Emotionen in der postkolonialen Erinnerungspolitik. Deutschland und Frankreich seit den 1990er Jahren [1. ed.] 9783111018485, 9783111018683, 9783111018942

151 18 2MB

German Pages XIII, 512 [526] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Emotionen in der postkolonialen Erinnerungspolitik. Deutschland und Frankreich seit den 1990er Jahren [1. ed.]
 9783111018485, 9783111018683, 9783111018942

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung: Verstrickte Emotionen? Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich
2 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten: Forschungsstand und Begriffsklärungen
3 Erinnerungspolitiken provinzialisieren? Postkolonialismus als Intervention in die Erinnerungsforschung
4 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell in der Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken
5 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern: Historischer Überblick und die beginnende Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich
6 Erinnerungspolitiken verstricken: Der transnationale Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich
7 Zwischen Anerkennung und Verkennung: Die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten als moralisches Kollektivideal?
8 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“ – Postkoloniale Reparationsklagen und die ‚emotionale Einzigartigkeit‘ des Holocaust-Gedenkens
9 Die vergessenen Schädel? Die Repatriierungen menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten zwischen affektiver Er- und Entinnerung der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘
10 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse? Die Auseinandersetzung mit Restitutionen von kolonialem Sammlungsgut
11 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Über die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen
12 Schlussbetrachtungen
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister

Citation preview

Sahra Rausch Emotionen in der postkolonialen Erinnerungspolitik

Medien und kulturelle Erinnerung

Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bal · Vita Fortunati · Richard Grusin · Udo Hebel Andrew Hoskins · Wulf Kansteiner · Alison Landsberg · Claus Leggewie Jeffrey Olick · Susannah Radstone · Ann Rigney · Michael Rothberg Werner Sollors · Frederik Tygstrup · Harald Welzer

Band 10

Sahra Rausch

Emotionen in der postkolonialen Erinnerungspolitik Deutschland und Frankreich seit den 1990er Jahren

Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften

ISBN 978-3-11-101848-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-101868-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-101894-2 ISSN 2629-2858 Library of Congress Control Number: 2023944941 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: J614 / DigitalVision Vectors / Getty Images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für meine Mutter

Inhalt Danksagung 

 XI

Abkürzungsverzeichnis 

 XIII

1 Einleitung: Verstrickte Emotionen? Aufarbeitung der kolonialen  1 Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich   5 1.1 Relevanzbegründung   14 1.2 Methode   21 1.3 Aufbau der Arbeit  2 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten:  23 Forschungsstand und Begriffsklärungen  Identität durch Erinnerung? Zwischen „postkolonialer Erweiterung“ 2.1  des öffentlichen Gedenkens und der Schaffung „postkolonialer  24 Erinnerungsorte“  Der Gegensatz zwischen ‚affektiven‘ Erinnerungen und ‚universeller‘ 2.2   29 Geschichtsschreibung   32 2.3 Zum Begriff postkolonialer Erinnerungspolitiken  Eine „internationale Moral“ als Ausdruck transnationaler 2.4  Emotionen? 36 2.5  Zusammenfassung und Ausblick: Emotionen und postkoloniale  40 Erinnerungspolitiken transnational denken  3 Erinnerungspolitiken provinzialisieren? Postkolonialismus als  42 Intervention in die Erinnerungsforschung  3.1 Postkolonialität und die Verhandlung kolonialer  44 Erinnerungen  3.2 „Faites fonctionner l’oublioir!“ Zum postkolonialen  48 Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Vergessen   3.3 Hybridität als Multidirektionalität: Zur Macht des  53 Vergleichens   3.4 „Getrennte Zeitlichkeiten“ und die (Dis-)Kontinuität von  59 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft  3.5 Zusammenfassung und Ausblick: Emotionen  66 provinzialisieren?  

VIII 

 Inhalt

4 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell in der  68 Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken  4.1 Emotionen und Affekte und die Herausbildung moralischer  69 Kollektivideale   74 4.2 Die Beschreibung emotionaler Diskurse  4.3 Machtverhältnisse abbilden: Zur Untersuchung emotionaler  78 Ordnungen in postkolonialen Erinnerungspolitiken  4.4 Zur Rolle der Medien: (Prä-)Mediation von emotionalen  82 Diskursen  5 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern: Historischer Überblick und die beginnende Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in  88 Deutschland und Frankreich  5.1 Warum vergleichen? Zur Begründung der transnationalen  88 Vergleichsperspektive  5.2 „Koloniale Amnesie“ in Deutschland? Die historiografische Aufarbeitung des Genozids an den OvaHerero und Nama von  92 1904–1908  5.3 Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren: Die Kontroversen um die „Genozid-These“ und die Kontinuitäten zum  99 Nationalsozialismus  5.4 Verstrickte Geschichte(n) in Frankreich: Die Kolonisierung Algeriens, l’Algérie française und der Unabhängigkeitskrieg von  104 1954–1962  5.5 Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren: Frankreichs Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg zwischen  110 communautarisme und identité nationale  5.6 Zwischenfazit: Verstrickung als Sichtbarmachung neuer  129 Problemzusammenhänge  6 Erinnerungspolitiken verstricken: Der transnationale Vergleich  134 zwischen Deutschland und Frankreich   137 6.1 Beschreibung der Untersuchungsgegenstände   145 6.2 Zusammenstellung des Materialkorpus  6.3 Auswertung des Materialkorpus: Das diskursanalytische Vorgehen  151 als qualitative Forschungspraxis  

Inhalt 

 IX

7 Zwischen Anerkennung und Verkennung: Die Aufarbeitung kolonialer  160 Vergangenheiten als moralisches Kollektivideal?  7.1 Die Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ als moralisches  163 Kollektivideal?  7.2 Der Kolonialismus als Leerstelle in der parlamentarischen  166 Anerkennungsdebatte des Algerienkriegs 1999  7.3 „Dann melden Sie es!“ – Die inoffizielle Anerkennung des  178 Völkermords an den OvaHerero und Nama 2015/2016  7.4 „Der Mantel des Vergessens“ – Deutsche Medienberichterstattung  200 über die Anerkennung des Algerienkriegs 1999  7.5 Eine „préfiguration du nazisme“? – Der Genozid an den OvaHerero  202 und Nama in der französischen Berichterstattung   207 7.6 Fazit: Praktiken verkennender Anerkennung  8 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“ – Postkoloniale Reparationsklagen und die ‚emotionale Einzigartigkeit‘  210 des Holocaust-Gedenkens  8.1 Das „postkoloniale Dilemma“ in der Aufarbeitung von „Verbrechen  213 gegen die Menschlichkeit“  8.2 „ [P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ –  221 Das Klagevorhaben der Harkis  8.3 Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern – Das Klagevorhaben  232 der OvaHerero  8.4 „La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ – Verantwortungsübernahme der französischen Regierung für den  242 abandon der Harkis  8.5 ‚Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik: Das Einschreiben deutscher Kolonialvergangenheit in die Erinnerung an  254 den Holocaust  8.6 Fazit: Das „postkoloniale Dilemma“ bei der Verhandlung kolonialer  263 Vergangenheiten  9 Die vergessenen Schädel? Die Repatriierungen menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten zwischen affektiver Er- und Entinnerung der  267 kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘  9.1 Internationale Vereinbarungen und nationale gesetzliche Vorgaben  271 für Repatriierungen   274 9.2 Die Praktiken des Vergessens als affektive Entinnerung  9.3 „Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen  278 Rebellenschädel‘ als Ausdruck postkolonialer Entinnerung 

X 

 Inhalt

9.4 „Die vergessene Schuld“? Die Repatriierungen menschlicher  295 Gebeine der OvaHerero und Nama  9.5 Fazit: Zwischen Erinnern und Vergessen – Ausblicke auf den Umgang mit menschlichen Gebeinen in europäischen  314 Sammlungen  10 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse? Die Auseinandersetzung mit Restitutionen von kolonialem  318 Sammlungsgut  10.1 Transnationale Emotionen? Deutsch-französische Verstrickungen in  321 der „Restitutionsdebatte“  10.2 „Macron handelt, Deutschland redet“: Der Restitutionsbericht von  327 2018 als transnationales Diskursereignis  10.3 Zusammenführende Diskussion: Kulturpolitik als  355 Entpolitisierung?  10.4 Eine „koloniale Amnesie“? Die „Restitutionsdebatte“ im Lichte der  359 Rückgabeforderungen aus Algerien und Namibia      Fazit: Eine „Rückkehr des Verdrängten“? 10.5 378 11 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?  381 Über die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen   381 Entschuldigungen als „missglückende Rituale“?  11.1 11.2 „C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens zwischen  387 Anerkennung und Verkennung   11.3 Entschuldigung ohne Entschädigung? Das erinnerungspolitische Ringen um die Bedingungen der Anerkennung des  416 Völkermords  11.4 „Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen“ – Eine Transnationalisierung der Aufarbeitung des  434 Kolonialismus?    440 Fazit: Die Grenzen der Entschuldigungspolitik  11.5  444 12 Schlussbetrachtungen   445 12.1 Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen?      Grenzen der Arbeit und Forschungsperspektiven 12.2 459 Literaturverzeichnis 

 463

Sach- und Personenregister 

 509

Danksagung Mein Dank gilt zuallererst meinem Betreuer Prof. Dr. Andreas Langenohl für die vielen inhaltlichen Impulse, die mein Denken stetig weitergebracht haben, aber auch für die Hilfestellung in den Momenten, in denen ich nicht weiterwusste. Danken möchte ich ihm aber auch für seine Ermutigung, mein Projekt interdisziplinär weiterzuentwickeln und mich in der Durchführung eines binationalen Promotionsverfahrens zu unterstützen. Daran schließt sich der Dank gegenüber meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Corine Defrance an, die mich nicht nur in die universitären Strukturen in Paris und den deutsch-französischen Wissenschaftskontext eingeführt, sondern es mir auch ermöglicht hat, die Geschichts- und Sozialwissenschaft zusammenzuführen. Die vielen persönlichen sowie inhaltlichen Gespräche haben nicht nur neue Perspektiven auf mein Thema eröffnet, sondern darüber hinaus die gesamte Phase meiner Promotion bereichert. Weiterhin bin ich dem International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) für die institutionelle Anbindung und die finanzielle Unterstützung dankbar, die es mir ermöglichte, meine Archivaufenthalte und Konferenzpräsentationen umzusetzen. Darüber hinaus habe ich den akademischen Austausch sehr geschätzt, den ich im Rahmen der Aktivitäten in der Research Area „Cultural Memory Studies“ pflegen konnte. Ebenso danken möchte ich Prof. Dr. Astrid Erll und der Frankfurt Memory Studies Plattform (FMSP), deren Vorträge wichtige Impulse geliefert und mich wiederholt daran erinnert haben, warum ich mich für das Feld der Erinnerungskulturenforschung entschieden habe. Für die Unterstützung während meines Forschungsaufenthalts in Paris möchte ich dem Deutschen Historischen Institut in Paris (DHIP) danken und vor allem dem Abteilungsleiter Neuere und Neueste Geschichte, Dr. Jürgen Finger, für die Begleitung meines Projekts und die vielen praktischen Hinweise sowie Dr. Zoé Kergomard für den kollegialen Austausch und die Diskussionen im Kolloquium. Ein binationales Cotutelle-Verfahren bedeutet jedoch nicht nur einen erhöhten administrativen, sondern auch finanziellen Aufwand, weswegen ich der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) dankbar für die finanzielle Unterstützung bin. Für den fachlichen Austausch möchte ich mich insbesondere bei Prof. Dr. Michael Rothberg, Prof. Dr. Jeffrey Olick und Prof. Dr. Christoph Kalter bedanken – ohne deren inhaltliches Feedback mein erster Artikel wohl nicht zu realisieren gewesen wäre. Für die Ermutigung, über Klassismus zu sprechen und somit Worte zu finden, um mein Empfinden strukturell zu verorten und beschreiben zu können, möchte ich insbesondere Dr. Jutta Hergenhan danken. Dr. Christophe Majastre danke ich dafür, dass er mich ein klein wenig in Paris ankommen ließ und mir die Anwendung der französischen Zeitformen wieder ins Gedächtnis rief. Für den wissenschaftlichen https://doi.org/10.1515/9783111018683-202

XII 

 Danksagung

Austausch während dieser vier Jahre möchte ich besonders Riley Linebaugh, Constanze Knitter, Hannah Klaubert und Kaya de Wolff danken. Ihr habt zugehört, wenn ich frustriert oder begeistert war, ihr habt Korrektur gelesen, über Übersetzungen sinniert oder einfach gemeinsame Schreibzeit bzw. das wiederkehrende Leid im Promotionsprozess mit mir geteilt. Für dies alles bin ich euch unendlich dankbar. Danken möchte ich außerdem Maria Ketzmerick, ohne die ich dieses Promotionsprojekt niemals begonnen hätte. Sie ist Vorbild, Mentorin, Unterstützerin, vor allem aber Freundin, mit der ich zahlreiche Dilemmata zwar nicht lösen, aber zumindest strukturiert auf den Punkt bringen konnte. 2021 war erinnerungspolitisch ein aufregendes Jahr, in dem im Monatstakt neue Ereignisse aus Frankreich und Deutschland bekannt wurden. Maria Löffler und Stefan Otten möchte ich daher für ihre anhaltende Begeisterung danken, wenn ich mal wieder ganze Nachrichtensendungen zur deutschen Kolonialgeschichte detailreich nacherzählt habe. Kathrin Dommel und Leonie Roth – meinen längsten Begleiterinnen – möchte ich für ihre Freundschaft danken und für den Glauben daran, dass ich dieses Projekt bewältigen kann. Dass ich mit der Arbeit an einem Promotionsprojekt beginnen würde, lag mit meinem Studienbeginn nicht auf der Hand. Meiner Mutter danke ich daher für ihre bedingungslose Unterstützung und dafür, dass sie mir den Weg zwar nicht zeigen konnte, aber das Vertrauen hatte, dass ich ihn schon finden würde. Und schließlich, lieber Micha, ohne deinen Zuspruch, deine Ermutigung und aufbauenden Worte, aber auch ohne deine Geduld hätte ich nicht die Energie aufbringen können, diese Arbeit zu Ende zu bringen.

