Emotionen und politisches Urteilen: Eine politikdidaktische Untersuchung [1. Aufl.] 9783658306557, 9783658306564

Hendrik Schröder bietet neue Einsichten in ein bislang randständig behandeltes Thema innerhalb der politischen Bildung:

602 6 59MB

German Pages XXVII, 604 [614] Year 2020

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Emotionen und politisches Urteilen: Eine politikdidaktische Untersuchung [1. Aufl.]
 9783658306557, 9783658306564

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXVII
Einleitung (Hendrik Schröder)....Pages 1-53
Front Matter ....Pages 55-55
Politikbegriff (Hendrik Schröder)....Pages 57-74
Politische Urteile (Hendrik Schröder)....Pages 75-87
Urteilskompetenz (Hendrik Schröder)....Pages 89-92
Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz (Hendrik Schröder)....Pages 93-113
Eine theoretische Annäherung: Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Affekte und Emotionalität (Hendrik Schröder)....Pages 115-140
Emotionen und Politik (Hendrik Schröder)....Pages 141-173
Emotionen in der gegenwärtigen Politik (Hendrik Schröder)....Pages 175-191
Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung (Hendrik Schröder)....Pages 193-210
Emotionen und politisches Urteilen: eine theoretische Annäherung (Hendrik Schröder)....Pages 211-235
Präzisierung der Forschungsfragen (Hendrik Schröder)....Pages 237-238
Front Matter ....Pages 239-239
Populationsauswahl (Hendrik Schröder)....Pages 241-244
Das qualitative Experiment (Hendrik Schröder)....Pages 245-284
Fragebogen (Hendrik Schröder)....Pages 285-289
Qualitative Interviews (Hendrik Schröder)....Pages 291-300
Analytische und interpretative Grundlagen (Hendrik Schröder)....Pages 301-348
Vorschlag eines Analyseverfahrens zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (Hendrik Schröder)....Pages 349-367
Front Matter ....Pages 369-369
Auswertung der Urteilstexte (Hendrik Schröder)....Pages 371-390
Auswertung der Fragebögen (Hendrik Schröder)....Pages 391-402
Auswertung der Interviews (Hendrik Schröder)....Pages 403-419
Interpretative Zusammenführung und Beantwortung der Forschungsfragen (Hendrik Schröder)....Pages 421-468
Front Matter ....Pages 469-469
Bildungspolitische und (Politik-)Didaktische Impulse (Hendrik Schröder)....Pages 471-490
Fazit und Ausblick (Hendrik Schröder)....Pages 491-499
Back Matter ....Pages 501-604

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Politische Bildung

Hendrik Schröder

Emotionen und politisches Urteilen Eine politikdidaktische Untersuchung

Politische Bildung Reihe herausgegeben von Carl Deichmann, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Thüringen, Deutschland Ingo Juchler, Lehrstuhl für Politische Bildung, Universität Potsdam, Potsdam Brandenburg, Deutschland

Die Reihe Politische Bildung vermittelt zwischen den vielfältigen Gegenständen des Politischen und der Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen in politischen Bildungsprozessen an Schulen, außerschulischen Einrichtungen und Hochschulen. Deshalb werden theoretische Grundlagen, empirische Studien und handlungsanleitende Konzeptionen zur politischen Bildung vorgestellt, um unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen zu Theorie und Praxis politischer Bildung aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen. Die Reihe Politische Bildung wendet sich an Studierende, Referendare und Lehrende der schulischen und außerschulischen politischen Bildung.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13420

Hendrik Schröder

Emotionen und politisches Urteilen Eine politikdidaktische Untersuchung

Hendrik Schröder Bremen, Deutschland Dissertationsschrift; unterstützt durch eine Impulsförderung der Universität Bremen

ISSN 2570-2114 ISSN 2570-2122  (electronic) Politische Bildung ISBN 978-3-658-30656-4  (eBook) ISBN 978-3-658-30655-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Knopfi & Schnipsel

Danksagung Das sozialwissenschaftliche Modell der reflexiven Modernisierung geht davon aus, dass nicht intendierte und nicht antizipierte Phänomene zu Entwicklungen führen, die man zuvor für nicht möglich oder zumindest sehr unwahrscheinlich hielt. Eine Feststellung, die im Kleinen auch für die vorliegende Arbeit zutrifft. Als mir mein Doktorvater Prof. Dr. Andreas Klee unmittelbar nach dem Ablegen meiner letzten Staatsexamensprüfung im Fach Politik eine Stelle an der Universität Bremen anbot, kam dies für mich völlig überraschend. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie mit dem Gedanken an eine Wissenschaftskarriere gespielt. Ich muss meinem Doktorvater daher nicht nur für seine Geduld, mit der er meinen Dissertationsprozess begleitete (immerhin habe ich zweimal das Thema gewechselt), sowie den großen inhaltlichen Freiraum, den er mir bei der Bearbeitung einräumte, und seine stetig offene Tür bei Fragen aller Art danken, sondern vor allem dafür, dass er mir überhaupt den Weg in die Wissenschaft ermöglichte. Diesem Umstand verdanke ich es auch, dass ich meine Kolleg*innen kennenlernen durfte, von denen ich viele inzwischen zu meinen Freund*innen zähle. Sie sind es, die mir während der gesamten Promotionszeit, eine dermaßen schöne Arbeitsatmosphäre bereiteten, dass es vermutlich jedem leicht gefallen wäre, morgens gut gelaunt und motiviert zur Arbeit zu kommen. Ganz persönlich bedanken möchte ich mich bei meiner ersten Bürokollegin Sonja Borski, die mich auf meinen ersten Schritten in der Wissenschaft begleitete und mir dabei zeigte, wie wichtig es ist, seinen eigenen Weg zu gehen. Freundschaftlich ans Herz gewachsen sind mit auch meine Kolleginnen Luisa Girnus und Julia Neuhof, mit denen ich ein Stück

VIII

Danksagung

des Promotionsweges gemeinsam gehen durfte und deren fachliches Können mich von Beginn an begeistert und motiviert hat, zu ihnen aufzuschließen. Ob mir dies gelungen ist, überlasse ich ihrem fähigen Urteil. Besonderer Dank gebührt auch meinem Kollegen und Freund Prof. Dr. Marc Partetzke, der sich dankenswerterweise bereit erklärte, meine Arbeit als Zweitprüfer zu begutachten. Gäbe es eine personifizierte Politikdidaktik, käme sie wohl in seiner Gestalt daher. Sein fachliches Vermögen wird nur noch durch seine Qualität als Mensch und Freund übertroffen. Sollten Sie jemals die Chance haben, ihn kennenzulernen, versäumen sie sie nicht! Unerlässlich war für mich auch die Unterstützung von Prof. Dr. Erhard Tietel, der mir nicht nur mit unzähligen Quellen- und Literaturhinweisen versorgte und sein gesamtes Netzwerk bemühte, um mich bei schwierigen Fragen zu unterstützen, sondern sich auch bereit erklärte, mit mir gemeinsam zehn Kolloquien zur Dateninterpretation und -auswertung zu organisieren und durchzuführen. Ohne seinen unermüdlichen Einsatz wäre die Arbeit sicherlich nicht die geworden, die sie ist. Für ihre Beteiligung an den Kolloquien danke ich zudem meinen Kolleg*innen: Christine Barp, Dr. Simone Hocke, Dr. Eva Anslinger, Dr. Çetin Gürer und Jan Rettig. Sie alle haben mir durch ihr Engagement dabei geholfen, das Untersuchungsmaterial aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Auf Einladung von Herrn Prof. Dr. Carl Deichmann hatte ich zudem die Gelegenheit, Teile meiner Erhebungsdaten auch im Rahmen einer Arbeitstagung der Jenaer Forschungs- und Arbeitsgruppe Hermeneutische Politikdidaktik zur Diskussion zu stellen. Hierfür bin ich ihm wie auch allen daran beteiligten Kolleg*innen sehr dankbar. Aber nicht nur bei der Datenauswertung, auch bei der Datenerhebung unterstützten mich viele Kolleg*innen tatkräftig. Neben bereits genannten standen mir dabei außerdem Dr. Katharina Schütze, Anjuscha Jäger und Jessica Heibült hilfsbereit zur Seite und auch eine ganze Reihe von Studierenden trugen zum Gelingen der Untersuchungsphasen bei. Mein

Danksagung

IX

Dank gilt hier: Marion Bellach, Lennart Niebuhr, Anna Petrausch, Lina Sager, Patrizia Seidl, Hagen Steinhauer, Miriam Wikening, Eva Winkler und Helen Cornelius. Besonders hervorheben möchte ich zudem die Studierenden Ali Badwan und Carolin Schnackenberg, die mir nicht nur bei der Interviewerhebung und Transkription, sondern auch bei der Betreuung der einzelnen Untersuchungskohorten von unschätzbarem Wert waren. Dass die im Rahmen der Erhebung zum Einsatz gekommenen Informationsträger und Erhebungsinstrumente optisch ansprechend gestaltet waren, verdanke ich zudem Mira Klebe, die trotz eigener Auslastung und beruflicher Selbstständigkeit immer zur Stelle war, wenn ich ihre Hilfe brauchte, und mich dabei stets mit Kreativität und Akribie unterstützte. Völlig unmöglich gewesen wäre die ganze Arbeit zudem ohne die Beteiligung der vielen Schüler*innen, die sich bereitwillig an meinem experimentellen Untersuchungssetting beteiligten. Ihnen sowie ihren engagierten Lehrkräften und Schulleitungen gilt daher mein ganz besonderer Dank! Kollegiale Unterstützung erfuhr ich zudem auch von der Medien- und Kommunikationsforscherin Dr. Anke Offerhaus, mit der ich mich über die Entwicklung meiner Auswertungsmethode austauschen konnte sowie von dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Althaus, der mich in Fragen zur Topik konstruktiv beriet. Besonders viel Zeit für mich und meine Arbeit nahm sich auch der Psychologie Prof. Dr. Marc Schipper, der mir vor allem im Rahmen meiner Erhebungsphase beratend zur Seite stand und dank dessen engagierten und überaus freundlichen Hilfe ich das International Affective Picture System verwenden durfte. Eine ständige Stütze und Motivation waren mir zudem die unzähligen Gespräche mit meinen engsten Kolleg*innen Sarah Göhmann, Franziska Laudenbach, Maren Stephan, Christina Volkmer, Gaby

X

Danksagung

Thiemann, Dr. Simone Haasler, Dr. Frank Meng, Dr. Philipp Gies, Jakob Stephan, Ulf Kuhlemann und Dr. Peter Mehlis. Jeder, der mich kennt, weiß zudem, dass ich bei der Korrektur meiner Texte dringend auf sachkundige Hilfe in Grammatik und Orthografie angewiesen bin. Hätte es nicht den Einsatz von Edibe Kirikçi, Lena Roselieb, Gabriele Schmidt und Dr. Julia Gantenberg gegeben, hätte ich meine Arbeit besser nur als Hörversion veröffentlicht. Aber sie haben nicht nur mein Schriftbild und viele Rechtschreibfehler korrigiert, sondern die vorliegende Arbeit auch im Hinblick auf ihre innere Logik und Stringenz kritisch unter die Lupe genommen und damit auch zu ihrer inhaltlichen Güte entscheidend beigetragen und dies alles in bemerkenswert kurzer Zeit, wofür ich ihnen ein zweites Mal ausgesprochen dankbar bin. Trotz der vielen fachlichen Unterstützung, die ich erfahren durfte, wäre mein Dissertationsprojekt ohne den Rückhalt meiner Familie und Freunde für mich undenkbar gewesen. Vor allem auf die Gelassenheit, Frohnatur und Weitsicht meiner Eltern, Barbara und Edgar Schröder, war stets Verlass. Sie boten mir jederzeit die nötige Balance zwischen Ruhepol und Quelle der Kraft. Vor allem aber schenkten sie mir das unbezahlbare Gefühl, bei ihnen für immer ein Zuhause zu haben. Meine jüngere Schwester, Jana Schröder, und mein älterer Bruder, Bastian Schröder, sind beides Originale, hätte mein Doktorvater sie vor mir kennengelernt, hätte sicherlich einer von ihnen die Stelle angeboten bekommen. Von meinem Bruder habe ich gelernt, was es heißt, sich zu behaupten und eine Sache weiterzuverfolgen, auch wenn sie zunächst schwierig erscheint. Meine Schwester schafft es jedes Mal, mir mit ihrer Klugheit und Prägnanz vor Augen zu führen, wie wichtig es ist, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Danksagung

XI

Meinen Freund*innen, die es mir nie vorhielten, wenn ich sie mal wieder versetzte, weil ich mich nicht vom Schreiben lösen konnte, oder es mit Humor und Gelassenheit nahmen, wenn ich das WGFrühstück kurzerhand in ein Forschungskolloquium verwandelte, bin ich vor allem dankbar für die vielen Abenteuer und Erlebnisse, die sie mir in den letzten Jahren neben der Promotion bereiteten und die mir nicht weniger bedeuten als die hier vorliegende Arbeit. Das Beste kommt zum Schluss sagt man und in diesem Fall trifft dies auch zu. Die Person, die in den letzten Jahren jede Seite meiner Dissertation mehrmals gelesen hat, die alle unvermeidbaren Höhen und Tiefen eines Schaffensprozesses aushielt und auffing und die mich dabei durch ihre Lebensfreude, Zuversicht und ihren Mut immer wieder inspirierte und motivierte, ist meine Frau Anna-Luisa Schröder. Sie an meiner Seite zu wissen, ist ein unglaubliches Geschenk, für das ich jeden Tag erneut Achtung, Anerkennung, tiefe Dankbarkeit und Liebe empfinde.

Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

XIX XXIII

XXV

1 Einleitung 1 1.1 Problem und Fragestellung 13 1.2 Verortung innerhalb der Wissenschaftstheorie 15 1.3 Forschungsüberblick, Einordnung und relevante Literatur 22 1.3.1 Überlegungen zu einer Grundstruktur der politik didaktischen Forschung und der eigenen Verortung 23 1.3.2 Schlaglichter zur Entwicklung der (politikdidaktischen) Urteilsforschung 26 1.3.3 Emotionsforschung in den Politikwissenschaften 35 1.3.4 Emotionsforschung in der Politikdidaktik und politischen Bildung 39 1.3.5 Zusammenfassung 44 1.4 Gütekriterien 46 1.4.1 Validität 48 1.4.2 Reliabilität 51 1.4.3 Objektivität 52 I. Teil: Theorierahmen 2 Politikbegriff 2.1 Gelingensbedingungen politischen Handelns 2.2 Reichweite 2.3 Gegenstand 2.4 Modus

57 60 66 69 70

XIV

Inhaltsverzeichnis

3 Politische Urteile 3.1 Wertung 3.2 politische Dimension 3.3 Öffentlichkeit 3.4 Zusammenfassung einer (Arbeits-)Definition des politischen Urteilens Exkurs: Weitere Urteilsformen Vorurteile Moralische Urteile

75 76 76 80 82 83 83 86

4 Urteilskompetenz

89

5 Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz 5.1 Wissensdimension 5.2 Dimension des Nichtwissens 5.3 Der (freie) Wille – Dimension oder Illusion? 5.4 Dimension der Wertevorstellungen 5.5 Dimension der somatischen Voraussetzungen

93 96 98 102 104 108

6 Eine theoretische Annäherung: Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Affekte und Emotionalität 6.1 Emotionen: Versuch einer Definition 6.1.1 Kognition 6.1.2 Wunsch 6.1.3 Neurophysiologie 6.1.4 Physiologie 6.1.5 Motivation 6.1.6 Empfinden 6.1.7 Reaktion 6.2 Emotionen: eine theoretische Eingrenzung 6.3 Die Sozialität von Emotionen 6.4 Zusammenfassung

115 117 120 122 123 125 125 126 127 127 134 140

Inhaltsverzeichnis

XV

7 Emotionen und Politik 7.1 Antike Traditionen 7.2 Christliche Traditionen 7.3 (Früh-)Moderne Traditionen 7.3.1 Thomas Hobbes 7.3.2 Jean-Jacques Rousseau 7.3.3 Immanuel Kant 7.4 Zusammenfassung

141 142 146 157 157 160 169 172

8 Emotionen in der gegenwärtigen Politik 8.1 Emotionsmanagement 8.2 Emotional Mainstreaming 8.3 Emotionen als Input politischer Prozesse

175 177 184 190

9 Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung 9.1 Atmosphäre 9.2 Die Rolle der Lehrenden 9.3 (Politik-)Unterricht

193 199 200 202

10 Emotionen und politisches Urteilen: eine theoretische Annäherung 10.1 Involvierung und Motivation 10.2 Strukturierung und Bewertung Exkurs: Der Fall Gage 10.3 Vermittlung und Kommunikation 10.4 Zusammenfassung

211 214 217 218 232 235

11 Präzisierung der Forschungsfragen

237

II. Teil: Empirie 12 Populationsauswahl 12.1 Voraussetzungen 12.2 Forschungspragmatismus

241 241 242

XVI

Inhaltsverzeichnis

13 Das qualitative Experiment 13.1 Erörterung experimenteller Untersuchungsformen 13.2 Design, Aufbau und Durchführung des qualitativen Experimentes 13.2.1 Maximierung und Minimierung 13.2.2 Testen der Grenzen 13.2.3 Adaption

245 248 252 253 261 265

14 Fragebogen 14.1 Konzipierung 14.2 Durchführung

285 285 288

15 Qualitative Interviews 15.1 Konzipierung 15.2 Durchführung 15.3 Begleiterhebung zur Qualitätssicherung

291 294 298 299

16 Analytische und interpretative Grundlagen 301 16.1 Hermeneutik 310 16.2 Objektive Hermeneutik 310 Exkurs: Hermeneutische Ansätze in politikdidaktischen 312 Kontexten 16.3 Sprechakttheorien in der politolinguistischen Forschung 316 16.3.1 Agitationsmodell 316 16.3.2 Persuasionsmodell 317 16.3.3 Kommunikationsmaximenmodell 318 16.3.4 Topisches Argumentationshandeln 320 16.3.5 Zusammenfassung 321 322 16.4 Topik 330 16.4.1 Argumentationstheorien 16.4.2 Logos 333 16.4.3 Ethos 336 16.4.4 Pathos 339 16.5 Tropen 342

Inhaltsverzeichnis

XVII

17 Vorschlag eines Analyseverfahrens zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität 349 17.1 Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität (ARtE) 350 17.2 Analyseebenen zur Rekonstruktion emotionaler Korrelate 361 17.2.1 I. Analyseebene: Formen der direkten emotionalen Manifestation 362 17.2.2 II. Analyseebene: Formen der indirekten, jedoch lexikalisch deutbaren emotionalen Manifestationen 363 17.2.3 III. Analyseebene: Formen der indirekten und lexikalisch nicht deutbaren emotionalen Manifestationen 364 17.2.4 IV Analyseebene: Tropen 365 III. Teil: Auswertung und Untersuchungsergebnisse 18 Auswertung der Urteilstexte 18.1 Codierungsverfahren 18.1.1 Alternativkonzepte 18.1.2 Emotional uneindeutig 18.1.3 Tropen 18.1.4 Direkt deutbare emotionale Manifestationen 18.1.5 Lexikalisch deutbare Emotionen 18.1.6 Lexikalisch nicht deutbare Emotionen 18.2 Topik

371 372 375 377 377 379 383 386 387

19 Auswertung der Fragebögen 391 19.1 Evaluation der eingesetzten Untersuchungsmaterialien 392 19.2 Einfluss der audiovisuellen Reizevokation auf die emotionale Stimmungslage und das Urteilsvermögen der Untersuchungsteilnehmer*innen 395 19.3 Urteilsmotivation der Untersuchungsteilnehmer*innen 398

XVIII

Inhaltsverzeichnis

20 Auswertung der Interview 403 20.1 Strukturierende Inhaltsanalyse 404 20.2 Darstellung der Auswertungsergebnisse 409 20.2.1 Involvierung und Motivation 413 20.2.2 Strukturierung und Bewertung 414 20.3 Evaluation der eingesetzten Forschungsinstrumente 418 21 Interpretative Zusammenführung und Beantwortung der Forschungsfragen 21.1 Allgemeine Beobachtungen und interpretative Schlüsse 21.2 Einfluss von Emotionen beim politischen Urteilen 21.2.1 Prä-Urteilsphase (Motivation und Involvierung) 21.2.2 Haupt-Urteilsphase (Strukturierung und Bewertung) 21.2.3 Post-Urteilsphase (Vermittlung und Kommunikation)

421 425 430 434 440 450

IV. Teil: Transfer 22 Bildungspolitische und (Politik-)Didaktische Impulse 22.1 Überlegungen zum Theorie-Praxis-Problem 22.2 Überlegungen zu den Rahmenbedingungen einer Emotionsdidaktik 22.3 Überlegungen zu einem erweiterten Kompetenzmodell der politischen Urteilskompetenz 22.4 Didaktische Konkretisierungen und praktische Konsequenzen 23 Fazit und Ausblick 23.1 Impulse für zukünftige Forschungsbemühungen 23.2 Resümee

471 471 474 478 484

491 494 498

Literatur

501

Anhang

563

Tabellenverzeichnis Tabelle 1

Teil A der modifizierten Darstellung der von Petri entworfenen „Matrix zur Planung eines emotionssensiblen Unterrichts“ (Petri 2019, 272f., Hervorh. im Original).

S. 41

Tabelle 2

Teil B der modifizierten Darstellung der von Petri entworfenen „Matrix zur Planung eines emotionssensiblen Unterrichts“ (Petri 2019, 272f., Hervorh. im Original).

S. 42

Tabelle 3

Überblick der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Gütekriterien und deren Operationalisierung.

S. 53

Tabelle 4

Modifizierte Darstellung der von Breit (vgl. 1986, 491) skizzierten Komponenten des politisch-moralischen Urteils.

S. 80

Tabelle 5

Mehrkomponenten-Definition zum Emotionsbegriff

S. 119

Tabelle 6

Mittelwerte der in der Untersuchung eingesetzten Bildmaterialien aus dem IAPS für die Dimensionen Valenz, Arousal und Dominanz. Die Werte in den Klammern zeigen die durchschnittliche Standardabweichung an.

S. 259

Tabelle 7

Musterdarstellung des erfolgten experimentellen Ablaufs für alle vier Erhebungsintervalle,wobei die grau hinterlegte Phase der emotionalen Reizinduktion lediglich in den Erhebungsintervallen 2-4 zum Einsatz kam.

S. 267

Tabelle 8

Grenzverschiebungstropen in Anlehnung an Kolmer und Rob-Santer (vgl. 2002, 126-135); modifizierte und um eigene Indikatoren und Beispiele ergänzte Darstellung.

S. 346

Tabelle 9

Sprungtropen in Anlehnung an Kolmer und Rob-Santer (vgl. 2002, 135-146); modifizierte und um eigene Indikatoren und Beispiele ergänzte Darstellung.

S. 347

XX

Tabellenverzeichnis

Tabelle 10

Tabellarische Übersicht der Ablaufphasen des Ansatzes zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität. Die grau hinterlegten Phasen sind als optional zu verstehen.

S. 350

Tabelle 11

Tabellarische Übersicht, der chronologisch aufeinander aufbauenden Analyseebenen, des Ansatzes zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität.

S. 352

Tabelle 12

Übersicht möglicher Junktoren nach dem Beispiel von Kienpointner (vgl. 2008, 704).

S. 354

Tabelle 13

Vereinfachte Darstellung des verwendeten Codesystems. Die komplette Darstellung, inklusive aller Subebenen, findet sich im Anhang (M99).

S. 373

Tabelle 14

Häufigkeit der von den Schüler*innen in ihren Urteilstexten verwendeten Tropen.

S. 379

Tabelle 15

Übersicht der direkten emotionale Manifestationen.

S. 381

Tabelle 16

Übersicht der im Kontext der vorliegenden Arbeit relevanten lexikalischen Wortbedeutungen.

S. 384

Tabelle 17

Beispielhafte Darstellung der Generalisierung der emotionalen Implikation eines Textfragmentes.

S. 387

Tabelle 18

Übersicht der induktiv gebildeten Topoi. Die Zahlen geben dabei an, wie viel emotionale Generalisierungen insgesamt einer entsprechen Topik zugeordnet wurden. Zusätzlich ergibt sich aus den vertikalen Spaltenbeschreibungen, aus welchem emotionalen Äußerungsbereich (direkt, lexikalisch oder nicht lexikalisch deutbare Emotionalität) sowie mit welchem emotionalen Impetus (positiv vs. negativ), in Bezug auf das bG, die Generalisierung verbunden ist.

S. 389

Tabelle 19

Tabellarische Darstellung der sozialstatistischen Angaben S. 393 der Untersuchungsteilnehmer*innen.

Tabellenverzeichnis

XXI

Tabelle 20

Fragebogenergebnisse bezüglich der Verständlichkeit der im Rahmen der Datenerhebung eingesetzten Urteilsaufgabe und Beilagematerialien.

S. 393

Tabelle 21

Auswertungsergebnisse zum Einfluss der audiovisuellen Reizevokation auf die Stimmungslage der Teilnehmer*innen.

S. 395

Tabelle 22

Ereignisse aus der Fragebogenstudie bezüglich des emotionalen Erlebens und der Motivation der Teilnehmer*innen.

S. 399

Tabelle 23

Tabellarische Darstellung der angewendeten Kodierregeln zur Auswertung der erhobenen qualitativen Interviews.

S. 406

Tabelle 24

Darstellung des erweiterten Codesystems im Rahmen der S. 408 Auswertung der qualitativen Interviews.

Tabelle 25

Übersicht der Wirkung der emotionalen Evokation, nach Selbsteinschätzung der Interviewteilnehmer*innen.

S. 410

Tabelle 26

Einfluss von Emotionen auf politische Urteilsprozesse, nach Selbsteinschätzung der Interviewteilnehmer*innen.

S. 411

Tabelle 27

Einfluss der erfolgten Stimmungsmanipulation auf die Urteilspositionen der Teilnehmer*innen.

S. 432

Tabelle 28

Vergleich der Konzepte von Weber (vgl. 1975, 110-114) und Mayer/Salovey (vgl. 1997, 11).

S. 478

Tabelle 29

Kompetenzmodell zur politischen Urteilskompetenz welches sowohl rationale als auch emotionale Regelstandards berücksichtigt.

S. 479

Tabelle 30

Planungshilfe für eine emotionssensible politische Urteilsbildung.

S. 489

Tabelle 31

Stichpunkte zur Rolle von Emotionen innerhalb politischer Urteilsprozesse, unterteilt in die der Phasen: Prä-, Haupt- und Post-Urteilsphase.

S. 492

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Das flow-Modell. Modifizierte Grafik nach S. 196 Csíkszentmihályi 1985, 80. Die gepunkteten Mittellinien repräsentieren dabei das durchschnittliche Fähigkeits- (X-Achse) und Anforderungsniveau (Y-Achse) einer Person. Abbildung 2 Emotionale Reaktionen sind eine Grundvoraussetzung S. 216 für das zustandekommen von subjektiver Urteilsbereitschaft. Abbildung 3 Modifizierte Darstellung der Verortung des qualitativen Experimentes innerhalb der Wissensproduktionslandschaft nach Kleining (vgl. 1986, 727).

S. 246

Abbildung 4 Vier stufiges Verfahren zur qualitativen Unterscheidung der emotionalen Kompetenz beim politischen Urteilen. Inspiriert wurde das Modell durch die Arbeiten von Weber (vgl. 1975, 110-114) und Mayer & Salovey (vgl.1997, 11).

S. 485

Abkürzungsverzeichnis Abb. Abs. AfD ALG II Arist. Art. ARtE Aufl. Ausg. Bd. bG BIP BMBF BpB bspw. bzw. ca. CDU CSU d. Dr. dt. durchges. ebd. engl. etc. FCKW feat. FN

Abbildung Absatz Alternative für Deutschland Arbeitslosengeld II Aristoteles Artikel Ansatz zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität Auflage Ausgabe Band bedingungsloses Grundeinkommen Bruttoinlandsprodukt Bundesministeriums für Bildung und Forschung Bundeszentrale für politische Bildung beispielsweise beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. durch Doktor*in Deutsch durchgesehene ebenda englisch und die übrigen Fluorchlorkohlen-wasserstoff Featuring Fußnote

XXVI

GESIS GG ggfs. GNH GPJE Hervorh. IADS IAPS i.E. i.d.R. insb. inkl. Jhs. m.E. MUT n. Chr. NGO NS o.A. Pegida PISA PR Prof. Rhet. Röm. SAM SED s.o. sog. SPD

Abkürzungsverzeichnis

Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen Grundgesetz gegebenenfalls Gross National Happiness Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung Hervorhebung International Affective Digitized Sounds International Affective Picture Systems im Erscheinen in der Regel insbesondere inklusive Jahrhunderts meines Erachtens Moralisches Urteil-Test nach Christus Nichtregierungsorganisation Nationalsozialismus ohne Angabe Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes Programme for International Student Assessment Public Relations Professor Rhetorik Brief des Paulus an die Römer Self-Assessment Manikin Sozialistische Einheitsspartei Deutschlands siehe oben sogenannte Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Abkürzungsverzeichnis

Tab. u.a. Übers. UN unv. USA usf. usw. UVStrahlung TK v. v. Chr. Verf.

Tabelle unter anderem Übersetzt United Nations unverständlich United States of America und so fort und so weiter Ultraviolettstrahlung

vgl. vmtl. vollst. wdg. zap z.B. ZeDiS zit ZKPR z.T.

vergleiche vermutlich vollständige wiedergegeben Zentrum für Arbeit und Politik zum Beispiel Zentrums für die Didaktiken der Sozialwissenschaften zitiert Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation zum Teil

Techniker Krankenkasse von vor Christus Verfasser

XXVII

1 Einleitung Es gibt keine rein politischen Emotionen, aber es gibt Emotionen, die politisch sind. Zum einen, weil alle Emotionen über das Politische hinausgehen und auch außerhalb von entsprechenden Kontexten eine Rolle spielen, und zum anderen, da ihnen, beispielsweise bei der Konstruktion und Reproduktion von politischen Ordnungen, eine entscheidende Rolle zufällt. Man denke etwa an die intellektuelle Kontroverse zwischen Thomas Hobbes (vgl. 2007) und John Locke (vgl. 1977), die in ihren Texten darüber stritten, ob für einen gelungenen Staat das Misstrauen oder das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierung konstitutiv sei. Während für Hobbes (vgl. 2007, 116f.) die Rechtfertigung des Staates gerade in einem anthropologisch begründeten Misstrauen (vgl. Kapitel 7.3.1) des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen lag, betonte Locke (vgl. 1977, 257278), dass kein Staat – unabhängig von seiner Regierungsform – ohne ein wechselseitiges Vertrauen zwischen den Regierten und den Regierenden bestehen könne.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_1

2

Einleitung

Heute dürfte hingegen weitgehend Einigkeit darüber herrschen, dass beide Emotionen ihre je eigene Berechtigung innerhalb politischer Sphären haben. Um den Grad des gesellschaftlichen Zusammenhalts quantifizierbar zu machen, wird etwa in Meinungsumfragen regelmäßig das Vertrauen von Bürger*innen1 in bestehende politische Institutionen abgefragt (vgl. Bertelsmann Stiftung 2019, 72-84) und in der Nationalversammlung von Weimar als auch im Parlamentarischen Rat in Bonn wurde bereits über die Frage gestritten, „ob nicht Misstrauen die eigentliche demokratische Tugend sei“ (Nielsen 2015, 33). In der Bundesrepublik faktisch institutionalisiert ist das Misstrauen letztlich im Gewand der Gewaltenteilung oder der regelmäßigen Wahl politischer Vertreter*innen. Aber auch in den feingliedrigen Strukturen der parlamentarischen Kultur ist sie eingewoben. So stellt etwa die größte Oppositionspartei im Bundestag traditionell den Vorsitz des Bundeshaushaltsausschusses und nimmt damit eine Schlüsselposition in einem der wichtigsten Gremien einer jeden Regierung ein2 (vgl. ebd., 45). Diese wenigen Beispiele verdeutlichen bereits, wie eng die Ebenen von Politik und Emotionen miteinander verwoben sind und zeigen auch, worauf Martha Nussbaum (vgl. 2016, 12) bereits in ihrem viel beachteten

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Das sprachliche Unsichtbarmachen der geschlechtlichen Vielfalt in Zeiten, in denen zweifelsohne keine gleichberechtigte Anerkennung zwischen den verschiedenen Ge schlechtern und sexuellen Orientierungen herrscht (vgl. OECD 2013, 13f.) und ein von der hegemonialen Norm abweichendes Verhalten vielerorts mit Aversion und Diskriminierung gestraft wird (vgl. ebd., 15), soll hier in Form des sogenannten GenderSternchens bewusst begegnet werden. So schließt diese Schreibweise alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung aktiv ein. All den jenigen, die ein solches Verfahren für unbequem und als den Lesefluss störend erachten, sei hier zudem noch entgegnet, dass derartige Effekte durchaus erwünscht sind. Denn dort, wo Menschen tagtäglich aufgrund ihres bloßen Seins zu Objekten der Ausgrenzung und Diskriminierung degradiert werden, sollten alle anderen sich nicht in Bequemlichkeiten einrichten.

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Werk Politische Emotionen hingewiesen hat, nämlich, dass es irrtümlich ist, anzunehmen, lediglich faschistische oder aggressive Gesellschaften seien auf die Kultivierung von Emotionen angewiesen. Im Gegenteil, der weltweite Rückbau liberaler Errungenschaften durch öffentlich wiedererstarkende rechtsextreme Parteien (vgl. Demuth 2016, 1f.) führt uns deutlich vor Augen, wie eng die Stabilität einer Gesellschaft mit dazugehöriger Pflege von Emotionen verbunden ist. Integrierende Elemente wie geteilte Sprache oder gemeinsame Kulturerfahrungen wirken den gesellschaftspolitischen Zentrifugalkräften alleine nicht hinreichend entgegen. Die berühmte Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe 1910, 385) stellt sich eben nicht nur auf der literarischen, sondern auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene. Die Sozialwissenschaften3 sind daher seit jeher auf der Suche nach einem gemeinsamen Kern, welcher als Bindeelement dazu dient, eine akzeptierte Ordnung innerhalb pluralistischer Gesellschaften zu etablieren. Dass Emotionen dabei eine Rolle zu spielen haben, wird vermutlich niemand ernsthaft bezweifeln und wird auch von der Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha C. Nussbaum betont:

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Eine Abweichung von diesem Brauch gab es allerdings zu Zeiten der ersten großen Koalition 1966 auf Bundesebene. Nach dem die FDP vorzeitig die Regierung verlassen hatte und die SPD an ihre Stelle gerückt war, behielt diese dennoch den Vorsitz im Ausschuss bis zur nächsten Wahl 1969. Jüngstes Beispiel hierfür sind etwa die aktuellen Pläne des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Einrichtung eines sozialwissenschaftlichen Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt (vgl. BMBF 2018).

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„Alle politischen Prinzipien, gute wie schlechte, bedürfen der emotionalen Unterfütterung, damit sie langfristig Bestand haben, und alle gut funktionierenden Gesellschaften müssen Schutzmauern gegen Spaltungen und Hierarchien errichten, indem sie Emotionen wie Mitgefühl und Zuneigung fördern und pflegen.“ (Nussbaum 2016, 13).

Dennoch hatte die politische Kultivierung von Emotionen lange keinen guten Stand (vgl. Besand 2015, 215). Ohne Anspruch auf Absolutheit dürfte ein wesentlicher Grund hierfür in der von Edward Bernays (vgl. 2007) und Gustave Le Bon (vgl. 2009) Anfang der 1920er Jahre entwickelten Form der Propaganda4 liegen, welche sie später in Public Relations (PR) umbenannten. Teil dieser neuartigen Manipulation der Massen war die Verkürzung von Aussagen und Argumentationen auf einen emotionalen Kern, der keinesfalls der Wirklichkeit entsprechen musste (vgl. Kapitel 16.4.1). Die unglaubliche Gestaltungsmacht der modernen Propaganda nach Bernays Rezeptur machte aus Arbeiter*innen und Angestellten nicht nur Konsument*innen, ließ Zigaretten gesund erscheinen und verlieh dem Rauchen für Frauen eine emanzipatorische Attitüde (vgl. Stauber/Rampton 2006, 47f.), sondern trug auch entscheidend zum Sturz demokratisch gewählter Regierungen bei – wie etwa 1954 in Guatemala (vgl. Schlesinger/Kinzer 1984, 86-105) – und wurde bedauerlicherweise sehr erfolgreich von totalitären Staaten und deren Propagandaapparaten kopiert und für menschenverachtende Ziele eingesetzt (vgl. Griese 2000)5. Die Wirkmächtigkeit die4 Der ursprünglich lediglich biologisch (im Sinne von z.B. ausdehnen und fortpflanzen) verwendete Begriff der Propaganda wurde nachweislich zu Beginn des 17. Jahr hunderts von der katholischen Kirche für die Bezeichnung ihrer Missionstätigkeiten verwendet (vgl. Schieder/Dipper 1984, 69). In den politischen Kontext wurde der Be griff um 1780 eingeführt, als protestantische Aufklärer*innen ihn übernahmen, um sich gegen die römisch-katholische Kirche in Stellung zu bringen (vgl. ebd., 71). 5 Eine gute Skizze propagandistischer Politik aus der jüngsten deutschen Vergangenheit findet sich etwa bei Gries (vgl. 2000), der in seinem Aufsatz Propagandageschichte als Kulturgeschichte die Wirkung der Staatspropaganda der Deutschen Demokratischen Republik beleuchtet.

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ser emotionalen Manipulationsinstrumente offenbart sich dabei vielleicht am deutlichsten in der Tatsache, dass ihre Apostel sich nicht einmal große Mühe geben mussten, ihre Methoden zu verschleiern. Als Folge dieses Missbrauchs mit katastrophalen Ausmaßen konnten Stimmen laut werden, welche dafür warben, Emotionen in politischen Kontexten ihre Legitimität in Gänze abzusprechen (vgl. Besand 2015, 215). Ein Unterfangen, welches vor dem Hintergrund der Tyrannei und Barbarei im 20. Jahrhundert vielleicht verständlich erscheint, jedoch an der Realität vorbeigeht. Denn auch wenn auf philosophischer Ebene – die der Welt stets ein Stück entrückt scheint – eine rein rational organisierte Staatsführung vorstellbar erscheint, ist diese auf praktischer Ebene – auf der sich die Politik bewegt – undenkbar, und so muss jeder Versuch, Emotionen aus der politischen Sphäre subtrahieren zu wollen, zwangsläufig scheitern (vgl. Kapitel 6). Einen Ausweg bietet m.E. daher auch nicht die Negation von Emotionen in der Politik, sondern nur deren bewusste Kultivierung. Emotionen lassen sich eben nur durch Emotionen im Zaum halten – eine Erkenntnis, welche sich im Rückblick auch auf eine mehrere tausend Jahre alte politische Geschichte stützen lässt (vgl. Kapitel 7). Aus diesem Grund obliegt es einer jeden Gesellschaft, die eigene Emotionskultur (vgl. Kapitel 6.3) als Teil ihrer politischen Kulturlandschaft zu verstehen und zu entwickeln. Martha Nussbaum (vgl. 2016) weist hierfür auf zwei Orientierungslinien hin, die auch ich diesbezüglich für zentral halte und die daher im Folgenden kurz wiedergegeben werden sollen. Die erste besteht darin, „ein starkes Engagement für die guten Projekte zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die Anstrengungen und Opfer erfordern – wie etwa soziale Umverteilung, die vollständige Inklusion von vormals ausgeschlossenen oder marginalisierten Gruppen, Umweltschutz [und] Entwicklungshilfe“ (Nussbaum 2016, 13). Im Gegensatz zu Nussbaum (vgl. ebd.) gehe ich dabei allerdings nicht davon aus, dass hierfür Emotionen besonders hilfreich sein können, welche sich auf eine spezifische

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Nation richten, sondern vertrete die These, dass nur nationsübergreifende Bezugspunkte wie z.B. die Charta der Vereinten Nationen sich als emotionale Leuchttürme eignen. Gerade dann, wenn man Inklusion von vormals Ausgeschlossenen ernst nimmt. Den Nationen fällt in diesem Rahmen jedoch zweifelsohne eine wichtige Brückenfunktion zu. Über welche Mittel zum Zwecke der emotionalen Evokation und Kultivierung heutige Gesellschaften und politische Kräfte verfügen, wird dabei ausführlich in Kapitel 8 vorgestellt. Die zweite Linie in Bezug auf die Pflege und Förderung von öffentlichen Emotionen schließt das Hauptthema dieser Arbeit besonders stark ein, nämlich den Zusammenhang von Emotionen und politischem Urteilen, welche die Schnittstellen zwischen der Theorie und Praxis bilden. Sie besteht darin, eine Möglichkeit zu schaffen, die Kräfte in Schach zu halten, „die in allen Gesellschaften und letztlich auch in uns allen lauern: die Neigung, das fragile Ich durch die Herabsetzung und Diffamierung anderer zu kompensieren (Nussbaum 2016, 13f.)6. So können etwa die im politischen Kontext als problematisch aufzufassenden Emotionen wie Abscheu, Neid oder das Bedürfnis, andere Menschen zu erniedrigen großen Schaden anrichten. Erst recht dann, „wenn sie maßgeblichen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozeß und die Gestaltung der Gesellschaft haben“ (ebd., 14). Um ihnen gebührend zu begegnen, braucht es daher eine politische Kulturlandschaft, welche ihren emotionalen Output in Form von politischen Urteilen im Sinne einer positiven Emotionalität und, wo nötig, auch als emotionalen Antidot kalibriert. Ziel muss es dabei sein, in emotionaler Hinsicht auf positive Emotionen wie Mitgefühl und Zuneigung aufzubauen und die Kultivierung dieser Emotionen stabil zu halten. Dass sich dies nicht ohne breite Unterstützung der politischen Bildungslandschaft vollziehen kann, liegt auf der Hand. Umso verwunderlicher ist der aktuelle Winterschlaf, in dem sich die politische Bildung in dieser Hinsicht im Allgemeinen und die Politikdidaktik im Speziellen befinden. So wird die Relevanz der Auseinandersetzung mit Emotionen im Rahmen politischer Lehr-Lernprozesse zwar weitgehend als wichtig erachtet (vgl. etwa Weber-

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Stein 2019a; Petri 2019; Besand 2015), jedoch mangelt es nach wie vor an handlungsleitenden Ausarbeitungen hierzu. Zugegebenermaßen nicht ganz widerspruchsfrei7 hatte diesbezüglich bereits John Locke gefordert: „Wer […] das Lehramt auf sich nimmt, der ist auch verpflichtet, seinen Hörern die Pflichten der Friedfertigkeit und des guten Willens gegen alle Menschen, die im Irrtum befindlichen so gut als die rechtgläubigen einzuschärfen“ (Locke 1996, 39). Um die Rolle von Emotionen innerhalb von politischen Urteilsprozessen untersuchen zu können, gliedert sich die vorliegende Arbeit in vier Teilbereiche: Einleitung, Theorie- und Empirieteil sowie Ergebnisinterpretation. Zentraler Teil der Einleitung ist zunächst die Klärung der Problemlage und Fragestellung. Dabei werden die erkenntnisleitenden Forschungsannahmen der Arbeit dargelegt und die für ihre Beantwortung entscheidenden Zielbereiche definiert (vgl. Kapitel 1.1). Daran anschließend steht der Versuch einer eigenen Verortung innerhalb der Wissenschaftstheorie (vgl. Kapitel 1.2), bevor im Kapitel 1.3 die empirische und theoretische Forschungslandschaft erkundet und nach Orien-

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Eine Eigenschaft, welche von Nussbaum (vgl. 2016, 14) in Anlehnung an Immanuel Kant (vgl. 2003, 21-69) auch als das radikal Böse bezeichnet wird. Ebenfalls unter Bezugnahme auf Kant (vgl. ebd.) hat Hannah Arendt (vgl. 2013) für ihre Beschreibung den Terminus von der Banalität des Bösen geprägt und der Dramatiker, Librettist, Lyriker und Mitbegründer des dialektischen Theaters Bertold Brecht (vgl. 1968) lässt sie in personifizierter Form u.a. in der Gestalt des bösen Baals auftreten. Zwar lässt sich der Beginn des modernen Schulwesens auf das 17. Jahrhundert datieren (vgl. Detjen 2013, 8). Dennoch waren zur Zeit von John Locke im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert im europäischen Raum immer noch die Kirchen in Sachen Bildung wohl die wichtigste Instanz und auch Locke verfasste so manche theologische Schrift, dabei hegten jedoch gerade die Kirchen kein Interesse an einer ausgewogenen Darstellung von Welt und verfolgten auch in emotionaler Hinsicht ganz eigene Lernziele (vgl. Kapitel 7.2).

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tierungspunkten für die Entwicklung eines neuen empirischen Ansatzes befragt wird. Dabei wird vor allem deutlich, dass trotz der besonderen Relevanz, welche die Politikdidaktik der Entwicklung einer politischen Urteilskompetenz beimisst, diese bislang kaum empirisch erforscht wurde und das vor allem im Hinblick auf die hier im Fokus stehenden Interessen, was die Verbindung von Emotionen und politischem Urteilen betrifft, auf keine empirischen Erkenntnisse aus der Politikdidaktik zurückgegriffen werden kann. Notgedrungen muss der Forschungsstand daher weiter gefasst und sowohl relevante Literatur aus der Politikdidaktik als auch aus weiteren Bezugswissenschaften vorgestellt und im Hinblick auf ihren Mehrwert befragt werden. Im letzten Abschnitt der Einleitung werden schließlich die für die Arbeit relevanten wissenschaftlichen Gütekriterien dargestellt und deren Funktionen bezüglich der vorliegenden Arbeit kritisch diskutiert (vgl. Kapitel 1.4). In dem sich daran anschließenden Theorieteil erfolgt zuerst eine fachliche Klärung relevanter Schlüsselbegriffe (vgl. Kapitel 2-6). Wobei hier in Anlehnung an Jürgen Otto et al. (vgl. 2000, 11) auf den Umstand verwiesen sei, dass es sich um ein weitverbreitetes Missverständnis handelt, dass am Anfang der Vorstellung einer wissenschaftlichen Analyse eine ausgereifte Begriffsbestimmung stehen müsse. Schließlich ist das zu bestimmende Phänomen zumeist selbst Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung, weshalb sich seine Konturen vollends auch erst im Laufe der Analyse schärfen lassen. Es geht daher in diesem Abschnitt auch nicht um die Darlegung letztgültiger Schlüsse, sondern um die Entwicklung von tragfähigen Arbeitsdefinitionen, die es ermöglichen, das Wesen der hier behandelten Phänomene verständlicher zu machen. Nach der ersten Klärung von relevanten Begrifflichkeiten folgt im nächsten Arbeitsschritt deren Synthese, wobei die einzelnen Untersuchungsgegenstände (z.B. Politik, Urteilen oder Emotionen) in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang gesetzt werden (vgl. Kapitel 7-10). Abermals kann es

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dabei nicht um die erschöpfende Aufarbeitung derselben gehen, sondern um das Auffinden tragfähiger Zugänge zu einzelnen Themenfeldern, welche im Sinne der Forschungsfrage von Bedeutung erscheinen. So offenbart etwa die Analyse ausgewählter Splitter der politischen Ideengeschichte (vgl. Kapitel 8), dass es sich bei der Beschäftigung mit den Themenkomplexen Politik, politische Bildung, politisches Urteilen und Emotionen keinesfalls um eine Neuerfindungen oder gar ein Phänomen der Moderne handelt, sondern um die Fortsetzung einer mehr als 2400 Jahre andauernden Denktradition, welche über einen reichen Fundus theoretischer Deutungsund Erklärungsversuche bezüglich des Zusammenhangs von politischen Urteilen und Emotionen verfügt8. Trotz dieser Tatsache wird aber auch deutlich, dass die einstmalige besondere Stellung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen innerhalb der Emotionsforschung (vgl. Kapitel 7) in den letzten Jahren zunehmend durch Arbeiten aus der Psychologie sowie den Neurowissenschaften unter Druck geraten ist (vgl. Kapitel 8 und 10). Im Kontext der Arbeit ist es jedoch gerade der Einbezug unterschiedlicher Denkschulen und Forschungstraditionen, welcher zu einem detailreichen Bild des Forschungsgegenstandes beiträgt und gleichzeitig den nötigen Interpretationsrahmen bietet, in dessen Raum sich letztlich die Analyse der empirisch gewonnenen Daten vollziehen kann. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Auseinandersetzung erfolgt weiter eine Präzisierung der Forschungsfragen (vgl. Kapitel 11). Notwendig erscheint dies, da auf Grundlage der theoretischen Erkenntnisse, Teile der ursprünglichen Problemstellung bereits als geklärt betrachtet werden

8 Auch Helle Becker und Annabell Brosi (vgl. 2019, 47) weisen in ihrem jüngst erschie nen Aufsatz Emotionen, Bildung und Politik – Ein Einblick in die Forschungsland schaft darauf hin, dass der Einbezug älterer Ansätze und insbesondere die Frage, „welche Rolle Emotionen bei der Schaffung von sozialen und politischen Ordnungen spielen“ (ebd.) bei der Untersuchung des Zusammenhangs von Emotionen und politischer Bildung immer von Bedeutung seien.

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können und sich bei der nachfolgenden empirischen Erhebung daher vornehmlich auf die noch offenen Fragestellungen konzentriert werden soll (vgl. Kapitel 10). Ausgehend von diesen Annahmen erfolgt schließlich die Konstruktion des Interaktionsrahmens für die eigentliche empirische Untersuchung, die mit der Darlegung der Kriterien für die Populationsauswahl beginnt (vgl. Kapitel 12). An diese schließt sich die Begründung und Beschreibung der eingesetzten Erhebungsverfahren an (vgl. Kapitel 13-15), welche ebenfalls einer Reihe von Kriterien genügen müssen. Die Umsetzung dieser Kriterien erfolgt durch die Realisierung eines qualitativen Experimentes (vgl. Kapitel 13). Als flankierende Erhebungsinstrumente wurden dabei zudem innerhalb der Population flächendeckend Fragebögen eingesetzt (vgl. Kapitel 14) und zusätzlich mit einzelnen Teilnehmer*innen vertiefende Interviews geführt (vgl. Kapitel 15). In Anlehnung an Jörg Bergmann (vgl. 1985, 305) konnte somit methodisch eine registrierende Konservierung von sozialer Wirklichkeit (in Form der politischen Urteile in Textform) als auch eine rekonstruierende Konservierung (durch den Einsatz von Fragebögen und einzelnen Interviews) verfolgt werden. Der Einsatz verschiedenster Erhebungsverfahren verbindet dabei zudem die introspektionistische und die interpretative Erfahrungsebene im Rahmen der Erhebung und führt so zu einer Steigerung der Wahrscheinlichkeit der Plausibilität des Datenmaterials. Als besonders herausfordernd gestaltete sich im Rahmen der Arbeit zudem die Konzeptionierung eines praktikablen Auswertungsverfahrens (vgl. Kapitel 16 und 17). Da die politikdidaktische Emotionsforschung noch in ihren Kinderschuhen steckt (vgl. Kapitel 1.2.3), konnte dabei keinem bereits ausgetretenen Pfad gefolgt werden. Ohne Rückgriffmöglichkeit auf fachspezifische Forschungsansätze oder gar erprobte empirische Methoden musste deshalb eine neue Schneise geschlagen werden. Die hier vorgestellte Verfahrensweise der Datenauswertung stellt somit eine Neu-

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erscheinung in der politikdidaktischen Forschungslandschaft dar und muss hier schon alleine deshalb ausdrücklich zur Diskussion gestellt werden (vgl. Kapitel 17). Das Betreten von Neuland setzte zudem eine vertiefende Auseinandersetzung mit möglichen analytischen und interpretativen Zugängen voraus. Die hier zugehörigen Suchbewegungen werden im Kapitel 16 ausgiebig vorgestellt und im Hinblick auf ihren Mehrwert für die durchgeführte Untersuchung diskutiert. Eine vornehmliche Stärke des letztlich entwickelten Ansatzes zur Rekonstruktion textlich gebundener Emotionalität anhand sprachlicher Zeichen ist es schließlich, dass Emotionen nicht direkt bestimmt werden müssen, sondern sich auf ihre allgemeine Intentionalität beschränkt werden kann (vgl. Kapitel 17). Dies trägt entscheidend dazu bei, das u.a. von Allan Gibbard (vgl. 1990) formulierte Grundproblem zu umgehen, nach dem eine generelle Schwierigkeit der Emotionsforschung darin besteht, Emotionen sprachlich adäquat ausdrücken zu können9. Um die Validität der Dateninterpretation zu steigern, wurden zudem Teile der Auswertungseinheiten in mehreren Forschungskolloquien von unterschiedlichen Forscher*innen in einem gemeinsamen Verfahrensschritt interpretiert (vgl. Kapitel 17). Trotz dieses Korrektivs und der interpretativen Validierung soll hier aber dennoch nicht über den subjektiven

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„An emotion, we can say, involves a special way of experiencing one´s world, a way that will be difficult to express and perhaps can only be whistled.“ (Gibbard 1990, 131) Der Vollständigkeit halber soll hier Erwähnung finden, dass auch das Vorgehen der sich als quantitative verstehenden Wissenschaften hier keinen wirklichen Ausweg dar stellt. Oevermann selbst hat dies treffend wie folgt beschrieben: „Demgegenüber kommt es einem schlechten Witz gleich, wenn diejenigen sich auf sogenannte exakte Methoden des standardisierten Messens berufenden vorgeblichen Popperianer, die […] Verfahrensweisen der objektiven Hermeneutik als weich, […] glauben desavouieren zu müssen oder allenfalls gönnerhaft im explorativen Vorzimmer zur Direktion der exakten Wissenschaft zulassen zu können, in ihren eigenen Forschungen vorgeben, das Falsifikations-Modell, das sie als Ideal hochhalten, durch scheinexakte Subsumtion operationaler Indikatoren unter klassifikatorische Begriffe von zu überprüfenden Hypothesen zu erfüllen.“ (Oevermann 2003, 23).

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Charakter der gewonnenen Daten hinweggetäuscht werden; ein Problem, mit dem sich vor allem die qualitative Forschung in Gänze konfrontiert sieht10. Um dennoch eine gewisse Kontrollierbarkeit und somit wissenschaftliche Güte der interpretativen Deutungen zu ermöglichen, wurde im Laufe der Arbeit (vgl. Kapitel 18-20) auf eine ausführliche Dokumentation des Interpretationsprozesses besonders Wert gelegt. Im vierten und letzten großen Abschnitt der Arbeit (vgl. Kapitel 21-23) werden schließlich die Auswertungsergebnisse zunächst mit den theoretischen Erkenntnissen der Arbeit zusammengelegt und ihre objektiven Bedeutungen bestimmt. Vor deren Hintergrund erfolgt schließlich die finale Beantwortung der gestellten Forschungsfragen. Aufgeteilt nach drei Urteilsphasen (Prä-, Haupt- und Post-Urteilsphase) werden dabei die zentralen Erkenntnisse der empirischen und theoretischen Untersuchung miteinander in Bezug gesetzt und auf den Forschungsgegenstand bezogen. Als Ergebnis hiervon bieten sich differenzierte und vertiefende Einblicke in die Funktionsweisen von Emotionen innerhalb politischer Urteilsprozesse (vgl. Kapitel 21). In einem sich zusätzlich anschließenden Abschnitt (vgl. Kapitel 22) können zudem aus den gewonnenen Erkenntnissen weiterführende Impulse für die Politikdidaktik (vgl. Kapitel 22.3) und die politische Bildungspraxis (vgl. Kapitel 28.4) abgeleitet werden. Besonders herausgehoben werden kann dabei etwa der Vorschlag zur Ergänzung eines GPJE-Kompetenzmodells sowie die Entwicklung einer Planungshilfe für eine emotionssensible politische Urteilsbildung. Das Ende der Arbeit stellt dann das Kapitel Fazit und Ausblick (vgl. Kapitel 23) dar, in dem die zentralen Forschungsergebnisse noch einmal zusammengefasst werden und der weitere Forschungsbedarf skizziert wird. Abschließend sei noch erwähnt, dass sich beim Lesen der Arbeit einige Exkurse finden, welche, als solche gekennzeichnet und im Inhaltsverzeich-

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nis gelistet, in die jeweiligen Themenbereiche vertiefende Einsichten bieten sollen. Schnelle Leser*innen können bei Bedarf diese jedoch getrost überspringen, ohne Einbußen bezüglich der Verständlichkeit fürchten zu müssen.

1.1 Problem und Fragestellung Vor dem Hintergrund der hier entfalteten Relevanz einer Auseinandersetzung mit Emotionen und Politik (vgl. Kapitel 1) und den offenkundigen Leerstellen, die in diesem Zusammenhang in der Politikdidaktik bestehen (vgl. Kapitel 1.3), bietet sich die Entwicklung von recht offen gehaltenen Forschungsfragen an. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen daher zunächst die beiden recht basalen Fragestellungen: (a) Spielen Emotionen beim politischen Urteilen eine Rolle und, wenn ja, (b) welche Rolle spielen Emotionen innerhalb von politischen Urteilsprozessen? Um beide Fragen beantworten zu können, spannt die Arbeit drei Zielbereiche auf: 1. Angesichts einer diffusen Forschungslage (vgl. Kapitel 1.3) und einer mangelhaften Begriffsbestimmung von Emotionen (vgl. Kapitel 6, 9 und 10) muss am Anfang der Arbeit eine ausführliche Begriffsarbeit stehen, deren Ziel es ist, den Erkenntnis- und Untersuchungsgegenstand für weitere Operationalisierungsschritte fruchtbar zu machen. Dabei scheint, neben einer Orientierung an den klassischen Bezugswissenschaften der Politikdidaktik, auch ein Rückgriff auf Forschungsergebnisse und Theoreme aus den Bereichen der Naturwissenschaften geboten. Um dabei jedoch nicht nur die definitorische Bedeutung relevanter Schlüsselbegriffe herauszuarbeiten, sollen in einem zweiten Schritt auch deren politische Funktionen bestimmt werden. Daher wird in Anlehnung an eine Form der Konvergenzanalyse (vgl. Kapitel 7-8) die politische Ideengeschichte in den Blick genommen, um so erste exemplarische Einsichten in das politische Funktionsspektrum von Emotionen zu ermöglichen.

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2. Zur Erfüllung des Forschungsinteresses bedarf es eines empirischen Ansatzes, mit dessen Hilfe sich Emotionen innerhalb politischer Urteile identifizieren und deren Funktion bestimmen lassen. Da es bislang jedoch an einem Instrumentarium mangelt, welches hierfür geeignet wäre, muss innerhalb der Arbeit zusätzlich die Entwicklung, Erprobung, Durchführung und Evaluation eines solchen geleistet werden, um die gestellten Forschungsfragen zielführend beantworten zu können. In der abschließenden Diskussion der Arbeit muss daher neben der Validität der empirischen Ergebnisse auch die Praktikabilität und Valenz der verwendeten Erhebungsinstrumente selbst in den Blick genommen werden. Um dies zu ermöglichen, sollen neben den Elementen der zentralen Datenerhebung, welche möglichst zur Aufklärung der eingangs formulierten Forschungsfragen beitragen sollen, auch Erhebungsverfahren zur Evaluation der hierfür eingesetzten Forschungsinstrumente zum Tragen kommen. 3. Da die Arbeit keinen Selbstzweck darstellt, sondern das Ziel verfolgt, zu einer Weiterentwicklung politikdidaktischer Praxis- und Theoriebildung beizutragen, sollen aus den Untersuchungsergebnissen fachliche Konsequenzen für die politische Bildungspraxis abgeleitet werden. Dem Fokus der Arbeit entsprechend wird dabei vor allem die politische Urteilsbildung in den Blick genommen und diskutiert, ob und, wenn ja, inwiefern sich der fachdidaktische Blick auf dieses Phänomen wandeln muss. Nachdem damit die zu erkundenden Zielbereiche (vorerst) abgesteckt wurden, seien hier – um Missverständnisse möglichst zu vermeiden – noch einige Hinweise gegeben, was nachfolgend explizit nicht untersucht wird. So nimmt die Studie die Urteilenden selbst kaum und die Urteilsrezipient*innen überhaupt nicht in den Blick. Ausdrücklich wird daher nicht direkt untersucht, wie emotionale Elemente politischer Urteile auf die Urteilenden selbst oder die Urteilsrezipient*innen wirken, sondern auf welche objektive Wirkung sie abzielen. Auch spielt es isoliert keine Rolle, welche argumentative Güte, Diversität, Quantität, Originalität, ideologische Aus-

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richtung oder finale Urteilsposition in den analysierten Urteilstexten zum Ausdruck gebracht werden; von Interesse ist hier einzig die Relevanz der Emotionen innerhalb dieser Prozesse. Es handelt sich daher um eine Performanzuntersuchung politischer Urteile aus einer emotionsdidaktischen Perspektive.

1.2 Verortung innerhalb der Wissenschaftstheorie11 Bereits mit den ersten Worten scheint es mir unumgänglich, die gewählte Überschrift zu diesem Kapitel zu relativieren. So setzt doch jede Verortung innerhalb der Wissenschaftstheorien m.E. zunächst deren umfangreiche perspektivische Wiedergabe voraus. Ein Anspruch, welcher aufgrund der eigentlichen Schwerpunktsetzung dieser Arbeit hier jedoch nicht hinreichend befriedigt werden kann und zugleich wohl auch ein gesondertes Werk darstellen würde. Dennoch scheint es mir grundsätzlich geboten, dass Personen, welche für sich in Anspruch nehmen, wissenschaftlich tätig zu sein, ihr diesbezügliches Verständnis, zumindest in rudimentären Zügen, offenlegen, d.h. einen Einblick in die Perspektiven ihres wissenschaftlichen Paradigmen-Verständnisses gewähren. Schließlich erleichtert

11 Es findet sich eine Fülle von Übersichtswerken zur Wissenschaftstheorie bzw. Wissen schaftsphilosophie. Die folgenden vier Werke, welche aufgrund ihrer inhaltlichen Breite und zeitlichen Aktualität ausgewählt wurden, bilden dabei die Hintergrundfolie der nachfolgenden Überlegungen: Holm Tetens (2013): Wissenschaftstheorie. Eine Einführung behandelt in einer knappen Übersichtsform sowohl natur- als auch geistes und sozialwissenschaftliche Ansätze. Felix Mühlhölzer (2011): Wissenschaft beschäf tigt sich u.a. mit der der Rolle des Erkenntnissubjekts in der Wissenschaft sowie mit den daraus erwachsenden Komplikationen für den Begriff der wissenschaftlichen Objektivität. Martin Carrier (2006): Wissenschaftstheorie zur Einführung thematisiert den Verwertungsdruck aus Wirtschaft und Politik und die daraus resultierenden Konse quenzen für die Wissenschaften. Gerhard Schurz (2006): Einführung in die Wissen schaftstheorie setzt sich aus einer philosophischen Perspektive mit den basalen Begriff lichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens auseinander.

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eine solche Einsicht nicht nur maßgeblich die strukturelle Verortung einer Arbeit, sondern trägt auch durch das Transparentwerden der ihr zugrunde gelegten Hintergrundprämissen zu ihrer inhaltlichen Nachvollziehbarkeit entscheidend bei. Aus diesen Gründen werden im Folgenden einige, zugegebenermaßen skizzenhafte, kritische Überlegungen zur Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Funktion dargelegt, denen ich mich in Bezug auf die theoretische und empirische Akkumulation von Wissen verpflichtet fühle. Ein Anspruch auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit wird aus den oben genannten Gründen dabei explizit nicht erhoben. Vielmehr handelt es sich um ein sich sukzessive (weiter-)entwickelndes Verständnis. Drei Kernfragen stehen dabei im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen: 1) Was kann unter Wissenschaft verstanden werden? 2) Was kann wissenschaftliche Erklärung von Welt leisten und was nicht? 3) Welche funktionale (normative) Rolle kommt der Wissen schaft selbst im gesellschafts-politischen Prozesse zu? Zu (1) lässt sich ausführen, dass in dieser Arbeit unter Wissenschaft ein Erkenntnissystem zur systematischen Gewinnung von Wissen verstanden wird. Die Objektivierung des Wissens erfolgt dabei durch die Beachtung der Grundlagen wissenschaftlicher Arbeitstechniken, welche sich durch ihre systematische Regelgeleitetheit (vgl. Kapitel 1.4) und die akribische Dokumentation ihrer Erhebungsmethoden auszeichnet (vgl. Kapitel 1315; 18). Im Idealfell sollte so eine weitgehende Reproduzierbarkeit und, wo dies nicht möglich ist (wie in der qualitativen Forschung üblich), eine außerordentliche Nachvollziehbarkeit der zur Anwendung gebrachten wissenschaftlichen Verfahren und der damit einhergehenden Wissensakkumulation gewährleistet sein. Trotzdem darf wissenschaftliche Erkenntnis nicht den Eindruck der überzeitlichen und universellen Gültigkeit für sich

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in Anspruch nehmen, sondern sollte alleine aufgrund der anthropologisch begründeten Fehlbarkeit menschlichen Interpretationsvermögens lediglich einen provisorischen Status für sich beanspruchen. Das Vertreten von dogmatischen Positionen kann daher auch nie ein Zeichen von Wissenschaftlichkeit sein. Andererseits kann Wissen, welches mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden akkumuliert wurde, auch nicht als gänzlich sozial determiniert betrachtet werden, ungeachtet dessen, ob es sich dabei um qualitative oder quantitative Verfahren der Erkenntnisgewinnung handelt. Nur in diesem Punkt unterscheidet sich die wissenschaftliche Wissensakkumulation von anderen Wissensakkumulationsformen, welche etwa als Erfahrungs- oder Alltagswissen bezeichnet werden. Neben der spezifischen Art der Wissensproduktion zeichnet sich Wissenschaft m.E. zudem auch durch eine besondere Art der Wissensverwaltung aus oder sollte sich auszeichnen. Denn zweifelsohne geht mit dem Erwerb von Wissen auch Verantwortung einher. Wissenserkenntnisse, welche in Bezug auf Einzelphänomene gewonnen werden, müssen daher in einen größeren theoretischen Gesamtzusammenhang eingebettet werden, welcher die Unantastbarkeit von Leben in seinen vielfältigsten Erscheinungsformen betont. Neben dieser moralischen Verpflichtung, Wissenschaft für und nicht gegen das Leben zu betreiben, ist eine solche Einbettung aber auch alleine deshalb geboten, da ohne eine solche Kontextualisierung gewonnenes Wissen, dieses weitgehend unbestimmt bleiben muss und sein Erklärungspotenzial in Bezug auf Phänomene nicht hinreichend ausgeschöpft werden kann. Die Beantwortung der (2) Frage gestaltet sich weitaus schwieriger. So wird die Frage, was eine wissenschaftliche Erklärung von Welt leisten kann und was nicht, von Wissenschaftstheoretiker*innen zumeist im höchsten Maße kontrovers beantwortet (vgl. Tetens 2013, 7). Nach meiner bereits angedeuteten Auffassung muss die vermeintliche Objektivität wissenschaftlichen Wissens mindestens von zwei Seiten her entschieden eingeschränkt

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werden. Die erste Einschränkung betrifft dabei den menschlichen Erkenntnishorizont. So hat bereits Immanuel Kant (vgl. 1976, 355f.) lange vor der Entwicklung konstruktivistischer Theorien in seiner Kritik der reinen Vernunft in beeindruckender Tiefe dargelegt, dass eigentlich nicht das Sein den ordinären Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen bilden kann, sondern stets unser Bewusstsein im Mittelpunkt steht. Denn dieses allein bestimmt a priori unsere Urteile über das Sein und stellt somit gewissermaßen erst unsere wirklichkeitskonstruierende Instanz dar. Wir sehen Wirklichkeit demzufolge nur durch die Filtermembran unseres Bewusstseins und wenn wir im obigen Sinne von Wissen sprechen, dann tun wir dies nur im Rahmen einer Konstruktion zweiter Ordnung. Folgt man diesen Prämissen, besteht jegliche wissenschaftliche Tätigkeit letztlich (nur) aus der Untersuchung der wirklichkeitskonstruierenden Instanzen unseres Bewusstseins. Dass man trotz dieser – zugegebenermaßen stark philosophisch geprägten – Vorstellung von Wissenschaft, welche sich durch eine radikale konstruktivistische Position auszeichnet, nicht in einen praktischen Pessimismus verfallen braucht, zeigen jedoch u.a. die Überlegungen des Pragmatismus nach William James (vgl. 1949). Demnach ist nicht das Auffinden von Wahrheit oder Wirklichkeit das entscheidende Kriterium erfolgreicher Wissenschaften, sondern ihr Vermögen, für die subjektive Praxis Relevanz zu entfalten. Eine Maxime, welche m.E. im besonderen Maße für primär anwendungsorientierte Wissenschaften, wie sie die Politikdidaktik darstellt, Gültigkeit besitzt und die daher im Folgenden übernommen wird. Wissenschaftlich wertvoll ist in dem Sinne das, was uns im besonderen Maße hilft, Praxis erklären bzw. bewusst und gezielt beeinflussen zu können, ohne dass damit der Anspruch auf letzte Begründbarkeit oder Unhintergehbarkeit verbunden wäre. Die Qualität von wissenschaftlichem Wissen lässt sich dieser Auffassung nach also zwar nicht ausschließlich, aber dennoch entscheidend anhand seiner Praxisrelevanz bestimmen.

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Ein weiterer Hinweis, was Wissenschaft m.E. leisten kann, bezieht sich auf den zweiten inhaltlichen Aspekt, welcher von mir im ersten Abschnitt dieses Kapitels ausgeführt wird; nämlich, dass akkumuliertes Wissen verantwortlich behandelt werden muss. So geht nach meiner Auffassung mit jeder Wissensproduktion und -interpretation auch immer eine normative Färbung der Gleichen einher. Eine Ursache hierfür liegt in der Tatsache begründet, dass jede Wissenschaftsdisziplin immer auch als ein Teilgebiet der Gesellschaft zu betrachten ist und nicht als etwas ihr Außen- oder Überstehendes behandelt werden kann. Auf der institutionellen Ebene wird dies z.B. anhand der Formen ihrer formellen Gliederung in Universitäten, Instituten usw. als Orte der Wissensproduktion deutlich sowie anhand der damit einhergehenden finanziellen Mittelverteilung, welche wiederum im besonderen Maße in einer interdependenten Wechselbeziehung zu anderen gesellschaftlichen Teilgebieten steht. Alleine der Unterhalt einer durch die Gesellschaft mitgetragenen Wissenschaftsindustrie ist dabei in dem Sinne normativ, dass eine staatlich geförderte materielle Ausstattung von wissenschaftlichen Einrichtungen gleichzeitig die materiellen Entscheidungsmöglichkeiten zu Gunsten von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen einschränkt. Dass darüber hinaus die Vergabe von sogenannten Drittmitteln, etwa durch gewinnorientierte Unternehmen, mit normativen Implikationen verbunden ist, sollte ohnehin weitgehend unstrittig sein. Neben der hier lediglich rudimentär dargestellten institutionellen Ebene ist aber auch die subjektive Handlungsebene nicht frei von Normativität. Denn auch die Forscher*innen selbst sind Teil der sie sozialisierenden Gesellschaften und Träger*innen der ihnen inhärenten normativen Wertungsund Deutungsstrukturen von Wirklichkeit. Nicht Wertfreiheit ist daher das Merkmal wissenschaftlicher Tätigkeiten, sondern das Bewusstsein die mit ihr unweigerlich intrinsisch verbundenen normativen Implikationen anzunehmen, mitzureflektieren und bestmöglich kenntlich zu machen. Dabei wird hier jedoch eindeutig nicht mit der Auffassung von Karl Raimund Popper kokettiert (vgl. 1971, 105f.), welcher im sogenannten Positivis-

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musstreit die Position vertrat, wissenschaftliche Objektivität entstünde als Produkt der wechselseitigen Kritik der Wissenschaftler*innen untereinander. Denn erstens gibt es im Kosmos, der sich ständig weiter spezialisierenden Wissenschaften, keine Garantie für einen derartigen normativ relativierenden Austausch und zweitens müssen alle Bemühungen, normative Implikationen innerhalb wissenschaftlicher Arbeiten auf einen objektiven Nullpunkt zu reduzieren schon deshalb ins Leere laufen, weil es unmöglich – und darüber hinaus vielleicht auch gar nicht wünschenswert – ist, ihre normative Rezeption zu kontrollieren. Bestes Beispiel hierfür dürfte die Dual-Use-Debatte darstellen, welche die Wissenschaften von Beginn an begleitet (vgl. Bund demokratischer Wissenschaftler 1986). Die Antwort auf die (3) Frage (Welche funktionale Rolle kommt der Wissenschaft selbst im gesellschafts-politischen Prozessen zu?) nimmt den Faden der grundsätzlichen Normativität wissenschaftlicher Tätigkeiten erneut auf und betont dabei, dass in politischer Hinsicht jeder wissenschaftlichen Tätigkeit das Potenzial innewohnt, Einfluss auf gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen auszuüben. Folgt man dieser Prämisse, lässt sich danach fragen, für wen Wissenschaft eigentlich Wissen schafft bzw. schaffen sollte? Zur Beantwortung dieser Frage reicht der bereits von mir gegebene normative Hinweis, Wissenschaft habe sich in den Dienst des würdigen Lebens zu stellen, alleine nicht mehr aus; denn will man Wissenschaftler*innen nicht zu besseren Politiker*innen erklären, so bleibt doch 12

Mündigkeit wird hier in einem aufklärerischen Sinne verstanden. Die hier intendierte Wortbedeutung wird dabei ersichtlich, wenn man Kants diesbezügliche Beschreibung – welche er in seinem berühmten Wettbewerbsaufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 abgab – betrachtet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1910, 5).

