalenzwucherungen. Breaking Bad aus bildungs-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Blickwinkeln, hg. v. M. Arenhövel, A. Besand und O. Sanders (2016). Judith Siegmund ist Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie und Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin. Forschungsschwerpunkte: ästhetische Theorien der Kunst und des Designs, produktionsästhetische Epistemologie, sozialwissenschaftliche Theorien der Arbeit und der künstlerischen Tätigkeit, Intervention und Partizipation in Kunst und Politik. Neuere Publikationen als Autorin: Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation (2007); als Herausgeberin: Kunst und Handlung (mit Daniel Martin Feige, 2015); Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? (2016). Vivian Sobchack ist emeritierte Professorin am Department of Film, Television and Digital Media der UCLA und ehemalige Prodekanin der UCLA School of Theater, Film and Television. Sie war nicht nur die erste weibliche Präsidentin der SCMS, sondern auch die einzige Vertreterin der Wissenschaft im Vorstand des American Film Institute. Publikationen: Screening Space: The American Science Fiction Film; The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience; Carnal Thoughts: Embodiment and Moving Image Culture; als Herausgeberin: The Persistence of History: Cinema, Television, and the Modern Event und Meta-Morphing: Visual Transformation in the Culture of Quick Change. Ihre Aufsätze sind in zahlreichen Zeitschriften erschienen, darunter Screen, Film Quarterly, Camera Obscura, Quarterly Review of Film and Video, Art Forum International, Film Comment, Body and Society, History and Theory und Representations. 2012 wurde sie durch die Society for Cinema and Media Studies mit dem Distinguished Career Achievement Award ausgezeichnet. Forschungsinteressen: Phänomenologie und Philosophie des Bewegtbildes; Filmund Medientheorie und -historiographie; formale und kulturelle Forschung zu

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US-Filmgenres. Derzeit arbeitet sie an einer Sammlung von Aufsätzen zu Animation und digitalem Kino. Íngrid Vendrell Ferran ist akademische Rätin für theoretische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Geistes (insb. Emotionstheorien), Philosophie der Literatur, Phänomenologie, Ästhetik. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie (2008) und Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge (als Hrsg. zusammen mit Christoph Demmerling). Christiane Voss ist seit 2009 Professorin für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. 2003 Promotion mit einer Arbeit zu philosophischen Emotionstheorien (Narrative Emotionen, 2004), 2003-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin, 2010 Habilitation mit einer Arbeit zur Ästhetik der Illusion (Der Leihkörper, 2013). 2010 Gründungsmitglied der AG Medienphilosophie der GfM, seit 2013 Mitglied im Universitätsrat der BauhausUniversität, seit 2015 Vize-Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik und Erkenntnistheorie, Philosophie des Films, Theorie der Gefühle und mediale Anthropologie. Daneben ist sie auch als Dokumentarfilmemacherin tätig.

Filmverzeichnis

2001: A SPACE ODYSSEY (US 1968, 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM), Stanley Kubrick 39 STEPS (GB 1935, 39 STUFEN), Alfred Hitchcock A BEAUTIFUL MIND (US 2001), Ron Howard AMOUR (F/D/A 2012), Michael Haneke BAD LIEUTENANT (US 1992), Abel Ferrara CAFÉ LUMIÈRE (TW/JP 2003), Hou Hsiao-Hsien CHACUN SON CINEMA (FR 2007) CITIZEN KANE (US 1941), Orson Welles CITY LIGHTS (US 1931, LICHTER DER GROßSTADT), Charlie Chaplin DARK PASSAGE (US 1947, DAS UNBEKANNTE GESICHT), Delmer Daves DAS WEISSE BAND – EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE (DE 2009), Michael Haneke DIE GROSSE STILLE (F/CH/D 2005), Philip Gröning DON’T LOOK NOW (IT/GB 1973, WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN), Nicholas Roeg FITZCARRALDO (DE 1982), Werner Herzog FIVE DEDICATED TO OZU (IR 2003), Abbas Kiarostami FRANTIC (US/FR 1988), Roman Polanski GOODBYE, DRAGON INN (TW 2003), Tsai Ming-liang HIGH WALL (US 1947), Curtis Bernhardt JAWS (US 1975, DER WEISSE HAI), Steven Spielberg KING KONG (US 2005), Peter Jackson LADY IN THE LAKE (US 1947), Robert Montgomery LAS HURDES (ES 1933, LAND WITHOUT BREAD/TIERRA SIN PAN), Luis Buñuel LOLA RENNT (D 1998), Tom Tykwer MAGNIFICENT OBSESSION (US 1953), Douglas Sirk POSSESSED (US 1947), Curtis Bernhardt

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PSYCHO (US 1960), Alfred Hitchcock PULP FICTION (US 1994), Quentin Tarantino SHIRIN (IR 2008), Abbas Kiarostami STELLA DALLAS (US 1937), King Vidor TEN (IR 2002), Abbas Kiarostami TEN MINUTES OLDER (LV 1978) THE ACT OF KILLING (DK 2012), Joshua Oppenheimer THE AWFUL TRUTH (US 1937), Leo McCarey THE HAUNTING (US 1963, BIS DAS BLUT GEFRIERT), Robert Wise THE HOUSE IS BLACK (IR 1962, KHANEH SIAH AST), Forough Farrokhzad THE LOOK OF SILENCE (DK 2014), Joshua Oppenheimer WHERE IS MY ROMEO? (IR 2007), Abbas Kiarostami YANKEE DOODLE DANDY (US 1942), Michael Curtiz

Film Volker Pietsch Verfolgungsjagden Zur Diskursgeschichte der Medienkonkurrenz zwischen Literatur und Film Mai 2017, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3386-3

Ulrike Mothes Offenes Erzählen Experimente im zeitgenössischen indischen Dokumentarfilm April 2017, ca. 186 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3787-8

Martin Lilkendey 100 Jahre Musikvideo Eine Genregeschichte vom frühen Kino bis YouTube Januar 2017, 196 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3776-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Christoph Ernst, Heike Paul (Hg.) Amerikanische Fernsehserien der Gegenwart Perspektiven der American Studies und der Media Studies 2015, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-1989-8

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Anja Michaelsen Kippbilder der Familie Ambivalenz und Sentimentalität moderner Adoption in Film und Video Februar 2017, ca. 142 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3663-5

Mechthild Zeul Joel und Ethan Coen Meister der Überraschung und des vielschichtigen Humors Dezember 2016, 164 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2929-3

Vanessa Marlog Zwischen Dokumentation und Imagination Neue Erzählstrategien im ethnologischen Film Februar 2016, 218 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3398-6

Vera Cuntz-Leng Harry Potter que(e)r Eine Filmsaga im Spannungsfeld von Queer Reading, Slash-Fandom und Fantasyfilmgenre 2015, 488 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3137-1

Kathrina Edinger Ortung – die multimediale Vermessung eines Militärstandortes Postmoderne Geschichtsschreibung im Dokumentarfilm 2015, 282 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3114-2

Christa Pfafferott Der panoptische Blick Macht und Ohnmacht in der forensischen Psychiatrie. Künstlerische Forschung in einer anderen Welt 2015, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2984-2

Keyvan Sarkhosh Kino der Unordnung Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg 2014, 474 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2667-4

Katharina Müller Haneke Keine Biografie 2014, 432 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2838-8

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) CREMASTER ANATOMIES Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur 2014, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2132-7

Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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