Abkürzungsverzeichnis ACHAC AfD AJIR ANM ANOM AOG BMZ BnF CDU CNLH CSNC DIP DRAC DZK FAZ FDP FLN FN FNACA FR ICOM JORF LREM MDR MNHN MRAP ND NCMM NTLA NGO Nudo OAS OGC OTA PCA PCF PSF SPD SPK SWAPO SZ taz UNESCO UNO ZDF

l’Association pour la connaissance de l’histoire de l’Afrique contemporaine Alternative für Deutschland Association justice information réparation pour les Harkis Au nom de la mémoire Archives Nationales d’outre-mer Association of the Ovaherero/Ovambanderu Genocide in the USA Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bibliothèque Nationale de France Christlich-Demokratische Union Comité National de liaison des Harkis Commission scientifique Nationale de collections Dokumentations- und Informationszentrum für Parlamentsmaterialien Directions régionales des affaires culturelles Deutsches Zentrum Kulturgutverluste Frankfurter Allgemeine Zeitung Freiheitlich Demokratische Partei Front de la libération Nationale Front National Fédération Nationale des anciens combattants en Algérie, Maroc et Tunisie Frankfurter Rundschau International Council of Museums Journal officiel de la République La République en Marche Mitteldeutscher Rundfunk Muséum d’histoire naturelle (Muséum) Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples Neues Deutschland National Commission for Museums and Monuments Nama Traditional Leader Association Non-Governmental Organization National Unity Democratic Organisation of Namibia Organisation des armées secrètes Ovaherero Genocide Committee Ovaherero Traditional Authority Parti communiste algérien Parti communiste français Parti socialiste français Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stiftung Preußischer Kulturbesitz South West Africa People’s Organisation Süddeutsche Zeitung die tageszeitung United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization Zweites Deutsches Fernsehen

https://doi.org/10.1515/9783111018683-203

1 E  inleitung: Verstrickte Emotionen? Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich [W]as er [der christliche Bourgeois, Anm. S.  R.] Hitler nicht verzeiht, [ist] nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen […], nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren. (Césaire 2021 [1955], 14, kursiv im Original)

Angesichts der gegenwärtigen erinnerungspolitischen Entwicklungen gewinnt dieses Zitat des antikolonialen Theoretikers Aimé Césaire, das seinem 1950 entstandenen Discours sur le colonialisme entstammt, eine ungeahnte Aktualität. Unter dem Begriff „Historikerstreit 2.0“ (Moltke 2021) ist im Jahr 2021 eine erneute Kontroverse um die Vergleichbarkeit des Holocaust mit anderen historischen Verbrechen entbrannt. Der erste „Historikerstreit“ Ende der 1980er Jahre, in dem die Vergleichbarkeit des Holocaust mit den in der Sowjetunion begangenen Verbrechen diskutiert wurde, mündete im gesellschaftlichen Konsens, den Holocaust als singuläres Verbrechen in der deutschen Geschichte anzuerkennen. In seiner Neuauflage 2021 wird hingegen eine „Erweiterung“ der deutschen Erinnerungskultur um die koloniale Vergangenheit und die Frage diskutiert, inwiefern das Gedenken anderer1 historischer Verbrechen den Konsens über die Singularität des Holocaust gefährde. Ein Höhepunkt in den Auseinandersetzungen wurde erreicht, als der australische Historiker Dirk Moses im Online-Magazin Geschichte der Gegenwart den Artikel „The German Catechism“ (2021) veröffentlichte. Darin erklärte er das deutsche Gedenken an den Holocaust zu einer staatsreligiösen Repressionsstrategie, mit der das Erinnern anderer historischer Verbrechen unterbunden werden solle. Aus Angst vor einer Trivialisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung sei demnach keinerlei Vergleich zu ‚anderen‘ Geno-

1  Edward Said (2014 [1978]) hat mit Othering einen Begriff vorgeschlagen, der es möglich macht, die diskursive Herstellung von Andersartigkeit der Kolonisierten im Gegensatz zu europäischen Werten und Idealen nachvollziehen zu können. Die Prozesse der Veranderung werden, so Said, durch die Herstellung von „structures of feeling“ stabilisiert (Said 1994, 14). Wenn ich in dieser Arbeit von den ‚Anderen‘ spreche, bilde ich die Herstellung von Differenz als einen diskursiven Prozess ab, bei dem die Repräsentationen ‚anderer‘ Vergangenheiten in einem Zusammenhang steht mit der Hervorbringung und Verstetigung emotionaler Diskurse (Kap. 4). https://doi.org/10.1515/9783111018683-001

2 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

ziden zulässig. Moses argumentiert, dass die verpflichtende Erinnerung an den Holocaust dazu missbraucht werde, andere historische Verbrechen auszublenden und als Folge eine „Hierarchie des Leidens“ zu entwerfen. Die Differenzierung zwischen ‚weißen‘ und ‚Schwarzen‘2 Menschen ist auch der Kern von Césaires Text (2021 [1955]), den er kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfasste. Für ihn konnte die weiter geführte koloniale Ausbeutung in den französischen Kolonien nur gerechtfertigt werden, weil koloniale und europäische Gewalt als voneinander losgelöst betrachtet wurden und ihre gegenseitige Bedingtheit nicht erfasst wurde. Obwohl Césaire in aller Deutlichkeit Bezug auf Hitler und den Nationalsozialismus nahm, ist sein damaliger Adressat jedoch nicht die deutsche, sondern die französische Gesellschaft. Césaire macht somit einen Zusammenhang sichtbar, der aufgrund nationalstaatlicher Fokussierungen weitestgehend verloren geht: die Bedeutung transnationaler Verwobenheit in der Konstitution der postkolonialen Gegenwart (West-)Europas. Der länderübergreifende Verweis auf Deutschland sowie das In-BeziehungSetzen von kolonialer und europäischer Gewalt machen Césaires Schrift zu einem frühen Beispiel multidirektionalen Erinnerns, wie der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in seinem wegweisenden Buch Multidirectional Memory (2009) dargelegt hat. Mit Multidirektionalität beschreibt Rothberg die „interaction of different historical memories [which] illustrates the productive, intercultural dynamic“ (2009, 3). Das Herstellen von Querverweisen und die Vergleiche unterschiedlicher Vergangenheiten sind somit Ausdruck erinnerungskultureller Praktiken, die die Inhalte kollektiven Erinnerns verändern können. Als Untersuchungsgegenstand hatte Rothberg die medialen und literarischen Verhandlungen des Algerienkriegs in Frankreich in den später 1950er und 1960er Jahren gewählt, um an den wiederkehrenden Verweisen zum Nationalsozialismus und zum Holocaust aufzuzeigen, wie das sogenannte ‚Holocaust-Gedächtnis‘ hervorgebracht und verstetigt wird. Das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Rothbergs Buch im Jahr 2021 illustriert dabei eindrücklich die Verstrickungen postkolonialen Erinnerns in Deutschland und Frankreich. Denn trotz seines Schwerpunkts auf den französischen Kontext beförderte seine Arbeit die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Bedeutung des Holocaust-Gedenkens im Verhältnis zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus. Die Debatten der letzten Jahre unterstreichen, was der Historiker Charles

2  Die Bezeichnungen ‚Schwarz‘ und ‚weiß‘ betrachte ich als diskursive Konstrukte, die dazu dienen, Herrschaftsverhältnisse zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Vor allem in den critical race studies wird der Begriff ‚Schwarz‘ in Großbuchstaben verwendet, um das Potenzial zu betonen, sich der Herrschaft zu widersetzen, indem man sie sichtbar macht (vgl. Wollrad 2005, 19–20).

Einleitung: Verstrickte Emotionen? 

 3

Maier (2000, 826) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts proklamierte, nämlich, dass die Auseinandersetzung mit den kolonialen Vergangenheiten an Bedeutung gewinnen würde. Dabei muss der Bedeutungsgewinn der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich seit den 1990er Jahren vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen betrachtet werden. Schließlich führten erinnerungspolitische Globalisierungstendenzen dazu, dass aus der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Holocaust internationale Standards abgleitet wurden, die die Auseinandersetzung mit ‚anderen‘ historischen Verbrechen zur ‚Pflicht‘ werden ließen. Aus diesem Grund werde ich in dieser Arbeit postkoloniale Erinnerungspolitiken nicht als bilaterales Verhältnis zwischen den ehemals in einem kolonialen Machtverhältnis miteinander stehenden Ländern untersuchen, wie es weithin gängige Forschungspraxis ist (vgl. Jansen 2016a, 265). Stattdessen geht es mir darum, in einem transnationalen Beziehungsgeflecht nachzuvollziehen, wie die Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands ihrer kolonialen Vergangenheiten gedenken und wie sich dabei das spezifisch ‚Eigene‘ unter Rückgriff auf das ‚Andere‘ konstituiert (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 618–619). Im multidirektionalen Bezugssystem, in dem postkoloniale Gesellschaften den als einzigartig verstandenen Holocaust mit der Aufarbeitung des Kolonialismus in Beziehung setzen, treten Emotionen und Affekte als eine zentrale Strukturkategorie der erinnerungspolitischen Aushandlung hervor. Moses (2021) insistiert in seinem Text, in dem er das Holocaust-Gedenken als „deutschen Katechismus“ beschreibt, dass der Holocaust zum „moralischen Fundament“ der Bundesrepublik wurde, weswegen jeder Angriff gegen diesen gesellschaftlichen Konsens eine emotionale Reaktion nach sich ziehe (Moses 2021). Dass auf den Beitrag folgend ein „Historikerstreit 2.0“ ausgerufen wurde, scheint Moses’ Befund zu bestätigen. Ähnliche Wellen der Empörung bestimmten aber auch die französischen Debatten, als Macron noch als Präsidentschaftskandidat im Jahr 2017 den Kolonialismus als Menschheitsverbrechen bezeichnete. Der rechtskonservative sowie rechtsextreme Widerstand gegen diese Lesart der kolonialen Vergangenheit war so groß, dass Macron 2021 schließlich erklärte, dass es keine ‚Reue‘3 und folglich

3  Erläuterungen zur Zeichensetzung dieser Arbeit: Neben der Verwendung doppelter Anführungszeichen zur Kennzeichnung von direkten Zitaten verwende ich vor allem einfache Anführungszeichen, um unübliche Begriffe zu markieren oder deren diskursiven Konstruktionscharakter hervorzuheben (wie etwa ‚Nation‘). Kursivschreibung nutze ich zum einen, wenn ich französische und englische Ausdrücke in den jeweiligen Originalsprachen im Text belasse (z. B. mémoire oder repentance). Zum anderen setze ich Begriffe dann kursiv, wenn ich entweder bestimmte Aspekte hervorheben oder damit die Verwendung relevanter Konzepte unterstreichen möchte.

4 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

keine Entschuldigung für den Kolonialismus geben werde (vgl. Verdier 21.01.2021, La Croix, S. 7). Emotionen sind die wesentlichen Antriebskräfte, um erinnerungspolitisches Handeln einzufordern und zu begründen. Die Erinnerungsforschung, die die mit der Vergangenheit in Zusammenhang stehende Emotionalität zwar benennt, hat diese bisher kaum zum Gegenstand einer systematischen Analyse gemacht. Mein Forschungsinteresse richtet sich daher auf die Frage nach den Bedingungen, die das Erinnern vergangener Verbrechen zum „moralischen Fundament“ einer Gesellschaft machen (Moses 2021). Denn auch die Etablierung des offiziellen Holocaust-Gedenkens in Deutschland und die kritische Auseinandersetzung mit dem Vichy-Regime in Frankreich weisen eine Historizität auf und wurden erst in erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen zur moralischen Norm (vgl. Assmann 2014 [2006]; Conan und Rousso 1994). Folglich gehe ich von der These aus, dass kolonialen Vergangenheiten ein affektiver Platz im kollektiven Gedächtnis verschafft werden muss, damit ihnen gesellschaftliche Bedeutung in der Gegenwart zuerkannt und es zur ‚moralischen Pflicht‘ erklärt wird, diese anzuerkennen, aufzuarbeiten und zu erinnern. Um den emotionalen Verstrickungen in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich nachzugehen, verfolge ich eine transnationale Perspektive (vgl. De Cesari und Rigney 2014). Transnationalisierung verstehe ich dabei in Anlehnung an das Konzept der histoire croisée (Werner und Zimmermann 2002, 2006) als einen Prozess der Verflechtungen und der gegenseitigen, d. h. multidirektionalen Bezugnahmen in erinnerungspolitischen Debatten. Angesichts der weitreichenden Auswirkungen des Kolonialismus auf die postkolonialen europäischen Gesellschaften ist dies eine notwendige Perspektive (vgl. Assmann und Conrad 2010; Conrad und Randeria 2002; Cooper und Stoler 1997; Kalter und Rempe 2011; Stoler 2002). Mit dieser Arbeit verfolge ich vier zentrale Anliegen: Erstens integriere ich Emotionen systematisch in die Erforschung von Erinnerungspolitiken, um deren Funktion in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen herauszuarbeiten. Dafür werde ich zweitens ein Methodenrepertoire vorschlagen, um die Prozesse der diskursiven Affizierung kolonialer Vergangenheiten zu untersuchen. Drittens nehme ich mit einer transnationalen Erforschung postkolonialer Erinnerungspolitiken die Auswirkungen globaler Phänomene in den Blick und beobachte, wie sich diese auf das jeweilige nationalstaatliche Erinnerungshandeln auswirken. Viertens möchte ich mit der Integration postkolonialer Theorien Anregungen für eine Provinzialisierung (Chakrabarty 2010 [2000]) europäischer Erinnerungspolitiken liefern. Unter Provinzialisierung verstehe ich eine postkoloniale Perspektiverweiterung, mit der ich meine Untersuchungsgegenstände analysiere. Aus diesen Zielen habe ich folgende erkenntnisleitende Forschungsfragen abgeleitet:

Relevanzbegründung 

 5

– Welche Emotionen werden auf welche Weise in postkolonialen Erinnerungspolitiken diskursiv hergestellt? – Welchen Beitrag leisten Emotionen in den Prozessen der Anerkennung bzw. Verkennung kolonialer Vergangenheiten und des ‚Leids der Anderen‘4? – Inwiefern werden transnationale Bezüge in der Verhandlung kolonialer Vergangenheiten hergestellt und wie wirkt sich dies auf nationalstaatliche Geschichtsnarrative aus? Lässt sich eine Transnationalisierung erinnerungspolitischer Debatten und/oder Praktiken beschreiben? Die Beantwortung dieser Fragestellungen erfordert sowohl einen interdisziplinären als auch einen verschiedene Forschungsfelder umreißenden Zugang zum Forschungsthema. An der Schnittstelle zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften verortet, integriere ich in der Arbeit theoretische und methodologische Zugänge aus der Erinnerungskulturen- und Gedächtnisforschung, der soziologischen wie historischen Emotions- und Affektforschung, den postkolonialen Studien sowie einer poststrukturalistischen Diskursforschung.

1.1 Relevanzbegründung 1.1.1 Eine Transnationalisierung postkolonialer Erinnerungspolitiken? Knapp 20 Jahre, nachdem Maier (2000) den Bedeutungszuwachs kolonialer Vergangenheiten proklamierte, können auch in der französischen und deutschen Öffentlichkeit die zunehmenden Forderungen nach einer Aufarbeitung kolonialer Gewalt nicht mehr ignoriert werden. Die gesellschaftliche Relevanz, die den kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich zugewiesen wird, entfaltet sich im erinnerungspolitischen Spannungsverhältnis von Erinnern und Vergessen, Anerkennen und Verkennen. Erinnerungspolitik markiert somit ein Feld politischer Aushandlungen um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Erinnerungen verstehe ich, in Anlehnung an die gedächtnistheoretischen Arbeiten von Maurice Halbwachs (1985 [1925]), Aleida Assmann (2002, 2014 [2006]) und Astrid Erll (2004, 2011b, 2017), grundlegend als „sozial vermittelt“ und „gruppenbezogen“. In den letzten Jahrzehnten haben sich unterschiedliche

4  Ich benutze in dieser Arbeit ‚Leid‘ in einfachen Anführungszeichen, um auf den Konstruktionscharakter hinzuweisen, mit dem historischen Verbrechen unterschiedliche Wertigkeiten in der Gegenwart zugeschrieben werden. Vor allem koloniale Verbrechen müssen erst als ‚leidvoll‘ anerkannt werden, damit ihnen Erinnerungsrelevanz zugedacht wird (vgl. Robel 2013, 74).