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zu klären, was eigentlich genau ein Leben in Würde auszeichnet. Nicht die Objekte alleine dürfen daher zum Gegensand wissenschaftlicher Bemühungen auserkoren werden, vielmehr gilt es, für jede Wissenschaft im besten politikdidaktischen Sinne – nach dem die Politikdidaktik als eine Art Metatheorie verstanden werden kann – zur Förderung der Mündigkeit12 der Subjekte beizutragen. Denn ihnen allen obliegt es, über die Würde des Lebens zu urteilen. Demnach kommt es bei der Verwertung und Vermittlung wissenschaftlicher Arbeiten maßgeblich auf ihre Intentionalität an. Nimmt man diese Zielperspektive ernst, gerät man als Wissenschaftler*in jedoch schnell in Konflikt mit dem bereits oben paraphrasierten Gegebenheiten des etablierten Wissenschaftsbetriebs, in welchem nicht die Mündigkeit des Einzelnen, sondern, im zunehmenden Maße, wirtschaftliche Überlegungen zum Gravitationspunkt avanciert sind. Die Emanzipation der Wissenschaft aus diesen durch die gesellschaftliche Totalität bestimmten Verhältnisse ist daher m.E. ebenfalls ein ständiger Kampf, den es auf allen Ebenen zu führen gilt. In Anlehnung an Rolf Schmiederer (1977) und in Bezug auf die Kritische Theorie hat Walter Gagel diesen Sachverhalt wie folgt ausgedrückt: „Wegen der gesellschaftlichen Totalität muss das Ganze der Gesellschaft geändert werden, wenn es dem Einzelnen besser gehen soll“ (Gagel 2011, 229f., Hervorh. im Original). Dies deckt sich auch mit einem Resümee, welches Albert Einstein in seinen späten Jahren in Bezug auf die Wissenschaften zieht, wenn er schreibt: Die Entwicklung der Wissenschaft und jeder anderen schöpferischen, geistigen Tätigkeit erfordert aber auch eine innere Freiheit. Diese Freiheit des Geistes besteht darin, daß sich das menschliche Denken freimacht von den Einschränkungen autoritärer und sozialer Vorurteile und sich im geistlosen Einerlei des Alltags seine Unabhängigkeit bewahrt. Diese innere Freiheit ist eine seltene Gabe der Natur und wohl wert, daß der einzelne nach ihr strebt. Aber auch die Gemeinschaft kann dieses Streben unterstützen, zum mindesten sollte sie es niemals unterbinden. (Einstein 1952, 19)

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1.3 Forschungsüberblick, Einordnung und relevante Literatur Nachfolgend soll eine erste Einführung in themenverwandte Forschungsarbeiten und in die hierzu von Bedeutung erscheinende Fachliteratur gegeben werden. Die Fülle der dabei insgesamt in Betracht kommenden Arbeiten macht dabei eine Auslese nötig: Kein vollumfängliches Forschungslexikon, sondern ein erster Überblick ist daher Ziel des nachfolgenden Abschnitts. Darüberhinausgehend finden sich in den einzelnen Fachkapiteln weitere vertiefende Hinweise, konkrete Ergänzungen und kurze Explikationen zu themenzentrierten Diskursen, welche im jeweiligen Kontext von Bedeutung erscheinen. Bevor das Forschungsfeld weiter expliziert werden kann, seien jedoch zunächst unter Bezugnahme auf den hierzu anfallenden politikdidaktischen Diskurs einige kritische Bemerkungen vorangestellt. So bezweifeln einige politikdidaktische Autoren (vgl. Henkenborg 2005, 58; Sander 1997, 32; Hilligen 1993, 32) ganz grundsätzlich den generellen Mehrwert politikdidaktischer Forschung für die konzeptionelle und praktische Unterrichtsentwicklung. Ich möchte dem erstens entgegenhalten, dass die empirischen Forschungsbemühungen des Faches zumindest wesentlich zur Verankerung der Politikdidaktik als eine eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin geführt haben und zweitens die generelle „theoretische und praktische Weiterentwicklung“ (Henkenborg 2005, 58) des Faches sehr wohl zu einer Professionalisierung von Praxis, vor allem in der Lehrer*innen(Aus-)Bildung an den Hochschulen und Universitäten, beigetragen haben dürfte. Dennoch gibt es zweifelsohne durchaus Punkte innerhalb der politikdidaktischen Forschungspraxis, die als kritisch zu diskutieren sind. So merkte bereits Grammes (1992, 77) in den 1990er Jahren an, dass es in der Politikdidaktik an einer breit getragenen Konzeption fehle, um eine systematische Forschung zu entwickeln, und in der Tat stehen bis heute viele vorhandene Forschungsansätze unvermittelt nebeneinander. So ergibt sich ein Forschungsmosaik, welches aus vielen Einzelbildern besteht, wobei

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sich kaum ein Teil an dem anderen orientiert. Eine gemeinsame Stoßrichtung des Faches kann so schwerlich entstehen. Dies könnte – neben dem alt bekannten Theorie-Praxis-Problem, welches durch Spannungen und nicht auflösbare Ambivalenzen gekennzeichnet ist – m.E. auch ein Grund für die bis dato eher schwache Rezeption der politikdidaktischen Forschung in der schulischen Praxis sein (vgl. hierzu etwa Sander 2005, 32) sowie dem ebenfalls eher geringen Einfluss, den diese Disziplin auf der politischen Ebene z.B. im Bereich der Schulentwicklung entfaltet13.

1.3.1 Überlegungen zu einer Grundstruktur der politikdidaktischen Forschung und der eigenen Verortung Die Politikdidaktik ist im Vergleich zu anderen Wissenschaften noch eine recht junge Disziplin. Ihre Gründungsphase in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) fällt in die Zeit des allgemeinen gesellschaftlichen Umbruches der 1960er und 1970er Jahre14 (vgl. Sander 2014, 20f.). Es ist daher wenig verwunderlich, dass die mit dieser Zeit verbundenen stark normativ aufgeladenen Kontroversen ihren Wiederhall auch in der Politikdidaktik fanden, wo sie mitunter von den Akteur*innen stark polarisierend und mit Polemik ausgefochten wurden (Scherb 2017, 255). Eine vereinende und bis heute viel rezipierte Grundübereinkunft stellte schließlich der 1976 auf einer Tagung der Baden-Württembergischen Landeszentrale für politische Bildung erzielte sogenannte Beutelsbacher Konsens dar (vgl.

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Dies verwundert umso mehr, da sich die Politikdidaktik und politische Bildung sozusagen von Haus aus mit politischen Prozessen, Verfahren, Akteuren etc. beschäftigt und ihre Akteur*innen daher eigentlich prädestiniert dafür sein sollten, die besondere gesellschaftliche Relevanz ihres Faches auch politisch zu vermitteln. Tatsächlich ist ihr Einfluss auf die Entwicklung von Bildungslandschaften jedoch eher gering (vgl. hierzu auch Henkenborg 2005, 57). So wurden etwa die ersten politikdidaktischen Professuren in den 1960er Jahren besetzt (vgl. Sander 2014a, 11).

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ebd., 255f.). Hans-Georg Wehling (vgl. 2004, 13-21), der die drei Richtlinien (Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Partizipationsbefähigung) als Grundgerüst für die politische Bildungsarbeit in seinem Aufsatz Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch 1977 festhielt, verhalf damit – wenn auch unbewusst – der Politikdidaktik zu einem gemeinsamen „set of beliefs“ (Sander 2005, 27) und somit zu einem Fundament, von dem aus sich fachspezifische Lehr- und Forschungsindikatoren ableiten lassen. Doch obwohl seit der Gründung der Politikdidaktik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin der Anspruch bestand, empirische Bildungsforschung zu betreiben, entwickelte sich diese in ihrer vollen Breite erst in den 1990er Jahren (vgl. Henkenborg 2005, 48). Vor allem empirische Forschungsprojekte, die mit qualitativen Methoden arbeiten, haben seitdem stark zugenommen (vgl. ebd.; Fischer/Lange 2014, 90); quantitative Verfahren kommen in den letzten Jahren zwar ebenfalls vermehrt zur Anwendung, nehmen aber im Vergleich noch einen geringeren Stellenwert in der Disziplin ein (vgl. Biedermann 2017, 24). Unabhängig von dem gewählten empirischen Datenerhebungsverfahren können dabei innerhalb der Fachunterrichtsforschung analytisch drei Erhebungsfelder der Politikdidaktik unterschieden werden (vgl. hierzu auch Grammes 2017, 36f.; Fischer/Lange 2014, 90f.; Henkenborg 2005, 49): 1. Untersuchungen, die sich auf Lernende und ihre Vorstellun gen und Perspektiven beziehen (vgl. u.a. May 2015; Oberle/ Forstmann 2015; Girnus 2019). 2.

Untersuchungen zur didaktischen Rekonstruktion und Entwicklung von Unterrichtsgeschehen sowie den dabei verwendeten Methoden, Materialien, Prinzipien etc. (vgl. Kuhn 2003a; Meyer-Heidemann 2015; Partetzke 2016; Neuhof i.E.).

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3. Untersuchungen, die sich auf Lehrende und ihre Vorstellungen und Perspektiven beziehen (vgl. u.a. Klee 2008; Reichhart 2015; Röckendorf 2015). Neben diesen drei gängigen Formen der fachspezifischen Unterrichtsforschung – auf die sich z.B. Sebastian Fischer und Dirk Lange (vgl. 2014) in ihrem Handbuchaufsatz Qualitative empirische Forschung zur politischen Bildung beschränken – lassen sich m.E. jedoch noch weitere wissenschaftliche Arbeitsfelder der Politikdidaktik ausweisen, welche die engen Grenzen der Unterrichtsforschung auflösen und somit weitere Perspektivenzuschnitte auf politikdidaktisch relevante Phänomene ermöglichen. Darunter fallen u.a. Ansätze, die sich mit der Philosophie des Faches beschäftigen, indem sie sich etwa wie Wolfgang Sander es ausdrückte „mit grundlegenden Fragen des Selbstverständnisses und der fachlichen Identität politischer Bildung befassen [...]“ (Sander 2005, 28). Daneben existieren Beiträge zur Grundlagenforschung, welche spezifische fachdidaktische Fragestellungen meist in explorativen Untersuchungssettings in den Blick nehmen und daher ihrem Ansinnen nach nicht eindeutig einem der drei oben skizzierten Bereiche zugeordnet werden können. Innerhalb der vorliegenden Arbeit berühren etwa die theoretischen Anteile wie die für den politikdidaktischen Kontext bestimmten Begriffsklärungen (vgl. Kapitel 2-3; 6) oder die Ausführungen zur Rolle von Emotionen innerhalb von Lehr-Lernkontexten (vgl. Kapitel 9) einerseits Fragen der fachlichen Identität und weisen andererseits eine Bedeutung für die Konstruktion von Untersuchungsmitteln zum Zwecke der didaktischen Rekonstruktion auf. Der Bereich der empirischen Untersuchung der Urteilsperformanz von Schüler*innen der neunten Jahrgangsstufe (vgl. Kapitel 13) anhand von Urteilstexten, welche darauf abzielt, emotionale Anteile von Urteilsprozessen zu identifizieren und deren Rolle vor dem Hintergrund der theoretischen Vorarbeiten einzuschätzen, lässt sich wohl am ehesten dem Bereich Untersuchungen von Lernenden und ihren Vorstellungen

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(s.o.) zuordnen und wird von mir aufgrund seines Pilotcharakters hier vorerst als Grundlagenforschung verstanden. Neben den erwähnten fachspezifischen Forschungsfeldern kann zudem noch zwischen verschiedenen Forschungsperspektiven unterschieden werden. In der qualitativen politikdidaktischen Forschung überwiegen dabei drei gängige Formate „[a] Zugänge zu subjektiven Sichtweisen, [b] Beschreibung von Prozessen der Herstellung sozialer Situationen und [c] hermeneutische Analysen tiefer liegender Strukturen“ (Henkenborg 2005, 49). Zu Anfang der Jahrtausendwende wählten dabei die meisten empirischen Arbeiten in der Politikdidaktik die subjektiven Sichtweisen von Akteur*innen, welche an Bildungsprozessen beteiligt sind, als Forschungsperspektive, wobei vorrangig explorative Verfahren (z.B. in Form von Interviews oder Beobachtungen) angewendet wurden (vgl. ebd.). Für die hier vorliegende Untersuchung emotionaler Aspekte beim politischen Urteilen wurde sich indes für eine hermeneutische Analyseperspektive entschieden (vgl. Kapitel 16.1-16.2).

1.3.2 Schlaglichter zur Entwicklung der (politikdidaktischen) Urteilsforschung In Bezug auf das politische Urteilen waren es in den 1970er Jahre vor allem empirische Forschungsarbeiten aus der Psychologie, welche den Orientierungsrahmen für die sich noch in den Kinderschuhen befindende politikdidaktische Forschungspraxis setzten (vgl. etwa Reinhardt 2014). Viel rezitiert waren etwa die Arbeiten von Marinus H. van Yzendoorn (vgl. 1978), der mit seiner Untersuchung über Moralität, Kognition und politisches Bewußtsein das Ziel verfolgte, aus einer psychologischen Perspektive einen Beitrag zum Aufbau einer „Didaktik der politischen Bildung“ zu leisten (ebd., 15). In seiner Dissertation untersuchte er hierfür die Zusammenhänge von Moralität und Kognition in Bezug auf das politische Be-

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wusstsein von Adoleszenten (vgl. ebd.). In einer Form der Diskursanalyse analysierte er dabei zunächst die Konzeptionen und Untersuchungen von Piaget (1974)15 und Kohlberg/Althof (1997)16 zu Moralität und Kognition und konzipierte auf dieser Grundlage schließlich seine eigenen Untersuchungen (vgl. Yzendoorn 1978, 356ff.). Mit Hilfe von halb strukturierten Interviews und drei Dilemma-Fallbeispielen17 (vgl. ebd., 240f.) schloss er auf Zusammenhänge zwischen Kognition, Moralität und dem politischen Bewusstsein der Teilnehmer*innen, aus denen er schließlich konkludierte, dass eine Verbindung zwischen dem moralischen Niveau und dem politischen Bewusstsein bestehe (vgl. ebd., 354f.). Angelehnt an das Moralstufenmodell von Kohlberg konstatierte er schließlich, dass ein höheres moralisches Niveau mit einem weiterentwickelten, kritischeren politischen Bewusstsein koaliere (vgl. ebd.). Das politische Bewusstsein ist demnach geringer, wenn das moralische Niveau einer Person eher schwach ausgeprägt ist. Keinen signifikanten Zusammenhang konnte Yzendoorn (ebd., 355) hingegen zwischen der entwickelten kognitiven Begabung seiner Proband*innen und deren politischen Bewusstsein feststellen. Für die Entwicklung der politikdidaktischen Urteilsforschung dürfte die Entwicklung des Moralischen Urteil-Tests (MUT)18 in den 1970er Jahren in Konstanz ebenfalls von besonderer Relevanz gewesen sein. Die aus der Psychologie stammenden Forscher*innen wollten dabei ein Instrument 15 Zu dem Psychologen Jean Piaget vgl.: Piaget, Jean (1974): Urteil und Denkprozeß des Kindes. 2. Auflage. Düsseldorf: Pädagogischer Verl. Schwann. 16 Vgl. für Kohlbergs moralisches Stufenmodell: Kohlberg, Lawrence & Althof, Wolfgang (1997): Die Psychologie der Moralentwicklung. 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 17 Yzendoorn (1978, 240f.) verwendete in seiner Untersuchung zwei Varianten des be kannten Heinz-Dilemma zum Thema Leben, Gesetz und Bestrafung. Außerdem setzte er eine dritte Dilemma Illustration ein, das sogenannte Zeltlagerdilemma (vgl. Yzendoorn 1978, 241). 18 Ein Überblick über weitere empirische Untersuchungen und Testverfahren zur moralischen Urteilsbildung aus der Psychologie findet sich bei Lind 2009, 46-60.

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konzipieren, mit dessen Hilfe sich die moralische Urteilsfähigkeit in einer greifbaren Äußerungsform abbilden ließ und dadurch messbar wurde (vgl. Lind 2009, 49). Als Ausgangsüberlegung stand die These, dass es Menschen grundsätzlich schwerfällt, „sich auf eine moralische Reflexion oder gar Diskussion über die Richtigkeit ihrer Meinungen zu Problemen einzulassen, besonders aber, Argumente von Menschen mit anderen Meinungen anzuhören und als Anstoß für die Reflexion zu nehmen. […] Es scheint eine universelle Tendenz zu geben, sich dagegen zu wehren, die eigene Meinung einer Überprüfung nach moralischen Maßstäben zu unterziehen“ (ebd.). Der MUT umgeht diese Schwierigkeit, indem nicht alleine nach dem Urteil einer Person gefragt wird, sondern auch die Meinungen anderer Personen beurteilt werden sollen (vgl. ebd.). Damit erhofften sich die Forscher*innen bessere Einsichten in die moralische Urteilskompetenz ihrer Versuchspersonen. In einer Art Test beschäftigten sich diese in ihren Untersuchungen mit moralischen Konflikten (z.B. dem Arbeiter-Dilemma19 und dem Arzt-Dilemma20). Im Anschluss sollten sie für sich selbst ein Urteil fällen, bevor sie schließlich gebeten wurden, Argumente anderer Personen zu den gleichen Dilemmata zu beurteilen. Die eine Hälfte der vorgegebenen Argumente stützte dabei die Haltung der Versuchsperson, während die andere Hälfte dieser widersprach. „Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die widersprechenden sowie stützenden Argumente konsistent nach ihrer moralischen Qualität zu beurteilen, statt danach, ob sie die eigene Meinung stützen oder [ihr] widersprechen“ (ebd.). Auf diese Weise sollte der Test darüber Aufschluss geben, ob die Versuchspersonen „überhaupt moralische Maßstäbe“ (ebd.) an ihre Urteile anlegen oder nicht. Der MUT wurde dabei explizit entwickelt, um Forschungsfragen zu beantworten und didaktische Verfahren zur moralischen Urteilsbildung zu evaluieren und stellt kein „individual-diagnostisches“ Mittel dar (vgl. ebd., 52). So geht Lind (vgl. ebd., 56) selbst nach zahlreichen Durchführungen des Tests in den letzten Jahrzehnten mit verschiedenen Versuchsgruppen – darunter auch Schüler*innen – davon aus, dass sich mit Hilfe des Tests zuverlässige Aus-

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sagen über die moralische Urteilskompetenz der Versuchspersonen treffen lassen. Die Orientierung an den Vorarbeiten aus der Psychologie zeigt sich letztlich an auffällig vielen empirischen Arbeiten aus der Politikdidaktik. So analysierten Christine Lutter-Link und Sibylle Reinhardt (vgl. 1993, 45ff.) Anfang der 1990er Jahre eine Unterrichtssequenz zu einem politisch-moralischen Dilemma. Ziel der Untersuchung war es, zu überprüfen, ob mit Hilfe der Dilemma-Methode21 eine politisch-moralische Urteilsbildung bei Schüler*innen angeregt werden konnte (vgl. ebd., 36). Die Schüler*innen (Klassenstufe und Schulform werden nicht genannt) sollten darüber entscheiden, ob eine Chemiefabrik in einem Land des Nahen Ostens gebaut werden sollte oder nicht (vgl. ebd.). Offiziell sollte die Chemiefabrik Pestizide zur Schädlingsbekämpfung produzieren, technisch gesehen war sie jedoch auch in der Lage, chemische Kampfstoffe herzustellen (vgl. ebd., 36f.). Die Unterrichtstunde wurde von der Lehrerin Lutter-Link konzipiert und durchgeführt. Für die Analyse wurde auf Videoaufzeichnungen und Transkripte der Unterrichtssequenz zurückgegriffen. Bei der gemeinsam erfolgten didaktischen Reflexion des Materials stellten Lutter-Link und Reinhardt (vgl. ebd., 46) fest, dass es für die Lehrkraft nahezu unmöglich war, die verschiedenen Argumentationsebenen der Schüler*innen im Unterrichtsverlauf wahrzunehmen. Diese wurden erst bei der nachträglichen Analyse auf der Meta-Ebene gänzlich ersichtlich (vgl. ebd.). Lutter-Link und Reinhardt (vgl. ebd., 50) schlussfolgerten daher, dass eine Protokol19 Das Arbeiter-Dilemma: Als es in einem Betrieb zu einer Reihe scheinbar unbegründeter Entlassungen kommt, haben die Angestellten den Verdacht über die Gegensprech anlage von der Betriebsleitung abgehört zu werden. Um hierfür Beweise zu finden, brechen sie in die Büroräume der Leitung ein und finden tatsächlich Abhörbänder. 20 Das Arzt-Dilemma: Ein Arzt wird von einer todkranken alten Frau um aktive Sterbe hilfe gebeten. 21 Eine ausführliche Beschreibung der Dilemma-Methode findet sich u.a. bei Reinhardt (2009, 152).

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lierung des Unterrichtsgeschehens für Lehrende einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert darstellen kann. In Bezug auf die in der Unterrichtssequenz verwendete Dilemma-Methode konstatierten sie zudem, dass diese grundsätzlich geeignet erscheint, um die politisch-moralische Urteilsbildung bei Schüler*innen zu stärken (vgl. ebd., 42-45). Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre nahmen Weißeno (vgl. 1989) und Schelle (vgl. 1995) in ihren Dissertationsschriften dann verschiedene Lerntypen bei Schüler*innen in den Blick. Wobei es Henkenborg (vgl. 2005, 52) war, der im Nachhinein dieser Untersuchungen drauf hinwies, dass die untersuchten Schüler*innen-Kohorten bei Befragungen häufig ein tieferes, mannigfaltiges Wissen zu politischen Sachverhalten aufgewiesen hätten und zudem komplexer argumentierten, als dies im Unterricht üblicherweise manifest würde. Daraus lässt sich schließen, dass auch die politische Urteilskompetenz bei Schüler*innen weiter ausgereift sein könnte, als dies durch eine alleinige Beobachtung und deskriptive Beschreibung von Unterrichtsgeschehen ersichtlich wird. Auch Untersuchungen von Grammes (vgl. 1998, 102) weisen in diese Richtung, wenn er konstatiert, dass Lehrende immer wieder (unabsichtlich) Diversitäten im politischen Unterrichtsdiskurs glätten und somit das Unterrichtsgeschehen wesentlich einengen. Peter Massing ist schließlich der Politikdidaktiker in Deutschland, der sich vermutlich in den letzten Jahrzehnten in seinen Veröffentlichungen am häufigsten mit der politischen Urteilsfähigkeit beschäftigt hat (vgl. etwa Massing 1997; 1997a; 1997b; 2006). Betrachtet man seine Schriften hierzu in der Gesamtschau, so ist er als einer der führenden Verfechter zu rubrizieren, dessen Urteilsvorstellung im Kern auf Rationalitätsprinzipien22 beruhen23. Empirisch untersuchte er Ende der 1990er Jahre zwei Unterrichtsbeispiele, die beobachtet, transkribiert und analysiert wurden (vgl. Massing 1997, 126-131). Im ersten Beispiel handelt es sich um eine Unterrichtsstunde zur politischen Weltkunde, durchgeführt in einer 13.

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Klasse eines Leistungskurses an einem Berliner Gymnasium. Analysiert wurde ein Ausschnitt eines Auswertungsgespräches zum Themenfeld Entwicklungsländer – Fakten und Probleme. Die Schüler*innen hatten hierzu zwei Texte24 bearbeitet und sollen daran anschließend ein politisches Urteil formulieren. Massings (vgl. ebd.,127) fachdidaktische Analyse ergibt dabei, dass die vorgebrachten politischen Urteile der Schüler*innen hinter den Erwartungen der Fachdidaktik zurückblieben und es den Lernenden nicht gelungen war, die komplexe Fragestellung in differenzierte Urteile münden zu lassen. Ursächlich hierfür sah Massing (vgl. ebd.), dass die Schüler*innen ausschließlich Argumentationsstränge aus der Kategorie Effizienz25 verwendeten, wohingegen sie den Bereich der Legitimität in Gänze aussparten (vgl. ebd.). Im zweiten Beispiel analysiert Massing (vgl. ebd., 129) im selben Jahrgang eine Schüler*innenklausur, ebenfalls aus dem Fach politische Weltkunde. Unter Kenntnis eines „Kategorienrasters für den Politikunterricht“ (ebd., 128) hatten die Lernenden die Aufgabe, eine politische Beurteilung von Richard Löwenthal 26 auf dessen Überzeugungskraft und Gültigkeit hin zu analysieren und abschließend zu einem eigenen politischen Urteil zu kommen. Seine Auswertung ergibt dabei, dass die Schüler*innen zwar in der Lage sind, Löwenthals Urteil mit Hilfe des ihnen bekannten Kategoriensystems zu analysieren und zu beurteilen, 22 Vergleiche zur konkreten Vorstellung von Massings (vgl. 1997a, 92f.) Urteilsmodell auch die Kapitel 3.2 und 4. 23 Dieser Meinung scheint auch Florian Weber-Stein (2019a, 58) zu sein, wenn er Massings Urteilsmodell stellvertretend als ein primär rationalitätstheoretisches Urteils modell bezeichnet. 24 Für die Beschreibung der Texte siehe Massing (1997, 126 FN). 25 Vergleiche bezüglich verschiedener Urteilskategorien etwa die Urteilsmodellvorstel lungen von Dieter Grosser (1977, 58), Andreas Klee (2008, 42) und Schröder/Klee (2017). 26 Der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal äußert sich darin über die Frage der Teilung Deutschlands durch die alliierten Befreier*innen nach Ende des Zweiten Welt krieges. Ein Nachdruck des Originals findet sich bei Massing (1997, 129).

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sie dieses jedoch bei ihrer eigenen Urteilsfindung unberücksichtigt lassen (vgl. ebd., 129ff.). Massing (vgl. 1997, 131) folgert hieraus, dass die Kategorien den Schüler*innen lediglich äußerlich bewusst sind, sie aber nicht verinnerlicht wurden. Ebenfalls Ende der 1990er Jahren untersuchte Hans-Werner Kuhn (vgl. 1997, 202) anhand einer Unterrichtsstunde zum Castor-Transport im Wendland die Urteilsbildung im Politikunterricht. Geplant, durchgeführt und dokumentiert wurde die Unterrichtseinheit zuvor von dem Lehrer Kurt Lach (1997, 159ff.) in einer ihm unbekannten zehnten Klasse eines Berliner Gymnasiums. Zur fachlichen Vorbereitung hatten die Schüler*innen sich im Vorfeld der untersuchten Unterrichtsstunden anhand eines bereitgestellten Readers27 über das Themenfeld der Castor-Transporte einen Überblick verschafft (vgl. ebd., 166). Im Mittelpunkt der Einheit stand dabei die Frage: War das Handeln der Beteiligten gerechtfertigt? Die Schüler*innen sollten sich hierzu im Verlauf des Unterrichts ein begründetes politisches Urteil bilden (vgl. ebd., 159). Für die Analyse der Urteile entschied sich Kuhn (vgl. ebd., 202ff.) für ein induktives Vorgehen und analysierte die Unterrichtsstunde anhand des sogenannten hermeneutischen Dreischritts28. In seiner Auswertung merkt er dabei kritisch an, dass Sprache ein „sehr flüchtiges Medium“ (ebd., 213) darstelle und es den Schüler*innen schwergefallen sei, das Potenzial aller Äußerungen zu erfassen und angemessen in die Diskussion zu integrieren (vgl. ebd., 219). Weiter sei es ihnen nicht gelungen, Kategorien zu bilden, mit deren Hilfe 27 Der Reader wurde von der Lehrkraft aus Zeitungsartikeln zum Castor-Transport zusammengestellt (vgl. Lach 1997, 166-178). 28 Der hermeneutische Dreischritt ist unterteilt in »Verstehen«, »Auslegen« und » Anwenden«. In einem ersten Arbeitsschritt wird versucht, mit Hilfe von Quellen einen Gegenstand zu »verstehen«. In einem zweiten Durchlauf, dem »Auslegen«, soll das Verstandene mit „fachdidaktischen Theoremen“ in Bezug gesetzt werden. Beim »Anwenden« kommt es zu einer „Bewertung und Kritik“ der beiden vorangegangen Schritte, der sogenannten Applikation (vgl. Kuhn 1997, 204f.).

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sie ihre Urteile in einem rationalen Sinne hätten klassifizieren können (vgl. ebd.). Aus fachdidaktischer Perspektive ließen sich daher bei den untersuchten Schüler*innen nur Ansätze einer politischen Urteilskompetenz diagnostizieren (vgl. ebd.). Methodisch wenig überzeugend versucht zudem Volker Meierhenrich (vgl. 2003) Anfang der 2000er Jahre in einer quantitativ angelegten Studie zu eruieren, inwiefern die von Bernhard Sutor (vgl. 1973, 271-274) entwickelten Grundkategorien politischer Urteilsfindung im Bewusstsein von Schüler*innen der Jahrgänge 9 bis 13 eines Gymnasiums verankert sind. Zwar gelingt es ihm, potenzielle Kategorien politischer Urteilsbildung von Schüler*innen zu beschreiben (vgl. Meierhenrich 2003, 212ff., 246ff., 333ff., 367ff.), bei genauerer Betrachtung scheint es jedoch ein zu ambitioniertes Unterfangen, mittels eines standardisierten Fragebogens evaluieren zu wollen, was im Bewusstsein von Schüler*innen vorgeht, weshalb die Ergebnisse der Untersuchung nur mit größter Vorsicht zu betrachten sind. Gegen Ende der 2000er Jahre legte Andreas Klee (vgl. 2008) mit seiner Arbeit unter dem Titel Entzauberung des Politischen Urteils schließlich eine empirische Arbeit vor, in der er – aus didaktischer Perspektive – eine prinzipielle Gleichwertigkeit zwischen den fachlichen und alltagsweltlichen Vorstellungen von Lernenden postulierte (vgl. ebd., 266). Im Vergleich zu den hier bereits skizzierten Arbeiten (vgl. Massing 1997; Kuhn 1997; Meierhenrich 2003) unterschied sich dieser Ansatz deutlich, nicht nur, weil Klee (vgl. 2008, 139-141) anstelle von Lernenden oder deren Produkten mittels qualitativer Verfahren (vgl. ebd., 133ff.) Lehrende untersuchte, sondern vor allem deswegen, weil mit der Aufwertung alltagsweltlicher Vorstellungen eine Perspektivenverschiebung innerhalb der Politikdidaktik angeregt wurde. Politische Urteile sind demnach nicht einzig defizitär und einseitig anhand rationaler Kriterienkataloge zu analysieren, zu bewerten und zu beurteilen, sondern können nur dann in ihrer Komplexität hinreichend verstanden werden, wenn die erfahrungsspezifischen

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Expertisen der Urteilenden selbst ebenfalls zu didaktischen Gegenständen erhoben und neben fachlichen Qualitäten von den Lehrenden gleichwertig behandelt werden (vgl. ebd., 266). Diese Weitung der didaktischen Perspektive und die damit einhergehende kritische Lesart bezüglicher einer einseitig ausgerichteten Fokussierung auf Aspekte der Rationalität beim politischen Urteilen (vgl. ebd., 107) ist dabei zugleich die Voraussetzung dafür, dass neue urteilsrelevante Phänomene wie Emotionalität in den Fokus der didaktischen Auseinandersetzung rücken können. Zum Abschluss sei zudem noch auf eine grundsätzliche Problematik verwiesen, welche mit der Untersuchung politischer Urteile einhergeht. So lassen sich anhand der Analyse von politischen Urteilen in einem spezifischen Kontext keine verallgemeinerbaren Aussagen darüber treffen, wie möglicherweise in anderen Kontexten geurteilt würde. Dies trifft insbesondere auf den prä-politischen Bereich zu. Zu diesem Schluss kommt zumindest die empirische Studie Moralische Anforderungsstrukturen und moralische Anregungspotenziale beruflicher Tätigkeiten, welche von einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin unter der Leitung von Wolfgang Lempert (vgl. 1990) durchgeführt wurde. Die individuelle Urteilskompetenz korreliert demzufolge mit den jeweils spezifischen Kontextbedingungen eines Urteils (vgl. Lempert 1990, 183ff.). Besonders im Zusammenhang mit dem moralischen Urteilsvermögen zeigte sich dabei, dass die in den Urteilen enthaltenen normativen Deutungs- und Geltungsansprüche sich jeweils nur auf einen spezifischen Kontext beziehen und darüber hinaus keine Gültigkeit beanspruchen können (vgl. ebd.). Das heißt, dass in der Familie, unter Kolleg*innen, aber wohlmöglich auch in Bildungskontexten mitunter andere normative Wertmaßstäbe angelegt werden, als dies in der politischen Öffentlichkeit der Fall sein dürfte. Eine Gefahr entsteht, wenn eine unkritische Übertragung dieser Wertmaßstäbe auf den politischen Bereich stattfindet (vgl. hierzu auch Habermas et al. 1969). In der bekannten Untersuchung Student und

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Politik29 des Frankfurter Institutes für Sozialforschung heißt es hierzu etwa: „Den Ton sittlicher Entrüstung gegenüber dem Gebaren der Politiker und gegenüber der Politik im allgemeinen teilen unsere Unpolitischen mit den Massen derer, auf die Bild- und Heimatpresse zugeschnitten sind.“ (ebd., 82). Aus der Neigung, Urteilsmaßstäbe aus dem prä-politischen auf den ordinär politischen Bereich zu übertragen, erwächst die Gefahr, dass die Ebene der Verantwortungsethik ausgeblendet und rein gesinnungsethisch geurteilt wird.

1.3.3 Emotionsforschung in den Politikwissenschaften30 Die Erforschung von Emotionalität hat in der Politikwissenschaft – und somit in der primären Bezugswissenschaft der Politikdidaktik (vgl. Massing 2011, 21-25) – vor allem in den Bereichen der politischen Theorie in den letzten Jahren auffallend zugenommen31. Dies zeigt sich u.a. daran, dass die beiden einflussreichsten und größten wissenschaftlichen Vereinigungen in diesem Metier – die Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft (DgfP) und die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) – dem Thema in kurzer Reihenfolge hintereinander jeweils einen eigenen

29 In der soziologischen Studie von 1961 zum politischen Bewusstsein von Frankfurter Studierenden werden fünf Phänotypen des politischen Handelnden unterschieden: die Unpolitischen, die irrational Distanzierten, die rational Distanzierten, die naiven und reflektierten Staatsbürger*innen und die politisch Engagierten (vgl. Habermas et al. 1969). 30 Vergleiche zu diesem Abschnitt auch das Kapitel 7 Emotionen und Politik. 31 Insbesondere Gary S. Schaal und Rebekka Fleiner (vgl. 2015, 69) debattieren bereits seit Beginn der 1990er Jahre intensiv über das Thema Emotionen innerhalb der Politik wissenschaften. Wobei sie sich auf neurowissenschaftliche Untersuchungen beziehen, die „die Trennung von Rationalität und Emotionalität radikal in Frage gestellt [haben]“ (ebd.).

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Einleitung

Sammelband32 widmeten. In dem im Jahre 2012 zuerst veröffentlichten Vorwort der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte mit dem Titel Politische Theorien und Emotion – entstanden als Tagungsband der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft – konstatieren Gary S. Schaal und Felix Heidenreich (vgl. 2012, 5), dass eine „Unterscheidung zwischen Gefühl und Vernunft“ (ebd.) keine Plausibilität mehr besitze und jedes in diese Richtung gehende dualistische Denken als anachronistisch betrachtet werden müsse. Vor dem Hintergrund emotionaler Einflussgrößen auf politische Prozesse sei gar „die Tradition des politischen Denkens, die politischen Theorien der Gegenwart, aber auch die politische Praxis neu zu betrachten“ (ebd.). Wie aus dem hier vorgelegten Theorieteil zu entnehmen, ist der bewusste Einbezug von Emotionalität jedoch weder in der politischen Philosophie noch in der politischen Praxis eine grundsätzlich neue Idee (vgl. Kapitel 7). Es scheint daher auch angemessener von einer wissenschaftlichen Renaissance oder wie Heidenreich (2012, 10) nachfolgend einräumt von einer Wiederentdeckung der Emotionen und ihrer Bedeutung für das Politische zu sprechen, denn Emotionen haben in allen politischen Kontexten seit der Antike (und vermutlich auch bereits davor) stets eine bedeutende Rolle gespielt (vgl. Kapitel 7). Eine eigenständige politische Sub-Theorie der Emotionen scheint daher auch wenig sinnvoll, vielmehr geht es um die bewusst systematische Einbettung der Bedeutsamkeit von Emotionen in die politische Theorie, deren genui-

32 So erschien 2012 in der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideen geschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft der Tagungs band: Politische Theorie und Emotionen; herausgegeben von Felix Heidenreich und Gary S. Schaal. Nur drei Jahre später veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft 2015 den Sammelband: Emotionen und Politik unter der Heraus geberschaft von Karl-Rudolf Korte.

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ner Bestandteil sie immer schon gewesen ist (vgl. hierzu auch Heidenreich 2012, 11). Wenn Emotionen der Politik und dem Politischen irreduzibel zugerechnet werden müssen, stellt sich die Frage, wie sich ihre Domänen spezifischen emotionalen Korrelate33 analytisch fassen lassen. Heidenreich (vgl. ebd.) schlägt hierfür eine Orientierung an den ontologisch inspirierten, sprachwissenschaftlichen Unterscheidungen von Gottlob Frege vor. In seinem bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlegten Vortragsmanuskript Über Sinn und Bedeutung trennt dieser die begriffliche Bedeutung (Extension) eines Phänomens von dessen kulturellem-gesellschaftlichen Sinn (Intension) (vgl. Frege 2008, 25). Eine Übertragung dieses analytischen Ansatzes auf die politische Emotionstheorie sieht nach Heidenreich (vgl. 2012, 11) eine Unterteilung von Politik in zwei Dimensionen vor. Die erste extensionale Dimension würde sich demnach mit Fragen des Umfangs und der Reichweite einer politisch gesteuerten Emotionspolitik beschäftigen. „In welchem Umfang sollte Politik überhaupt Emotionen aufnehmen (Input-Seite) oder selbst hervorbringen bzw. formen (Output-Seite)?“ (ebd.). Hingegen richtet sich die zweite intentionale Dimension auf die inhaltliche Deutungsmacht über Emotionen und ihre Korrelate. „Politische Theorien können Emotionen sehr verschieden deuten und bewerten. Entsprechend vertreten sie unterschiedliche Konzeptionen einer Gefühlspolitik“ (ebd.). Diese auf den ersten Blick sinnvolle Unterscheidung läuft jedoch Gefahr, 33

Der Terminus emotionale Korrelate soll zum Ausdruck bringen, dass innerhalb von Phänomenen eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen Facetten von Emotionalität vorliegen kann. Hierzu zählen z.B. neben Emotionen auch Affekte oder Stimmungen (vgl. Kapitel 6). In Bezug auf politische Urteile finden sich zudem unterschiedliche Ebenen, auf denen verschiedene Facetten von Emotionalität eine Rolle spielen können (vgl. Kapitel 10.3). So kann grundsätzlich zwischen einer Ebene für Produzent*innen und Rezipient*innen unterschieden werden, auf denen Emotionalität ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommen kann. Der Terminus emotionale Korrelate beschreibt diese Mannigfaltigkeit in Gänze, ohne sie im Einzelnen auszudifferenzieren.

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Einleitung

mit genau den dualistischen Vorstellungen von Emotionen zu operieren, die Heidenreich eigentlich vermeiden möchte (vgl. ebd., 9). So erinnerte die erste skizzierte Dimension stark an die von Schaal und Heidenreich (vgl. 2012, 5) eigentlich kritisierte anachronistische Unterscheidung von Emotionen und Kognitionen (vgl. Kapitel 6), denn eine Unterscheidung in Umfang und Reichweite emotionaler Korrelate in der Politik ist bestenfalls graduell, nicht jedoch prinzipiell möglich. Die These Heidenreichs (vgl. 2012, 9) erweckt hier jedoch den Eindruck, dass politisches Handeln grundsätzlich auch ohne emotionale Korrelate (gleich ob als In- oder Output) auskommen könnte34. Dass dies nicht der Fall ist, haben die Erkenntnisse der Emotionsforschung umfassend dargelegt (vgl. Kapitel 6.2). Heidenreich ist sich dessen durchaus bewusst, so dass diese Ungenauigkeit hier nicht auf ein divergierendes Verständnis der Verknüpfung von Emotionen und Kognitionen zurückzuführen sein dürfte, sondern sich vermutlich durch die Knappheit begründet, mit welcher Heidenreich (vgl. 2012, 11) an dieser Stelle seine Vorstellungen eines emotionsorientierten Ansatzes als integralen Bestandteil der politischen Theorienbildung ausführt. Die Frage für die erste Dimension sollte daher auch nicht, wie von Heidenreich vorgeschlagen, lauten, in welchem Umfang Politik Emotionen aufnehmen oder hervorbringen sollte (vgl. ebd.) – da dies ohnehin genuiner Bestandteil jeder Handlung ist –, sondern in welchem Umfang diese gesondert ausgewiesen werden sollten – sowohl auf der Input- als auch auf der Output-Seite – und inwiefern eine solche Ausweisung sinnvoll erfolgen könnte. Die erste extensionale Dimension ist dabei allerdings in der Tat nur sinnvoll, wenn sie mit der zweiten intentional ausgerichteten Dimension zusammenführt wird; denn ohne ein dialektisches Verständnis der intentionalen Gerichtetheit (Sinn) von Emotionen (vgl. Kapitel 6), lässt sich über den Modus und die Bedeutung ihrer Ausweisung wenig sagen. Für eine politikdidaktisch motivierte Emotionsforschung scheint dieser Ansatz ohnehin wenig ertragreich, berührt er doch zu einseitig die unter demokratietheoretischer Perspektive funktional wünschenswerte Darstellungen

Forschungsüberblick, Einordnung und relevante Literatur

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politischer Kulturphänomene und vernachlässigt zu sehr die Frage nach den Funktionen und Erscheinungsformen von Emotionalität innerhalb politischer Bildungsprozesse. Adoptieren lässt sich jedoch mitunter Freges (vgl. 2008, 25) sprachwissenschaftliche Unterscheidung der begrifflichen Bedeutung (Extension) eines Phänomens und dem ihm dabei gleichzeitig zugedachten kulturell-gesellschaftlichen Sinn (Intension), welcher etwa mit den Mitteln der Hermeneutik (vgl. Kapitel 16.1) ausgedeutet werden könnte.

1.3.4 Emotionsforschung in der Politikdidaktik und politischen Bildung35 In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit Emotionen auch innerhalb politischer Bildungsprozesse eine immer größer werdende Aufmerksamkeit erfahren. Ursächlich hierfür dürfte nicht zuletzt das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Akteur*innen in der westlichen Welt sein (vgl. Demuth 2016) und den damit nicht selten einhergehenden reflexartigen Rufen nach mehr politischer Bildung, welcher in diesem Kontext die Rolle eines Antidots zugedacht wird. Eine besondere Herausforderung für die politische Bildung sieht Annette Petri daher in der „Eigenschaftszu34 Nachfolgend unterstützt Heidenreich (vgl. 2012, 12) diese Lesart weiter, indem er postuliert: „Politik kann demnach Emotionen entweder in einem hierarchisierenden Verhältnis ausschließen, instrumentalisieren oder zu beherrschen suchen“ (ebd.). Den Ausschluss von Emotionen aus der Politik kann sie aber gerade nicht bewirken. 35 Weitreichende und vertiefende Einblicke in diesen Bereich sowie die Aufarbeitung relevanter Literatur hierzu erfolgen zu großen Teilen auch im Theorieteil der vorliegen den Arbeit (vgl. hierzu insbesondere die Kapitel 7-10). Die Fülle an Schriften, die in der jüngsten Zeit zum Themenkomplex politische Bildung/Politikdidaktik und Emotionen neu erschienen ist, bietet jedoch Anlass zu einem kleinen Nachtrag, auch wenn Aufgrund ihres (späten) Erscheinungsdatums, die hier genannten Arbeiten für die Konzipierung und Ausarbeitung der vorliegenden Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden konnten.

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schreibung der subjektiven Gewissheit, die von Emotionen ausgeht“ (Petri 2019, 267, Hervorh. im Original). Auch Weber-Stein problematisiert eine politische Kultur, in der „Stimmungen und Gefühle zu legitimen Begründungen der nicht mehr auf Fakten zu stützenden Positionen und Urteile [avancieren]“ (Weber-Stein 2019a, 57f.). Die Auflösung dieser Problematik liegt sowohl für Petri (vgl. 2019) als auch für Weber-Stein (vgl. 2019a) jedoch nicht in einer Rückbesinnung auf eine primär rational ausgerichtete politische Bildungslandschaft, sondern in einem bewusst offensiven Umgang mit Emotionalität in didaktischen Kontexten. Petri tritt hier etwa für einen emotionssensiblen Politikunterricht ein, innerhalb dessen „Emotionen als relevante fachdidaktische Kategorien“ (ebd., 269) zu begreifen sind. Zum Zwecke der Operationalisierung eines solchen Unterrichts entwirft sie (vgl. ebd., 271-273.) in ihrer Dissertationsschrift daher in tabellarischer Form eine Planungsskizze, welche sowohl für weitere Forschungsvorhaben als auch für die unterrichtliche Inszenierung eines emotionssensiblen Politikunterrichts von Wert erscheint und die daher, hier in leicht reduzierter Form, aufgegriffen werden soll:

Forschungsüberblick, Einordnung und relevante Literatur

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Tabelle 1: Teil A der modifizierten Darstellung der von Petri entworfenen „Matrix zur Planung eines emotionssensiblen Unterrichts“ (Petri 2019, 272f., Hervorh. im Original).

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Tabelle 2: Teil B der modifizierten Darstellung der von Petri entworfenen „Matrix zur Planung eines emotionssensiblen Unterrichts“ (Petri 2019, 272f., Hervorh. im Original).

Der generelle Zuwachs an Schriften und Arbeiten, welche sich vor allem in den letzten Jahren mit der Frage von Emotionen und politischer Bildung beschäftigen, wird von der Transferstelle für politische Bildung (Verein Transfer für Bildung e.V.), welche sowohl aktuelle als auch laufende Forschungsarbeiten zu dieser Thematik zusammengetragen hat (vgl. Fachstelle politische Bildung 2019), eindrücklich dokumentiert. Betrachtet man

Forschungsüberblick, Einordnung und relevante Literatur

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die gelisteten Projekte jedoch genauer, so wird deutlich, dass es sich bei diesen, bis auf wenige Ausnahmen, um eine rein theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik handelt; eine Tendenz, welche sich auch bei einem Blick in die entsprechende Fachliteratur bestätigt (vgl. u.a. Eis/Metje 2019; Engartner/Nijhawan 2019; Besand 2019). Empirische Arbeiten sind demgegenüber deutlich in der Minderheit, wenn es um die Frage des Zusammenhangs von Emotionalität und politischen Bildungsaspekten geht (vgl. etwa Manzel 2016). Ganz besonders trifft dies auf den Bereich des hier untersuchten Gegenstandes der Korrelation von politischer Urteilsbildung und Emotionalität zu, der bis dato in keiner empirischen Arbeit aus der Politikdidaktik primär untersucht wurde. So erweitern zwar die jüngst vorliegenden Schriften zu diesem Thema, etwa von Florian Weber-Stein (vgl. 2019; 2019a), Annette Petri (vgl. 2019) oder von Achim Schröder (vgl. 2016), in vorbildlicher Weise den hierfür zur Verfügung stehenden theorie- und themenbezogenen Reflexionsrahmen, ihre formulierten Annahmen stützen sie dabei jedoch nicht auf eine eigene Empirie. In Bezug auf das politische Urteil nimmt die Studiendirektorin Petri sogar eine besonders kritische Haltung ein: „Eine ausführliche Argumentation darüber sowie konkretisierende Beispiele davon, wie sich Emotionen gegenüber der Fähigkeit, politisch urteilen zu können, verhalten, sucht man in der fachdidaktischen Literatur jedoch vergebens“ (Petri 2019, 142). Ein Befund, welcher vor allem vor dem Hintergrund der neueren Schriften von Florian Weber-Stein (vgl. Weber 2016; Weber-Stein 2017), aber auch älterer Arbeiten aus der Politikdidaktik (vgl. u.a. Oeftering/Uhl 2007, 56ff.; Breit 2016; Ackermann et al. 2013, 17; Klee 2008, 108; Deichmann 2015, 51ff.; Pohl 2014, 188f.; Juchler 2014a, 289f.; Reinhardt 2014, 331ff.; Sutor 1997, 102), welche erste Spurenelemente in dieser Richtung aufweisen, in seiner Absolutheit hier nicht geteilt wird (vgl. zudem Kapitel 10). Petri muss (vgl. 2019, 142) aber insofern zugestimmt werden, dass die erwähnten Arbeiten zumeist nur erste Hinweise zum Zusammenhang

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von Emotionalität und politischem Urteilen behandeln und darüber hinaus bisweilen keine empirischen Daten diesbezüglich in der Politikdidaktik erhoben wurden. So nimmt beispielsweise eine empirische Studie von Sabine Manzel und ihrem Team (vgl. Manzel/Gronostay 2013; Manzel 2016) Emotionen nicht als primäres Interesse, sondern lediglich sekundär in den Blick. Anhand gefilmter Politikunterrichtstunden analysierten sie dabei u.a., welche Emotionen in Kommunikationsprozessen in der Sekundarstufe I bei Lernenden auftreten. Ihr Hauptanliegen bestand darin, sogenannte domänenspezifische Basisdimensionen (vgl. Manzel/Gronostay 2013) bzw. Genderaspekte (vgl. Manzel 2016) zu identifizieren, welche im Rahmen von politischen Bildungsprozessen von Bedeutung sind. Dementsprechend schmal fallen daher auch ihre Resultate in Bezug auf die Funktion von Emotionen innerhalb politischer Bildungskontexte aus. Am Ende steht ein recht undifferenziertes und wenig überraschendes Ergebnis, wonach unterschiedliche Unterrichtsmethoden verschiedene emotionale Zustände hervorbringen und dass dabei insgesamt keine Unterrichtssituation denkbar wäre, in der Emotionalität keine didaktisch relevante Rolle spielen würde (vgl. Manzel 2016).

1.3.5 Zusammenfassung Das Phänomen des politischen Urteilens hat seit der Gründung der Politikdidaktik innerhalb der Fachdisziplin eine stetige Aufmerksamkeit erfahren. Auf den ersten Blick mag es daher verwundern, dass die empirische Forschung hierzu sich bislang überwiegend auf die Auswertung einzelner Unterrichtsstunden, Produkte oder Interviews gestützt hat (vgl. Kapitel 1.3), wobei der Fokus zumeist auf operationalisierbare, rationale Kriterien beschränkt blieb. Bedenkt man jedoch die knappen finanziellen Ressourcen, welche im Bereich der Politikdidaktik zur Verfügung stehen, um etwaige aufwändigere empirische Studien, vor allem über längere Zeiträume, durchführen zu können, relativiert sich dieser Eindruck (vgl. Schelle 2007,

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381). Zumindest in Bezug auf den Forschungsinhalt mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, welche eine Erweiterung der Forscher*innenperspektive einfordern. Neben rationalen Kriterien politischen Urteilens sollen demnach auch emotionale Anteile stärker in den Blick genommen werden (vgl. Kapitel 1.3.4). Besonders häufig wird dabei auf das scheinbar nicht selten missverstandene Verhältnis von Emotionalität und Rationalität hingewiesen (vgl. etwa Schneider 1991; Sutor 1999; Breit 2016; Schröder 2016). Mehr denn je kann daher Grammes zugestimmt werden, der bereits Ende der 1990er Jahre in Bezug auf die politische Urteilsforschung resümierte: „Die Annahme einer invarianten Struktur des Urteils sowie einer hohen internen Konsistenz der Urteilsmuster ist aufgrund neuerer Forschungsergebnisse brüchig geworden“ (Grammes 1997, 44). Die meisten Arbeiten, welche sich mit dem Themenfeld Emotionen und politische Bildung beschäftigen, tun dies ausschließlich aus einer theoretischen Perspektive heraus (vgl. u.a. Sutor 1997; Oeftering/Uhl 2007; Ackermann 1991; Pohl 2014; Juchler 2014a; Reinhardt 2014; Deichmann 2015; Breit 2016; Schröder 2016; Eis/Metje 2019; Engartner/Nijhawan 2019; Besand 2019; Weber-Stein 2019a; Petri 2019). Nach systematischen empirischen Fundierungen dieser Ansätze sucht man innerhalb der Fachdisziplin hingegen noch vergebens. So liegen bis dato keinerlei empirische Arbeiten in der Politikdidaktik vor, welche Emotionen beispielsweise im Kontext von politischen Bildungsprozessen systematisch untersuchen würden. Dies gilt auch für den hier betrachteten Untersuchungsgegenstand des politischen Urteilens. Entsprechend kann keinem bereits geebneten Pfad innerhalb der politikdidaktischen Forschungspraxis gefolgt werden. Vielmehr gilt es hier zunächst, den Grundstein für eine empirische Erforschung von emotiven Anteilen innerhalb politikdidaktischer Kontexte zu legen. Der Mangel an Vorbildern innerhalb der eigenen Fachdisziplin erfordert dabei zwangsläufig eine Weitung des Blicks und die Orientierung an Ansätzen und Verfahren anderer Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere, da es innerhalb der Politikdidaktik auch an Erhebungsformen und Formaten fehlt, mit deren

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Hilfe emotionale Phänomene im Kontext politischer Bildungsprozesse systematisch in den Blick genommen werden könnten. 1.4 Gütekriterien Dass sich wissenschaftliche Vorstellungen von alltagsweltlichen vor allem durch den Bezug auf wissenschaftliche (Güte-)Kriterien abheben, wurde bereits kurz erwähnt (vgl. Kapitel 1.2). Bislang offen blieb jedoch die Frage, was genau unter solchen Kriterien verstanden werden kann und wie sich diese operationalisieren lassen. Der nachfolgende Abschnitt greift diese Fragen daher erneut auf und diskutiert sowohl den Sinn als auch die Grenzen von Gütekriterien sowie deren Konkretisierung am Beispiel der vorliegenden Arbeit. Weitgehend einig ist man sich in der Fachliteratur, dass zwischen sogenannten quantitativen und qualitativen Gütekriterien zu unterscheiden ist36 (vgl. Mayring 2002, 140f.; Lamnek 2010, 127f.; Flick 1995, 167; Kelle 2008, 13). Ursächlich hierfür dürften in erster Line die unterschiedlichen Zielsetzungen qualitativer und quantitativer Arbeiten sowie die damit verbundenen ungleichartigen Forschungszugänge sein. So definiert die quantitative Tradition die Beobachtungsunabhängigkeit bzw. Objektivität der Datenerhebung und -auswertung, die Theoriegeleitetheit des Vorgehens und die statistische Verallgemeinerbarkeit der Befunde als zentrale Ziele des Forschungsprozesses; Vertreter der qualitativen Tradition stellen dahingegen die Erkundung der Sinnsetzungs- und Sinndeutungsvorgänge der Akteure im Untersuchungsfeld, die Exploration kultureller Praktiken und Regeln und die genaue und tiefgehende Analyse und Beschreibung von Einzelfällen in den Mittelpunkt ihrer Forschungsbemühungen (Kelle 2008, 13).

Vor allem in qualitativen Forschungsarbeiten, in denen ein Abweichen von standardisierten Verfahren die Regel darstellt, realisiert sich die Konkretisierung von Gütekriterien dabei erst in Abhängigkeit zum Forschungsgenstand und der Forschungsfrage. Es kann daher keinesfalls von einer

Gütekriterien

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automatischen Qualitätssicherung durch den Einsatz qualitativer Gütekriterien ausgegangen werden. Vielmehr offenbart sich ihre Passgenauigkeit und Stimmigkeit erst, wenn sie selbst zu Gegenständen einer kritischen Auseinandersetzung werden. Wenn Gütekriterien begrifflich, inhaltlich und methodologisch keine von Wissenschaftstheorie und Methodologie unabhängige Kontrollgrößen seien können, bemisst sich die Qualität wissenschaftlich-empirischer Analyse im Kontext von Wissenschaftstheorie, Methode und Gegenstand (Lamnek 2010, 128).

Eine weitere Schwierigkeit von qualitativen Kontrollinstrumentarien liegt zudem darin, dass sie einerseits die Haltbarkeit und Plausibilität von Aussagen beschreiben möchten, andererseits jedoch selbst nicht außerhalb dieser Dinge stehen, sondern in ihrer eigenen Modellhaftigkeit Teil dieser Konstruktion sind und somit auch selbst auf falschen Annahmen beruhen können. Ein Umstand, der sich zudem noch dadurch verschärft, dass sowohl die Operationalisierung einer Untersuchung als auch die Passgenauigkeit der dabei zur Anwendung kommenden qualitativen Gütekriterien zumeist von derselben Person verantwortet werden dürfte. Dennoch können Gütekriterien unter Berücksichtigung dieses kritischen Hintergrunds durchaus wertvolle Orientierungshilfen darstellen, um über die Angemessenheit und somit Güte wissenschaftlicher Arbeiten zu urteilen. Zumindest dann, wenn sie nicht als absolut, sondern als selbst zu reflektierende Perspektiven im Sinne einer Arbeitstransparenz verstanden werden. Da es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine qualitative Studie

36 So kommen in der quantitativen Forschung zumeist klassische Gütekriterien (z.B. Repräsentativität, Validität oder Reliabilität) (vgl. Diekmann 2008, 247-261) zum Einsatz, während in der qualitativen Forschung mitunter modifizierte Kriterien (z.B. Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung oder Regel geleitetheit) (vgl. Mayring 2002, 144f.) Verwendung finden, die jedoch versuchen prinzipiell ähnliche Bereiche abzudecken.

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handelt, sollen nachfolgend die im Rahmen der Arbeit verwendeten qualitativen Gütekriterien dargestellt werden.

1.4.1 Validität Das im Allgemeinen bedeutendste Gütekriterium im Rahmen von Forschungsprozessen dürfte das Kriterium der Validität37 darstellen, wobei sich dessen Qualität aus den konkret verwendeten Validitätsformen38 ableitet. Folgende Formen sind dabei im Rahmen der vorliegenden Arbeit von Bedeutung: Validierung durch Triangulation, kommunikative Validierung, Konvergenzvalidierung sowie die Prozedurale Validierung. Diese werden hier jedoch nicht als eigenständige Kategorien, sondern als Unterpunkte der Validierung durch Triangulation verstanden. Schließlich kann Triangulation in der Wissenschaft als eine Technik aufgefasst werden, bei der eine „unbekannte Größe von unterschiedlichen Messpunkten aus betrachtet wird, um sie genauer zu bestimmen“ (Lamnek 2010, 141). Die hierbei zur Anwendung kommenden Techniken können dabei durchaus variieren. Siegfried Lamnek (vgl. ebd., 142) spricht in diesem Zusammenhang etwa von vier Formen der Triangulation: Datentriangulation, Forscher*innentriangulation, Theorientriangulation und Methodentrinagulation. Schließt man sich diesem Verständnis an, so lassen sich m.E. auch die oben genannten Validitätsformen (kommunikative Validierung, Konvergenzvalidierung und die Prozedurale Validierung) als unterschiedliche Triangulationsarten unter dem Überbegriff der Triangulation subsumieren. Deutlich wird dies vor allem, wenn man die hier genannten Validitätsformen auf ihren Kern 37 38

Mitunter auch als intersubjektive Nachvollziehbarkeit bezeichnet (vgl. Klee 2008, 32). Siegfried Lamnek (vgl. 2010, 138-142) unterscheidet insgesamt zwischen sieben unterschiedlichen Validitätsformen: (Ökologische Validierung, Kommunikative Validierung, Argumentative Validierung, Kumulative Validierung, Validierung an der Praxis, Prozedurale Validierung und Validierung durch Triangulation). Für die vorliegende Arbeit habe ich diese Reihe um die Form der Konvergenzvalidierung ergänzt.

Gütekriterien

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reduziert. So wird unter kommunikativer Validierung in der Regel die Überprüfung einer Interpretation verstanden, indem man diese den Beforschten noch einmal vorlegt (vgl. Mayring 2002, 147). Ohne hierdurch absolute Gewissheit bezüglich der eigenen Interpretation zu erfahren, können die Forscher*innen auf diesem Wege – so die Theorie – ihre Annahmen weiter plausibilisieren, indem sie nach dem Prinzip der Triangulation (s.o.) ihre Konklusionen von einem anderen Blickwinkel aus betrachten lassen. In der vorliegenden Arbeit wurde dieses Verfahren z.B. genutzt, um zu klären, ob im Rahmen der Ergebnisinterpretation eine interpretative Gleichsetzung der Begrifflichkeiten politisches Urteil und Meinung gerechtfertigt erscheint (vgl. Kapitel 21.1). Die Form der Konvergenzvalidierung findet sich unter diesem Namen nicht in den klassischen Methodenwerken (vgl. etwa Lamnek 2010; Diekmann 2008; Mayring 2002; Flick 2002) und wurde von mir als Anregung von Hans Joas (vgl. 2012, 21) aufgenommen. In ihrer prinzipiellen Form entspricht sie in etwa dem, was bisweilen unter dem Terminus Datentriangulation bzw. genauer Theorientriangulation verstanden wird (vgl. Lamnek 2010, 142). Die Validität der Untersuchung erhöht sich demnach dadurch, dass unterschiedliche Datensätze bei der Betrachtung eines Forschungsproblems berücksichtigt werden. Der Ansatz der Konvergenzvalidierung überträgt diese Vorgehensweise auf den Bereich der Theorien und versucht durch den Einbezug möglichst vieler divergierender theoretischer Ansätze, den Forschungsgegenstand multiperspektivisch und dadurch in seiner Gänze genauer und stimmiger zu erfassen. Ein solches Vorgehen eignet sich vor allem dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – mit Bezug auf das Phänomen der Emotionen eine abschließende Definition eines Untersuchungsbestandteils wenig sinnvoll erscheint, da dieser nicht hinreichend bestimmt werden kann (vgl. Kapitel 6). So plädiert etwa Peter Massing (vgl. 2019) in seiner Nachlese zu Emotionen im Politikunterricht dafür, auf eine „ausdifferenzierte Begriffsdefinition zu verzichten und jenseits

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davon zu untersuchen, welche Erkenntnisse aus dem Emotionsdiskurs politikdidaktisch von Bedeutung sein können“ (Massing 2019, 239). Die Annäherung über Diskurse wird in diesen Fällen als ein probates Mittel verstanden, um dennoch einen fortschreitenden Erkenntnisgewinn zu ermöglichen. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Verständnis und reflektiert etwa ausgewählte Ansätze aus der politischen Ideengeschichte im Hinblick auf ihren Mehrwert für das dargelegte Forschungsinteresse und versucht dabei zugleich, den Begriff der Emotionen kontextabhängig zu vertiefen (vgl. Kapitel 7-10). Des Weiteren ermittelt sich die Validität der vorliegenden Arbeit und somit die Belastbarkeit der Untersuchungsergebnisse aus der verwendeten Methodentriangluation. Durch die Verwendung von unterschiedlichen Erhebungsverfahren (vgl. Kapitel 13-15) wird der Untersuchungsgegenstand multiperspektivisch überprüft, um ihn möglichst in seiner gesamten Komplexität betrachten zu können. Wichtiger Bestandteil von Validität ist zudem zweifelsohne die Prozedurale Validierung, mit der die Regelgeleitetheit eines Forschungsverfahrens gemeint ist. Die Einhaltung von transparenten Regeln (Verfahrensschritten) sowohl bei der Datenerhebung als auch bei der Datenauswertung soll dabei eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit des angestrebten Erkenntnisgewinns ermöglichen. Allerdings kommt es bei qualitativen Untersuchungen im Vergleich zu quantitativen Studien an dieser Stelle meist zu Einschränkungen. Schließlich sind Erhebungsverfahren wie Interviews, Beobachtungen oder auch qualitative Experimente trotz aller Regelgeleitetheit in ihrer Spezifität nicht reproduzierbar, und auch die qualitative Dateninterpretation muss trotz aller Validierungsverusche (s.o.) bis zu einem gewissen Grad immer als subjektiv verstanden werden. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich jedoch keinesfalls, dass qualitativ Forschende leichtfertig Abstriche bezüglich ihrer Prozeduralen Validierung hinnehmen. Im Gegenteil ermöglicht die kompensatorische Verpflichtung innerhalb einer

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Untersuchung sogar, das bestmögliche Maß an Regelgeleitetheit herzustellen (vgl. Kapitel 17-20).

1.4.2 Reliabilität Trotz allgemeiner Zustimmung darüber, dass zwischen sogenannten quantitativen und qualitativen Gütekriterien zu unterscheiden ist, wird in der Fachliteratur für deren Beschreibung nicht selten auf identische bzw. nur leicht abgewandelte Begrifflichkeiten zurückgegriffen (vgl. Lamnek 2010; Diekmann 2008; Mayring 2002; Flick 2002), was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit und Uneindeutigkeit derselben beiträgt. Auch der hier folgende Begriff Reliabilität ist davon betroffen. Ursprünglich aus der quantitativen Forschung stammend, wird er dort als „ein Maß für die Reproduzierbarkeit von Messergebnissen“ (Diekmann 2008, 250) verstanden. Auf die qualitative Forschung kann er schon allein deswegen nicht einfach übertragen werden, da qualitative Forscher*innen ihre „Untersuchungsmethoden als qualitative, sequenzielle Analyse [konzipieren, d. Verf.], bei der wichtige Analysebestandteile noch entwickelt werden, während die Datenerhebung schon erfolgt und erstere sogar von letzterer abhängig [sind, d. Verf.]“ (Lamnek 2010, 149). Eine im Sinne quantitativer Forschung bestehende Reproduzierbarkeit ist demnach per Definition von qualitativer Forschung ausgeschlossen. Anstelle dessen hat der Begriff der Reliabilität in qualitativen Kontexten eine komplette Umdeutung erfahren. Philipp Mayring (vgl. 2002, 146f.) verwendet daher auch vorzugsweise den Terminus Nähe zum Gegenstand, um auch eine begriffliche Unterscheidung zu ermöglichen. Und in der Tat bringt Mayring (vgl. ebd.) damit besser zum Ausdruck, was unter Reliabilität in der qualitativen Forschung – und so auch in der vorliegenden Arbeit – in der Regel verstanden wird.

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An die Stelle der Replizierbarkeit von Untersuchungsbedingung und Forschungsergebnis tritt im interpretativen Paradigma die Betonung der situativen Kontextgebundenheit von Datenerhebungs- und Auswertungsresultaten. (Lamnek 2010, 151)

Das subjektive wird also im Gegensatz zur quantitativen Forschung nicht als Störvariabel wahrgenommen, sondern als Ausgangspunkt der Erkenntnisgewinnung begriffen. Aus dem intersubjektiven entwickelt sich demnach ein transobjektives Verständnis (vgl. Kapitel 16.2). Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass zwischen Forscher*innen und ihren Forschungsgenständen eine gewisse Nähe besteht, womit in erster Linie ein geteilter Sprach- und Interaktionsraum gemeint ist (vgl. Kleemann et al. 2013, 124; Kapitel 21). Im optimalen Fall haben „die Beschreibungen eine gleichbleibende Bedeutung, d.h., sie sind unabhängig vom Kontext ihrer Produktion“ (Lamnek 2010, 151).

1.4.3 Objektivität Natürlich führen qualitative Verfahren zu keinem objektiven Bild von Welt, ich bezweifle sogar, dass quantitative Verfahren hierzu in der Lage sind. In diesem Sinne handelt es sich bei objektiven Beschreibungen auch nicht um eine Abbildung des tatsächlichen Seins, sondern lediglich um interpretative Annäherungswerte. Objektivität wird hier daher in einem emergentistischen Sinne verwendet (vgl. hierzu auch Lamnek 2010, 158). Anstelle der Wahrheit rücken dabei die Plausibilität der Forschungshandlungen und Ergebnisdarstellungen in den Fokus der Betrachtung. Hauptsächlich realisiert wird diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit durch das bereits erwähnte Verfahren der Kommunikativen Validierung sowie den Prozess der gemeinschaftlichen Interpretation, welcher sich hier Anlehnung an die Objektive Hermeneutik vollzieht (vgl. Kapitel 16.2). Falsifizierbare Deutungen können so mit Hilfe der Forschungsgemeinschaft identifiziert und kenntlich gemacht sowie besonders erklärungsstarke und plausibel er-

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scheinende Deutungen betont werden (vgl. Kapitel 21). Auf diese Weise erfolgt eine Steigerung des Objektivitätsgehaltes der Arbeit (vgl. Lamnek 2010, 158). Allerdings nur, wenn die gemeinschaftlichen Interpretationsanteile durch eine hinreichende Verfahrensdokumentation ergänzt werden (s.o. Prozedurale Validierung). Tabelle 3: Überblick über die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Gütekriterien und deren Operationalisierung.