6 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

Begriffskonzepte wie etwa „Geschichtspolitik“ (Wolfrum 1998), „Vergangenheitspolitik“ (Frei 2012 [1996]) oder auch „Erinnerungskultur“ (Erll 2017) herausgebildet, deren Prämisse ist, dass „[d]ie Praxis kulturellen Erinnerns“ (Erll 2004, 4) in Relation zur Gegenwart zu begreifen ist (vgl. Cornelißen 2003, 2005; Erll 2017, Uhl 2010). Inspiriert ist diese Arbeit vor allem von der mittlerweile etablierten Erinnerungskulturenforschung, die ihren Schwerpunkt auf die diachrone Betrachtung der vielfältigen „Gegenwarten des Erinnerns“ legt (Erll 2017, 7). Der Oberbegriff „Erinnerungskultur“ vereint dabei das gesamte Spektrum an kulturellen, politischen und sozialen Bezügen zur Vergangenheit, die in einer Gesellschaft hergestellt werden (vgl. Cornelißen 2005, 32; Erll 2017, 32). Auch in der französischen Wissenschaftstradition wurden in den letzten Jahren unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen, um den Bedeutungsgewinn der Vergangenheit in der Gegenwart zu beschreiben. Im Gegensatz zur deutschen Erinnerungskulturenforschung betont die französische Literatur jedoch die Instrumentalisierung der Vergangenheit für politische Zwecke in der Gegenwart, wie beispielsweise der Untertitel „Usages politiques du passé dans la France contemporaine“ des Sammelbandes von Claire Andrieu, Marie-Claire Lavabre und Danielle Tartakowsksy (2006) oder die viel rezipierte Arbeit Les abus de la mémoire von Tzvetan Todorov (2015 [1995]) nahelegen. Der Politikwissenschaftler Johann Michel (2010, 16) schlägt mit „politiques mémorielles“ einen Begriff vor, der sich am ehesten mit dem in dieser Arbeit verwendeten Begriff der „Erinnerungspolitik“ übersetzen ließe. Die „politiques mémorielles“ staatlicher Politiken definiert er als „l’ensemble des interventions des acteurs publics visant à produire et à imposer une mémoire publique officielle à la société à la faveur du monopole d’instruments d’action publique“. Ich verstehe Erinnerungspolitik gleichfalls als Herrschaftsmechanismus, bei dem es um die Verteilung von symbolischen, kulturellen und materiellen Ressourcen geht (vgl. Gensburger 2010, 13–15). Aus diesem Grund verwende ich den Begriff der „Erinnerungspolitik“, um gezielter die bestehenden Machtbeziehungen in den Blick zu nehmen, die das Verhältnis zwischen den offiziellen und somit institutionalisierten und den marginalisierten Vergangenheitsversionen bestimmen. Dass die koloniale Vergangenheit zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz in Deutschland und Frankreich gewonnen hat, bildet auch die wissenschaftliche Forschung mit Publikationen, wie Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte des deutschen Kolonialismus (Zimmerer 2013) oder dem Sammelband Postcolonial Realms of Memory: Sites and Symbols in Modern France ab (Achille et al. 2020). Dabei bleiben diese Arbeiten allerdings einer nationalstaatlichen Lesart verschrieben, die als Konsequenz eine Re-Zentrierung auf den jeweiligen europäischen Staat befördern. Die transnationale Perspektive, die ich in der Arbeit verfolge, versteht sich stattdessen als dynamisches Zusammenspiel zwischen regionalen, nationalen und globalen Erinnerungsphänomenen, bei der die Her-

Relevanzbegründung 

 7

stellung kollektiv geteilter Emotionen und Affekte ins Zentrum gestellt wird. Gleichzeitig soll dies allerdings nicht die Bedeutung des Nationalstaats in seiner sozialen Wirkmacht unterminieren (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 3). Entsprechend verfolge ich die Frage, inwiefern die kolonialen Vergangenheiten in eine ‚nationale‘ Geschichtsschreibung eingepflegt werden oder eine Transnationalisierung befördert wird, die sich beispielsweise in Forderungen nach einer europäischen Aufarbeitung des Kolonialismus niederschlagen. Eine Untersuchung, die die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten ins Zentrum stellt, erfordert zudem die Integration postkolonialer Theorieansätze.

1.1.2 Provinzialisierung europäischer Erinnerungspolitiken Postkolonialität beschreibt keinen tatsächlich nachkolonialen Zustand, der mit dem Ende des formalen Kolonialismus in den 1960er Jahren beginnt. Vielmehr zielt der Begriff auf die Beschreibung der Fortwirkung kolonialer Kontinuitäten in der Gegenwart (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015; Kerner 2017 [2012]; Ziai 2016). Anstatt postkoloniale Theorien als ausschließlich deskriptiv für die Beschreibung von Nord-Süd-Beziehungen anzuwenden, leite ich aus ihnen Analysekategorien ab, um postkoloniale Erinnerungspolitiken in Europa analysieren zu können. Mit dem Buch Europa als Provinz (2010 [2000], 4) hat der indische Historiker Dipesh Chakrabarty ein Grundlagenwerk veröffentlicht, in dem er hervorhebt, dass alle theoretischen Konzepte „das Gewicht der Geschichte und der Traditionen des europäischen Denkens tragen“. Indem den westlichen Theorien eine universalistische Geltung zugeschrieben wird, werden sie unkritisch zur Beschreibung stark divergierender historischer Phänomene herangezogen. Chakrabartys Kritik richtet sich dabei insbesondere gegen die Vorstellung der „ungleichen Entwicklung“, bei der davon ausgegangen wird, dass die Gesellschaften des Südens den Weg in die Moderne nicht (oder nur teilweise) eingeschlagen hätten (2010 [2000], 12). Rothberg (2013, 360–361) wiederum hat diese Kritik auf die Gedächtnisforschung übertragen und dargelegt, dass ihre Konzepte zu einem großen Teil dazu beigetragen haben, imperiale Vorstellungswelten aufrechtzuerhalten. Eine Provinzialisierung postkolonialer Erinnerungspolitiken im Anschluss an Chakrabarty hat demnach das Potenzial, die etablierten Annahmen der Disziplin in Frage zu stellen (vgl. Erll 2011). Um folglich die Reproduktion und Transformation von Kolonialität in europäischen Erinnerungspolitiken analysieren und postkolonial reflektieren zu können, entwickele ich in dieser Arbeit drei Analyseachsen. Erstens stelle ich die diskursive Rekonstruktion ‚sozialen Vergessens‘ in den Mittelpunkt, um die Erzeugung von Erinnerbarkeit marginalisierter Vergangenheiten vor dem Hintergrund der bestehenden Machtverhältnisse zu betrachten (vgl. Dimbath 2014). In einem

8 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

zweiten Schritt bringe ich Homi Bhabhas Konzept der Hybridität (2000 [1994]) mit Rothbergs (2009) multidirektionalem Bezugssystem zusammen, um daraus die in dieser Arbeit zur Anwendung kommende transnationale Vergleichsperspektive abzuleiten. Mit Hybridität schuf Bhabha ein Konzept, um zu beschreiben, wie die Integration der kulturellen Unterschiede der ‚Anderen‘ zu einer Transformation der herrschenden Diskurse beitragen kann (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 236). Während Bhabha sich auf die Prozesse der Hybridisierung in den ehemaligen Kolonien konzentrierte, passte Rothberg Bhabhas Begriff an den westlichen Kontext an. Rothberg (2013, 369) betont jedoch, dass es nicht ausreiche, ausschließlich die verleugneten Vergangenheiten ans Licht zu bringen. Vielmehr gehe es darum, die multidirektionalen Bezugnahmen in den Blick zu nehmen, die zu einer Transformation postkolonialer Erinnerungspolitiken beitragen (vgl. Rothberg 2009). In der dritten Analyseperspektive konzentriere ich mich auf die westliche Konzeptualisierung von Zeitlichkeit, die sich an Linearität und Fortschrittlichkeit orientiert und in der Folge normative Standards einer gelungenen Vergangenheitsaufarbeitung setzt (vgl. Bevernage 2008; Lorenz 2014; Mbembe 2016 [2000]). Die postkoloniale Kritik an den westlichen Diskursen über Fortschritt und Rationalität (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 87) zielt auf das Aufdecken bestehender Herrschaftsverhältnisse und die wiederholte Erzeugung von Differenz, die sich im scheinbar ‚neutralen‘ Wissen rationalisiert (vgl. Ziai 2006, 34). Diese Perspektive, mit der die Verortung von ‚Rationalität‘ im Westen und von ‚Emotionalität‘ im Globalen Süden offengelegt werden kann, ermöglicht es, die strukturierende Funktion von Emotionen und Affekten in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Machtungleichheiten herauszuarbeiten (vgl. Stoler 2009).

1.1.3 Die Affizierung kolonialer Vergangenheiten Um die Bedeutung postkolonialer Erinnerungen in der Gegenwart untersuchen zu können, verfolge ich die These, dass Emotionen eine strukturierende Funktion in erinnerungspolitischen Diskursen erfüllen. Demnach sind nur solche Vergangenheiten für Gesellschaften relevant, die auch eine emotionale Bedeutungszuschreibung – d. h. eine diskursiv vermittelte Affizierung – erfahren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Vergangenheiten ohne emotionale Zuschreibung nicht ‚erinnerbar‘ sind (vgl. Halbwachs 1972 [1947]). Im Anschluss an Ann Laura Stoler (2009, 71) gehe ich davon aus, dass Emotionen diskursiv hergestellt und als Ausdruck staatlicher Macht rationalisiert und nutzbar gemacht werden. In Stolers Arbeit ist dabei wesentlich, dass Staaten „affektives Wissen“ mit dem Ziel akkumulierten, Gefühlsregeln hervorzubringen, einzuhegen und kontrollieren zu können. Als Konsequenz erfüllt staatliches Regierungshandeln eine emo-

Relevanzbegründung 

 9

tionale Differenzierungs- und Hierarchisierungsfunktion, indem definiert wird, welche Gruppen als legitime Subjekte bestimmter Gefühlsausdrücke anerkannt werden. Herrschaftswissen bringt folglich legitimes emotionales Handeln hervor, wobei abweichende Praktiken ausgeschlossen und sanktioniert werden. Um zu verdeutlichen, dass der sprachliche Rekurs auf Emotionen nicht nur das Wissen darüber vermittelt, wie emotional (re-)agiert werden soll, haben Lila Abu-Lughod und Catherine Lutz (1990, 13) den Begriff emotionale Diskurse vorgeschlagen. Damit bringen die Anthropologinnen zum Ausdruck, dass die diskursive Konstitution von Emotionen sich vor allem als soziale Praktik manifestiere. Angewandt auf das Feld der Erinnerungspolitik bedeutet dies, dass emotionale Diskurse regulieren, was als (affektives) Wissen über die Vergangenheit anerkannt – und damit rationalisiert – wird. Emotionalität und Rationalität sind entsprechend nicht als Gegensätze aufzufassen, denn in ihrer jeweiligen diskursiven Konstituierung werden die Bedingungen geschaffen, „um zu spüren und zu fühlen, was genau rationales Handeln ausmacht“ (Koschut et al. 2017, 503, Übersetzung S. R.). Emotionale Diskurse strukturieren somit nicht nur das Denk- und Sagbare, sondern bestimmen auch, was fühlbar ist. Der Begriff der emotionalen Ordnungen bildet wiederum das Beziehungsgefüge zwischen verschiedenen emotionalen Diskursen und den sich daraus ableitenden Wissensordnungen ab. Indem ich Emotionen als soziale und politische Kategorie verstehe, soll die Dualität zwischen ‚Emotionalität‘ und ‚Rationalität‘ relativiert werden, wie sie sich oft in den Darstellungen „affektiver Erinnerungen“ im Gegensatz zu einer „rationalen Geschichtsschreibung“ niederschlagen (Nora 2011). Vor allem in der französischen Geschichtsschreibung wurde wiederholt das mobilisierende Potenzial von Emotionen hervorgehoben, welches die „konkurrierenden Erinnerungsmilieus“ für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchten (Prochasson 2008, 110–111).

1.1.4 Verstrickte Erinnerungspolitiken, Erinnerungspolitiken verstricken Um den (emotionalen) Verstrickungen postkolonialen Erinnerns nachzugehen, bedarf es eines länderübergreifenden Vergleichs. Wie schon zuvor ausgeführt, verstehe ich Transnationalität als einen Prozess der Verflechtungen und der gegenseitigen Bezugnahme in erinnerungspolitischen Debatten, ohne dass dabei der Nationalstaat als Bezugssystem an Bedeutung verliert (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 7). Die erinnerungspolitischen Verstrickungen in den Blick zu nehmen, bedeutet auch, die Frage zu beantworten, wie sich das spezifisch ‚Eigene‘ durch den Blick auf das ‚Andere‘ konstituiert (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 618–619). Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich ist besonders erkenntnisbringend, weil die Momente von Gleichzeitigkeit und

10 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

Ungleichzeitigkeit herausgearbeitet werden können. Auf der einen Seite machte sich die „Globalisierung der Erinnerungen“ seit den frühen 2000er Jahren sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bemerkbar (vgl. Deslaurier und Roger 2006, 6). Gemein ist dabei beiden Ländern, dass die Beschäftigung mit den kolonialen Vergangenheiten ab den 1990er Jahren einsetzte, wobei die wissenschaftliche Rezeption postkolonialer Theorien erst ab den 2000er Jahren Bedeutung erlangte (vgl. Göttsche 2019; Smouts 2007). Maßgeblichen Anstoß für die Aufarbeitung des Kolonialismus lieferte die Verbreitung eines universell zirkulierenden Erinnerungsvokabulars, das vor allem auf der Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust basierte und somit die „Konstituierung globaler Erinnerungsepisteme“ nach sich zog (Deslaurier und Roger 2006, 18). Die Soziologen Daniel Levy und Nathan Sznaider (2001, 222) haben in ihren Untersuchungen gezeigt, dass der Holocaust zur zentralen Vergleichskategorie in erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um die Anerkennung ‚anderer‘ Verbrechen geworden ist. Demnach müssen Referenzen zur Judenverfolgung hergestellt werden, um ‚andere‘ Leidensgeschichten sichtbar zu machen. Die Bezugnahme auf den Holocaust als ‚unvergleichlichem Genozid‘ (vgl. Aschheim 2016; Craps und Rothberg 2011; Miles 2010; Moses 2010, 2012) bestätigt letzten Endes seine Einzigartigkeit. Die Auseinandersetzung mit der eigenen (Mit-)Täterschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus räumte dem Holocaust in Deutschland bzw. der Shoah5 in Frankreich eine besondere Stellung ein. Die gewählte deutsch-französische Vergleichsperspektive leitet sich daraus ab, dass die Bezugnahme auf den Holocaust respektive die Shoah zu einer wichtigen erinnerungspolitischen Referenz für die Verhandlung des Kolonialismus wurde (vgl. Branche 2005; Cole 2003; House und MacMaster 2009; Rothberg 2009; Rousso 2016). Beispielsweise war es die juristische Aufarbeitung der unter dem Vichy-Regime begangenen Verbrechen in den 1990er Jahren, die eine Aufarbeitung des Algerienkriegs beförderten (vgl. Cole 2003; House und MacMaster 2009; Jelen 2002; Rothberg 2009). In Deutschland führten die kontroversen Debatten um die Kontinuität von „Windhuk nach

5  Ich verwende überwiegend den Begriff „Holocaust“, da er im deutschsprachigen Raum vorherrschend angewendet wird. Da ich mich an den analysierten Quellen orientiere, spreche ich in der Betrachtung der französischen Untersuchungsgegenstände jedoch von „Shoah“. Der Begriff „Holocaust“ hat sich in Deutschland nach der Ausstrahlung der gleichnamigen US-amerikanischen Serie im Jahr 1979 etabliert. In Frankreich hingegen wird der Begriff „Shoah“, der auf Hebräisch „Katastrophe“ bedeutet, meist in Anlehnung an den Film von Claude Lanzmann aus dem Jahr 1985 verwendet. Der Begriff „Shoah“ gilt dabei als die selbst gewählte Bezeichnung der jüdischen Opfer, mit der sie sich ihrer eigenen Geschichte bemächtigt haben. In Frankreich, das seine Mittäterschaft an der Ermordung der europäischen Jüd:innen erst 1995 offiziell anerkannte, hat die Wahl des Begriffs allerdings zu gesellschaftlichen Kontroversen geführt (vgl. Rousso 2016, 99).