I. Teil: Theorierahmen

2 Politikbegriff Zur Gewährleistung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit – wie sie für wissenschaftliche Tätigkeiten im vorangegangenen Kapitel eingefordert wurde – gehört auch die Klärung von Schlüsselbegriffen, die in dem Kontext der zu behandelnden Themenkomplexe von zentraler Bedeutung erscheinen. Bekanntermaßen unterliegen derartige Versuche jedoch der Schwierigkeit, dass sie sich ihrerseits wiederum zwangsläufig auf erklärungsbedürftige Begriffe, Konzepte, Ansätze etc. stützen. Der Prozess der Begriffsklärung muss daher mit dem Bild einer Spirale beschrieben werden, wobei jeder Klärungsversuch weitere Schleifen nach sich zieht. Eine Begriffsklärung ist daher keinesfalls mit der Gewissheit zu verwechseln, dass die intendierte Intention eines Begriffs von den Rezipient*innen passgenau übernommen würde, sie steigert lediglich die Wahrscheinlichkeit eines solchen Verständnisses. In diesem Sinne wird nachfolgend der Politikbegriff als ein erster Schlüsselbegriff der vorliegenden Arbeit behandelt, da ich im Allgemeinen der Auffassung bin, dass in der Politikdidaktik nur derjenige sinnvoll tätig werden kann, der über eine dezidierte Vorstellung von Politik verfügt, da man anderenfalls sein Operationsbesteck nicht kennen würde. Ferner, da mit der Absicht, über das politische Urteilsvermögen zu schreiben, natürlich auch die Verpflichtung einhergeht, Auskunft darüber zu geben, was in diesem Kontext unter dem Politischen bzw. der Politik zu verstehen ist. Des Weiteren lassen sich ohne eine solche Klärung weder die für die Empirie der vorliegenden Untersuchung notwendigen Untersuchungsfragen und -gegenstände oder Erhebungs- und Auswertungsmethoden festlegen noch können die gewonnenen Erkenntnisse hinreichend ausgewertet, interpretiert und eingeordnet werden. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_2

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Politikbegriff

Zur besseren Übersicht wird daher anhand vier strukturierender Merkmale (Grundvoraussetzungen, Reichweite, Gegenstand und Modus) – welche in einem interdependenten Verhältnis zueinander stehen – eine analytische Unterteilung der im Folgenden ausformulierten Arbeitsdefinitionen des Politischen und der Politik vorgenommen. Die Schwerpunktsetzung erfolgt dabei mittels des Erkenntnisinteresses der Untersuchung und erhebt somit weder Anspruch auf Vollständigkeit noch bestreitet sie die prinzipielle Wandelbarkeit der genannten Merkmale. Da bei der nachfolgenden Klärung der Begriff maßgeblich auf antike Vorstellungen rekurriert wird, sei zudem vorweg noch kritisch angemerkt, dass der antike Begriff von Politik – der auch für die damalige Zeit bereits utopische Züge enthielt – sich für moderne39 Gesellschaften nicht einfach übernehmen und auch nicht zur regulativen Idee oder zum Ideal (v)erklären lässt. Zu sehr ist er dafür in Konzepten wie dem Chauvinismus, dem Rassismus und in Bereichen der Dystopie verhaftet. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, dass viele Elemente eines modernen Politikbegriffs sich bereits in den Vorstellungen der Antike wiederfinden und nicht wenige von ihnen auch heutzutage noch relevant sind. Dabei wird hier prinzipiell zwischen den Begriffen Politik und Politisch unterschieden. Als Politik wird dabei alles Handeln verstanden, das auf die Herstellung allgemeinverbindlicher Regelungen abzielt und da beginnt, wo Entscheidungen nötig werden, die nicht mehr auf Grundlage einer unhintergehbaren Erkenntnis getroffen werden können (vgl. Barber 1994, 104ff.). Der politi-

39 Es ist mir stets unklar geblieben. was eigentlich genau unter Moderne zu verstehen ist und unter welchen Bedingungen und mit welcher Berechtigung sich Gesellschaften oder Theorien mit diesem Terminus schmücken. So sind es doch gerade die sogenann ten modernen Gesellschaften, die mittels moderner Technik ein Zerstörungsspektakel inszenieren, welches die uns bekannte Welt in ihrer grundlegenden Existenz bedroht. In diesem Sinne scheint gerade alles das modern zu sein, was die Möglichkeit zur nach haltigen Zerstörung des Lebens potenziert.

Politikbegriff

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sche Bereich hingegen entfaltet sich überall dort, wo – im Sinne Foucault`s (vgl. 2010) – ein Ringen um Machtphänomene von statten geht. Felix Heidenreich (2012, 10 FN) drückte dies unter Bezugnahme auf eine bekannte Analogie so aus: „Das Private kann politisch sein, ohne deshalb Politik zu sein“ 40. Damit verwende ich den Politikbegriff jedoch in einer leicht anderen Weise als dies in den meisten antiken Schriften der Fall ist. Wenn dort von Politik die Rede war, dann wurde damit zumeist ein Duktus bezeichnet, der sich gerade dadurch auszeichnete, nicht das notwendige (wie etwa die Schaffung eines gesellschaftlichen Regelkorsetts) zu deklarieren, sondern etwas vermeintlich Erstrebenswertes zu operationalisieren (vgl. Arendt 2014, 33-38). Indem der Mensch politisch wird, – so die Vorstellung41 – handelt er nicht mehr instinktiv nach seiner animalischen Natur, sondern wird zum Akteur, zum Gestalter, zum Schöpfer und so zum eigentlichen Menschen. Vergleichbare Vorstellungen würden wir heute vermutlich am ehesten unter den Bereich der politischen Utopien subsumieren (vgl. hierzu auch Schröder 2018a). Trotz eines heutzutage in der Summe abweichenden Politikverständnisses sind einige grundsätzliche Überlegungen der Antike über den Bereich der Politik nach wie vor gültig. Dazu gehört in erster Linie die Feststellung, dass Politik und politische Partizipation keinesfalls voraussetzungsfrei vonstatten gehen, sondern entscheidend durch Faktoren wie die Umwelt sowie soziale und individuelle Kontextfaktoren mitbestimmt werden. Nachfolgend werden daher in dem Kapitel 2.1 zunächst einige Grundvoraussetzungen

40 Vergleiche für eine tiefergehende Diskussion zur Unterscheidung des Politischen auch den Aufsatz Das Politische und die Politik – Konturen einer Differenz von Thomas Bedorf (2010), sowie die im gleichen Band erschienene Arbeit Flexionen des Politischen von Kurt Röttgers (2010). 41 Eindrücklich beschrieben findet sich diese Lesart in der Vita activa von Hannah Arendt (vgl. 2014).

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Politikbegriff

von Politik und politischem Handeln in den Mittelpunkt gestellt. Wobei hier vorwiegend soziologische Aspekte besprochen werden, um auf der Metaebene einen frühen Überblick zu ermöglichen, jedoch wohl wissend, dass auch eine Betrachtung aus psychologischer Perspektive unabdingbar wäre, um dieses Feld möglichst erschöpfend zu behandeln. Einer gängigen Differenzierung des Politikbegriffes folgend ließe sich der Abschnitt der Grundvoraussetzungen am ehesten mit den Inhalten in Verbindung bringen, welche gegenwärtig der sogenannten polity-Dimension zugerechnet werden (vgl. Schubert 2005, 778). Wobei in diesem Abschnitt explizit auch die Handlungsspielräume beschrieben werden, innerhalb derer politische Prozesse vonstatten gehen können. Auf diese erste Eingrenzung folgt eine zweite des Politikbegriffs im Kapitel 2.2 Reichweite, welcher als Gegenstück ebenfalls der polity-Dimension (vgl. ebd.) entspricht. Dabei wird vor allem zwischen den Begriffen Privat und Politik differenziert; eine Unterscheidung, welche zu der im Kapitel 2.3 aufgeworfenen Fragen führt, was unter politischen Gegenständen zu verstehen ist. In der Politikwissenschaft wird dieser Aspekt mitunter auch mit der sogenannten policy-Dimension beschrieben (vgl. Schubert 2005a, 694). Im letzten Kapitelabschnitt 2.4 Modus – welcher wiederum Schnittmengengen mit Elementen der sogenannten politics-Dimension (vgl. Schubert 2005b, 697) aufweist – wird schließlich die grundlegende Verfahrensweise politischen Handelns thematisiert. Auf diese Weise werden die verwendeten Begrifflichkeiten des Politischen und der Politik von vier Seiten umrahmt, was vor allem zur Nachvollziehbarkeit des hier postulierten Verständnisses derselben dienlich sein soll.

2.1 Gelingensbedingungen politischen Handelns Welche Gelingensbedingungen benötigt politisches Handeln, und auf welcher Basis kann Politik am besten gedeihen? Das sind die beiden zentralen Fragestellungen der nachfolgenden Ausführungen. Nach dem uns be-

Gelingensbedingungen politischen Handelns

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kannten antiken griechischen Verständnis können idealerweise nur freie Menschen in einem demokratischen Sinne politisch tätig sein. Und als frei galt in der Antike, wer nicht gezwungen war, überwiegend Tätigkeiten für die Erhaltung der eigenen Existenz auszuführen (vgl. Arist. NE. 1, 3). Nach einer gängigen Definition von Aristoteles (vgl. ebd.) traf eine solche Befreiung von existenziellen Tätigkeiten jedoch lediglich auf drei Gesellschaftsgruppen zu, die sich durch die folgenden Lebensstile auszeichneten: „[...] das Leben, das in Genuss und Verzehr des körperlich Schönen dahingeht; das Leben, das innerhalb der Polis schöne Taten erzeugt; und das Leben des Philosophen, der durch Erforschen und Schauen dessen, was nie vergeht, sich in einem Bereich immerwährender Schönheit aufhält [...]“ (Arendt 2014, 23)42. Als unfrei hingen galten alle, die nicht zu jeder Zeit die volle Gewalt über die Gestaltung ihrer Zeit und die Wahl ihres Aufenthaltsortes innehatten (vgl. ebd., 22). Dies traf bekanntermaßen in der Antike auf die große Mehrheit der Menschen zu (z.B. Sklaven, Handwerker oder Kaufleute), die mit der Herausstellung oder dem Handel von Gütern beschäftigt waren (Funke 2013, 186-190). Neben diesen klassischen Berufen galten aber auch die despotischen Herrscher*innen der damaligen Zeit als Unfreie, da auch die Organisation des Gemeinwesens mitunter als eine existenzielle Aufgabe betrachtet und damit dem Bereich der Produktion von lebensnotwendigen Gütern gleichgesetzt wurde (vgl.

42

In ihrem Werk „Vita activa“ oder „Vom tätigen Leben“ zeigt Arendt grundsätzlich auf, wie in der mittelalterlichen Philosophie der Begriff der „Vita activa“ aus dem Griechischen ins Lateinische (fehl-)übersetzt und umgedeutet wurde. Von den abermals drei freien Lebensformen, welche Aristoteles (vgl. Arist. NE. 1, 3) benannte, blieb dabei letztlich nur noch die dritte übrig (vgl. Arendt 2014, 24ff.). Die mittelalterliche Philosophie, beeinflusst von der christlichen Lehre, ordnete jegliche politische Tätigkeit in den Bereich des Notwendigen ein. Frei konnte der Mensch demnach nur dann noch sein, wenn er auch befreit war von den Mühen aller politischer Tätigkeiten. Aus der Position der christlichen Glaubenslehre war dies sicherlich keine ganz uneigennützige Auffassung des Begriffs Vita activa.

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Politikbegriff

Arendt 2014, 23f.). In der antiken Polis galt also die Unabhängigkeit von den Zwängen der alltäglichen Lebenssicherung und den konsekutiv damit verbundenen partikularen Interessen als Grundvoraussetzung, um politisch frei handeln zu können. Nur unter diesen Bedingungen – so die herrschende Vorstellung – konnte politische Wahrheitssuche unvoreingenommen und unbeeinflusst betrieben werden. Politik galt demnach als ein Geschäft von Gleichen unter Gleichen (Isonomie)43 (ebd., 42f.). Der Kerngedanke, dass bestimmte existenzielle Grundvoraussetzung erfüllt sein müssen, nicht um politisch zu sein, sondern um Politik in einem demokratischen Sinne betreiben zu können, welcher sich primär dem common sense, d.h. dem Gemeinwohl, verpflichtet fühlt, ist dabei m.E. bis heute gültig. So existiert zweifelsohne ein bedeutender Unterschied, von welchem Standpunkt aus sich Subjekte politisch betätigen (können). Überall dort, wo der Mensch in prekären Alltäglichkeiten gefangen ist und um die Sicherung der eigenen Lebensgrundlagen kämpfen muss, kann er nicht auf das globale Gemeinwohl verpflichtet werden, sondern muss zum Zwecke der physischen und psychischen Selbsterhaltung opportun und im Zweifel egozentrisch agieren. Unter den amtierenden, realen gesellschaftlichen materiellen Grundbedingungen lässt sich daher auch nur schwerlich eine wirklich wahrhafte demokratische Politik gestalten. Zu groß sind die materiellen Unterschiede und auch die damit verbundenen Verwirklichungs43 Bei der antiken Isonomie handelte es sich um eine chauvinistische normative Setzung, welche lediglich Männer ab einem gewissen Alter, mit einer bestimmten Herkunft, Status und zumindest zu Teilen auch mit einem bestimmten kapitalen Vermögen einschloss. Alle anderen Menschen waren von der Teilhabe von »Gleichen unter Gleichen« grundsätzlich ausgeschlossen (vgl. u.a. Arendt 2006, 41). 44 Für eine im Kontext der Politikwissenschaft erfolgte und für die politische Bildung gewinnbringende Auslegung des Ansatzes von Amartya Kumar Sen (vgl. 1999) ver gleiche den Aufsatz Partizipieren können, wollen und dürfen! Politikwissenschaftliche Aspekte der politischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen am Beispiel Wahlrecht von Marc Partetzke und Andreas Klee (2016, 37-40).

Gelingensbedingungen politischen Handelns

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chancen44 (vgl. Sen 1999). Von einer Politik von Gleichen unter Gleichen kann dabei keine Rede sein. Hannah Arendt (vgl. 2015, 74f.; 2014, 22ff.) sieht wohl auch gerade daher in dem Phänomen der Armut eine prinzipielle Geißel der demokratischen Politik: Mit der Armut in ihrer konkreten Massenhaftigkeit erschien die Notwendigkeit auf dem Schauplatz der Politik; sie entmachtete die Macht des alten Regimes, wie sie die werdende Macht der jungen Republik [gemeint ist die Französische Revolution, d. Verf.] im Keim erstickte, weil sich herausstellte, daß man die Freiheit der Notwendigkeit opfern mußte. Wo immer die Lebensnotwendigkeiten sich in ihrer elementar zwingenden Gewalt zur Geltung bringen, ist es um die Freiheit einer von Menschen erstellten Welt geschehen. (Arendt 2015, 75)

Weil der Zwang zur Lebenssicherung den Menschen als gewaltsame Wucht trifft und auch den politischsten Menschen apolitisch werden lässt, beschreibt Hannah Arendt die Armut als einen „entwürdigenden“ Zustand, welcher alles politische Handeln erstickt (ebd., 74f.). Bertold Brecht vermochte diese Erkenntnisse in seinem Stück die Drei Groschenoper mit dem prägnanten Ausspruch auf den Punkt zu bringen: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Erst muß es möglich sein auch armen Leuten, Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.“ (Brecht 2004, 67). Es gilt daher zu bedenken – und von einem pro-demokratischen Standpunkt sicherlich aus auch zu kritisieren –, dass prinzipiell all diejenigen, welche primär gezwungen sind, für ihre soziale Absicherung zu kämpfen, von der Möglichkeit des politischen Weltenbildens (vgl. Baron 2016, 284) weitgehend ausgeschlossen sind. Folgt man diesen Überlegungen, ergeben sich aus ihnen für den Politikbegriff konkrete Problemstellungen, welche insbesondere für eine demokratische Politik – wie sie hier präferiert wird – zur Herausforderung werden müssen. Schließlich stellt sich die Frage, wer überhaupt als Akteur*in auf dem politischen Parkett in Frage kommt, wenn dessen Fundament auf der

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Politikbegriff

Möglichkeit fußt, aus einer Position der sozialen Absicherung heraus unabhängig politisch Handeln zu können? Leicht zynisch kommentiert Daniel Baron unter Bezugnahme auf Arendt hierzu: [...] so bleibt für die Vollbringung politischer Wunder nur noch eine kleine Zahl handverlesener Bürger übrig, die für alle anderen Tiefschlummernden im passenden Augenblick das – hoffentlich – Richtige zu tun wissen. (Baron 2016, 284).

Eine sicherlich richtige Folgerung hieraus ist, dass die Bekämpfung sozialer Unsicherheiten nicht nur ein Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch für die Politik und die Demokratie an sich ist. Auch wenn die existenzielle Grundsicherung sich als plausible Voraussetzung für Politik und politisches Handeln in einem demokratischen Sinne offenbart, so ist es doch ein Trugschluss anzunehmen, dass alleine durch ihr Vorhandensein automatisch demokratische Politik entstehen würde. So stehen Politik und die existenziell hinreichende soziale Absicherung zwar in einem interdependenten, jedoch keinesfalls in einem kausalen Verhältnis zueinander. Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel des Individualismus45, welcher sich scheinbar parallel zum Phänomen der sozialen Absicherung verhält, d.h. wenn das gesellschaftliche Niveau der sozialen Absicherung steigt, steigt gleichsam auch das Bedürfnis des Individuums, die eigene Individualität zu kultivieren. In politischer Hinsicht birgt der Individualismus dabei die Gefahr der Parzellierung politischer Positionen (vgl. Kevenhörster 2008, 26). Paradoxerweise können also die gleichen sozialen Rahmenbedingungen, die ein Zustandekommen von Politik und politischem Handeln erst ermöglichen, neue Instabilitäten hervorrufen, denen wiederum auf politischem Wege begegnet werden muss. Neben den klassischen, aus der Antike übermittelten, materiellen und sozialen Grundbedingen, welche erfüllt sein müssen, um in einem demokratischen Sinne politisch handeln zu können, stellt der Individualismus somit ein weiteres Hemmnis für politisches Handeln in aktuellen Gesellschaften dar. Denn

Gelingensbedingungen politischen Handelns

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obwohl die materiellen Lebensgrundlagen und die Absicherung der Existenzbedingungen mit lebensnotwendigen Gütern in den westlichen Demokratien einen so hohen Grad wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erreicht haben (vgl. Statista 2018), gestaltet sich eine demokratische Mehrheitsfindung zunehmend problematisch (vgl. Decker 2016), wie die jüngsten Spaltungstendenzen innerhalb westlicher Demokratien schonungslos offenlegen46. Der Individualismus, welcher in seiner aktuellen Form konsekutiv mit der industriellen und mehr noch mit der postindustriellen, kapitalistischen Gesellschaft verbunden zu sein scheint (vgl. u.a. Krings 2016, 21f.; Beck 2008), unterscheidet sich dabei von den aus der Antike stammenden Grundbedienungen für Politik darin, dass die antiken Grundbedienungen anthropologische Voraussetzungen darstellen. Diese müssen zweifelsohne erfüllt sein, damit der Mensch existenziell überleben kann. Ohne diese muss die Möglichkeit der Entfaltung eines freien politischen Willens stark eingeschränkt bleiben. Das politische Problem des Individualismus hingegen ist nicht anthropologischer Natur, sondern stellt ein künstliches Hemmnis für Politik dar, welchem wiederum nur mit den Mitteln der Politik selbst begegnet werden kann. Diese kurze Einführung dürfte bereits verdeutlichen, dass der Versuch, letztgültige Gelingensbedingungen für politisches Handeln identifizieren zu wollen, einem sich ständig aktualisierenden Prozess vorbehalten bleiben muss. Darüber hinaus können jedoch 45 Als Individualismus wird hier eine Anschauung verstanden, bei der die Bedürfnisse des Individuums den Vorrang vor denen der Gesellschaft eingeräumt wird (vgl. Fremd wörterlexikon 2004, 393). Der Individualismus ist dabei kein Phänomen der Neuzeit, sondern reicht bis in die Antike zurück (vgl. Schiller 2006, 29ff.). Für einen Überblick vgl. Hans-Ernst Schillers Werk von 2006: Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus. 46 Deutlich wird dies etwa anhand der erschreckenden Zuwächse, welche rechte und rechtsradikale Parteien innerhalb der bestehenden politischen Systeme derzeit für sich verbuchen können, wobei die entsprechenden Parteien in erheblichem Umfang die inhaltlich Unterminierung des etablierten politischen Systems intendieren (vgl. Schellenberg 2017).

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Politikbegriff

zumindest eine kulturspezifisch angemessene existentielle und soziale Absicherung von Akteuren als unumgängliche Grundbedingungen von Politik und politischem Handeln im Folgenden benannt werden.

2.2 Reichweite Der aus der Frühantike von den alten Griechen stammende und kultivierte Begriff des Politischen bezog sich ausschließlich auf den urbanen Mikrokosmos der Polis. Das Leben außerhalb der Polis galt hingegen als unpolitisch und die meisten Menschen der Zeit wurden als Unfreie, Sklaven oder Barbaren betrachtet (vgl. Kapitel 2.1). Neben dieser physischen Eingrenzung des politischen Raums, die sich an den Stadtgrenzen orientierte, galten auch weite Teile der Lebensführung der Stadtbewohner*innen als prä-politische Sphären. Die Unterscheidung des politischen vom prä-politischen erfolgte dabei anhand der als legitim erachteten Herrschaftsmittel (vg. Arendt 2014, 36f.). Für die politische Sphäre galt dabei einzig der Akt des Sprechens als das konsekutiv mit der Politik verwobene Herrschaftsinstrument (vgl. Arist. Rhet. 1, 2, 1356a). Alle weiteren Bereiche47 des Lebens, in denen andere Herrschaftstechniken (z.B. Despotismus) legitimiert waren, galten als prä-politische Bereiche. Sie waren gekennzeichnet durch die Organisation des Lebensnotwendigen und die Gewalt galt in der Regel als das ergiebigste aller Instrumente, um der Erde das Notwendige, was es zum Überleben braucht, abzuringen. In diesen Bereichen, in denen die Gewalt zutage trat, verstummte das Sprechen: [...] was natürlich nicht heißt, daß sie nicht sprechen konnten, wohl aber, daß ihr Leben außerhalb des Logos verlief, daß das Sprechen als solches für sie ohne Bedeutung war, eben weil die griechische Lebensform sich dadurch auszeichnete, daß sie vom Reden bestimmt war und daß das zentrale Anliegen der Bürger das Miteinander-Sprechen war. (Arendt 2014, 37)

Eine solch hierarchische und in vielerlei Hinsicht strikte Trennung zwi-

Reichweite

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schen den Bereichen der politischen Öffentlichkeit und dem prä-politischen Privatismus ist (und war es vermutlich auch schon damals) natürlich ein anachronistisches Ideal. Zu eng sind beide Sphären grundsätzlich miteinander verwoben. Eindrücklich wird dies in der Gegenwart etwa anhand der Bedrohungen, welche durch das Handeln politischer Institutionen für „[...] das Leben und die Lebensführung der privaten Individuen im innersten Kern der Privatheit“ (Beck 1993, 46) entstehen. Als Beispiele hierfür benennt Beck (vgl. 2008) in seinem Werk Weltrisikogesellschaft, dass trotz staatlicher Regulierung der Entwicklung und Verwendung atomarer, biologischer und chemischer Energieträger und Kampfstoffe mit diesen Phänomenen Gefahren einhergehen, die sich nicht auf einzelne Teilreiche der Gesellschaft begrenzen lassen. Schneller und leichter denn je kann das öffentliche Handeln heutzutage katastrophale Kaskaden mit globalen Folgen bewirken48. Gleichzeitig reicht aber auch der – in frühen Zeiten als klassisch genuin geltende – prä-politische Bereich deutlich über das Individuum hinaus und erlangt eine öffentliche, politische Relevanz. Beispielhaft sei hier die Entwicklung des Erziehungs- und Bildungssektors erwähnt, der sowohl öffentliche als auch private Belange tangiert, und in dem beide Sphären in einem nicht abschließbaren Aushandlungsprozess mit einander oszillieren. Unbestreitbar ist zudem, dass die vorherrschende Lebensführung im Privaten (z.B. das Konsum- und Produktionsverhalten) unmittelbare Auswirkungen auf die gesellschaftliche und somit auf die politisch zu organisierende Sphäre hat. Generell üben die Mitglieder*innen einer Gesellschaft durch ihr Wirken und Urteilen direkten Einfluss auf die Öffentlichkeit aus, beide Sphären stehen daher in einem sich gegenseitig bedingenden dialek47 48

So zählte beispielsweise die Familie, in der durch Gewalt geherrscht wurde, zum prä-politischen Bereich. Ein ausführliches Beispiel hierfür findet sich unter Bezug auf Ulrich Beck (vgl. 2008, 215f.) auch bei Schröder (vgl. 2015, 144f.).

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Politikbegriff

tischen Verhältnis zueinander. Aus diesem Tatbestand erwächst die Verantwortung der Gesellschaft für das Individuum, so wie das Individuum Verantwortung für die Gesellschaft trägt. Eine Trennung, wie sie formal im antiken Griechenland zwischen den Bereichen des öffentlichen und des privaten Interesses vollzogen wurde, taugt daher wenig für die Analyse der Praxis. Denn in jeder Gesellschaft wird das private Interesse immer auch zum Öffentlichen und das Öffentliche zum Privaten (vgl. Barber 1994, 12). Allerdings darf diese Auffassung nicht in dem Sinne missinterpretiert werden, dass sich aus ihr die Berechtigung ableiten ließe, dass das politische das Recht hätte, sich über das Private zu erheben und in allen Lebensbereichen den Ton anzugeben. In einer Welt, die nicht von perfekten, sondern in jeder Hinsicht von Mängelwesen verwaltet wird, ist die Privatsphäre notwendige Schutzbastion vor dem Übergriff der Allgemeinheit und eine zwingende Voraussetzung für die Entwicklung zum mündigen Menschen (vgl. Hotter 2011, 11). Ein Begriff des Politischen muss daher den privaten Bereich miteinschließen, ohne diesen in Gänze zu eliminieren. Das öffentliche und das private Interesse, konkret die Frage, ob und, wenn ja, in welchem Maße, die öffentliche Sphäre auf die private Seite des Lebens Einfluss nimmt (bzw. nehmen sollte), gilt es immer wieder im Einzelnen neu zu verhandeln. Eine generelle und abschließende Antwort hierauf kann und darf es aus einer wissenschaftlichen Perspektive nicht geben. Dass insbesondere in der Politikdidaktik die Verwendung eines weiten Politikbegriffes aus didaktischen Gründen von Vorteil sein kann, legen zudem auch ältere Untersuchungen von Dagmar Richter (vgl. 1996) nahe. Demnach erhöht ein enger Politikbegriff die gefühlte Distanz vieler junger Menschen zum Politischen, wohingegen ein erweiterter Politikbegriff die Chance bietet, die Lebensrealität von Lernenden adäquat mit einzubeziehen und gefühlte Distanzen zur politischen Sphäre zu verringern, sowie die Einsicht in die Relevanz von Politik unter Lernenden im Allgemeinen zu erhöhen

Gegenstand

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(vgl. Richter 1996, 86ff.).

2.3 Gegenstand Wenig ist in der Theoriegeschichte so unumstritten wie die Auffassung, dass Mächte49 und Politik auf engste Weise miteinander verwoben sind und dass das Ringen um Macht einen zentralen Gegenstand politischen Handelns auszeichnet. „All politics is a struggle for power“ resümiert etwa der Politologe Wright Mills (2000, 171), dessen Spezialgebiet das Wirken von Mächten in gesellschaftlichen Kontexten darstellt und Weber konkretisierte einst: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Wiederstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 2010, 38). In ihrem Werk Macht und Gewalt stellt Hannah Arendt schließlich die Frage: „Sollte also von Rechts bis Links, von Jouvenel bis Mao Tse-tung in einem für die Philosophie so entscheidenden Punkt wie dem Wesen der Macht volle Übereinstimmung herrschen?“ (Arendt 2006, 39). Zwar bezieht sich Arendts (vgl. ebd.) Frage auf den Zusammenhang von Macht und Gewalt – welche klar zu unterscheiden sind (vgl. Kapitel 2.4) –, trotzdem wird im Kontext ihrer Analyse deutlich, dass in der Tat eine eigentümliche Einigkeit zwischen den Theoretiker*innen, gleich welcher Couleur besteht, die sich in der geteilten Überzeugung ausdrückt, dass Mächte ein inhärenter Bestand-

49 Ich spreche in diesem Absatz bewusst im Plural von Mächten und nicht etwa von Macht, um damit zum Ausdruck zu bringen, was Foucault, unter Bezugnahme auf Karl Marx, konstatierte: „Die Gesellschaft ist ein Archipel von verschiedenen Mächten.“ (Foucault 2005, 229). Demnach treten Mächte kontextabhängig in unterschiedlichen Formen in Erscheinung z.B. in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen (wie etwa der Schule, im Sportverein, auf der Arbeit, in der Ehe usw.), aus diesem Grunde lässt sich auch schwerlich von einer Macht, sondern im Allgemeinen eher von Mächten sprechen.

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Politikbegriff

teil allen politischen Handelns und Denkens darstellen. Um noch einmal mit Weber zu sprechen: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht, »um ihrer selbst Willen« und das Prestigegefühl, dass sie gibt, zu genießen.“ (Weber 2010, 1043). Insgesamt ist die Analyse des Machtbegriffs so akribisch und dabei mit erstaunlicher Konvergenz in der globalen Ideengeschichte betrieben worden, dass eine paraphrasierte Rezeption ausschließlich deskriptiv ausfallen muss und daher an dieser Stelle weder im konkreten Sinne der Arbeit noch in einem allgemeinen epistemologischen Sinne als zielführend oder bereichernd erscheint50. Zusammenfand lässt sich aber konstatieren, dass all jene materiellen und immateriellen Gegenstände zu politischen Gegenständen werden können, die sich im anhaltenden Wettstreit um politische Macht für Akteur*innen als dienlich erweisen. Nicht vergessen werden dabei sollte jedoch, dass ein Erringen von Macht in politischer Hinsicht keinem Selbstzweck gleichkommt. Es sei daher darauf verwiesen – wie mir bewusst ist, durchaus idealisierend –, dass nicht ihre Akkumulation oberster Gegenstand von Politik und politischem Handeln sein sollte, sondern zumindest die Gewährleistung der oben beschriebenen notwendigen Grundbedingungen von Politik und politischem Handeln. Aus diesen ergeben sich m.E. nach bereits spezifische inhaltliche und normative Implikationen, die zu politischen Gegenständen werden, wie etwa die Erhaltung der Erde als lebensfreundliches Habitat oder die soziale und materielle hinreichende Absicherung menschlicher Existenzen. 2.4 Modus Der ordinäre Modus des Politischen im antiken Griechenland war die gesprochene und geschriebene Sprache. Sie gilt als das konsekutive Merkmal, welches – wie bereits erwähnt – traditionell den politischen vom präpolitischen Raum unterscheidet. Wenn der Akt der politischen Rede im prä-politischen Rahmen, z.B. in Form der (Kriegs-)Rhetorik, doch einmal

Modus

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auftaucht, handelt es sich dem antiken griechischen Verständnis nach dabei nicht um einen politischen Dialog, sondern um zumeist populistische, zumindest aber um unpolitische Äußerungen (vgl. Arendt 2014, 36). Denn der politische Bereich zeichnete sich nicht durch Parolen, sondern durch das miteinander Sprechen und den Verzichtet auf jegliche Formen der Gewalt aus51. Alleine der Modus des Sprechens und Argumentierens52 galt als legitim, um die politischen Interessen der Gemeinschaft53 zu regeln (vgl. ebd., 36f.)54. Der argumentative Wettstreit war dabei in der Antike eng an den vorherrschenden philosophischen Wahrheitsbegriff gekoppelt (vgl. Jörker 2012, 36), welcher wiederum auf der Vorstellung einer real existierenden universellen Ordnung basierte55, die – so die antike Annahme – erkenntnistheoretisch rekonstruiert werden konnte (vgl. Precht 2015, 492). Nach

50 Für einen ideengeschichtlichen Überblick vergleiche das Werk Macht und Gewalt von Hanna Arendt (2006). Einen eher fachspezifischen Einblick bietet zudem das zweite Heft der von Peter Gautschi et al. (2011) herausgegebenen Zeitschrift für die Didaktik der Gesellschaftswissenschaften zum Thema Macht an. Für die politische Sphäre von besonderem Interesse dürfte zudem vor allem die Genese und Steuerbarkeit von Mächten sein. Für beide Phänomene sei daher explizit auf die Arbeiten von Michel Foucault (vgl. insbesondere 2005; 2010) verwiesen, welcher sich diesen Fragen aus einer diskurstheoretischen Perspektive nährt und dessen dabei gewonnen Erkenntnisse in dieser Arbeit noch an verschiedenen Stellen auftauchen (vgl. z.B. Kapitel 22). 51 Das ging soweit, dass verurteilte Straftäter dazu überredet wurden, sich selbst (hin-) zurichten (vgl. Arendt 2014). 52 Arendt (2014, 36) merkte an, dass die Polis „nicht ohne Grund“ von Jacob Burkhardt als die „schwatzhafteste aller Staatsformen“ bezeichnet worden war. 53 Unter Gemeinschaft wurden dabei vornehmlich die Bürger einer Polis verstanden. Frauen, Kinder, Sklaven, Unfreie usw. sind nicht gemeint gewesen. 54 Zwar beschäftigte sich die politische Sphäre mit den lebensnotwendigen, prä politischen Bereichen. So stellt sie z.B. allgemein gültige Regeln und Abgaben auf. Dennoch zählte sie sich niemals selbst zu diesen lebensnotwendigen Bereichen (vgl. Arendt 2014, 41). 55 Eine Vorstellung, die sich im Übrigen bis in die in die Frühe Neuzeit hartnäckig halten konnte (vgl. Precht 2015, 492) und die vermutlich auch heute noch ihre Anhänger* innen findet.

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einem solchen Verständnis konnte es nur eine monotheistische Wahrheit in Bezug auf alle Fragen geben, alle anderen Antwortversuche galten prinzipiell als logisch widerlegbar. Die Wahrheit, so eine antike Vorstellung, kann auf der Agora durch ein ausschließendes Argumentationsverfahren (z.B. sokratische Methode) offengelegt und somit auch die bestmögliche, weil wahrhaftige, Staatsführung gewährleistet werden. Die Bildung von Parteien oder das Vertreten partikularer Interessen war somit nicht nur nicht vorgesehen, es erschien auch als nicht notwendig. Schließlich ließ sich mit den Mitteln der Rhetorik eine letztbegründbare und somit unumgängliche Wahrheit identifizieren56, zumindest wenn man den Darlegungen antiker Autoren wie Platon (vgl. Plat. Rep. 543a-543b) oder Aristoteles (vgl. Arist. Rhet. 1, 1, 1355a 11-27) zu diesem Punkte folgt. Ein kurzer Blick in die historische Ideengeschichte offenbart zudem, dass jede politische Epoche sich u.a. durch eine eigene Sprache sowie einer damit einhergehenden individuellen Denktradition auszeichnete57. „So war die politische Sprache der griechischen Polis philosophisch, die des Römischen Reiches legalistisch, die des Feudalismus religiös und die des modernen Staates administrativ-wissenschaftlich.“ (Kevenhörster 2008, 86f.). Auch in der Gegenwart bleibt die Sprache also ein wesentliches Mittel der Politik, die Vorstellung, es ließe sich argumentativ eine unhintergehbare Wahrheit identifizieren, gehört jedoch nicht mehr zum vorherrschenden Kern der Postmoderne58 (vgl. Mümken 2009, 142). Ein zeitgemäßer Politikbegriff muss sich daher auffallend von seinen historischen Vorläufern im Hinblick auf seine verwendeten Modi unterscheiden. So steht auch nicht das Auffinden eines Wahrheitskerns im Mittelpunk aktueller politischer Diskurse, sondern – ganz im Sinne der administrativen Wissenschaften (vgl. Kevenhörster 2008, 86f.) – die Vermittlung zwischen divergierenden Wahrheitsverständnissen, welche durchaus gleichwertig existieren können (vgl. hierzu auch Barber 1994, 104f.). Durch diese grundlegende Verschiebung der epistemologischen Hintergrundannahmen, muss es im Vergleich zur Antike zwangsläufig zu einer Verschiebung der politischen Modi kommen. Überzeugen

Modus

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nicht Wissen ist seitdem der Kern politischer Diskurse. Bedauernswerterweise konnte sich dabei jedoch die aus der griechischen Antike stammende Vorstellung, dass einzig das Sprechen und nicht die Gewalt ein legitimes Überzeugungsmittel sei, nicht durchsetzen. Der wohl stichhaltigste Grund hierfür dürfte in der anthropologischen Grundkonstellation des Menschen selbst liegen. Gewalt ist „Teil der conditio humana“ (Beck 2017, 16) und „kann weder durch Kultur noch durch Fortschritt“ (ebd.) überwunden werden. Eine Vorstellung, welche spätestens seit Thomas Hobbes‘ (vgl. 2007) Leviathan zum konsekutiven Merkmal moderner Staatstheorien wurde. So dient bis heute zur Eindämmung und Kontrolle von Gewalt ein Korsett an formellen und informellen Regeln. Die Tragik liegt dabei darin, dass eine solche Kontrolle zuweilen selbst nicht ohne die Androhung und Anwendung von Gewalt auskommt (vgl. Beck 2017, 17). Das Primat, dass Gewalt dabei als legitim und normativ gerechtfertigt erscheint, obliegt in einer Demokratie dabei der Politik. Auf diese Weise nehmen zumeist institutionell verankerte politische Akteur*innen für sich in Anspruch, nach Innen das Gewaltmonopol exekutiv zu verwalten und zudem die Legitimität zu besitzen, auch außerhalb59 des eigenen Staatsgebietes, die eigenen

56 Dass diese Idealvorstellung allerdings mit dem tatsächlichen politischen Wettstreit, welcher im besonderen Maße auch emotionalisiert geführt wurde, wenig zu tun hatte, darauf wird inm 7. Kapitel noch ausgiebig verwiesen. 57 Wobei nicht verdeckt werden soll, dass es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die aus dem für ihre Epoche vorherrschenden Zeitgeist ausbrachen und sich eine andere Sprache zu eigen machten. So haben Platon und Aristoteles etwa unser administratives Verständnis von der Gewaltenteilung bedeutend mitgeprägt (vgl. Kevenhörster 2008, 87). 58 Die Postmoderne wird hier nicht als Ideologie, sondern als Epoche verstanden, die keinen fundamentalen Bruch zur Moderne darstellt, sondern deren radikale Fortsetzung ist. Dabei pluralisiert die Postmoderne, was die Moderne singularisiert hatte. Statt einer Wahrheit oder einer Ästhetik, gibt es in der Postmoderne also viele Wahrheiten und viele Ästhetiken usw. (vgl. Mümken 2009, 142).

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Politikbegriff

Interessen mit physischer Gewalt durchzusetzen (vgl. Chiari 2012). Letztlich gehört die Gewalt also als theoretisch sprachlicher Gegenstand und als praktisches, physisches Instrument der Auseinandersetzung im doppelten Sinne zum politischen Modus. Sie ist dabei keine gleichberechtigte Mitspielerin neben dem Modus des gewaltfreien Sprechens, sondern dominiert das Binnenverhältnis der beiden, denn sie kommt überall dort zum Einsatz, wo ein Überzeugen ohne ihre Mittel als ineffektiv, unwahrscheinlich oder ausgeschlossen gilt60 (vgl. Corbineau-Hoffmann/Nicklas 2000, 1-18). Dabei gilt was Pascal Delhoms so schnörkellos formuliert hat: Gewalt ist nicht stumm. Sie wird meistens durch Sprache begleitet: Sie wird geplant und beschlossen, erzählt und kommentiert, gerechtfertigt oder legitimiert. Und darüber hinaus wird sie durch die Sprache und in der Sprache vollzogen: in den direkten Formen der Beleidigung, der Drohung, der Erpressung und anderen gewaltsamen Sprechhandlungen, in der nicht angreifenden, aber nicht weniger verletzenden Form des Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Sprechenden, und auch indirekt, zum Beispiel durch die Rechtfertigung von Gewalt, die selber eine Form sprachlicher Gewalt gegen diejenigen ist, von denen behauptet wird, dass sie zu Recht Gewalt erleiden. (Delhoms 2007, 229)

59 Allgemeinhin scheint sich dabei die Vorstellung von Carl Philipp Gottlieb von Clause witz weitgehend etabliert zu haben. Dieser definierte Krieg bekanntermaßen als einen „[...] Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ (Clausewitz 2017, 29, Hervorh. im Original). 60 Ansätze politischen Handelns wie die Theorie Kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas (vgl. 1995; 1995a) oder die Vorstellung einer Straken Demokratie, wie sie von Benjamin Barber (vgl. 1994) vertreten wurde, und die sich durch ein anhaltenden Gespräch im Staate auszeichnet, können daher als idealisierend kritisiert werden, reflektieren sie doch nur unzureichend das Verhältnis von Sprache und Gewalt.

3 Politische Urteile Nach der Erläuterung der hier zur Grunde gelegten Begriffe von Politik und dem Politischen soll nun das Urteilen, genauer das politische Urteilen, definiert werden. Dabei kann auf eine ganze Fülle von Arbeiten aus der Fachdidaktik zurückgegriffen werden, welche sich mit dem Gegenstand des politischen Urteilens beschäftigen und dessen besonderen Stellenwert für die politische Bildung betonen (vgl. beispielhaft Detjen 2013a; Henkenborg 2013; Reinhardt 2009; Klee 2008; Juchler 2005; Kuhn 2003; Massing 1997; Kuhn/Lach 1997; Weißeno 1997; Weinbrenner 1996). Trotz der großen fachlichen Übereinstimmung, im Hinblick auf die Relevanz politischer Urteile für Gesellschaft und Individuum, herrscht dabei jedoch Uneinigkeit darüber, was genau unter einem politischen Urteil zu verstehen ist, wie es zustande kommt und welche didaktischen Hilfen für die Urteilsbildung bereit gestellt werden können und sollten (vgl. Sander 2012, 7f.). Aus dem Fehlen eines konsensualen fachlichen Verständnisses leitet sich daher die Notwendigkeit der nachfolgenden Begründung einer passenden und tragfähigen (Arbeits-)Definition politischen Urteilens ab, die anhand der drei m.E. nach für politische Urteile konsekutiven Merkmale (Wertung, politische Dimension und Öffentlichkeit) erfolgen soll.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_3

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Politische Urteile

3.1 Wertung Nach der philosophischen Identitätstheorie des Urteilens (vgl. Flach 1974, 1557f.) lässt sich Urteilen als „die Beziehung verschiedener Begriffe aufeinander“ (ebd., 1557) definieren. Diese Beziehungen bilden dabei einerseits die Identität 61 der Begriffe (vgl. ebd.) und stellen andererseits gleichzeitig eine Bewertung zwischen ihnen dar. Es handelt sich also letztlich um eine Beziehung der Unterordnung, da die Begriffe in eine hierarchische und wertende Rangabfolge zueinander gebracht werden. Demzufolge lässt sich die wertende Strukturierung von Begriffen als ein erstes abstraktes Urteilsmerkmal verstehen. 3.2 Politische Dimension Die hierarchische Neuorganisation von Begriffen im Rahmen eines Urteilsprozesses macht jedoch alleine noch kein politisches Urteil aus. Es stellt sich daher die Frage, was genau ein Urteil zu einem politischen Urteil macht. In der politikdidaktischen Standardliteratur findet sich hierzu übereinstimmend der Hinweis, dass Urteile dann zu politischen Urteilen avancieren, wenn sie sich auf einen politischen Urteilsgenstand 62 beziehen (vgl. Detjen 2013a, 14f.; Massing 1997, 116; Grammes 1997, 29-39.). Eine These, die u.a. auch von Peter Massing (vgl. 1997a, 92f) vertreten wird, der sich seit Ende der 1990er Jahre oftmals in Zusammenarbeit mit Hans Werner-Kuhn (vgl. z.B. 2003) besonders häufig mit politischen Urteilen beschäftigte. Massing (vgl. 1997a, 92f.) argumentiert63, dass immer dann von einem politischen Urteil gesprochen werden kann, wenn erstens der zu beurteilende Gegenstand von politischer Natur ist und zweitens bei der Urteilsfindung und -begründung die Kategorien der Zweck- und der Wertrationalität berücksichtig werden64. Während der erste Teil von Massings (vgl. ebd.) Definition dabei unter Verweis auf die im vorangegangenen Kapitel erfolgte Bestimmung der Gegenstände von Politik (vgl. Kapitel 2.3,) – nach der all jene Phänomene unter politische Urteilsgengenstände zu

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fassen sind, die verwendet werden können, um machtpolitische Interessen und Vorstellungen durchzusetzen – hier vorbehaltlos übernommen werden kann, erfordert der Zweite m.E. nach einige kritische Bemerkungen und Ergänzung. So geht die Orientierung politischer Urteile an den Kategorien der Zweck- und Wertrationalität bekanntermaßen ursprünglich auf eine soziologische Handlungstheorie von Max Weber (vgl. Weber 2010, 17) zurück, welche in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu Teilen maßgeblich durch Arbeiten der Politikdidaktiker Dieter Grosser, Manfred Hättich, Heinrich Oberreuter und Bernhard Sutor für die Zwecke der Politikdidaktik fruchtbar und fest in ihren Theoriekanon verankert wurden (vgl. Grosser 1977, 58; Klee 2008, 42). Weber (vgl. 2010, 17) selbst hatte bei der Entwicklung seiner Kategorien allerdings nicht politisches Urteilen oder politisches Agieren im Allgemeinen im Blick, sondern die Entwicklung einer Handlungstypologie für die Zwecke der Soziologie. Neben der Zweck- und Wertrationalität beschreibt er dabei zwei weitere Kategorien, welche er für soziale Handlungen als konsekutiv erachtet: (a) die affektuelle Ebene welche „emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen“ (Weber 2010, 17, Hervorh. im Original) bestimmt wird und (b) die traditionelle Ebene, 61 „Identität kann dabei so verstanden werden, daß die verschiedenen Begriffe ihrem Inhalte nach eins sind, oder sie kann so verstanden werden, daß die verschiedenen Begriffe ihrem Umfang nach eins sind.“ (Flach 1974, 1557.) 62 Der hier gegebenen Definition von Politik folgend, können unter politischen Urteils gegenständen all jene Phänomene verstanden werden, die dazu dienen, die eigenen machtpolitischen Interessen und Vorstellungen durchzusetzen (vgl. Kapitel 2.3). 63 Ähnliche Definitionen wie die von Massing finden sich auch bei weiteren Didaktiker*innen (vgl. etwa Weinbrenner 1996, 182f.). 64 So lehnt sich Massing (vgl. 1997a, 92f.) diesbezüglich an die zwei von Max Weber (vgl. 2010, 17) entliehenen Dimensionen der Wert- und der Zweckrationalität an. Während die zweckrationale Dimension dabei bekannter Maßen auf die bestmögliche Lösungs strategie (Kosten-Nutzen-Faktor, wie schnell tritt ein gewünschtes Ergebnis ein, etc.) abzielt, soll die wertrationale Dimension die eigentliche Legitimität (u.a. moralische und ethische Aspekte) eines politischen Urteils abbilden (vgl. hierzu auch Klee 2007, 143f.).

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wonach das Handeln an „eingelebten Gewohnheiten“ (ebd.) orientiert ist. Für die Praxis hält Weber dabei fest: Sehr selten ist Handeln, insbesondere soziales Handeln, nur in der einen oder der anderen Art orientiert. Ebenso sind diese Arten der Orientierung natürlich in gar keiner Weise erschöpfende Klassifikationen der Arten der Orientierung des Handelns, sondern für soziologische Zwecke geschaffene, begrifflich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus denen es – noch häufiger – gemischt ist. (Weber 2010, 18, Hervorh. im Original).

Dementsprechend ist die Orientierung an den Kategorien der Zweck- und Wertrationalität auch kein Spezifikum des politischen Urteilens, sondern lediglich der Versuch einer selektiven Adoption von Teilmengen Webers Handlungstheorie für die Zwecke der Politikdidaktik. Der Verzicht auf die Übernahme der traditionellen Ebene scheint dabei sinnvoll, um das politische Urteilen von weniger bewussten Handlungsformen – wie dem tradierten oder routineförmigen Handeln – abgrenzen zu können (vgl. Kapitel 3). Das Aussparen der affektuellen Ebene hingegen hat zu einer Ungenauigkeit und Praxisfeindlichkeit des politischen Urteilsbegriffs beigetragen. So droht die Emotionalität politischer Urteile im Schatten der rationalen Mengen zu verschwinden. Dass Emotionen nach der Anlehnung an die Theorie von Weber (vgl. 2010, 18) so wenig Aufmerksamkeit erfahren haben, erklärt sich dabei möglicherweise auch daraus, dass Weber (vgl. ebd.) selbst mit ihnen vor allem spontanes, unreflektiertes und zumindest zu Teilen auch unbewusstes Handeln verband, womit er vermutlich zu der Fehlvorstellung beitrug, Rationalität und Emotionalität seien zwei voneinander trennbare Phänomene65. Deutlich wird dies auch an Webers (vgl. ebd.) Vorschlag, in Fällen, bei denen emotionale Phänomene zugleich rationale

65 Dafür spricht auch Webers (vgl. 2010, 18) Vorstellung, dass das Handeln um so irrationaler werden würde, je mehr es auf der Ebene der Wertrationalität fusst.

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Elemente aufweisen, nicht von Affekten oder Emotionen, sondern lieber von einer Form der Wertrationalität zu sprechen, welche sich durch „bewußte Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handelns und durch konsequente planvolle Orientierung daran“ (ebd., Hervorh. im Original) auszeichne. Folgt man diesem Vorschlag, würde dies – nach heutiger Vorstellung (vgl. Kapitel 7) – jedoch bedeuten, dass quasi in keinem Fall mehr von Emotionen die Rede sein könnte, da alle Emotionen stets auch mit kognitiven Elementen verbunden sind und anders herum. Die Orientierung innerhalb der Politikdidaktik an Webers Vorstellung einer soziologischen Handlungstypologie und die damit verbundene Übernahme seines antagonistischen Verständnisses von Rationalität und Emotionalität könnte daher eine Erklärung für die in der Politikdidaktik historisch gewachsene Unterbetonung von Emotionalität beim politischen Urteil darstellen. Nicht unterschlagen werden soll, dass es neben der Orientierung an den Kategorien der Zweck- und Wertrationalität weiter Bemühungen gab, auch andere Definitionskriterien für politische Urteile zu etablieren. So ergänzte etwa Gotthard Breit (vgl. 1986) Ende der 1980er Jahre die beiden Ebenen der Zweck- und Wertrationalität um eine dritte Machtebene. Auch Breit lehnte sich dabei an eine Vorstellung Webers (vgl. 1997, 7) an, wonach Machtverteilung, -erhaltung und -verschiebung inhärente Ziele und Mittel politischen Handelns darstellen. Aus diesem Grund sei neben den von ihm postulierten Komponenten der Moral und Verantwortungsethik (vgl. Breit 1986, 491) beim politischen Urteilen auch stets der Aspekt der Macht mitzuberücksichtigen.

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Politische Urteile

Tabelle 4: Modifizierte Darstellung der von Breit (vgl. 1986, 491) skizzierten Komponenten des politisch-moralischen Urteils.

Die von Weber (vgl. 2010, 17) getroffene Unterscheidung zwischen Wertund Zweckrationalität lässt sich in Breits Entwurf in der moralischen und der verantwortungsethischen Komponente wiederfinden. Die dritte von Breit postulierte Komponente ist m.E. nach jedoch zu ungenau gewählt. So ließe sich die sogenannte politischen Komponente (vgl. Tab. 4) und der darunter verstandene Erwerb bzw. Erhalt von politischer Mach auch ohne weitere Reibungsverluste unter die verantwortungsethische und somit unter die von Weber (vgl. 2010, 1) beschriebene Zweckrationalität subsumieren, wie es tatsächlich auch in anderen didaktischen Entwürfen der Fall ist (vgl. Massing 1997a, 98).

3.3 Öffentlichkeit Neben der wertenden Strukturierung von Begriffen (a) und der politischen Dimensionen (b) muss noch ein dritter Punkt erfüllt sein, damit final von einem politischen Urteil gesprochen werden kann, das Momentum der Öffentlichkeit 66. Denn erst durch ihre Veröffentlichung können Urteile ihre inhärente politische Wirkkraft entfesseln und ihre ordinäre Funktion – Einfluss auf gesellschaftspolitische Diskurse zu nehmen – erfüllen. Eine Ansicht, die in der politikdidaktischen Theorie keinesfalls neu ist und die sich daher auch in Massings (vgl. 1997a, 94) Versuch, die existierenden politikdidaktischen Vorstellungen bezüglich politischer Urteile in einer konvergierenden Definition zu bündeln, wiederfindet.

Öffentlichkeit

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Ein politisches Urteil ist die wertende Stellungnahme eines Individuums über einen politischen Akteur oder einen politischen Sachverhalt unter Berücksichtigung der Kategorien Effizienz und Legitimität mit der Bereitschaft, sich dafür öffentlich zu rechtfertigen. (Massing 1997a, 94, Hervorh. im Original)

Bei genauerem Betrachten wird allerdings deutlich, dass Massing (vgl. ebd.) – wie zu Teilen auch die Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns (vgl. 1994, 315-318) – Öffentlichkeit dabei nicht primär als ein konsekutives Merkmal politischen Urteilens, sondern als ein Qualitätsmerkmal desselben zu verstehen scheint. So wird die Bereitschaft, sich öffentlich zu rechtfertigen, etwa als kommunikative Infrastruktur (vgl. ebd., 318) bezeichnet, mit der sichergestellt werden soll, dass divergierende Perspektiven bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden. Wie berechtigt dieses Anliegen auch sein mag, – Buchstein und SchmalzBruns (vgl. ebd.) sprechen in dieser Hinsicht auch von qualitativen Mindestanforderungen – das Momentum der Öffentlichkeit geht beim politischen Urteilen m.E. eindeutig über die Qualitätsebene hinaus und gehört zum festen Kern dessen, was politisches Urteilen in seinem Sein auszeichnet. Denn ohne die öffentliche Komponente würden Urteile auf der präpolitischen Ebene verhaftet bleiben und wären somit schlicht unpolitisch. Ihre Veröffentlichung lässt sich daher keinesfalls nur aus Qualitätsgründen legitimieren, sondern muss prinzipiell als ein genuiner Bestandteil politischen Urteilens verstanden werden. Dabei kann die Genese eines politischen Urteils zwar durchaus im prä-politischen Bereich erfolgen, seinen politischen Status erlangt es jedoch erst, wenn es die öffentliche Arena betritt und damit zugleich den Bereich des reinen Privatismus verlässt (vgl. Kapitel 2.2).

66 Zur Frage der Öffentlichkeit im Spannungsverhältnis zum Privaten sowie zu den notwendigen Grundbedingungen, welche erfüllt sein müssen, um in einer Gesellschaft einen Austausch unter Gleichen herzustellen, vgl. die Kapitel 2.2 und 3.3.

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Wirft man zudem einen kurzen Blick auf die gesellschaftspolitische Ebene, lässt sich mit Benjamin Barber (vgl. 1994, 106ff.) der Grad des kollektiven Selbstverständnisses, politische Urteile in der Öffentlichkeit zu kommunizieren, auch als ein Differenzierungskriterium zwischen der sogenannten mageren und der starken Demokratie67 bestimmen. Politische Urteile können demnach als Gelingensbedingungen demokratischen, aber auch staatlichen Handelns betrachtet werden. Wobei sich erst durch ihre Bekanntgabe „das Wunder der Politik [vollzieht, d. Verf.]: jene Einigkeit herzustellen, die sie braucht, um handeln zu können.“ (Grammes 1997, 34).

3.4 Zusammenfassung einer (Arbeits-)Definition des politischen Urteilens Aus dem Vorhergesagten ergibt sich schließlich, dass es sich um ein politisches Urteil handelt, wenn: (a) eine wertende Strukturierung von Begriffen erfolgt und (b) diese Begriffe für den herrschenden Augenblick in einen politischen Zusammenhang gesetzt werden. Dabei ergibt sich die Urteilsqualität aus dem sachgerechten Einbezug rationaler (vgl. Kapitel 3) und emotionaler Phänomene (vgl. Kapitel 6) unter Berücksichtigung divergierender Perspektiven. Neben diesen Aspekten muss (c) zudem das Merkmal der Öffentlichkeit hinzukommen, damit von einem politischen Urteil gesprochen werden kann. Abschließend lässt sich demnach ein politisches Urteil als die wertende Strukturierung von politischen Begriffen im öffentlichen Raum definieren.

67 Eine magere Demokratie legitimiert sich – hier verkürzt dargestellt – bereits durch die regelmäßige und nach rechtsstaatlichen Prinzipien abgesicherte freie Wahl von Bürger*innen (Barber 1994, 31ff.). Innerhalb einer starken Demokratie hingegen legitimieren sich die politischen Institutionen durch „das anspruchsvolle Medium des »anhaltenden Gesprächs«“ (Grammes 1997, 34, Hervoh. im Original; vgl. auch Barber 1994, 99ff.).

Zusammenfassung einer (Arbeits-)Definition

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Exkurs: Weitere Urteilsformen Neben dem politischen Urteilen lassen sich noch weitere Urteilsformen wie Vorausurteile, Fehlurteile, juristische Urteile oder Erfahrungsurteile etc. unterscheiden (vgl. z.B. Betsch et al. 2011, 2f.). Zwei dieser Urteilsformen, das Vorurteil und das moralische Urteil, sollen im Folgenden aufgrund ihrer politikdidaktischen Relevanz und besonderer Nähe zum politischen Urteil kurz aufgegriffen werden. So gilt das Vorurteil in Bildungskontexten häufig bestenfalls als ein zu überwindendes Phänomen (vgl. Grammes 1997, 48), während dem moralischen Urteilen, beispielsweise in den stark praxisorientierten politikdidaktischen Konzeptionen von Sybille Reinhardt (vgl. 2009, 147-159), eine besondere Rolle beim Erwerb politischer Urteilskompetenz beigemessen wird. Vorurteile Im Anschluss an den beispiellos menschenverachtenden deutschen Antisemitismus nahm die Vorurteilsforschung ab 1945 innerhalb der Sozialwissenschaften deutlich an Relevanz zu und erlebte einen bemerkenswerten Aufschwung (vgl. Barres 1978, 18-20). Es galt zu erklären, wie es geschehen konnte, dass sich Millionen von Menschen bereitwillig und oftmals voller Überzeugung an der menschenverachtenden Praxis eines verbrecherischen, nationalsozialistischen Regimes beteiligten. Auch heute, wo europaweit populistische und rechte Strömungen wieder auf dem Vormarsch sind und immer mehr Einfluss in den etablierten politischen Institutionen erhalten und gesellschaftlichen Rückhalt verbuchen (vgl. Demuth 2016, 1f.), kommt der Frage nach der Genese politischer Vorurteile eine besondere Bedeutung zu. Vorurteile – so Egon Barres (vgl. 1978, 21) – zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu anderen Urteilsformen von ihren Träger*innen auch dann noch aufrechterhalten werden, wenn sie sich eindeutig falsifizieren lassen. Zudem handelt es sich bei sozialen und politi-

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schen Vorurteilen i.d.R. um Gruppenphänomene, d.h., dass sie einerseits von Personengruppen getragen werden und sich andererseits auf Personengruppen beziehen (vgl. ebd. 51ff.). In Anlehnung an Waldemar Lilli (vgl. 1978, 38ff.) kann als wesentliche Voraussetzung ihrer Genese eine Selektivität der Wahrnehmung auf Seiten des urteilenden Subjekts beschrieben werden. Demnach werden beim Vorurteil bestimmte Merkmale unter- und andere wiederum überbewertet. Über- und Unterbewertung von Merkmalen führen zur Sicht bestimmter Unterschiede (wo ganz andere Unterschiede bestehen) und zur Sicht von bestimmten Ähnlichkeiten (wo wiederum andere vorliegen). Größe und Richtung der Urteilsverzerrung hängen ab vom Bedeutungsgehalt der Merkmale, nach denen die Sachverhalte beurteilt werden. (ebd., 40).

Die politische Gefahr von Vorurteilen besteht in der ihnen zugrundeliegenden, verzerrten Realitätswahrnehmung sowie ihrer Immunisierung gegenüber alternativen Lesarten. So sind Vorurteile aufgrund ihrer Eigenschaften nicht selten die Ursache für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und für populistische Politikansätze. Sie stellen daher insgesamt eine ernsthafte Bedrohung für jeden demokratischen, politischen Prozess und das gesellschaftliche Gemeinwesen dar. Aktuelle psychologische Forschungen weisen zudem darauf hin, dass Vorurteile häufig bereits im Vorschulalter gebildet werden und mit dem sozioökonomischen Hintergrund der Eltern/Erzieher*innen in Zusammenhang stehen (vgl. Raabe/Beelmann 2011, 1715ff.). Es kann also davon ausgegangen werden, dass Kinder, die in die Schule kommen, bereits eine Fülle von Vorurteilen mitbringen. Die Forschungen zeigen aber auch, dass, wenn es gelingt, Vorurteile zu identifizieren, ihnen in jedem Alter erfolgreich begegnet werden kann (vgl. ebd.). Zur Identifikation von Vorurteilen kann sich an den folgenden sechs, von Barres (1978, 20f.) postulierten Charaktermerkmalen orientiert werden:

Zusammenfassung einer (Arbeits-)Definition

1. Das Vorurteil ist immer ein falsches Urteil oder in seinem Wahrheitsan spruch zureichend abgewiesenes Urteil; 2. Das Vorurteil ist ein voreiliges Urteil, d.h. ein Urteil, das überhaupt nicht oder nur sehr ungenügend durch Reflexion oder Erfahrungen gestützt wird oder auch vor aller solcher Erfahrung und Reflexion aufgestellt wird; 3.

Das Vorurteil ist ein generalisierendes Urteil, d.h. es ist ein Urteil, das sich nicht nur auf den Einzelfall bezieht, sondern auf alle oder zumindest die meisten Urteilsgegenstände (seien dies Menschen, Dinge oder Ereignisse) gerichtet ist;

4. Das Vorurteil hat häufig den stereotypen Charakter eines Klischees, das immer leicht zur Hand ist und meistens in apodiktischer Weise formuliert und vorgetragen wird; 5. Das Vorurteil enthält neben beschreibenden oder theoretisch erklärenden Aussagen direkt oder indirekt auch richtende Bewertungen von Menschen, Gruppen oder Sachverhalten; 6.

Um das Vorurteil gegen andere Urteilsgebilde und Urteilsformen abzugrenzen (z.B. von falschen Urteilen, Hypothesen, oder auch Werturteilen oder Vorausurteilen), wird von einem Vorurteil erst dann gesprochen, wenn ein falsches, generalisierendes, bewertendes und behauptendes Urteil als falsch bestimmt und sein Anspruch wahr zu sein als hinreichend widerlegt gelten kann, trotzdem aber an ihm festgehalten wird und es auch weiterhin mit einem Wahrheitsanspruch vertreten wird. (ebd.)

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Moralische Urteile Für den Unterricht konstruierte moralische Dilemmata zeichnen sich meist durch das konkurrierende Verhältnis zwei sich diametral gegenüberstehender Handlungsmöglichkeiten aus (vgl. Reinhardt 2009, 152). Für die Unterrichtspraxis bedeutet dies, dass sich moralisches Urteilen68 häufig innerhalb eines überschaubaren Rahmens mit absehbaren Handlungskonsequenzen vollzieht (vgl. ebd., 153ff.). Damit steht das moralische Urteil in einem deutlichen Kontrast zu dem hier bestimmten politischen Urteil, welches durch komplexe Rahmenbedienungen und unabsehbare Handlungsfolgen charakterisiert ist (vgl. Kapitel 3; 5). Dass die moralische Urteilsbildung dennoch ein gewinnbringender Ausgangspunkt für die politische Urteilsfindung sein kann, haben die Untersuchungen von Georg Lind (vgl. 2009) und Marinus H. van Ijzendoorn (vgl. 1978) gezeigt. So betonen die entwicklungspsychologischen Untersuchungen69 van Ijzendoorns aus den 1970er Jahren den Zusammenhang von politischem Urteilsvermögen und moralischem Bewusstsein (vgl. van Ijzendoorn 1978, 361). Demnach besteht ein interdependenter Zusammenhang zwischen einer hoch entwickelten moralischen Urteilsstufe (vgl. Kohlberg/Althof 1997) und einem hohen politischen Urteilsniveau, jedoch nicht zwangsläufig andersherum (vgl. Schneider 1982, 167ff.). Diesen Befund stützen auch die späteren Arbeiten des Psychologen Lind (vgl. 2009). Dieser hatte, mit Hilfe des in den 70er Jahren in Konstanz entwickelten »Moralischen Urteil-Tests« (MUT)70, eine Reihe von Versuchsgruppen – darunter auch Schüler*innen – untersucht und konnte dabei valide Daten über die moralische Urteilsfähigkeit der Proband*innen sammeln (vgl. Lind 2009, 56)71. Damit aus moralischen Urteilen politische werden können, sei darauf hingewiesen, dass es didaktisch gelingen muss, die scheinbare dichotome Dualität, die in moralischen Urteilsfragen vordergründig angelegt ist, aufzubrechen und die tatsächliche Komplexität des Urteilsgegenstandes an-

Zusammenfassung einer (Arbeits-)Definition

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gemessen zu berücksichtigen. „Andernfalls könnte die Diskussion [z.B. im Unterricht, d. Verf.] zwar eine hohe moralische Orientierung vorweisen, dabei aber politischen Realitätsbezug vermissen lassen“ (Schneider 1982, 166). Moralische Gesichtspunkte, welche zweifelsohne in jedem politischen Urteil eine Rolle spielen, dürfen daher nicht einseitig an Dominanz gewinnen, sondern müssen politisiert werden, damit sich die Transformation vom moralischen zum politischen Urteil vollziehen kann (vgl. hierzu weiterführend auch Sutor 2000, 118f.; Reinhardt 2009, 152; Schneider 1982, 166ff.).

– Exkurs Ende –

68 Ein guter Überblick über den Zusammenhang von moralischem Urteilen und Emotio nen im Kontext Schule, welcher im Rahmen dieses Exkurses nicht weiter vertieft wer den kann, findet sich in der Dissertationsschrift von Iris Pichl (2012): Moral und Emotionen. Zum Zusammenhang zwischen der moralischen Urteilskompetenz und den Strategien der Emotionsregulation. Eine quantitative Untersuchung von Kindern und Jugendlichen der Sekundarstufe I in NRW. 69 Dabei wurde die Variable Moralität auf ihrer Varianz zum politischen Bewusstsein hin untersucht. 70 Einen Überblick über weitere empirische Untersuchungen und Testverfahren zur mora lischen Urteilsbildung aus der Psychologie findet sich bei Lind (2009, 46-60). 71 Der MUT wurde explizit entwickelt, um bestehende Forschungsdesiderate aufzuklären und didaktische Verfahren zur moralischen Urteilsbildung zu evaluieren. Es handelt sich bei ihm nicht um ein individual- diagnostisches Mittel (vgl. Lind 2009, 52).

4 Urteilskompetenz Nachdem zunächst eine Arbeitsdefinition für das politische Urteil argumentativ hergeleitet und begründet wurde (vgl. Kapitel 3), wird sich nachfolgend der Frage gewidmet, welche Kompetenzen es auf der individuellen Ebene bedarf, um politische Urteile fällen zu können. Es wird daher zu klären sein, welche Teilmengen sich identifizieren lassen, aus denen sich final eine politische Urteilskompetenz zusammensetzt. Generell dürfte dabei die Fähigkeit, politische Urteile zu verstehen, zu kritisieren und fällen zu können, im ureigenen Interesse eines jeden Subjektes liegen. Zumindest dann, wenn es für sich in Anspruch nehmen möchte, einen möglichst hohen Grad an politischer Emanzipation und Mündigkeit zu erreichen. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist der Grad der individuellen politischen Urteilskompetenz zudem ausschlaggebend für die Stabilität und Funktionalität einer demokratischen Gesellschaft. Denn wie sonst sollte eine aktive Bearbeitung politischer Realität von statten gehen? Wirft man einen Blick in die politikdidaktische Literatur zu diesem Thema, stellt man fest, dass bereits die Nestoren der sich in den 1950er Jahren entwickelnden Politikdidaktik die Relevanz der individuellen politischen Urteilskompetenz betonen. So taucht der Begriff des urteilsfähigen politischen Zeitgenossen etwa in den Konzeptionen von Arnold Bergstraesser (vgl. 1966, 305-310) auf und nimmt auch bereits in der 1955 fachlich viel beachteten Untersuchung Plan und Wirklichkeit im sozialkundlichen Unterricht von Wolfgang Hilligen (vgl. 1955, 8) eine wichtige Rolle als Zielperspektive politischer Bildung ein. Generell wird dabei bis heute die Förderung einer fundierten politischen Urteilskompetenz übereinstimmend von vielen Politikdidaktiker*innen als eine der zentralen Aufgaben politischer Bildung und didaktischen Handelns definiert (vgl. stellver© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_4

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tretend etwa Schröder/Klee 2017, 361; Klee 2011, 54; Detjen 2007, 399; Breit/Weißeno 1997, 295). Nur folgerichtig haben daher auch die Mitglieder*innen der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) Anfang der 2000er Jahre beschlossen, die politische Urteilsfähigkeit als eine von insgesamt drei Kernkompetenzen72 des politischen Lehren- und Lernens in ihrem fachdidaktischen Kompetenzmodell zu verankern (vgl. GPJE 2004, 13). Der dabei zum Tragen kommende Kompetenzbegriff geht u.a. auf eine Definition des Psychologen Franz Emanuel Weinert (vgl. 2002, 27f.) zurück, dessen Vorstellungen diesbezüglichen bereits in die Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards73 eingeflossen waren (vgl. BMBF 2007, 21 und 72) und in dessen Nachklapp letztlich auch das Kompetenzmodell der GPJE (vgl. 2004) entstand (vgl. hierzu auch Meyer-Heidemann 2015, 12ff.). Weinert definiert Kompetenzen dabei als: die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Weinert 2002, 27f.)

Weinert (vgl. ebd.) stellt damit eine recht allgemein gehaltene Definition auf. Da er sich darauf beschränkt, überfachliche Kompetenzdimensionen in den Mittelpunkt zu stellen, erfordert seine Definition jedoch im konkreten Anwendungskontext eine fachspezifische Ausdifferenzierung und Präzisierung. Die GPJE (vgl. 2004, 15f.) hat daher in ihrem Entwurf eines Kompetenzmodells – neben einer knappen Definition politischer Urteile und der Formulierung einiger Verweise zu deren Bewertung in schulischen Kontexten – eine Liste von Hinweisen erstellt, welche spezifischen fachlichen Regelstandards74 auf individueller Ebene erreicht werden sollten, damit von einer hinreichenden politischen Urteilskompetenz gesprochen werden kann. Paraphrasiert wiedergegeben sollen Lernende demnach:

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• politische Prozesse vergegenwärtigen und wiedergeben, d.h. Wichtiges von Unwichtigem trennen können;

• die Relevanz von Politik für das eigene Leben erkennen; • in der Lage sein, politische Analysen durchzuführen und dabei

Folgen und Nebenfolgen von politischen Urteilen (auch auf andere Teilbereiche der Gesellschaft wie z.B. die Wirtschaft oder das Recht) einzukalkulieren;

• eine differenzierte Urteilsbegründung, die sich an sozialwissen-

schaftlichen Deutungsmustern und Theorien orientiert, leisten, welche eine universalistische Perspektive zum Ausdruck bringt, die das Gemeinwohl und nicht partikulare Interessen in den Mittelpunkt stellt;

• sowie politische Urteile mit demokratischen Prinzipien kritisch in Beziehung setzen und die mediAle Politikinszenierungen entschlüsseln können.

Dabei wird davon ausgegangen, dass Schüler*innen in Bezug auf Lerngegenstände der politischen Bildung mitunter bereits über politische Urteile verfügen können und dass es daher die Aufgabe politischer Bildungsbe72 Neben der politischen Urteilsfähigkeit handelt es sich dabei um die politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten (vgl. GPJE 2004, 13). 73 Die Entwicklung nationaler Bildungsstandards ist vor allem ein Resultat der Veröf fentlichung der Ergebnisse des Programme for International Student Assessment (PISA) Ende 2001, welche in Deutschland die Wende von einer Input- zur einer Output orientierten Bildung einleitete und in dessen Windschatten einzelne Fachdidaktiken (z.B. die Politikdidaktik) fachspezifische Kompetenzmodelle ausarbeiteten (vgl. Meyer Heidemann 2015, 9-19). 74 Während sich die Expertise Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandrads (vgl. BMBF 2007) auf Mindeststandards in der Kompetenzentwicklung bezieht, wurden im GPJE Modell Regelstandrads formuliert (vgl. Meyer-Heidemann 2015, 10 FN).