Relevanzbegründung 

 11

Auschwitz“ (Zimmerer 2007) zu einer Beschäftigung mit dem an den OvaHerero6 und Nama begangenen Völkermord. Dabei begründen das wissenschaftliche sowie öffentliche Interesse an den genannten/jeweiligen kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich deren Auswahl als Gegenstand der vergleichenden Analyse. Der Vergleich der postkolonialen Erinnerungspolitiken hinsichtlich des Algerienkriegs und des Völkermords an den OvaHerero und Nama impliziert allerdings keine Gleichsetzung der Aufarbeitungsprozesse in beiden Ländern. Zum einen wurde Deutschland im Gegensatz zu Frankreich kaum durch postkoloniale Migrationsbewegungen geprägt (vgl. Jansen 2012, 291). Dass der deutsche Kolonialismus schon 1919 mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags endete, ließen Deutschlands Bestrebungen nach einem „Platz an der Sonne“ über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten (vgl. Kößler und Melber 2018a; Kreutzer 2007). Frankreichs Verwicklung in den Dekolonisierungskriegen der 1960er Jahre erforderte die Integration einer großen Anzahl an Repatriierten in die postkolonialen staatlichen Strukturen (vgl. Baussant 2006; Jansen 2012, Kalter und Rempe 2011). Seit den 1990er Jahren wurde die französische Regierung vor allem von den ehemaligen Soldaten sowie den Algerienfranzös:innen unter Druck gesetzt, endlich ihre Erfahrungen anzuerkennen und für die Zahlung von Kompensationen und Pensionen aufzukommen (vgl. Baussant 2006; Renken 2006). Während die deutsche Beschäftigung mit dem Kolonialismus lange Zeit keinerlei gesellschaftliche Relevanz hatte, zeichnete sich der französische Kontext durch einen widersprüchlichen Erinnerungsaktivismus aus, bei dem die Anerkennung stark voneinander abweichender Vergangenheitsversionen gefordert wurde (vgl. Borutta und Jansen 2016, 23; Jansen 2016a, 260). Diese unterschiedlichen erinnerungspolitischen Voraussetzungen, die die jeweilige Spezifik der Länder ausmachen, erklären sich anhand der historisch unterschiedlichen kolonialen Erfahrungen. Im Algerienkrieg zwischen 1954 und 1962 führte der Front de Libération National (FLN) einen Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht. Algerien wurde 1830 von Frankreich kolonialisiert und galt ab 1848 als Bestandteil des französischen Staatsgebiets (vgl. Bouchène und Peyroulou 2014; Stora 2001;

6  Entgegen der gängigen Nutzung des Begriffs „Herero“ in der deutschen Medienberichterstattung spreche ich in dieser Arbeit von „OvaHerero“, da dies die selbst gewählte Bezeichnung der in Namibia und anderen Ländern (wie Botswana, Südafrika und den USA) lebenden Nachfahren der Genozidopfer ist (vgl. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ 2021). Die Vorsilbe „Ova“ bedeutet in Bantu „Mensch“, weswegen der Begriff zumeist im Plural verwendet wird. Von „Herero“ spreche ich, wenn ich damit einzelne Vertreter:innen der OvaHerero meine (vgl. Niezen 2018).

12 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

Thénault 2012 [2005]). Der Krieg markierte das Ende des französischen Kolonialreichs (vgl. Shepard 2006), dessen Auflösung im Jahr 1946 mit dem Beginn des Indochinakriegs begonnen hatte (vgl. Blanchard et al. 2021, 61). Der Algerienkrieg beschrieb vor allem deswegen einen einschneidenden historischen Moment, weil er zur Auflösung der Vierten Republik führte und Charles de Gaulle wieder an die Macht brachte. Insbesondere die Terroranschläge der rechtsextremen Organisation des armées secrètes (OAS), die die Algérie française mit allen Mitteln zu verteidigen suchte, brachten die koloniale Gewalt in die Metropole (vgl. Renken 2005, 45–46). Da der Algerienkrieg zu den letzten militärischen Konflikten zählte, in dem Wehrpflichtige rekrutiert wurden, war zudem ein Großteil der französischen Familien direkt oder indirekt von den Kriegsgeschehnissen betroffen (vgl. Hüser 2005, 95). Gleichzeitig löste die Unterzeichnung der Évian-Verträge im März 1962 eine Migrationswelle nach Frankreich aus, in der sowohl ‚weiße‘ Europäer:innen, die pieds-noirs (vgl. Baussant 2006; Borutta und Jansen 2016), als auch die ehemaligen algerischen Hilfssoldaten der französischen Armee, die Harkis7 (vgl. Eldridge 2016), nach Frankreich flohen. Bis zum Ende des Kriegs im Juli 1962 kam es zu landesweiten Massakern an den Harkis (vgl. Ageron 2000). Diese und andere Kriegsverbrechen konnten aufgrund der zwischen Algerien und Frankreich ab 1962 verabschiedeten Amnestiegesetze bis heute nicht juristisch aufgearbeitet werden (vgl. Eldridge 2016, 270–271). Deutschland hingegen hatte den Herrschaftsanspruch über die euphemistisch als „Schutzgebiete“ deklarierten Territorien bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs eingebüßt. Auch wenn deutsche Unternehmen schon frühzeitig mit der Etablierung von Handelsstützpunkten der deutschen Kolonialisierung ab dem 19. Jahrhundert Vorschub leisteten, so wurden die meisten Gebiete erst mit der Berliner Konferenz von 1884 als formale Kolonialgebiete des Deutschen Reichs aufgefasst (vgl. Conrad 2008, 23). Da „Deutsch-Südwestafrika“ als Siedlungskolonie galt, zeichnete sich die deutsche Kolonialpolitik insbesondere durch Landraub an den lokalen Gemeinschaften aus. Als die Lebensbedingungen für die OvaHerero und die Nama zunehmend schwieriger wurden, setzte deren militärischer Widerstand gegen die deutsche Fremdherrschaft ein (vgl. Zim-

7  Der Name „Harki“ leitet sich vom arabischen Begriff „harka“ ab, der die Organisationseinheiten der ‚muslimischen‘ Truppen beschreibt, die auf der Seite Frankreichs im Algerienkrieg kämpften. Erinnerungspolitisch wird der Begriff in Frankreich zur Beschreibung dieser Hilfssoldaten und ihrer Nachfahren in Abgrenzung von den als ‚europäisch‘ verstandenen Algerienfranzosen, den pieds-noirs, verwendet. Zuerst als militärische Funktionsbeschreibung verwendet, wandelt sich der Begriff vor allem mit der Flucht nach Frankreich zu einer identitären Kategorie, die sowohl die Witwen der ehemaligen Soldaten als auch die nachfolgenden Generationen für sich beanspruchen (vgl. Crapanzano 2008, 125–126).

Relevanzbegründung 

 13

merer 2011 [2004a], 32–33). Im Jahr 1904 brach ein Kolonialkrieg aus, der in den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts mündete. Nach der „Schlacht am Waterberg“, in der die OvaHerero im August 1904 geschlagen wurden, gab der befehlshabende General Lothar von Trotha (1848–1920) den „Schießbefehl“ bekannt (vgl. Zimmerer 2011 [2004b], 45), mit dem er die deutsche Kolonialarmee anwies, die Überlebenden in die Wüste zu treiben und sie dort verdursten zu lassen (vgl. Zimmerer 2011 [2004], 50). Gleichzeitig ermächtigte er die Soldaten, auch auf Frauen und Kinder zu schießen, sollten diese zurückkehren wollen (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 45). Da internationale Proteste befürchtet wurden, wurde der Befehl nach einigen Woche aufgehoben und von Trotha später abberufen. Um die OvaHerero weiterhin kontrollieren zu können, wurden stattdessen Konzentrations- und Arbeitslager im Land errichtet, in denen bis 1908 die OvaHerero und Nama interniert waren (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 50–55). Auch wenn sich keine abschließenden Zahlen bestimmen lassen, gehen Schätzungen davon aus, dass der Völkermord den Tod von ca. 60 000 OvaHerero und ca. 10 000 Nama forderte (vgl. Häussler 2018; Robel 2013; Schaller 2004). Trotz dieser unterschiedlichen historischen Erfahrungen zeichnen sich beide Länder durch ihre erinnerungspolitischen Ähnlichkeiten aus. Nicht nur mit Verweis auf den Holocaust wird die Aufarbeitung historischer Verbrechen angemahnt, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Weiterhin zeichnen sich beide Kontexte durch ähnliche Topoi und sprachliche Register aus, mit denen die Aufarbeitung der Vergangenheit beschrieben wird. Dazu gehört beispielsweise der wiederkehrende Verweis auf ein kollektives Vergessen der kolonialen Vergangenheit (vgl. Blanchard et al. 2020, 225–231; Habermas 2019; Kößler und Melber 2018a). Zentral sind aber insbesondere die von unterschiedlichen Gruppen artikulierten Forderungen nach Reparationen, Rückgaben kultureller Objekte sowie von Kunstwerken und menschlichen Gebeinen, aber auch nach der Formulierung einer offiziellen Entschuldigung. Die Tatsache, dass sich die deutsche und die französische Gesellschaft zunehmend ihrer kolonialen Vergangenheit zuwenden, kann folglich nur mittels einer transnationalen Perspektiveinnahme erklärt werden. In der vergleichenden Analyse untersuche ich, wie die globalisierte Erinnerungsrhetorik zwischen den jeweiligen nationalstaatlichen Kontexten zirkuliert und an diese angepasst wird. Folglich geht es nicht um einen Vergleich der historischen Ereignisse, sondern um eine Analyse der Verwendung von Vergangenheitsbezügen, ihrer emotionalen Implikationen und darum, wie der Vergangenheit somit Bedeutung in der Gegenwart verliehen wird.

14 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

1.2 Methode 1.2.1 D  ie transnationale Vergleichsperspektive und die diskursanalytische Methodik Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich ist deswegen erkenntnisbringend, weil sich in der kontrastierenden Betrachtung ausgewählter erinnerungspolitischer Ereignisse neue Perspektiven auf die postkoloniale Wissensproduktion in beiden Ländern eröffnen. Zur Identifizierung der Untersuchungsgegenstände habe ich mich auf die Zeiträume konzentriert, in denen die koloniale Vergangenheit in der politischen und öffentlichen Sphäre zunehmend Sichtbarkeit erlangte. In Frankreich bedeutet dies, sich mit den erinnerungspolitischen Entwicklungen ab Mitte der 1990er Jahre zu beschäftigen, wobei insbesondere ab 1999 die Aufarbeitung des Algerienkriegs mit der offiziellen Anerkennung durch die französische Assemblée Nationale (Nationalversammlung) in den Fokus gerät (vgl. Renken 2006, 16–17). In Deutschland gewinnt die Debatte erstmals an Bedeutung, als Vertreter:innen der OvaHerero im Jahr 2001 eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland und drei deutsche Unternehmen in den USA einreichen (vgl. de Wolff 2017; Sarkin 2004). Solch ein problemzentriertes Forschungsdesign setzt die Sichtung eines umfassenden Bestands an Primär- und Sekundärquellen voraus (vgl. Diaz-Bone 2006, 78), um die Untersuchungsgegenstände einzugrenzen und das Materialkorpus festzulegen. Die Identifizierung der Forschungsobjekte erfolgte als „zirkuläre Rekonstruktion“ (Diaz-Bone 2006, 79) auf der Grundlage des erarbeiteten Forschungsstandes und einer ersten Sichtung von Primärquellen. Dabei konnte ich die folgenden fünf Forschungsobjekte identifizieren, um sie auf transnational vergleichende Weise miteinander in Beziehung zu setzen: (1)  Die (innen-)politische Verhandlung der offiziellen Anerkennung des Algerienkriegs in Frankreich (1999) und des Völkermords an den OvaHerero und Nama in Deutschland (2015/2016), (2) postkoloniale Klagevorhaben und die Forderungen nach Reparationen für koloniale Verbrechen (3) die Repatriierung menschlicher Gebeine kolonialer Provenienz nach Algerien und Namibia, (4) die Verhandlungen über die von Namibia und Algerien geforderten Restitutionen musealer Sammlungsbestände und schließlich (5)  Entschuldigungen als (un-) mögliche Mechanismen historischer Aufarbeitung. Angenommen wird hierbei eine synchrone Vergleichbarkeit, die jedoch nicht von einer temporalen Gleichzeitigkeit ausgeht, sondern von der Ähnlichkeit der erinnerungspolitischen Ereignisse (z. B. der Anerkennungsdebatten, die auf politischer Ebene geführt werden). Auf der anderen Seite ist es für einen diskursanalytischen Vergleich unerlässlich, einen historisierenden, d. h. diachronen Blick auf den Untersuchungsgegenstand

Methode 

 15

zu werfen, da nur auf diese Weise Diskurse verstanden werden können (vgl. Angermüller et al. 2014; Diaz-Bone 2006; Landwehr 2009). Das in dieser Arbeit angewandte Diskursverständnis stützt sich grundlegend auf Michel Foucaults Archäologie des Wissens (2015 [1969], 74). Darin versteht er Diskurse als eine „Menge von Aussagen“, die durch Wiederholung zu Wahrheiten gerinnen, die die Regeln für das Denk- und Sagbare – und, wie Stoler (2009) betont hat, das Fühlbare – strukturieren. Somit stellen Diskurse die Gesamtheit des Wissens dar, das die „langfristigen Voraussetzungen aktuellen politischen Handelns“ in der Gegenwart schafft (vgl. Kerchner und Schneider 2006, 10). Die Diskursanalyse deckt folglich nicht nur die bestehenden Diskurslogiken auf, sondern auch Abweichungen, Brüche und Auslassungen. Der diskursanalytische Ansatz in dieser Arbeit vollzieht sich sowohl rekonstruktiv als auch dekonstruktiv (vgl. Diaz-Bone 2006, 78). Konkret bedeutet dies, dass der rekonstruktive Ansatz versucht, die dem Material eigenen Diskursregeln offenzulegen, um die emotionalen Diskurse und ihren strukturierenden und strukturierten Charakter herausarbeiten zu können (vgl. Bourdieu 2003 [1997], 208). Der dekonstruktive Ansatz zielt darauf ab, die Mechanismen der Wissensproduktion aufzudecken, mit deren Hilfe ‚historische Wahrheiten‘ produziert werden und zu Selbstverständlichkeiten gerinnen (vgl. Kerchner und Scheider 2006, 79). Die Diskursanalyse ist aufgrund ihres dekonstruktiven Charakters gleichzeitig als Intervention in das Forschungsfeld zu verstehen. Als „epistemische Haltung“ (Wedl und Wrana 2014, 479) wiederum setzt ein diskursanalytisches Vorgehen ein hohes Maß an Reflexivität voraus. Auch die Historiker:innen Michael Werner und Bénédicte Zimmermann (2003) machen einen reflexiven Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand zur Grundlage des von ihnen entwickelten Ansatzes der histoire croisée, an dem ich mich in dieser Arbeit für die Konzeption eines transnational-verflechtenden Vergleichs orientiere. Reflexivität bedeutet demnach, dass „die Involviertheit [der forschenden Person, Anm. S.  R.] in den untersuchten Prozess“ berücksichtigt werden muss (Werner und Zimmermann 2003, 36). Das heißt, dass die jeweilige Perspektive Beachtung finden muss, aus der die Wissenschaftler:innen auf die Forschungsobjekte zugreifen. Dieser Befund erscheint mir umso wichtiger, da die Analyse emotionaler Diskurse gleichzeitig die Sichtweisen auf die Untersuchungsgegenstände strukturiert. Am Beispiel des Holocaust-Gedenkens in Deutschland lässt sich dies besonders gut illustrieren: Wenn Moses (2021) recht damit hat, dass der Holocaust das „moralische Fundament“ der Bundesrepublik ist, dann ist dieser auch emotional einzigartig. Als in Deutschland sozialisierte Wissenschaftlerin verlangt die Erforschung postkolonialer Erinnerungspolitiken eine Reflexion über meine Verankerung in der deutschen Gesellschaft und darüber, wie die ‚emotionale Singularität‘ des Holocaust-Gedenkens eine Hierar-

16 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

chisierung des Wissens und der ‚Gefühle‘ in Bezug auf die kolonialen Vergangenheiten bewirkt. Die evozierte Emotionalität in manchen der von mir ausgewerteten Texte lösten emotionale Bewertungen sowohl in Reaktion auf die deutsche als auch auf die französische Berichterstattung aus. Wissenschaftlichen Abstand gewann ich mithilfe des diskursanalytischen Untersuchungsverfahrens, reflektierender Forschungsberichte, aber auch im direkten Gespräch mit Kolleg:innen. Eine umso größere Herausforderung barg dieses kritische Distanznehmen vor allem deswegen, weil ich während des Schreibprozesses auch immer wieder auf die aktuellen Entwicklungen reagieren musste. Der reflexive Ansatz ist deswegen wichtig, um meine Positionierung im Forschungsprozess sichtbar zu machen und mittels rekursiver Forschungsmethoden einen selbstreflexiven Umgang mit meinem Beitrag zur Wissensproduktion zu finden.