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Urteilskompetenz

mühungen sein muss, diese – so weit möglich – weiter auszudifferenzieren und so einen Kompetenzzuwachs auf den gerade formulierten Gebieten zu ermöglichen (GPJE 2004, 15). Um die bildungspraktische Realisierung der dargestellten Regelstandards der politischen Urteilskompetenz zu gewährleisten, bedarf es des Weiteren einer näheren Auseinandersetzung mit den hierfür notwendigen Kompetenzdimensionen, welche im Folgenden unter Bezugnahme auf die vorliegende Arbeit besprochen werden sollen. Dabei handelt es sich um eine Katalogisierung von Teildimensionen der politischen Urteilskompetenz, die jedoch auch in anderen Kompetenzzusammenhängen von Bedeutung sind und daher fachwissenschaftlich nicht vereinnahmt werden können. Trotz ihres somit zu Teilen recht allgemeinen Charakters stellen sie m.E. nach das Gerüst der von der GPJE (vgl. ebd.) formulierten Zielperspektiven der politischen Urteilskompetenz dar, indem sie diejenigen Dimensionen transparent machen, die bei der Entwicklung der politischen Urteilskompetenz im Zentrum didaktischer Lehr-Lernbemühungen stehen sollten.

5 Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz Da es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine Studie mit Schüler*innen von einem Durchschnittsalter von 14 Jahren (vgl. Kapitel 12) handelt, stellt sich die Frage, ob in diesen Lebensjahren überhaupt von einer politischen Urteilsreife gesprochen werden kann oder diese womöglich erst in späteren Lebensjahren entwickelt wird? Für eine Klärung dieser Frage gilt es zunächst in einem ersten Schritt zu definieren, was konkret unter politischen Urteilsreife verstanden wird. Eine solche begriffliche Bestimmung muss m.E. dabei ihren Ausgangspunkt in der Definition des politischen Urteils selbst nehmen. Denn nur durch die Anlehnung an eine Definition politischen Urteilens lassen sich Indikatoren ableiten, welche erfüllt sein müssen, damit von einer Urteilsreife gesprochen werden kann. Ausgehend von diesen Überlegungen und unter Bezugnahme auf der dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition des politischen Urteilens (vgl. Kapitel 3) soll in der vorliegenden Arbeit von einer politischen Urteilsreife gesprochen werden, wenn (a) von Seiten der urteilenden Person die intellektuelle und emotionale Kompetenzen bestehen, politische Phänomene in eine (b) nachvollziehbare und wertende Beziehung zueinander zu setzen und darüber hinaus (c) die Bereitschaft existiert, dass so gebildete subjektive politische Urteil öffentlich zu rechtfertigen. Damit sind die Maßstäbe definiert anhand derer sich eine politische Urteilsreife ableiten lässt. Dass Jugendliche und auch Kinder über eine solche Fähigkeit durchaus verfügen können und sich diese zudem im Rahmen der Institution Schule ausbauen und qualitativ mitunter verfeinern lassen, davon scheinen derzeit zweifelsohne alle Politikdidaktiker*innen gleichermaßen auszugehen. Wie sonst ließe sich die Fülle an Publikationen, welche sich mit der Förderung der politischen Urteilskompetenz unter Schüler*innen befassen, erklären © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_5

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

(vgl. u.a. Schröder/Klee 2017; Reinhardt 2009; Detjen 2007; Breit/Weißeno 1997). Nur in wenigen Fällen findet sich dabei jedoch eine dezidierte Begründung oder zumindest eine explizite marginale These zur politischen Urteilsreife von Kindern und Jugendlichen. So z.B. bei Tilman Grammes (1997, 65), der hierzu in knapper Form konstatiert: „Kinder erwerben Einstellungen und damit verbundene Deutungsmuster zu politischen Ereignissen und Prozessen früher als gemeinhin angenommen“. Als Referenzpunkt bezieht sich Grammes (vgl. ebd.) dabei auf Untersuchungen, die der amerikanische Kinderpsychiater und Harvardprofessor Robert Coles bereits in der 1980er Jahren durchgeführt hat. Demnach zeigen Kinder und Jugendliche in gewöhnlichen Gesprächen ein nicht selten überraschend profundes Wissen sowie damit verbundene Einstellungen und Urteile zu politischen Phänomenen (vgl. Coles 1986, 74f.). Neuere Untersuchungen hierzu kommen dementgegen zu keinem eindeutigen Resultat, ab wann tatsächlich von einer politischen (Urteils-)Reife gesprochen werden kann (vgl. Goerres/Tiemann 2014, 190). Ebenso wenig wie aus den zu Verfügung stehenden empirischen Ergebnissen lässt sich aus dem bestehenden institutionellen Regelgeflechten ein diesbezüglich bestehender gesellschaftlicher Konsens ableiten. So weisen die Politikdidaktiker Marc Partetzke und Andreas Klee (vgl. 2016, 31) – in Anlehnung an die Arbeit Wahlrecht für Kinder? von Klaus Hurrelmann und Tanjev Schultz (vgl. 2014) – auf die stark divergierenden staatlichen Regelungen bezüglich der individuellen Urteilsreife von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hin und betonen zurecht deren definitorische Inkonsistenz. So ist etwa im Bundeswahlgesetz (§ 12 I-II BwahlG)76 75 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993. Zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 18.6.2019 I 834. 76 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Ausfertigungsdatum: 23.05.1949. Textnachweis Geltung ab: 14.12.1976. Zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 28.3.2019 I 404.

Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

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festlegt, dass alle Personen, welche nach dem Grundgesetz (Art. 116 GG)76 als deutsche Staatsbürger*innen gelten, mit der Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres grundsätzlich wahlberechtigt sind. Kontrastierend hierzu stellen Partetzke und Klee (vgl. 2016, 31) jedoch fest, dass bereits siebenjährige Kinder als beschränkt geschäfts- und deliktfähig gelten, Vierzehnjährigen genügend politischer Sachverstand unterstellt wird, um in eine politische Partei eintreten zu dürfen und Siebzehnjährige sich schon für den Dienst an der Waffe bei der Bundeswehr verpflichten können. Eine konstante Vorstellung, wann Individuen dementsprechend als reif genug gelten, um politische Phänomene angemessen beurteilen zu können, lässt sich somit aus den Verordnungen politischer Institutionen nicht ableiten. Es empfiehlt sich daher ein Rückgriff auf eine entwicklungspsychologische Perspektive. Dabei wird deutlich, dass der Versuch, politische Urteilsreife an ein bestimmtes Lebensalter zu koppeln, alleine deswegen scheitern muss, da sich die intrasubjektiven psychischen und somatischen Entwicklungen von Personen nicht einheitlich vollziehen, sondern kulturspezifisch und individuell verschieden verlaufen können (vgl. Kavšek 2007, 86-92). So lässt sich letztlich nur durch die Betrachtung des Einzelfalls die individuelle Urteilsreife einer Person vermessen, wobei die oben formulierten Indikatoren (a-c) bei einem solchen Unterfangen als erste Prüfsteine wie auch als Bildungsinhalte verstanden werden können. Der Versuch, eine allgemeine Eichung z.B. in Form der Festlegung eines zu erreichenden Mindestalters für die Wahlberechtigung vorzunehmen, lässt sich hingegen weder aus anthropologischer Perspektive noch aus bildungstheoretischen Erkenntnissen heraus begründen und muss daher für den Bereich der Didaktik als politisch und administrativ motivierte Setzung zurückgewiesen werden. Politische Bildner*innen, welche von der Prämisse ausgehen, dass eine demokratische Staats- und Lebensform sich nicht automatisch reproduziert, sondern erlernt werden muss (vgl. Reinhardt 2017a, 203; Himmelmann 2007, 22-26), sollten sich daher auch nicht in ihrem Bemühen abhal-

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

ten lassen, bereits in frühen Jahren bei Kindern und Jugendlichen Elemente der politischen Mündigkeit sowie die damit verbundene Urteilsfähigkeit anzubahnen und zu verstärken.

5.1 Wissensdimension Zum Beurteilen gehört Wissen. Darüber dürfte landläufig und sogar in der Wissenschaft weitgehende Einigkeit bestehen (vgl. z.B. Hilligen 1966, 45). Ob und wie unter der Prämisse der politischen Bildung ein solches Wissen jedoch im Hinblick auf die Anbahnung politischer Urteilskompetenz strukturiert und gewichtet werden sollte, ist in der Politikdidaktik bis dato umstritten (vgl. Meyer-Heidemann 2015, 15f.). Den aktuellen Ausgangspunkt der Debatte bildet dabei eine Publikation der Autor*innengruppe Georg Weißeno, Joachim Detjen, Ingo Juchler, Peter Massing und Dagmar Richter (vgl. 2010), in der, vor allem nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Fachdidaktiken (vgl. z.B. Spörhase 2013, 24-40), sogenannte domänenspezifische Basis- und Fachkonzepte für die politische Bildung vorgeschlagen werden. Die nicht minder große Zahl der Kritiker*innen dieses Ansatzes werfen dabei der Autor*innengruppe um Weißeno et al. jedoch vor, es handele sich bei ihrem Werk primär um den Versuch, einen Katalog von instruktionsorientierten und überprüfbaren Wissens festzulegen, wodurch die Gefahr bestünde, politische Bildungsprozesse auf Aspekte der Wissensvermittlung zu reduzieren und die allgemeine bildungspolitische Wende hin zur Kompetenzorientierung zu unterlaufen (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011, 8)77. Eine durchaus nachvollziehbare Kritik, scheint es doch unwahrscheinlich, dass es gelingen könnte, genau das politische Wissen im Vorfeld zu antizipieren und erfolgreich zu vermitteln, welches passgenau für die Bewältigung zukünftiger politischer Urteilsfragen optimaler Weise von Nöten wäre. Realistischer Weise würde der Ansatz von Weißeno et al. (vgl. 2010) eher eine Wissensvermittlung auf Vorrat implizieren. Anstelle auf der Metaebene relativ grobkörnig domänenspezifische

Wissensdimension

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Wissensbereiche festzulegen, deren zukünftige Bedeutung spekulativ ist, könnte es daher im Sinne einer zur individuellen Urteilskompetenz beitragenden politischen Bildung ergiebiger sein, sich an ausgewählten Kompetenzbereichen78 zu orientieren und die dazugehörige Performanz der Lernenden zu stärken. Auch wenn sich die Frage nach dem konkret zu vermittelndem Wissen nicht pauschal, sondern im besten Fall nur spezifisch für einen konkreten Urteilsfall beantworten lässt, so können doch auf der Metaebene zumindest einige allgemeine Feststellungen erfolgen. Für eine Illustration hilfreich scheint dabei, dass Informationsverarbeitungsmodell von Orrin Edgar Klapps (vgl. 1978) zu sein, auf welches sich auch bereits der Soziologe Uwe Schimank (vgl. 2005, 53f.) in seiner Monografie über die Entscheidungsgesellschaft stützte. Klapps (vgl. 1978) führt in seinem Modell aus, dass informationsverarbeitende Systeme grundsätzlich die Wahl haben, sich einer Information gegenüber zu öffnen oder zu verschließen. Eine Öffnung würde dabei z.B. im Hinblick auf die politische Urteilsfindung aufgrund einer größeren und differenzierten Datenlage ein Urteil ermöglichen und zugleich einer eingeengten Sichtweise entgegensteuern. Klapps (vgl. ebd., 17ff.) belegt eine solche Bereitschaft zur Informationsaufnahme daher mit dem Terminus des good opening. Die Schattenseite dabei ist jedoch, dass jedes System nur

77 Neben dem hier angesprochen Streitpunkt bezüglich der richtigen Strukturierung und Gewichtung von Wissen im Feld der politischen Bildung erstreckt sich die Debatte insgesamt über noch weitere Aspekte wie etwa die Einbettung von sogenannten Schüler* innenvorstellungen in einen institutionellen Bildungsprozess. Für eine Übersicht vgl. daher die Schriften: Konzepte der Politik von Georg Weißeno et al. (Hrsg.) (2010) und Konzepte der politischen Bildung von der Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.) (2011). 78 Für eine erste Orientierung könnte hierbei das Kompetenzmodell der GPJE dienen (vgl. GPJE 2004, 13), welches jedoch für den praktischen Gebrauch noch weiter ausdifferen ziert werden sollte.

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

über begrenzte Kapazität zur Informationsverarbeitung verfügt, weshalb auch nicht unendlich viele Informationen aufgenommen werden können. Erschwerend dürfte zudem bei politischen Urteilen hinzukommen, dass diese häufig unter Zeitdruck gefällt werden (müssen), wodurch eine systemische Aufnahme- und Verarbeitungskapazität noch zusätzlich erschwert wird. Diese Einsicht, dass eine Informationsaufnahme- und -verarbeitung niemals allumfassend erfolgen kann, führt daher zu der Notwendigkeit, eine Aufnahme von neuen Informationen ab einem gewissen Zeitpunkt zu begrenzen. Nach Klapps (vgl. ebd.) lässt sich ein solcher Vorgang als good closing bezeichnen, also das Sperren von neuen Informationen, die das System zu fluten drohen und damit zu einer generellen Überlastung und Urteilsunfähigkeit führen könnten. Demgegenüber spricht Klapps (vgl. ebd.) von einem bad opening, wenn es einem System nicht rechtzeitig gelingt, die ankommende Informationsflut zu drosseln und sich somit seine Urteils- und Handlungsfähigkeit zu erhalten sowie von einem bad closing, wenn lediglich eine zu geringe Menge, welche noch unter der Verarbeitungskapazität eines Systems liegt, an Informationen für die Urteilsfindung zugelassen wird. Anhand Klapps (vgl. 1978) Modell wird deutlich, dass die Gesamtmenge an Informationen, welche ein System Aufnehmen kann, zum einen durch seine Verarbeitungskapazität und zum anderen durch die für die Aufnahme und Verarbeitung zur Verfügung stehende Zeit begrenzt wird. Anstatt spekulatives Wissen für die politische Urteilsfindung auf Vorrat zu vermitteln, sollte ein kompetenzorientierter Bildungsansatz daher auf die Verbesserung der intrasubjektiven Verarbeitungskapazität von Informationen abzielen.

5.2 Dimension des Nichtwissens Neben dem Wissen spielt auch der Umgang mit Nichtwissen beim politischen Urteilen eine Rolle. So ist an dem Modell von Klapps (vgl. 1978) zu kritisieren, dass es von idealen Bedingungen auszugehen scheint, nach

Dimension des Nichtwissens

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denen technisch gesehen79 optimale Urteile getroffen werden könnten, sofern genügend Ressourcen z.B. in Form von Verarbeitungskapazitäten und Zeit zur Verfügung stehen. Für die Praxis jedoch hat u.a. Beck (vgl. 2008) in seiner Theorie von der Weltrisikogesellschaft plausibel dargelegt, dass der helle Kern des bekannten Wissens von einem dunklen Schleier des Nichtwissens ummantelt ist. Als ein Beispiel hierfür beschreibt Beck (vgl. 2008, 215f.) den Einsatz von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW‘s), welches in leicht modifizierter Form im Folgenden kurz wiedergegeben werden soll. Demnach begann man um das Jahr 1930 in den USA damit, FCKW‘s industriell im großen Stil zu fertigen. Aufgrund seiner chemischen Eigenschaften – „nicht brennbar, ungiftig, geruchlos“ (Beck 2008, 215) – schien es als Treibgas, Kälte- oder Lösemittel ideal für den Einsatz in einer Vielzahl von Industrieprodukten. Allerdings schien niemand dabei bedacht zu haben, dass die massenhaft freigesetzten FCKW‘s bis heute unaufhaltsam in die Stratosphäre gelangen und die dortige Ozonschicht nachhaltig schädigen, wodurch ihre Funktion, Pflanzen, Tiere und Menschen vor der für sie schädlichen Ultraviolettstrahlung (UV-Strahlung) zu schützen, dramatisch verringert wird. „Erst wissenschaftliche Hypothesen in den siebziger Jahren“ (ebd.), also gut vierzig Jahre nach dem massenhaften Einsatz von FCKW‘s deckten die dramatischen Folgen dieses ökologischen Nichtwissens auf. Becks Beispiel verdeutlicht, dass die Auswirkungen von Urteilen zum Zeitpunkt der Urteilsfindung nicht in Gänze absehbar sein müssen. So können sich selbst Urteile, die zum Zeitpunkt der Urteilsfindung als ethisch vertretbar und praktisch effizient gelten (nicht brennbar, ungiftig, geruchlos), letztlich aufgrund der unbekannten Variable des Nichtwissens, 79 Unter der technisch optimalen Perspektive wird hier lediglich verstanden, dass sämt liche relevanten Informationen bezüglich eines Urteilsfalls zur Verfügung stehen. Explizit nicht gemeint sind die normative Wertung und Interpretation dieser Informa tion.

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die in jeder Urteilsgleichung vorkommt, als katastrophal erweisen. Die der politischen Problemlage inhärente Komplexität80 (vgl. Grosser 1987, 167f.) dürfte dabei die Gefahr, aufgrund von Nichtwissen in praktischer und ethischer Hinsicht zu falschen Urteilsschlüssen zu gelangen, noch weiter steigern. Dies zumindest legen empirische Erkenntnisse der Kognitionspsychologie nahe. So konnten Kognitionspsycholog*innen bereits in den 1990er Jahren in Experimenten beim Urteilen „eine Logik des Mißlingens, die durch nicht-intendierte Handlungsfolgen und »spinn-offEffekte« entsteht“ (Grammes 1997, 27, Hervorh. im Original.) nachweisen. Grammes fasst diese pointiert zusammen, indem er resümiert: „Menschen, die eine Welt verbessern wollen, können diese schnell ruinieren“ (ebd., Hervorh. im Original). Als eine Antwort auf die Risiken des Nichtwissens haben daher Urteilstechniken wie z.B. der Inkrementalismus, spezifische Planungsformen (vgl. Schimank 2005, 237ff. und 307ff.) oder das Coping (vgl. Schimank 2011, 459-462) im politischen Raum Verbreitung gefunden. Sie alle intendieren, möglichst irreversible Urteilsschlüsse zu vermeiden und ein Mindestmaß an Kontingenz zu bewahren, damit einmal getroffene Urteile sich leichter an neue Sachlagen anpassen lassen. Zum Abschluss dieses Abschnittes seien noch einige kritische Bemerkungen in Richtung all derjenigen erlaubt, die aufgrund der beschriebenen Komplexität politischer Sachverhalte (vgl. exemplarisch Grosser 1987, 167f.) sowie der schwer kalkulierbaren Risiken des Nichtwissens die Position vertreten, politische Urteile sollten lieber von Expert*innen bzw. verantwortlichen Politiker*innen gefällt werden und nicht von vermeintlichen Laien. So soll Joseph Schumpeter die Auffassung vertreten haben, dass überhaupt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zum politischen Handeln fähig sei (vgl. Ladwig 2013, 49f.). Nach seinem Menschenbild teilt sich die Gesellschaft demnach in führungsbedürftige und führungsbegab-

Dimension des Nichtwissens

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te Menschen (vgl. ebd.), wobei die Mehrheit der Menschen natürlich der Gruppe der Führungsbedürftigen zuzurechnen sei. Man sollte meinen, eine solche Position wäre ein anachronistisches Relikt aus vergangenen Zeiten, dabei findet sich noch eine ganz ähnliche Auffassung bei dem langjährigen Leiter des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin und Politologen Dieter Grosser (vgl. 1987, 166ff.). Dieser schlug am Beispiel der Wirtschaftspolitik drei Schwierigkeitsgrade vor, anhand derer zu unterscheiden sei, ob ein politisches Urteil von quasi jeder beliebigen Person getroffen werden könne oder besser nur von gewählten Vertreter*innen. Im Hinblick auf die Schule unterschied er dabei zwischen Sachlagen, die (1) von den Sachkenner*innen einheitlich analysiert und bewertet werden und den Lebenserfahrungen der Schüler*innen entsprechen, (2) zwischen Sachlagen, die analytisch zwar eindeutig erscheinen, aber von den Sachkenner*innen unterschiedlich bewertet werden, und (3) zwischen Sachlagen, welche so komplex seien, dass bereits die Analyse der Sachkenner*innen zu keinen eindeutigen Ausgangsprämissen mehr führe (vgl. ebd., 167f.). Während Grosser (vgl. ebd.) in den ersten beiden Fällen politische Urteile von Schüler*innen für möglich hält, folgert er für den dritten Fall: „[Das] für den Laien vernünftigste Verfahren besteht in dieser Lage darin, der politischen Partei Kompetenzen zuzuschreiben, die sich nach seiner Meinung in ähnlichen Lagen als Vertreterin seiner Interessen bewährt hat.“ (vgl. ebd., 168). Abgesehen davon, dass Ansätze, wie sie hier nach Ladwig (vgl. 2013, 49f.) unter Verweis auf Schumpeter und exemplarisch von Grosser (vgl. 1987) vorgetragen wurden, die latente Gefahr des beschriebenen Nichtwissens, welche für sogenannte Expert*innen und Laien*innen gleichermaßen

80 Vgl. hierzu zusätzlich auch Dörner et al. (Hrsg.) (1983): Lohhausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit und Komplexität. Die aufwendig durchgeführte psychologische Studie zeichnet ein recht düsteres Bild der individuellen Handlungskompetenzen inner halb komplexer politischer Problemlagen.

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gilt81, zu verkennen scheinen, sind mit ihnen auch gravierende demokratische Legitimationsprobleme verbunden82. So untergräbt die Kopplung von Urteilsgewalt an vermeintliche fachliche Expertise die Idee der Volkssouveränität (vgl. GG Art.20, Abs.2)83, fördert hierarchisches Denken, leistet elitären Herrschaftstheorien mitunter Vorschub und legitimiert einen Status quo, welcher nicht den Anspruch zu erheben braucht, die Menschen allgemein und im umfassenden Sinne bestmöglich politisch zu bilden, geschweige denn zu beteiligen. Grosser (1987, 168) selbst räumt diesbezüglich daher ein: „Sehr befriedigend ist das nicht [...]“.

5.3 Der (freie) Wille – Dimension oder Illusion? Unter dem Begriff des freien Willens wird hier die Kompetenz eines Individuums verstanden, sich kausalen Zwängen zu entledigen und bewusst urteilen und handeln zu können. Das Prinzip des freien Willens oder wie es Kant (vgl. 1978, 74f.) in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausdrückt des autonomen Willens ist jedoch alles andere als eine ausgemachte Sache. Kant selbst schreibt hierzu: „Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; […].“ (ebd., 84). Das sich daran auch gut zweihundert Jahre später bislang wenig verändert hat, hält Hannah Arendt fest: „Der Wille ist entweder ein Organ freier Spontaneität, das alle kausalen, es gegebenenfalls behindernden Motivationsketten unterbricht, oder er ist nichts als eine Illusion“ (Arendt 2012, 13). Die philosophiegeschichtlichen Zweifel bezüglich der Existenz eines freien Willens haben spätestens seit den zu dieser Frage publizierten neurowissenschaftlichen Forschungen des 20. Jahrhunderts neue Legitimität erhalten. So führte Benjamin Libet (vgl. 2007, 57ff.) in den 1980er Jahren ein Experiment84 durch, dessen Ergebnisse von einigen als Beweis dafür

Der (freie) Wille – Dimension oder Illusion?

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gesehen werden, dass der Vollzug einer Handlung bereits feststeht, bevor sich die betreffende Person ihrer eigenen Handlungsabsicht überhaupt bewusst ist (vgl. hierzu auch Seth 2015, 88). Wohl auch weil Libet die möglichen gesellschaftspolitischen Konsequenzen seiner Ergebnisse erkannte, schlug er – in einem fiktiven Dialog mit René Descartes – einen Ausweg vor, um die Vorstellung vom freien Willen nicht vollends aufgeben zu müssen (vgl. Libet 2007, 246). Demnach besteht zwischen dem Zeitpunkt eines neural messbaren Potenzials und dem Zeitpunkt der intrasubjektiven Bewusstwerdung desselben ein Raum, in welchem das Bewusstsein quasi ein Veto einlegen kann (vgl. ebd.). Bis heute ist es den Neurowissenschaftler*innen jedoch nicht gelungen, die neurale Signatur eines solchen Vetos zu rekonstruieren (vgl. Seth 2015, 88). Trotz der womöglichen berechtigten Zweifel am Prinzip der Willensfreiheit wäre unsere bestehende gesellschaftspolitische Ordnung ohne sie nicht denkbar. In einer deterministischen Welt wäre politisches Urteilen genauso 81 Auf kuriose Art und Weise wird dieser Umstand auch durch Murphy’s Law beschrieben. Der Ingenieur Edwar A. Murphy soll 1949 den Ausdruck geprägt haben: „If there’s more than one possible outcome of a job or task, and one of those outcomes will result in disaster or an undesirable consequence, then somebody will do it that way.“ (vgl. hierzu Klein 2004, 279). 82 Die auch Grosser (1987, 168) selbst anscheinend nicht ganz entgangen waren. So merkt er kritisch an, dass er es für durchaus problematisch erachtet, wenn Kompetenz zuweisungen aufgrund der Einschätzung vorgenommen werden, ob „der Spitzen kandidat einen sympathischen Eindruck macht“. 83 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Ausfertigungsdatum: 23.05.1949. Textnachweis Geltung ab: 14.12.1976. Zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 28.3.2019 I 404. 84 Libet (vgl. 2007, 246) zeichnete bei Testpersonen die eklektischen Hirnaktivitäten auf während diese zu einem freiwählbaren Zeitpunkt ihre Hand hoben und zudem durch den Blick auf eine sekundengenaue Uhr den Zeitpunkt angaben, wann sie sich genau zu der Handlung entschieden. Dabei konnte er nachweisen, dass messbare Muster im Ge- hirn auftraten, noch bevor die Person sich ihrer eigenen Handlungsabsicht bewusst wurde (vgl. hierzu ebenfalls Seth 2015, 88).

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illusionär wie die Vorstellung, Straftäter*innen würden individuelle Verantwortung für ihre Taten tragen. Aus denselben Gründen hat sich bereits Kant für das Festhalten am Prinzip des autonomen Willens ausgesprochen; zumindest solange bis sich dieses zweifelsfrei falsifizieren lässt (vgl. Kant 1978, 88f.), eine Position, die hier übernommen wird.

5.4 Dimension der Wertevorstellungen Werte werden hier als normativ besetze deskriptive Strukturierungsschemata von Welt aufgefasst, welche grundsätzlich auf der individuellen, aber auch der sozialen Ebene bestehen85. Ihre Strukturierungsfunktion ergibt sich dabei unmittelbar aus den ihnen inhärenten normativen Setzungen, welche naturgemäß variieren können. Im Sinne einer solchen wertesubjektivistischen Vorstellung (vgl. etwa Döring 2009, 51f.) existieren für Werte keine unhintergehbaren, konsensual und universell gültigen Verständnisse. Vielmehr offenbart sich ihre Bedeutung erst in konkreten Lebenskontexten, wodurch sie prinzipiell und stets erklärungs- und deutungsbedürftig bleiben86. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist es m.E. daher auch wesentlich trennschärfer, nicht von Werten, sondern von Wertvorstellungen zu sprechen und somit auch terminologisch zu verdeutlichen, dass multiple Vorstellungen über ein und denselben Wert existieren. Nach Beispielen auf der politischen Theorieebene für eine solche Wertetheorie muss man nicht lange suchen. Sie lässt sich z.B. anhand der divergierenden, normativen Wertevorstellungen des Wirtschaftsliberalismus und der libertären Traditionen in Bezug auf ihre jeweils unterschiedliche Ausdeutung des Freiheitswertes exemplifizieren. Dabei vertreten wirtschaftsliberale Anhänger*innen die Position, dass von Freiheit gesprochen werden kann, wenn ökonomische Subjekte ohne äußere Einschränkungen wirtschaftlich Handeln (vgl. Friedman 1970, 148ff.). Den organisatorisch bestmöglichen Rahmen hierfür bildet dabei, nach Ansicht bekannter li-

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beraler Vordenker*innen wie Adam Smith (vgl. 2005), ein nach kapitalistischen Prinzipien organisiertes Wirtschaftssystem. In libertären Strömungen hingegen wird Freiheit als ein soziales Verhältnis definiert (vgl. Mümken 2005, 42f.), welches durch die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ (Guérin 1975, 14), wie es sich im Kapitalismus manifestiert, untergraben wird. Im Gegensatz zu (neo-)liberalistischen Ausdeutungen des Freiheitswertes (vgl. Friedman 1970, 148ff.), kann es daher nach einem libertären Werteverständnis im Kapitalismus keine wirkliche Freiheit geben. Die unterschiedliche Ausdeutung des Wertes Freiheit führen daher auch zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung in Bezug auf die Strukturierung von Welt.

85 Um nachzuvollziehen, wie sich die intrasubjektive Wertbildung als individueller Sozialisierungsprozess kontext(un)abhängig, d.h. von den vorliegenden kulturellen Mustern beeinflusst, vollzieht, vgl. Hans Joas (1997). Für eine Theorie der gesamt gesellschaftlichen Etablierung von hegemonialen Wertmustern vgl. die diskurs theoretischen Ansätze von Michel Foucaults (2010). 86 Daher widerspreche ich an dieser Stelle auch Ronald Dworkin (vgl. 2012, 32) und seiner Theorie der universellen Werte. Bei aller Attraktivität, die sein Ansatz aus gesell schaftspolitischer Perspektive besitzt, hat er doch keine ausreichende deskriptive Kraft und fußt, wie viele philosophische Fragen, auch auf keiner empirischen Evidenz, um eine Existenz universeller Werte plausibel begründen zu können. In Abgrenzung zu Dworkin vertrete ich daher die Auffassung, dass ungeachtet dessen, wie gesellschaft lich erstrebenswert auch immer ein Wert wie z.B. Freiheit sein mag, dieser nicht als unhintergehbare metaphysische Größe betrachtet werden kann, sondern erst im Sinne konstruktivistischer Ansätze auf individueller und/oder kollektiver Ebene konstruiert werden muss. Objektiv betrachtet unterliegt daher jeder Wert einem Vorstellungs pluralismus. Dworkin (vgl. ebd., 33) hingegen vertritt die hierzu konträrere Auffassung, dass Werte nicht konstruiert, sondern lediglich von uns interpretiert werden. Auch damit kann jedoch die relativistische These vom Wertpluralismus nicht falsifiziert werden. Meiner Meinung nach wird sie lediglich durch eine ebenso relativis tische These, die ich Interpretationspluralismus nennen möchte, ersetzt. So muss die Frage, was unter einem bestimmten Wert universell zu verstehen ist, weiterhin unbeant wortet bleiben.

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

Aus der (begrifflichen) Strukturierungsfunktion von Werten leitet sich schließlich auch die insbesondere für das menschliche Urteilen und Handeln relevante Orientierungsfunktion87 ab. Ein Blick in die politikdidaktische Theorie verrät dabei schnell, dass es vor allem diese Funktion ist, aufgrund derer Wertevorstellungen mit der Kompetenz zum politischen Urteilen verknüpft werden (vgl. u.a. Henkenborg 2000, 264f.; Reinhardt 2017, 166f.; Lohmann 2000, 204f.; Schiele 2000a 1f.). Verkürzt zusammengefasst dienen Wertevorstellungen demnach als orientierende Heuristiken im Prozess der Urteilsfindung. Anders als die weitverbreitete Übernahme (vgl. beispielhaft Schröder/Klee 2017, 362; Massing 1997a, 92f.) der von Weber (vgl. 2010, 17) entwickelten Kategorien der Zweck- und Wertrationalität zu diesem Zwecke sprachlich suggerieren, spielen dabei nicht nur rationale, sondern auch emotionale Aspekte eine Rolle. Schließlich drückt sich die Subjektivität von Werten vor allem in emotionalen Dimensionen aus. So ist das, was wir auf der individuellen Ebene als Freiheit empfinden, zunächst einmal eng an unsere eigenen Erfahrungen gebunden (vgl. Scheler 1980, 56), die im Laufe unseres Lebens durch kulturelle Narrative (vgl. Nussbaum 2001) ergänzt werden. Werte haben also immer auch einen emotionalen Kern. Der Politikdidaktiker Florian Weber-Stein konstatiert daher, dass Emotionen „auf allen Artikulationsstufen Bestandteile von Werturteilen [sind]“ (Weber-Stein 2017, 68) und tritt damit – wie wir noch sehen werden (vgl. Kapitel 6) – in die Fußstapfen von Martha Craven Nussbaum (vgl. 2001, 30), die in ihrem emotionstheoretischen Ansatz Emotionen mit Werturteilen gleichsetzt. In Bezug auf den Einsatz von Werten als Urteilsheuristiken wäre es unter diesen Gesichtspunkten daher auch angemessener, nicht nur von einer Werterationalität, sondern auch von einer Werteemotionalität zu sprechen.

87 Wobei der Grad und die (exakte) Bedeutungsebene von Werten sich erst innerhalb einer spezifischen Urteils- bzw. Handlungssituation final konkretisiert (vgl. Schiele 2000, 1f.).

Dimension der Wertevorstellungen

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Folgt man der These, dass es sich bei Werturteilen um Emotionen handelt, dann ließe sich folgerichtig auch von Emotionen auf Wertevorstellungen schließen. Völlig richtig betont Weber-Stein (vgl. 2017, 69) daher, dass im Rahmen politischer Bildungsprozesse – etwa zur Anbahnung politischer Urteile – nicht nur Argumente, sondern auch Verweise auf die eigene Emotionalität zugelassen werden sollten und zwar nicht (nur), weil dies eine angenehme Lernatmosphäre schafft (vgl. Kapitel 9.1), sondern weil den eingebrachten Emotionen eine werterschließende Funktion zukommt. So kann eine Reflexion der „eigenen emotionalen Reaktionsweisen“ (WeberStein 2017, 69) Aufschluss über die darin enthaltenen Wertevorstellungen ermöglichen. In politikdidaktischen Diskursen kommt zudem immer wieder die Frage auf, ob mit der Kultivierung von politischer Urteilsfähigkeit nicht auch die Vermittlung von wünschenswerten Wertevorstellungen einhergehen sollte (vgl. Schiele 2000, 2), was zweifelsohne auch das Evozieren von in diesem Sinne wünschenswerten Emotionen intendieren würde. So gibt es etwa eine ganze Reihe von Politikdidaktiker*innen und auch einige politikdidaktische Ansätze, die eine gezielte und systematische Werteerziehung – welche streng genommen gegen den Beutelsbacher Konsens (vgl. Scherb 2017) verstößt – präferieren. So spricht sich etwa Sybille Reinhardt (vgl. 2017, 166) für eine politische Bildung aus, die im Sinne der demokratischen Grundordnung gestaltet ist. Ganz ähnlich argumentieren auch das Konzept des Demokratie-Lernens (vgl. Himmelmann 2007) sowie das aus der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (Demokratie Lernen und Leben) (2001) hervorgegangene Projekt der Demokratiepädagogik (vgl. Fauser 2017, 90). Sie alle zielen auf die explizit affektive Vermittlung von vordefinierten demokratischen Grundwerten ab. Kritisch anzumerken ist dabei, dass jeder Versuch der Vermittlung eines vordefinierten Wertekanons sich selbst unausweichlich dem Verdacht aussetzt, antidemokratisch zu handeln. Denn es gilt, was Ernst-Wolfgang

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

Böckenförde bekanntermaßen wie folgt ausdrückte: „Der freiheitlich, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde 1976, 60, Hervorh. im Original).

Die Frage lautet daher, wie es mitunter gelingen kann, zu gesellschaftlichen Wertevorstellungen zu gelangen, welche über ausreichende Bindekräfte für ein funktionierendes soziales und politisches Gemeinwesen verfügen, ohne dass überwältigende und indoktrinierende Bildungspraxen hierbei zum Einsatz kommen. Eine mögliche tentative Antwort bieten m.E. demokratische Bildungskonzepte wie sie u.a. von der Sudbury Valley Schule seit gut 30 Jahren realisiert werden (vgl. Schröder 2017, 167). Demokratische Wertevorstellungen werden dabei nicht aus curricularen Vorgaben abgeleitet, sondern von allen am Schulleben beteiligten Personen immer wieder neu konstituiert, reorganisiert, verworfen und umgedeutet. Indem alle Personen an der Sudbury Valley Schule an dem Verfahren gleichberechtigt beteiligt sind, wird auf institutionellem Wege das Dilemma umgegangen, demokratische Werte auf undemokratische Art und Weise vermitteln zu wollen (vgl. ebd., 168).

5.5 Dimension der somatischen Voraussetzungen Körper und Geist werden in zeitgemäßen Sozialwissenschaften nicht mehr als dualistische, sondern als konvergierende Elemente verstanden (vgl. z.B. Foucault 2014, 23-36). Der Körper bzw. unsere etwaige Kontrolle des Körpers muss daher auch als praktische Voraussetzung des Urteilens und Handelns begriffen werden. Allerdings sind derartige Überlegungen in der politischen und soziologischen Theoriebildung bislang noch recht übersichtlich (vgl. Kron 2010, 140; Joas 2012, 251f.), so dass es sich dabei im Allgemeinen um ein weitgehend offenes Desiderat handelt.

Dimension der somatischen Voraussetzungen

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Zu den wenigen Ansätzen, die sich konsequent bemühen, die Rolle des Körpers systematisch zu integrieren, zählt die neopragmatische Handlungstheorie von Hans Joas (vgl. 2012, 290-306), an dessen Überlegungen daher im Folgenden angeknüpft werden soll. Als Grundgedanke folge ich dabei der These, dass unsere Körper als Repräsentationsflächen der Welt dienen. So findet letztlich alles, was wir über die uns zur Verfügung stehenden Sinne wahrnehmen, seinen Ausdruck auf der somatische Ebene. Es ließe sich daher auch sagen, ganz gleich, was die Welt – von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet – auch immer sein mag, ihre intrapersonelle Repräsentation erfolgt stets in den subjektiven (psycho-)somatischen Verbindungen unseres somatischen Organismus. Ein Blick in die Theoriegeschichte verrät jedoch rasch, dass, obwohl viele bekannte Handlungs- und Urteilstheorien unterstellen, dass der Mensch im Allgemeinen in der Lage wäre, zweckorientiert zu handeln, was intrasubjektiv eine weitgehende Kontrolle über seinen eigenen Körper voraussetzt, die Erfordernisse einer solchen Kontrolle nicht selbstverständlich thematisiert werden. Man denke etwa an Weber, der sich „um die biologische Haltbarkeit seiner Annahmen nicht gekümmert [hat].“ (Joas 2012, 251). Bei Talcott Parsons (vgl. 2016, 140-158) lassen sich zwar Spuren einer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds finden, in dessen Anschluss Parsons versucht, den menschlichen Organismus im Hinblick auf die Genese von Persönlichkeitsmerkmalen für seinen Ansatz fruchtbar zu machen. Systematisch unberücksichtigt bleibt dabei jedoch die intrasubjektive somatische Beziehung eines Menschen zu seinem eigenen Körper. Wenig überraschen dürfte der völlige Verzicht auf somatische Aspekte innerhalb der von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann/Baeker 2004) entwickelten Systemtheorie, was sich leicht erklären lässt, da er Handlungen darin nicht von menschlichen Charakteristiken, sondern systemfunktionalistisch erklärt. Es gibt aber auch zahlreich rezitierte Arbeiten, welche sich kontrastiv hierzu verhalten, wie etwa die von Norbert Elias

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

(vgl. 1997) oder Michel Foucault (vgl. 2014, 23-36; 2008), in denen der Kontrolle über den eigenen bzw. fremden Körper eine gesellschaftspolitische Bedeutung zugemessen wird und ihre innere und äußere Genese mit im Zentrum ihrer Analysen stehen. Und auch Axel Honneth und Hans Joas haben sich in ihren theoretischen Arbeiten um den Einbezug somatischer Aspekte als intrasubjektive Voraussetzungen für menschliches Handeln und Urteilen bemüht (vgl. Honneth/Joas 1980). In Anlehnung an Hans Joas (vgl. 2012, 252) lassen sich für den Bereich der intrasubjektiven somatischen Voraussetzungen vornehmlich zwei Erkenntnisfragen formulieren, welche in Bezugnahme auf das politische Urteile von Relevanz erscheinen: 1. Welche biologischen Voraussetzungen sind für die Urteilsfähigkeit obligat? 2. Welche intrasubjektiven Möglichkeiten der Körperkontrolle existieren? Bei dem Versuch einer Auseinandersetzung mit den beiden hier aufgeworfenen Fragen muss zunächst festgestellt werden, dass eine wirklich in die Tiefe gehende und die Komplexität der Fragen angemessen berücksichtigende Antwort an dieser Stelle nicht möglich scheint. Dafür müsste zunächst ein breiter Kanon an thematisch relevanten biologischen Schriften rezipiert und für die sozialwissenschaftlichen Ansätze fruchtbar gemacht werden88. Ein Unterfangen, welches im Umfang und in Komplexität für den vorliegenden Abschnitt nicht zu leisten ist. Aus diesem Grund intendieren die nachfolgenden Ausführungen auch keine erschöpfende Thematisierung der aufgeworfenen Fragestellungen. Allerdings lassen sich m.E. anhand der erwähnten vorhandenen sozialwissenschaftlichen Theorien einige Markierungen setzen, welche wenigstens für zukünftige Untersuchungen in diesem Themenfeld die Richtung weisen können.

Dimension der somatischen Voraussetzungen

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So scheint der anthropologische Ansatz von Honneth und Joas (vgl. 1980) vielversprechend für eine mögliche Teilantwort auf die erste Frage. In Anlehnung an Arnold Gehlen89 (vgl. 1962) entfalten sie eine These für die Sozialwissenschaften, nach der menschliche somatische Bindungen nicht durch die Blaupause eines Reizreaktionsschemas zu erklären sind, sondern gerade durch den Bruch mit diesem. Erst der Bruch ist es, welcher jenseits instinktiver Verhaltensweisen ein bewusstes politisches Urteil ermöglicht, weshalb er als eine notwendige somatische Voraussetzung des Urteilens zu begreifen ist. Insgesamt kann die menschliche Anthropologie zweifelsohne als eine Lehre vom Mängelwesen beschrieben werden, da der Mensch im Vergleich zu anderen Tieren nur über recht primitive Sinnesorgane und körperliche Fähigkeiten verfügt und zudem vergleichsweise erst recht spät nach seiner Geburt die Fähigkeit zu autonomen Selbsterhaltung erlangt (vgl. ebd., 86-101). Andererseits ist es bekanntermaßen gut möglich, dass diese scheinbaren evolutionären Nachteile zu der enormen kognitiven Entwicklung des menschlichen Denkapparates geführt haben, welche erst eine so weitgehende Emanzipation von deterministischen Reizreaktionsschemata ermöglichte. Die somatischen Voraussetzungen des Menschen ermöglichen ihm somit „diffuse und höchst plastische Antriebsquellen, die über Befriedigungserfahrungen und kulturelle Einwirkungen eine neue Eindeutigkeit gewinnen.“ (Joas 2012, 254). An die Stelle der Erbmotorik tritt dabei eine Erwerbmotorik (vgl. ebd.), womit bereits über den Hinweis, dass zumindest Teile der somatischen Kontrolle erlernt werden können, auf die zweite zu Beginn formulierte

88 89

Ein Stolperstein besteht dabei in der Reflexion der mitunter empirisch nicht gerechtfertigten reduktionistischen Übernahme von empirischen Erkenntnissen auf das somatische System des Menschen (vgl. Joas 2012, 253). Dessen Werk ist aufgrund seiner vielen Verkürzungen und unübersehbar vorgetragenen autoritären politischen Implikationen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Vgl. zur Kritik an Gehlen auch Honneth/Joas (1980, 67ff.).

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Dimensionen einer politischen Urteilskompetenz

Frage (nach den Möglichkeiten der Körperkontrolle) Bezug genommen wird. Auffällig ist dabei, dass die zweite Frage mit der ersten Frage korreliert. Denn die Möglichkeiten der Körperkontrolle können nur anhand der Grundprämissen der gegebenen biologischen Komponenten geklärt werden. In Gehlens (vgl. 1962) Anthropologie ergibt sich schließlich die Politikbedürftigkeit des Menschen (vgl. Kapitel 2) aus seinen biologischen Wurzeln, welche die partiellen Fähigkeiten, jenseits deterministischer Instinkte urteilen und handeln zu können sowie Kontrollmöglichkeiten über den eigenen Körper zu erlangen, in sich vereint. Wenn hier von den Möglichkeiten der eigenen Körperkontrolle gesprochen wird, dann scheint es notwendig, den Blick auf dieses Phänomen durch ein paar Hinweise weiter zu verschärfen. Denn die Möglichkeiten, auf den eigenen Körper Einfluss zu nehmen, werden nicht nur durch die intrasubjektiven somatischen Voraussetzungen determiniert. Vielmehr sind auch die intentionalen Einflussmöglichkeiten begrenzt. Ein passendes und häufig bemühtes Beispiel (vgl. Kron 2010, 140; Joas 2012, 248) hierfür findet sich bei dem Phänomenologen Maurice Merleau-Pontys (vgl. 1966). Am Beispiel des Einschlafens verdeutlicht Merleau-Pontys (vgl. ebd., 196), – in der so manchen Phänomenologen eigenen prosaischen Form – dass die bewusste Intentionalität (der Wunsch, möglichst jetzt einzuschlafen) gerade nicht zur Realisierung, sondern zu deren Vereitelung führen kann. Erst durch das Ablassen von einer derartig aktiven Intentionalität und das Zulassen einer sogenannten passiven Intentionalität90 ermöglicht das Einschlafen oder, wie es Merleau-Pontys (ebd.) so schön ausdrückt, den Zustand der „anonymen Wachsamkeit der Sinne“. Der situative Verlust von Intentionalität und damit verbundener Körperkontrolle zeigt sich aber auch an anderer Stelle und verdeutlicht dabei m.E. umso mehr die Notwendigkeit, somatische Vor-

90 Der Begriff der passiven Intentionalität drückt hier, in Anlehnung an Joas (vgl. 2012, 247f.), einen Zustand aus, welcher sich gerade durch den bewussten Kontrollverlust über den Körper definiert und quasi intentional freigesetzt wird.

Dimension der somatischen Voraussetzungen

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aussetzungen in Urteils- und Handlungstheorien stärker zu integrieren und zwar gerade auch im Zusammenhang mit Emotionen. So existieren emotionale Ausdrucksformen, welche sich der voluntaristischen Herrschaft über Körperfunktionen entziehen. Helmut Plessner (vgl. 1970, 39) hatte dies bereits am Beispiel des Lachens und Weinens ausführlich dargelegt, welche er beispielhaft als nicht intentionale Antwortreaktionen auf mehrdeutige, nicht zu beantwortende und das Subjekt mitunter situativ überfordernde Phänomene interpretierte. Wobei abermals die Frage evident wird, in welchen Situationen wir für uns beanspruchen können, gänzlich oder doch zumindest weitgehend intentional zu urteilen und zu handeln, in welchen Momenten nicht-intentionale Phänomene die Herrschaft über unseren Körper gewinnen und welche Auswirkungen sich daraus möglicherweise für unsere Urteils- und Handlungsweisen folgern lassen. Mit Thomas Kron lässt sich als Zwischenfazit konstatieren: „Kontrolle und Lockerung der Kontrolle wechseln sich ab – zwei Fähigkeiten, die die Theorie miterfassen muss.“ (Kron 2010, 140). Wobei die hier dargestellten Überlegungen freilich erst den Beginn einer Schneise darstellen, deren komplette Ausmaße, Urteils- und Handlungstheorien sinnvoll zu erweitern und im Sinne einer realistischen Praxis zu optimieren, noch nicht absehbar sind. Weitere theoretische Vorarbeiten auf diesem Feld scheinen daher ebenso vonnöten wie die Ausarbeitung neuer empirischer Settings, um intentionale und nicht-intentionale Phänomene sowie ihre spezifische somatische intrasubjektive Eingebundenheit im Hinblick auf ihre Wirkung für politische Urteilsprozesse zu verbinden und somit zu ihrem besseren Verständnis beizutragen.

6 Eine theoretische Annäherung: Gefühle, Emotionen, Stimmungen, Affekte und Emotionalität Nachdem einige in der Politikdidaktik wohl bekannte und weitverbreitete Schlüsselbegriffe geklärt wurden, widmet sich der nachfolgende Teil der Frage, was unter Emotionen zu verstehen ist. Die Begriffe Gefühl, Emotion, Stimmung oder Affekt werden sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch in wissenschaftlichen Kontexten nicht immer trennscharf unterschieden (vgl. Besand 2015)91, sondern mitunter synonym verwendet (vgl. Weber-Guskar 2007). Aus diesem Grund scheint es im Rahmen der vorliegenden Arbeit angemessen, zunächst wichtige Schlüsselbegriffe zu klären, bevor auf diese aufbauend der hier zum Einsatz kommende Emotionsbegriff ausführlich dargestellt werden kann. Aufgrund der zunehmen Bedeutung der Internationalisierung wissenschaftlicher Diskurse sowie der Tatsache, dass thematisch bedeutende Publikationen in diesem Feld bereits in englischer Sprache verfasst sind, wird sich dabei nachfolgend am englischen Sprachgebrauch orientiert. Der englische Terminus feelings wird hier daher etwa mit empfinden und nicht mit Gefühl übersetzt, da das Wort empfinden aufgrund seiner in dieser Hinsicht bereits vorhandenen erkenntnistheoretischen Tradition innerhalb der abendländischen Philosophie (vgl. Hartmann 2010, 29) besser geeignet erscheint, um die intrasubjektive Wahrnehmungskompetenz von Emotionen zu beschreiben (vgl. Tab. 5).

91 So spricht etwa Anja Besand (2015) in ihrem Aufsatz Gefühle über Gefühle im Fließ text einheitlich von Emotionen und nicht wie im Titel von Gefühlen, ohne den Unter schied zu erläutern. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_6

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Eine theoretische Annäherung

Das deutsche Substantiv Gefühl hingegen wird mit dem Substantiv Emotion (deutsch sowie englisch) in seiner tautologischen Form in der Forschungsliteratur zumeist synonym verwendet (vgl. Hartmann 2010, 31; Demmerling/Landweer 2007, 5; Landweer/Renz 2012, 3; Heidenreich 2012, 11; Fiehler 2008, 758) und soll daher auch im Folgenden nicht unterschieden werden. Zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit wird nachfolgend – so weit wie möglich92 – allerdings einheitlich von Emotionen gesprochen. Stimmungen (engl. moods) werden sowohl im Englischen als auch im Deutschen als der emotionale Hintergrund verstanden, vor dem sich unser (Er-)Leben abspielt (vgl. Vaas, 2000, 387; Betsch et al. 2011, 126). Im Folgenden werden sie als emotionale Zustände aufgefasst, die sich durch eine gewisse zeitliche Kontinuität auszeichnen und nicht auf ein konkretes Subjekt oder Objekt gerichtet sein müssen (vgl. Otto et al. 2000, 12f.). Im Gegensatz zu Emotionen gelten sie daher als unspezifischer und sind sprachlich nicht immer leicht zu fassen93 (vgl. Weber-Guskar 2007, 135). Das Wort Affekt 94 (engl. affect) wird nachfolgend verwendet, um unwillentlich gesteuerte Handlungen zu bezeichnen, welche durch Emotionen ausgelöst werden (vgl. Hartmann 2010, 29). Sie selbst stellen dabei jedoch keine spezifische Emotion dar, sondern können auf unterschiedlichen Emotionen beruhen, weshalb sie hier auch nicht als eigenständige Phänomene, sondern als eine temporäre Gewichtung emotionaler Zustände zu Gunsten des Unbewussten (vgl. DeLancey 2002, 7) verstanden werden.

92 So tauchen beim Lesen dieser Arbeit immer wieder Zitationen auf, in denen der Begriff des Gefühls und nicht der Emotion verwendet wurde. Sollte dies nicht explizit anders ausgewiesen sein, ist hiermit aber stets die Emotion gemeint. 93 Ein Beispiel für eine Stimmung wäre etwa eine Melancholie bzw. ein melancholischer Zustand. 94 In der Ideengeschichte wird mitunter äquivalent z.T. auch der Begriff der Leiden schaften gebraucht (vgl. u.a. Hobbes 2007, 90ff.; Rousseau 1978, 380; Kant 1978, 597 602; Pickavé 2012, 191).

Emotionen: Versuch einer Definition

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Emotionalität wird hier schließlich als allgemeiner Sammelbegriff verstanden unter den sich alle emotionalen Verhaltensweisen und Äußerungsformen (Emotionen, Affekte, Stimmungen, usw.) subsumieren lassen (vgl. Fremdwörterlexikon 2004, 245). Nach diesen ersten, knappen Hinweisen, die primär einen Einstieg in die nachfolgenden Kapitel erleichtern sollen, schließt sich im Folgenden eine ausführliche Darlegung des innerhalb dieser Arbeit verwendeten Emotionsbegriffs an.

6.1 Emotionen: Versuch einer Definition Die eindeutige Definition eines Begriffes in den Sozial- oder Geisteswissenschaften dürfte wohl ähnlich selten sein wie eine weibliche Päpstin. Daher wundert es nicht, dass Kleinginna und Kleinginna (1981) Anfang der 1980er-Jahre nach einer groß angelegten Auswertung wissenschaftlicher Publikationen eine Liste mit 92 Definitionen und neun sogenannten „skeptical statements“ (Kleinginna/Kleinginna 1981, 347) von Emotionen vorlegten. Hätten sie ihr Projekt fortgeführt, dürfte die Liste gut 35 Jahre später noch um einige Positionen erweitert worden sein. Aus der Synthese der einzelnen Definitionen schlugen sie abschließend eine Arbeitsdefinition für den Emotionsbegriff vor: Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural/hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goal-directed, and adaptive. (Kleinginna/Kleinginna 1981, 355)

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Eine theoretische Annäherung

Diese recht allgemeine Definition ist allerdings wenig zielführend. Erstens lässt sich ihr aufgrund ihrer Allgemeinheit eine gewisse Unübersichtlichkeit vorwerfen und zweitens besteht ihre eigentliche Schwäche darin, dass sie versucht, Definitionen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen theoretischen und empirischen Fragestellungen zu vereinen. Dieser Ansatz muss alleine deshalb scheitern, weil jede Wissenschaftsdisziplin naturgemäß ihre eigenen methodischen Zugriffe und Fragestellungen verfolgt und daher gezwungen ist, den Emotionsbegriff jeweils anhand ihres spezifischen Forschungsparadigmas zu operationalisieren (vgl. Ulich 1995, 31). Eine für alle Wissenschaftsdisziplinen allgemeingültige Definition kann es daher kaum geben (vgl. u.a. Solomon 2000, 106ff.; Otto et al. 2000, 12ff.; Izard 1999, 20; Korte 2015, 12f.). Die nachfolgenden Ausführungen zum Emotionsbegriff haben aufgrund dessen auch nicht den Anspruch, das Wesen (vgl. hierzu Ulich 1995, 32) oder den inneren Kern von Emotionen ausgiebig zu beschreiben, sondern eine brauchbare Arbeitsdefinition vorzulegen, mit deren Hilfe sich die zugrundeliegenden Forschungsfragen valide beantworten lassen. Als Ausgangspunkt einer solchen Definition muss im Sinne der vorliegenden Arbeit dabei eine klar didaktische Perspektive gewählt werden. Zwar forschen Didaktiker*innen grundsätzlich wie ihre Kolleg*innen in den Bezugswissenschaften auch unter den großen Leitfragen, wie sie etwa einst von Immanuel Kant pointiert wurden: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (Kant 1976, 677). Im Segment der praktischen Anwendungen jedoch geht es m.E. in der Didaktik nicht um absolutes Wissen oder die letzte Durchdringung eines Phänomens, sondern um das Auffinden von Praktikabilität. Dabei versuchen Didaktiker*innen – genau wie Ingenieure*innen – Lösungsansätze für praktische Fragen in der Gegenwart zu entwickeln. Dies gilt auch für Phänomene, welche von den Wissenschaften (noch) nicht in Gänze entzaubert wurden. Die nachfolgende Mehrkomponenten-Definition ist hierfür ein praktisches Beispiel.

Emotionen: Versuch einer Definition

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Obwohl die Frage, was Emotionen letztendlich auszeichnet, wissenschaftlich als ungeklärt eingestuft werden muss, lassen sich mehrere Komponenten beschreiben, die aus didaktischer Perspektive nicht ignoriert werden sollten. So können Emotionen auf diversen, analytisch trennbaren Ebenen beschrieben werden, da sie sich z.B. in unserer Mimik, unserem Verhalten oder in kognitiven Prozessen manifestieren. Für die didaktische Theorie ist es dabei zum jetzigen Zeitpunkt sekundär, ob Emotionen stets aus allen (analytisch definierbaren) Teilkomponenten bestehen oder ob teilweise lediglich eine Auswahl der Komponenten zum Tragen kommt. Denn auch wenn sich diese Frage mit den derzeitigen wissenschaftlichen Methoden (noch) nicht final beantworten lässt, bieten doch alle Teilkomponenten der Didaktik einen potenziellen (Lern-)Zugang und sollten daher auf ihre praktische Nutzbarkeit hin untersucht werden. Aus diesem Grund scheint eine offene Definition von Emotionen angemessen. In der einschlägigen Literatur finden sich eine Reihe unterschiedlicher Vorbilder einer solchen Mehrkomponenten-Definition von Emotionen, welche jedoch weit weniger mannigfaltig ausfällt als die hier vorgeschlagene (vgl. Vaas 2000, 387; Hartmann 2010, 25; Weber-Guskar 2007, 135). Für die vorliegende Studie werden sieben Teilkomponenten von Emotionen unterschieden: Tabelle 5: Mehrkomponenten-Definition zum Emotionsbegriff

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Eine theoretische Annäherung

Alle sieben Komponenten, die nicht zwingend bewusst ablaufen, beschreiben dabei verschiedene Ebenen, auf denen sich Emotionen von Menschen95 manifestieren. Nachfolgend sollen diese zunächst einzeln skizziert und im Anschluss in zusammenhängender Form ausführlich erörtert werden.

6.1.1 Kognition Die Kognition96 spielt bei der menschlichen Informationsverarbeitung eine zentrale Rolle. Sie ist nachweislich an komplexen Phänomene wie „Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung, Denken und Sprechen“ (Mandl/ Reiserer 2000, 95) beteiligt. Innerhalb kognitivistischer Emotionstheorien ist sie darüber hinaus zudem für die Individuation und Spezifizierung von Emotionen von besonderer Bedeutung (vgl. Hartmann 2010, 54; Demmerling/Landweer 2007, 20ff.; Izard 1999, 20; Nussbaum 2016, 595; WeberGuskar 2007, 137). Kognition und Emotionalität sind demnach elementare Bestandteile desselben Phänomens, die sich nicht auseinander dividieren lassen. Der Annahme folgend, dass Emotionen in der Regel mit kognitiven Prozessen einhergehen, werden von einigen Autor*innen Emotionen zudem mit Werturteilen gleichgesetzt (vgl. Nussbaum 2001, 30). Da diese These nachfolgend noch ausführlich diskutiert wird (vgl. Kapitel 6.1.1), sei an dieser Stelle lediglich auf zwei beachtliche Konsequenzen einer solchen Vorstellung hingewiesen. Erstens gilt, wenn Emotionen per se mit Kognition gleichgesetzt werden, dass diesen auch zugestanden werden muss, dass die ihnen zugrundeliegende kognitive Situationsbeurteilungen falsch oder inkonsistent sein können. So stellt z.B. eine einzelne Maus keine existenzielle Bedrohung für einen Menschen dar. Dennoch gibt es Menschen, die sich vor Mäusen fürchten97. Die emotionale Furcht ist daher rational betrachtet völlig irrational. Anders ausgedrückt heißt dies, dass Emotionen aufgrund ihres kognitiven Kerns unzweifelhaft in die Irre führen können. Zweitens werden mitunter gegenüber kognitivistischen Emotionstheorien immer wieder Vorwürfe erhoben, ihre Annahmen ließen sich nicht ohne

Emotionen: Versuch einer Definition

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Weiteres auf Tiere oder kleine Kinder übertragen, da diese über kein bzw. noch kein ausgefeiltes Sprachsystem verfügen (vgl. Weber-Guskar 2007, 142). Kognitionen werden innerhalb solcher Ansätze dabei in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Fähigkeit zu sprechen gebraucht. Diese Auffassung wird hier nur bedingt geteilt, da der Sprachbegriff dabei nicht selten sehr undifferenziert verwendet wird. Zum Beispiel dann, wenn unter ihm lediglich bekannte Lautsprachen subsumiert werden. Demgegenüber wird Sprache hier als ein Informations- und Kommunikationssystem verstanden, welches bekanntermaßen auch in Zeichen oder einfachen Tönen zum Ausdruck kommen kann. Kognitionen müssen dabei keine Interdependenzen zu einem spezifischen Informationssystem aufweisen. Wenn das Denken an Informationen gebunden sein sollte, dann kann sich dieses möglicherweise in ganz unterschiedlichen Systemen vollziehen, z.B. in Bildern oder Tönen. Martha C. Nussbaum (vgl. 2016, 51;597f.) etwa klassifiziert Musik als eine intentionale Ausdrucksform von Emotionen. Das (Noch-)Nicht-Vorhandensein einer anerkannten Lautsprache kann daher nicht als Wiederlegung kognitivistischer Emotionstheorien (vgl. Kapitel 6) gelten, immerhin lernen Kinder ihre Muttersprache ja auch ohne vorherige Kenntnis der zu erlernenden Lautsprache ihrer Bezugspersonen. Dass sie dabei ohne eine behelfsmäßige, kognitive Sprache auskommen, scheint wenig plausibel. Die Vorstellung, Gedanken wären per se an die bekannte Lautsprache gebunden, muss daher als ein Missverständnis betrachtet werden.

95 Wir wissen wenig über die emotionalen Reaktionskomponenten beim Menschen und noch weniger über ihr Vorhandensein und ihre Ausprägung bei anderen Tieren (vgl. Vaas 2000, 387f.). Allerdings bemüht sich in jüngster Zeit vor allem Martha C. Nuss baum (vgl. 2016, 211ff.) um die Erweiterung ihrer kognitivistischen Emotionstheorien indem sie weitere Tiere in ihre Annahmen integriert. 96 Der Begriff Kognition kann im Allgemeinen mit Erkenntnis übersetzt werden, welche durch mentale Prozessen erlangt wird. (vgl. Fremdwörterlexikon 2004, 473). 97 Ein Argument, welches ich Aristoteles verdanke (vgl. Arist. NE. 1149a).

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Eine theoretische Annäherung

6.1.2 Wunsch In stark kognitivistisch geprägten Emotionstheorien wird das Phänomen des Wünschens nicht immer einbezogen und von einigen Autor*innen sogar explizit abgelehnt (vgl. Stocker 1987, 64; Landweer 1999, 16; Döring/ Peacocke 2002, 87f.). Dennoch gibt es gute Gründe, voluntaristische Elemente als konsekutive Bestandteile von Emotionen zu erachten. Ein treffendes Beispiel hierfür findet sich bei dem Philosophen Martin Hartmann: Um mich vor einem Hund zu fürchten, reicht es nicht, davon auszugehen, dass er gefährlich ist (kognitives Element). Ich muss auch wünschen (wollen), nicht von ihm gebissen zu werden. Ohne diesen Wunsch kann ich zwar immer noch von der Gefährlichkeit des Hundes überzeugt sein, aber diese Überzeugung wird mich nicht sonderlich bewegen, sie bleibt gewissermaßen kalt. (Hartmann 2010, 79)

Natürlich könnte man Wünsche ganz einfach auf ihre kognitive Basis reduzieren und somit ihre explizite Nennung im Zusammenhang mit Emotionen vermeiden. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Einebnung von Wünschen einer Komplexitätsreduzierung des Emotionsphänomens gleichkommt. Das bewusste Einbeziehen eines voluntaristischen Moments hingegen eröffnet der Didaktik eine zusätzliche Ebene bei der Bereitstellung von Lernangeboten. Denn wenn es etwa gelingt, mögliche Wünsche der Lernenden zu antizipieren, könnte der individuelle Lernprozess besser gefördert und grundsätzliche Lernanreize zielgenauer ausgewählt werden. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass zwischen vornehmlich anthropologisch und idiosynkratrischen Wunschstrukturen unterschieden werden kann. Das Beispiel von Hartmann (vgl. 2010, 79) ließe sich demnach z.B. in diesem Sinne als anthropologisch auslegen, da die Furcht, gebissen zu werden, vermutlich (fast) alle Menschen teilen. Idiosynkratrische Wünsche (wie z.B. sich vorzunehmen, netter zu seinen Mitmenschen zu sein) können aufgrund ihres subjektiven Charakters

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nicht so einfach entschlüsselt werden. Um sie zu verstehen, scheint ein biografischer Ansatz unumgänglich. In beiden Fällen jedoch wird durch eine erfolgreiche Dekodierung des Wunsches deutlich, was einer Person in emotionaler Hinsicht als wichtig erscheint und was ggf. für sie weniger oder sogar unwichtig ist (vgl. ebd., 80). Die Komponente des Wunsches beinhaltet aus dieser Perspektive wertvolles didaktisches Wissen und sollte daher bei der Thematisierung von Emotionen nicht ausgespart werden.

6.1.3 Neurophysiologie98 An Emotionen sind verschiedene Regionen des Nervensystems aktiv beteiligt. Dazu zählen: das limbische System, die Amygdala, der präfrontale Kortex, der Hippocampus, der Gyrus cinguli und die Inselrinde99 (vgl. Roth 1997, 179; Schandry 2011, 461). Die Erforschung der Funktionen dieser Areale ist jedoch noch nicht vollständig gelungen. Der rasante Fortschritt der Technik auf diesem Gebiet hat in den letzten Dekaden jedoch einen enormen Zuwachs an Wissen ermöglicht (vgl. Schandry 2011, 23). So änderte sich u.a. die Sichtweise bezüglich des limbischen Systems dahingehend, dass es nicht nur für die Emotionsregulation verantwortlich scheint, sondern auch an Gedächtnis- und Lernvorgängen aktiv beteiligt ist (vgl. ebd., 456). Bezüglich des Aufgabenspektrums der Amygdala wird dabei

98 99

Der Nachfolgende Abschnitt mag für Politikdidaktiker*innen nicht besonders einfach zu verstehen sein, so hatte auch ich selbst zugegebenermaßen einige Schwierigkeiten, mich entsprechend kundig zu machen. Der Vollständigkeit halber soll die Neuropsychologie hier dennoch nicht ausgeklammert, sondern ihre Bedeutung für die Emotionalität des Menschen zumindest in groben Zügen dargelegt werden. Für eine ausführlichere Vorstellung der an der Genese und Steuerung von Emotionen beteiligten Hirnregionen sei zudem auf die viel rezipierten Werke auf diesem Gebiet von Gerhard Roth (vgl. 1997), Rainer Schandry (2011) und António Damásio (vgl. 2012) verwiesen. Für eine ausführliche Darstellung vergleiche Rainer Schandry (2011, 456-466).

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Eine theoretische Annäherung

vermutet, dass sie vor allem im Zusammenhang mit sogenannten negativen Emotionen eine Rolle spielt (vgl. Roth/Lück 2010, 41), während der präfrontale Kortex unabdingbar für unsere Fähigkeit ist, aus Emotionen Handlungspläne abzuleiten und die „Konsequenzen [unseres] emotionalen Verhaltens“ (Schandry 2011, 461) zu antizipieren. Aus lehr-lerntheoretischer Perspektive besonders interessant ist zudem das Aufgabenspektrum des Hippocampus, welcher bei der Verarbeitung emotionalen Stresses eine erhöhte Aktivität verzeichnet (vgl. ebd. 460). Dabei vertreten Neurowissenschaftler*innen und Psycholog*innen die Auffassung, dass ein sogenannter leichter Stress zu einer Steigerung der Lernfähigkeit des Gehirns beiträgt (vgl. Roth/Lück 2010, 42). Starker emotionaler Stress hingegen wirkt auf Lernprozesse eher hemmend (vgl. ebd.) und kann diese möglicherweise sogar ganz verhindern. Der Gyrus cinguli wiederum steht unter Verdacht, vor allem an der Analyse von emotionalen Reizen beteiligt zu sein, während die Inselrinde scheinbar eine Schnittstelle zwischen Emotionalität und dem Vegetativum darstellt und sich somit für nicht willentlich gesteuerte Emotionen verantwortlich zeigt (vgl. Schandry 2011, 461). Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass Veränderungen, z.B. hervorgerufen durch Verletzungen in Bereichen des orbitofrontalen Kortex, zu Verhaltensveränderungen bei den Betreffonen führen können, welche mitunter mit einem Kontrollverlust des individuellen emotionalen Verhaltens einhergehen und schwere Defizite bezüglich der individuellen Urteilsfähigkeit auslösen (vgl. Damásio 2012, 64-85; Schandry 2011, 456-461; Betsch et al. 2011, 129f.). Wie in Kapitel 10 noch ausführlich dargestellt wird, gilt es aus neurowissenschaftlicher Perspektive daher als sicher, dass Emotionen und Urteilsprozesse in einem direkten Zusammenhang stehen.

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6.1.4 Physiologie Ob physiologische Prozesse bloß als Ausdruck von Emotion gewertet werden können oder ob sie selbst erst Emotionen hervorbringen, ist umstritten (vgl. Hartmann 2010, 98). Charles R. Darwin (vgl. 1986) war im 19. Jahrhundert wohl einer der ersten Wissenschaftler, der einen kausalen Zusammenhang zwischen der Gesichtsmimik und spezifischen Emotionstypen postulierte. Laut seinem Ansatz, der im 20. Jahrhundert u.a. von Silvan Tomkins (vgl. 1992, 192) weiterverfolgt wurde, gibt es eine „Beziehung zwischen propriozeptiven Impulsen von Gesicht und Körperhaltung und dem subjektiven Emotionserleben“ (Izard 1999, 78). Empirisch lassen sich demnach etwa Zusammenhänge zwischen der Gesichtsmimik und dem emotionalen Empfinden messen, ein grundsätzliches Primat der Körpermuskulatur bei der Genese von Emotionen lässt sich daraus jedoch noch nicht ableiten (vgl. Schandry 2011, 465). Gemäß der hier entworfenen Mehrkomponenten-Definition werden physiologische Phänomene daher als Teilkomponenten von Emotionen verstanden, die erst im Zusammenspiel mit weiteren Komponenten vollständige Emotionen hervorbringen (vgl. hierzu auch Izard 1999, 79). 6.1.5 Motivation In Abgrenzung zum Wunsch ist die Motivation deutlicher auf direkte Handlungsfolgen ausgerichtet. Dabei wird nicht, wie einst im Rahmen der sogenannten Konflikttheorie, davon ausgegangen, dass Emotionen nur dann als handlungsleitend in Erscheinung treten, wenn wir rational überfordert sind, sondern, dass sie generell unseren Freiheitsgrad beim Handeln erhöhen (vgl. Vaas 2000, 388). Folgt man dieser Annahme, dann führen Emotionen zu einer gesteigerten Kontingenz. Rüdiger Vaas weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass die motivationalen Tendenzen von Emotionen quasi als „Unterbrechungssystem [fungieren könnte], das bei veränderten Prioritäten schnelles Umschalten ermöglicht.“ (ebd.).