1.2.2 Zusammensetzung des Materialkorpus In der Arbeit gehe ich von der Feststellung aus, dass die Vergangenheiten nur durch mediale Repräsentationen in der Gegenwart vermittelt werden können (vgl. Erll 2004, 2017, 135–137; Kansteiner 2002). Medien wiederum bieten „nicht nur ein öffentliches Forum für die Auseinandersetzungen verschiedener sozialer Akteur:innen“. Vielmehr entstehen in den Medien „selbst Deutungen der kolonialen Vergangenheit“ (de Wolff 2021, 13). Vor allem die Presse bestimmt, welche Informationen über die Vergangenheit vermittelt werden und welche Meinungen dabei als legitim gelten (vgl. de Wolff 2021, 140–141). Daher reicht es nicht, ausschließlich staatliche Erinnerungspolitiken zu analysieren, um die Transformationen postkolonialen Erinnerns zu verstehen. Medien spielen zum einen eine entscheidende Rolle bei der Wissensproduktion, zum anderen spiegeln sie die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Versionen der Vergangenheit wieder (vgl. Erll 2004, 2017; Kansteiner 2002, 180). Um den diskursiven Wandel der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit Deutschlands und Frankreichs kolonialen Vergangenheiten nachvollziehen zu können, stütze ich mich maßgeblich auf die Analyse von Zeitungsartikeln aus der überregionalen Tagespresse. Drei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Erstens soll sichergestellt werden, dass postkoloniale Erinnerungsereignisse aufgrund der täglichen Berichterstattung abgebildet werden können – was beispielsweise bei einer Wochenzeitung nicht der Fall sein muss. Zweitens soll ein politisches Meinungsspektrum von rechtskonservativ (z. B. Le Figaro in Frankreich und Die WELT in Deutschland) bis linksliberal oder sogar radikal (z.  B. L’Humanité in Frankreich und taz und Neues Deutschland in Deutschland) repräsentiert werden. Und drittens

Methode 

 17

sollen die ausgewählten Zeitungen eine möglichst große Verbreitung haben. Le Monde, Le Figaro und Aujourd’hui en France (Le Parisien) waren 2020 die drei auflagenstärksten Zeitungen (vgl. Statista 2021b); in Deutschland sind die auflagenstärksten Zeitungen die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die BILD-Zeitung (vgl. Statista 2021a), wobei ich Letztere nicht in das Korpus integriert habe, da sie nicht den gängigen Qualitätsansprüchen genügt und dies eine Vergleichbarkeit der Artikel erschwert hätte. Für den deutschen Untersuchungskontext besteht das Korpus aus den Zeitungen taz, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neues Deutschland und Die WELT. In Frankreich konzentriere ich mich auf die Zeitungen Le Monde, Le Figaro, L’Humanité, La Libération, La Croix und Aujourd’hui en France (Le Parisien) (vgl. Vatter 2021, 442). Werden in den untersuchten Debatten Bezüge zu Artikeln anderer Zeitungen bzw. Magazine hergestellt, werden diese ebenfalls in das Korpus aufgenommen. Da sich die bestehenden Machtbeziehungen in der Medienberichterstattung widerspiegeln, konzentriere ich mich vor allem auf die Art und Weise, wie Aktivist:innen in den Artikeln dargestellt werden. Ziel ist es zu untersuchen, inwieweit ihre Positionen in den untersuchten Zeitungen aufgenommen und kommentiert werden. Zudem integriere ich in das Materialkorpus den Internetauftritt der aktivistischen Gruppen, ausgewählte Pressemitteilungen sowie Erklärungen und Reden, um die dominanten Sichtweisen zu konterkarieren und die Abweichungen und Brüche sichtbar zu machen. Die Zeitungsartikel sind in den digitalen Archiven der Zeitungen oder mithilfe der von den Bibliotheken zur Verfügung gestellten Online-Suchwerkzeuge abrufbar. Dabei definieren die Untersuchungsgegenstände den Recherchezeitraum, der sich gleichermaßen auf wenige Tage begrenzen wie über mehrere Monate oder Jahre erstrecken kann. Beim Thema „Repatriierungen“ wurde die Artikelrecherche über den gesamten Untersuchungszeitraum von 1990 bis 2020 ausgeweitet, da die Berichterstattung sehr überschaubar ist. Ansonsten bestimmen die erinnerungspolitischen Ereignisse die Zusammensetzung des Materials, wie beispielsweise die Anerkennung des Algerienkriegs im Juni 1999 bzw. die offiziöse Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama im Sommer 2015 und 2016. Wenn spezifische Ereignisse ausgewertet werden, wie die Zeremonien zur Rückgabe menschlicher Gebeine nach Namibia in den Jahren 2011, 2014 und 2018, dann erstreckt sich der Untersuchungszeitraum für Presseartikel in der Regel von drei bis fünf Tagen vor und fünf bis zehn Tage nach dem Ereignis. Weiterhin habe ich Reden, Positionspapiere, Sachstände, Broschüren und Handlungsempfehlungen von nationalen und internationalen Vereinen und Organisationen wie der UNO, Ausstellungskataloge (Le premier génocide au XXe siècle (2016–2017) über den Völkermord der OvaHerero und Nama im Mémorial de la Shoah (Faber-Jonker 2017), „Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner

18 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

Geschichte und Gegenwart“ (2016–2017) im Deutschen Historischen Museum (DHM) (2017)), wissenschaftliche Ausarbeitungen, Gesetzestexte, Regierungspositionen, Pressemitteilungen, Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung, Fragen von Parlamentarier:innen an die französische Regierung und Parlamentsdebatten in der Zusammenstellung des Korpus berücksichtigt. Dessen Zusammensetzung unterschied sich dabei im Verhältnis zu den jeweils betrachteten Untersuchungsgeständen, da die Relevanz der Quellen abhängig vom gewählten Gegenstand der Analyse variierte. Ein Großteil der analysierten Materialien sind frei abrufbar auf den Internetseiten der Institutionen, der staatlichen Einrichtungen und internationalen Organisationen sowie der engagierten Vereine bzw. Initiativen. Die Zeitungsartikel und ein Großteil der wissenschaftlichen Literatur waren über Bibliotheken und Archive zugänglich, wobei ich vor allem folgende Einrichtungen konsultiert habe: das online verfügbare „Dokumentations- und Inforationssystem für Parlamentsmaterialien“ (DIP) des Deutschen Bundestags für Bundestagsdebatten, Anfragen, Anträge und weitere Drucksachen, die Staatsbibliothek zu Berlin für die Zeitungsrecherche, das Journal officiel de la République (JORF) für die Parlamentsdebatten in Frankreich, die Bibliothèque de documentation internationale contemporaine (BDIC, La Contemporaine) in Nanterre und die Bibliothèque Nationale de France (BNF) in Paris. Weiterhin konsultierte ich das Archiv des Deutschen Historischen Museums (DHM), um die Konzeption und Entstehung der Ausstellungen „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ (2016–2017) sowie „Namibia – Deutschland: eine geteilte Geschichte“ (2004) im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln zu sichten. Schließlich führte ich auch ein Interview mit der Projektverantwortlichen Sophie Nagiscarde, die die Ausstellung „Le premier génocide du XXe siècle“ über den Genozid an den OvaHerero und Nama im Mémorial de la Shoah (2016–2017) betreute.

1.2.3 Die empirischen Kapitel (1) Anerkennung Die Anerkennung historischer Verbrechen ist oft der Ausgangspunkt für eine erinnerungspolitische Aufarbeitung der Vergangenheit, um daran anknüpfend weitere Forderungen wie Entschädigungen für das erlittene Unrecht zu stellen. Anerkennung ist zugleich die Voraussetzung für die Herstellung von Erinnerbarkeit kolonialer Vergangenheiten, wodurch diesen ein affektiver Platz im kollektiven Erinnern der deutschen bzw. französischen Gesellschaften zugewiesen werden kann. Als zu untersuchende Diskursereignisse ziehe ich zum einen die offizielle Anerkennung des Algerienkriegs durch das französische Parlament im

Methode 

 19

Juni 1999 und die begleitende Medienrezeption heran. Zum anderen fokussiere ich mich auf die von 2015–2016 geführten Anerkennungsdebatten, mit denen der Genozid-Begriff für die an den OvaHerero und Nama begangenen Verbrechen im erinnerungspolitischen Diskurs etabliert wird. Im Fokus der Analyse steht insbesondere, auf welche Weise eine Differenz zwischen der Anerkennung des historischen Unrechts und einer Verkennung des ‚Leids der Anderen‘ erzeugt wird. (2) Reparationen Postkoloniale Klagevorhaben sind ein wichtiges erinnerungspolitisches Instrument, um die Aufarbeitung kolonialer Verbrechen zu befördern und die Frage nach einer möglichen Entschädigung für koloniale Verbrechen zu adressieren. Im Jahr 2001 haben sowohl die OvaHerero gegenüber Deutschland als auch die Harkis als ehemalige algerische Hilfssoldaten im Dienst der französischen Armee gegenüber Frankreich versucht, die Anerkennung kolonialer Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erreichen und somit die Forderung nach Reparationszahlungen zu rechtfertigen. Dabei begründeten sowohl die OvaHerero als auch die Harkis ihr Vorhaben unter Rückgriff auf die nationalsozialistische Massengewalt bzw. die geleisteten Entschädigungen gegenüber HolocaustÜberlebenden, wobei allerdings beide Klagen mit teilweise unterschiedlichen Begründungen scheiterten. Während die OvaHerero im Jahr 2017 zusammen mit den Nama eine weitere Sammelklage einreichten, wählten die Harkis andere Strategien, um Anerkennung und Entschädigung vom französischen Staat zu erwirken. Im Fokus des diachronen Vergleichs der Jahre 2001–2003 und 2017–2019 stehen die multidirektionalen Verweise auf das etablierte Holocaust-Gedenken und darauf, wie die Bezugnahmen auf dieses eine Transformation der Erinnerung an den Kolonialismus herbeiführten. (3) Repatriierungen Am Beispiel der Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Algerien und Namibia lassen sich die Mechanismen des erinnerungspolitischen VergessenMachens herausarbeiten. Frankreich repatriierte im Juli 2020 erstmals Schädel berberischer und kabylischer Widerständiger nach Algerien, die 1849 in der „Schlacht von Zaatcha“ getötet und enthauptet wurden. In Deutschland hingegen fand die erste Rückführung menschlicher Überreste im Jahr 2011 statt. Während allerdings die Repatriierungen nach Namibia schon 2011 für Schlagzeilen sorgten und eine Hinterfragung des Verhältnisses der deutschen Gesellschaft zu ihrer kolonialen Vergangenheit beförderten, fand die Rückgabe der sterblichen Überreste in der französischen Medienberichterstattung kaum Beachtung. In der Analyse konzentriere ich mich auf die Verknüpfungen, die von den gegenwärtigen

20 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

anthropologischen Sammlungen in den deutschen und französischen Museen zur historischen kolonialen ‚Rasseforschung‘ gezogen werden, welche die koloniale Expansion im 19. Jahrhundert begründete. Unter dem Begriff des affektiven Entinnerns fasse ich das Vergessen-Machen als einen produktiven erinnerungspolitischen Prozess auf, um zu zeigen, dass nur diejenigen Vergangenheiten erinnerbar sind, denen emotionale Erinnerungsrelevanz zugeschrieben wird. Denn erst die ab 2017/2018 angestoßene „Restitutionsdebatte“ verschaffte der Auseinandersetzung bezüglich möglicher Rückgaben von menschlichen Gebeinen sowie von Objekten und Kunstwerken kolonialer Herkunft aus den europäischen Museen und Universitätssammlungen eine transnationale Bedeutung. (4) Restitutionen Mit dem von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr verfassten Restitutionsbericht (2018) vollzog sich eine empirische und vor allem temporal synchrone „Relationierung“ (Epple, 19.04.2021), bei der die ansonsten national geführten Debatten über die Rückgabe kolonialer Objekte die staatlichen Grenzen transzendieren. Als transnationales Diskursereignis beeinflusst der Bericht nicht nur maßgeblich ein Umdenken im Umgang mit den kolonialen Sammlungsbeständen in Deutschland. Auch Frankreich nimmt Deutschland zunehmend als ehemalige Kolonialmacht war und berichtet verstärkt über die für 2019 geplante Eröffnung des Humboldt Forums, aber auch über den Völkermord an den OvaHerero und Nama. Vor diesem Hintergrund wird zum einen die Rückgabe der WitbooiBibel und Peitsche im Februar 2019 aus dem Lindenmuseum in Stuttgart an den namibischen Staat betrachtet. Beide Gegenstände gelangten nach dem Überfall der „Schutztruppe“ im Jahr 1893 in deutschen Besitz und wurden kurz nach der Veröffentlichung des Savoy-Sarr-Berichts durch die Regierung des Landes BadenWürttemberg restituiert. Im französischen Fall untersuche ich zum anderen die Reaktionen auf die ab 2020 erneut vorgebrachten Forderungen Algeriens nach einer Rückgabe von Archivbeständen, die nach dem Ende des Kriegs 1962 in die französischen Nationalarchive überführt wurden. Die Analyse konzentriert sich im Wesentlichen darauf, auf welche Weise die transnationale Wirkung der Debatte konstitutiv für die jeweils nationalen Restitutionspolitiken ist und ob sich transnational wirkende emotionale Diskurse beschreiben lassen. (5) Offizielle Entschuldigungen Abschließend bildet die Untersuchung der Bedeutung offizieller Entschuldigungen die inhaltliche sowie zeitliche Klammer zu den vorangegangenen Kapiteln. Auf der zeitlichen Achse endet die Arbeit im Jahr 2021, als die in Aussicht gestellte Entschuldigung der Bundesregierung für den Völkermord an den OvaHerero

Aufbau der Arbeit 

 21

und Nama sowie die französische Ablehnung entschuldigender Worte für den Algerienkrieg über einige Monate die Medienberichterstattung bestimmten. Die rekonstruierten Diskurse und deren emotionale Implikationen müssen dabei allerdings als Momentaufnahme in ihrer Unabgeschlossenheit akzeptiert werden, da die Auseinandersetzungen um die Formulierung offizieller Entschuldigungen erinnerungspolitische Prozesse in Gang gesetzt haben, bei denen der Ausgang weiterhin ungewiss ist. Indem ich die Frage nach den diskursiven Bedingungen stelle, unter denen eine Entschuldigung für koloniale Verbrechen als (un-) möglich konstruiert wird, knüpfe ich inhaltlich an die eingangs dargestellte Differenzziehung zwischen der Anerkennung historischer Verbrechen und der Verkennung des ‚Leids der Anderen‘ an. Denn das Formulieren einer Entschuldigung setzt das Anerkennen ‚historischer Schuld‘ voraus, was gleichzeitig impliziert, dass die Aufarbeitung des Kolonialismus als moralische Verpflichtung anerkannt werden muss. Obgleich politische Entschuldigungen als erinnerungspolitisches Instrument keine Voraussetzung für den ‚Erfolg‘ historischer Aufarbeitung sind, zeugt deren Verhandlung jedoch von der gegenwärtigen Neujustierung des affektiven Platzes, den die koloniale Vergangenheit in der deutschen und französischen Gesellschaft einnimmt. Deutlich wird dabei, dass sich neben transnationalisierenden Entwicklungen die Integration der kolonialen Vergangenheit vor allem auf nationalstaatlicher Ebene vollzieht. Ob die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zu einer europäischen Verpflichtung rationalisiert wird, wird sich in Zukunft zeigen. Ziel dieser Arbeit ist es, die Ambivalenzen zwischen Wandel und Stagnation sowie Bruch und Kontinuität in den Prozessen postkolonialer Erinnerungspolitiken darzustellen.