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Eine theoretische Annäherung

6.1.6 Empfinden Das Empfinden steht primär für die phänomenologische100 Seite von Emotionen. „Phänomenologische Ansätze betonen in der Regel die Art und Weise, wie sich Gefühle anfühlen, also die Art und Weise, wie es ist ein Gefühl zu spüren.“ (Hartmann 2010, 84). Folgt man den kognitivistisch geprägten Ansätzen der phänomenologischen Emotionstheorie, dann können Gedanken emotional eingefärbt sein und wir empfinden etwas im Zuge ihrer Internationalisierung. Prinzipiell scheint dies nicht auf alle Gedanken zuzutreffen. Die davon betroffenen entwickeln jedoch für uns eine besondere Relevanz und involvieren uns deutlich mehr in das Geschehen (vgl. hierzu auch Bredow/Noetzel 2009, 75f.). Eine Schwierigkeit des phänomenologischen Ansatzes besteht jedoch darin, dass sich lediglich introspektionistische Aussagen darüber treffen lassen, wie sich eine Emotion konkret anfühlt. Unser subjektives Empfinden lässt sich dabei mit sprachlichen Mitteln häufig nur unzureichend artikulieren, so dass ein intersubjektiver Austausch über emotionales Empfinden erschwert wird (vgl. Goldie 2006, 1f.). In dieser generellen Vermittlungsschwierigkeit der Korrelate phänomenologischer Ansätze (wobei hier die Ansätze Husserls explizit inbegriffen sind), liegt m.E. das Hauptproblem der Phänomenologie. Didaktische Ansätze haben es daher nicht leicht, die phänomenologische Seite des Empfindens von Emotionen für praktische Ansätze fruchtbar zu machen. Sie können aber auch nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, da unser individuelles Empfinden maßgeblich mitverantwortlich für die Repräsentation von der Welt in uns zu sein scheint (vgl. Hartmann 2010, 85). Die Intentionalität von Emotionen in Verbindung mit den dazugehörigen subjektiven Empfindungen didaktisch möglichst gut antizipieren zu können, ist daher eine Schlüsselkomponente bei dem Bemühen, die Weltbilder anderer Menschen rekonstruieren und mitgestalten zu wollen. 100 Wobei in den Emotionstheorien der Begriff Phänomenologie nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit den Ansätzen von Edmund Husserls Philosophie verwendet wird (vgl. Hartmann 2010, 83).

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6.1.7 Reaktion Wenn hier von Reaktionen die Rede ist, sind die physiologischen Vorgänge gemeint, die üblicherweise primär dem vegetativen System zugerechnet werden. So wird in der Biologie zumeist zwischen zwei physiologischen Vorgängen unterschieden: (a) dem Ausdruck, der sich über die Körpermuskulatur in Form von Mimik und Körperhaltung manifestiert und (b) die hauptsächlich vom vegetativen System beeinflussten, komplexen Handlungsketten (z.B. Flucht), die hier als Reaktionen bezeichnet werden (vgl. Schandry 2011, 456). Auch in diesem Fall ist allgemein umstritten, ob Emotionen tatsächlich immer mit einer Reaktion einhergehen. Eva WeberGuskar (2007, 137) bestreitet beispielsweise solch eine Verbindung und argumentiert, dass unter anderem stille Freude keine explizite Handlungstendenz in sich trägt. Im Gegensatz dazu wird hier der Reaktionsbegriff relativ weit ausgelegt. Ähnlich wie im Konstruktivismus gibt es demnach keine Nicht-Reaktion, d.h., auch wenn äußerlich keine wahrnehmbaren komplexen Handlungsketten ersichtlich sind, wird dennoch eine körperliche Reaktion (veränderter Herz- oder Augenschlag) vermutet. Natürlich müssen die Reaktionen dabei nicht willentlich oder bewusst erfolgen, sondern können auch reiz-reaktionsgesteuert oder rein affektiv verlaufen. 6.2 Emotionen: eine theoretische Eingrenzung Die einzelnen im vorherigen Teil dargestellten Ebenen (Kognition, Wunsch, Neurophysiologie, Physiologie, Motivation, Empfinden und Reaktion) sind untereinander interdependent verbunden. Strittig ist jedoch, in welcher Reihenfolge sie in der Praxis auftreten. So stellte Ende des 19. Jahrhunderts der Professor für Philosophie und Psychologie an der Harvard Universität William James (1884) in seinem Aufsatz What is an Emotion? (ebd., 188) die These auf, dass Emotionen eine direkte Folge von körperlichen Reaktionen seien (vgl. James 1884, 189f.):

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[…] we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry, angry, or fearful, as the case may be. (James 1884, 190).

Nach James‘ (vgl. ebd., 189f.) Ansicht gehen der subjektiven Wahrnehmung von Emotionen stets körperliche Wandlungsprozesse voraus und nicht, wie allgemein angenommen, kognitive Prozesse der Bewusstwerdung (vgl. Hartmann 2010, 39f.). Die kognitive Verarbeitung ist – so James (vgl. 1884, 189f.) – eine Folge der körperlichen Reaktion und nicht deren Ursache. Mit dieser These lässt sich u.a. die Bemerkung des Aristoteles erklären, nach der schon das Rascheln einer Maus genügt, um Menschen in Angst zu versetzen (vgl. Arist. NE. 1149a). Wie bereits erwähnt, stellt eine Maus objektiv betrachtet für einen Menschen kaum eine Gefahr dar, wie erklärt sich also die Angst vor ihr? Nach der Theorie von James (vgl. 189f.) führen äußerliche Reize (wie die Maus) zu körperlichen Reaktionen (wie der Erhöhung des Herzschlages). Die Wahrnehmung dieser Reaktionen wiederum verursacht schließlich Emotionen (z.B. Furcht). So ist es zum Beispiel durchaus möglich, dass wir uns überhaupt nicht vor der Maus fürchten wollen und es dennoch gleichsam tun. Es entsteht ein Widerspruch zwischen der kognitiven und der emotionalen Bewertung in ein und derselben Situation (vgl. Hartmann 2010, 41). Methodisch beruht James` (vgl. 1884, 189) These auf der Introspektion und obwohl diese von neurowissenschaftlichen und experimentalpsychologischen Ansätzen als unwissenschaftlich abgelehnt wird (vgl. Hartmann 2010, 135), kann er dennoch als theoretischer Vorläufer vieler neurowissenschaftlicher Ansätze zur Emotionsforschung betrachtet werden. Ein gängiges Argument gegen die Position von James stellt die Überlegung dar, dass Emotionen auch ohne körperliche Reaktion auskommen (vgl. Hartmann 2010, 40). So ist es vorstellbar, dass die Erinnerung an eine verlorene Person in uns bestimmte Emotionen (z.B. Trauer) hervorruft. In

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diesen Fällen wären kognitive Prozesse gleichsam die Katalysatoren physischer und emotionaler Reaktionen. Eine solche Lesart der emotionalen Genese wird von James (vgl. 1884, 190) jedoch bestritten: Without the bodily states following on the perception, the latter would be purely cognitive in form, pale, colourless, destitute of emotional warmth. We might then see the bear, and judge it best to run, receive the insult and deem it right to strike, but we could not actually feel afraid or angry. (James 1884, 190)

Darüber hinaus weist James` These allerdings noch weitere Schwachstellen auf. So lässt sich mit ihr nicht erklären, warum ein und dieselbe körperliche Reaktion (z.B. Zittern) zu unterschiedlichen emotionalen Zuständen führen kann (z.B. Angst oder Vorfreude). Woher weiß unser Cortex, wie ein Zittern zu deuten ist? Gibt es für jede mögliche Emotion ein eigenes Zittern oder können unsere epigenetischen Kontrollmechanismen das Zittern unterschiedlich auslesen? James gibt letztlich keine befriedigende Antwort darauf, wie sich Emotionen aufgrund von körperlichen Reaktionen individuieren lassen101, wodurch seine Thesen – vornehmlich durch kognitivistische Positionen – unter Druck geraten sind (vgl. Cannon 1927, 108ff.; Hartmann 2010, 53ff.). Moderne Emotionstheorien berücksichtigen daher neben körperlichen Reaktionen auch kognitive Elemente bei der Genese und beim Ausdruck von Emotionen, wobei sie diese weder als vor- noch nachgelagerte Phänomene erachten, sondern als genuine Bestandteile von Emotionen (vgl. Hartmann 2010, 54; Demmerling/Landweer 2007, 20ff.; Izard 1999, 20; Nussbaum 2016, 595; Weber-Guskar 2007, 137). Durch den Einbezug von kognitiven Gehalten lassen sich Emotionen untereinander abgrenzen und spezifizieren. Verdeutlichen lässt sich dies anhand eines einfachen

101 Eine ausführliche Kritik der These von James aus neuropsychologischer Sicht findet sich bei Walter Cannon (vgl. 1927, 108-114), eine Kritik aus philosophischer Perspektive hingegen bei Martin Hartmann (vgl. 2010, 37-49).

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Gedankenexperimentes. Nehmen wir an, dass wir uns über jemanden ärgern, weil die Person uns versetzt hat. Dann ärgern wir uns vielleicht deshalb, weil wir annehmen, wir hätten unsere Zeit auch sinnvoller verbringen können als mit Warten. Empfinden wir die Wartezeit hingegen als unverhoffte Freizeit, kommt kein Ärger, sondern möglicherweise Freude/ Vergnügen in uns auf. Dieses simple Beispiel verdeutlicht, dass und wie unsere kognitiven Annahmen für die Genese und Spezifizierung von Emotionen entscheidend seien können102. Von einigen Autor*innen wird diese kognitive Gerichtetheit von Emotionen auch als Intentionalität bezeichnet (vgl. Nussbaum 2016, 595; Weber-Guskar 2007, 137). Eine der aktuell bedeutendsten Vertreterinnen dieser Position ist die US-amerikanische Professorin für Philosophie Martha Nussbaum. Nach Nussbaum (vgl. 2016, 595) sind prinzipiell alle Emotionen mit einer Intentionalität des Denkens verbunden. Die Apostel dieser Denkrichtung unterscheiden dabei streng zwischen Emotionen, welche immer mit einer Intentionalität verbunden sind, und rein körperlichen Empfindungen (z.B. Bauchschmerzen oder Hunger), die wiederum ohne solch eine Intentionalität auskommen (vgl. Hartmann 2010, 54). Empfindungen sind dementsprechend als ein Teil von Emotionen durch das Kriterium der Intentionalität von anderen Emotionsformen unterscheidbar. Harvey O. Green (vgl. 1992, xii) spricht in diesem Zusammenhang auch von intentionalen und nicht-intentionalen Komponenten von Emotionen. Dieses Paradigma wird für die vorliegende Arbeit grundsätzlich übernommen103. Gleichzeitig soll sich hier jedoch auch bewusst von rein kognitivistischen Erklärungsmodellen von Emotionen abgegrenzt werden, welche physische und phänomenologische Position bei der Definition von Emotionen entweder ignorieren oder bewusst negieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Theorie von Nussbaum (vgl. 2001).

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Nussbaum klassifiziert Emotionen per se als „appraisals or value judgments“104 (Nussbaum 2001, 4). Anders als James (vgl. 1884) geht sie dabei davon aus, dass Emotionen subkognitive – also rein physiologische Effekte – hervorrufen (vgl. Nussbaum 2015, 46f.; 2016, 595f.), schließt diese aber aus einer Definition für Emotionen explizit aus (vgl. Nussbaum 2016, 596). Lediglich kognitive Gehalte sind für Nussbaum (vgl. 2015, 46f.; 2016, 596) dazu geeignet, um Emotionen zu bestimmen. Ohne diese – so ihre Annahme (vgl. ebd.) – lassen sich Emotionen nicht differenzieren oder begreifen. Sie kann daher zu den Vertreter*innen einer streng kognitivistischen Emotionslehre gezählt werden (vgl. Hartmann 2010, 101; Weber-Guskar 2007, 138), deren Hauptargument die sogenannte Individuierungsthese (vgl. FN 103) darstellt. Dass es sich bei Emotionen um Werturteile handelt, versucht Nussbaum (vgl. 2001, 30) dabei anhand von vier Aspekten105 zu verdeutlichen (vgl. ebd., 40f.): Erstens sind Emotionen demnach – wie bereits beschrieben – immer auf ein konkretes Phänomen bezogen. Zweitens werden diese Phänomene durch subjektive Perspektiven erschlossen, d.h. es erfolgt automatisch eine individuell geprägte Beurteilung des Phänomens. Drittens erfolgt die Beurteilung von Emotionen

102 Dieses Argumentationsmuster wird auch als Individuierungsthese bezeichnet und gilt als eines der stärksten Argumente der kognitivistischen Emotionsforschung (vgl. Weber Guskar 2007, 139). Neben mentalen Gehalten – so eine Zusammenfassung der These – kann demnach kein anderer Aspekt die Identität von Emotionen adäquat offenlegen (vgl. ebd.). 103 Bei den hier als kognitivistisch beschriebenen Emotionstheorien handelt es sich nicht um eine einheitliche Schule, sondern um zum Teil deutlich voneinander divergierende Ansätze (vgl. Hartmann 2010, 53). Eine ausführliche Darstellung der einzelnen Theorien ist jedoch nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung, dafür ist die vorliegende Literatur zu umfangreich. Der Fokus in diesem Kapitel liegt daher auf der Extra hierung eines brauchbaren Arbeitsbegriffes von Emotionen für die Politikdidaktik. 104 Auf Deutsch: Einschätzungen oder Werturteile. 105 Nussbaum (vgl. 2001, 40) selbst spricht in diesem Zusammenhang nur von drei Aspekten, fügt dabei jedoch m.E. nach einen Vierten hinzu.

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stets auf der Grundlage einer Reihe von Überzeugungen (Set of beliefs), die mit dem zugrundeliegenden Phänomen verknüpft werden106. Und viertens entstehen Emotionen nur dann, wenn die sie bestimmenden Phänomene vom Subjekt in Bezug auf das eigene Wohlergehen als relevant eingestuft werden. Diese Art von Relevanz nennt Nussbaum eudämonisch107 (vgl. Nussbaum 2001, 41). Dabei lassen sich der dritte und vierte Aspekt jedoch nur sehr unscharf vom Zweiten abgrenzen. So wird nicht deutlich, warum nicht bereits beim zweiten Aspekt die Anerkennung einer intrasubjektiven Relevanz des Phänomens sowie die Beurteilung desselben anhand eines Set of beliefs inkludiert sein sollte und beim dritten und vierten Aspekt scheint es sich nicht zwangsläufig um eigenständige definitorische Komponenten, sondern lediglich um Spezifizierungen des vorausgegangen zu handeln. Für die praktische Forschung irritiert zudem Nussbaums Neigung, die Intentionalität von Emotionen an die intrasubjektive Bedeutsamkeit oder das Interesse eines Menschen zu koppeln (vgl. Nussbaum 2001, 40f.; Hartmann 2010, 102). Dies widerspricht grundsätzlich den Arbeitshypothesen der vorliegenden Untersuchung. So wird hier generell angenommen, dass bei allen kognitiven Urteilsprozessen stets auch emotionale Elemente intrinsisch enthalten sind und zwar unabhängig davon, ob das urteilende Subjekt das zu beurteilende Phänomen (bewusst!) für sich als relevant einstuft oder nicht, da Emotionen und Kognitionen grundsätzlich untrennbar miteinander verbunden sind. Eine Annahme, welche zumindest im Einklang mit den aktuellen Erkenntnissen aus der Hirnforschung steht (vgl. Schandry 2011, 456-461; Damásio 2012, 64-85; Betsch et al. 2011, 129f.; Roth 1997, 178-212), nach denen eine wie von Nussbaum (2001, 37ff.) nahegelegte nicht-emotionale Beurteilung per se überhaupt nicht möglich ist. Bei allen Differenzen bezüglich der richtigen Definition von Emotionen muss Nussbaums (vgl. 2001) Ansatz108 in der Politikdidaktik allerdings schon deshalb Aufmerksamkeit erregen, weil sie darin Emotionen mit Werturteilen gleichsetzt. „Nach Nussbaum sind [Emotionen] nicht nur Reaktionen auf Urteile, sondern sie selbst sind Urteile“ (Weber-Gus-

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kar 2007, 138). Ihre Position diesbezüglich ließe sich wie folgt zusammenfassen: Für Nussbaum (2015, 46f.) kommt die Intentionalität einer bewussten oder unbewussten Wertung gleich, die sich auf alle Arten von Affizierungen bezieht. Wir können demnach keine Emotionen empfinden, ohne gleichsam den kognitiven Gehalt der Emotion zu beurteilen und erst durch diese Beurteilung lässt sich die spezifische Emotionsform bestimmen. Folgt man darüber hinaus Nussbaums These, dass Emotionen per se Kognitionen enthalten, wird deutlich, dass sie mit Hilfe des Urteilsbegriffes versucht, emotionale Kognitionen von anderen zu unterscheiden und ihre Sonderstellung zu betonen (vgl. Weber-Guskar 2007, 140). „Sie sind nicht irgendetwas, das ‘herumschwirrt’, nichts, was man gleich wieder vergisst, keine wechselnden Erwägungen, sondern [Emotionen] sind aktiv wahrgenommene Propositionen, die bestätigt und verinnerlicht werden.“ (ebd.). Emotionen sind demnach entscheidend für die Informationsverarbeitung und insbesondere für deren Gewichtung, indem sie äußerlichen und innerlichen Affizierungen eine Relevanz zuordnen, weshalb sich Emo106 Eva Weber-Guskar (vgl. 2007, 139) gibt hierfür das folgende Beispiel: „Für Zorn beispielsweise bedarf es eines komplexen Sets von Überzeugungen: Das ich durch jemanden Schaden gelitten habe, das dies kein trivialer, sondern ein gravierender Schaden ist und dass die Handlung wahrscheinlich absichtlich von jemanden getan wurde.“ (ebd.) 107 Wobei unklar bleibt, warum Nussbaum (vgl. 2001, 41) hier einen Begriff aus der antiken Philosophie wählt, welcher heutzutage eher dem Bereich des Spirituellen zu zuordnen ist und darüber hinaus als unpolitisch charakterisiert werden muss. So ist die Vorstellung Glückseligkeit, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit ließe sich durch das genaue Befolgen ethischer Prinzipien erlangen, eng an das antike Wahrheitsver ständnis gekoppelt. 108 Der Ansatz, Emotionen mit Urteilen in Verbindung zu bringen, ist im Allgemeinen nicht neu. Bereits in der Antike soll Sokrates das Urteilen eng mit Emotionen ver bunden haben (vgl. hierzu Landweer/Renz 2012, 6) und auch in der Moderne bringen eine ganze Reihe von kognitivistischen Ansätzen Emotionen mit Urteilen in Verbindung (vgl. stellvertretend: Solomon 2000, 256; Scheler 1948, 4ff.; Vaas 2000, 387).

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tionen in diesem Sinne tatsächlich als Werturteile109 beschreiben lassen110. Emotionen mit Kognitionen und Urteilen gleichzusetzen bedeutet zugleich einzuräumen, dass sie, wahr oder falsch bzw. angemessen oder unangemessen sein können (vgl. Nussbaum 2001, 46; Nussbaum 2015, 47). Dieser Punkt ist für die Politikdidaktik von besonderem Interesse. Folgt man hier der Überlegung von Nussbaum, ergeben sich daraus unmittelbare Ansatzpunkte für die politische Bildung. Wenn Emotionen angemessen sein können oder nicht, stellt sich natürlich die Frage, anhand welcher Kriterien und welcher individuellen Prägungen sich die emotionale Beurteilung von Welt vollzieht und ob diese prinzipiell mit den Mitteln der politischen Bildung beeinflussbar sind. Eine Frage, welche im weiteren Verlauf dieser Arbeit wieder aufgegriffen werden wird (vgl. Kapitel 10 und 22.4).

6.3 Die Sozialität von Emotionen Emotionen, so die im folgenden dargelegte These, können sich nicht ohne Weiteres entwickeln, sondern schließen bei ihrer Genese immer schon an Vorhandenes an. Was aber ist dieses Vorhandene und wie lässt es sich begrifflich fassen? Prinzipiell bieten sich für die Theoriebildung unterschiedliche Erklärungszugänge an. So wäre aus einer politikwissenschaftlichen und soziologischen Perspektive z.B. die Einbeziehung von Norbert Elias‘111 (vgl. 1997, 323) Beschreibung des Wandels von Persönlichkeitsstrukturen in seinem Werk Über den Prozeß der Zivilisationen im Hinblick auf ihr Empfinden und Verhalten oder der in Anlehnung an Pierre Bourdieus (vgl. 2013) verwendete Begriff vom Habitus genauso denkbar wie die Fokussierung auf poststrukturalistische Ansätze, wie etwa dem von Michel Foucault (vgl. 2010), der sich u.a. mit der diskursanalytischen Bestimmung von Mächten auseinandersetzt. Darüber hinaus scheinen auf den ersten Blick auch entwicklungspsychologische oder -biologische Perspektiven durchaus geeignet, um die Genese von Emotionen in einen größeren Rahmen zu erklären (vgl. Hartmann 2010, 139-147). Bevor entsprechen-

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de Ansätze diskutiert werden, sollen aber zunächst einige übergreifende Überlegungen hierzu aufgegriffen werden, welche m.E. nach im Besonderen dazu geeignet sind, die Maschen im Netz einer politikdidaktischen Emotionstheorie enger zu weben und eine valide Interpretation des erhobenen Datenmaterials (vgl. Kapitel 17) zu ermöglichen. Brauchbar hierfür erscheinen u.a. die philosophisch geprägten Erklärungsansätze von Charles Taylor (vgl. 2012) und Martin Hartmann (vgl. 2010), welche beide – zumindest in groben Zügen – bemüht sind, politische, soziologische und psychologische Erklärungskomponenten miteinzubeziehen. In Anlehnung an Charles Taylor (vgl. 2012, 65f.) operiert Hartmann (vgl. 2010, 139) dabei mit dem Begriff des Selbstverständnisses (bzw. Selbstbild), welcher sich im Besonderen dafür eignet, ein erstes Verständnis der Hintergründe von Emotionen zu klären. So kann unter Selbstverständnis die Art verstanden werden, wie man sich selbst auf der Grundlage des eigenen Weltzugangs „versteht und interpretiert“ (Hartmann 2010, 139). Nach Taylor (vgl. 2012, 65) ist das Selbstverständnis dabei sozusagen die zentrale Instanz, wenn es um die kognitiven Komponenten von Emotionen geht. Die These lautet dabei, dass sich über unser Selbstverständnis – bewusst oder unbewusst – eine Beurteilung der intentionalen Anteile von Emotionen entlang unser individuellen biographischen Lage vollzieht. Das Selbstverständnis fun-

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Allerdings gibt es auch Kritik an der Klassifizierung von Emotionen als Urteile. So weist etwa Eva Weber-Guskar (vgl. 2007, 146.) die Gleichsetzung von Werturteil und Emotionen als unangemessen und verkürzt zurück. Sie verwendet dabei m.E. nach mitunter aber auch Argumentationsmuster, die nicht immer eine valide Überzeugungskraft besitzen, etwa dann, wenn sie Emotionen die Eigenschaft abspricht, wahr oder falsch bzw. angemessen oder unangemessen sein zu können (vgl. ebd., 144ff.). Damit ist noch nicht gesagt, wie sie dies grundsätzlich tun und nach welchen Kriterien Affizierungen emotional gewichtet werden (Vergleiche hierzu auch Kapitel 6.3). In Elias‘ zweitem Band über den Prozess der Zivilisation findet sich zudem auch eine Auseinandersetzung mit den Emotionen Scham und Peinlichkeit, welche er neben dem Phänomen der Rationalisierung als für die gesellschaftliche Strukturierung besonders bedeutende Phänomene hervorhebt (vgl. Elias 1997, 408).

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giert dabei als eine Art Filter von Welt, indem es Relevantes von weniger Relevantem und Irrelevantem trennt. Hartmann führt hierzu aus: „Das, worum ich mich sorge, das, was mir wichtig ist, das, was mir etwas bedeutet, gibt mir Gründe für Gefühle“ (Hartmann 2010, 139f.). Hinter der intrasubjektiven Welt der Emotionen verbirgt sich demzufolge ein je eigenes Verständnis des Selbst, welches sich wiederum aus einem subjektivierten Verständnis der Welt speist. Folgt man diesen Annahmen, dann gibt es „keine objektive Dimension jenseits dieses Selbstverständnisses, die unsere Gefühle angemessen beschreiben könnte.“ (Hartmann 2010, 140)112. Wenn Emotionen hier also mit Werturteilen gleichgesetzt werden, dann nicht in einer generalisierbaren, sondern in einer höchst subjektiven Form. Auch wenn diese Werturteile vom Hochsitz der Objektivität aus betrachtet falsch oder unangemessen sein können, tragen Emotionen vom Subjekt aus gesehen doch stets ihre eigene Evidenz in sich (vgl. Hartmann 2010, 91). Allerdings – und das ist für die Politikdidaktik von entscheidender Bedeutung – stellt unser Selbstverständnis dabei kein unveränderliches, statisches Gebilde dar, sondern wandelt sich im Laufe unseres Lebens und passt sich dabei stetig unser aktuellen Sicht auf Welt an (vgl. Konrad/ Traub, 1999, 9ff.; Hartmann 2010, 145)113. Unser Selbstverständnis und damit unsere Lesart von Emotionen scheinen daher prinzipiell bildungsfähig zu sein. Ein Ansatz, der auch von den Vertreter*innen der sogenannten emotionalen Intelligenz geteilt wird (vgl. Mayer et al. 2004). Im Rahmen ihrer empirisch gestützten Thesen gehen John D. Mayer, Peter Salovey und David R. Caruso (vgl. 2004, 206ff.) ebenfalls davon aus, dass es per se möglich ist, eine gewisse Steuerungskompetenz bezüglich der eigenen Emotionen zu erlangen. Wie eine solche Kompetenz für politische Phänomene aussehen könnte, bleibt dabei jedoch zunächst offen. Im Hinblick auf die Komplexität von politischen Sachverhalten und unter Berücksichtigung einer durch die eigene Weltsicht geprägten emotionalen Prägung,

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dürften sich für eine solche Kompetenz jedenfalls nur schwerlich objektivierbare Kriterien identifizieren lassen. Verdeutlichen lässt sich dies anhand eines Beispiels von Hartmann (vgl. 2010, 140f.), welches zwar nicht auf ein politisches, sondern auf ein soziales Phänomen abzielt, dessen Schlüsse aber durchaus auch auf politische Phänomene übertragbar scheinen. So ist es nach Hartmann (vgl. ebd.) nicht möglich, für das Phänomen der Eifersucht harte Kriterien darüber aufzustellen, ab wann eine Eifersucht als berechtigt gelten kann. Als Grund hierfür identifiziert er, dass die: „Wahrnehmungsanalogie [...] zu wenig die Interpretationsabhängigkeit der Eifersucht selbst [berücksichtigt], für die es keine eindeutigen evaluativen Eigenschaften an den Dingen gibt, die sie letztgültig als berechtigt ausweisen könnten.“ (Hartmann 2010, 140f.). Anders ausgedrückt muss bei der Interpretation von Emotionen – gleich ob den eigenen oder fremden – stets das der Emotionen zugrundeliegende Selbstverständnis einer Person mitberücksichtigt werden, wodurch bestenfalls ein subjektives Verständnis ermöglicht wird. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass sich ein Selbstverständnis „nicht auf einzelne Überzeugungen oder Gedanken bringen [lässt], aber […] [den] Status oder die Implikationen einzelner Überzeugungen oder Gedanken beeinflussen [kann].“ (Hartmann 2010, 142). Trotz aller Subjektivität bei der Genese von Emotionen wäre dennoch die Einnahme einer resignierenden, solipsistischen Position als verfrüht zurückzuweisen. Dass es durchaus Hoffnung gibt, zumindest die Intentionalität von Emotionen, welche in ein subjektiv, evidentes Selbstverständnisses eingebettet sind, adäquat zu rekonstruieren, werde ich in Kapitel 17

112 Auf die empirischen Folgen, die hieraus für die politische Emotionsforschung resultieren, wird auch in den Kapiteln 1 ; 1.3 und 22 eingegangen. 113 Konrad und Traub (1999, 9) sprechen dabei zwar nicht direkt vom Selbstverständ nis, sondern vom Selbstkonzept, im Rahmen des selbstgesteuerten Lernens. Beide Begriffe zielen m.E. nach jedoch auf denselben inhaltlichen Kern und werden hier daher synonym verwendet.

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ausführlich darlegen. Hilfreich hierfür ist die Tatsache, dass gemeinsame kulturelle Erfahrungen es uns erlauben, subjektive Verständnisse von Welt von außen nachzuvollziehen (vgl. Hartmann 2010, 145). Wovor wir uns beispielsweise fürchten, ist auch eng verbunden mit einer geteilten sozialen Wahrnehmung von Welt. Die Angst vor Dämonen (Dämonophobie) oder die Angst vor Hexen (Wiccaphobie) dürften in unserem Kulturkreis z.B. keine weit verbreiteten Ängste mehr darstellen. Die Angst vor dem Alleinsein (Isolophobie) oder vor Gewichtszunahme (Obesophobie) sind demgegenüber heutzutage möglicherweise deutlich stärker ausgeprägt als in früheren Zeiten. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass die intentionale Seite von Emotionen durch die vorherrschenden Diskursstrukturen innerhalb einer Gesellschaft geprägt sind (vgl. Foucault 2010, 10f.; Nussbaum 2016, 597f.). Unsere Emotionen sind aus diesem Grund – so meine Arbeitsthese – der äußerliche Ausdruck 114 einer von uns verinnerlichten Normierung, welche sowohl unser evolutionäres Erbe als auch unsere kulturelle Sozialisation sowie unsere individuelles Selbst 115 widerspiegelt. So ist jedes Selbstverständnis und damit auch gleichsam die aus ihm erwachsende emotionale Intentionalität letztlich ein Produkt der sozialen und historischen Gegebenheiten innerhalb eines spezifischen geographischen und zeitlichen Raums. Die Berücksichtigung dieser Bedingungen erlaubt uns ein elaboriertes Verständnis von emotionalen Prozessen. An dieser Stelle offenbart sich auch die Schwäche einiger entwicklungspsychologischer oder -biologischer Ansätze, welche zwar die „natürliche“ oder „soziale Umwelt“ miteinbeziehen, darüber hinaus jedoch – anders als z.B. phänomenologische und philosophische Ontologien – die „soziale Position“ (Hartmann 2010, 145.) einer Person oftmals vernachlässigen, wodurch sie bestimmte emotionale (Handlungs-)Intentionen116 nicht erklären können. Durch die Einführung des Selbstverständnisses und seiner Bedeutung für die Intentionalität von Emotionen sollte deutlich geworden sein, dass die Betrachtung und Interpretation von Emotionen innerhalb

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eines größeren Rahmens eingebettet werden muss. Insgesamt gibt es daher gute Gründe, unser Selbstverständnis im Zusammenhang mit Emotionen näher zu betrachten. Schließlich muss die Einbettung von Emotionen in ein durch die (subjektive) Welt geprägtes Selbstverständnis sowie das Eingeständnis, dass Emotionen evolutionsbiologische Komponenten enthalten (vgl. Kapitel 6.1), zu einer Verschiebung ihrer Beurteilung sowie des didaktischen Umgangs mit Emotionen führen. Hartmann (2010, 141) nennt dies den Bruch mit der „methodischen Isolation“ von Emotionen. Auch lassen sich Emotionen nicht losgelöst von dem kontextuellen Selbstverständnis ihrer/s Träger*in betrachten, was ebenfalls weitreichende Folgen für das methodologische Setup der vorliegenden Arbeit mit sich bringt (vgl. Kapitel 16.2).

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Johann Gottfried Herder – hier wiedergegeben nach Joas (2012, 119) – postuliert in seinem Aufsatz Abhandlung über den Ursprung der Sprache, – welcher 1770 von der königlichen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurde, – dass der Ausdruck nicht in dualistischer Weise als die wahrnehmbare Darstellung des im Inneren schon festgelegten nach Außen verstanden werden darf. Der Ausdruck des eigenen Inneren (wenn man überhaupt mit der Metapher des Inneren operieren möchte. Letztlich bleibt nämlich immer die Frage, was dieses ominöse Innere eigentlich sein soll) ist in keiner Weise absehbar. Auch nicht für das Subjekt selbst. Erst die mühselige Arbeit der Reflexion des wahrgenommenen Ausdrucks kann Aufschluss über unser sogenanntes Inneres geben. Wenn man das Urteilen mit dem Ausdruck im Hinblick auf Emotionen verbindet, wird daher deutlich, dass die im Urteil enthaltende Potentialität erst durch die Reflexion der spezifischen emotionalen Ausdrucksform des Urteils erkennbar werden kann. Zum Begriff des Selbst vgl. beispielhaft Konrad und Traub (1999, 9). Hartmann (vgl. 20010, 145) gibt hierzu das Beispiel, dass nur wenige Personen die tatsächliche Möglichkeit haben, einen Krieg zu befehlen. Ohne den Einbezug der sozialen Position von Personen ließen sich daher einige emotionale Intentionen oder Absichten nicht hinreichend erklären.

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Eine theoretische Annäherung

6.4 Zusammenfassung Auch wenn man alle sieben hier dargestellten Definitionsmerkmale von Emotionen berücksichtigt, lassen sich Emotionen dennoch nicht zweifelsfrei individuieren. Zwar ist es der psychologischen Emotionsforschung gelungen, sogenannte fundamentale Emotionen und ihren mimischen Ausdruck weltweit nachzuweisen (vgl. Izard 1999, 23), vorerst erlaubt diese Technik aber nur eine recht begrenzte und grobe Einteilung von Emotionen allein aufgrund ihrer physischen Merkmale. Die Intentionalität von Emotionen bleibt dabei gänzlich unberücksichtigt. Aber auch kognitivistische Erklärungsversuche müssen einräumen, dass es bislang nicht gelungen ist, eine spezifische Intentionalität mit einer bestimmten Emotion und zwar – das ist entscheidend – nur mit dieser Emotion in Verbindung zu bringen (vgl. Hartmann 2010, 97). Phänomenologische Ansätze verfolgen daher die Absicht, die Individuation von Emotionen an ihre individuellen, leiblichen Empfindungen zu koppeln (vgl. Ferran 2008, 155). Allerdings bieten auch diese Ansätze aufgrund ihrer rein durch Introspektion gewonnenen Erkenntnisse und dem damit einhergehenden methodischen Problem wie der fehlenden Verallgemeinerbarkeit sowie der grundlegenden phänomenologischen Schwierigkeit, Unaussprechliches mit den Mitteln der Sprache zu beschreiben (vgl. Hartmann 2010, 84), keinen befriedigenden Ausweg. Ein praxistauglicher Ansatz zur Erforschung von Emotionen kann sich daher weder auf ein solides ontologisches noch methodisches Fundament stützen, mit deren Hilfe sich empirisch valide Erhebungsmethoden konstruieren ließen. Der empirische Ansatz dieser Arbeit muss daher in dem Bereich der explorativen Grundlagenforschung verortet werden (vgl. Kapitel 1.3). Dennoch zeigt die hier erfolgte Explikation, dass gerade empirische Zugriffe aus den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen eine Theorie der Emotionen maßgeblich weitergebracht haben. So ist es letztlich dem Einbezug verschiedenster Denk- und Forschungsansätze zu verdanken, dass der Deckungsgrat zwischen Theorie- und Praxisfeldern scheinbar beträchtlich zugenommen hat.

7 Emotionen und Politik Die nachfolgende historische Aufarbeitung der funktionalen Rolle von Emotionen innerhalb der politischen Theoriegeschichte ist m.E. schon deshalb unumgänglich um, im Sinne des vorab skizzierten Wissenschaftsverständnisses (vgl. Kapitel 1.2), an vorhandene Theorieansätze anschließen zu können. Zudem lassen sich erst mit Kenntnis diskursrelevanter Inhalte und ihrer Historizität systematische Überlegungen bezüglich der Konzipierung des empirischen Settings vornehmen (vgl. Kapitel 13). Dementsprechend geht es nachfolgend auch weniger um weitere Fragen der Begriffsbestimmung (vgl. hierzu u.a. die Kapitel 2; 3; 6), sondern um die funktionale Rolle von Emotionen in historisch-politischen Kontexten. Freilich muss sich eine solche Auswahl auf die Darstellung einiger exemplarischer Splitter beschränken und kann nicht den Anspruch für sich erheben, eine vollumfängliche Chronologie darzulegen. Die Auswahl folgt daher einem Muster, welches sich im gesamten Theorieteil niederschlägt, indem die Epochen von der Antike bis zur Gegenwart durchschritten werden. Um dabei nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit zu verfallen, wurde sich dabei auf Ansätze konzentriert, welche in der Theoriegeschichte einen langen Schatten werfen und bis heute signifikanten Einfluss auf die aktuelle Theoriebildung ausüben, was sich u.a. an dem hohen Grad ihrer Verwendung innerhalb zentraler Standardwerke aus den Bereichen der Soziologie und der Politikwissenschaft117 ablesen lässt.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_7

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7.1 Antike Traditionen In dem antiken griechischen Stadtstaat Athen waren sich Denker wie Platon, Thukydides und später auch Aristoteles – nach dem, was wir heute wissen – darüber einig, dass die Demokratie gegenüber massenpsychologischen, emotional geprägten Manipulationsformen weitgehend schutzlos war (vgl. Jörke 2012, 29). So beschreibt etwa Thukydides118 (vgl. 2016, 467481), dass es auf der Agora mitunter zu bitterlichen Rededuellen zwischen Protagonisten kam, welche für konträre Positionen warben, und dass es dabei gerade den Redner*innen, welche es vermochten, ihr Publikum emotional einzunehmen, gelang, die Menge für sich zu gewinnen119. Ein Beispiel für ein solches Rededuell120 ist Thukydides‘ Schilderung des Aufeinandertreffens der Athener Nikias und Alkibiades (vgl. ebd.), welche sich einen rhetorischen Schlagabtausch um die Notwendigkeit der Entsendung einer Kriegsflotte zu Gunsten der sizilianischen Stadt Segasta liefern. Der ältere der Beiden, Nikias, argumentiert dabei überwiegend

117 Den Orientierungsrahmen bilden die Werke: Hilge Landweer/Ursula Renz (Hrsg.) (2012): Handbuch Klassische Emotionstheorien. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.; Karl-Rudolf Korte (Hrsg.) (2015): Emotionen und Politik. Begründung, Konzeptio nen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung. Baden Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.; Felix Heidenreich/Gray S. Schaal (Hrsg.) (2012): Politische Theorie und Emotionen. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.; Konstanze Senge/Rainer Schützeichel (Hrsg.) (2013): Hauptwerke der Emotions soziologie. Wiesbaden: VS Springer Verlag. 118 Die Schilderungen des Thukydides stellen – wie dies bei allen historischen Quellen der Fall ist – keine objektive Wahrheit dar, sondern sind durch ihre subjektive Welt sicht gefärbt. Dennoch ist der erkenntnistheoretische Wert historischer Erzählungen unumstritten und Thukydides Schilderungen stellen diesbezüglich wohl eine der wichtigsten Quellen für die griechischen Antike dar. 119 Konträr hierzu klassifizierte Aristoteles (vgl. Arist. Rhet. 1, 1, 1354b 4) emotionale Gehalte eher als juristische und weniger als politische Sprache, dennoch ist er sich durchaus über den Einfluss von Emotionen innerhalb politischer Urteils- und Willens bildungsprozessen bewusst (vgl. Arist. Rhet. 2, 1,).

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zweckrational121, wobei er die Kosten einer solchen Unternehmung gegen den vermeintlichen Nutzen abwägt und schließlich zu dem Schluss gelangt, dass die Nachteile einer solchen Expedition überwiegen, weshalb er seinen Landsleuten von einer Kriegsbeteiligung abrät (vgl. ebd., 471f). Sein Widersacher Alkibiades122 hingegen spricht primär die Gemütslage der Volksversammlung (Ekklesia) an. Indem er Wertevorstellungen wie Ehre oder Glanz (vgl. ebd., 473f.) betont123, gelingt es ihm, die Ekklesia zu seinen Gunsten zu beeinflussten und innerhalb der Bevölkerung ein starkes Drängen auf den von ihm favorisierten Feldzug auszulösen (vgl. ebd., 477). Dass sich anhand dieses Beispiels aus der Antike der bewusste Einsatz von Emotionen innerhalb eines politischen Willensbildungs- bzw. Urteilsprozesses beobachten lässt, wird auch an der Reaktion des Nikias deutlich. Dieser spricht, als er wahrnimmt, dass die Stimmung der Menge aufgrund der emotionalen Appelle seines Widersachers Alkibiades beginnt,

120 Welches in ausführlicher Form auch bei Jörke (vgl. 2012, 30ff.) dargestellt wird. 121 Wobei Jörke (vgl. 2012, 30f.) hier ergänzend anführt, dass Nikias seinen direkten Widersacher Thukydides auch persönlich angreift und ihm u.a. wegen seines geringe ren Alters eine solide Urteilskraft in Angelegenheiten der Kriegsführung abspricht. Damit verletzt Nikias in der Analyse von Jörke (vgl. 2012, 31) ein sittliches Tabu der antiken politischen Kultur. Dass Nikias sich zu diesem persönlichen Angriff hinreißen ließ, versteht er als ein Indiz dafür, dass selbst die ansonsten sittlichsten Redner vor der Volksversammlung nicht darum herumkamen, ihre Anliegen emotional aufzula den (vgl. ebd.). 122 Alkibiades stand zu der Zeit „in hohem Ansehen bei den Bürgern“ (Thukydides 2016, 472), wodurch seine charismatische Strahlkraft und damit sein starker emotionaler Einfluss möglicherweise erklärt werden können. 123 Inhaltlich argumentiert er, dass durch eine aggressive Außenpolitik die Sicherheit Athens am besten zu bewahren sei (vgl. Thukydides 2016, 475ff.).

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sich gegen ihn zu wenden, gezielt die älteren Zuhörer*innen an und fordert diese auf, sich nicht ihrer Vernunft zu schämen bzw. sich nicht als Feigling zu empfinden, nur weil man einen Kampf zum besten Wohle Athens versucht zu vermeiden (vgl. ebd., 471). Letztlich jedoch verhallt auch diese Bitte und die Volksversammlung stimmt mit einer überwiegenden Mehrheit für den von Alkibiades proklamierten Feldzug124 (vgl. Busolt 1967, 1277). Thukydides vermerkt hierzu in seiner Schilderung, dass sich unter den Befürworter*innen wohl viele befanden, welche eigentlich gegen ein solch riskantes Unterfangen waren, dass sie jedoch aus Furcht andernfalls „in den Ruf eines Staatsfeindes [zu] kommen“ (Thukydides 2016, 480), wider besseren Wissens, ihre Zustimmung gaben. Nach Thukydides‘ Wiedergabe der Ereignisse lassen sich demnach mindestens zwei Aspekte in Bezug auf Emotionen und ihren Einfluss beim politischen Urteilen festhalten. Zum einen kann es Redner*innen gelingen, durch den gezielten Einsatz von emotionalen Narrativen fehlende oder mangelnde Sachargumente bis zu einem gewissen Punkt auszugleichen oder sogar zu übertrumpfen und zum anderen können emotionale Korrelate auf Seiten der Zuhörerschaft zu Urteilshandlungen führen, welche konträr zu ihren rationalen Überzeugungen liegen. Auch auf theoretischer Ebene macht man sich in der Antike dabei über die Rolle von Emotionen in politischen Kontexten bereits Gedanken. So wurde etwa die durch emotionale Narrative mögliche Manipulation der Menge bereits als ein demokratietheoretisches Defizit betrachtet (vgl. Jörke 2012, 29; 35). Sowohl bei Thukydides als auch bei Platon ist es die durch wortmächtige Redner geschürte Leidenschaft der ,Masse‘, die für eine rationale Entscheidungsfindung wenig bis gar keinen Spielraum lässt. Entsprechend deutlich fällt ihre Kritik an dem Einfluss der Rhetoren aus, die sie als Verführer des Volkes diffamieren. Doch die Kritiken durch Thukydides und später dann durch Platon haben wenig an den demokratischen Praktiken und dem Einfluss der Rhetoren ändern können. (Jörke 2012, 35).

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Trotz aller Einigkeit über die Relevanz von Emotionen und Stimmungen beim politischen Urteilen, so entwickelten sie doch verschiedene konzeptionelle Vorstellungen davon, wie ein gelungener Umgang mit diesen aussehen könnte. Platon (vgl. 1950, 62ff.) etwa suggeriert in seinem Werk Ein Gastmahl, dass ausschließlich die Masse für emotionale Manipulationen anfällig sei, die Urteilskraft der geistigen Elite hingegen sei vor derlei Versuchen gefeit. Die Lösung liegt für Platon (vgl. Plat. Rep. 435b-435e) daher darin, die emotionalen Leidenschaften des Menschen institutionell einzuhegen, indem man den Staat entlang der von ihm postulierten Seelenteile125 des Menschen in ein triadisches Stützkorsett gliedert, welches die Manipulierbarkeit der geistig Schwachen ausgleicht und eine Herrschaft der Vernunft, d.h. durch die Philosophen garantiert. Sein Schüler Aristoteles hingegen vertritt bei dieser Frage – wie in vielen anderen auch – bereits eine modernere Position, welche sich weit weniger dogmatisch oder idealistisch präsentiert (vgl. Arist. Rhet. 2, 1,). So widmet er sich in seinem Werk Rhetorik ausgiebig der Frage, wie es einer redenden Person gelingen kann, die Zuhörerschaft emotional zu fassen und für die eigene Sache zu gewinnen (vgl. ebd.). Anders als Platon (vgl. Plat. Rep. 543a-517a) begreift er dabei Emotionalität nicht überwiegend als Gefahrenquelle für politische Prozesse, sondern erachtet sie als absolut notwendig. Allerdings nicht, weil er Emotionalität und Kognition als zwei nicht voneinander untrennbare Phänomene begreift, sondern aufgrund der „Verderbtheit des Zuhörers“ (Arist. Rhet. 3, 1, 1404a 10). Sie ist der 124 Die Sizilien-Expedition von 415 bis 413 v. Chr. leitete letztlich den Untergang des autonomen Stadtstaates Athen ein, der sich von den erlittenen Verlusten nicht mehr erholen konnte (vgl. Busolt 1967, 1399f.). 125 Nach Platons (vgl. Plat. Rep. 438d-441c) ursprünglicher Seelenlehre setzt sich die menschliche Seele aus drei Anteilen zusammen: einem begehrenden, einem muthaften und einem vernünftigen Teil. Ganz wie später bei Sigmund Freud (vgl. 2001, 41-44) dem Über-Ich kommt dabei dem vernünftigen Anteil die Funktion zu, die beiden an deren zu bändigen.

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Grund dafür, dass eine rein auf Vernunft basierende Rhetorik niemals das effektivste Mittel im politischen Wettstreit darstellen könne. Er empfahl daher, den (politischen) Rhetoriker*innen einen triadischen Ansatz, welcher (a) sich an den vorhandenen Sachargumenten (Logos) orientieren soll, (b) den eigenen Charakter (Ethos) berücksichtigt und (c) gleichzeitig die beabsichtigte Gemütslage (Pathos) der Zuhörer*innen herzustellen weiß (vgl. Arist. Rhet. 1, 2, 1356a). Wollte Platon noch den Menschen vor sich selbst schützen, indem er empfahl, die Staatsgewalt in die Hand derjenigen Menschen zu legen, die aufgrund ihres überlegenen Intellekts vor jeglicher emotionaler Manipulation gefeit seien, entwickelt Aristoteles also einen weitaus weniger elitären Ansatz. Nach ihm sollten Emotionen innerhalb politischer Prozesse zwar gezielt, aber nicht beliebig eingesetzt werden. So verbindet er das Ansprechen der Gemütslage der Zuhörer*innen und das Einbringen des eigenen emotionalen Charakters mit einer klaren Sachargumentation. Damit wird zumindest implizit deutlich, was kognitivistische Emotionstheorien und politische Theorieansätze in Bezug auf Emotionen mehr als 2000 Jahre später ausführlich darlegen werden (vgl. Nussbaum 2015, 46f.), nämlich, dass Emotionalität untrennbar mit Kognitionen, d.h. mit der Intentionalität des Denkens verbunden ist (vgl. Kapitel 6) und dass Emotionen zwar inhärente Bestandteile politischer Prozesse darstellen, diese aber auch nicht alleine dominieren (vgl. Kapitel 8).

7.2 Christliche Traditionen Der Einfluss der christlichen Tradition innerhalb der abendländischen politischen Institutionen, den amtierenden Denkschulen und kulturellen Errungenschaften (u.a. Kunst, Musik, Architektur, Schrift, Sprache, Erziehung etc.) ist unumstritten (vgl. Antes 2002). Es dürfte daher wenig verwundern, wenn sich der christliche Einfluss auch auf das gesellschaftliche sowie individuelle Verständnis von Emotionen ausgedehnt hat. Dabei gilt

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de facto auch für die christlich Lehre, dass es keine einheitliche Auslegung ihrer normativen Ideologie gibt. Es soll daher im Folgenden auch nicht der Eindruck vermittelt werden, es ließe sich eine solche widerspruchsfreie Lehre zum Thema der Emotionen identifizieren. Studiert man die historischen Quellen, wird im Gegenteil schnell deutlich, wie sehr sich die einzelnen Positionen voneinander unterscheiden (vgl. u.a. Brungs 2012; Pickavé 2012). Diese Diversität soll hier nicht verschleiert werden, dennoch lässt sich bei aller Komplementarität bezüglich des (richtigen) Umgangs mit Emotionen gleichsam auch eine Konvergenz innerhalb der unterschiedlichen Ansätze identifizieren. So bleibt das Motiv und die Zielperspektive der christlichen Emotionslehre stets das Gleiche: Nur durch den richtigen Umgang mit Emotionen lässt sich ein gottgefälliges Leben führen. Dabei ähneln frühchristliche Vorstellungen von Emotionen (ca. 243 n. Chr.), wie sie etwa von Origenes (vgl. 1996, 249) in seinen Kommentaren126 auf den sogenannten Römerbrief von Paulus von Tarsus (vgl. Röm. 1-16) dargelegt werden, bereits in gewisser Weise den bedeutend später von James (vgl. 1884) aufgestellten Thesen, wonach Emotionen körperliche Reaktionen repräsentieren (vgl. Kapitel 6). In Anlehnung an die vom Apostel Paulus von Tarsus (vgl. Röm. 2,28-29) vertretene Dichotomie von Geist und Fleisch wird der Mensch dabei angehalten, „[alle] Regungen, die dem Menschen nicht in erster Linie als geistesbegabtem, sondern als körpergebundenem Wesen zukommen [, zu bekämpfen].“ (Brungs 2012, 165). Die dabei zugrundeliegende Idee lässt sich wie folgt zusammenfassen. Erst durch die Askese, welche den Verzicht auf ein individuelles emotionales Empfinden miteinschließt, kann der Mensch sich von seinem als sündig geltenden Fleisch emanzipieren und ein Gott zugewandtes Leben führen 126 Origenes‘ Kommentare sind nur in der durch Rufin überarbeiteten und gekürzten lateinischen Version überliefert, auf die sich auch die hier verwendete deutsche Über setzung bezieht.

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(vgl. Brungs 2012, 167). Nach Origenes (vgl. 1996, 255-267) ging es dabei aber nicht um eine permanente Unterdrückung von emotionalen Empfindungen, sondern um das Erreichen eines Zustandes, in dem man für Emotionen und Affekte gleichermaßen weniger erreichbar ist, ihnen also in gewisser Weise kühl und gleichgültig gegenübertritt127. Eine präventive Bekämpfung von Affekten und Emotionen wurde hingegen abgelehnt (vgl. ebd.) und hätte wohl auch wenig Erfolg gehabt128, da durch sie Affekte und Emotionen zwangsläufig wieder in den Lebensmittelpunkt gerückt worden wären (vgl. Brungs 2012, 167). Der als Wüstenmönch129 in die Geschichte eingegangene Evagrius (vgl. Joest 2012, 22-28), einer der bedeutendsten Anhänger der origenistischen Lehre (vgl. ebd., 13), präzisierte Origenes‘ Vorstellungen später, indem er in seinem Verhaltenskodex für Mönche (ad monachos) ausführlich darlegte, welche Rolle Emotionen in einem frommen Leben spielen (vgl. Evagrius 2012, 170-215). Zwar gilt die Auslegung seiner Schriften insgesamt als Herausforderung130, dennoch wird seine Lehre von den heutigen Historiker*innen als der Versuch verstanden, alle sinnhaften Empfindungen131 (vgl. Evagrius 1978, 117) durch Geisteskraft (Kontemplation) aus dem Menschen zu tilgen und somit seine Seele, quasi

127 An dieser Stelle wird abermals die geistige Verbindung zu James Theorie (1884) besonders deutlich, da in beiden Fällen der physische Körper des Menschen als alleiniger Träger von Emotionen und Affekten begriffen wird (vgl. Kapitel 6). 128 „Denn ich weiß nicht, wieso, aber das Verbotene begehrt man heftiger.“ (Origenes 1996, 259). 129 Christoph Joest (vgl. Evagrius 2012, 23f.) weist in der Einleitung des von Marc Aeilko Aris et al. herausgegebenen Werkes von Evagrius Ponticus: Der Mönchs spiegel, der Nonnenspiegel, Ermahnungen an Mönche darauf hin, dass das Leben eines Wüstenmönches im heutigen Ägypten weit weniger isoliert und entbehrlich ge wesen ist, als vermutlich allgemeinhin angenommen wird. So lebte Evagrius Ponticus größtenteils in einer Mönchsgemeinschaft und pflegte darüber hinaus auch regelmä ßig ältere Kontakte und Freundschaften (vgl. Evagrius 2012, 22, 24).

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durch eine Apathie der Emotionen, zu befreien (vgl. Tibi 2012, 4f.; Brungs 2012, 168f.). Dabei sind es nach Evagrius (vgl. 1992, 29-87) vor allem acht Gedanken132, welche den Menschen von Dämonen eingeflößt werden und in diesen letztlich negative Emotionen hervorrufen. Insgesamt scheint sich in Evagrius‘ Werk ein Menschenbild zu entfalten, nach dem der Mensch zwar keinen Einfluss darauf ausüben kann, ob und wann sich Emotionen in ihm einnisten, er mental aber die Fähigkeit erlernen kann, ihre Gewichtung und Verweildauer zu beeinflussen und letztlich eine seelische Unabhängigkeit von ihnen zu erlangen. In diesem Punkt wird besonders deutlich, wie weit sich Evagrius von der Vorstellung einer reinen körperlichen Gebundenheit von Emotionen, wie sie noch von Origenes (vgl. 1996, 249) postuliert worden ist, entfernt hat und anstelle dessen den kognitivistischen Gehalt von Emotionen (vgl. Kapitel 6) betont. Zum Vorschein kommt dabei auch, was ich als allgemeines Muster der christlichen Emotionslehre bezeichne, nämlich, dass die christliche Lehre auf die Kontrolle und Bändigung von Emotionen abzielt, welche als ablenkende und störende Einflussgrößen auf dem Weg zu einem gottgefälligen Leben angesehen werden. Evagrius empfiehlt zu diesem Zweck ein Verfahren, das auch im modernen Emotionsmanagement eine Rolle spielt (vgl. Kapitel 8). Demnach sollen die einen an die Welt bindenden Emotionen durch eine auf Gott ausgerichtete 130 Das Rezipieren der Texte von Evagrius Ponticus unterliegt der Schwierigkeit, dass Evagrius bewusst und beabsichtigt seine Texte nur für Eingeweihte verfasst hat (vgl. Evagrius 2012, 126). 131 Im Original heißt es gar: „Glücklich ist der, der beim Beten zur vollständigen Empfin dungslosigkeit gefunden hat.“ (Evagrius 1978, 128). 132 „Acht sind die Gattungsgedanken, in denen jeglicher Gedanke enthalten ist. Der erste ist die Fresslust, darnach kommt der der Unzucht. Der Dritte ist der der Habsucht, der vierte der des Kummers, der fünfte der der Wut, der sechste der des Überdrusses, der siebte der des eitlen Ruhmes und der achte der des Hochmutes.“ (Evagrius 2008, 79). Die acht Gedanken des Evagrius gelten auch als die Vorläufer der sogenannten Tod sünden sowie der christlichen Lasterkataloge (vg. Brungs 2012, 168).

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Emotion (Liebe) übertüncht werden (vgl. Evagrius 2012, 171; Brungs 2012, 169). Die Liebe zu Gott fungiert dabei quasi als Antidot gegen alle weiteren Emotionen, welche die religiöse Liebesbeziehung stören und den Menschen in seiner weltlichen Existenz gefangen halten. Die von Evagrius und Origenes entwickelten und an die späte Stoa133 angelehnten Vorstellungen von Emotionen und ihr Einfluss auf das menschliche Handeln behaupten bis ins 12. Jahrhundert hinein eine dominierende Vormachtstellung innerhalb der christlichen Einflusssphäre (vgl. Brungs 2012, 169). Doch auch in den konzeptionellen Vorstellungen zu Emotionen des Dominikaners Thomas von Aquin, welche im Zuge des 13. Jahrhunderts entstanden, finden sich noch Spuren von Origenes und Evagrius Arbeiten134. Da im Mittelalter der Emotionsbegriff selbst noch unbekannt war (vgl. Pickavé 2012, 188)135, bezog sich Thomas136 (vgl. z.B. 1934, 56; 1934a, 181-197) in seinen Schriften zu diesem Thema zumeist direkt auf einzelne Emotionen (wie z.B. Liebe, Zorn, Hass). Insgesamt ähneln seine konzeptionellen Vorstellungen von Emotionen dabei in wesentlichen Zügen der Lehre von Origenes (vgl. 1996, 249), umfassten mitunter aber auch eine

133 Sowohl Origenes als auch Evagrius sind von der antiken, griechischen Philosophie und dabei insbesondere von den Schriften Platons bezüglich ihrer Auslegung, Inter pretation und Handlungsempfehlungen von emotionalen Phänomenen beeinflusst worden (vgl. Brungs 2012, 169ff.). 134 Allerdings ist die Auslegung seiner Texte diesbezüglich strittig und wird nicht von allen Historiker*innen geteilt, da Thomas von Aquin selbst das Wort Emotionen bzw. sein lateinisches Äquivalent (vmtl. motus von movēre), welches im Mittelalter als unbekannt galt (vgl. Pickavé 2012, 188), nicht verwendet hat (vgl. Pickavé 2012, 192f.). Dennoch gibt es m.E. nach und wie ich im Folgenden gedenke zu zeigen hinr eichende und valide Inzidenzen, die eine solche Annahme rechtfertigen. 135 Erst im 17. Jahrhundert entwickelte sich der heutige Emotionsbegriff aus dem französischen Wort émotion (bewegen) (vgl. Kluge 2011, 244).

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gewisse intentionale Gerichtetheit, wie bei Evagarius, wobei er sich im Allgemeinen jedoch darauf beschränkt, Emotionen als rein körperliches, physisches Phänomen zu beschreiben, deren kognitivistischen Anteile bestenfalls von sekundärer Natur sind (vgl. Pickavé 2012, 189f.). Das hieraus resultierende theologische Problem, das mitunter auch Engeln und Gott selbst Emotionen (z.B. Zorn) zugesprochen werden, ohne dass diese eine mit dem Menschen vergleichbare Leiblichkeit besitzen (vgl. Thomas 1934, 56), versucht Thomas (vgl. 1934a, 181-197) durch seine Vorstellung eines sinnlichen Strebevermögens137 zu umgehen. Demnach können sowohl Engel als auch Gott Emotionen nicht in Form von Leidenschaften, wohl aber über ihr Strebevermögen ausdrücken (vgl. ebd., 183; Pickavé 2012, 191). Aus heutiger Perspektive wirken die Ausführungen von Thomas stark konstruiert, aber auch im Vergleich mit seinen antiken oder christlichen Vorläufern enthalten sie überraschend wenig Originelles. So kann weder seine beliebig wirkende Inhaltsbestimmung einzelner Emotionen überzeugen (vgl. Thomas 1934a, 181-197) noch seine daraus hervorgehende Vorstellung der ebenfalls willkürlich erscheinenden elf Grundemotionen138 (vgl. Thomas 1955, 29f.), die er versucht zu rechtfertigen, indem er ihnen

136 Der häufigen Quellenrezitierung der Texte von Thomas von Aquin folgend wird im Folgenden lediglich sein Vorname für Zitierungen und Bezugnahmen verwendet. 137 Die Idee des Strebevermögens geht ebenfalls auf die griechische Antike zurück und hängt mit der dortigen Seelenvorstellung zusammen. Es wird unter anderem von Aris toteles (vgl. Arist. NE. 1102a-1103b, 1138b) in der Nikomachischen Ethik beschrieben und lässt sich wie folgt verkürzt zusammenfassen. Durch das Strebever mögen ist der animalische, vernunftlose Seelenanteil mit dem vernunftbewussten, menschlichen Anteil verbunden. Er stellt somit die Gelenkstelle dar, die es dem Menschen erst ermöglicht, aktiv auf äußere und innere Reize (wie z.B. Emotionen) zu reagieren. 138 Wobei es sich auch um den Versuch handelt, Emotionen auf der Meta-Ebene in zwei Emotionsklassen (überwindendes Vermögen und begehrendes Vermögen) zu sortie ren, deren Spezifika jedoch ebenfalls recht nebulös bleiben (vgl. Thomas 1955, 29f.).

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als Alleinstellungsmerkmal eine moralische Neutralität 139 (deren Beweis er allerdings schuldig bleibt) zuschreibt. Die berechtigte – zugegebenermaßen postum leicht zu übende – inhaltliche Kritik an Thomas‘ Darlegungen soll dieser jedoch nicht ihren unzweifelhaften historischen Mehrwert absprechen. So wurde sein Werk aufgrund der für die damalige Zeit nicht selbstverständlichen, mannigfaltigen Quellenvielfalt zum wertvollen Ausgangspunkt vieler späterer Abhandlungen (vgl. Pickavé 2012, 202). Im Übergang vom 15. ins 16. Jahrhundert begannen sich die feudalen Gesellschaftsstrukturen mehr und mehr aufzulösen und die kapitalistische Wirtschaftsweise gewann zunehmend an Bedeutung140. Zu dieser Zeit traten zwei der heute wohl noch bekanntesten christlichen Protagonisten auf: Martin Luther und Johannes Calvin. Ihr Wirken bzw. das ihrer Lehren auf die sich im Kapitalismus neuformierenden Gesellschaftsstrukturen wurde u.a. Anfang des 20. Jahrhunderts von Weber (vgl. 2010a) aus soziologischer und Mitte des gleichen Jahrhunderts von Erich Fromm (vgl. 2010) aus überwiegend psychologischer Perspektive betrachtet. Die dabei verfolgte Schwerpunktsetzung, zu untersuchen, ob und ggf. wie der aufkommende Protestantismus zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen hat, soll an dieser Stelle jedoch keine große Rolle spielen. Das primäre Interesse dieser Arbeit verpflichtet zunächst auf die Frage, ob spezifische Anzeichen dafür existieren, dass im Fahrwasser des sich neu entwindenden Kapitalismus sowie des sich parallel reformierenden Christentums gleichsam auch ein neues gesellschaftliches und individuelles

139 Durch ihre moralische Neutralität ließen sich demnach alle weiteren denkbaren Emotionen unter diese elf Grundemotionen subsumieren (vgl. Pickavé 2012, 199). 140 Deutliches Indiz hierfür war z.B. die globale europäische Expansion und die damit verbundene Akkumulation von Kolonialbesitztümern (vgl. BpB 2013, 110f.). 141 Es sollte jedoch nicht der Fehler begangen werden, die mittelalterliche Subsistenz wirtschaft in irgendeiner Art romantisch zu verklären. So waren die Lebensbedingun gen, unter denen der größte Teil der Bevölkerung litt, nicht nur nach heutigen Maß-

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Emotionsmanagement entstand. Die Grundlage für die Überlegung bilden dabei die ökonomischen und damit einhergehend sozialen Umwälzungsprozesse des frühen 15. Jahrhunderts. So war die damals noch weitverbreitete mittelalterliche Subsistenzwirtschaft – für heutige Vorstellungen nur noch schwer nachvollziehbar – nicht auf die fortwährende Akkumulation von materiellen Gütern ausgelegt, sondern konzentrierte sich auf die je individuelle Standeserhaltung141. „Es ist in Ordnung, wenn einer so viel Reichtum sammelt als für seinen standesgemäßen Unterhalt nötig ist. Mehr zu wollen, ist Habsucht, eine Todsünde.“ (Tawney 1946, 46). Ein übermäßiges Streben oder der starke Wunsch nach einer nicht standesgemäßen Akkumulation materieller Güter war somit nicht nur gesellschaftlich nicht anerkannt, sondern auch Ausdruck einer lasterhaften Lebensweise, die streng genommen, mit der Missachtung der göttlichen Ordnung einherging142. Ebenso beschreibt das Decretum Gratiani – als weitverbreitetes christliches Rechtsverständnis nach Richard Henry Tawney (vgl. 1946, 47) – wirtschaftliches Handeln keinesfalls als Selbstzweck und sieht das Anhäufen eines Übermaßes etwa als Ausdruck der im Sündenfall manifestierten menschlichen Schwäche, mit dem Allgemeingut nicht angemessen umgehen zu können. Nach einer Übersetzung von Fromm143 (2010, 46) heißt es dort: „Gemeinsam soll allen Menschen der Gebrauch von allem, was es auf der Erde gibt, sein“. Diese Ansichten trafen auch auf den im Zuge der sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsweise erstarkenden lokalen und überregionalen Handel zu (vgl. BpB 2013, 110f). Zwar galt er grundsätzlich in der katholischen Lehre als ein von stäben erschütternd (vgl. Bloch 1972, 82ff.). Das vorherrschende Wirtschafts verständnis zeichnete sich jedoch durch eine vorbestimmte Arbeitsteilung aus. „Kurz gesagt, die Gesellschaft dachte man sich nicht als Verkörperung eines wirtschaftlichen Egoismus, sondern als ein durch gegenseitige, abgestufte Pflichten zusammen gehaltenes Gefüge” (Tawney 1946, 39). 142 Auch wenn dies bekanntermaßen mitunter im krassen Gegensatz zum weltlichen Leben vieler kirchlicher Würdenträger*innen stand (vgl. Tawney 1946, 44).

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Gott gewollter Akt – als Beweis hierfür wird beispielsweise die ungleiche Verteilung von Bodenschätzen betrachtet, welche den Menschen zu kooperativem Verhalten und somit auch zum Handel anhält – grundsätzlich galt jedoch bei allen wirtschaftlichen Aktivitäten die Prämisse, dass ein nicht standesgemäßes Anhäufen von Reichtum von Gott als unsittlich und habsüchtig144 erachtet wird (vgl. Fromm 2010, 45; Tawney 1946, 31 und 46). Dies mag in der heutigen Zeit vielleicht wenig abschreckend wirken, in einer Epoche, in der die kirchliche Lehren jedoch von größter Bedeutung und ihre Verletzung mit der Vorstellung von ewiger Seelenpein verbunden war, dürfte diese Spannung zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsweise und der christlichen Lehre zu mehr als nur einem zaghaften individuellen emotionalen Unbehagen geführt haben. Kein Wunder also, dass Erich Fromm aus psychologischer Perspektive den Umbruch von der Feudalgesellschaft hin zu einer kapitalistischen Gesellschaft als eine Zeit beschreibt, welche durch „ein tiefes Gefühle der Unsicherheit und Ohnmacht, des Zweifels, der Verlassenheit und Angst“ (Fromm 2010, 51) geprägt wurde. Die reformistischen Ideen von Martin Luther und vor allem der in Anlehnung daran einstehende Calvinismus lassen sich m.E. unter dem Blickwinkel der Historizität einer Emotionstheorie daher auch als die Verheißungen eines emotionalen Auswegs aus diesem Dilemma verstehen. Luther (vgl. 1990, 231f.)145, dessen Werk sich in keiner Weise als ein stringentes Konstrukt auffassen lässt, vertrat die Auffassung, der Mensch sei von Natur aus grundsätzlich schlecht (Erbsünde). Die einzige Hoffnung, von Gott errettet zu werden, bestünde daher darin, die eigene Ohnmacht, Nichtig- und Bedeutungslosigkeit aktiv anzuerkennen und sich nicht, wie Teile des damaligen Bauernstandes, dagegen aufzubegehren146 (vgl. Luther 1525, 2). Denn nicht dem Menschen steht es zu, seinem Leben einen Sinn zu geben, der Sinn ist ihm durch Gott gegeben, so Luthers Lehre (vgl. Luther 1990, 228f.), und nur die völlige Unterwerfung unter Gottes Willen bringt daher (i.d.R. post mortem) die Hoffnung auf Erlösung mit sich. Luthers Anregungen zum Emotionsmanagement ähnelt also in gewisser

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Weise den bereits besprochenen asketischen Vorstellungen des Origenes (vgl. Brungs 2012, 167), nach dem die Menschen Heil erfahren, wenn sie sich von den sie geißelnden und an die weltliche Sphäre bindenden Emotionen weitgehend befreien und sich trotz möglichem gegenteiligen Empfinden einer höheren Autorität (Gott) Untertan machen. Für den angelsächsischen Raum vielleicht noch bedeutender als die Lehre Luthers ist in dieser Hinsicht die von dem Reformator Johannes Calvin begründete sogenannte calvinistische Schule (vgl. Fromm 2010, 66). Auch Calvin sah in der emotionalen Abkehr vom Diesseits den Schlüssel zur Erlösung im Jenseits. Die Liebe zur Welt bezeichnet er dabei als eine Schläfrigkeit, die es auszutreiben gelte (Calvin 1955, 229 [III,9,1]):

143 From (vgl. 2010, 46) selbst bezieht sich hier auf Tawney (vgl. 1946, 47) und über nimmt von ihm das lateinische Zitat. Da sich bei Tawney (vgl. ebd.) jedoch keine Übersetzung findet, nehme ich an, das diese von Fromm ergänzt wurde. 144 Die Habsucht bildet immerhin eine der sieben Todsünden. 145 Wenn nicht anders angegeben, beziehe ich mich in meiner Luther-Rezension haupt sächlich auf den 1519 von Luther verfassten Text Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Laien (Luther 1990). Daneben verwendete Sekundärliteratur sowie die ebenfalls aufgenommene reaktionäre Schrift Luthers Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (Luther 1525) werden gesondert ausgewiesen. 146 Bedeutende Teile der Bauernschaft hatten sich daher auch nicht mit Luther, sondern mit seinem zeitweiligen Gegenspieler Thomas Müntzer organisiert, um gegen die herrschenden Autoritäten (Fürsten) ins Feld zu ziehen, um auf diesem Wege bessere Lebensbedingungen zu streiten (Bloch 1972, 51-82). Hier drin zeigt sich mitunter auch ein Momentum von Luthers Doppelmoral. Während er für alle sichtbar die Au torität der Kirche in Frage stellte, verbündete er sich doch gleichsam mit den Fürsten gegen die aufbegehrende Schicht der Bauern. In seiner Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern – die allerdings als eine politische Schrift aufzu fassen ist – heißt es sogar: „Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, daß nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen muß: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und dein ganzes Land mit dir“ (Luther 1525, 2).

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Emotionen und Politik

„Unser Herz wird sich nie und nimmer ernstlich zum Verlangen und zum Trachten nach dem zukünftigen Leben erheben, wenn es nicht zuvor mit der Verachtung des gegenwärtigen erfüllt ist“ (Calvin 1955, 230 [III,9,1]). Die Lösung des sich daraus ergebenen emotionalen Dilemmas sieht Calvin in dem emotionalen Trost, der gläubigen Menschen widerfährt, wenn sie ihren Blick nicht „auf [ihr] eigenes eitles Wesen richten, […] sondern alle Sinne ihres Herzens auf Gottes Wahrheit lenken“ (Calvin 1955, 43 [III,2,23]). Im Gegensatz zu der Lehre Luthers, nach der die Menschen ihr Seelenheil durch ein gottgefälliges Leben erlangen können, vertritt Calvin jedoch eine noch radikalere Position. So ist der Mensch zwar in der Pflicht, sein Leben hinsichtlich der christlichen Moral auszurichten, er bezeichnet ihn dabei sogar als „Gottes Eigentum“ (Calvin 1955, 399f. [III,7,1], dies hat aber keinen Einfluss darauf, ob er letztlich errettet wird oder nicht. Welchen Menschen das Himmelsreich offensteht und für wen ein Platz in der Hölle reserviert ist, das steht nach Calvin (vgl. ebd.) von Geburt an fest. Allerdings, und hier zeigt sich die Vereinbarkeit zwischen dem neu aufkommenden Protestantismus und dem Kapitalismus in Abgrenzung zum Katholizismus des Mittelalters besonders deutlich, gilt ein gehobener beruflicher Fleiß als Anzeichen für eine göttliche Erwählung. So kommt es, dass sich die Auslegungen von Luther und von Calvin – wie z.B. in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von Weber (vgl. 2007) – gleichermaßen den Vorwurf gefallen lassen müssen, zwar den Kapitalismus nicht geschaffen, ihm aber zumindest einen spirituellen Nährboden bereitet zu haben. Darüber hinaus dürfte die dargestellte Fokussierung auf die Ausbildung einer Emotionsapathie innerhalb der christlichen Lehre dem Trugbild einer auf Rationalität beruhenden kapitalistischen Wirtschaftsweise zudem weiter Vorschub geleistet haben.

(Früh-)Moderne Traditionen

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7.3 (Früh-)Moderne Traditionen Als Vertreter der früh- bzw. modernen Tradition werden hier exemplarisch die Werke dreier Denker (Hobbes, Rousseau und Kant) beschrieben, deren Arbeiten zweifelsohne bedeutenden Einfluss auf die politische Weltenbildung genommen haben. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Auseinandersetzung steht dabei weiterhin die Frage, welche Rolle Emotionen in den Konzeptionen ihrer Arbeiten spielen und welche Erkenntnisse sich für die Gegenwart aus ihnen destillieren lassen. Wie bereits in den vorangegangen Kapiteln gilt auch hier, dass die dargestellte Auswahl lediglich einen Ausschnitt eines weitaus größeren Gesamtbildes repräsentiert und dass prinzipiell auch andere Werke zur Betrachtung herangezogen werden könnten147. 7.3.1 Thomas Hobbes Thomas Hobbes‘ Vorstellungen vom Staat sind unmittelbar an Emotionen geknüpft. Bekanntermaßen beschreibt Hobbes den Naturzustand des Menschen als einen Zustand, in dem „jeder zur Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu beitragen scheint, tun kann.“ (Hobbes 2007, 118). Seine These lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen (vgl. ebd., 112-118): Der Mensch trägt in sich den Trieb zur Selbsterhaltung. Um seine Selbsterhaltung zu sichern, strebt er nach bestimmten Gütern (Herrschaft, Nahrung, Waffen, usw.). Von Natur aus sind jedoch alle Güter nur in begrenztem Umfang verfügbar, weshalb zwangsläufig eine Konkurrenzsituation unter den Menschen entsteht. Die Furcht, in dieser Konkurrenzsituation unterworfen oder gar von seinen Mitmenschen getötet zu werden, führt schließlich zum natürlichen Kampf 147 So ließe sich etwa eine Konvergenzuntersuchung zur Rolle von Emotionen im Rahmen von Staatstheorien anstellen, welche sicherlich im Hinblick auf das Vorkom men von Emotionen innerhalb gegenwärtiger Politikfelder nicht ganz uninteressant wäre.

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Emotionen und Politik

aller gegen alle (vgl. Hobbes 2007, 116f.). Bändigen lässt sich diese Furcht nach Hobbes (vgl. ebd., 155) nur durch einen Staat, dem das Gewaltmonopol zufällt und der nach transparenten Konventionen über Recht und Unrecht entscheidet. Die Furcht der Menschen vor dem natürlichen Kriegszustand lässt sich demnach ersetzen durch die Furcht des Menschen vor dem Staat, der im Gegensatz zum Urzustand jedoch auf klaren Maximen aufbaut. Im Körper des Leviathans wird die Furcht also quasi institutionell eingehegt. Genau wie andere moderne Affektlehren (vgl. Hampe 2012, 297f.) sieht Hobbes dabei den Schlüssel in der Kontrolle von Emotionen nicht in deren Überwindung, sondern in der Umlenkung ihrer Intentionalität, d.h., dass ihr kognitive Ausrichtung von einem Phänomen (existenzielle Furcht im Urzustand) auf ein anderes Phänomen (Furcht vor Bestrafung im Staat bei nicht konformen Verhalten) verschoben wird. Für Hobbes sind Emotionen mit Politik also in doppelter Hinsicht verwoben. Auf der einen Seite erklärt sich erst durch sie das Zustandekommen des Staatswesens und auf der anderen kann dieses gleichsam nur durch die bewusste emotionale Kanalisierung fortbestehen. Aus seiner Vorstellung von der durch den Trieb zur Selbsterhaltung erzeugten emotionalen Bedingtheit des Menschen leitet Hobbes (vgl. 2007) dabei letztlich seine normative Legitimation für den Staat ab. Kritisieren lässt sich, dass die Thesen von Hobbes vor allem auf vernunftbasierten Annahmen zu beruhen scheinen. So sind der von Hobbes dem Menschen als genuin zugerechnete Trieb zur Selbsterhaltung sowie die daraus erfolgenden Handlungsoptionen aus heutiger Perspektive lediglich ein Momentum des menschlichen Handlungsspektrums. Sigmund Freud (vgl. 2001 44-47) etwa hat bei der Entwicklung der Psychoanalyse darauf hingewiesen, dass der Mensch nicht nur erhaltenden, sondern mitunter sogar zerstörenden Trieben nachgibt. Dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen stellt Freud (vgl. ebd., 45) dabei den Destruktionstrieb zur Seite, welcher wider aller Vernunft sich Geltung verschafft und dabei auch eine bewusste

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Gefährdung des Selbst zu Gunsten einer temporären Lustbefriedigung in Kauf nimmt. Aber auch zu der Zeit von Hobbes gab es diesbezüglich bereits gegensätzliche Positionen. So vertrat in staatstheoretischer Hinsicht oftmals sein Gegenspieler Jean-Jacques Rousseau die These, dass das menschliche Handeln wenig konsistent sei und auch nicht per se auf die eigene Selbsterhaltung abzielt. Als Beispiel führt er das „natürliche Gefühl“ (Rousseau 1997, 149) des Mitteleids an, welchem eine „negative Sozialität“ (Blättler, 2012, 450) innewohnt, die „im Konfliktfall den Antrieb zur Selbsterhaltung“ (ebd.) schmälert. Damit zeigen u.a. Rousseau und Freud die Grenzen einer Emotionspolitik auf, die Emotionen lediglich eindimensional mit einer bestimmten Handlungsmaxime zu verbinden versucht. So bleibt aber die Frage, worauf eine Politik der Emotionen nach Hobbes abzielen sollte. Im Gegensatz zu vielen antiken und christlichen Emotionslehren (vgl. Kapitel 7.1; 7.2) lehnt Hobbes eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen guten und schlechten Emotionen ab (vgl. Hobbes 2007, 50). Was als gut oder schlecht gilt, das kann nach Hobbes erst „mit dem Bezug auf den, der sie gebraucht, verstanden werden; denn nichts ist durch sich selbst gut, böse und schlecht“ (ebd.). Für ihn sind also die Emotionen von Natur aus zunächst wertfrei und werden erst durch ihre Verwendung innerhalb eines kulturellen Habitus normativ aufgeladen. Da es in der Philosophie nach Hobbes somit nicht nur eindeutig reine, erstrebenswerte oder gute Emotionen gibt, schließt er sich folgerichtig auch nicht der stoischen Auffassung von der Seelenruhe (Ataraxie) an, nach welcher der Mensch einen Zustand der permanenten Glückseligkeit erlangen kann148 (vgl. Hobbes 2007, 90). Nach Hobbes widerspricht eine solche Auffassung zudem dem Grundprinzip der menschlichen Existenz,

148 Die Erlangung der Seelenruhe gilt als das primäre Ziel der antiken Affekterziehung (vgl. Hampe 2012, 299).

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Emotionen und Politik

welches durch Bewegung und nicht durch Stillstand gekennzeichnet ist (vgl. Hobbes 2007, 47-59). Glückseligkeit ist daher auch nicht in einem Stillstand der Emotionen zu finden, – vielmehr gilt als einziges Merkmal des Stillstands der Tod (vgl. Hampe 2012, 299) – sondern in einer sich dynamisch bewegenden Bewältigung von Leidenschaften (vgl. Hobbes 2007, 90ff.). So lässt sich bei Hobbes (vgl. ebd., 90) zwar als eine normativ-emotionale Zielperspektive politischen Handelns die Glückseligkeit ausmachen, die unter anderem durch die zielgerichtete Kanalisierung von Furcht erreicht werden kann. Dabei wehrt er sich jedoch explizit gegen jeden stoischen Versuch, dass sich bestimmte emotionale Zustände politisch schockgefrieren und somit universell haltbar machen ließen. Eine Politik, die Glückseligkeit als legitime Zielperspektive ihres politischen Handelns definiert, muss vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass es um die Schaffung von Räumen geht, in denen heterogene Emotionen dynamisch ausgelebt werden können, und nicht um die Konservierung eines gewünschten emotionalen Endzustandes149.

7.3.2 Jean-Jacques Rousseau Auch in Jean-Jacques Rousseaus Werk spielen Affekte und Emotionen eine ganz zentrale Rolle. Sie machen m.E. nach sogar den Kern seiner Sozialphilosophie aus. Deutlich wird dies bereits anhand der Gesellschaftsanalyse, von deren Boden aus Rousseau seine politische Sozialphilosophie entfaltet. So ist nach Rousseau seine Zeitepoche vor allem durch affektive Ausschweifungen und Eskapaden geprägt, welche jede vernunftbasierte Bemühung zur gesellschaftlichen Reformation im Keim ersticken (vgl. Blättler 2012, 438)150. Ursächlich hierfür ist für ihn der im Fahrwasser des Liberalismus erstarkende Individualismus, der die Menschen auseinandertreibt und im Verbund mit dem Kapitalismus droht, die partikularen Selbstinteressen des Individuums ins Übermaß zu steigern (vgl. Rousseau 1997, 369f.; 1971, 304). Damit grenzt sich Rousseau

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deutlich von den sich zu seiner Zeit im Vormarsch befindenden liberalen Theoretikern und dem allgemeinen Zeitgeist ab (vgl. hierzu etwa Smith 2005), deren Verheißungen von der letztlich für alle positiv agierenden unsichtbaren Hand er als „verderbliche Fiktion“ (Blättler 2012, 439) abtut. Welche Brisanz Rousseau dabei Affekten und Emotionen für die gesellschaftliche Entwicklung zumaß, lässt sich anhand einer seiner Briefe151 besonders anschaulich verdeutlichen. Als Reaktion auf einen Artikel von Jean Le Rond d’Alembert, den dieser als Mitherausgeber in der französischen Encyclopédie unter dem Titel Genf publiziert und in dem er sich für die Einrichtung eines Theaters zur Erbauung und Belehrung der Bürger*innen der Stadt ausspricht, verfasste Rousseau 1758 einen scharfen Antwortbrief (vgl. Rousseau 1978, 333-337). Darin kritisiert er ein solches Unterfangen und geißelt das Theater generell als „Kunst sich zu verstellen, einen anderen als den eigenen Charakter anzunehmen und anders zu erscheinen, als man ist“ (ebd., 414). Dabei geht es Rousseau im Kleinen bereits darum, was Theodor W. Adorno in seiner späteren Kulturkritik ausführlich beschreiben wird, nämlich dass die Gesetze des Marktes dazu führen, dass nicht die für eine Gesellschaft günstigen, sittlichen emotionalen Korrelate gefördert, sondern das gerade die niederen Affekte auf populistische Weise verkauft werden (vgl. Rousseau 1978, 353ff.). Das Theater bereitet für ihn dabei die Bühne für einen solchen Ausverkauf der 149 150 151

Wie wichtig in der Philosophie von Hobbes der Bewegungsbegriff ist, wird u. a. im sechsten Kapitel des Leviathan deutlich, wo er diesen in den Mittelpunkt seiner Gedanken rückt (vgl. Hobbes 2007, 47-59). Ein zusätzlicher Überblick findet sich zudem in dem Aufsatz von Michael Hampe (2012): Hobbes: Furcht und Bewegung. Leider war ein Bezug zur Originalquelle an dieser Stelle nicht möglich, da das Werk Narcisse ou l’Amant de lui-même (dt. Narzisset oder wer sich selbst liebt) trotz großer Anstrengung nur in französischer Sprache beschafft werden konnte. Da der Autor dem Französischen leider nicht mächtig ist, musste sich hier daher zwangsläufig auf bestehende Sekundärliteratur gestützt werden. Welcher aufgrund seines Umfangs von 139 Seiten sich m.E. nach auch ohne weiteres als Essay oder Thesenpapier bezeichnen lässt.

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Emotionen und Politik

Sitten152. Für Rousseau sind die emotionalen und affektiven Mächte dabei so stark, dass er nicht glaubt, dass sich diese mit dem Zaumzeug der reinen Vernunft bändigen ließen. Auch die Idee der kathartischen emotionalen Läuterung, welche ursprünglich aus der aristotelischen Poetik stammt (vgl. Blättler 2012, 440), lehnt er als vergebliche Mühe mit der Begründung ab, dass „alle Leidenschaften untereinander verschwistert sind“ (Rousseau 1978, 353) und „eine einzige genügt, um tausend andere zu erregen“ (ebd.). Das politisch-gesellschaftliche Hauptproblem besteht für Rousseau demnach in der generellen Entfesselung von affektiven Leidenschaften und Emotionen, für die das Theater seiner Zeit das Sinnbild darstellt. Denn durch die Überbetonung derselben, so seine Befürchtung, wird der vernünftigen, tugendhaften Bildung der Boden entzogen (vgl. ebd., 385ff.). Es gibt eine Emotion, die Rousseau als den Prototyp für eine gesellschaftliche destruktive Gemütsverfassung hervorhebt. Er schreibt über diese: Unter den Leidenschaften, die das Herz des Menschen bewegen, gibt es eine glühende, ungestüme, die ein Geschlecht dem anderen notwendig macht, eine schreckliche Leidenschaft, die allen Gefahren trotzt, alle Hindernisse überwindet und in ihrer Raserei geeignet erscheint, das Menschengeschlecht zu zerstören, das sie zu erhalten bestimmt ist. (Rousseau 1997, 153)

Gemeint ist die Liebe. Nach Rousseau (vgl. 1971, 354) haftet ihr etwas Verbrecherisches an, da sie in der Lage ist, den Menschen – entgegen jeder Vernunft – zu allem möglichen zu veranlassen. Für das Projekt der gesellschaftlichen Aufklärung und der Vernunft im Allgemeinen stellt sie daher eine ständige Gefahr dar. Im vierten Buch seines pädagogischen Hauptwerkes Emile oder Über die Erziehung postuliert er gar: Was ist denn die wirkliche Liebe anderes als Sinnestäuschung, Lüge, Einbildung? Man liebt viel mehr das Bild, das man sich macht, als den Gegenstand, auf den man es bezieht. Wenn man das was man liebt, genau so sähe, wie es ist, so gäbe es keine Liebe mehr auf Erden.“ (Rousseau 1971, 354)

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Trotz dieser dystopischen Charakterisierung findet sich – für die/den Rousseau-Kenner*in vermutlich wenig überraschend153 – auch bei Rousseau eine positive Auslegung derselben. So bekommt sie, nachdem seine Protagonisten vom lasterhaften Paris in die tugendhafte Idylle des Landlebens gewechselt sind, eine neue Facette hinzu. Neben ihrem per se lasterhaften Charakter kann sie demnach auch als Mittel zur Normierung und somit gerade zur Überwindung unsittlichen Verhaltens eingesetzt werden. Über den Erzieher Emils verkündet Rousseau (vgl. ebd.), dass ein Mann durch die Liebe an seine Normen gebunden werde und seine lasterhaften Leidenschaften kontrollieren könne. Am Beispiel der Liebe greift Rousseau damit den genuinen Doppelcharakter von Emotionen auf, indem er sie als Motivator, Verführer aber auch als Garanten der Vernunft und Kontrolle von Emotionalität behandelt. Im fünften Buch fasst er diese Einsicht folgendermaßen zusammen: „Alle [Emotionen] sind gut, wenn man sie beherrscht; alle sind schlecht, wenn man sich von ihnen unterwerfen läßt.“ (Rousseau 1971, 490). Dabei liefert er auch gleich drei Merkmale anhand derer er versucht, rechte von unrechten Emotionen zu unterscheiden. Recht sind demnach alle Emotionen, welche

152 153

An dieser Stelle wird auch die Differenz zwischen Hobbes und Rousseau deutlich. Hatte Hobbes sich noch gegen eine vereinfachte Dichotomie gestellt, welche Emotionen in gut und böse bzw. sittlich und unsittlich einteilt, ist Rousseau hier weniger eindeutig. Auf der einen Seite spricht er sich insgesamt gegen die stoischen Auffassung einer rigiden Tugendlehre aus, auf der anderen Seite legt er selbst jedoch in seinem pädagogischen Frühwerk Emile oder Über die Erziehung den Grundstein für eine eigene Sittenlehre (vgl. Rousseau 1971). So sind Rousseau selbst, aber auch seine Werke von tiefgehender Ambivalenz. Dies zeigt sich u. a. sowohl innerhalb seiner Sozialanalysen als auch zwischen seiner Lebenspraktik und seinen theoretischen Schriften. So bedenke man etwa, dass der Wegbereiter der modernen Pädagogik, der eine gewaltvolle Erziehung strikt ablehnte, seine eigenen fünf Kinder in die Obhut eines Findelhauses übergab, in welchem damals wohl kaum nach seinen Erziehungsvorstellungen operiert worden sein dürfte (vgl. Landgrebe 2004, 87).

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(a) einer zumindest möglichen geistigen Kontrolle unterliegen, (b) die von sozialem Charakter und (c) auf ein Ideal hin ausgerichtet sind, ohne dass man sich dabei selbst überschätze (vgl., ebd. 490f.; Blättler 2012, 444449). Um Rousseaus Umgang mit Emotionen zu verstehen, muss man beachten, dass er versucht, diese von den Leidenschaften abzugrenzen. Unter Leidenschaften versteht er dabei ausschließlich destruktive emotionale Korrelate, welche den Menschen in ihre Gewalt bringen und ihn sich zu Untertan machen154. Emotionen155 hingegen sind für ihn mehr als Motivator zu begreifen, welcher aber niemals das Handeln alleine dominiert, sondern dessen harmonischer Begleiter die Vernunft darstellt. Die Lenkungsfähigkeit von Emotionen hängt nach Rousseau dabei vom eigenen Geschlecht ab. Während der Mann prinzipiell über die Gabe des Verstandes verfügt und ihm somit ein passendes Instrument zur Zähmung der Emotionen zur Verfügung steht (vgl. Rousseau 1971, 387), verfügt die Frau über die natürliche Scham, welche sie quasi von außen zügelt. Gott wollte das Menschengeschlecht in allen Dingen ehren: gab er dem Mann Neigungen ohne Maß, gibt er ihm zur gleichen Zeit das Gesetz, das sie zügelt, damit er frei sei und sich beherrsche! Lieferte er ihn maßlosen Leidenschaften aus, so verbindet er sie mit der Vernunft, um sie zu beherrschen. Liefert er die Frau unbegrenzten Begierden aus, so verbindet er sie mit der Scham, um sie in Schranken zu halten. (ebd.)

Es sind Sätze wie diese, die Rousseau mit Recht den Ruf eines Frauenfeindes einbrachten156. So steht es dem Mann z.B. gut, sich der sozialen Scham zu entledigen und somit seine intellektuelle Autonomie unter Beweis zu stellen, während die Frau darin gefangen bleiben muss (vgl. Blättler 2012, 446). Ein rechtschaffener Mann hängt nur von sich selbst ab und kann der öffentlichen Meinung trotzen. Eine rechtschaffene Frau hat damit nur die Hälfte ihrer Aufgabe gelöst: das, was man über sie denkt, ist nicht weniger wichtig als das, was sie wirklich ist. Daraus folgt, daß ihre Erziehung in dieser Hinsicht das Gegenteil von unserer sein muß. Die öffentliche Meinung ist für die Männer das Grab ihrer Tugend, für die Frauen aber deren Thron. (Rousseau 1971, 394).

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Dabei geht Rousseau so weit, das Empfinden von Frauen sogar als Gradmesser für eine gelungene gesellschafts-politische Ausrichtung anzusehen, denn diese hätten sich durch ihre Gefangenschaft im Privatismus eine natürliche moralische Reinheit und Menschlichkeit bewahrt, welche sich in der Selbstlosigkeit der Frau, d.h. der völligen Selbstaufgabe ihrer Willensfreiheit, widerspiegelt und die „den inneren Zusammenhang der Familie und des idealen Gemeinwesens sichert.“ (Blättler 2012, 448). Die Kultivierung eines hegemonialen Empfindens, welches auf die Unterdrückung eines Geschlechts abzielt, wird bei Rousseau somit zum gesellschaftspolitischen Mittel, um einen vermeintlichen Common Sense zu erlangen. Hobbes‘ Thesen, wonach der Naturzustand durch einen „Krieg aller gegen alle“ (Hobbes 2007, 116f.) geprägt sei, aus dem die Verpflichtung eines starken Staates erwachse, versucht Rousseau insgesamt durch eine Gesellschaftsvorstellung aufzulösen, die bewusst auf kleinere Organisierungseinheiten setzt (vgl. Rousseau 1997, 267f.). Abermals stellte seine Begründung hierfür emotionale Überlegungen in den Mittelpunkt, denn nur in einer überschaubaren Gemeinde, so suggeriert sein Werk, lassen sich die ausufernden Leidenschaften (Affekte) der Menschen hinreichend domestizieren und eine allgemeine Orientierung am Gemeinwohl realisieren (vgl. Blättler 2012, 448f.). Die emotional 154 155 156

Aus heutiger Perspektive ließe sich diesbezüglich auch von Affekten sprechen (vgl. Kapitel 6). In den deutschen Übersetzungen wird häufig der hier äquivalent verwendete Ausdruck der Gefühle verwendet. Es ließen sich unzählige weitere Zitate hierzu Anführen etwa: „Fast von Geburt an lieben Mädchen den Putz. Es genügt ihnen nicht, hübsch zu sein, sie wollen auch das man sie hübsch findet.“ (Rousseau 1971, 395) oder „Der eine muß aktiv und stark sein, der andere passiv und schwach: […] Steht dieser Grundsatz fest, so folgt daraus, daß die Frau eigens geschaffen ist, um dem Mann zu gefallen.“ (ebd., 386).

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disziplinierenden Mittel bleiben dabei die (männliche) Vernunft und die emotionale öffentliche soziale Kontrolle mittels emotionaler Phänomene wie Scham, Ehre oder Furcht. Was lässt sich nun aus Rousseaus Werk über den Zusammenhang von Emotionen und Politik final festhalten? Bemerkenswert ist zunächst der Stellenwert, den Rousseau Emotionen beim Beurteilen von Welt generell einräumt. „Denn wir fühlen, ehe wir wissen“ (Rousseau 1971, 304; vgl. auch Rousseau 1997, 373) schreibt er etwa und stellt das emotionale Empfinden damit vor die Vernunft. Von diesem Punkt ausgehend lassen sich aus emotionstheoretischer Perspektive drei zentrale Stränge identifizieren, welche sich quer durch seine Schriften ziehen und daher als eine Konvergenz seines Denkens bezeichnet werden können. Der erste Strang, das Mitleid, wurde bereits in Abgrenzung zu den Thesen von Hobbes genannt (vgl. Kapitel 7.3.1). Es gehört nach Rousseau (vgl. 1997, 143ff.) zu den Uremotionen, über die alle Lebewesen im natürlichen Zustand verfügen, und nimmt die Rolle eines moralischen Kompasses ein, indem es an „die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugenden“ (ebd., 151) tritt. In natürlicher Weise führe unser Mitleid demnach dazu, dass wir „ohne Reflexion zur Unterstützung derer, die wir leiden sehen“ (ebd.), tätig werden. Gelingt es daher durch Erziehung, das Mitleid zu kultivieren und im Menschen zu habitualisieren, scheint ein erster Grundstein für eine ethischsoziale Grundordnung gelegt zu sein158. Allerdings erkennt Rousseau (vgl. 1977, 28) hierfür innerhalb seiner Zeit keine besonders gedeihlichen Bedingungen. So ist der Boden, auf dem sich das Mitleid kultivieren ließe, bereits durch den zwischenmenschlichen Konkurrenzkampf und die allgemein vorherrschende „gesellschaftliche Anonymität“ (Blättler 2012, 451) besetzt. Einen Ausweg sieht er auch hier letztlich in der Größenbegrenzung von menschlichen Organisationseinheiten159: „Anscheinend verdunstet und schwächt sich die Menschheitsliebe ab, während sie sich über die ganze Welt ausbreitet […]. In gewissem Maß

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muß man das Interesse und das Mitleid begrenzen und zusammenpressen, um sie zu aktivieren.“ (Rousseau 1977, 28). Der zweite emotionale Strang, der sich bei Rousseau finden lässt, ist das Gewissen (vgl. Rousseau 1971, 43, 303, 306; Rousseau 1978a, 60). Für Rousseau ist es zugleich Spiegel des Intellekts, aber auch der eigenen intrinsischen emotionalen Verfassung. Gesellschaftspolitisch kommt ihm dabei die Funktion der Stimme der Vernunft zu (vgl. Rousseau 1971, 304), welche dem Menschen auf den Pfad „der Gerechtigkeit und Tugend“ (ebd., 303) die Orientierung erlaubt. Im Gegensatz zum Mitleid betrachtet er das Gewissen jedoch nicht als eine angeborene Gabe, sondern als erziehungsbedürftige Kompetenz. So gilt es, den Horizont des kindlichen Narzissmus, welcher zu Beginn lediglich auf die Kränkung des eigenen Ichs reagiert (vgl. 1971, 43), mit den Mitteln der erzieherischen Bildung sukzessiv zu erweitern, um das eigene Gewissen zu bilden. Voraussetzung hierfür ist allerdings das Schweigen der Leidenschaften (vgl. Rousseau 1978a, 60), welche den Geist der Menschen mindern und seine Empathie zu ersticken drohen (vgl. Blättler 2012, 453). Der dritte Aspekt, das Glück, stellt m.E. nach Rousseaus gesellschaftspolitische Zielperspektive eines guten Lebens in emotionaler Hinsicht dar. Als Wegbereiter der Romantik verortet Rousseau auch die 158 Vgl. für eine kritische Betrachtung zum Thema Mitleid bei Rousseau (1997, 141ff.) auch seine Ausführungen, in denen er argumentiert, dass sich das Mitgefühl, welches wir einem Lebewesen zuteil werden lassen, vornehmlich an den Emotionen orientiert, welche wir Leidenden zugestehen. Tieren etwa, von denen wir vermeintlich anneh men, dass sie sich ihres Schicksals nicht bewusst sind, erfahren aus diesem Grund nach Rousseau (vgl. ebd.) geringeres Mitleid als Menschen. 159 Ein Motiv, was sich immer wieder bei Rousseau findet, wobei er seiner romantischen Vorstelllung des ländlichen Lebens, welche wohl maßgeblich durch seine Jugendjahre geprägt worden sein dürfte, die kalte Anonymität des Städtischen gegenüberstellt, welche für ihn die wahrhaftige Manifestation eines Übermaßes an Leidenschaften darstellt.

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Möglichkeit des Glücks primär in der ländlichen Idylle. Sie bietet für ihn den Rahmen, in welchem dem Individuum die höchste „Selbstübereinstimmung […] mit sich selbst und seiner Welt“ (Blättler 2012, 449) ermöglicht wird. Die völlige Glückseligkeit ließe sich dabei wie folgt zusammenfassen: Sie ist erreicht, wenn man hat, was man will, und nur das will, was man hat159. Anders als bei Hobbes (vgl. Blättler 2012, 449) setzt dies eine Bedürfnisreduzierung und eine weitgehende Beschränkung auf die notwendigen Existenzialen zur Selbsterhaltung voraus und verlangt somit in materieller Hinsicht Askese und in emotionaler den Zustand der Ataraxie. Sehr wohl weiß Rousseau jedoch um die menschliche Überforderung, welche zwangsläufig von solch einem Lebensentwurf ausgehen muss und resümiert daher: „Ein wahrhaft glückliches Wesen ist einsam. Gott allein genießt absolutes Glück.“ (Rousseau 1971, 222). Als Ideal behält das Glück für Rousseau jedoch seine Berechtigung und markiert einen individuellen und gesellschaftlichen Zustand, der sich aktiv der (Selbst-)Entfremdung durch die ihn einhegenden Leidenschaften entgegenstellt, indem er die mögliche intrasubjektive Harmonie von Einheit und Ganzheit betont (vgl. Rousseau 1971, 309f.). Neben dem unerreichbaren göttlichen Ideal liegt für Rousseau also in der Ausweitung der individuellen Freiheiten der irdische Weg zur Glücksmaximierung, welcher sich durch Erziehung und Bildung bereiten lässt (vgl. Blättler 2012, 453). Es würde sich jedoch um keine gute Rousseau-Rezeption handeln, wenn der völlig ambivalente Charakter des Genfer Philosophen fehlte. So findet sich in Rousseaus Aufsatz Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform noch ein weiterer, deutlich zu unterscheidender Aspekt zur idealen Gesellschaftsvorstellung (vgl. 1996, 565-655), der nicht die individuelle Freiheit oder das individuelle Glück als Ideal gesellschaftlicher Entwicklung betont, sondern – überraschenderweise hier näher an Hobbes rückend – das Aufgehen und Unterordnen des Einzelnen im staatlichen Kollektiv als primäres Erziehungsziel.

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„Dies hier ist der entscheidende Abschnitt. Die Erziehung ist es, welche den Seelen die nationale Kraft geben und ihre Meinungen und ihren Geschmack so leiten muß, daß sie Patrioten aus Leidenschaft, aus Notwendigkeit werden. Ein Kind muß, sobald es die Augen öffnet, das Vaterland sehen und bis zum Tode nichts anders sehen als das Vaterland. […] Diese Liebe macht sein ganzes Sein aus; […] sobald er allein ist, ist er nichts; sobald er kein Vaterland mehr hat, hört er auf zu sein; und ist er dann nicht tot, so ist es noch schlimmer für ihn.“ (Rousseau 1996, 578).

7.3.3 Immanuel Kant Dass Immanuel Kant – noch bevor er zum Symbol für den Rationalismus wurde eine moralphilosophische Position vertrat, die er mitunter – im Anschluss an die schottische Philosophie – sensualistisch herleitete (vgl. Recki 2012, 459), ist vielen wohl bekannt. Weit weniger Beachtung wird jedoch zumeist der Tatsache gewidmet, dass sich auch in seinen späteren Hauptwerken die Spuren einer (negativen) Affekt- und Emotionslehre sowie deren gesellschaftspolitische Implikationen finden lassen (vgl. Kant 1976; Kant 1978). Kants (vgl. 1978, 597f.) grundsätzliche Vorstellungen von Emotionen gleichen dabei ebenfalls zu weiten Teilen der Theorie von James (vgl. Kapitel 6), wonach emotionale Ereignisse durch körperliches Empfinden ausgelöst werden und nicht primär mit kognitivistischen Vorgängen in Zusammenhang stehen. In seiner Auseinandersetzung unterscheidet er zwischen den Affekten und – wie z.B. Platon, Hobbes und Rousseau (vgl.

159 Eine Erkenntniss, welche ich meinem besten Freund Felix Rohbeck verdanke, der mir einst den Roman Im Rausch der Stille von Albert Sánchez Piñol, inklusive einer ganz ähnlich lautenden Widmung, zum Geschenk machte.

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Kapitel 7.1; 7.3.1; 7.3.2) – den Leidenschaften160 (vgl. Kant 1978, 597602). Während Kant bloße Affekte aufgrund ihrer Flüchtigkeit für den Menschen zwar als lästig, nicht aber als genuin gefährlich betrachtet (vgl. Kant 1978, 597), sieht er in Stimmungen (Leidenschaften) hingegen die Gefahr einer grundlegenden Trübung der menschlichen Vernunft (vgl. ebd., 599f.). „Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, […] ist die Leidenschaft (passio animi)“ (Kant 1978, 599). Er vergleicht die Leidenschaft dabei mit einer Krankheit und spricht sogar von Krebsschäden (Kant 1978, 600), welche durch sie verursacht würden. Gleichsam betont er, dass es sich dabei um eine für den Menschen unheilbare Erkrankung handle, da „der Kranke nicht will geheilt sein“ (ebd.). Für Kant ist der Mensch daher gefangen in seinen Lüsten und Begierden, welche sich als leidenschaftliche Laster in ihm manifestieren. Er geht sogar so weit, sämtliche Leidenschaften „ohne Ausnahme [als] böse [...] und auch moralisch verwerflich“ (Kant 1978, 601) abzutun. Allerdings hat ihn sein negatives Verständnis von emotionalen Stimmungen im Hinblick auf die menschliche Vernunft nicht dazu bewogen, selbst Abstand von einer emotional ausgerichteten Erziehung, Bildung oder Politik zu nehmen. So empfiehlt er etwa, Kinder und insbesondere Mädchen „zum freimütigen ungezwungenen Lächeln“ (Kant 1978, 598) anzuhalten, weil sich hieraus eine „Disposition zur Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Geselligkeit“ (ebd.) ergebe161. Und auch auf der Ebene der Politik sieht er eine begründete Rolle von emotionalen Korrelaten. So weist Kant (vgl. 1976, 679) mindestens indirekt als Zielperspektive staatlichen Handelns die Herstellung von Bedingungen aus, welche sich einer potenziellen Glückseligkeit als würdig erweisen. Dabei definiert er nicht selbst, was intrasubjektiv unter Glück empfunden werden kann, ein Unterfangen, das sich intellektuell auch nicht vernünftig bewerkstelligen ließe, wie Hobbes (vgl. 2007 90ff.) zu recht anmerkte, behauptet aber, dass sich einzig aus der Gegebenheit einer natürlichen

(Früh-)Moderne Traditionen

171

Moral (vgl. Kant 1976, 678) ein ideales Verhalten ableiten ließe, welches sich des Glücks als würdig erweist (vgl. Kant 1976, 679). Kant ist sich natürlich der damit verbundenen Unmöglichkeiten bewusst, weshalb er ihre praktische Gültigkeit auch nicht für die reale, sondern lediglich für intelligible Welt bestimmt. „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur || eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll, […]“ (Kant 1976, 680). Zudem besteht für ihn keine kausale Verbindung zwischen einem Handeln, das sich des Glücks als würdig erweist, und einem tatsächlich als glücklich empfundenen Leben. Auf wahres Glück lässt sich demnach nur hoffen. Voraussetzung hierfür ist laut Kant (1976, 681) „eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet162 “, diese in einer Gemeinschaft bestmöglich zu gewährleisten; letztlich eine zutiefst politische Angelegenheit. Wobei Emotionen nach Kant (vgl. 1978a, 72f.) primär die Rolle von Motivatoren163 zukommt, denn erst durch sie wird die sogenannte „bewegende Kraft zum Handeln freigesetzt“ (Recki 2012, 467). In Kants politischer Vorstellung bilden Emotionen somit gleichsam die Ausgangs160 161 162 163

Welche – wie bereits angemerkt – in der vorliegenden Arbeit auch mit dem Begriff der Stimmung beschrieben werden (vgl. Kapitel 6). Unabhängig davon, dass eine solche Erziehung nach heutigen Maßstäben als Indoktrination, manipulierend und überwältigend verurteilt werden sollte, bleibt auch für die damalige Epoche kritisch anzumerken, dass hier prinzipiell unklar bleibt, wie Kant gedenkt, die Phänomene Erziehung und Freimütigkeit in Einklang zu bringen. Aus dem vollständigen Satz bei Kant wird deutlich, dass er sich dabei auf den christlichen Gott bezieht (vgl. Kant 1976, 680f.). In seiner glühenden Anhängerschaft für die französische Revolution und seiner weltbekannten Leitspruch der Aufklärung, sich des eigenen Verstandes „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 1910, 5), offenbart sich jedoch eine weitere Position, die nicht Gott sondern den emanzipierten Menschen in den Mittelpunkt rückt. Nach Birgit Recki (vgl. 2012, 470) untersucht Kant in seinen Werken primär zwei Aspekte von Emotionen: Als „Achtung fürs Gesetz als Form des Selbstbewusstseins und als Motivation“ (ebd.).

172

Emotionen und Politik

und Zielperspektive allen vernünftigen Handelns. Ein Beispiel für den motivationalen Charakter von Emotionen findet sich in seiner Einleitung zur Kritik der Urteilskraft. Dort heißt es: […] so ist andererseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetzen unter einem sie beide befassenden Prinzip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstand derselben genug bekannt ist (Kant 1978, 97).

Wenig beachtet gibt Kant damit wohl einen seltenen Einblick in sein eigenes Emotionsempfinden und spekuliert zugleich über einen interdependenten Zusammenhang zwischen intellektueller Betätigung und einem Empfinden von Lust. Für die Emotionsforschung können wir zu Kant generalisiert festhalten, dass er sich in seinen Werken vornehmlich mit der Frage beschäftigte, welche vernünftigen Leistungen der Mensch im Stande ist zu erbringen und dass er sich zur Beantwortung dieser Frage methodisch primär mit den Grenzen der menschlichen Vernunft beschäftigte (vgl. Recki 2012, 475f). In einer bis heute bemerkenswerten Schärfe legt er dabei ebenfalls dar, dass der Mensch kein einzig durch die Vernunft bestimmbares Wesen ist, sondern Affekte, Leidenschaften und Emotionen sein Urteilen und Wirken stets (mit-)bestimmen.

7.4 Zusammenfassung Versucht man, die einzelnen, hier dargestellten Fragmente der politischen Ideengeschichte quasi durch das Drehen an der Kaleidoskoptrommel zu einem Muster zu verdichten, wird deutlich, dass allen Beispielen – von der Antike (Platon & Aristoteles) über die christliche Geschichte (Origenes, Evagrius, Thomas, Calvin & Luther) bis hin zu den Ansätzen der mit als Gründungsväter des modernen Staatswesens geltenden Theoretiker (Hobbes

Zusammenfassung

173

& Rousseau) sowie auch der Philosophie von Kant – gemein ist, dass Emotionalität im Hinblick auf die Organisation eines Gemeinschaftswesens stets als potenzieller Störfaktor beschrieben wird. Zur Entstörung reichen die Empfehlungen vom Einüben einer anti-emotionalen Haltung bzw. Zähmung der Emotionalität durch das Kultivieren des Intellekts bis hin zum Ratschlag des Übertünchen von als negativ geltenden Emotionen durch die Kultivierung sogenannter positiver Emotionen. Insgesamt findet sich in diesem kurzen Ausschnitt der Ideengeschichte somit bereits ein bereits Spektrum an Funktionszuschreibungen bezüglich der Rolle von Emotionen innerhalb politischer Kontexte. So fungieren sie auf der politischen Handlungsebene etwa als Instrumente zur Durchsetzung gesellschaftspolitischer Ideen, auf der Ebene der Wertevorstellungen und Normen als praktische Orientierungspunkte und Wegweiser und auf der Ebene von politischen Zielvorstellungen als regulative Ideen für das politische Handeln. Zudem sind damit, wie wir anhand der hier vorliegenden empirischen Untersuchung noch sehen werden (vgl. Kapitel 21), bereits wesentliche Funktionen von Emotionalität innerhalb politischer Zusammenhänge benannt. Für die gesellschaftspolitische Ebene kann außerdem festgehalten werden, dass die Wurzeln einer skeptischen Behandlung von Emotionen sich zweifelsohne über weite Teile der uns bekannten Zeitgeschichte erstrecken und dass dieses Phänomen keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal der Moderne darstellt. Vielmehr wird deutlich, dass der innerhalb moderner Wissenschafts- und Politikverständnisse weitverbreitete formale Ausschluss von Emotionen sowie ihre häufige Diskreditierung in öffentlichen Diskursen (vgl. Meier-Seethaler 1998, 316) in unmittelbarer Tradition zu vergangen Epochen steht (vgl. auch Kapitel 8).

8 Emotionen in der gegenwärtigen Politik Nachdem aus der politischen Ideengeschichte erste Fragmente über den Einsatz und die Wirkungsweise von Emotionen in politischen Kontexten zusammengetragen wurden, sollen diese nun im Hinblick auf ihre Relevanz für die Gegenwart in eine systematische Ordnung gebracht werden. Primär sollen dabei die verschiedenen Wirkungsweisen von Emotionalität in politischen Kontexten beschrieben und zugleich ihre politische Steuerungsfähigkeit betrachtet werden. Da die vorliegende Arbeit ihrem Charakter nach (vgl. Kapitel 1.2) bemüht ist, sich an bereits vorhandene Wissenskonstruktionen anzulehnen, wird sich dabei vor allem an der Arbeit von Gary S. Schaal und Rebekka Fleiner (vgl. 2015) orientiert, die auf diesem Gebiet in den letzten Jahren innerhalb der deutschsprachigen Politikwissenschaft durch eine rege Publikationstätigkeit aufgefallen sind und die bereits eine erste dreiteilige Gliederung für die sich als demokratisch verstehenden politischen Systeme und deren Umgang mit Emotionen entwickelt haben164. Demnach lassen sich die Funktionen von Emotionen innerhalb demokratischer politischer Systeme anhand dreier Kernbereiche unterscheiden:

164

1.

„Emotionen als Gegenstand demokratischer Politik (Emotionsmanagement)

2.

Emotionen als Nebenprodukt demokratischer Politik (Emotional Mainstreaming)

Wichtige Impulse für die Arbeit von Schaal und Fleiner (vgl. 2015) gehen dabei auf Vorarbeiten von Felix Heidenreich (vgl. 2012; 2013) zurück. So war es Heidenreich (vgl. ebd.), der die ersten beiden von Schaal und Fleiner (vgl. 2015) genannten Bereiche (Emotionsmanagement und emotionales Mainstreaming) maßgeblich in den deutschsprachigen Raum einführte.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_8

176

Emotionen in der gegenwärtigen Politik

3.

Emotionen als Input des demokratischen Prozesses (Inputs)“ (Schaal/Fleiner 2015, 80)

Da es jedoch die Absicht dieser Arbeit ist, eine allgemeingültige Gliederung für die politische Sphäre zu entwickeln, welche unabhängig vom Legitimationsmodus der Herrschaftsgewalt Gültigkeit besitzt und darüber hinaus die von Schaal und Fleiner (vgl. ebd.) vorgeschlagene Gliederung – wie noch ausgeführt werden wird – zudem deutliche Unschärfen besitzt, soll hier eine alternative Gliederungsform vorgestellt werden. So wird sich im Folgenden lediglich auf die beiden Kernbereiche Emotionsmanagement (Output) und Emotionen als Input des demokratischen Prozesses (Input) beschränkt. Der von Schaal und Fleiner (vgl. 2015) vorgeschlagene Aspekt des Emotional Mainstreaming wird hier nicht als eigenständiger Bereich betrachtet, sondern dem Bereich des Emotionsmanagements untergeordnet, da aus ihrem ursprünglichen Modell nicht ersichtlich ist, inwiefern zwischen den Bereichen Emotionsmanagement und Emotional Mainstreaming auf der Metaebene unterschieden werden kann (vgl. Schaal/Fleiner 2015, 80-87). Begründet werden kann dies m.E. nach durch das Fehlen einer tragfähigen (Arbeits-)Definition ihrer Gliederungspunkte. Den nachfolgenden Ausführungen wird daher zunächst eine knappe Definition vorangestellt, bevor schließlich die damit verbundenen inhaltlichen Implikationen diskutiert werden.

Emotionsmanagement

177

8.1 Emotionsmanagement Emotionen, so viel sollte im bisherigen Verlauf der Arbeit deutlich geworden sein, lassen sich aufgrund ihres Charakters (vgl. Kapitel 6) prinzipiell nicht aus politischen Diskursen ausschließen (vgl. Kapitel 7). Bewusstes Emotionsmanagement165 von Seiten politischer Akteur*innen ist daher auch nicht der zum Scheitern verurteilte Versuch, Emotionen etwa mit den Mitteln der rationalen Vernunft negieren zu wollen, sondern die Absicht, den emotionalen Output von Politik bewusst zu steuern. Dabei geht es z.B. um die Gewinnung der emotionalen Deutungshoheit über politische Phänomene innerhalb eines bestimmten Diskurses, was systematisch etwa durch Techniken wie das Framing166 realisiert werden soll. Wie dies in der Praxis konkret gelingen kann, wird nachfolgend anhand eines realen und eines fiktiven (Fall-)Beispiels dargestellt. So bemühten sich z. B. die Politiker*innen der noch jungen Bundesrepublik in den 1950er Jahren, die Existenz des gerade errichteten politischen 165 166

Neben dem hier beschriebenen, weitgehend bewusst verlaufenden, d.h. durch politische Akteur*innen willentlich gesteuerten Emotionsmanagement gibt es zweifelsohne auch einen politisch unbewussten und ungesteuerten emotionalen Output, welcher als Nebeneffekt bei politischen Handlungen auftritt. Aufgrund des fehlenden Bewusstseins kann dabei aber schwerlich von Management gesprochen werden. Für eine Analyse des unbewussten emotionalen Outputs infolge politischer Handlungen, welcher ebenfalls noch ein Forschungsdesiderat darstellt, könnten sich wohlmöglich die von Beck (vgl. 2008, 211-217.) beschriebenen Ansätze in Bezug auf unser Verständnis vom sogenannten Nichtwissen als fruchtbar erweisen. So könnte etwa zwischen zu kompensierenden und nicht zu kompensierenden Risiken eines möglichen (emotionalen) Missmanagements unterschieden werden, mit dem Ziel, politische Strategien zu entwickeln, welche versuchen, nicht zu kompensierende Risiken gezielt zu vermeiden. Unter Framing wird hier die Vorgabe von Denk- und Handlungsprozessen verstanden, ohne dass sich das betreffende Subjekt dessen bewusst sein muss. Für eine ausführliche Übersicht zum politischen Framing vgl. die Monografie Politisches Framing von Elisabeth Wehling (2017).

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Systems zu sichern, indem sie eine Emotionspolitik gegenüber der Öffentlichkeit favorisierten, welche den Fokus ganz bewusst auf die Generierung von erwünschten und die Vermeidung von unerwünschten Emotionen legte167. In seinem Aufsatz Politik und Emotionen aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft skizziert Philipp Nielsen (vgl. 2015, 35ff.) dieses emotionale Framing, indem er beschreibt, dass gerade in dem Bewusstsein, dass sowohl in den zurückliegenden beiden Weltkriegen als auch in der Weimarer Republik die Öffentlichkeit von Seiten der Politik emotional bis zur Unmenschlichkeit verroht worden war, sich der Geist durchsetzte, dass eine emotionale Versöhnung zwischen Politik und Öffentlichkeit eine Grundvoraussetzung für das Überleben der jungen Bundesrepublik darstellte. Als beispielhaft für eine solche Versöhnung auf emotionaler Ebene skizziert er dabei den Diskurs um die parlamentarischen Bauten der einstigen Bundeshauptstadt Bonn. Diese sollten nach der Vorstellung eines überparteilich gebildeten Planungskomitees vor allem die neue Bescheidenheit der Politik zum Ausdruck bringen und in Abgrenzung zu der politischen Architektur des Nationalsozialmus die Menschen keinesfalls mehr in Demut oder Ehrfurcht versetzen (vgl. ebd., 37)168. Als Ausgangspunkt diente dabei wohl die Annahme, dass das Ansehen der noch jungen Demokratie um 1949 in Westdeutschland aus Sicht der Öffentlichkeit beträchtlich Schaden nehmen könnte, wenn ihre Repräsentant*innen in ostentativen Bauten residieren, während bedeutende Teile des urbanen Raums in 167 168

Damit widerspreche ich explizit der These einiger Autor*innen, die annehmen, dass es in der Nachkriegspolitik der noch jungen Bundesrepublik um die weitgehende Vermeidung von öffentlichen Emotionen gegangen sei und anstelle dessen eine Betonung auf die – im aufklärerischen Sinne – als tadellose geltende Vernunft vorgelegen hätte (vgl. Biess 2009, 232; Rahden 2011). Während die neue architektonische Bescheidenheit in der Bundesrepublik in der Öffentlichkeit durchaus wohlwollend wahrgenommen wurde, wie Nielsen (vgl. 2015, 38) unter Bezugnahme auf alte Parlamentsakten rekonstruiert, erzeugt der spartanische Stil und vor allem die räumliche Enge der Büros auf Seiten der Parlamentarier hingegen eher emotionales Unbehagen (vgl. ebd., 39f.).

Emotionsmanagement

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Trümmern liegen und viele Menschen zeitgleich unter Wohnungsnot und Nahrungsmittelknappheit leiden (vgl. Müller 2003, 310). So wurden letztlich ganz bewusst bei der architektonischen Neugestaltung des politischen Machtzentrums die zuvor antizipierten emotionalen Reaktionen der Öffentlichkeit berücksichtigt und die Planungen und Bauten dementsprechend durchgeführt. Dass ein solches emotionales Framing stets an den aktuellen emotionalen Zeitgeist gekoppelt ist, zeigt sich erneut einige Jahre später. So wuchs im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 1950er Jahren (vgl. ebd., 350), welcher die Lebensbedingungen allgemein verbesserte, in der Bevölkerung der Wunsch, die neu empfundene ökonomische Stärke auch politisch zum Ausdruck zu bringen (vgl. Nielsen 2015, 40). Für den politischen Architekturstil bedeutete dies, dass der emotional neu empfundene Glanz der Republik nun auch symbolisch zur Schau gestellt werden sollte (vgl. Wise 1998, 32). Mit der darauffolgenden Wandlung der politischen Bauten in den 1950er und in den 1960er Jahren (vgl. Nielsen 2015, 47) war somit zugleich auch ein neues emotionales Framing verbunden. Ein weiteres Beispiel für ein emotionales Framing auf der politischen Ebene stellt der systemrelevante Umgang mit der Emotion Angst dar. So besteht seit Beginn des modernen Staatswesens eine seiner grundlegendsten Aufgaben darin, für die Sicherheit seiner Bürger*innen zu sorgen (vgl. Pietschmann 2010, 129f.). Geht man von der hier nicht empirisch belegten, aber theoretisch plausibel erscheinenden These aus, dass das bürgerliche Angstempfinden mit dem individuellen Sicherheitsempfinden korreliert, dann stellt sich für jeden Staat die Frage, wie er den diffusen Ängsten seiner Bürger*innen adäquat begegnen kann. Eine Antwort hierauf bietet abermals die Technik des emotionalen Framings, welche es den Politiker*innen erlaubt, diffuse und mitunter irrationale Ängste ihrer Bürger*innen aufzunehmen und diese gezielt zu transformieren. Um diesen Prozess nachvollziehen zu können, ist es jedoch zunächst wichtig, die Begriffe Angst und Furcht im Sinne von Søren Kierkegaard (vgl. 1935, 38)

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voneinander zu unterscheiden. Angst ist demnach eine wenig spezifische Emotion, während Furcht ein Empfinden beschreibt, welches sich auf ein spezifisches Phänomen bezieht. So kann etwa die noch recht unspezifische Angst eines*r Küstenbewohner*in (z.B. Opfer einer Sturmflut zu werden) politisch in die konkretere Furcht übersetzt werden, dass die vorhandenen Deichanalgen unzureichenden Schutz bieten. Erst eine solche Transformation von Angst in Furcht eröffnet politische Handlungsoptionen mit deren Hilfe das emotionale Empfinden von Menschen gezielt gelenkt und beeinflusst werden kann. Im vorliegenden Beispiel gelingt dies z.B. dadurch, dass Politiker*innen eine Ausweitung des Küstenschutzes oder die Modernisierung existierender Deichanlagen beschließen und somit versuchen, das emotionale Empfinden der Küstenbewohner*innen positiv zu beeinflussen. Es sei an dieser Stelle jedoch auch darauf verwiesen, dass (leider) nicht jedes Emotionsmanagement auf die Erhaltung oder Steigerung des Gemeinwohls hin ausgerichtet sein muss. So kann politisches Emotionsmanagement auch beinhalten, diffuse Ängste in der Bevölkerung zu schüren, um etwa den eigenen Herrschaftsanspruch abzusichern und damit scheinbar notwendige Eingriffe in die staatliche Sicherheitsarchitektur zu legitimieren. Aus diesem Grund sollten bei jeder Form des Emotionsmanagement immer die Fragen gestellt werden, „welche Formen […] normativ wünschenswert“ (Schaal/Fleiner 2015, 81) und „welche Emotionen legitime Objekte“ (ebd.) eines solchen Managements sind bzw., „welche Eingriffstiefe vertretbar ist“ (ebd.). Neben dem bewussten Missbrauch eines politischen Emotionsmanagements besteht zudem stets die Gefahr, dass mit einem solchen auch nichtintendierte negative Effekte in Erscheinung treten. So geht z.B. jede Transformation von Angst in Furcht mit einer Komplexitätsreduzierung einher, welche mitunter auch zu Stigmatisierungs- bzw. Ausgrenzungseffekten führen kann, z.B. dann, wenn aus der Furcht vor terroristischen Anschlägen etwa eine ungerechtfertigte antiislamistische

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Stimmung bei Einzelnen oder sogar Teilen der Gesellschaft erwächst. Emotional unerwünschte Evokationen hervorzubringen ist immer dann gefährlich, wenn die emotionalen Auswirkungen einer politischen Handlung im Vorfeld zu wenig bedacht werden. Ein treffendes Beispiel hierfür findet sich etwa im Werk Politische Urteilskraft von Wilfried von Bredow und Thomas Noetzel (vgl. 2009, 73ff.), das sich auf eine Rede des ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages Phillip-Hariolf Jenninger bezieht. Darin hatte dieser zum Gedenken des 50. Jahrestages der Novemberpogrome (1938) versucht, die Perspektive der Täter*innen im Nationalsozialismus zu rekonstruieren und in seinem Vortrag rhetorische Stilelemente der NS-Täter*innen eingebaut. Sein vom Auditorium als emotionslos wahrgenommener Vortag erschwert es dabei jedoch den Zuhörenden, zwischen den Gedanken der Täter*innen und denen Jenningers zu unterscheiden. So entstand eine allgemeine Verwirrung bezüglich der normativen Einordnung des Nationalsozialismus seitens des Bundestagspräsidenten. Als Folge davon verließen geladene Gäste und Abgeordnete verschiedener Fraktionen den Sitzungssaal, da sie die Würde der Opfer des Nationalsozialismus als missachtet empfanden. Bereits am darauffolgenden Tag sah sich Jenninger aufgrund des politischen und medialen Echos, welches seine Rede ausgelöst hatte, gezwungen, von seinem Amt als Präsident des Deutschen Bundestages zurückzutreten. Das Beispiel zeigt deutlich, welche mitunter gravierenden Folgen durch das Fehlen oder das Misslingen eines Emotionsmanagement im Politikbetrieb entstehen können. Schließlich hatte nicht der Inhalt seiner Rede Jenninger um sein politisches Amt und einiges Ansehen gebracht, sondern sein mangelndes Emotionsmanagement bzw. sein Missmanagement. Emotionsmanagement ist freilich alles andere als eine einfache Angelegenheit. Besonders da keine determinierte Wirkung von emotionalen Frames existiert (vgl. Gammerl/Hitzer 2013, 36) und jeder Versuch, Emotionen gezielt zu evozieren, auch zu „unvorhergesehenen Konsequenzen und Dy-

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namiken führen“ (Nielsen 2015, 30) kann. Ein verantwortliches staatliches Emotionsmanagement muss daher, ähnlich wie bei politischen Entscheidungsstrategien wie dem Inkrementalismus, dem Planen oder dem Coping (vgl. Schröder 2015, 145; Schimank 2005, 237ff. und 307ff.; Schimank 2011, 459-462), ständig versuchen, den Prozess des emotionalen Framings mit zu verfolgen und, wenn nötig, nach- oder gegensteuern, um möglichst sicherzustellen, dass die gewünschten Emotionen169 erfolgreich evoziert werden. Neben diesen direkten Steuerungsversuchen öffentlicher Emotionen mittels des sogenannten Framings existieren zudem auch indirekte Steuerungsverfahren. Menschliche Emotionen werden dabei auf einer dem Individuum nicht bewussten bzw. von ihm nicht aktiv reflektierten Ebene angesprochen. Die technische Realisierung einer solchen indirekten Steuerung von Emotionen lässt sich am besten durch Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie170 beschreiben. Entscheidend ist dabei die Ausgangsüberlegung, dass Menschen häufig wider eines besseren Wissens gegen ihre eigenen Interessen handeln. So geben z.B. laut einer Forsa-Studie, die von der Techniker Krankenkasse und der Organisation foodwatch in Auftrag gegeben wurde, 75% der Befragten an, dass sie wissen, wie man sich im allgemeinen gesund ernährt. Lediglich 45% der Befragten bejahten

169 Die Frage, was genau unter erwünschten Emotionen verstanden werden kann, bzw. welche Emotionen politisch als sinnvoll erachtet werden, lässt sich m.E. nach nicht aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus bestimmen. Vielmehr ist diese Frage selbst zum Gegenstand einer politischen Debatte zu erheben. 170 Zusammenfassend lässt sich die Verhaltensökonomie auch als die Synthese eines behavioristischen Ansatzes, welcher mit Elementen der Spieltheorie kombiniert wurde, beschreiben. Durch die Analyse gezielt gesetzter Reize, welche auf angenom mene anthropologische und sozialisierte Eigenschaften beim Individuum abzielen, versucht sie, ein spezifisch erwünschtes Verhalten mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit vorauszusagen.

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jedoch, dass sie auch bei der täglichen Nahrungsaufnahme versuchen würden, dementsprechend zu handeln (vgl. TK 2017, 3). Die Menschen sind also in der Tat nicht immer „best judge of their own interest“ (Schaal/Fleiner 2015, 83). In ihrer Monografie Nudge beschreiben der Verhaltensökonom Richard H. Thaler und der Jurist Cass R. Sunstein (vgl. 2017, 31-97) eine ganze Reihe ähnlicher Beispiele und verdeutlichen, dass der Mensch in seinem Leben wiederkehrend und systematisch dazu neigt, im Sinne seines individuellen oder eines kollektiven Wohlergehens falsche Urteile zu fällen. Für das Zustandekommen solcher fehlerhaften Urteilsheuristiken haben Thaler und Sunstein (vgl. ebd.) wissenschaftliche Erklärungen zusammengetragen, die auf der gesellschaftlichen Ebene politische und ökonomische Steuerungsprozesse ermöglichen. Ihren praxisorientierten Ansatz verstehen sie dabei als eine Form des „libertären Paternalismus“ (ebd., 27), womit die bewusste Beeinflussung sozialer Phänomene, etwa durch das Festlegen sogenannter Standardoptionen, gemeint ist171, ohne dass auf der individuellen Ebene z.B. eine Bewusstseinsveränderung, eine Einsicht oder ein Lernprozess zu Grunde liegen muss. Dass emotionale Korrelate auf der Rezipient*innenseite solcher Steuerungsmaßnahmen eine zentrale Rolle spielen, wird besonders an dem folgenden Beispiel von Thaler und Sunstein (vgl. 2017, 101f.) deutlich: Demnach hatte eine Studie in fast 300 Haushalten in Kalifornien ergeben, dass sich der haus171 Thaler und Sunstein (vgl. 2017, 240ff.) argumentieren etwa, dass die Bereitschaft zur Organspende in den USA sehr viel höher sei als die Fallzahl derer, die tatsächlich eine entsprechende Zustimmung (z.B. auf ihren Führerscheinen) vermerken. Ihre wohlbe gründete These lautet, dass sich diese Diskrepanz durch den zusätzlichen Aufwand, welche für das Individuum durch die geltende Zustimmungslösung ergibt, erklärt werden kann. Würde anstelle der geltenden Zustimmungslösung von staatlicher Seite eine Routineentnahme der Organe erfolgen oder bspw. eine Pflichtentscheidung zur Organspeiende als Standardoption festgelegt, dürfte die Zahl der Organspenden hingegen merklich steigen.

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haltsinterne Energieverbrauch durch den Einsatz von Emoticons steuern lässt. Lag der Energieverbrauch eines Haushaltes über dem Durchschnittswert der Region, erhielten die Bewohner*innen ein Schreiben mit einem traurigen Smiley darauf, während die Haushalte mit einem unterdurchschnittlichen Verbrauch einen lächelnden Smiley erhielten. In der Folge reduzierte eine signifikante Anzahl der bis dato überdurchschnittlichen Energieverbraucher*innen ihren Energiekonsum und auch bei den unterdurchschnittlichen Verbraucher*innen blieb der aus anderen Verbraucherinformationsstudien bekannte sogenannte Bumerang-Effekt (vgl. ebd. 101) vollständig aus und das niedrige Verbrauchslevel konstant. Steuerungsmaßnahmen, die dabei dezidiert und ganz direkt Emotionen adressieren, bezeichnen Thaler und Sunstein (2017, 102.) auch als emotionalen Nudge. Folgt man hingegen der Argumentation dieser Arbeit, dass Emotionen prinzipiell einen genuinen Bestandteil von kognitiven Prozessen darstellen (vgl. Kapitel 6), muss konsequenterweise – und so gesehen weitgehender als Thaler und Sunstein (vgl. 2017) konstatieren – festgehalten werden, dass jeder Versuch der Verhaltenssteuerung zwangsläufig emotionale Komponenten beinhaltet.

8.2 Emotional Mainstreaming Der Wohl prinzipielle und weitreichendste Eingriff des Emotionsmanagement stellt sicherlich das Emotional Mainstreaming dar, worunter im Folgenden der Versuch verstanden wird, mit den Mitteln der Politik bestimmte emotionale Empfindungen möglichst in Form von konstanten Stimmungen hegemonial in einer Gesellschaft zu verankern. Schaal und Fleiner (vgl. 2015, 85f.) diskutieren in diesem Zusammenhang etwa, ob sich Emotionen nicht neben den sogenannten „harten Kennzahlen“ (Schaal/Fleiner 2015, 85) (wie dem zu erwartenden Wirtschaftswachstum einer Nation, der Arbeitslosenquote oder dem Bruttoinlandsprodukt (BIP))

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ebenfalls als Zielperspektive politischen Handelns bzw. als Reflexionsrahmen für politische Performanz eignen könnten. Ihr Ausgangsthese lautet dabei, „dass jede Politik immer auch emotionale Reaktionen auf der individuellen Ebene wachruft.“ (Schaal/Fleiner 2015, 87, Hervorh. im Original). Dabei kann die Wirkung emotionaler Frames in Abhängigkeit von der Zielgruppe172 erheblich variieren (vgl. Schaal/Fleiner 2015, 87), dennoch gehen sie davon aus, dass „innerhalb [von] systematischen Bezugseinheiten systematische, gleichgerichtete emotionale Effekt hochwahrscheinlich [sind].“ (ebd.). Das wohl bekannteste Beispiel für eine nationale Politik, welche offiziell eine Emotion als Gütekriterium politischen Handelns verankert hat, dürfte seit Anfang der 1970er Jahre Bhutan darstellen. Im Jahre 1972 hatte der damalige König Jigme Namgyal den Begriff des Bruttoinlandsglücks geprägt und ganz offiziell die Maximierung des Glück-Empfindens der Bevölkerung als Leitlinie der staatlichen Politik verankert173 (vgl. Meinert/ Stollt 2010, 4; Hirata 2005, 188). Seitdem werden in dem kleinen Königreich mit Hilfe unterschiedlicher empirischer Verfahren vom Zentrum für bhutanische Studien Daten erhoben, um einschätzen zu können, wie glücklich die Einwohner*innen sind (vgl. Centre for Bhutan Studies & GNH Research 2015). Zudem richtete die Regierung eine Kommission für Bruttoinlandsglück unter dem Vorsitz des Premierministers ein, welche 172 173

Wenn als Zielgruppe z.B. die Bevölkerung eines Staates angenommen wird, so handelt es sich dabei nicht um eine homogene, sondern um eine heterogene Gruppe, innerhalb derer abhängig vom je individuellen ökonomischen oder sozialen Status bzw. der religiösen, politischen oder kulturellen Zugehörigkeit etc. emotionale Frames durchaus unterschiedlich aufgefasst werden können. Auch Platon hatte schon über Glück als Zielperspektive politischer institutioneller Organisierung philosophiert und sein Vorhandensein als allgemeinen Maßstab für eine gerechte und somit gute Politik beschrieben (vgl. Plat. Rep. 419a–421a) und sein Schüler Aristoteles bestimmte Glückseligkeit sogar als das ultimative Regulativ des individuellen Lebenskonzeptes (vgl. Arist. NE. 1, 2).

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sämtliche Reformvorschläge im Hinblick auf den damit zu erwartenden emotionalen Output bewertet und ohne dessen Zustimmung keine Reformen verabschiedet werden dürfen (vgl. hierzu auch Hirata 2005, 190f.). Der bhutanische Staat setzt damit im Vergleich zu den ansonsten üblichen wirtschaftlichen Kennziffern (vgl. Schaal/Fleiner 2015, 85) bewusst auf eine Alternative, um erfolgreiches politisches Handeln zu beurteilen. Auf internationaler Ebene fand der nationale Vorstoß Bhutans inzwischen allgemeine Beachtung. So verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2011 auf Initiative Bhutans eine Resolution unter dem Titel: Happiness: towards a holistic approach to development (vgl. UN General Assembly 2011), in welcher sie konstatiert, „the pursuit of happiness is a fundamental human goal“ (ebd.) und weitergehend alle Länder auffordert, anzuerkennen, dass Glück und Wohlergehen wichtige Bezugspunkte für politisches Handelns sind (vgl. ebd.). Dabei scheint sich die Einsicht, dass wirtschaftliches Wachstum gerade vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen (vgl. Meadows et al. 1994, 36-74) nicht länger das dominierende Kriterium zur Beurteilung von Politik sein kann, auch in der sogenannten westlichen Welt stärker zu verbreiten. So hat etwa in Großbritannien der frühere Premierminister David William Donald Cameron 2011 das Office for National Statistics beauftragt, sogenannte Messungen des Nationalen Wohlergehens mit dem Ziel durchzuführen, politisches Handeln stärker an dem Glücksempfinden der Bevölkerung auszurichten (vgl. 27. Enquete-Kommission 2013, 329f.). Zwei Jahre zuvor hatte sich zudem bereits eine überparteilich zusammengesetzte Arbeitsgruppe gebildet, um die Erkenntnisse der Glücksforschung für die politische Arbeit fruchtbar zu machen (vgl. ebd., 329). In Frankreich rief der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy eine „Expertenrunde mit zahlreichen Nobelpreisträgern zu diesem Thema ein. Deren Schlussfolgerung: Indikatoren zum Glück der Menschen enthalten unabdingbare Informationen und sollten daher von statistischen Ämtern regelmäßig erhoben werden.“ (ebd.).

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Und auch in Deutschland richtet der Bundestag 2010 die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft ein (vgl. 27. Enquete-Kommission 2013). Allerdings bleibt das Thema der Lebensqualität in dem 2013 vorgelegten Abschlussbericht deutlich eine Randerscheinung (vgl. ebd.). In einem Sondervotum am Ende des Berichtes heißt es dazu: Alternative Entwicklungsansätze aus Lateinamerika wie „Buen Vivir – Recht auf gutes Leben“ oder auch das in Bhutan erhobene Bruttosozialglück wurden nicht stärker in den Blick genommen. Auch die Frage von gerechtem Zugang zu Ressourcen für alle Menschen wurde ignoriert. […] Der Diskurs wurde darüber hinaus sehr einseitig aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Sicht geführt und vernachlässigte interdisziplinäre Zugänge. (ebd., 790)

Nichtsdestotrotz vereinbaren die Koalitionspartner der CDU, CSU und der SPD in ihrem Koalitionsvertrag desselben Jahres unter dem Titel Deutschlands Zukunft gestalten: Wir wollen unser Regierungshandeln stärker an den Werten und Zielen der Bürgerinnen und Bürger ausrichten und führen daher einen Dialog mit ihnen über ihr Verständnis von Lebensqualität durch. [...] Auf dieser Basis werden wir ein Indikatoren- und Berichtssystem zur Lebensqualität in Deutschland entwickeln. Es soll im regelmäßigen Abstand in verständlicher Form über Stand und Fortschritt bei der Verbesserung von Lebensqualität in Deutschland Auskunft geben. (CDU Deutschland/CSU-Landesleitung/SPD 2013, 12)

Als Folge dessen entwickelte die Regierung die Strategie Gut leben in Deutschland. Den Auftakt machte dabei eine halbjährige Konsultationsphase innerhalb derer Bürger*innen, Politiker*innen, und Expert*innen über die Fragen Was ist gutes Leben? und Was zeichnet Lebensqualität aus? diskutierten. (vgl. Bundesregierung 2016, 5). Im Nachfolgenden Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland von 2016 führt diese aus, dass sich Lebensqualität und individuelles Glück prinzipiell nicht gleichsetzten ließen (vgl. ebd.). Konkret heißt es dort: „Indi-

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viduelles Glück kann politisch nicht herbeigeführt werden“ (ebd.). Dennoch sieht die (damalige) Bundesregierung ihre Aufgabe darin, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Menschen „ihre individuellen Ziele“ (ebd.) verfolgen können. Aus Perspektive des Emotional Mainstreaming verfolgt die Bundesregierung damit ein eher konservatives Verständnis des Emotionsmanagements. So ist die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, unter denen sich die Menschen möglichst weitgehend frei entfalten und ihre eigenen Ziele verfolgen können, bekanntermaßen kein neuer Impuls, sondern gehört zum klassischen Repertoire liberalen Denkens (vgl. Friedman 1970). Zudem ist die Einsicht, dass es nicht die Aufgabe der Politik sein kann, individuelles Glück herbeizuführen, zwar prinzipiell richtig, dennoch verdeckt eine solche Haltung die Möglichkeit, ähnlich wie z.B. in Großbritannien, Frankreich oder Bhutan (s.o.), das emotionale Wohlbefinden der Bevölkerung als heuristischen Bewertungsmaßstab für politisches Handeln aufzufassen. So argumentiert die Bundesregierung, dass aufgrund der Parzellierung der Gesellschaft, „Politische Maßnahmen [bezüglich des individuellen Wohlbefindens], die für das eine Milieu erstrebenswert sein könnten, wären eventuell für ein anderes eine unerträgliche Einschränkung seiner individuellen Freiheitsgrade.“ (27. Enquete-Kommission 2013, 653). Mit dieser recht pathetischen Argumentation gerät sie jedoch in Verdacht, mit zweierlei Maß zu messen, da sie für den Bereich des Emotional Mainstreaming einseitig unterstellt, was prinzipiell für alle politischen Bereiche – ganz gleich welcher Couleur – gültig ist, nämlich, dass jede Politik einen Spagat zwischen divergierenden Interessen darstellt. Das Risiko, politische Maßnahmen zu ergreifen, welche nicht allen Bedürfnissen gleichermaßen gerecht werden, ist ein ständiger Wegbegleiter der Politiker*innen und rechtfertigt daher keinesfalls ein Nichthandeln. Zudem sieht der demokratische Prozess der Willensbildung vor, dass getroffene politische Entscheidungen verändert und revidiert werden können. Auch unabhängig von der Frage, inwiefern politisches Handeln an der subjektiven Wahrnehmung indivi-

Emotional Mainstreaming

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duellen Glücks bzw. Wohlergehens gemessen werden sollte, wird an dem folgenden Sachverhalt besonders deutlich, dass es immer schon zur Zielperspektive von Politik gehörte, bestimmte Emotionen im Rahmen eines Emotional Mainstreaming zu erzeugen. So gilt aus funktionalistischer Perspektive für jeden Staat die Gewährleistung der Sicherheit seiner Bürger*innen als die zentrale Legitimationsgrundlage seiner Existenzberechtigung (vgl. Pietschmann 2010, 129f.; Opitz 2008, 206; Hobbes 2007, 155)174. Wohlbekannt gerät der Staat dabei in ein unvermeidliches Dilemma, denn in dem Bemühen, den Menschen ein Sicherheitsempfinden zu gewährleisten, läuft er zugleich Gefahr, das individuelle Freiheitsempfinden zu beschränken (trade-off). Zusammen kann daher beides stets nur in eingeschränkter Form koexistieren. Genau wie die Sicherheit ist auch die Freiheit auf der individuellen Ebene eine hoch emotionale Angelegenheit, deren Konstituierung, Sicherung und Pflege sich demokratische Staaten verschrieben haben175. Deutet man – wie im vorliegenden Fall – aus funktionalistischer Perspektive die Gewährleistung eines Sicherheits- und Freiheitsempfindens der Bürger*innen als die zentralen Aufgaben eines Staates, lassen sich m.E. für eine noch zu entwickelnde politische Emotionstheorie an dieser Stelle erste zentrale Stützpfeiler erkennen. Denn die Deutung des antagonistischen Paars Sicherheit und Freiheit als ordinäre Grundkategorien staatlichen Handelns ermöglicht es zugleich, 174 175

Kritisch anzumerken ist hier, dass im aktuellen Sicherheitsdiskurs zumeist sehr einseitig die Ebene der Legislative (Justiz und Gesetze) und der Exekutive (ausführende Repressionsorgane) thematisiert wird, während die Verantwortung für die eigene soziale Sicherheit von Seiten der Politik zunehmend auf die Individuen abgeschoben wird (vgl. Demirovć 2008, 231). Es soll daher betont werden, dass mit Sicherheit im Folgenden nicht nur die sogenannte polizeiliche Sicherheit, sondern explizit auch die soziale Sicherheit eingeschlossen ist. Vgl. etwa die sogenannte Gettysburg Address in der Abraham Lincoln das Selbstverständnis der vereinigten Staaten von Amerika emotional zur Geltung bringt, wobei er das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Feinheit in den Blick nimmt.