1.3 Aufbau der Arbeit Im ersten Kapitel leite ich das transnationale Verständnis, das dieser Arbeit zugrunde liegt, um postkoloniale Erinnerungspolitiken in Frankreich und Deutschland zu analysieren, anhand gängiger Begriffe der Erinnerungsforschung her. Dabei definiere ich zum einen den Begriff der „Erinnerungspolitik“ und führe zum anderen Emotionen und Affekte als Analysekategorien ein, um die weiterhin vertretene Gegenüberstellung eines „affektiven“ Erinnerns gegenüber einer „rationalen“ Geschichtsschreibung zu relativieren. Die entworfene transnationale Perspektive versteht sich dabei als ein dynamisches Analysemodell, bei dem globale Erinnerungstendenzen genauso in den Blick genommen werden sollen wie deren Nutzbarmachung für nationalstaatliche Belange (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 3). Um die Bedeutung kolonialer Vergangenheiten in der postkolonialen Gegenwart Frankreichs und Deutschlands analysieren zu können, leite ich

22 

 Einleitung: Verstrickte Emotionen?

aus den postkolonialen Theorieansätzen Achille Mbembes, Homi Bhabhas und Dipesh Chakrabartys Analysewerkzeuge ab, die ich für die Erinnerungskulturenforschung fruchtbar machen werde (Kap.  3). Die Bedeutung von Emotionen als soziale Praktik in der Herstellung kollektiver Erinnerungen wird als transversale Kategorie mit den unterschiedlichen Aspekten des theoretischen Rahmens dieser Arbeit verwoben. In Kapitel  4 führe ich die bisherigen Überlegungen zusammen und leite daraus die Analysewerkzeuge der emotionalen Diskurse und Ordnungen ab, mit denen ich das Materialkorpus diskursanalytisch untersuche. In Kapitel  5 begründe ich den transnationalen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland und beschreibe die Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit. Der historische Überblick über die kolonialen Vergangenheiten Deutschlands und Frankreichs, die Darstellung der historiografischen Kontroversen sowie das Aufzeigen der erinnerungspolitischen Trendwenden seit den 1990er Jahren sind dabei als konstitutiver Bestandteil des transnationalen Vergleichs aufzufassen (Kap. 5.2 bis 5.5). Die Festlegung der Untersuchungsobjekte entspricht folglich einer ‚Verstrickung‘ deutscher und französischer Erinnerungspolitiken, um somit neue Problemzusammenhänge in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten aufzuzeigen (Kap. 6). Daran schließt der empirische Teil der Arbeit an, wobei sich jedes Kapitel mit einem der identifizierten Untersuchungsgegenstände unter einer jeweils spezifischen Fragestellung beschäftigt (Kap. 7: Anerkennung; Kap.  8: Reparationen; Kap.  9: Repatriierung; Kap.  10: Restitutionen; Kap. 11: Entschuldigungen). Abschließend führe ich die Ergebnisse der jeweiligen empirischen Kapitel in einer Schlussbetrachtung zusammen, bei der erstens die Bedeutung des Holocaust als transnational wirkende emotionale Ordnung reflektiert, zweitens die divergente Herstellung moralischer Kollektivideale in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten aufgezeigt und drittens die Ambivalenzen in der Affizierung von Er- und Entinnerung herausgestellt werden. Zum Schluss fasse ich anhand der Befunde zusammen, inwiefern sich viertens eine Transnationalisierung des postkolonialen Erinnerns in Deutschland und Frankreich ausmachen lässt.

2 T  ransnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten: Forschungsstand und Begriffsklärungen Zur Jahrtausendwende verkündete der Historiker Charles Maier (2000, 826–827), dass wir eine Verschiebung von der zentralen Bedeutung westlicher „Erzählungen des […] moralischen Ringens“ um die Erinnerung an den Holocaust erlebten, hin zu einer Betonung der kolonialen Vergangenheit und ihrer Verflechtung mit der europäischen Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt war die westliche Gesellschaft längst in die Ära des sogenannten „Memory Booms“ (Huyssen 2012 [1995], 5) eingetreten, die die Konzentration auf die Vergangenheit zu einem immer bedeutenderen Phänomen politischer Auseinandersetzung insbesondere der westlichen Gesellschaften seit den 1980er Jahren machte. Fortan lag der Fokus verstärkt auf den „dunklen“ Vergangenheiten, sodass das Opfergedenken die bis dahin dominante monumentale Heldenverehrung ablöste. Zum globalen Referenzpunkt und folglich zur moralischen Projektionsfläche wurde dabei insbesondere die Vernichtung des europäischen Judentums. Wenn Maier im Jahr 2000 den kommenden Bedeutungsgewinn kolonialer Vergangenheiten für die westlichen Gesellschaften voraussagt, so muss dies vordergründig im Verhältnis zum globalisierten Holocaust-Gedächtnis analysiert werden. Eine transnationale Analyse postkolonialer Erinnerungspolitiken versucht daher, die Dynamiken, Transformationen und das Zirkulieren von Konzepten und (post-)kolonialen Wissensbeständen nachzuvollziehen. Wenn Maier allerdings die Neuverhandlung von Moralität in der Anerkennung kolonialer Vergangenheiten adressiert, verweist dies auf einen weiteren Bedeutungszusammenhang: die erinnerungspolitische Herstellung affektiver und emotionaler Zustände. Die Produktion von Affekten und Emotionen reguliert dabei ganz wesentlich, welches Wissen über die Vergangenheit anerkannt und auf Dauer gestellt wird, sich folglich körperlich einschreibt und somit eine gesellschaftliche Bedeutungszuschreibung erfährt. Die Erzeugung von Sichtbarkeit kolonialer Vergangenheiten gestaltet sich somit als ein umkämpftes Feld um symbolische und materielle Ressourcen, deren Verteilungen, so die Annahme, mittels der diskursiven Herstellung emotionaler Diskurse und Ordnungen verhandelt werden. Entsprechend wird diese Arbeit die Analyse der Produktion und Regulierung von Emotionen als wesentliches Machtinstrument in der Wissensvermittlung sowie in der Affizierung der Vergangenheit zur zentralen Perspektive auf postkoloniale Erinnerungspolitiken machen.

https://doi.org/10.1515/9783111018683-002

24 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

In diesem Kapitel werde ich mich in einem ersten Schritt den in der Erinnerungsforschung zentralen Diskussionen um die Bedeutung der ‚Nation‘ und dem Zusammenhang von Identitätskonstruktion durch Erinnerung zuwenden. In Kapitel  2.1 zeichne ich die wissenschaftlichen Tendenzen nach, die die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten entweder als „postkoloniale Erweiterung“ nationaler Geschichtsschreibung oder als Ausdruck eines demokratischen Transformationsprozesses verstehen. Deutlich wird dabei, dass die unterschiedlichen Spielarten der bisherigen postkolonialen Aktualisierung gedächtnistheoretischer Konzepte weiterhin westlichen Logiken der Linearität und des Fortschritts verschrieben sind. In Kapitel  2.2 betrachte ich das transnationale Zirkulieren gedächtnistheoretischer Konzepte und wie sich in ihnen die eurozentrische Gegenüberstellung von Emotionalität und Rationalität im wiederholt herausgestellten Gegensatz zwischen Geschichte und Gedächtnis fortschreibt. Indem ich die Erinnerungskulturelle Bedeutung von Affekten und Emotionen für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen herausarbeite, führe ich zudem ein Machtverständnis ein, anhand dessen ich begründe, warum ich in dieser Arbeit von Erinnerungspolitik spreche (Kap.  2.3). Die transnationale Wende wird vor allem begründet mit den zunehmend global artikulierten Restitutions- und Reparationsforderungen seit den 1990er Jahren, die der westlichen Welt eine Neubetrachtung des Kolonialismus und insbesondere seiner postkolonialen Fortwirkungen aufdrängten (vgl. Barkan 2001; Gibney 2008). Mit der in Kapitel  2.4 entwickelten Darstellung über den Zusammenhang zwischen Emotionen und der Ausbildung gesellschaftlicher Kollektivideale begründe ich schließlich, warum postkoloniale Erinnerungspolitiken transnational untersucht werden müssen, um die emotionalen Verstrickungen zwischen Deutschland und Frankreich offenzulegen.

2.1 I dentität durch Erinnerung? Zwischen „postkolonialer Erweiterung“ des öffentlichen Gedenkens und der Schaffung „postkolonialer Erinnerungsorte“ Bisher konzentrierte sich die Erinnerungskulturenforschung vor allem auf die Imaginations- und Traditionsbildungen von Nationalstaaten (vgl. De Cesari und Rigney 2014; Werner und Zimmermann 2002, 607–608). Mit der gegenwärtigen Hinwendung des Forschungsinteresses zu den kolonialen Vergangenheiten lassen sich vereinfachend zwei Entwicklungen ausmachen: Die eine verfolgt eine kosmopolitische, die nationalen Grenzen überwindende Perspektive, die andere strebt nach einer Einschreibung kolonialer Geschichte in nationalstaatliche Narrative. Während der kosmopolitische Zugang westliche Vorstellungen erinne-

Identität durch Erinnerung?  

 25

rungspolitischer Aufarbeitung zu einem normativen Demokratieprojekt universalisiert, macht die zweite Entwicklung hingegen die Bearbeitung des Kolonialismus zu einem vordergründig nationalstaatlichen Projekt. Der erstgenannten Entwicklung folgend, verknüpft der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (2008, 227) seinen Essay „A Tour of the Battleground“ mit der Kritik, dass die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit vor allem als nationale Aufgabe verstanden werde. Daraus leitet er das Vorhaben ab, den Kolonialismus als europäisches Erinnerungsprojekt in geschichtspolitische Initiativen zu integrieren. Der Auseinandersetzung mit den Verbrechen in den ehemaligen Kolonien wohne folglich das Potenzial inne, ein europäisches Selbstverständnis zu befördern. Leggewie benennt sieben Zyklen einer paneuropäischen Erinnerung, wobei der Holocaust als „negativer Gründungsmythos“ die Grundlage europäischen Gedenkens beschreibt (Leggewie 2008, 219–220). Mit der Integration der „dunklen Episoden“ europäischer Geschichte kann schließlich eine aktiv betriebene Geschichtspolitik die positiven und damit vereinenden Elemente einer europäischen Identität herausstellen. Die Anordnung des Textes, die den Kolonialismus an fünfte Stelle des Erinnerungszyklus stellt und mit dem Fall der Mauer 1989 endet, impliziert indes eine lineare Erfolgsgeschichte europäischer Integration (vgl. Leggewie 2008, 226–231). Die Erinnerung an den Kolonialismus wird zu einer Randnotiz im Narrativ eines fortschrittlichen Europas und dem Ziel untergeordnet, eine vereinende europäische Identität zu konstruieren. Die zu Beginn erwähnte zweite Entwicklung zielt auf die Einschreibung kolonialer Vergangenheiten in nationalstaatliche Narrative. Leggewie (2008) leitet aus der Mobilisierung der kolonialen Vergangenheiten für die Gegenwart fortschrittsgeschichtliche Positionen ab, die in die Ausbildung kosmopolitischer Identitäten münden. Für Jürgen Zimmerer (2013, 16–17) hingegen beschreibt der Kolonialismus eine Negativfolie europäischer Identität, die im Gegensatz zu den ‚Anderen‘ entworfen wird. Folglich versteht er die Darstellung deutscher „(post-) kolonialer Erinnerungsorte“ als eine Aktualisierung von Pierre Noras Projekt der Beschreibung französischer Lieux de Mémoire (Zimmerer 2013, 13), die, so die Kritik, vor allem der Wiederherstellung einer verloren geglaubten französischen ‚Nation‘ dienten (vgl. Erll 2017, 22). Noras umfangreiche Sammlung französischer Lieux de Mémoire, die nicht nur materieller, sondern auch symbolischer und immaterieller Art sind, schenkte den französischen Kolonien allerdings wenig Beachtung (vgl. Nora 1984a). Die Beschreibung „postkolonialer Erinnerungsorte“ zielt für Zimmerer auf die Repräsentation des ‚Anderen‘ in Form von Texten, Denkmälern oder anderen Bauwerken ab. Sie ermöglichten somit eine Perspektiverweiterung, indem sie zeigten, wie „sich europäische Orte voneinander abgrenzen, aber gegenüber der nichteuropäischen, der kolonialen Welt, eine gemeinsame Identität entwickeln“ (Zimmerer 2013, 13). Folglich verdeutlichten

26 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

sie das Fortbestehen kolonialer Erinnerungen und Imaginationen, was laut Zimmerer die Langlebigkeit dieser Kontinuitäten unterstreiche. Da diese unhinterfragt blieben, würden sie sich fortschreiben und rassistische Einstellungen und koloniale Fantasien perpetuieren, was beachtenswerte Folgen für „die deutsche Alltagskultur und den politischen Tagesbetrieb“ hätte (Zimmerer 2013, 17). Obwohl sich Zimmerer des problematischen Rückbezugs auf die ‚Nation‘ bewusst ist, ist er dennoch um eine „postkoloniale Erweiterung“ (Zimmerer 2013, 13) des deutschen Erinnerns bemüht. Auf diese Weise unternimmt der Sammelband eine Nationalisierung postkolonialen Erinnerns, gerade weil er die Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit zum politischen Projekt gemacht hat. Schon Nora sah sich dem berechtigten Vorwurf ausgesetzt, durch die Beschreibung seiner Erinnerungsorte eine ‚weiße‘ französische Identität fixiert zu haben (vgl. Erll 2017, 22). Diese konzeptionellen Schwachstellen schreiben sich in der von Zimmerer unternommenen „postkolonialen Erweiterung“ fort (Zimmerer 2013, 13). Denn die Kanonisierung der Kolonialgeschichte als nationalstaatliche Erzählung realisiert sich zugleich in der Herstellung ‚nationaler Traditionen‘ (vgl. Hobsbawm und Ranger 2012 [1983]). Die Hervorbringung kollektiver Erinnerungen wird in einem Großteil der Erinnerungsforschung als konstitutiv für die Hervorbringung kollektiver Identitäten erachtet (vgl. Müller 2002, 21). In Jan Assmanns (1988, 2005 [1992]) und Aleida Assmanns (2009, 2014 [2006]) Arbeiten und ihrer konzeptionellen Ausformulierung des „kulturellen Gedächtnisses“ gehen Gedächtnis- und Identitätsbildung schließlich eine untrennbare Liaison ein (vgl. Erll 2017, 25). Mit dem Blick auf verschiedene deutschsprachige Zugänge zur Erinnerungsforschung verfestigt sich diese Grundannahme, so beispielsweise, wenn Christoph Cornelißen (2003, 33) erklärt, dass „die Formierung einer historisch begründeten Identität“ der zentrale Zweck Erinnerungskultureller Aushandlungsprozesse sei. Für die Historikerin Heidemarie Uhl (2010, 8) bedeutet die Ausbildung von Identitäten die gleichzeitige Konstruktion von Zugehörigkeiten und Ausschlüssen, weshalb Identitätsbildung als kollektives Phänomen auf die Hervorbringung von Erinnerungen und das damit vermittelte Geschichtswissen abzielt. Die Arbeiten von Benedict Anderson (2005 [1983]) sowie Terence Ranger und Eric Hobsbawm (2012 [1983]) verweisen seit den 1980er Jahren auf den prozessualen Konstruktionscharakter moderner Nationen, die ihre Legitimation im Wesentlichen aus der Herstellung einer gemeinsam geteilten und durch Kontinuität ausgezeichneten Vergangenheit ableiteten. Als Folge dieser Arbeiten wurde zwar wiederholt das Imaginäre in der Hervorbringung politischer Gemeinschaften unterstrichen, trotzdem verengten sich anknüpfende Untersuchungen zu kollektiven Identitäten auf nationalstaatliche Erinnerungspolitiken. Als Konsequenz, so kritisieren Ann Rigney und Chiara De Cesari (2014, 1), würde der Nationalstaat zum

Identität durch Erinnerung?  

 27

„natural container, curator, and telos of collective memory“. Durch diese auf den Nationalstaat gerichtete Aufmerksamkeit bestehe die Gefahr, dass sich kollektive zu ‚nationalen‘ Identitäten homogenisierten. Werden Identitäten schließlich auf Begriffe wie Kultur und Ethnie reduziert (vgl. Ritter 1999, 232), werden nicht nur deren Alterität und Pluralität nivelliert, vielmehr können diese auch in Abgrenzung zu ‚anderen‘ Identitäten politisch in Stellung gebracht werden. Diese nationalstaatliche Verengung wurde von Vertreter:innen transnationaler Zugänge als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert, der die Imagination der Nation vielmehr reproduziere als die Brüche und Divergenzen aufzuzeigen (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 1–2). Dabei hat Anderson (2005 [1983]) darauf hingewiesen, dass sich der Existenz der ‚Nation‘ als „imagined community“ immer wieder aufs Neue versichert werden muss – was als Folge auch die Möglichkeit ihres Scheiterns einschließt. Andererseits interessiert sich der Politikwissenschaftler vor allem für das historische Entstehen der Nation und die Versicherung ihrer auf Dauerhaftigkeit gesicherten Existenz. Die Langlebigkeit nationaler Gemeinschaften sieht er vor allem in der Kreation emotionaler Legitimität begründet (Anderson 2016 [1983], 4). Andernfalls ließe sich nicht erklären, warum „diese doch etwas kümmerlichen Einbildungen der jüngeren Geschichte […] so ungeheure Blutopfer gefordert haben“ (Anderson 2005 [1983], 17). Die emotionale Legitimität, von der hier die Rede ist, erklärt er mit der narrativen Herstellung von Identitäten (vgl. Anderson 2016 [1983], 205). Durch die Vermittlung historischer Kontinuität, die als geteilte Erinnerungen politisch inszeniert würden, ließen sich wirksam Zugehörigkeitsgefühle erzeugen, die die Mitglieder der Nation zu einer „Kameradschaft“ zusammenschweiße (Anderson 2016 [1983], 7). Die Historiker Étienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel (1995, 14), die in ihrem Sammelband den Zusammenhang von ‚Nation‘ und Emotionen ausleuchten, leiten aus Andersons Arbeit ab, dass die ‚Nation‘ „immer wieder neu durch das in der Bevölkerung verbreitete Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit“ konstituiert werde. Eine erinnerungspolitische Herstellung der ‚Nation‘ nutze folglich den Rückbezug auf die Vergangenheit im Sinne einer homogenisierenden Identitätsbildung. Dennoch wenden die Autoren ein, dass das „Gefühl der Zusammengehörigkeit“ nicht mit „Nationalgefühl“ oder einer „nationalen Identität“ gleichzusetzen sei. ‚Nationale Gefühle‘ seien demnach eines „von vielen möglichen Gemeinschaftsgefühlen“ (François et al. 1995, 17). Obwohl sie in ihrer Einführung wiederholt den Begriff der „nationalen Emotionen“ aufgreifen, geben sie zu bedenken, dass sich weder dieses noch das Konzept der „nationalen Identität“ als analytische Kategorien eigneten. Ihr Argument ist, dass „Emotionen des Kollektivsubjekts Nation“ von den Gefühlen von Gruppen und Personen abgegrenzt werden müssen (François et al. 1995, 17). Der Soziologe Andreas Langenohl (2000, 22–23, 61) wendet dagegen

28 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

ein, dass die Konstitution von Identitäten nicht ohne das Individuum als Träger vermittelbar sei, was die Annahme von „Kollektivität“ zu einer „irreführenden“ Kategorie mache. Eine Abgrenzung zwischen ‚nationalen‘ und gruppenspezifischen Emotionen ist demnach nicht realisierbar. Denn weder Identitäten noch Gedächtnisformationen können ohne einen sozialen Bezugsrahmen ‚kollektiv‘ Bedeutung erlangen. Allerdings hebt auch Langenohl (2000, 61) die Bedeutung von „Zugehörigkeitsgefühlen“ für die Ausbildung von Identitäten hervor, wenn er schreibt, dass „Identität […] die subjektive Aneignung und Nachkonstruktion einer Zugehörigkeit voraus[setzt]“. „Institutionelle, öffentliche Erinnerung“ bezwecke folglich „die Herstellung von Zugehörigkeitsgefühlen zu politischen Kollektiven“ (Langenohl 2000, 61, Herv. im Original), diese sind aber keinesfalls mit der ‚Nation‘ gleichzusetzen. Langenohls Ausführungen aufgreifend, verstehe ich die Identitätsbildung als performativen Akt der Subjektwerdung, was die Kategorie Identität gleichfalls zu einem Herrschaftsinstrument macht, aber auch als „Resultat[e] von Diskursen“ markiert (Langenohl 2000, 81). Die Auseinandersetzung um Repräsentationen der Vergangenheit in der Gegenwart zielt folglich auf die Herstellung eines affizierten Subjektstatus, der im Sinne der Hervorbringung einer ‚nationalen Idee‘ mobilisierend sein kann – aber nicht muss. Die hier aufgeführten Einwände verdeutlichen, dass sich die Untersuchung kollektiver Identitäten – gerade, weil kollektive Identitäten als „Resultate von Diskursen“ (Langenohl 2000, 81) erinnerungspolitische Wirkmacht entfalten – nur bedingt als Analysekategorie eignet. Die Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll (2017, 105) lehnt zwar nicht die Vorstellung ab, dass im Rückbezug auf die Vergangenheit ein „Wir-Bewusstsein“ erzeugt werde, allerdings wendet sie ein, dass die Herstellung kollektiver Identitäten immer auch Alterität voraussetzt und diese Identitäten daher in ihrer Pluralität verstanden werden sollten. Daran anschließend hat Erll (2011a, 16) den unbedingten Zusammenhang von Identitätsbildung durch das gemeinsame Erinnern wiederholt infrage gestellt. Insbesondere in ihrem Text „Travelling Memory“ (2011b, 16) hat sie den oft unhinterfragten „Identity-through-memory“-Nexus als westliche Denkfigur markiert und die Forderung abgeleitet, in Anlehnung an Dipesh Chakrabarty (2010 [2000]) eine Provinzialisierung (west-)europäischer Erinnerungskulturen anzustreben. Damit eröffnet Erll den Raum für die Konzeptualisierung einer postkolonialen Erinnerungsforschung, die den Begriff „postkolonial“ nicht ausschließlich auf die deskriptive Erfassung der Wirkmächtigkeit kolonialer Muster in der Gegenwart reduziert. Der Fokus dieser Arbeit liegt daher auf der Herstellung emotionaler Diskurse im Verhältnis zur imaginierten ‚Nation‘. Solch eine Perspektive öffnet auch den Blick für die Frage, wie die Affizierung von Erinnerungspolitiken Ein- und Ausschlüsse konstruiert und folglich auch andere Macht- und Herrschaftsverhältnisse

Der Gegensatz zwischen … 

 29

(z.  B. rassistische oder vergeschlechtlichte Ordnungen; vgl. Bargetz und Sauer 2010) aufrechterhält. Verschiedene Autor:innen, die sich für den Dialog zwischen postkolonialen Theorien und den Memory Studies interessieren, machen daher die Abgrenzung von den ‚Anderen‘ durch die Erfindung identitätsstiftender Narrative zur vereinenden Schnittmenge (vgl. Aschheim 2016, Bisht 2013; Levy und Sznaider 2001; Miles 2010; Rothberg 2013). In der Untersuchung kollektiver Identitäten als Ergebnis emotionaler Diskurse liegt das Potenzial, Emotionen als wesentliche Herrschaftskategorie in postkolonialen Erinnerungspolitiken sichtbar zu machen. Insbesondere der Blick in die gedächtnistheoretische Literatur zeigt, dass in den Schriften von Maurice Halbwachs (1972 [1947], 1985 [1925]) und Pierre Nora (1984a) Emotionen eine wenngleich nicht systematische, so doch zentrale Rolle für die Erinnerungsbildung einnehmen. Dabei tritt vor allem eine Gegensätzlichkeit in der Erinnerungsforschung zutage, die auch die Diskurse postkolonialer Erinnerungspolitiken strukturieren: der Gegensatz zwischen ‚affektivem‘ Gedächtnis und ‚universeller‘ Geschichtsschreibung.

2.2 D  er Gegensatz zwischen ‚affektiven‘ Erinnerungen und ‚universeller‘ Geschichtsschreibung Der Verweis auf Maurice Halbwachs’ sowie Pierre Noras Arbeiten ist zum Standard Erinnerungskultureller Analysen geworden, wobei deren Beitrag zur Erinnerungsforschung meist auf zusammenfassende Fußnoten kondensiert wird. Die Relektüre lohnt insbesondere, um eine emotionstheoretische Neubewertung ihrer Theorien zur Gedächtnisbildung vorzunehmen. Denn als Erbe ihrer Schriften manifestierte sich eine strikte Abgrenzung rationaler Geschichtsschreibung gegenüber einer emotionalen Gedächtnisbildung. Darin offenbart sich das politische Potenzial geschichtswissenschaftlicher Debatten für das Selbstverständnis von Gesellschaften. Noras Lieux de Mémoire haben nicht nur eine außerordentliche globale Verbreitung erfahren. Sie haben außerdem zur Verknüpfung nationaler Identitätsvorstellungen mit Gedächtnisbildungsprozessen beigetragen, die gegenwärtig als „guerres de mémoires“ (Blanchard und Veyrat-Masson 2008), „Erinnerungsterror“ und die nationale Einheit auflösende Identitätspolitiken gebrandmarkt werden (vgl. Assmann 2014 [2006], 79; Erll 2011b, 49). Noras und Halbwachs’ Konzepte müssen daher kritisch auf ihren Beitrag als transnational zirkulierende Wissenskategorien zur Hervorbringung heutiger Gedächtnisverständnisse befragt werden. Denn zumeist mündet der Rückbezug auf die Granden der Gedächtnisforschung in der Gegenüberstellung von ‚universeller‘ Geschichtsschreibung und ‚selektivem‘ und damit individuell-affektivem Gedächtnis.

30 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

In der englischsprachigen Ausgabe von Halbwachs’ Werk, die unter dem Titel The Collective Memory (1980 [1950], 78, Übersetzung S. R.) herausgebracht wurden, heißt es im Kapitel „Historical Memory and Collective Memory“, dass Erinnerung und Geschichte ganz gegensätzliche Begriffe seien und dass „die allgemeine Geschichte erst beginnt, wenn Traditionen enden und die soziale Erinnerung verblasst oder unterbrochen wird“. Diese Unterscheidung von Geschichte und Gedächtnis führt Nora in seinem einführenden Text fort, der ab 1984 die Publikation des mehrbändigen Kompendiums zur Beschreibung der französischen Lieux de Mémoires einleitet. Darin schreibt der Historiker, dass [l]a mémoire est la vie, toujours portée par des groupes vivants et à ce titre, […] vulnérable à toutes les utilisations et manipulations, […]. L’histoire est la reconstruction toujours problématique et incomplète de ce qui n’est plus. […] Parce qu’elle est affective et magique, la mémoire s’accommode que des détails qui la confortent; […] l’histoire, au contraire, appartient à tous et à personne, ce qui lui donne vocation à l’universel. (Nora 1984a, XIX)

Die vermeintlich faktenbasierte und ‚neutrale‘ Geschichtsschreibung gegenüber einem „lebendigen“ und wandelbaren und folglich „subjektiven“ Gedächtnis knüpft an das „Erbe“ des Historismus des 19. Jahrhundert an (vgl. Hutton 2011, 413) und etabliert die Metapher der „kalten“ Geschichte und der „heißen“ Erinnerungen, die entsprechend für geschichtspolitische Ziele instrumentalisierbar seien (vgl. Lorenz 2014, 45). In der Manifestierung dieser Unterscheidung wird der Historiker zum Interpreten historischer Abläufe und zur korrektiven Instanz gegenüber den fehleranfälligen Erinnerungsleistungen von Gesellschaften (vgl. Olick et al. 2011, 441). Erinnerungspolitische Forderungen von aktivistischen Gruppen sowie staatliches Handeln werden in diesen Publikationen zumeist als Gefahr für die historische Forschung verstanden. Die Arbeit der Historiker:innen nimmt die eigene Objektivität und Neutralität zum Ausgangspunkt, reflektiert dabei aber nur unzureichend die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Mit der Relativierung des Gegensatzes zwischen Geschichte und Gedächtnis/Erinnerung muss entsprechend auch das Verhältnis zu Affekten und Emotionen neu bewertet werden. Emotionen und Affekte tauchen bei Nora nicht nur als Entwurf eines affektiv hervorgebrachten Gedächtnisbegriffs auf. Vielmehr generiert er daraus das Verständnis, dass Affekte mobilisiert werden müssen, um diese dem Prozess des Vergessens zu entziehen. Er konstatiert, dass „un objet devient lieu de mémoire quand il échappe à l’oubli, par exemple avec l’apposition de plaques commémoratives, et quand une collectivité le réinvestit de son affect et de ses émotions“ (Nora 1984b, 7). Noras Großprojekt war beeinflusst von der Beobachtung, dass das französische Volk sein Gedächtnis „verloren“ hätte und sich die „natürlichen“ Milieux de Mémoire in der Auflösung befänden (Nora 1984a, XVII). Von besonderer Brisanz ist dabei jedoch nicht nur das, was erinnert