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Emotionen in der gegenwärtigen Politik

diese gleichsam als politische Basisemotionen einer staatlichen Emotionspolitik zu verstehen. So lassen sich auffällig einfach scheinbar viele weitere Emotionen, welche im politischen Kontext eine Relevanz besitzen, unter die beiden emotionalen Phänomene von Sicherheit und Freiheit subsumieren. Ganz gleich, ob es sich dabei vordergründig um Misstrauen, Vertrauen, Empathie oder Angst usw. handelt, sie alle können auf den Wunsch des politischen Subjekts reduziert werden, individuell ein als angemessen interpretiertes Maß an Sicherheit und Freiheit zu empfinden. Sicherheit, Freiheit und Glück könnten daher sowohl als Zielperspektiven als auch als Gütekriterien politischen Handelns aufgefasst werden.

8.3 Emotionen als Input politischer Prozesse Dass Emotionen auf der individuellen Ebene gleichsam als Handlungsmotivatoren auftreten können, wurde bereits dargelegt (vgl. Kapitel 7.3.2; 7.3.3). Auch in der politischen Sphäre finden sich daher konkrete Beispiele für Phänomene, die mitunter für gesamtgesellschaftliche und politische Transformationseffekte (mit-)verantwortlich gemacht werden können und bei denen sich plausibel unterstellen lässt, dass Emotionen wesentliche Katalysatoren für ihre Genese und Manifestierung waren. So wurden die studentischen Proteste der 1960er Jahre in der Bundesrepublik bekanntermaßen durch die emotional stark aufgeladenen und erschreckenden Bilder des Vietnamkriegs, welche allabendlich über den Äther flatterten, bestärkt (vgl. Bulig 2007, 36ff.). In den 1970er Jahren führte die Furcht vor einem Atomtod (Kurscheid 1981, IX-X) zu erstar-

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Die Anti-Atomkraft-Bewegung, welche eine ähnliche politische Bedeutung in der Bundesrepublik entfalten konnte, entstand parallel (vgl. Müller 2003, 425.). Ihr Aufstieg beschleunigte sich maßgeblich, nach dem am 26. April 1986 in der damals noch sowjetischen Stadt Tschernobyl der Reaktorkern des ansässigen Atomkraftwerks schmolz und große Mengen an Radioaktivität freigesetzt wurden (vgl. ebd.).

Emotionen als Input politischer Prozesse

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kendem Wiederstand gegen die staatliche Atompolitik und in den 1980er und 1990er Jahren wurde aus der Angst vor den neu aufflammenden (Stellvertreter-)Kriegen die erste176 große außerparlamentarische Strömung der Republik, die sogenannte Friedensbewegung, geboren (vgl. Müller 2003, 419f.). Auch das derzeitige Erstarken rechtspopulistischer bis rechtsextremer Strömungen in Europa und ihrer außerparlamentarischen und parlamentarischen Dependancen wie der Organisation der sogenannten Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) oder der Alternative für Deutschland (AfD) können nicht ohne den Rückbezug auf Emotionen (wie diffuse Ängste) hinreichend erklärt werden (vgl. Demuth 2016, 1f.). Insgesamt dürfte sich in der Geschichte wohl kaum ein Beispiel für ein politisches Wirken finden lassen, welches ohne einen emotionalen Impetus ausgekommen wäre. Aber auch die solche Phänomene stets begleitende Responsivität ist nicht von Emotionen befreit und kann ihrerseits wiederum zum Ausgangspunkt politischer Prozesse werden. Schaal und Fleiner (vgl. 2015, 87f.) mahnen in diesem Zusammenhang jedoch zurecht an, dass emotionale Inputs im politischen Raum zwar durchaus ihre Berechtigung haben – schließlich lassen sie sich auch überhaupt nicht vermeiden –, sich diese aber keinesfalls in ihrer Emotionalität erschöpfen dürfen. So lässt sich von einer politischen Auseinandersetzung nur dann sprechen, wenn eine Klärung der beteiligten emotionalen Aspekte auch auf der Sachebene vollzogen wird. Andernfalls droht der politische Impetus z.B. zu Gunsten einer mitunter rein moralischen Entrüstung verloren zu gehen.

9 Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung Es findet sich in der didaktischen Literatur eine Fülle dezidierter Überlegungen in Bezug auf Emotionen und Schule. So konstatiert etwa Gotthard Breit: „Gefühle helfen dem Menschen, sich in der Welt zurecht zu finden.“ (Breit 1991, 63). Die Schule sollte sich daher – und insbesondere der Politikunterricht (vgl. Kapitel 9.3) – auch mit der bewussten Kultivierung von Emotionen auseinandersetzen. Eine Empfehlung, die auch in dieser Arbeit übernommen wird. Betrachtet man jedoch die existierenden Forschungsarbeiten des 20. und 21. Jahrhunderts, fällt zunächst konträr hierzu auf, dass von vielen Autor*innen (vgl. etwa Schell 2004, 15ff.) der Kontext von Emotionen und Schule vornehmlich aus einer dualistischen Perspektive beschrieben wurde. Im Fokus stand dabei einerseits, inwiefern Emotionen Lernerfolg erschweren oder gar blockieren, und andererseits, inwiefern sie zum Gelingen von Lernprozessen beitragen können. Von einer Kultivierung von Emotionen ist hingegen meist nicht die Rede. Dabei finden sich inzwischen eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten, die aus didaktischer Perspektive eben dieses befürworten. So ergibt etwa eine qualitative Befragung von Schüler*innen einer 8. Jahrgangsstufe, – durchgeführt von Michaela Gläser-Zikuda (vgl. 2001, 167) – dass der Leistungserfolg bzw. -misserfolg mit dem intrasubjektiven emotionalen Empfinden korreliert. Wenig überraschend, lernen demnach Schüler*innen mit ausgeprägter Schulangst oder einer erhöhten Schulunzufriedenheit im Durchschnitt weniger gut als ihre Mitschüler*innen (vgl. ebd. 163). Dabei ist es ganz gleich, ob diese Befunde darauf zurückzuführen sind, dass die Schüler*innen weniger lernen, weil sie unter Schulangst leiden oder ob sie aber unter Schulangst leiden, weil es ihnen schwerfällt zu lernen. In jedem Fall konstatiert die Untersuchung einen unmittelbarer Zusammenhang zwischen empfundenen Emotionen und den je subjektiven Le© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_9

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rnchancen eines Individuums. Und auch die Arbeit von Jens Möller und Olaf Köller stützen die Annahme (vgl. 1996, 128-131), dass eine positive Stimmung den kreativen Arbeitsprozess und somit die allgemeine Problemlösekompetenz von Lernenden fördert und eine als negativ empfundene Stimmung die Lernenden in ihren Bildungsprozessen ausbremst177. Die pädagogischen Forschungsergebnisse lassen sich zudem weiter durch valide neurowissenschaftliche Testverfahren untermauern. So zeigen etwa die Untersuchungen des Hirnforschers Manfred Spitzer (vgl. 2003, 38) und seines Teams, dass die Nachhaltigkeit eines Lernprozesses unmittelbar von der emotionalen Stimmung eines Menschen abhängt (vgl. ebd.). Denn die intrasubjektive Stimmungslage eines Individuums ist ausschlaggebend dafür, in welchem Bereich das Gehirn eine Information speichert (ebd.). So werden etwa sogenannte neutrale Fakten178 (ebd.), welche in einem „positiven emotionalen Kontext“ (ebd.) gelernt werden, im Hippocampus abgelegt, während dieselben Informationen bei dem Einwirken von negativen Emotionen in der Amygdala gespeichert werden. Dabei ist der Ort der Speicherung entscheidend für unser Vermögen, die einmal gespeicherte Information auch in der Zukunft erneut abrufen zu können. Spitzer (ebd.) führt hierzu aus, dass nur Informationen, welche im Hippocampus hinterlegt wurden, langfristig in der Hirnrinde gespeichert und vom Individuum bewusst genutzt werden können. Wird eine Information jedoch von der Amygdala verwaltet, ist ein solch bewusster Zugang nicht gegeben. In diesem Fall stehen die Informationen dem Individuum primär affirmativ zur Verfügung und ein kreativer Umgang mit ihnen ist nicht mehr möglich (vgl. Spitzer 2003, 38; Schell 2004, 16). Die aus unterschiedlichen Forschungszweigen zusammengetragenen empirischen Befunde verdeutlichen, welche Relevanz aus didaktischer Sicht der Kultivierung eines emotional ansprechenden Lernraums zukommen sollte. Eine erste Vorstellung, welche Kriterien hierfür möglicherweise zu berücksichtigen sind, bieten ältere Studien des inzwischen emeritier-

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ten Psychologieprofessors der Universität von Chicago Mihály Csíkszentmihályi (vgl. 1985). In diesen hatte sich Csíkszentmihályi (vgl. 1985, 30) mit Künstler*innen und Sportler*innen beschäftigt und beobachtet, dass viele von ihnen im Prozess ihres Schaffens vollkommen aufgingen, während sie nach Beendigung ihrer Tätigkeit das Interesse an ihren Werken verloren. In späteren Untersuchungen ließen sich ganz ähnliche Verhaltensweisen auch bei anderen Tätigkeitsgruppen (u.a. Amateursportler*innen, Schachmeister*innen, Komponist*innen etc.) beobachten (vgl. Wittoch 2004, 146). Csíkszentmihályi (vgl. 1985, 31) bezeichnete dieses Phänomen des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit, welches sich auf der individuellen Ebene durch ein Versunkensein in die eigene Schaffenswelt und eine damit einhergehende hohe Konzentration auszeichnet, als flow. Emotional äußert sich ein solcher flow-Effekt dabei in einem subjektiven Empfinden von Emotionen wie Glück, Vergnügen, Befriedigung, Freude usw. (vgl. Wittoch 2004, 146), wobei die Voraussetzung für ein positives flow-Erleben darin besteht, dass das Anforderungsniveau der vollzogenen Tätigkeit in einem proportional günstigen Verhältnis zum intrasubjektiven Fähigkeitsniveau liegt (vgl. Csíkszentmihályi 1985, 80).

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Konkret tendieren Lernende mit negativer emotionaler Stimmung z.B. zu weniger kreativen und mehrdimensionalen Lösungsstrategien. (vgl. Möller/Köller 1996, 129). Der Begriff der neutralen Fakten, den der Neurobiologe Manfred Spitzer (vgl. 2003, 38) verwendet, beschreibt, dass Informationen erst durch ihre subjektive emotionale Einfärbung eine Bedeutung erhalten. Von Natur aus sind sie sozusagen blass und farblos.

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Abbildung 1: Das flow-Modell. Modifizierte Grafik nach Csíkszentmihályi 1985, 80. Die gepunkteten Mittellinien repräsentieren dabei das durchschnittliche Fähigkeits- (X-Achse) und Anforderungsniveau (Y-Achse) einer Person.

So können sich auch Emotionen wie Angst, Langeweile oder Apathie einstellen, wenn die erlebten Anforderungen das eigene Fähigkeitsniveau übersteigen oder das Subjekt überfordert wird. Prinzipiell kann nach dieser Theorie jede Tätigkeit zu einem flow-Erleben führen, allerdings merkt Margarita Wittoch an, dass keine Tätigkeit „in der Lage [ist], diesen Zustand über längere Zeit aufrechtzuerhalten. Um im flow zu bleiben, muss sich die Komplexität der Tätigkeit ständig erhöhen, indem man schwierigere Herausforderungen aufsucht.“ (Wittoch 2004, 146). Die Forschungsbemühungen von Fausto Massimini, Mihály Csíkszentmihályi und Antonella Delle Fave (vgl. 1991, 85-90) sowie Massimini und Carli (vgl. 1991, 293-308) verstärken den Verdacht, dass es sich beim flow-Effekt um ein universelles Phänomen handelt. In mehreren

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qualitativen Studien konnten die Autoren, zusammen mit ihren Teams, bei über 1000 Personen aus divergierenden Alters- und Tätigkeitsgruppen mit variierendem Geschlecht und unterschiedlichen kulturellen und ethnographischen Hintergründen den von Csíkszentmihályi (vgl. 1985) beschriebenen flow-Effekt identifizieren. Dabei wurde auch deutlich, dass die Versuchspersonen bei flow-Erlebnissen „die höchste Konzentration aufbringen, ihre höchste Kreativität verwirklichen und das intensivste Gefühl haben“ (Wittoch 2004, 148). Für den Einsatz in der Schule werden flow-Erlebnisse didaktisch nützlich, wenn es gelingt, das intrasubjektive Fähigkeitsempfinden mit einem als anregend, nicht jedoch als überfordernd empfundenen Anforderungsniveau zu verbinden (vgl. Abbildung 1). Voraussetzung hierfür ist eine diesbezüglich stimmige Selbst- bzw. Fremdeinschätzung der subjektiven Fähigkeiten und des dazu passenden Anforderungsniveaus. Für die Mathematikdidaktik179 empfiehlt Wittoch (vgl. 2004, 154) z.B., dass von Seiten der Lehrkräfte im Unterricht ein breites Aufgabenspektrum vorgesehen werden sollte, um der in Schulklassen üblichen Leistungsheterogenität besser entsprechen zu können, etwa durch den Einsatz von kaskadischen Aufgabenstellungen, bei denen das Anforderungsniveau von Stufe zu Stufe ansteigt. Für die Konstruktion von Aufgabenstellungen lassen sich bei Margarita Wittoch (vgl. 2004, 156f.) darüber hinaus konkrete Hinweise finden, die im Folgenden leicht modifiziert wiedergegeben werden. So lassen sich (1) Minimalziele für Aufgaben setzen, z.B. indem Lernende 179 Für die Sportdidaktik beschreibt Beate Blanke (vgl. 2006, 54) ein ganz ähnliches Phänomen, was sie als Prickel-Effekt bezeichnet. Demnach können Menschen bei Bewegung positive Emotionen (Blanke 2006, 25) (Prickel) empfinden, welche sich für den Sportunterricht gezielt kultivieren und nutzen lassen. Die Grundidee formu lierte Blanke wie folgt: „jede Bewegung, sei sie noch so unvollkommen gemessen an dem angestrebten Ziel, hat ein positives Potenzial, das erlebt und bewusst gemacht werden kann. Dieser positive Erlebnisaspekt kann als Ausgangspunkt für Veränderun gen didaktisch genutzt werden“ (Blanke 2006, 26f.).

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zunächst zwei Sichtweisen auf ein politisches Phänomen wiedergeben sollen. Gelingt dies, können die Lernenden nach eigenem Ermessen weitere Sichtweisen konstruieren. (2) Freie Aufgabenwahl, bei denen Aufgaben auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus angeboten werden, wobei die Lernenden selbst entscheiden, mit welchem Niveau sie sich beschäftigen wollen. Diese Wahlfreiheit der Lernenden kann von den Lehrenden zudem als unterrichtsdiagnostisches Mittel genutzt werden, um die Selbstwahrnehmung der Lernenden zu erfassen. (3) Selbstregulation des Schwierigkeitsgrades, so dass die Lernenden die Möglichkeit haben, gestellte Anforderungen anhand ihrer eigenen Fähigkeiten auszurichten, indem sie z.B. selbst die zu erreichenden Zielkriterien definieren. (4) Aufgabengenese bedeutet, dass die Lernenden Aufgaben und Lösungswege selbst bestimmen. Nach den unterrichtspraktischen Erfahrungen von Wittoch (vgl. ebd., 157) orientieren sich Schüler*innen dabei zunächst häufig an ihnen bekannten Aufgabenmustern, mit der Zeit zeichnen sich die von den Lernenden selbsterstellten Aufgaben jedoch durch eine zunehmende Originalität und Kreativität aus und scheinen daher ebenfalls gut geeignet, um flow-Effekte in schulischen Kontexten zu ermöglichen. Neben dem genannten flow-Effekt beschrieb Csíkszentmihályi (vgl. 1985, 200ff.) auch eine Art microflow, der jedoch lange Zeit relativ unbeachtet blieb (vgl. Wittoch 2004, 150), dessen Bedeutung für das somatische und emotional-kognitive Funktionieren eines Individuums jedoch von außerordentlicher Bedeutung zu sein scheint. Nach Csíkszentmihályi (ebd.) können microflows in kleinen Alltagssituationen, wie z.B. dem Kaffeetrinken, einer Zigarettenpause, beim Duschen oder durch einen Scherz, auftreten. Bei einem Versuch an der Universität von Chicago, bei dem Studierende 48 Stunden lang in den Zustand der Deprivation versetzt wurden, indem sie auf alle ihre individuell ermittelten kleinen microflows verzichteten, stellte sich heraus, dass diese „scheinbar nutzlosen »Verhaltenssplitter«“ (ebd., 200) entscheidend für unser Fähigkeitsvermögen sind, alle möglichen Anforderungen zu bewältigen.

Atmosphäre

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Sogar eine kurze, unvollständig überwachte Deprivation ruft negative Veränderungen im körperlichen Befinden, im kognitiven Funktionieren und in der Selbstwahrnehmung hervor und verändert das Verhalten. Es ergaben sich Veränderungen im Verhalten der Teilnehmer, welche in mancher Hinsicht dem Phänomen der wahllosen Aufmerksamkeit von Schizophrenie ähnelten. (ebd.).

Aus didaktischer Perspektive sollten diese Befunde Anlass dazu geben, kleine Spielereien im Schul- bzw. Unterrichtsalltag nicht einfach als Störvariablen abzutun, zu verhindern oder gar zu sanktionieren, sondern diese als mögliche Quellen des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit zu betrachten.

9.1 Atmosphäre Die oben (vgl. Kapitel 9) dargestellten Arbeiten von Gläser-Zikuda (vgl. 2001), Möller und Köller (vgl. 1996) sowie von Csíkszentmihályi (vgl. 1985) betonen alle gleichermaßen die Bedeutsamkeit der Atmosphäre180 beim Lernen. So kann ohne eine für Lernende passende Atmosphäre weder das Erlernte nachhaltig abgespeichert werden, noch lassen sich für Lernprozess vorteilhafte Flow-Erlebnisse erzeugen. Ihre Bedeutung für den schulischen Kontext soll im Folgenden daher noch einmal gesondert hervorgehoben werden. Dabei wird sich vornehmlich an Ackermann (vgl. 1991, 89) orientiert, der diesbezüglich aus der politischen Sozialisationsforschung zwei Aspekte ableitete, welche als Grundbedingungen für die Kultivierung einer emotional ansprechenden Lernatmosphäre aufgefasst werden können. Demnach sollte (a) die Art des intersubjektiven sozialen Umgangs (z.B. der Kommunikations- und Interaktionsstil (vgl. ebd.)) so angelegt sein, 180 Nach dem allgemein vorherrschenden Verständnis wird unter Atmosphäre hier die wahrnehmbare Stimmung innerhalb einer definierten Umwelt begriffen (vgl. Fremd wörterlexikon 2004, 88).

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Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung

dass ein wechselseitiges und stabiles Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten entstehen kann (vgl. hierzu auch Krieger 1999, 313). Ein solches Verhältnis stellt die Grundlage für eine subjektiv als sicher empfundene Atmosphäre dar, innerhalb derer die Lernenden ihre politische Urteilsfähigkeit erproben können, ohne dass sie befürchten müssten, dass z.B. eine Thematisierung von emotionalen Aspekten oder Empfindungen etwa Stigmatisierungs- oder Exklusionseffekte nach sich zieht. Die zweite wichtige atmosphärische Voraussetzung (b) stellt das ausreichende Vorhandensein der Ressource Zeit dar (vgl. Ackermann 1991, 89). So merkt etwa Breit (vgl. 1991, 66) an, dass die Atmosphäre letztlich ausschlaggebend dafür sei, inwiefern Lernende die Möglichkeit und Bereitschaft entwickeln, sich über (ihre) Emotionen auszutauschen. Ein solcher Austausch benötigt einen ausreichenden zeitlichen Rahmen als Voraussetzung, um Emotionen in komplexen Situationen (wie beim politischen Urteilen) ausdrücken, wahrnehmen, reflektieren und bestenfalls verstehen zu können. Gibt es hingegen kein Zeitinvestment, um sich auch mit den emotionalen Anteilen eines politischen Urteils auseinanderzusetzen, wird die emotionale (Aus-)Bildung der Lernenden vernachlässigt. Schließlich besteht Urteilen genauso aus emotionalen wie aus rationalen Elementen, die im Rahmen politischer Bildungsprozesse zu berücksichtigen sind (vgl. Kapitel 6).

9.2 Die Rolle der Lehrenden Eine emotional als positiv empfundene Verbundenheit zwischen Lernenden und Lehrenden gilt als wichtige Bedingung des Gelingens jeglicher Lehr-Lernprozesse (vgl. Krieger 1999, 313)181. Welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, wurde bereits in den vorausgegangenen Abschnitten (vgl. Kapitel 9 und 9.1) thematisiert und wird auch nachfolgend in Kapitel 9.3 weiter thematisiert. Um in diesem Zusammenhang jedoch voraussehbare Fallstricke

Die Rolle der Lehrenden

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zu umgehen, soll hier zunächst explizit auf Grenzen und Schwierigkeiten hingewiesen werden, die in der Praxis bei einer stärken Fokussierung auf emotionale Aspekte des Lernens seitens der Lehrenden bestehen können. So muss zunächst einmal festgehalten werden, dass es sich bei Lehrenden generell nicht um Psycholog*innen handelt. Weder ihre fachliche Profession noch ihre (Aus-)Bildung inkludiert eine psychologische Professionalität etwa in Bezug auf ein Lesen, Deuten oder Verstehen von Affekten, Emotionen oder Stimmungen. Es wäre daher eine ungerechtfertigte Überforderung würde man Entsprechendes von Lehrer*innen erwarten. Trotzdem scheint es wünschenswert, wenn das Themenfeld der Emotionalität in der Lehramtsbildung keine reine Randerscheinung darstellt, sondern deren Verwicklungen innerhalb von Lehr-Lernprozessen stets mit thematisiert würden. Einen möglichen Ansatzpunkt hierfür nennt Gotthard Breit (vgl. 1991, 68), der vorschlug, bei der Auswahl von Fällen für den Unterricht mögliche emotionale Reaktionen seitens der Lernenden bereits bei der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. Wobei eine Schwierigkeit dabei mitunter darin liegen dürfte, dass sich Lernende in klassischen schulischen Kontexten bisweilen bewusst bzw. unbewusst oftmals kontrastiv zu der intrasubjektiven emotionalen Einschätzung der Lehrperson verhalten. Breit (ebd.) selbst führt hierzu aus: „Bei Fallbeispielen, die ihn selbst innerlich bewegen, muß er [gemeint ist die/der Lehrer*in, d. Verf.] damit rechnen, daß die Jugendlichen von dem Ereignis nicht berührt werden und dies auch – mitunter in provozierender Weise – zeigen“. Emotionen antizipieren zu wollen, ist also alles andere als eine einfache Angelegenheit und dürfte wiederum maßgeblich von der Atmosphäre (s.o.) innerhalb einer Lehr-Lerngemeinschaft abhängigen. Peter Henkenborg betont in diesem Zusammenhang daher ebenfalls, dass Lehrpersonen die Aufgabe haben,

181 Zur generellen Bedeutung der Lehrperson für den Lernerfolg vergleiche auch die Aus führungen von John Hattie (2013) in seinem viel beachteten Werk Lernen sichtbar machen.

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„die Entwicklung von Selbstvertrauen durch die Erfahrung von emotionaler Zuwendung zu garantieren.“ (Henkenborg 1999, 615). Unter der Voraussetzung stimmiger Rahmenbedingungen bietet – aus fachdidaktischer Perspektive – die Berücksichtigung von Emotionalität in der LehrLernplanung durchaus die Chance, Unterrichtsprozesse stärker an der Lebenswirklichkeit von Lernenden auszurichten (vgl. Klee 2008, 108)182. Wobei sich, aus demokratischer Sich, von selbst versteht, dass emotionale Stereotypen dabei nicht manipulativ bedient werden dürfen, wie dies z.B. zur Zeit des Nationalsozialismus oder auch während der SED-Herrschaft in den Klassenzimmern üblich war (vgl. Breit 1991, 67), sondern divergierende emotionale Verbindungen zwischen den Lernenden und den behandelten Phänomen angeregt, ermöglicht und gefördert werden sollten.

9.3 (Politik-)Unterricht In den 1920er Jahren beklagte der Weimarer Reformpädagoge Paul Hermann August Oestreich (vgl. 1924, 376f.) in einem intellektuellen Disput mit seinem Kollegen Theodor Litt (vgl. 1924)183 eine Verkopfung184 der schulischen Bildung185. Ein Vorwurf, der von Hilbert Lühr Meyer aufgenommen wurde, als er Schulunterricht im Allgemeinen die „einseitige Formierung der sinnlich-mehrdimensionalen Denk- und Handlungsweisen der Schüler“ (Meyer 2000, 65, Hervorh. im Original) nannte. Dass dieses

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In Bezug auf das politische Urteilen vergleiche hierzu auch die Kapitel 3; 4; 5. Ein späterer Schüler von Theodor Litt war im übrigen Wolfgang Klafki. Mit dem Terminus Verkopfung wird hier eine Bildungsvorstellung beschrieben, nach der sich Bildung am besten vollzieht, wenn primär die ratio eines Menschen angesprochen wird. „,Bildungʼ darf nicht Intellektualismus sein, ,Verkopfungʼ war des Industrialismus Unterwerfungsmittel und Erfolg .“ (Oestreich 1924, 376f.)

(Politik-)Unterricht

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Phänomen auch lange Zeit für den Politikunterricht zutraf, verdeutlicht ein Zitat von Paul Ackermann aus den 1990er Jahre: „Auch im politischen Unterricht, so bestätigen alle empirischen Untersuchungen, steht die Vermittlung von Kenntnissen und Wissen im Vordergrund“ (Ackermann 1991, 80). Zwar sollte sich dieser Sachverhalt im Nachklang der sogenannten didaktischen Wende (vgl. FN 74) inzwischen gewandelt haben, doch ist es zumindest zweifelhaft, ob nicht doch in vielen Klassenzimmern und Seminarräumen politische Sprechakte und Diskussionen als praktische Unterrichtsmethoden weiterhin dominieren. Dabei stellt sich gerade aus einer mehrdimensionalen186 Lernperspektive die Frage, ob durch eine solch starke Orientierung auf kognitive Prozesse emotionalen Lerngehalten auf der subjektiven Ebne hinreichende Ausdrucks- und Erfahrungsräume zur Verfügung stehen. Der Englischdidaktiker Michael Legutke (vgl. 1988, 13) merkt hierzu kritisch an, dass sich die sinnlichen Auseinandersetzungsformen der Lernenden mit Lerngegenständen im Laufe einer Schulkarriere typischerweise ständig reduzieren. Während sich vor allem die jüngeren Schüler*innen Phänomenen in der Regel durch Techniken wie Ausmalen, Singen, Basteln, Collagen, Fotographie, Inszenieren usw. erschließen, beschränken sich bei Älteren die Auseinandersetzungsformen hauptsächlich auf das Zuhören und Sprechen187. Dabei gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass die durchschnittliche Qualität und Effektivität bei didaktisch ganzheitlich ausgerichteten Lernprozessen – unabhängig von der Altersstufe

186 Zur Unterscheidung von Mehrdimensionalität und Ganzheitlichkeit vgl. die Anmerkungen hierzu von Paul Ackermann (1991, 80f.). 187 In diesem Zusammenhang weist Paul Ackermann (vgl. 1991, 88) zudem darauf hin, dass gerade intellektuell förderwürdige Schüler*innen von mehrdimensionalen und ikonischen Ausdrucksformen im Politikunterricht profitieren können. Und Gotthilf Gerhard Hiller (vgl. 1989, 98ff.) geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er anführt das gerade Schulkinder mit Zuwanderungsgeschichte von ikonischen Lehransätzen profitieren könnten, wodurch die didaktische zu einer politischen Frage avanciert.

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Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung

der Lernenden – im Vergleich zu einseitig orientierten Ansätzen zunimmt (vgl. hierzu auch Kapitel 5.5). Legutke (vgl. 1988, 13) etwa sieht in der fragmentarischen Trennung von Lernenden in sprechende Köpfe und passivisierte Restkörper die Gefahr, dass in pädagogischen Kontexten auch das Denken und Fühlen fälschlicherweise getrennt betrachtet wird. Die Folge wäre eine einseitige Fokussierung auf kognitive Prozesse und das Ausklammern emotionaler Expressionen. Mahnend merkt er hierzu an, dass „besonders die Schule seit Jahrzehnten die Einheit des Menschen aus Wahrnehmung, Gefühle, Denken und praktischem Handeln zugunsten einseitiger kognitiver Operationen und Zielvorstellungen partialisiert und so schöpferische Potenziale ignoriert oder unterdrückt“ (Legutke 1988, 41). Und nach Paul Ackermann kann eine „einseitige Dominanz einer Dimension im Lernprozeß“ (Ackermann 1991, 81) gar zu „einseitigen Lernergebnissen und zu einer Deformation des Schülers führen“ (ebd.). Auch wenn unklar bleibt, was Ackermann (vgl. ebd.) unter der Deformation eines Schülers versteht, so scheint es doch nicht verwunderlich, wenn eine einseitige Unterrichtsform auch zu einseitigen Lernerfahrungen führt. Zumindest legt die neurowissenschaftliche Forschung bereits seit Anfang der 1980er Jahre nahe: „Über je mehr Kanäle […] eine Information eintrifft, umso eher wird sie als solche Assoziationsmöglichkeiten vorfinden. Je mehr Assoziationen aber, desto größer auch die sogenannte Motivation, der Bewegrund, der Antrieb, und damit auch die Aufmerksamkeit zum Lernen.“ (Vester 2002, 142, Hervorh. im Original). Dabei betont Vester (vgl. ebd., 119) vor allem auch, dass für die Speicherung und Verarbeitung von Informationen gerade Emotionen von besonderer Bedeutung sind, ihre Rolle zu negieren, würde daher die „Ignorierung der Einheit zwischen Denken und Fühlen“ (Vester 1999, 478) bedeuten. Dass Emotionen und Stimmungen auch im Politikunterricht eine Rolle spielen, sollte vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen (vgl. Kapitel 9) bereits deutlich geworden sein. Dennoch wurde der mögliche positive Einfluss von Emotionen auf den Politikunterricht vermutlich

(Politik-)Unterricht

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„angesichts offenkundiger Gefahren des Mißbrauchs“ (Sutor 1999, 109) lange Zeit kaum diskutiert (vgl. ebd.). So ist die seit den 1960er Jahren unter Politikdidaktiker*innen weit verbreitete Vorstellung einer kategorial-strukturierten Urteilsbildung (vgl. ebd., 109f.) z.B. Ausdruck eines einseitigen Rationalitätsverständnisses, wobei die symbiotische Beziehung von Rationalität und Emotionalität weitgehend ignoriert wird188 (vgl. Kapitel 6.1.1) oder nur eine unbestimmte Erwähnung findet189 (vgl. Massing 1997, 119). Etwaige Forderungen, die Rolle von Emotionen für den politischen Lehr-Lernprozess fruchtbar zu machen und insbesondere bei der politischen Urteilsbildung stärker zu reflektieren (vgl. Breit 1991; Hilligen 1991), beantwortete etwa Sutor (vgl. 1999, 116-118), indem er dafür plädiert, Emotionen unter das Primat der Rationalität zu stellen. Demnach gilt es, emotionale Korrelate unter rationale Kontrolle (ebd.) zu bringen und sie somit der emotionalen Sphäre zu entziehen, indem z.B. „nach der soziokulturellen Bedingtheit und Perspektivität unserer Meinungen und Urteile“ (ebd.) gefragt wird. Nach den Anhänger*innen einer solchen Sichtweise fällt Emotionalität in Lehr-Lernprozesse primär die Rolle von Störfaktoren zu190, welche eine vernünftige, rationale Auseinandersetzung mit politischen Phänomenen erschweren und die es daher durch rationale Reflexionen zu zähmen gilt.

188 189 190

Anja Besand bezeichnet den Umgang mit Emotionen in der Politikdidaktik etwa als „blinden Fleck“ (Besand 2015, 217). „Trotz aller ‚Rationalität‘ werden politische Urteile aber auch immer, wie oben beschrieben, einen emotionalen Anteil enthalten. Dieser läßt sich zum Teil bewußt machen, und er wird damit dem Dialog zugänglich, er lässt sich aber nicht ‚wegrationalisieren‘. Zum Teil läßt er sich aber auch nur feststellen und muß unaufgeklärt bleiben. Diesen emotionalen Anteil des politischen Urteils eben als solchen akzeptieren zu lernen, ist ebenfalls Aufgabe politischer Urteilsbildung im Unterricht“ (Massing 1997, 125). Bernhard Sutor (vgl. 1999, 118) sieht in der rationalen Bändigung von Emotionen sogar das Hochziel der politischen Bildung schlecht hin.

206

Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung

Neben ihrer Rolle als potenzielle Störfaktoren wird ihnen in anderen politikdidaktischen Konzeptionen immerhin eine initiierende Unterrichtsfunktion eingeräumt (vgl. Reinhardt 2009, 147; Petrik 2013, 353). Emotionen eignen sich demzufolge, um Aufmerksamkeit zu generieren, Interesse zu schaffen und hierdurch eine Anfangsverbindung zwischen Lernenden und Lerngenständen zu konstruieren. Florian Weber-Stein (vgl. 2017, 65ff.) geht demgegenüber in seinen theoretischen Konzeptionen einen deutlichen Schritt weiter, indem er u.a. den Einfluss von Emotionen im Hinblick auf die Wertebildung bei politischen Urteilsprozessen beleuchtet. Unter Rückbezug auf Max Scheler, der konstatierte: „Werte sind uns im Fühlen zunächst gegeben“ (Scheler 1980, 56), führt er aus, dass sich individuelle Wertvorstellungen ohne Berücksichtigung der ihnen inhärenten subjektiven Emotionen für die Zwecke der Politikdidaktik nicht hinreichend rekonstruieren lassen (vgl. Weber-Stein 2017, 67f.). Ein Ansatz, der – wie bereits dargelegt wurde (vgl. Kapitel 5.4) – auch in der vorliegenden Arbeit vertreten wird. Praktisch mangelt es jedoch bislang an konkreten Konzeptionen, wie sich ein Umgang mit Emotionen im Politikunterricht operationalisieren lässt. Aus diesem Grund sollen im Folgenden zwei Ansätze aus den 1990er Jahren von Gotthard Breit (vgl. 1991) und Wolfgang Hilligen (vgl. 1991) diskutiert werden, welche trotz ihres weit zurückliegenden Erscheinungsjahres m.E. nach relevante Hinweise enthalten. So verdeutlicht etwa Breit in seinem Text Fühlen und Denken im politischen Unterricht (vgl. Breit 1991, 58f.), dass die oftmals im Politikunterricht – gerade in Bezug auf die politische Urteilsbildung – geforderte Perspektivenübernahme191 zur Entstehung von Empathie und damit verbundene Emotionen wie etwa Mitgefühl oder Empörung führen kann (vgl. Breit 1991, 58f.). Aus didaktischer Perspektive ist dabei die emotionale Involvierung der Lernenden in Bezug auf den Lerngengenstand ausdrücklich erwünscht192. So betont Breit, dass Kinder bereits mit ca. acht Jahren durchaus in der Lage seien, fremde

(Politik-)Unterricht

207

Perspektiven einzunehmen und „Ereignisse auch vom Standpunkt anderer Personen aus zu sehen“ (1991, 59). Dabei scheint offenkundig, dass ein authentisches Hineinversetzen in eine fremde Perspektive nicht nur kognitiv-rationale, sondern auch affektive und emotionale Aspekte beinhaltet. Die Übernahme vermeintlicher Empfindungen einer anderen Person können demnach im Politikunterricht als Ausgangspunkte für politische Reflexion dienen. Nach den Beobachtungen von Breit (vgl. 1991, 61) kommt dabei bewusst oder unbewusst in der schulischen Praxis meist reflexartig eine Form des kategorischen Imperativs bzw., wie Breit (vgl. 1991, 61) es unter Bezugnahme auf Lawrence Kohlberg, Dwight R. Boyd und Charles Levine (vgl. Kohlberg et al. 1986, 213) ausdrückt, die Goldene Regel 193 zum Einsatz. Bei gelungener Übernahme einer fremden sozialen Perspektive auf ein politisches Phänomen wird dieses quasi automatisch mit dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden verglichen. Eine erfolgreiche soziale Perspektivenübernahme führt dabei in Bezug auf politische Kontexte fast in kausaler Form auch zu einer normativen Bewertung politischer Phänomene. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass es gelingt, im Zuge 191 192 193

Für eine ausführliche Diskussion des Modells der Perspektivenübernahme sei auf den Beitrag von Gotthard Breit verwiesen (vgl. 1991) sowie den ebenfalls von Breit (vgl. 1999, 386f) verfassten Handbuchbeitrag. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Methode der Perspektivenübernahme nur dann für den Unterricht gewinnbringend erscheint, wenn es sich bei der fremden Perspektive um eine von den Lernenden divergierende Perspektive handelt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Lernenden „sich darin bestärkt [sehen], den Fall einseitig zu sehen und zu beurteilen. Da für sie alles eindeutig feststeht, muß nichts geklärt und nicht mehr nachgedacht werden.“ (Breit 1991, 66). Die Entscheidung über Lerngegenstände anhand derer sich emotionale Perspektivenwechsel anbieten, lässt sich daher nur unter genauer Kenntnis der Lerngruppe treffen. „In der positiven Version ›Gehe mit anderen so um, wie du willst, daß man mit dir umgeht!‹ gelangt die Haltung des Wohlwollens zum Ausdruck, die in der christlichen Maxime ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹ noch stärker betont wird. In der negativen Version ›Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!‹ gelangt die Haltung der Gerechtigkeit zum Ausdruck, mit der die Rechte und Autonomie anderer respektiert und geschützt wird.“ (Kohlberg et al., 1986, 213)

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Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung

des Reflexionsprozesses die Individualebene – auf welcher sich moralische Urteile (vgl. den Exkurs bezüglich moralischer Urteile) zumeist bewegen – zu verlassen und in eine gesamtgesellschaftlich politische Ebene zu wechseln, um z.B. für eine auf der individuellen Ebene empfundene Empörung mögliche strukturelle Ursachen auf der Gesellschaftsebene zu identifizieren. Nur wenn dieser Abstraktionsprozess gelingt und emotionale Betroffenheit sich nicht in einem selbstreferenziellen moralischen Urteilsrahmen erschöpft, kann schlussendlich von einem politischen Urteil gesprochen werden. Das Weiterdenken eines zuerst auf der individuellen Ebene empfundenen Phänomens auf der politischen Metaebene ist aus emotionsdidaktischer und politischer Perspektive aber auch noch aus einem weiteren Grund von zentraler Bedeutung. Denn wenn „das systematische kategoriale Durchdenken abstrakter politischer Zusammenhänge“ (Breit 1991, 65) ausbleibt, „besteht die Gefahr, daß Gefühle in irrationales Denken und Handeln umschlagen“ (ebd.). Zudem kann sich das Individuum nur durch ein eigenes, emanzipiertes politisches Denkvermögen vor einer emotionalen Instrumentalisierung und Manipulierung auf der individuellen Ebene schützen. „Emotionale Erfahrungen bedürfen daher der Ergänzung durch selbstbestimmtes politisches Denken.“ (ebd.). Nach den Erfahrungen des Politikdidaktikers Gotthard Breit (vgl. ebd., 70) ist bei der Reflexion von emotionalen Gehalten im Politikunterricht jedoch grundsätzlich Vorsicht geboten: „im sichern Hort des Klassenzimmers lassen sich leicht Mitgefühl und Empörung zeigen, denn es besteht kein Risiko, auch dementsprechend handeln zu müssen. Ebenso wenig zieht das Eintreten für bestimmte politische Problem- bzw. Konfliktlösungen persönliche Konsequenzen nach sich.“ (ebd.). Eine kritische Anmerkung, welche auch im Hinblick auf die folgende Untersuchung, sowohl was die Entwicklung der Erhebungsinstrumente als auch die Datenauswertung betrifft, von Bedeutung erscheint. Es stellt sich angesichts dieses kritischen

(Politik-)Unterricht

209

Befundes von Breit (vgl. ebd.) jedoch auch die Frage, wie es allgemein um die Sinnhaftigkeit bestellt ist, emotionale Elemente im Politikunterricht bewusst berücksichtigen zu wollen. Breit (vgl. ebd.) selbst konstatiert hierzu, dass die Fähigkeit, emotionale Betroffenheit in politischen Prozessen mitzureflektieren, den Lernenden auch nach der Schulzeit erhalten bliebe und dass sie daher letztlich „aus wohlverstandenem Eigeninteresse heraus“ (ebd.) die Notwendigkeit der demokratischen Teilhabe einsehen würden (ebd., 70, 74). Eine im Sinne der Aufklärung durchweg optimistische Einstellung, deren empirische Validierung jedoch noch aussteht. Wolfgang Hilligen (vgl. 1991) versucht sich in seinem Aufsatz Einigen Thesen zum Verhältnis von Denken, Fühlen und Handeln im Politikunterricht u.a. an der schwierigen Aufgabe, emotionale Lernziele für den politischen Unterricht auszuweisen. Dabei plädiert er dafür, nicht an den zurecht (vgl. Kapitel 1) in Verruf gekommenen nationalstaatlichen Symbolen (z.B. Fahnen, Hymen Feiert etc.) festzuhalten, sondern ein, wie er es nennt, „Grundgesetzpatriotismus“ (Hilligen 1991, 47) zu fördern194. Darunter versteht er die Identifikationen mit Aspekten wie der Meinungsfreiheit, der generellen Unantastbarkeit der menschlichen Würde oder das Recht, Vereine und Gesellschaften gründen zu dürfen (vgl. ebd., 48). Progressiv ließe sich eine solche Zielperspektive leicht über den nationalen Kontext ausdehnen, indem an die Stelle des Grundgesetzes z.B. die Charta der Vereinten Nationen und die in ihr verschriftlichten Menschenrechte treten und sich demzufolge auch von einem Menschenrechtspatriotismus sprechen ließe. Zur methodischen Realisierung bemerkt Hilligen (vgl. ebd., 447ff.),

194 Auch wenn Hilligen (vgl. 1991) dies nicht erwähnt, so liegt es doch nahe, dass er sich dabei an dem Verfassungspatriotismus-Begriff von Dolf Sternberger (vgl. 1990, 17) orientierte, welchen dieser in einer Rede zum 25-Jährigen Bestehen der Akademie für politische Bildung als Zielperspektive politischer Bildung definiert und auf den auch weitere Didaktiker*innen wie etwa Sutor (vgl. 1991, 116) in ihren Werken Bezug nehmen.

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Emotionen und Schule: eine theoretische Annäherung

dass es weniger auf ein institutionskundliches Lehren ankomme, sondern vor allem auf das Erlebbarmachen gewünschter demokratischer Werte. Die Einsicht der universellen Menschenwürde etwa lässt sich demnach am effektivsten vermitteln, wenn die Würde der Lernenden selbst jederzeit gewahrt wird und spürbar bleibt. Damit knüpft Hilligen (vgl. ebd.) nicht nur an die beschriebenen atmosphärischen Lernbedingungen an (vgl. Kapitel 9.1), sondern weist – radikal zu Ende gedacht – bereits in die Richtung weitgehender demokratischer Schulkonzepte wie etwa von den Sudbury Schulen realisiert werden (vgl. Schröder 2017, 167ff.).

10 Emotionen und politisches Urteilen: eine theoretische Annäherung Bereits vor über zehn Jahren konstatierte Juchler (vgl. 2005a, 63ff.), dass sich seit den 1970er Jahren kaum etwas an den Vorstellungen zur Urteilsbildung verändert hat und auch heute scheint im Hinblick auf die anhaltende Unterrepräsentation emotionaler Aspekte in politikdidaktischen Urteilskonzeptionen dieser Befund nach wie vor gültig zu sein (vgl. stellvertretend: Schröder/Klee 2017, 366; Breit 2016, 17; Klee 2008, 108; Deichmann 2015, 51ff.; Pohl 2014, 188f.; Juchler 2014a, 289f.; Reinhardt 2014, 331ff.; Ackermann et al. 2013, 82; Sutor 1997, 102). Zwar betonen viele Konzeptionen durchaus, dass Emotionen bei der politischen Urteilsbildung eine Rolle spielen, etwa wenn sie wie bei Sutor (vgl. 1999, 116118 ) als Rationalität unterminierende Phänomene benannt werden oder wie bei Sibylle Reinhardt (vgl. 2009, 147) und Andreas Petrik (vgl. 2013, 353) als initiierende Kräfte, womit sie – mit den Worten von Tonio Oeftering und Herbert Uhl (2007, 64, Hervorh. im Original) – „auf einen Einstiegsmodus verkürzt“ werden. Im Allgemeinen wird dem Themenkomplex der Emotionen jedoch beim politischen Urteilen selten mehr als eine Randbemerkung zugestanden. Deutlich wird dies z.B. daran, dass nahezu allen Arbeiten gemein ist, dass sie ohne eine ausführliche interdisziplinäre Beschäftigung mit der Emotionsforschung und ohne eine solide Begriffsbestimmung von Emotionen operieren (vgl. u.a. Oeftering/Uhl 2007, 56ff.; Breit 2016, Ackermann et al. 2013 17; Klee 2008, 108; Deichmann 2015, 51ff.; Pohl 2014, 188f.; Juchler 2014a, 289f.; Reinhardt 2014, 331ff.; Sutor 1997, 102). Stattdessen finden sich mitunter kurze Bezüge und Zitationen etwa zu Johann Heinrich Pestalozzi (vgl. 1961, 6f.) und seiner triadischen Vorstellung einer Bildung mit „Kopf, Herz und Hand“ oder zu Max Weber © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_10

212

Emotionen und politisches Urteilen

(1997, 82)195, der eine Politik mit „Leidenschaft und Augenmaß“196 einforderte197. Insgesamt stellt sich jedoch der Verdacht ein, dass sich dahinter eine mentale Infrastruktur offenbart, welche von einem trennbaren Verhältnis zwischen Emotionalität und Rationalität ausgeht (vgl. Kapitel 6). Eine erfreuliche Ausnahme in dieser Hinsicht stellen ältere Arbeiten von Breit (vgl. 1991) und Hilligen (vgl. 1991)198 sowie die aktuellen Arbeiten von Florian Weber-Stein (2017) dar, die sich u.a. mit den „Emotionale[n] Bedingungsfaktoren der politische Werturteilsbildung“ (Weber-Stein 2017, 54) beschäftigen und deren hilfreiche Überlegungen diesbezüglich bereits einige Erwähnung gefunden haben (vgl. Kapitel 5.4; 9.3). Insgesamt muss jedoch konstatiert werden, dass aus politikdidaktischer Perspektive bislang keine systematische Darstellung vorliegt, welche versuchen würde, den Einfluss von Emotionen auf das politische Urteilen möglichst umfassend darzulegen. In Ermangelung derartiger politikdidaktischer Konzeptionen sollen im Folgenden daher einige Hinweise bezüglich einer solchen möglichen Topografie ausgeführt werden, wobei

195

Ob allerdings gerade Max Weber, der wie bereits Schneider (1991, 15) bemerkte, wirklich nicht im Verdacht steht, ein „Emotionalist“ zu sein, als Bezugsperson für eine emotionsaffine politische Bildung taugt, muss bezweifelt werden. Zumindest geht Weber (vgl. 1997, 81-83) in seiner Rede „Politik als Beruf“ so weit, dass er nur einem Subjekt die Fähigkeit zuspricht, in einem höheren Sinne Politik zu machen, welches auch in der Lage ist, mit der Emotion des Scheiterns umzugehen. Im Ver gleich zu seiner Hauptschrift Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. 2010) wirkt Webers Rede auf den ersten Blick daher auffällig emotionalisierend. Wir dürfen jedoch davon ausgehen, dass Weber als bedeutender „politischer Schriftsteller“ (Dahrendorf 1991, 87) seiner Zeit und darüber hinaus, sich über die Notwendigkeit, politische Reden emotional aufzuladen, durchaus im Klaren war (vgl. von Bredow/Noetzel, 2009, 73ff). Seine insgesamt doch recht mageren Bekenntnisse zur Emotionalität in der Politik sollten daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass Weber der Rationalität stets das Primat in der Politik zusprach und der Emotionalität in seinen Entwürfen lediglich eine untergeordnete Rolle zukommt.

Emotionen und politisches Urteilen

213

auch hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Ziel ist jedoch eine adäquate Kartografierung dieses bislang vernachlässigten Feldes. Zur besseren Übersicht sollen das politische Urteil und seine emotionale Eingebundenheit nachfolgend anhand der drei analytischen Rubriken Involvierung und Motivation, Strukturierung und Bewertung sowie Vermittlung und Kommunikation gegliedert werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die nachfolgend beschriebenen emotionalen Anteile des politischen Urteilens nicht alleine in einer der drei Rubriken auftauchen, sondern vermutlich jeder Aspekt sich in allen drei Rubriken wiederfinden lässt. Besonders deutlich wird sich dies etwa bei der Strukturierung von Urteilsargumentationen anhand emotionaler Gesichtspunkte (vgl. Kapitel 10.2) und der sich unmittelbar daran anschließenden Urteilskommunikation (vgl. Kapitel 10.3) zeigen. Da sich dabei jedoch die Zielrichtung, Intentionalität und Funktion zwischen den Ebenen jeweils verschiebt, scheint eine analytische Trennung zwischen den Rubriken durchaus angemessen, um eindeutige didaktische Spielräume und Interaktionsmöglichkeiten identifizieren zu können.

196 197 198

Hinter dem häufig zitierten Satz von Weber (1997, 82), nach dem Politik „ein stark es langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ erfordert, geht der m.E. entscheidende progressive Folgesatz zumeist unter. Dort heißt es: „Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Un möglichen gegriffen worden wäre.“ (ebd.). Eine Mahnung Webers des Status Quo nicht als ultima ratio zu begreifen und die Rolle von Utopien im politischen Prozess nicht zu unterschätzen (vgl. hierzu auch Schröder 2018a). Bezüge auf Weber und seine Hinweise auf die Unvermeidbarkeit von emotionalen Gehalten in der Politik finden sich u.a. in der Monografie von Breit (2016) Mit Leidenschaft und Augenmaß sowie in den Aufsätzen von Grammes (1991, 93) und Schneider (1991, 15) (vgl. zur Kritik derselben zudem FN 196). Beide werden im Kapitel 9.3 diskutiert.

214

Emotionen und politisches Urteilen

10.1 Involvierung und Motivation Nach Ansicht einiger Politikdidaktiker*innen (vgl. Breit 1991, 69; Klee 2008, 108) kommen Emotionen im Rahmen politischer Urteilsprozesse in erster Linie eine motivierende und involvierende Funktion zu. So gelten etwa Emotionen wie Zorn oder Wut als überaus starke Impulsgeber für politische Handlungs- und Urteilsprozesse (vgl. Bredow/Noetzel 2009, 75f.). Weitgehend unklar bleibt in den bisherigen politikdidaktischen Vorstellungen jedoch, auf welche konkrete Art und Weise Emotionen im Rahmen von politischen Urteilsprozessen subjektiv involvierend wirken und warum ihnen zudem die Fähigkeit inhärent zu sein scheint, Menschen zu politischen Urteilen zu motivieren. Mögliche Antworten hierauf liefert ein Blick in die Sozialpsychologie, wonach Emotionen als Unterbrechungsmechanismen fungieren, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf ein konkretes Phänomen lenken (vgl. Betsch et al. 2011, 126). Demzufolge kann man sich einen Menschen als ein Subjekt vorstellen, um dessen Aufmerksamkeit permanent eine Vielzahl von unterschiedlichen und parallel auftretenden Sinneseindrücken konkurrieren. Um innerhalb dieses Chaos, den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit konzentrieren zu können, dienen Emotionen sozusagen als Filterwerkzeuge, mit deren Hilfe das, was wir als subjektiv relevant empfinden, fokussiert und von Irrelevantem getrennt wird. Erst mit Hilfe dieses Mechanismus können sich demnach Urteilsprioritäten herausbilden (vgl. ebd.). Eine These, die durchaus plausibel erscheint. Wir wissen jedoch noch zu wenig darüber, wie genau diese emotionalen Filter funktionieren. So existieren auf der individuellen Ebene bislang blinde Flecken, wenn es darum geht, präzise erklären zu wollen, nach welchen emotionalen Maximen Subjekte ihre selektive Aufmerksamkeit steuern. Naheliegend ist jedoch anzunehmen, dass der Grad der Intensität eines emotionalen Erlebens mit der individuellen Aufmerksamkeit korreliert und externe oder interne Sinneseindrücke ein emotionales Niveau erreichen können, welches uns zwangsläufig dazu bringt, unsere Aufmerksamkeit auf die hierfür verantwortlich gemachten Ursachen zu

Involvierung und Motivation

215

lenken. Wann jedoch ein solch involvierender Grad individuell erreicht ist und welche Abstufungen existieren, dürfte subjektiv variieren und sich nur schwerlich ohne den Einbezug des biografischen Hintergrundes einer Person bestimmen lassen. Obwohl die subjektive Ebene des emotionalen Empfindens in Bezug auf die Generierung von Aufmerksamkeit somit noch nicht hinreichend eruiert werden kann und weitere (interdisziplinäre) Forschungsbemühungen in diese Richtung nötig erscheinen, lassen sich doch auf theoretischer Ebene einige grundsätzliche Unterscheidungsmuster von Emotionalität im Hinblick auf ihre involvierende Kraft festhalten. Hilfreich hierfür ist eine Anlehnung an die Arbeiten des Sprachwissenschaftlers Reinhard Fiehler (vgl. 2008, 761;1990, 94 ff.), wonach im Allgemeinen zwischen vier unterschiedlichen Prozessstrategien von Emotionen unterschieden werden kann: 1. Eingehen (z.B. das Zeigen von Anteilnahme bezüglich einer wahrgenommenen Emotionalität) 2. Hinterfragen (z.B. Problematisierung der manifestierten Emotionalität), 3. Infragestellen (z.B. das Kritisieren der manifestierten Emotionalität) und 4. Ignorieren (z.B. außer Acht lassen der manifestierten Emotionalität). Die These dabei lautet, dass jede Form der emotionalen Involvierung sich mindestens auf einer dieser vier Ebenen konkretisiert und ohne eine solche Konkretisierung auf den Ebenen Eingehen, Hinterfragen und Infragestellen keine hinreichende Motivation für das Fällen eines politischen Urteils entsteht. Graphisch lässt sich diese Annahme wie folgt verdeutlichen:

216

Emotionen und politisches Urteilen

Abbildung 2: Emotionale Reaktionen sind eine Grundvoraussetzung für das Zustandekommen von subjektiver Urteilsbereitschaft.

Urteilsmotivation kann demnach erst dann entstehen, wenn ein subjektiver Sinneseindruck vom Individuum als emotional relevant erachtet wird, um ihm praktische Aufmerksamkeit zu Teil werden zu lassen. Entscheidendes Kriterium für die Relevanzeinschätzung ist dabei das individuelle emotionale Empfinden in Bezug auf den Sinneseindruck, welches in vielerlei Hinsicht (Eingehen, Hinterfragen, Infragestellen, Ignorieren) in Erscheinung treten kann. Es liegt dabei auf der Hand, dass der Art und Weise der emotionalen Reaktion ebenfalls eine strukturierende bzw. bewertende Funktion innewohnt, welche im nachfolgenden Abschnitt aufgegriffen und näher ausgeführt werden soll. Für den Bereich der Involvierung und Motivation kann jedoch vorerst festgehalten werden, dass die Motivation zum Urteilen durch die persönliche emotionale Involvierung entscheidend mitausgelöst werden dürfte. Fehlt hingegen eine solche emotionale Beteiligung auf Seiten der urteilenden Person, „besteht für sie wenig Veranlassung, über eine

Strukturierung und Bewertung

217

soziale oder politische Handlungsorientierung nachzudenken“ (vgl. Breit 1991, 69).

10.2 Strukturierung und Bewertung Neben diesen recht eindeutigen und daher wohl auch weitgehend unumstrittenen Funktionen der Motivierung und Involvierung kommen Emotionen und Stimmungen bei Urteilsprozessen weiterführend auch eine inhaltlich strukturierende und somit gleichsam bewertende Funktion zu. Schemenhaft wurden hierzu bereits mehrere Ansätze, welche eine direkte Einflussnahme von Emotionen auf Urteilsfindungsprozesse darlegen, vorgestellt (vgl. Kapitel 6.2). Im Folgenden sollen die dabei wesentlichen Punkte noch einmal in konzentrierter Form und in Bezug auf ihre Rolle beim politischen Urteilen verdichtet werden. Starkes Gewicht kommt dabei unzweifelhaft neurowissenschaftlichen Ansätzen und dabei insbesondere den Arbeiten von António Damásio (vgl. 2012) zu, welche eine weitreichende Rezeption in anderen Wissenschaftsdisziplinen erfahren und in der klassischen Entscheidungspsychologie zu einem disziplinären Umdenken199 beigetragen haben (vgl. Betsch et al. 2011, 129f.). So hat sich vor allem auf der Grundlage von Damásios (vgl. 2012) Arbeiten auch in naturwissenschaftlichen Kreisen die Einsicht durchgesetzt, dass Emotionen einen direkten Einfluss auf Urteilsprozesse ausüben200. Die Geschichte dieser neurowissenschaftlichen Erkenntnisse lässt sich jedoch nicht ohne

199 So dominierte in der klassischen Entscheidungspsychologie lange Zeit die Annahme, dass Emotionen lediglich indirekt an Entscheidungs- bzw. Urteilsbildungsprozessen beteiligt seien, da sie letztlich kognitiv vermittelt würden (vgl. Betsch et al. 2011, 129). 200 Eine Einsicht, welche aus lernpsychologischer und reformpädagogischer Perspektive „weder neu noch radikal“ (Betsch et al. 2011, 129) erscheint (vgl. exemplarisch etwa Robischon 2000).

218

Emotionen und politisches Urteilen

die Geschichte des Eisenbahnarbeiters Phineas Gage201 erzählen, der bei einem tragischen Unfall im Jahr 1848 von einer fast 2 Meter langen Eisenstange, welche seinen Schädelknochen in voller Länge durchschlug, verletzt worden war und dabei nicht nur sein linkes Auge, sondern auch beachtliche Teile seines orbitofrontalen Kortex einbüßte. Überraschenderweise überlebte Gage den Unfall und auch seine kognitiven Fähigkeiten schienen nicht weiter beeinträchtigt zu sein. Zunächst unbemerkt stellte sich jedoch bald heraus, dass sich seine Persönlichkeit radikal verändert hatte. Er schien nach seinem Unglück nicht mehr derselbe zu sein. Sein Sozialverhalten wich von seinem früheren Verhalten merklich ab und er war generell unfähig, sich in sozialen Kontexten angemessen zu bewegen. Vor allem aber war es ihm fast unmöglich geworden, Handlungspläne umzusetzen, da er offenbar die Fähigkeit verloren hatte, für sich selbst sinnhafte Urteile zu fällen. Exkurs: Der Fall Gage Im Jahr 1848 war Phineas Gage fünfundzwanzig Jahre alt202. Trotz seines geringen Alters hatte er es bei der amerikanischen Eisenbahngesellschaft Rutland & Berlington Railroad Company203 bereits zu einer verantwortungsvollen Stelle als Vorarbeiter gebracht. Zusammen mit seinem Bautrupp hatte man ihm die Verantwortung für den Bau eines Gleisabschnittes quer durch Vermont übertragen. Die idyllische Berglandschaft des Bundesstaates und das Mittelgebirge der Green Mountains erforderte dabei immer wieder den Einsatz von Sprengladungen, um felsige Landabschnitte zu begradigen und die Arbeiten in einem angemessenen Tempo voranzutreiben. Die Sprengungen verliefen dabei stets nach demselben Muster. Zuerst wurden in einen Fels Löcher getrieben und mit Sprengpulver versehen. Danach brachte man die Zündschnur an und füllte die Löcher zur Abdichtung mit Sand auf. Diese Arbeit

Strukturierung und Bewertung

219

war nicht ohne Risiko. Unfälle kamen damals häufiger vor und so fanden sie nur selten überregionale Beachtung. Was sich jedoch am 13. September 1848 ereignet hatte, war außergewöhnlich, so dass es die (Fach-)Welt bis heute beschäftigt. In seiner Funktion als Leiter des Bautrupps hatte es sich Gage zur Angewohnheit gemacht, bei einer Sprengung den Sand, welcher das Sprengloch abdichtete, eigenhändig festzuklopfen. Zu diesem Zweck hatte er sich extra eine ca. 2 Meter lange Eisenstange204 anfertigen lassen, mit deren Hilfe er den Sand im Sprengloch verdichtete und so die Richtung der freiwerden Energie kanalisierte. Eigentlich eine Routineaufgabe. Am Mittwoch, dem 13. September, war der Bautrupp von Gage wieder einmal dabei, eine derartige Sprengung durchzuführen. Die erforderlichen Löcher waren bereits gebohrt und mit Sprengpulver und Zündschnur versehen. Nur die Sandabdichtung fehlte noch. Ein Arbeitsgang, der für gewöhnlich von einem Helfer Gages übernommen wurde. An diesem Tag sollte es jedoch anders kommen. Es wurde später berichtet, dass Gage durch einen Ruf oder ein Gespräch abgelenkt worden sei und so geschah, was eigentlich hätte nicht geschehen dürfen. Noch bevor die Sprengladungen mit Sand abgedichtet wurden, begann Gage diese mit seiner Eisenstange zu bearbeiten. Im Kontakt mit dem Felsen schlug das Eisen im Bohrloch Funken und entzündete

201 202 203 204

Die Darstellung der Ereignisse rund um den Fall Phineas Gage folgt hier den Ausführungen von António Damásio (vgl. 2012, 25-34). Der Fall Gage wird im Folgenden komprimiert dargestellt. Wenn nicht anders angegeben, folgt die Schilderung der Ereignisse der Darstellung von António Damásio (vgl. 2012, 25-34) aus seiner bekannt gewordenen Monografie Descartesʼ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Vgl. Betsch et al. 2011, 129 Die Länge der Eisenstange betrug 1,98 m; der Durchmesser lag bei 3 1/8 cm, das Ende der Stange wies allerdings eine nicht unwichtige Verjüngung über 18 cm auf, wodurch die Spitze lediglich auf einen Durchmesser von sechs mm kam; das Gewicht der Stange betrug sechs Kg (vgl. Damásio 2012, 29).

220

Emotionen und politisches Urteilen

so ungewollt die Sprenglandung. Durch die Wucht der Explosion wurde Gage die Eisenstange aus der Hand gerissen. Auf ihrer Flugbahn durchbohrte sie seine linke Wange, drang durch die Schädelbasis in sein Gehirn und durchschlug beim Verlassen sein Schädeldach mit hoher Geschwindigkeit. Die sechs Kilogramm schwere und mehr als einen Meter lange Eisenstange hatte seinen Schädel komplett durchquert. Durch die außergewöhnlich laute Explosion aufgeschreckt stand die gesamte Baustelle still. Zur Verwunderung aller hatte Gage die Explosion überlebt. Zwar war er leicht benommen, aber ansonsten bei Bewusstsein, konnte Sprechen und mit einiger Unterstützung sogar laufen. Die herangeeilten Kolleg*innen halfen ihm auf einen Ochsenkarren und brachten ihn für eine ärztliche Behandlung in ein nahegelegenes Hotel. Auf wundersame Weise überlebte Gage den Unfall, genauso wie die Infektion, die sich danach in seiner Wunde ausbreitete. Ein Verdienst, an dem sein behandelnder Arzt John Harlow einen erheblichen Anteil haben dürfte. Nur ihm und seinen Aufzeichnungen205 ist es auch zu verdanken, dass der Fall Gage einen derartigen Bekanntheitsgrad erreichen konnte. Von Beginn an fertigte Harlow Notizen an und veröffentlichte später eine Reihe von Arbeiten über den Fall. Dank ihm wissen wir, dass Gage sich in knapp zwei Monaten fast vollständig erholte. Zwar verlor er in der Folge des Unfalls die Sehkraft auf dem linken Auge, davon ausgenommen war sein physischer Zustand jedoch bemerkenswert. Er wies keine Gedächtnislücken auf, konnte sich detailreich an den Unfall erinnern, sich klar artikulieren und ohne Schwierigkeiten komplexe mathematische Operationen ausführen. Sein psychischer Zustand jedoch ließ Harlow aufmerksam werden. Mit dem Rückgang der Hirnschwellung, die als Folge der traumatischen Schädelverletzung aufgetreten war, zeichnet sich bei Gage ein verändertes Sozialverhalten ab. Eigentlich war er als durchaus vernünftiger, umgänglicher und charismatischer Mensch unter seinen Zeitgenossen bekannt. Nicht ohne Grund hatte er es in seinen noch jungen Jahren bereits zum Vorarbeiter gebracht. Nach dem Unfall kam

Strukturierung und Bewertung

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es bei Gage jedoch zu einer so grundlegenden Wesensveränderung, dass ihn selbst enge Freunde kaum noch wiedererkannten. Er wurde launisch, schnell laut und ausfallend und war von einer aufwühlenden Ziellosigkeit geprägt. Gefasste Pläne verwarf er oft kurzerhand, ohne dass es hierfür einen ersichtlichen Grund zu geben schien. Seine Veränderungen waren in sozialer Hinsicht so fundamental, dass er als Folge seine Anstellung bei der Eisenbahngesellschaft verlor. Gage hatte zwar den Unfall überlebt, aber sein Leben sollte nie wieder so werden, wie es einst war. In den folgenden Jahren nahm er mehrere Jobs als Farmarbeiter an. Lange beschäftigt blieb er allerdings nirgends. Entweder kündigte er selbst aus einer Laune heraus oder das Arbeitsverhältnis wurde auf Grund seines desolaten Sozialverhaltens aufgelöst. Schließlich landete er für eine Weile sogar als Attraktion beim Zirkus und in Barnums Museum in New York City, bevor es ihn nach Südamerika zog, wo er abermals auf Farmen arbeitete und als Postkutscher tätig wurde. Im Jahre 1860 kehrte er schließlich in die Vereinigten Staaten zurück und zog zu seiner Mutter und Schwester nach San Francisco. Gage war es unmöglich geworden, den Anforderungen, die eine verantwortungsvolle Stelle mit sich brachten, zu genügen. Er konnte keine Pläne verfolgen, die für seine eigenen Lebensziele förderlich gewesen wären, und war sozial weitgehend isoliert. Am 21. Mai 1861, gut zwölf Jahre und acht Monate nach seinem Unfall, starb Gage im Alter von nur 38 Jahren, vermutlich an den Folgen eines epileptischen Anfalls. Beerdigt wurde er zusammen mit der Eisenstange, die sein Leben für immer verändert hatte. – Exkurs Ende –

206 Harlow, John M. (1848/49): Recovery from the passage of an iron bar through the head. In: Publications of the Massachussetts Medical Society, S. 327 – 347.

222

Emotionen und politisches Urteilen

Über 100 Jahre nach Gages Unfall, Anfang der 1990er Jahre, entwickelten Hanna Damásio et al. (1994) ein computergestütztes Verfahren, mit dessen Hilfe sie das Verletzungsbild von Gage anhand seines originalen Schädelknochens rekonstruieren konnten (vgl. Damásio et al. 1994, 1102ff.). Dabei wurde erstmals ersichtlich, welche Hirnregionen genau Verletzungen erlitten hatten und welche höchstwahrscheinlich intakt bzw. unberührt geblieben waren. Die Eisenstange hatte demnach primär die linke, vordere Hemisphäre sowie den präfrontale Cortex beider Hemisphären ventral und medial geschädigt (vgl. ebd., 1104). Zudem war die Orbitalregion206 betroffen, welche, nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen eine besondere Bedeutung für Urteilsprozesse spielt (vgl. Damásio 2012, 61f.). Der entscheidende Durchbruch gelang schließlich António Damásio (vgl. 2012), als er Patient*innen mit ähnlichen Verletzungsmustern wie Gage untersuchte und die bislang mehrheitlich theoretischen Befunde mit empirischen Daten valide untermauern konnte. Demnach war das Vermögen der von ihm untersuchten Patient*innen, Emotionen empfinden und deuten zu können, auffällig beeinträchtigt (ebd., 76-78). In der Regel zeigten sie eine Art der Gefühlskälte, ihre Stimmung beschrieben sie mehrheitlich als neutral und etwaig aufkommende Emotionserregung verschwanden überproportional schnell (vgl. ebd., 77f.). Um 206 207 208

In der neuroanatomischen Terminologie mitunter auch als ventromediale Region des Stirnlappens bezeichnet (vgl. Bechara 1999). Neben den durch den Fall Gage bekannt gewordenen Verletzungen legen neuere neurologische Untersuchungen zudem nahe, dass auch eine Schädigung des „Komplexes somatosensibler Rindenfelder in der rechten Hemisphäre“ (Damásio 2012, 108) und des „präfrontalen Cortex jenseits des ventromedialen Abschnittes“ (ebd.) ähnliche Symptome wie die hier beschriebenen hervorrufen. Dieser Befund wird auch durch Erkenntnisse aus der Evaluationsforschung gestützt. Dabei gilt es nachzuvollziehen, dass die uns bekannten menschlichen Hirnregionen das Ergebnis eines mehr als 10.000 Jahre alten evolutionären Entwicklungsprozesses darstellen. So finden sich auf der Erde noch eine ganze Reihe von Lebewesen (z.B. Reptilien), deren Gehirne eine archaische Struktur aufweisen. Als eine Folge davon

Strukturierung und Bewertung

223

diese Befunde mit der Fähigkeit zum politischen Urteilen in Verbindung zu bringen, ist die Annahme von Damásio, „daß der Mangel an Gefühl und Empfindung nicht losgelöst von der Störung des Sozialverhaltens betrachtet werden [kann]“ (Damásio 2012, 85), von zentraler Bedeutung207. Zwei grundlegende Erkenntnisse lassen sich demnach festhalten: zum einen bestätigen die Arbeiten von Damásio (vgl. 2012) auf neurowissenschaftlicher Ebene, dass es sich bei Emotionen und Kognitionen nicht um zwei getrennte, sondern um ein zusammenhängendes Phänomen handelt208. Es gibt eine Region im menschlichen Gehirn, den ventromedialen, präfrontalen Cortex, dessen Schädigung in denkbar reiner Form sowohl Denken/Entscheidungsfindung als auch Gefühl/Empfinden mindert – vor allem im persönlichen und sozialen Bereich. Metaphorisch könnte man sagen, daß sich Vernunft und Emotionen in den ventromedialen präfrontalen Rindenabschnitten und in der Amygdala »überschneiden«. (Damásio 2012, 108)

Und zum anderen verdeutlichen sie, dass die Fähigkeit des emotionalen Empfindens eine zentrale Bedingung für das Fällen von Urteilen darstellt (vgl. Damásio 2012, 85), woraus sich schlussfolgern lässt, dass Emotionen auch in einem interdependenten Verhältnis zur politischen Urteilskompetenz stehen. Doch Damásio (vgl. ebd.) geht in seiner Arbeit sogar noch einen Schritt weiter, indem er eine Aussage darüber trifft, wie genau

verlaufen ihre Reaktionen nach einem Reiz-Reaktions-Schema und sind nicht wil lentlich gesteuert. In der evolutionären Entwicklung des Menschen haben sich aus diesen wortwörtlich „niedrigen/alten“ (Damasio 2012, 179) im Laufe der Zeit „höhere/ neue“ (ebd.) Gehirnregionen entwickelt. Die neuen Strukturen sind dabei gleichsam aus den alten erwachsen, ohne diese völlig zu ersetzen. So löst der Neocortex (der gemeinhin als der Apparat für das rationale Denken im Gehirn gilt) den Apparat der biologischen Regulation nicht etwa vollständig ab, sondern stellt dessen evolutionäre Weiterentwicklung dar (vgl. ebd., 179f.). Vermutlich korrelieren rationale und emo tionale Prozesse beim Menschen in denselben Hirnregionen als eine Folge dieses Entwicklungsprozesses.

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dieser Effekt seiner Meinung nach zustande kommt. Demnach verhindert ein emotionsloses Denken auf der individuellen Ebene, dass „verschiedene Handlungsmöglichkeiten unterschiedlichen Werten“ (ebd.) zugeordnet werden können, worauf als Folge jede Urteilslandschaft völlig abflachen muss und unser Urteilskompass sozusagen funktionsuntüchtig wird. Damit korrelieren die neurowissenschaftlichen Befunde von Damásio (vgl. ebd.) mit den Annahmen von Florian Weber-Stein (vgl. 2017, 56), der in Anlehnung an den britisch-kanadischen Philosophen Ronald De Sousa (vgl. 1997) die Auffassung vertritt, dass Emotionen eine realitätskonstitutive Funktion übernehmen und vergleicht diese mit der Wirkungsweise wissenschaftlicher Paradigma. Nach diesem Bild statuieren emotionale Empfindungen die intrasubjektive Situationswahrnehmung „und bestimmen somit, welche Aspekte der „Realität“ in Erscheinung treten und als bedeutsam erachtet werden.“ (Weber-Stein 2017, 56). Die Welt und die vermeintlich in ihr wohnende Realität nehmen wir demnach durch emotional getönte Gläser wahr, wobei der Tönungsgrad der Gläser unmittelbare Auswirkungen auf die Strukturierung und Bewertung der intrasubjektiv relevant erscheinenden Urteilsinformationen und somit vermutlich auf das finale Urteil hat. Die Politikwissenschaftler Wilfried von Bredow und Thomas Noetzel sprechen daher auch von Emotionen als persönliche Erkenntnisquelle (Bredow/Noetzel 2009, 76). In der Entscheidungspsychologie werden Emotionen zudem als Prozessdeterminanten beschrieben, welche wesentlichen Einfluss auf die Bewertung von urteilsrelevanten Informationen nehmen (vgl. Betsch et al. 2011, 125) und in der Sprachwissenschaft werden Emotionen ebenfalls primär als „bewertende Stellungnahme“ (Fiehler 2008, 758) von Informationen aufgefasst. Für den Bereich der Geisteswissenschaften am umfangreichsten aufgearbeitet wurde dieser Ansatz in jüngster Zeit von Martha Nussbaum (vgl. 2001), die in ihrem Buch Upheavals of Thought Emotionen aufgrund ihrer kognitiven Intentionalität (vgl. Kapitel 6) generell versucht, mit

Strukturierung und Bewertung

225

Werturteilen gleichzusetzen (vgl. ebd., 22), womit sie auf einer Linie mit ihrem Fachkollegen Robert Solomon (vgl. 2000, 255) liegt, der Emotionen nicht als blinde Interaktionen, sondern ebenfalls als steuerbare Urteile versteht. All diese theoretischen Annahmen lassen sich durch empirische Indizien aus der psychologischen Forschungslandschaft weiter untermauern. So konnten bereits vor gut drei Jahrzehnten Alice Isen, Thomas Nygren und Gregory Ashby (vgl. 1988) in einer Studie nachweisen, dass die Beurteilung einer Situation maßgeblich von der emotionalen Stimmung eines Individuums abhängt. Dazu ließen sich die Proband*innen ihrer Studie an einer Lotterie teilnehmen, bei der man Geld gewinnen oder verlieren konnte. Es zeigte sich, dass diejenigen, welche zu Beginn der Untersuchung in gute Stimmung versetzt wurden, indem ihnen ein Schokoriegel geschenkt wurde, signifikant häufiger dazu neigten, in der anschließenden Lotterie Risiken zu vermeiden. Die Forscher*innen schlussfolgerten daraus, dass die Veränderung der emotionalen Stimmung einer Person mit einer Veränderung der Gewichtung von Wertevorstellungen einhergeht (vgl. Isen et al. 1988, 716f.). Die Ergebnisse dieser Studie konnten auch in weiteren Untersuchungen repliziert werden (vgl. Betsch et al. 2011, 127). Ähnlich durchgeführte Untersuchungen auf dem Feld konnten außerdem nachweisen, dass eine gute Stimmung auch zu einer Überschätzung der eigenen Gewinnchancen führen kann (vgl. Nygren et al. 1996, 60). „Während im Bereich von Gewinnen Wahrscheinlichkeiten stärker berücksichtigt werden, scheinen Personen in guter Stimmung auf die Werte zu fokussieren und Wahrscheinlichkeiten zu vernachlässigen, wenn es um Verluste geht.“ (Betsch et al. 2011, 127). Ein Effekt, welcher von den Wissenschaftler*innen in ihren Arbeiten auch als vorsichtiger Optimismus bezeichnet wurde (vgl. Isen et al. 1988, 717) und der ebenfalls zum Ausdruck bringt, dass die emotionale Stimmung Einfluss auf die subjektive Bewertung von Risiken und Chancen beim Urteilen nimmt. Isen, Nygren und Ashby (vgl. ebd.) mutmaßen daher, dass der Grund für diese unterschiedliche Werteinterpretation der Teilnehmer*innen sich auf den Wunsch zurückführen lässt, eine

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Emotionen und politisches Urteilen

als positiv empfundene emotionale Stimmung möglichst zu erhalten und schlechte vermeiden zu wollten. „Gut Gestimmte können in den Lotterieexperimenten nicht nur Geld verlieren, sondern auch ihre gute Stimmung, wenn es denn tatsächlich zu Verlusten kommt. Deshalb, so die Erklärung, meiden sie Optionen, bei denen hohe Verlustbeträge auf dem Spiel stehen.“ (Betsch et al. 2011, 127). Insgesamt zeigen die Beispiele deutlich, das Emotionalität die Bewertung von Informationen und Optionen sowie die daraus resultierenden Urteilsstrategien auffällig beeinflusst. Für die politische Bildung sind die damit verbundenen Hinweise besonders bemerkenswert, da die Interpretation von Werten scheinbar in Abhängigkeit zu dem situativ empfundenen emotionalen Zustand einer Person steht und nach diesem Bild prinzipiell als wandelbar erscheint. Ob sich dieser Effekt allerdings auch einfach auf (gefestigte) politische Werte übertragen lässt, muss hier zunächst offenbleiben. Dies erscheint aber doch zumindest als zweifelhaft, wenn man davon ausgeht, dass diesen bereits eine subjektiv verliehene Emotionalität inhärent ist (vgl. Kapitel 5.4). Auch wenn sich im Zusammenhang mit politischen Werten die Befunde der situativen Wertflexibilität daher möglicherweise nicht einfach übertragen lassen, scheint es zumindest auch für das politische Urteilen plausibel, dass ohne emotionale Beteiligung keine strukturierte Urteilsbildung möglich erscheint. Bevor wir den Bereich der psychologischen und neurowissenschaftlichen Studien auf diesem Gebiet vorerst wieder verlassen, soll hier noch ein Punkt Erwähnung finden, der vor nicht allzu langer Zeit in anderen Kontexten eine blühende Kontroverse auslöste, deren unmittelbaren Konsequenzen für das Phänomen des politischen Urteilen bereits in Teilen beschrieben wurden (vgl. Kapitel 5.3). Gemeint ist die Frage, ob wir über eine bewusste Steuerungsmöglichkeit von Emotionen im Rahmen von Urteilsprozessen verfügen oder Emotionen gegebenenfalls unser Handeln direkt beeinflussen. So führte die neurowissenschaftliche Forschungsgruppe Bechara et al. (vgl. 1999) eine experimentelle Studie durch, in der die Proband*innen

Strukturierung und Bewertung

227

ebenfalls an einer Lotterie teilnahmen. Die Untersuchung war so aufgebaut, dass die Teilnehmer*innen von vier Kartenstapeln (A, B, C, D) nach eigenem Belieben 100 Karten ziehen sollten. Jede Karte stand dabei für einen Geldbetrag, den die Teilnehmer*innen entweder gewannen oder verloren. Die Wahrscheinlichkeit, einen Gewinn bzw. einen Verlust zu erzielen, war jedoch nicht beliebig verteilt, da die Versuchsleitung die Stapel im Vorfeld so präpariert hatte, dass die Gewinnchance ganz unterschiedlich war. So war das Risiko, bei den Stapeln A und B einen Verlust zu erleiden, beträchtlich höher als bei den Stapeln C und D. Um den Einfluss von Emotionen auf den Urteilsprozess der Teilnehmer*innen bei der Kartenauswahl beobachten zu können, wurden deren emotionale Reaktionen mittels eines Hautleitwert-Testes209 permanent überwacht. Nach einigen Durchgängen zeigte sich, dass bei denjenigen Teilnehmer*innen, deren orbitofrontale Kortexe keine Beeinträchtigung aufwiesen, der Hautleitwert signifikant zu steigen begann und zwar unmittelbar bevor sie eine Karte aus einem der schlechten Stapel (A und B) zogen (vgl. Bechara et al. 1999, 5475f.). Bei Proband*innen, welche hingegen eine Schädigung am orbitofrontalen Kortex aufwiesen, konnten keine derartigen Reaktionen gemessen werden (vgl. ebd.). Die Forscher*innen sahen darin die erneute Bestätigung dafür, dass der orbitofrontale Kortex mit der Regulation von Emotionen zu tun haben muss. Sie deuteten zudem, dass die auftretende emotionale Reaktion als eine Bewertung der antizipierten Handlung zu verstehen ist (vgl. ebd. 5479ff.). Emotionen können in Urteilsprozessen demnach z.B. als Warnsignale fungieren, welche versuchen, uns vor unliebsamen Ereignissen zu schützen. Zweifelsohne sind sie dabei ganz direkt an Urteilsprozessen be209

Grundsätzlich gilt dabei die Annahme, dass mit einer zunehmenden emotionalen Erregung die Aktivität der Schweißdrüsen angeregt wird. Als Folge davon erhöht sich das Feuchtigkeitsniveau der Haut und der Hautleitwert nimmt zu. Ganz ähnliche Messverfahren werden z.B. auch bei sogenannten Lügendetektortests eingesetzt. Da unsere Schweißdrüsen vom vegetativen Nervensystem gesteuert werden, ist diese Reaktion in der Regel nicht bewusst beeinflussbar (vgl. Schandry 1998, 187f.).

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Emotionen und politisches Urteilen

teiligt. Erstaunlich war allerdings, dass die Messwerte bewiesen, dass die emotionalen Reaktionen der Teilnehmer*innen deutlich früher auftraten als die „kognitive Durchdringung der Auszahlungsstruktur“ (Betsch et al. 2011, 131). Das heißt lange bevor den Proband*innen bewusst war, dass es sich bei den Stapeln A und B um schlechte Optionen handelt, zeigten ihre emotionalen Reaktionen dies bereits messbar an. Dennoch kann an dieser Stelle nicht von einem Primat der Emotionen gesprochen werden. Schließlich determinierten die emotionalen Reaktionen keine entsprechenden Urteile oder Handlungen. Im vorliegenden Fall haben sie sich lediglich gegenüber unseren Kognitionen als die schnelleren Lerner*innen erwiesen. Ob es sich dabei um einen generalisierbaren Befund handelt, ist jedoch nach wie vor ungeklärt. Was sich jedoch aus den Untersuchungen von Bechara et al. (vgl. 1999) klar konstatieren lässt, ist (a), dass Emotionen aus neurowissenschaftlicher Perspektive im Rahmen von Urteilsprozessen eindeutig eine Bewertungsfunktion zufällt und (b) dass diese dabei mitunter bereits sehr frühzeitig auf rationale – im Sinne von sinnvollen – Handlungsempfehlungen hinweisen können und zwar bemerkenswerterweise bereits zu einem Zeitpunkt, an dem unserer Verstand den Sachverhalt kognitiv noch überhaupt nicht durchdrungen hat. In Bezug auf das politische Urteilen werfen die dargestellten Erkenntnisse mindestens zwei zentrale Fragen auf: erstens, auf welche Art und Weise genau Emotionen als strukturierende und bewertende Aspekte beim politischen Urteilen wirken und zweitens, wie sich diese Wirkungsweisen jenseits aufwendiger sozialpsychologischer Untersuchungen oder des Einsatzes bildgebender Verfahren aus den Neurowissenschaften mit klassischen sozialwissenschaftlichen Mitteln – wie sie der Politikdidaktik ordinär zur Verfügung stehen – ergründen und darstellen lassen. Um diesen Fragen nachzugehen, ist es zunächst notwendig, sich erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass es sich bei Urteilen aufgrund ihres inhärenten öffentlichen Charakters (vgl. Kapitel 3.4) stets um eine Form von

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229

Kommunikationsprozessen und somit um Sprachakte handelt, bei denen „Interaktionsbeteiligte Informationen austauschen, indem sie sich mittels sprachlicher Handlungen über ein Thema verständigen“ (Fiehler 2008, 759). Streng genommen lässt sich dabei allein schon aufgrund der interdependenten Verbindung zwischen Kognitionen und Emotionen (vgl. Kapitel 6.2) kein Informationsaustausch ohne emotionale Beteiligung denken. Nur folgerichtig gehen daher auch linguistische Ansätze davon aus, dass wir bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt Emotionen permanent (mit) kommunizieren210 (vgl. ebd.). Die kommunikative Ausdrucksform von Emotionen kann dabei bekanntermaßen variieren. Neben verbalen (z.B. Stimmcharakteristika) und schriftlichen Formen kann sie z.B. auch in nonverbalen Formaten wie der Mimik oder der allgemeinen Körperhaltung einer Person zum Ausdruck kommen (vgl. Kapitel 6). Um dem Fokus der vorliegenden Arbeit gerecht zu werden, soll sich bezüglich der methodischen Ausführungen im weiteren Verlauf jedoch zunächst ausschließlich auf jene Verfahren beschränkt werden, welche es erlauben, emotionale Korrelate aus schriftlichen Kommunikationsformen heraus zu präparieren (vgl. Kapitel 17). Wichtig ist dabei die Konklusion, dass bei kognitiven Denkprozessen auf neuraler Ebene für gewöhnlich keine Trennung zwischen rationalen und emotionalen Aspekten vorliegt und dass erst das Zusammenwirken beider Faktoren die Genese einer subjektiven Urteilsfähigkeit ermöglicht (vgl. Damásio 2012, 64-85). Dieser Logik folgend muss jedes argumentative Eingehen auf Informationen ihr Hinterfragen, Infragestellen oder Ignorieren (vgl. Kapitel 10.1) nicht nur als rationale, sondern auch als emotionale Entscheidungsform verstanden werden. Der in ihnen angelegte emotionale Impetus lässt sich dabei zwar mittels syntaktischer Analysen nicht exakt rekonstruieren, hermeneutische

210 Zur Frage, wie sich Emotionen in Kommunikationsprozessen identifizieren lassen, vgl. auch das Kapitel 22.

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Emotionen und politisches Urteilen

Verfahren ermöglichen jedoch eine prinzipielle Annäherung211 auf Grundlage eines kulturellen Emotionsverständnisses (vgl. Kapitel 6.3; 16.2). Die hier vertretene Ausgangsthese lautet dabei, dass sich der bewertende Charakter von Emotionen in verschiedenen kommunikativen Mustern manifestiert. Um diese Muster analytisch zu beleuchten, kann sich abermals an Vorarbeiten von Fiehler (vgl. 2008, 759f.) angelehnt werden, welcher die bewertende Funktion von Emotionen innerhalb kommunikativer Muster mit Hilfe des nachfolgenden Schemas beschreibt. „Emotion A ist eine bewertende Stellungnahme zu X auf der Grundlage von Y als Z.“ (ebd.). Auf den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand bezogen lässt sich dieses Muster wie folgt deuten: Ärgere (A) ich mich z.B., weil ein bedingungsloses Grundeinkommen (X) nicht eingeführt wird, so ließe sich diese Emotion als eine bewertende Stellungnahme zu der hierfür als verantwortlich erachteten Instanz (Y) (bzw. eine Aktivität von ihr) auf der Grundlage meines Bildes von dieser (Z) (Erwartungen über ihr Verhalten) beschreiben. Der sprachwissenschaftliche Ansatz von Fiehler (vgl. ebd.) erlaubt es also, die in Emotionen inhärente Bewertungsqualitäten als sprachliche Muster in einem größeren Erklärungszusammenhang – mit den klassischen Mitteln der Sozialwissenschaften – darzustellen, wodurch ein Verständnis der damit verbundenen Implikationen erleichtert wird. Nachdem damit die bewertende Funktion von Emotionen innerhalb von Urteilsprozessen näher, wenn auch nicht erschöpfend, expliziert werden konnte, soll nachfolgend ihre strukturierende Funktion ebenfalls exemplarisch hervorgehoben werden. Wobei hier unter Strukturierung in erster Linie nicht die Anordnung von urteilsrelevanten Informationen verstanden wird (dieser Bereich tangiert eher den bereits dargestellten Abschnitt Involvierung und Motivation (vgl. Kapitel 10.1), sondern das Arrangieren der Argumentation zur Steuerung des emotionalen Outputs (vgl. hierzu auch das Kapitel 10.3). Ein Beispiel für eine solche Form der emotionalen Strukturierung von urteilsrelevanten Argumenten liegt etwa dann vor,

Strukturierung und Bewertung

231

wenn Emotionen selbst als eigenständige Urteilskriterien eingeführt werden (vgl. hierzu auch Loewenstein et al. 2001). In diesen Fällen werden die während eines Urteilsprozesses zum Tragen kommenden Emotionen primär nicht direkt, sondern deren antizipierte emotionale Repräsentation, welche sich im Anschluss an einen Urteilsakt manifestiert, berücksichtigt212. So kann z.B. der Wunsch, sich sozial nicht exkludiert zu fühlen, starke Ausgangsmotivation für ein abgegebenes politisches Urteil darstellen. Genau in diesen Fällen spielen bei der Strukturierung von Urteilsargumenten nicht (nur) die subjektiv empfundene Emotionen eine Rolle, sondern vielmehr stellt sich die im Anschluss an einen Urteilsakt erwartete soziale emotionale Bewertung eines Urteiles als das eigentlich urteilsleitende Kriterium heraus213. Praktisch kann dies dazu führen, dass urteilende Personen in bestimmten Situationen anders urteilen, als sie dies norma-

211 Diese – wie sich im nachfolgenden Abschnitt noch deutlich zeigen wird (vgl. Kapitel 10.3) – ist aus Sicht der Urteilsrezipient*innen auch durchaus erwünscht. 212 Für das Wirkungswissen antizipierter Emotionen im Rahmen von Entscheidungsproz essen aus einer psychologischen Perspektive vgl. zusätzlich den Aufsatz Risk as feelings von Loewenstein et al. (2001). Deren Befunde verweisen darauf, dass es Menschen generell schwerfällt, ihre zukünftigen Emotionen richtig einzuschätzen, und auch Gilbert et al. (vgl. 1998) führen hierzu aus, dass etwa frisch Verliebte dazu neigen, die Intensität und Haltbarkeitszeit ihrer anfänglichen Emotionen zu überschät zen. Zudem finden sich „systematische Unterschiede zwischen den Gefühlsbeschrei bungen von Personen, die Schicksalsschläge erlitten hatten (z.B. Querschnittslähmun gen), und Personen, die ihre Emotionen für solche Fälle antizipieren sollten. Die Negativität und die Dauer, mit der die negativen Gefühle dominieren, werden in der Antizipation als viel höher eingeschätzt, wie es Betroffene im Mittel aus eigener Er fahrung berichten“ (Betsch et al. 2011, 128). 213 In Kapitel 8 finden sich hierzu einige Beispiele, wie auf einer institutionellen politischen Ebene antizipierte emotionale Reaktionen zum Ausgangspunkt für politische Handlungsstrategien wie das Framing oder das emotionale Mainstreaming gemacht werden.

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Emotionen und politisches Urteilen

lerweise tun würden214. Als Beispiel für einen solchen Fall sei dabei auf den bereits im Kapitel 7.1 dargestellten politischen Urteilsfall verwiesen, bei dem die Rhetoren Nikias und Alkibiades darüber streiten, ob Athen zu Gunsten der Stadt Segasta eine Kriegsflotte entsenden solle oder nicht. Nach den Aufzeichnungen des Thukydides (vgl. 2016, 467-481) stimmten die Anwesenden letztendlich mehrheitlich für eine solche Entsendung; aus Furcht, andernfalls „in den Ruf eines Staatsfeindes [zu] kommen“ (ebd., 480) und das, obwohl sie eigentlich, aufgrund der damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken, gegen ein solches Unterfangen waren. Ausschlaggebend hierfür war, dass es dem Befürworter des Unternehmens, Alkibiades, gelungen war, das Urteil der Menge mit einem zeitgemäßen als sozial wünschenswert geltenden emotionalen Impetus zu verknüpfen. Ganz gleich, ob sich der Fall tatsächlich genauso zugetragen hat, wie er uns überliefert wurde, verdeutlich er recht anschaulich die Wirkmächtigkeit einer nach emotionalen Momenten erfolgten Strukturierung politischer Urteilsargumentationen215. Ein Befund, welcher auch durch aktuelle Studien gestützt wird, nach denen die Reflexion von Handlungssituationen, in welchen der von einer Person intendierte emotionale Effekt nicht eintritt, zu einer Umbildung von Argumentationsstrukturen führen kann (vgl. Betsch et al. 2011, 127f.).

10.3 Vermittlung und Kommunikation Die dritte Ebene, auf welcher Emotionen eine Rolle spielen, ist die Vermittlungs- und Kommunikationsebene von politischen Urteilen. Sie thematisiert dabei die Urteilsvermittlung als einen Akt der Urteilskommunikation und behandelt dementsprechend emotionale Aspekte in Bezug auf ihre Legitimationskraft gegenüber Dritten. So können, wie in der zugrundeliegenden Arbeitsdefinition von politischen Urteilen bereits beschrieben (vgl. Kapitel 3), nur öffentliche Urteile zu politischen Urteilen avancieren. Denn erst in der Öffentlichkeit entfalten sie ihre inhärente politische Gestaltungsmacht.

Vermittlung und Kommunikation

233

Dem Akt der Urteilsvermittlung kommt daher eine besondere Bedeutung zu, schlägt er doch die Brücke zur Öffentlichkeit und versucht, diese von der intrasubjektiv empfundene Urteilsevidenz zu überzeugen. Damit dies gelingt – so zeigt abermals ein Blick in die Ideengeschichte (vgl. Kapitel 7) –, gilt es, rationale Argumente emotional nachvollziehbar einzubetten. Bezugspunkte einer solchen Einbettung stellen neben den eigenen Empfindungen primär die antizipierten emotionalen Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit dar. Der emotionale Mantel, in den politische Urteile gehüllt werden, erfüllt dabei mindestens zwei Funktionen: erstens soll er die Öffentlichkeit von der Relevanz des Urteils überzeugen und zweitens zur inhaltlichen Aussagekraft des Urteils beitragen216. Inhaltlich und strukturell schließt die Rubrik somit nahtlos an die soeben erfolgten Ausführungen bezüglich der Strukturierung von Urteilsargumentationen anhand eines intendierten emotionalen Outputs und Feedbacks an (vgl. Kapitel 10.2)217. Analytisch betrachtet können Emotionen dabei im Sinne einer intendierten Urteilsposition sowohl vermittlungsfördernd als auch -hemmend wirken

214 Eine Feststellung, welche vor allem Anhänger*innen von sogenannten Rational Choice-Ansätzen glücklich stimmen dürfte. Lassen sich Emotionen so doch relativ leicht im Rahmen von Entscheidungsprozessen unter die Formel einer Kosten-Nutzen-Rechnung subsumieren, wie dies etwa Graham Loomes und Robert Sugden (vgl. 1982) in ihrer Regret- und Disappointment-Theorie überzeugend dar legen. So sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es sich dabei – wie die vorlie genden Ausführungen verdeutlichen – lediglich um eine Teilfacette von Effekten handelt, welche Emotionen im Rahmen von Urteilsprozessen eine Rolle spielen. 215 Auch wenn dies nicht das ordinäre Thema der vorliegenden Ausführungen ist, sei in diesem Zusammenhang kritisch darauf hingewiesen, dass in solchen Fällen der Firnis zur Manipulation besonders dünn erscheint. 216 Vgl. als Negativbeispiel die emotionsarme Rede von Phillip-Hariolf Jenninger zum fünfzigsten Jahrestages der Novemberpogrome (vgl. Kapitel 8.1). 217 Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, wird daher auf eine erneute beispielhafte Ausführung dieses Punktes zu Gunsten eines Verweises auf die bereits erfolgte Darstellung verzichtet (vgl. Kapitel 10.2).

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Emotionen und politisches Urteilen

und zwar abhängig davon, ob und, wenn ja, wie es gelingt, das Gegenüber emotional anzusprechen. Erläuterungen wie eine solche Ansprache (z.B. durch gezieltes Framing, den Einsatz von Nuges oder Emotional Mainstreaming) in der Sphäre der Politik operationalisiert werden kann, wurden in ausführlicher Form bereits in Kapitel 8 und im vorausgegangen Abschnitt (vgl. Kapitel 10.2) näher dargelegt. Kritisch sei an dieser Stelle jedoch noch nachgetragen, dass eine Urteilskommunikation, welche sich in emotionaler Hinsicht einzig an Kriterien der sozialen Erwünschtheit orientiert, unweigerlich Gefahr läuft, imperative politische Urteile hervorzubringen und zwar dann, wenn sich die Zielrichtung eines politischen Urteils von der gesellschaftlichen auf die individuelle Bedeutungsebene verschiebt. In einem solchen Fall, verliert ein Urteil seinen eigentlich politischen Charakter, da es im Kern nicht mehr auf die Öffentlichkeit, sondern das urteilende Individuum selbst gerichtet ist. Die emotionale Ummantelung eines politischen Urteils, will es in der Öffentlichkeit überzeugen und dennoch seinen politischen Charakter nicht verlieren, sollte daher optimalerweise die Urteilsrezipient*innen zwar emotional ansprechen, sich in seiner Intention jedoch keinesfalls in der Erlangung sozialer Erwünschtheit erschöpfen, sondern stets das eigentlich Politische in den Mittelpunkt stellen.

Zusammenfassung

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10.4 Zusammenfassung Aus dem zuvor genannten lassen sich zusammenfassend sieben Thesen in Bezug auf die Rolle von Emotionen beim politischen Urteilen ableiten. 1. Emotionen dienen als Filterwerkzeuge, die Urteilsgegenstände zu identifizieren, indem sie das für uns Bedeutsame vom dem uns vermeintlich Unbedeutenden trennen. 2. Urteilsmotivation entsteht, wenn ein subjektiver Sinneseindruck vom Individuum als emotional relevant genug erachtet wird. 3. Die aktuelle emotionale Stimmung einer Urteilsperson ist mit ausschlaggebend dafür, welche spezifischen Wertmaststäbe sie für die politische Urteilsbildung anlegt. 4. Generell bewerten und beurteilen wir urteilsrelevante Informationen mit Hilfe von Emotionen. 5. Emotionen innerhalb politischer Urteilsprozesse führen zu Werturteilen, die wiederum auf den Urteilsgegenstand gerichtet sind. 6. Die Strukturierung von Urteilsbegründungen kann anhand einer intendierten Evokation von Emotionalität erfolgen. 7. Der emotionale Mantel politischer Urteile bestimmt entscheidend mit über deren öffentliche Wahrnehmung.

11 Präzisierung der Forschungsfragen Unter Einbezug der im Theorieteil dieser Arbeit dargestellten Erkenntnisse lassen sich die eingangs formulierten Forschungsfragen (vgl. Kapitel 1.1) weiter präzisieren. So hat bereits die thematische Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand verlässliche Hinweise darauf gegeben, dass Emotionen als genuine Bestandteile von politischen Urteilen aufzufassen sind. Dies geht insbesondere aus den hier skizzierten empirischen Ergebnissen neurowissenschaftlicher Untersuchungen hervor (vgl. Kapitel 6.2) und wird zugleich durch psychologische, soziologische, philosophische und politikwissenschaftliche Überlegungen gedeckt (vgl. Kapitel 1.3; 6.2; 8). Es ist daher für die nachfolgend vorgestellte politikdidaktische Untersuchung zum politischen Urteilen mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Emotionen bzw. Emotionalität von Bedeutung seien werden. Weiter konkretisieren lässt sich zudem auch die Frage, welche Rolle Emotionen innerhalb politischer Urteilsprozesse spielen. So können, auf Grundlage der erfolgten Ausführungen (vgl. insbesondere das Kapitel 10), für die drei hier formulierten Urteilsphasen (Prä-Urteilsphase, Haupt-Urteilsphase und Post-Urteilsphase) weitere Spezifizierungen angegeben werden, welche die nachfolgende Ausrichtung der Forschungspraxis erleichtern. Denn es scheint sich bei Emotionen keinesfalls um Epiphänomene zu handeln, sondern sie spielen innerhalb der drei Bereiche Involvierung und Motivation (Prä-Urteilsphase), Strukturierung und Bewertung (Urteilsphase) sowie Vermittlung und Kommunikation (Post-Urteilsphase) eine zentrale Rolle, weshalb das empirische Setting an diesen Schnittstellen anknüpfen sollte. Der nachfolgende Teil der Arbeit nimmt diese Strukturen daher © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_11

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Präzisierung der Forschungsfragen

erneut auf und versucht mit Hilfe qualitativer Techniken die spezifischen Funktionen von Emotionalität innerhalb der drei genannten Urteilsphasen zu bestimmen. Am Beginn der empirischen Untersuchung steht dabei die Begründung und Auswahl einer geeigneten Population sowie die Diskussion und Festlegung von passenden Erhebungs- und Auswertungsverfahren.

II. Teil: Empirie

12 Populationsauswahl Da es sich im vorliegenden Fall um eine politikdidaktisch angelegte Forschungsarbeit handelt, wurden Schüler*innen als Proband*innen gewählt. Letztendlich setzten sich die Untersuchungskohorten aus vier Klassen zusammen, die von drei Bremer Gymnasien rekrutiert wurden. Insgesamt nahmen im Rahmen der Erhebungsphase 85 Schüler*innen mit einem Durchschnittsalter von 14 Jahren an der Untersuchung teil 218. Um sicherzustellen, dass die Auswahl 219 der Proband*innen in Einklang mit dem formulierten Erkenntnisinteresse steht (vgl. Kapitel 1,1; 11) und merkmalsorientierte Vergleiche innerhalb der Untersuchungskohorten nicht von vornherein zu verunmöglichen, wurden zudem spezifische Auswahlkriterien definiert, welche nachfolgend innerhalb der Unterpunkte Voraussetzungen und Forschungspragmatismus dargelegt werden.

12.1 Voraussetzungen Zum Kriterium der Voraussetzungen gehören die Merkmale Schulform, Jahrgangsstufe und Alter. Bezüglich der Schulform wurde sich auf öffentliche Gymnasien der Stadt Bremen beschränkt220. Mit Beginn der Bremer Schulreform im Jahr 2007 und ihrer partiellen Umsetzung ab 2009 sind – bis auf wenige Ausnahmen – bis zum Schuljahr 2011/2012 alle weiter218 219 220

Auf eine genauere Spezifizierung der Zusammensetzung oder einer Nennung von Schulnamen wird aus datenschutzrechtlichen Gründen an dieser Stelle verzichtet. Vgl. zum Auswahlbegriff und seinen Unterscheidungen exemplarisch Behnke et al. (2006, 189ff.). Vgl. für eine Begründung der Auswahl auch den nachfolgenden Abschnitt (b) Forschungspragmatismus.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_12

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Populationsauswahl

führenden Schulen in der Stadt Bremen in sogenannte Oberschulen umgewandelt worden (vgl. Senatorin für Kinder und Bildung o.A.). Lediglich acht Traditionsgymnasien sind in ihrer ursprünglichen Struktur erhalten geblieben. Aufgrund der daraus resultierenden geringen Fallzahl an Bremer Gymnasiast*innen lassen sich für diesen Schultyp daher mit vergleichsweise geringem Aufwand vergleichsorientierte Daten erheben221. Als favorisierte Jahrgangsstufe wurde die neunte Klasse gewählt, da davon ausgegangen werden kann, dass die schulische Belastung für die Schüler*innen in dieser Phase vergleichsweise geringer ausfällt als dies bei höheren Jahrgängen aufgrund des sogenannten Abschlussdrucks der Fall sein dürfte und daher innerhalb dieser Kohorten noch eher Kapazitäten bestehen, an einer außerschulischen Untersuchung teilzunehmen. Neben pragmatischen Überlegungen spielten bei der Festlegung auf die neunte Jahrgangsstufe und damit auf eine bestimmte Altersgruppe auch entwicklungspsychologische Aspekte eine Rolle. So wurde bereits im Theorieteil (vgl. Kapitel 5) dieser Arbeit ausgeführt, dass davon auszugehen ist, dass Menschen bereits im Kindesalter und während der Adoleszenz über einen gewissen Grad an politischer Urteilsreife verfügen. Einer Auswahl von Schüler*innen der neunten Jahrgangsstufe scheint daher auch aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive nichts entgegenzustehen.

12.2 Forschungspragmatismus Zur Klasse der forschungspragmatisch orientierten Kriterien gehören die Merkmale Feldzugang, logistische Zugangsmöglichkeiten und Verfügbarkeit. Als Feldzugang bietet sich bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zumeist eine Kooperation mit der Institution Schule an, da hierdurch zwei zentrale Erhebungsvorteile realisiert werden können: erstens kann der Ein-

Forschungspragmatismus

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bezug auch größerer Fallzahlen ressourceneffizient ermöglicht werden und zweitens lässt sich, anders als z.B. bei einem Feldzugang über Vereinsstrukturen oder Freizeiteinrichtungen, meist eine größere Spannbreite sozialer Schichten erfassen (vgl. Lamnek 2010, 648). Im vorliegenden Fall wurde ein solcher Zugang zudem zusätzlich durch bestehende Kontakte des Autors erleichtert, welche sich im Rahmen seiner Tätigkeiten222 am Zentrum für die Didaktiken der Sozialwissenschaften (ZeDiS) der Universität Bremen ergaben (vgl. hierzu auch Kapitel 9.2). Wichtigstes Kriterium beim Feldzugang ist zudem die Gewährleistung des Datenschutzes aller Beteiligten. So musste sichergestellt werden, dass zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle und Verwahrung aller erhobenen Daten nach den hierfür geltenden Regeln gewährleistet werden kann. Um dies sicherzustellen, wurde die geplante Untersuchung beim Datenschutzbeauftragten der Senatorin für Bildung und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen angezeigt223 und die in Folge dessen erlassenen Richtlinien penibel befolgt. So liegen u.a. Einverständniserklärungen der verantwortlichen Schulleitungen und Erziehungsberechtigten vor und auch die be-

221 Allerdings wurde aufgrund der gewählten Erhebungs- und Auswertungsverfahren (vgl. Kapitel 22), welche eine quantitative Einordnung von Daten nicht vorsehen, von einer derartigen Interpretation der Daten abgesehen. Eine entsprechende repräsenta tive Einordnung muss daher etwaigen späteren Arbeiten vorbehalten werden. 222 Wesentlich dabei wäre die Betreuung von Studierenden, welche im Rahmen ihres Lehramtsstudiums Hospitationen an Schulen durchführten, sowie das mehrjährig in Kooperation mit Schulen aus Bremen und Niedersachsen durchgeführte Pilot projekt Bremer Stadtforscher (vgl. Klee et al. 2017). 223 Dazu gehört die vollständige Offenlegung aller zum Einsatz kommenden Erhebungs instrumente sowie die Verfahrensweise bei der Anonymisierung (vgl. Kapitel Assistent*innen) und die Speicherung und Weiterverarbeitung der gewonnenen Daten.

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Populationsauswahl

teiligten Schüler*innen haben ihr Zustimmung erklärt224. Die spezifische Festlegung auf die Kohorte der Traditionsgymnasien erfolgte schließlich auch unter den Aspekten der logistischen Zugangsmöglichkeit sowie der Verfügbarkeit der Schüler*innen. Die Rubrik der logistischen Zugangsmöglichkeiten ergibt sich dabei aus dem Untersuchungsdesign (vgl. Kapitel 13), welches erforderte, dass die Schüler*innen zum Zwecke der Datenerhebung die Universität Bremen besuchen. In Vorgesprächen mit den beteiligten Schulleitungen und Lehrkräften wurde diesbezüglich deutlich, dass eine Teilnahme der Schulen auch von der Zusage abhängt, dass etwaige anfallende Fahrtkosten auf Seiten der Schüler*innen von Seiten der Versuchsleitung übernommen werden. Eine Zusage, die auch Dank einer gewährten Forschungsförderung realisiert werden konnte225. Das letzte Kriterium der Verfügbarkeit bezieht sich abschließend auf die Möglichkeit, dass die Schüler*innen von institutioneller Seite für den Erhebungszeitraum vom regulären Schuldienst freigestellt wurden. Für alle vier beteiligten Schulklassen konnten zu diesem Zwecke unter Beteiligung der zuständigen Fachlehrer*innen und verantwortlichen Schulleitungen individuelle Termine für die Datenerhebung vereinbart werden.

224 Aus datenschutzrechtlichen Gründen können im Anhang (vgl. M103-M104) nur die Muster der Einwilligungserklärungen abgebildet werden. Die vorliegenden und durch Unterschrift bestätigten Originale unterliegen aufgrund der darin enthaltenen personengebundenen Daten dem Datenschutz. 225 Die hierfür notwendigen finanziellen Mittel konnten dankenswerterweise durch einen erfolgreich beschiedenen Antrag auf Impulsförderung an die Nachwuchs Kommission der Universität Bremen aufgebracht werden. Das Instrument der Impuls förderung wird aus Mitteln der Universität Bremen finanziert und bietet Forschungsvorhaben die Möglichkeit, finanzielle Mittel relativ kurzfristig und un kompliziert in geringem Umfang für Forschungszwecke zu nutzen.

13 Das qualitative Experiment Die Untersuchung sozialer Phänomene mittels qualitativer Experimente stellt in der politikdidaktischen Forschung eine eher seltene Untersuchungsform dar. In den einschlägigen Überblickswerken (vgl. Reinhardt/Lange 2017; Sander 2014b; Mickel 1999) lassen sich z.B. keinerlei Hinweise bezüglich ihrer konzeptionellen Operationalisierung finden. Fasst man hingegen den Begriff des qualitativen Experimentes sehr weit, so lassen sich darunter auch das sogenannte Planspiel, Feld- oder Krisenexperimente (vgl. Kühl 2009, 535f.) verordnen, wie sie etwa von Andreas Petrik (vgl. 2013) im Zuge seiner Dorfgründungssimulation durchgeführt wurden. Die seltene Behandlung des qualitativen Experimentes in der fachspezifischen Methodenliteratur ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Politikdidaktik. Auch in den fachübergreifenden Methodenwerken wird dieser Erhebungsform meist nur wenig Platz eingeräumt (vgl. Kleining 1995, 263; Lamnek 2010, 582)226. Aufgrund seines Schattendaseins soll daher, vor der Darstellung des eigentlichen experimentellen Aufbaus (vgl. Kapitel 13), der Ansatz des qualitativen Experimentes zunächst innerhalb der Forschungshorizonte der qualitativen und quantitativen Landschaften verortet und seine generellen Strukturmerkmale expliziert werden. Maßgeblichen Verdienst an der Entwicklung des qualitativen Experimentes als anerkannte Erhebungsmethode kommt vor allem Gerhard Kleining zu, (vgl. 1986) dessen methodisch-konzeptionellen Ausführungen in aller Regel zur allgemeinen Grundlage der Standardmethodenwerke 226

Allgemein bekannte, viel rezitierte und diskutierte Wirkung entfalteten sozial experimentelle Verfahren in der jüngsten Vergangenheit hingegen vor allem in sozial psychologischen Untersuchungen. Für eine erste Übersicht hierzu vgl. z.B. die Monografie Von Menschen und Ratten von Lauren Slater (2013).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H. Schröder, Emotionen und politisches Urteilen, Politische Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30656-4_13

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Das qualitative Experiment

zählen (vgl. Lamnek 2010, 582-593; vgl. Kleining 1995, 263-266) und an dessen Arbeiten hierzu sich daher auch nachfolgend angelehnt wird. Nach Kleining (vgl. 1995, 264) können Forscher*innen sich einem Untersuchungsgegenstand entweder überwiegend aktiv oder rezeptiv annähern, woraus sich die Erkenntnis generierenden Grundformen Beobachten und Experimentieren ergeben. Beide Formen betrachtet Kleining (vgl. ebd.) als grundsätzlich getrennte Erhebungsverfahren, betont jedoch zugleich ihre dialektischen Charaktere „(kein Experiment ohne Beobachtung, keine Beobachtung ohne Aktivität)“ (ebd.). Wie zentral diese Unterscheidung für ihn ist, zeigt sich besonders deutlich bei der Betrachtung seines Wissenschaftsverständnisses.

Abbildung 3: Modifizierte Darstellung der Verortung des qualitativen Experimentes innerhalb der Wissensproduktionslandschaft nach Kleining (vgl. 1986, 727).

Das qualitative Experiment

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Demnach dienen grundsätzlich rezeptive und aktive Verfahren zur (Re-) Konstruktion von Welt. Wobei sich als wissenschaftlich geltende Verfahren von Alltagsmethoden nicht auf Grundlage prinzipiell divergierender Verfahrensweisen unterscheiden, sondern primär anhand ihres generell höher liegenden Abstraktionsniveaus. Streng genommen kann an dieser Stelle jedoch kritisch angemerkt werden, dass Kleining (vgl. 1986; 1995) damit die spezifischen Elemente einer wissenschaftlichen Wissensproduktion sowie deren Verwaltung und Einordnung in einen theoretischen Zusammenhang vernachlässigt (vgl. Kapitel 1.2). Dennoch ist seine Vorstellung einer Welterschließung anhand zweier Erkenntnis generierender Grundformen (Rezeption und Aktivität) durchaus nachvollziehbar und plausibel. „Das Tun ist die Grundform des Experiments, das Rezipieren die Grundform der Beobachtung“ (Kleining 1986, 726). Nach dem Modell von Kleining (vgl. ebd.) können diese erkenntnisgenerierenden Verfahren folglich anhand der Achsen Rezeption vs. Aktivität und Gegenstandsnähe vs. Abstraktionsniveau eingeteilt werden (vgl. Abb. 3). Warum er hierfür allerdings als Darstellungsform die Figur der Pyramide wählt, bleibt unverständlich, lädt diese doch zu einigen missverständlichen Interpretationen ein. So ließe sich etwa schlussfolgern, dass die Qualität von Weltkonstruktion zunimmt, je näher ein Verfahren der Pyramidenspitze kommt oder dass qualitative Verfahren der Wissensproduktion gegenüber quantitativen Verfahren häufiger zur Anwendung kämen. Beides ist sicherlich unzutreffend und entspricht vermutlich auch nicht der Aussageabsicht von Kleining (vgl. 1986). Auch lässt sich, wie Siegfried Lamnek folgerichtig bemerkt, „trefflich darüber streiten, ob die quantitativen Methoden tatsächlich hinsichtlich des Abstraktionsniveaus einen höheren Status haben als die qualitativen Methoden“ (Lamnek 2010, 583). Sicher ist, dass ein hohes Abstraktionsniveau keinesfalls mit einer Art Wahrheitskriterium verwechselt werden sollte.

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Das qualitative Experiment

13.1 Erörterung experimenteller Untersuchungsformen Da die Betrachtung unterschiedlicher experimenteller Untersuchungs-formen im Hinblick auf das qualitative Experiment als profilschärfend wahrzunehmen ist, sollen nachfolgend in verkürzter Form die wesentlichen Merkmale quantitativer und alltagsorientierter experimenteller Erhebungen skizziert werden. Alltagsexperimente: Auch im Alltag wird Welt meist durch experimentelles Verhalten subjektiv erschlossen. Allerdings werden dabei wissenschaftliche Standards (wie z.B. die akribische Diskussion und Dokumentation der praktizierten Erhebungsmethode sowie die Darstellung ihrer Anwendung) nicht berücksichtigt. Die Verwissenschaftlichung von Alltagstechniken besteht also vor allem in der Einsicht, dass eine objektive Wissensproduktion nur unter der Einhaltung spezifischer Gütekriterien (vgl. Kapitel 1.1; 1.3) erfolgen kann. Quantitative Experimente: Quantitativen Experimenten geht stets eine gründliche, deduktive Hypothesenbildung voraus. Im experimentellen Verfahren werden diese dann kausal-analytisch auf ihre Validität hin geprüft (vgl. Lamnek 2010, 584). Wobei im Allgemeinen eine Annahme solange als wahr bzw. gültig betrachtet wird, bis sie durch Falsifikationen verworfen werden kann. Die zugehörige Methodologie zeichnet sich durch den Ausschluss aller messbaren Störvariablen aus (Reduktion), was zugleich eine Normierung des experimentellen Aufbaus voraussetzt (Standardisierung). Zudem gilt als Grundbedingung, dass kausale Schlüsse mittels mathematischer Verfahren darstellbar sind (Messbarkeit) und die gewonnen Ergebnisse sich sicher reproduzieren lassen (Vergleichbarkeit) (vgl. Behnke 2006, et al. 115-128). Die Verfahrensweise qualitativer Experimente unterscheidet sich radikal von quantitativen Experimenten, in denen es explizit nicht um die Überprüfung vorformulierter und deduktiver Hypothesen, sondern um das

Erörterung experimenteller Untersuchungsformen

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Auffinden komplexer (i.d.R. sozialer) Strukturen (Abhängigkeiten, Beziehungen, Relationen etc.) geht (vgl. Lamnek 2010, 584). Mit kausal-analytischen Messverfahren lässt sich eine solche explorativ orientierte Forschungsperspektive kaum hinreichend operationalisieren. Kleining drückt dies folgendermaßen aus: „Relationen sind qualitativer Art, sie lassen sich zumeist nicht messen, weil sie nicht nur Verläufe, sondern auch Negationen, Widersprüche, instabile Abhängigkeiten, Umspringbeziehungen und Brüche einbeziehen.“ (Kleining 1986, 725). Es ist daher offenkundig, dass methodologisch bei qualitativen Experimenten andere Kriterien als bei quantitativen Experimenten angelegt werden müssen. Als erste Orientierung können hierfür die bereits Anfang der 1980er Jahre von Kleining (vgl. 1986, 733f.) entwickelten vier Grundregeln qualitativer Sozialforschung dienen: 1. Regel über das Subjekt, 2. Regel über das Objekt, 3. Regel über das experimentelle Handeln, 4. Regel über die Bewertung von Daten. Unter Bezugnahme auf die ebenfalls hieran angelehnten methodologischen Ausführungen von Lamnek (vgl. 2010, 586f.) sowie die im Hinblick auf experimentelle Verfahren später erfolgte Konkretisierung der vier genannten Regeln von Kleining selbst (vgl. 1995) werden diese hinsichtlich der vorliegenden qualitativen experimentellen Untersuchung im Folgenden näher ausgeführt. Die 1. Regel über das Subjekt betont den bereits erwähnten deutlichen Kontrast zwischen qualitativen und quantitativen Experimenten im Umgang mit Hypothesen. Während quantitative Experimente das Ziel verfolgen, einzelne Hypothesen auf ihre Validität hin zu überprüfen, verfolgen qualitative experimentelle Settings eher das Ziel, fundierte Hypothesen bezüglich eines sozialen Phänomens zu generieren. So dient im vorliegenden Fall das qualitative Experiment dem Auffinden von emotionalen Korrelaten sowie der Thesenbildung in Bezug auf ihre Funktionen innerhalb politischer Urteilsprozesse. Da hierzu keine brauchbaren empirischen Vergleichsdaten vorliegen und auch mit deduktiven Mitteln im Vorfeld der

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Das qualitative Experiment

Erhebung nicht abschließend bestimmt werden kann, welche Formen der Emotionalität dabei zu erwarten sind und wie sich diese auf den Urteilsprozess konkret auswirken, handelt es sich dem Charakter nach um eine explorative Untersuchungsform. Die 2. Regel über das Objekt besagt, dass die eingenommene Forschungsperspektive nicht statisch sein darf, sondern sich aufgrund des nicht im Vorfeld exakt bestimmbaren Forschungsgegenstandes ein Maximum an Offenheit und Flexibilität sowohl bei der Datenerhebung als auch bei der Datenauswertung bewahren sollte. Zur Sicherung dieser erwünschten Multiperspektivität sorgen im Rahmen der experimentellen Datenerhebung die unterschiedlichen Erhebungsverfahren (vgl. Kapitel 14 und 15) sowie die studentischen Hilfskräfte, deren Beobachtungen und Lesarten der experimentellen Operationalisierung vor allem im Rahmen der Steuerung und Nachjustierung des experimentellen Ablaufs eingeflossenen sind (vgl. Kapitel 13.2.). Zudem konnten Teile der Datenauswertung im Rahmen von wissenschaftlichen Kolloquien erfolgen (vgl. Schröder 2018; Kapitel 17.1), wodurch ebenfalls eine gewisse Offenheit und Flexibilität im Umgang mit dem Analysematerial erreicht werden konnte. Die 3. Regel über das experimentelle Handeln bezeichnet Kleining auch als „maximal strukturell variiert“ (Kleining 1995, 264). Darunter kann die auf Variation abzielende gezielte Manipulation des experimentellen Settings verstanden werden, wozu Faktoren wie z.B. „Testanordnung, Testpersonen, Versuchsleiter, Rahmenbedingungen, Instruktionen, Abfolgen und Testzeiten“ (Kleining 1986, 734) zählen. Die Notwendigkeit der strukturellen Variation des qualitativen Experimentes ergibt sich dabei aus den sozialen Phänomenen inhärenter Spezifika, nach denen sie, anders als Untersuchungsgegenstände quantitativer (Labor-)Experimente, nicht auf eine allgemeingültige Form reduziert werden können. Anders ausgedrückt, lassen sich z.B. keine belastbaren Thesen bezüglich des Zusammenspiels von Emotionalität und politischem Urteil anhand der Untersuchungsergebnis-

Erörterung experimenteller Untersuchungsformen

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se einer einzigen Testperson ableiten. Erst die Variation der Testpersonen sowie des experimentellen Settings ermöglichen eine breitere und somit aussagekräftigere Thesenbildung. An der durchgeführten Untersuchung nahmen daher insgesamt 85 Schüler*innen aus drei verschiedenen Schulen teil (vgl. Kapitel 12), die innerhalb des Experimentes drei verschiedene Variationsformen durchliefen (vgl. Kapitel 13.2). Die 4. Regel über die Bewertung von Daten beinhaltet zum einen die bereits oben erwähnte Offenheit im Umgang mit den gewonnenen Untersuchungserkenntnissen. „Ein qualitativer Dialog ist nicht autoritär-kritizistisch, sondern egalitär.“ (Kleining 1986, 734). Zum anderen verweist die vierte Regel auf den generell explizit zirkulären Charakter qualitativer Forschung. So führt der Versuch, Gemeinsamkeiten innerhalb der gewonnenen Daten zu entdecken (vgl. Kapitel 16.2), zwangsläufig zu neuen Fragestellungen und somit zu neuen Untersuchungsreihen und Verfahren, um z.B. die Strukturen eines sich wandelnden sozialen Phänomens wie das der Emotionalität immer wieder neu zu bestimmen (vgl. Kapitel 6.3; 7; 8). Nachdem die Methode des qualitativen Experimentes innerhalb der qualitativen und quantitativen Forschungslandschaft verortet sowie seine methodologischen Grundzüge in Bezug auf die vorliegende Untersuchung näher bestimmt wurden, kann sich für den Verlauf dieser Arbeit der nachfolgenden Definition von Kleining angeschlossen werden. Das qualitative Experiment ist der nach wissenschaftlichen Regeln vorgenommene Eingriff in einen (sozialen) Gegenstand zur Erforschung einer Struktur. Es ist die explorativ, heuristische Form des Experiments (Kleining 1986, 724). Das so gefasste qualitative Experiment kann, im Prinzip, auf alle sozialwissenschaftlichen Themen angewandt werden: Im engeren Sinne auf Individuen und Gruppen im sozialen Gegenüber, psychisch und sozial relevante Kennzeichen und Abläufe und alle größeren sozialen Gebilde, die sich in Handlung, Emotion und Kognition manifestieren […] (Kleining 1995, 264f., Hervorh. im Original).

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Das qualitative Experiment

Entgegen der Auffassung von Kleining (vgl. 1986, 733) werden hier allerdings heuristische Verfahren explizit nicht als Gegensätze zu hermeneutischen Interpretationstechniken verstanden. Schließlich bleiben Kleinings (vgl. ebd.) Ausführungen diesbezüglich unverständlich und lösen in der qualitativen Forschungsgemeinschaft insgesamt Verwunderung aus (vgl. Lamnek 2010, 586). So wird hier davon ausgegangen, dass insbesondere der Einsatz von objektiv hermeneutischen Techniken (vgl. Kapitel 16.2) sich mit dem von Kleining (vgl. 1986, 724) beschriebenen Anspruch, mittels qualitativer Experimente Strukturen, Abhängigkeiten, Beziehungen, Relationen usw. entdecken zu wollen, auf ergiebige Weise verbinden lässt (vgl. Kapitel 17).

13.2 Design, Aufbau und Durchführung des qualitativen Experimentes Nachdem die Struktur qualitativer Experimente theoretisch bestimmt wurde (vgl. Kapitel 13), soll im Folgenden ihre anwendungsbezogene Form in Bezug auf die durchgeführte Untersuchung näher erläutert werden. Zu diesem Zweck werden sowohl die Elemente des experimentellen Aufbaus als auch die der Durchführung beschrieben. Die Gliederung der Erläuterung folgt dabei drei Handlungsstrategien227, welche aus den Überlegungen von Kleining (vgl. 1995, 265) zum Aufbau qualitativer Experimente abgeleitet und für den vorliegenden Fall, unter Berücksichtigung des forschungsleitenden Erkenntnisinteresses (vgl. Kapitel 11), angepasst und interpretiert wurden. Ergänzt werden diese neu justierten Such- und Findestrategien, welche das explorative Vorgehen des Experimentes unterstreichen und deren Übergänge mitunter fließend sind, zudem durch die Zuordnung konkreter Techniken228, die ebenfalls in ihrer ursprünglichen Form von Kleining (vgl. 1995, 265) entwickelt wurden. Da Kleining (vgl. ebd.) diese jedoch ausschließlich gegenstandsorientiert formuliert hat und im vorliegenden Fall die verwendeten Strategien sich auf den Untersuchungsrahmen sowie

Design, Aufbau und Durchführung

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die durchführenden und teilnehmenden Individuen beziehen, müssen die zugehörigen Techniken für den Kontext der Untersuchung neu ausgerichtet und erweitert werden. 13.2.1 Maximierung und Minimierung Die erste so konstruierte Such- und Findestrategie (Maximierung und Minimierung) beruht auf der Annahme, dass die strukturelle Beziehung von sozialen Phänomen, wie dem politischen Urteilen und Emotionalität, sich besonders deutlich in Extremen offenbart. Das Auffinden und Erforschen von Extremen, die mit dem Gegenstand in Verbindung stehen, ist für qualitative Forschung generell konstitutiv – Extreme sind ja Extreme ›von etwas‹, strukturell ausgezeichnete Verhältnisse. Deswegen ist das Herstellen von Maxima und Minima strukturell relevant. (Kleining, 1986, 735)

Folgt man dieser Annahme, stellt sich die Frage, was im Rahmen der vorliegenden Untersuchung unter Extremen verstanden werden kann und wie sich diese ggf. methodisch operationalisieren lassen. Ganz allgemein kann ein Extrem als ein Phänomen gefasst werden, welches in einem diametralen Verhältnis zu mindestens einem weiteren Phänomen steht (z.B. Hitze 227 228

In seinem Aufsatz Das qualitative Experiment, der 1986 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschien, schlägt Kleining drei Handlungsstrategien für die Operationalisierung qualitativer experimenteller Verfahren vor: Maximierung und Minimierung, Testen der Grenzen und Adaption. Für einen ausführlichen Überblick hierzu vgl.: Kleining 1986, 737f.; Kleining 1995, 265; Lamnek 2010, 588-589. Eine erste Erklärung sowie die tatsächliche Verwendung der Strategien im Kontext dieser Arbeit werden nachfolgend dargestellt. Die Techniken (Separation/Segmentation, Kombination, Reduktion/Abschwächung, Adjektion/Intensivierung, Substitution und Transformation) werden ebenfalls von Kleining (vgl. 1986) in Bezug zu seinen Handlungsstrategien entwickelt. Vgl. für einen Überblick hierzu ebenfalls die Ausführungen von: Kleining 1986; Kleining 1995, 265; Lamnek 2010, 587-588.

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Das qualitative Experiment

vs. Kälte). Auf die Untersuchung des Zusammenspiels von Emotionalität und politischem Urteilen lässt sich diese allgemeine Vorstellung übertragen, indem die Entstehung von politischen Urteilen unter dem Einfluss maximal kontrastiver emotionaler Stimmungen untersucht wird, d.h. die Proband*innen urteilen unter dem Einfluss sich diametral zueinander verhaltener emotionaler Stimmungslagen (positive Stimmung vs. negative Stimmung). Gestützt wird diese Vorgehensweise durch Erkenntnisse aus der experimentellen Sozialpsychologie, nach denen unterschiedliche Stimmungslagen u.a. die Bewertung von Konsequenzen beeinflussen (vgl. hierzu auch Kapitel 10.2). So konstatieren etwa Tilmann Betsch, Joachim Funke und Henning Plessner, dass „gute Stimmung die Entscheidungsstrategien [von] Personen verändert“ (Betsch et al. 2011, 127). Auf diese Weise lässt sich der Erkenntnisgegenstand von seinen Rändern her einkreisen, um so mögliche strukturelle Beziehungen zwischen Emotionen und politischem Urteilen rekonstruieren zu können. Für die Operationalisierung des Forschungsvorhabens stellt sich jedoch die Frage, wie sich diese einander diametral gegenüber stehenden emotionalen Stimmungen auf Seiten der Proband*innen methodisch kontrolliert evozieren lassen. In der Emotionsforschung kommen zu diesem Zwecke unterschiedliche visuelle, auditive, audiovisuelle, kognitive, haptische und olfaktorische Methoden zum Einsatz (vgl. Ströbel 2013, 3f.). So führten etwa Min Cheol Whang, Joa Sang Lim und Wolfram Boucsein (vgl. 2003) eine psychophysiologische Studie mit dem Ziel durch, Computersysteme auf Formen der affektiven Kommunikation vorzubereiten. Dabei konnten sie bei den Proband*innen mittels akustischer (Sirene und koreanisches Volkslied) und olfaktorischer Signale (Ethanol und Parfüm der italienischen Marke Fendi) gezielt Emotionen auslösen (vgl. Whang et al. 2003, 626ff.). Edelyn Verona et al. (vgl. 2004) untersuchten hingegen mit Hilfe von positiven als auch negativen emotionalen Stimuli die physiologische Reaktivität bei als psychopathisch diagnostizierten Straftätern. Sie verwendeten dazu akusti-

Design, Aufbau und Durchführung

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sche Stimuli, welche aus dem System der International Affective Digitized Sounds229 (IADS) ausgewählt wurden (vgl. Verona et al. 2004, 101). Israel C. Christie und Bruce H. Friedman (vgl. 2004) konnten zudem mit der elektrokardiografischen Überwachung des autonomen Nervensystems teilnehmender Testpersonen nachweisen, dass sich emotionale Stimuli auch anhand von Film-Ausschnitten systematisch evozieren lassen. Und in der psychologischen Urteilsforschung gelang es mittels visueller Materialien die emotionale Stimmung von Proband*innen gezielt zu beeinflussen (vgl. Betsch et al. 2011, 60). Generell stellt der Einsatz visueller Stimuli zur emotionalen Reizinduktion das gängigste Verfahren dar, um Emotionen gezielt zu evozieren (vgl. Müller 2004, 236). Das am häufigsten eingesetzte und damit wohl auch am besten evaluierte und erprobte Verfahren stellt dabei das sogenannte International Affective Picture Systems (IAPS) dar (vgl. Ströbel 2013, 4). Maßgeblich entwickelt wurde das IAPS unter der Leitung des Psychologen Peter J. Lang am National Institute of Mental Health Center for Emotion and Attention der Universität Florida. Ziel dieses Systems war es, spezifische Emotionen mittels einer standardisierten Reizinduktion bei Testpersonen kontrolliert auslösen zu können (vgl. Lang 1995). Als Medium werden dabei visuelle Stimuli in Form von Fotografien eingesetzt, deren evozierende Wirkung inzwischen durch eine Vielzahl internationaler Studien belegt werden konnte (vgl. u.a. Müller et al. 2004; Lang et al. 2008; Ströbel 2013; Codispoti et al. 2007). Insgesamt umfasst der Archiv-Korpus der visuellen Stimuli bis dato mehr als 1800 Einheiten (vgl. Hamm 2017, 826). Damit die Bilddokumente empirisch kontrolliert verwendet werden können, existiert kein öffentlicher Zugang zur Datenbank und ihr Einsatz

229 Dabei handelt es sich um eine Reihe von 116 naturalistischen Klängen, die für die Emotionsforschung entwickelt wurden (vgl. Bradley/Lang 1999).

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Das qualitative Experiment

bleibt auf Forschungszwecke beschränkt 230 (vgl. Hamm 2017, 827). Die Auswahl der eingesetzten Bildexponate orientiert sich dabei an einem dreidimensionalen Kategorisierungsraster, mit dessen Hilfe die emotionale Reizinduktionswirkung für die Medien des IAPS beschrieben wird. Die im Zuge dessen zum Einsatz kommenden Dimensionen gehen auf Vorarbeiten der Psychologen Wilhelm Max Wundt (vgl. 1911) und Charles Egerton Osgood, George J. Suci und Percy H. Tannenbaum (vgl. 1978) zurück und wurden von Lang (vgl. 1995) für das IAPS weiterentwickelt und zu einem konsistenten Modell zusammengeführt. Demnach lassen sich Emotionen für experimentelle Zwecke auf den Achsen Valenz (angenehm vs. unangenehm), Arousal (aufgeregt vs. entspannt) und Dominanz (mit Kontrolle vs. ohne Kontrolle) verorten (vgl. Lang 1995, 372; Lang et al. 2008, 2f.). Die drei Dimensionen stehen dabei stellvertretend für unterschiedliche emotionale Aspekte. So klassifiziert die Valenz-Dimension die Qualität einer emotionalen Empfindung anhand der sich diametral verhaltenden Pole angenehm bzw. unangenehm. Die Arousal-Dimension beschreibt die Intensität des emotionalen Empfindens zwischen aufgeregt und entspannt und die Dominanz-Dimension gibt Aufschluss über den Grad der intrasubjektiven Reflexivität, d.h. inwiefern das Subjekt davon ausgeht, die eigenen Empfindungen aktiv kontrollieren zu können und nicht von ihnen überwältigt zu werden. Alle drei Dimensionen wurden mit Hilfe des sogenannten Self-Assessment Manikin (SAM) Instrumentes231 konstruiert und ihre Validität innerhalb internationaler Populationen getestet (vgl. Hamm 2017, 826). Aus der während der Erhebung verwendeten neunstufigen Skala lassen sich so für alle drei Dimensionsbereiche klassifizierende emotionale Stimmungswerte errechnen. Demnach liegt auf der Valenz-Skala der minimale Valenzwert bei 1 und der maximale bei 9. Werte >5 drücken dabei eine als angenehm empfundene Reizwahrnehmung aus, wohingegen Werte 1 für eine zunehmende Aufgeregtheit und somit für eine Steigerung der Intensität des emotionalen Empfindens stehen. Bei der Dominanz-Skala drücken die Werte >1 einen zunehmenden emotionalen Kontrollverlust in Folge des erlebten emotionalen Reizes aus, wobei der Wert 5 ein Kräftegleichgewicht zwischen emotionaler Kontrolle und Kontrollverlust durch das Subjekt markiert. Die Entscheidung, das IAPS im Kontext des qualitativen Experimentes der vorliegenden Untersuchung einzusetzen, erfolgte aufgrund der Tatsache, dass eine bedeutende Anzahl von unabhängigen, internationalen Forscher*innegruppen sowohl bei klinischen als auch nicht-klinischen Populationen eine kontrollierte emotionale Reizinduktion mittels des IAPS empirisch nachweisen konnte (vgl. u.a. Müller et al. 2004; Lang et al. 2008; Ströbel 2013; Codispoti et al. 2007; Hamm 2017). Darunter befinden sich auch Untersuchungen, welche Jugendliche im Alter zwischen 13 230 231

Im Rahmen des hier dargestellten Experiment konnte das IAPS, dank der Hilfe von Dr. Marc Schipper (Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen), eingesetzt werden. Dr. Schipper versorgte mich dabei dankenswerterweise nicht nur mit den entsprechenden Bildbatterien (Sets 1-20) und Hintergrundwissen, sondern stand mir auch als Ratgeber bei der sich anschließenden Operationalisierung zur Verfügung. Zur empirischen Validierung der drei Dimensionen (Valenz, Arousal, Dominanz) setzten Lang (vgl. 1995, 374f) und weitere Forscher*innen (vgl. u.a. Müller et al. 2004, 237) das sogenannte SAM-Instrument ein, eine im Original bebilderte neunstufige Skala, auf welcher die Proband*innen ihre intrasubjektive Selbsteinschätzungen bezüglich ihres emotionalen Empfindens bei gleichzeitiger Reizinduktion mittels des IPAS dokumentierten. Zur näheren Beschreibung des SAM-Instrumentes vgl. das Handout: International Affective Picture System (IAPS): Affective ratings of pictures and instruction manual (Lang et al. 2008, 5-10).

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Das qualitative Experiment

und 14 Jahren als Testpersonen ausweisen und die damit genau dem Alter der auch hier untersuchten Zielgruppe entsprechen (vgl. Kapitel 12). Die Ergebnisse der mittels des IAPS untersuchten Jugendlichen unterscheiden sich dabei im übrigen nicht signifikant von denen Erwachsener (vgl. Lang et al. 2008, 4, 59). Gelten die Dimensionen Valenz und Arousal als valide belegt, so wird die Dominanz-Dimension von einigen Forscher*innen jedoch kritisch betrachtet, „da die Befunde hinsichtlich der Zuordnung zu psychophysiologischen Reaktionen widersprüchlich [seien]“ (Müller et al. 2004, 237). Eine Einschätzung, welche scheinbar auch von den Nestoren des IAPS selbst geteilt wird, sprechen sie doch in Bezug auf die Valenz und Arousal Dimensionen von den „two primary dimensions“ (Lang et al. 2008, 2), mit der sie der Dominanz-Dimension offenbar nur eine Randrolle zugestehen. Der Grund hierfür dürfte auf die Schwierigkeiten zurückzuführen sein, mit Mitteln der Introspektion (SAM-Instrument) belastbare Aussagen bezüglich der subjektiven emotionalen Kontrolle erheben zu können. Trotz dieser möglichen Unschärfe innerhalb einer der drei Testdimensionen ermöglicht die empirische Systematisierung des Bildmaterials anhand der Dimensionen Valenz, Arousal, Dominanz eine zielgerichtete Auswahl von Fotos, welche es ermöglicht, kontrastiv unterscheidbare Bildbatterien zu generieren, wodurch das gezielte Evozieren erwünschter emotionaler Stimmungen ermöglicht wird. Dem oben skizzierten experimentellen Verständnis folgend – nachdem ein Untersuchungsgegenstand anhand von Extremen fruchtbar zu analysieren ist – konnten so zwei in emotionaler Hinsicht diametrale Fotosammlungen (A und B) aus den Bildersets 1-20 des IAPS gebildet werden (vgl. Anhänge M11-M12). Die Sammlung A umfasst Fotos, welche eine positive emotionale Stimmung evozieren, während die Sammlung B eine negative emotionale Stimmung provoziert. Besonders ausschlaggebend für die Unterscheidung der Sammlungen ist die Valenz-Dimension232 (vgl. Tab. 6), weniger bedeutsam sind hingegen die

Design, Aufbau und Durchführung

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Arousal-Dimension und die Dominanz-Dimension, da weder der Grad der Aufgeregtheit noch die Kompetenz, Emotionen kontrollieren zu können, im unmittelbaren Fokus der Untersuchung stehen. Tabelle 6: Mittelwerte der in der Untersuchung eingesetzten Bildmaterialien aus dem IAPS für die Dimensionen Valenz, Arousal und Dominanz. Die Werte in den Klammern zeigen die durchschnittliche Standardabweichung an.

Neben der primären Orientierung an den beschriebenen drei Dimensionen wurden für die Bildauswahl zudem augenscheinlich jugendgefährdende Fotografien (z.B. exzessive Gewaltszenen oder pornografische Darstellung) aus Gründen der Fürsorgepflicht (vgl. Art. 34 Satz 1 GG)233 nicht verwendet. Nachdem zwei unterschiedliche emotionale Grundstimmungen (negativ vs. positiv) intendierende Bildbatterien mittels des IAPS erstellt wurden, stellt sich die forschungspragmatische Frage, wie sich diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bestmöglich operationalisieren lassen. Da die Fotos digital vorliegen und ihr Einsatz bei einer größeren Anzahl von Testpersonen parallel erfolgen muss (vgl. Tab. 7), bot sich eine SlideshowMontage der Bilder an. Für das experimentelle Setting wurden daher mit Hilfe eines nicht-linearen Videoschnittprogramms aus den Fotosammlun232 Wie bereits oben beschreiben, wird anhand der Valenz-Dimension ersichtlich, ob ein induzierter visueller Reiz mehrheitlich als positiv (angenehm) oder negativ (unan genehm) empfunden wird. Werte >5 stehen dabei für ein angenehmes und Werte