Der Gegensatz zwischen … 

 31

werden soll, sondern auch das, was dem Vergessen anheimfällt (vgl. Nora 1984, XVIII). Wenn Nora von den Lieux de Mémoire als historischen Ereignissen spricht, die diesem Vergessen durch das Zuschreiben von Emotionen „entkommen“, dann verweist dies auf den aktiven Konstruktionsprozess, der die erinnerte Gegenwart konstituiert. Das Anbringen von Gedenktafeln und die Inszenierung offizieller Feiertage sind somit als die Gegenmaßnahmen zu verstehen, die den Übergang ins Vergessen verhindern und das französische Volk in diese Konstruktionsprozesse einspannt. Nora entwirft Emotionen in einem funktionalistischen Sinne als evozier- und manipulierbar, weswegen sie auch in den Dienst der Nationsbildung genommen werden können (vgl. Nora 1984b, 7). Auch Halbwachs hatte sich seinerzeit mit der Bedeutung von Emotionen für die Gedächtnisbildung gemacht. In dem posthum erschienenen Essayband L’expression des émotions et la société (1947) schreibt Halbwachs, dass affektive Gemeinschaften die Grundlage des kollektiven Gedächtnisses sind. Nur das, was kollektiv geteilt wird, kann zur Grundlage einer gemeinsamen Vergangenheit werden. Ohne diese affektive Anbindung trete Vergessen und Bedeutungsverlust ein. Anders als bei Nora jedoch zielt dieser Befund nicht auf ein für den Nationalstaat zu mobilisierendes Projekt der emotionalen Lenkung ab. Vielmehr vergesellschaftet Halbwachs Emotionen und macht sie zu einem Gegenstand soziologischer Untersuchungen, indem sie nicht nur als individueller und psychologischer Zustand beschrieben werden. In dem wenig beachteten Text aus dem Jahr 1947, der erst in den 1970er Jahren in Frankreich wiederentdeckt wurde (vgl. Granger 2014), schreibt Halbwachs: Ainsi, la société exerce une action indirecte sur les sentiments et les passions. C’est qu’il y a en nous un homme social, qui surveille l’homme passionné, et qui, sans doute, lui obéit parfois et se met en quelque sorte à son service pour justifier sa passion: même alors, l’homme ne cesse pas d’être social; il raisonne, il pense. (Halbwachs 1972 [1947], 164)

Halbwachs vereint dabei nicht nur die oft dichotom gegenübergestellten Sphären von Kognition und Emotion; er verortet diese auch in der sozialen Welt, sodass nicht nur die Affizierung von Gedächtnisbildungsprozessen vorausgesetzt wird, sondern auch deren historische Wandelbarkeit angenommen werden kann. Dennoch gilt es zu unterstreichen, dass auch Prozesse des Vergessens als gesteuerte Phänomene verstanden werden müssen. Die diskursive Herstellung von Affekten und Emotionen steuern ein produktives Nicht-Erinnern an historische Ereignisse, die als Politiken des Vergessens gefasst werden können. In diesem Kontext fällt in Noras mehrbändigen Publikationen über die Lieux de Mémoire auf Anhieb auf, dass – obwohl gerade mal 20 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens erschienen – sich nur ein einziger Beitrag der Kolonialausstellung von

32 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

1931 widmet (vgl. Ageron 1984). Es scheint der Prüfstein für das zu sein, was Todd Shepard (2006) als „Invention of Decolonization“ bezeichnet – die als Konsequenz eine notwendige Auslassung der französischen Kolonialerfahrung aus der offiziellen Geschichtsschreibung voraussetzt, um den universellen französischen Republikanismus rechtfertigen zu können (vgl. Stoler 2011).

2.3 Zum Begriff postkolonialer Erinnerungspolitiken Die Gedächtnisforschung und eine stärker sozialkonstruktivistisch orientierte Geschichtswissenschaft betonen, dass das vermittelte geschichtliche Wissen erst vom Standpunkt der Gegenwart und durch die jeweilige Positionierung der Sprechenden hervorgebracht wird (vgl. Cornelißen 2003; Erll 2004, 2017; Fischer et al. 2012; Uhl 2010; Wolfrum 1998). Ein ‚wahrhaftiger‘ Rückbezug auf die Geschichte ist folglich nicht realisierbar. Auch Historiker:innen haben somit keinen Zugang zu einem authentischen „Abbild[] [des] vergangenen Geschehens“ (Erll 2004, 4). Das kollektive Gedächtnis obliege vielmehr Konstruktionsprozessen, bei denen „das Gedächtnis weniger auf die Vergangenheit, als auf gegenwärtige Bedürfnisse, Belange und Herausforderungslagen von sozialen Gruppen oder Gesellschaften“ gerichtet ist (Erll 2004, 4). Da die Geschichtsschreibung von diesen Konstruktionsprozessen nicht auszunehmen ist, unternahmen Geschichtswissenschaftler:innen den Versuch, sie entweder als „art of memory“ (Hutton 1993), „social memory“ (Burke 1997, 43–59) oder ganz grundsätzlich als eine Form der Machtausübung zu deuten. Historiker:innen (wie auch allen anderen sich an den Diskursen beteiligenden Akteur:innen) kommt folglich eine aktiv gestaltende Rolle in der Herstellung kollektiver Erinnerungen und historischer Narrative zu, weswegen sich eine Abgrenzung von Geschichte und Gedächtnis auch als erinnerungstheoretische Sackgasse darstellt. Erll (2008, 7) schlägt daher vor, das Ausspielen von Geschichte vs. Erinnerung aufzulösen, indem unterschiedliche Modi des Erinnerns zur Grundlage der Untersuchung gemacht würden. Die mündliche Weitergabe von Familiengeschichten, die Vermittlung von Geschichtswissen im Schulunterricht oder durch Museen, literarische wie wissenschaftliche Bücher und Filme sowie Gedenktage und die Errichtung von Denk- und Mahnmälern beschreiben die unterschiedlichen Phänomene von Erinnerungspraktiken (vgl. Erll 2011b, 6). Mit Erll gesprochen greife ich daher ein Verständnis auf, das Geschichte als einen „Modus kulturellen Erinnerns“ auffasst und die Geschichtsschreibung als ihr „Medium“ (Erll 2008, 7). Im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs der Universität Gießen, der den weit gefassten Begriff der Erinnerungskulturen vorgeschlagen hat, wurde daran anknüpfend der analytische Schwerpunkt auf die Erinnerungskulturelle Pluralität sowie die Entwick-

Zum Begriff postkolonialer Erinnerungspolitiken 

 33

lung synchroner und diachroner Vergleichsperspektiven gelegt (vgl. Erll 2017, 32). In dieser Perspektiverweiterung liegt das Potenzial zu einer transkulturellen und transnationalen Erinnerungsforschung, bei der Erinnerungskulturen „als formale[r] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse [verstanden werden können], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“ (Cornelißen 2003, 555). Welche Vergangenheiten allerdings „bewusst“ erinnert werden, ergibt sich aus dem machtvollen Ringen um Anerkennung und Sichtbarkeit in gegenwärtigen Erinnerungskonstellationen (vgl. Molden 2016). Denn nur im Erlangen von Deutungshoheit entwickeln sich die dominanten Lesarten, die als offizielle Geschichtsschreibung Verbreitung finden. Dabei müssen jedoch die dominanten, d.  h. die offiziellen und institutionellen Narrationen der Vergangenheit in Verhältnis zu den verschiedenen marginalisierten Versionen gesetzt werden. Da die politische Dimension der Aushandlung von Sichtbarkeit kolonialer Vergangenheiten zentraler Gegenstand dieser Arbeit ist, spreche ich folglich von postkolonialen Erinnerungspolitiken. Analog zur deutschen Begriffsvielfalt werden auch in Frankreich verschiedene Begriffe diskutiert, um die gegenwärtigen Rückbezüge auf die Vergangenheit beschreiben zu können. Der deutschen „Geschichtspolitik“ entsprechend wird zum einen mit dem Begriff der „politiques du passé“ (Andrieu et al. 2006) operiert, der den Rückbezug auf die Vergangenheit allerdings größtenteils als rein instrumentelle Nutzbarmachung für die politische Gegenwart versteht. Die instrumentelle Nutzung der Vergangenheit wird in der französischen Forschungsliteratur auch anhand der titelgebenden Bezugnahmen auf die „L’usage du passé“ (Andrieu et al. 2006) oder „Les abus de la mémoire“ (Todorov 2015 [1995]) unterstrichen. Die Politikwissenschaftlerin Sarah Gensburger (2010) kritisiert in ihrer Doktorarbeit diesen negativ konnotierten Bezug der Verhandlung der Vergangenheit in der Gegenwart, wie er vor allem in der Geschichtswissenschaft Verwendung findet. Stattdessen arbeitet sie mit dem Konzept der „politiques publiques de la mémoire“, das „den Status der beteiligten Akteur:innen und Institutionen sowie die verfolgten Ziele und die mobilisierten Ressourcen“ in den Blick nimmt (Gensburger 2010, 13, Übersetzung S. R.). Der Politikwissenschaftler Johann Michel hat zudem den Begriff der „politiques mémorielles“ (2010) vorgeschlagen, der am ehesten einer Übersetzung von „Erinnerungspolitiken“ entspricht, allerdings auch, wie Gensburgers Zuschnitt auf die politiques publiques, vor allem das offizielle Regierungshandeln und dessen strategische Beeinflussung durch die verschiedenen Akteur:innen in den Fokus nimmt. Zwar verstehe ich „Erinnerungspolitiken“ auch als einen Herrschaftsmechanismus, in dem es um die Verteilung symbolischer, kultureller und materieller Ressourcen geht (vgl. Gensburger 2010, 13–15). Im Gegensatz zum deutschen Begriff der „Geschichtspo-

34 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

litik“ oder den dargestellten französischen Lesarten ist der strategische Rückgriff auf die Vergangenheit durch die Akteur:innen jedoch begrenzt, da sich die in der Gesellschaft verbreiteten Vergangenheitsrepräsentationen ihrem direkten Zugriff entziehen können. Stattdessen fasse die erinnerungspolitischen Aushandlungen postkolonialer Erinnerungspolitiken als diskursiv präreflexive Prozesse auf (vgl. Diaz-Bone 2006, 73; Kap. 6), was letztlich die Anwendung eines über die Gestaltungsmacht der Akteur:innen hinausweisendes Machtverständnisses begründet (vgl. Kap. 5 und 6). Die Untersuchung der politischen Auseinandersetzung um die Lesarten der Vergangenheit und der Widerstand gegen hegemoniale Ausdeutungen war schon seit Beginn der 1980er Jahre von wissenschaftlichem Interesse. Neben der Entlarvung der imaginierten Traditionsbildungen zur Perpetuierung der ‚Nation‘ haben vor allem marxistische Historiker:innen das Verhältnis von „countermemory“ zur offiziellen Erinnerungspflege als umkämpften Raum der Aushandlung markiert. Obwohl schon in den 1980er Jahren formuliert, halten diese Schriften zentrale Betrachtungsweisen bereit, die ich für meine Arbeit fruchtbar zu machen gedenke. Die in Birmingham wirkende Popular Memory Group vertritt ein relationales Verständnis für die Analyse von dem, was sie als popular memory und als Gegenentwurf zum offiziellen Gedenken verstehen. Dabei gehen sie nicht von einer dichotomen Gegenüberstellung dominanter und marginalisierter Erinnerungen aus, sondern wenden einen weitergefassten Machtbegriff an. Dieser vermag auch diskursive Praktiken nachzuzeichnen, die unterhalb der Ebene einer ‚bewussten‘ Instrumentalisierung liegen (vgl. Erll 2017, 106). Denn ein Rückbezug auf die Vergangenheit ist nur insofern möglich, wie es der soziokulturelle, und damit nicht immer bewusste, Kontext der Gegenwart erlaubt (vgl. Burke 1997, 46). Gegenwärtiges Erinnerungshandeln ist somit immer von den etablierten und gesellschaftlich zirkulierenden Narrationen über die Vergangenheit geprägt (vgl. Schudson 2011, 287–290). Die darin agierenden Akteur:innen passen sich dabei nicht nur diesen etablierten Normerinnerungen an, sondern produzieren gleichzeitig alternative Vergangenheiten. Deutlich wird hieran auch, dass individuelles Erinnern nicht losgelöst von den jeweiligen soziokulturellen Kontexten gedacht werden kann, wie der Soziologe Jeffrey Olick (1999, 346) hervorhebt. Als Folge relativiert dies allerdings auch den Begriff des Gedächtnisses, den ich bisher synonym mit Erinnerungen verwendet habe. Der Terminus Gedächtnis müsse vielmehr als metaphorische Kategorie aufgefasst werden, da sich Gesellschaften als Kollektive nicht „tatsächlich“ erinnerten, wie Erll (2011a, 7) unterstreicht. Eine weitere Schwierigkeit mit dem Gedächtnisbegriff geht außerdem aus dem Umstand hervor, dass dieser im Deutschen stärker auf eine biologische Fähigkeit abzielt, während das englische memory und das französische mémoire sowohl mit ‚Erinnerung‘ als auch mit ‚Gedächtnis‘ übersetzt werden können. Aus

Zum Begriff postkolonialer Erinnerungspolitiken 

 35

diesem Grund, und weil ich die Herstellung von Erinnerungen als Prozess auffasse, werde ich in dieser Arbeit den Begriff der Erinnerung gegenüber dem des Gedächtnisses bevorzugen (vgl. Erll 2017, 6, 96–97). Mittels des hier entworfenen relationalen Politikbegriffs soll eine Relativierung der Objektivitäts- und Neutralitätsvorstellungen vorgenommen werden, wie sie weiterhin von einer westlichen Geschichtsschreibung vertreten wird (vgl. Popular Memory Group 1979–1980, zit. in: Olick et al. 2011, 257). Gerade im Zusammenhang mit postkolonialen Erinnerungspraktiken hat Chakrabarty in seiner Studie Europa als Provinz (2010 [2000]) die Wichtigkeit hervorgehoben, westliche Wissensproduktion zu relativieren und ihre Universalität infrage zu stellen (vgl. Kap. 3.4). Mit der Wahl des Begriffes der Erinnerungspolitik geht es mir zum einen darum, Geschichtsschreibung als einen Bestandteil, einen Modus, und nicht als Gegensatz in der Herausbildung legitimer Erinnerungen zu verstehen. Zum anderen gilt es, die weiterhin gezogene Trennlinie zwischen ‚objektiver Geschichte‘ und ‚identitätspolitischer Erinnerung‘ als umkämpften politischen Raum in der Anerkennung postkolonialer Vergangenheiten zu verstehen. Zusammenfassend treten zwei Aspekte hervor, die in Bezug auf Noras auf den Nationalstaat gerichtetes Projekt der Gedächtniskonstruktion besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die weiterhin transnationale Aktualität der Lieux de Mémoire macht diese zu einem wichtigen Konzept Erinnerungskultureller Wissensproduktion, weswegen wissenschaftlich hervorgebrachte Konzepte und Theorien sowie die entsprechende Themensetzung den akademischen Betrieb als einen erinnerungspolitisch handelnden Akteur markieren. Der globale Erfolg des Konzepts der Erinnerungsorte verdeutlicht dabei auch die Transferleistung wissenschaftlicher Konzepte in andere Kontexte und deren erinnerungspolitischen Einfluss. Als zweiter Aspekt wurde deutlich, dass die ‚Nation‘ als Imagination ein weiterhin wirkmächtiges Konzept bleibt, wie De Cesari und Rigney (2014) treffend in ihrer Einführung zu Transnational Memory schreiben. Obwohl die zunehmende Globalisierung von Erinnerungspraktiken und referenzen beobachtet werden kann, bleibt der Staat der zentrale erinnerungspolitische Adressat in den Auseinandersetzungen um Anerkennung, Entschädigung und Entschuldigung. Aus diesem Grund muss ein transnationales Verständnis entwickelt werden, das die Dynamiken zwischen regionalen, nationalen und globalen Erinnerungsphänomenen in den Blick nimmt und dabei die jeweiligen Einflussnahmen nachzeichnet. Die Entwicklung eines solch transnationalen Verständnisses zur Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken ist Inhalt des nächsten Unterkapitels.

36 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

2.4 E  ine „internationale Moral“ als Ausdruck transnationaler Emotionen? Anhand der global wachsenden Bedeutung der Aufarbeitung immer weiter zurückliegender Vergangenheiten wird deutlich, dass Transnationalität nicht nur als methodisches Vorgehen zu verstehen, sondern auch verstärkt als empirisches Phänomen zu beobachten ist. Das zunehmende Aussprechen von Entschuldigungen, das unsere gegenwärtige postkoloniale Epoche als „Age of Apology“ (Gibney 2008) markiert, verweist auf eine transnationale Synchronisierung von Erinnerungspraktiken. Weltweit werden immer mehr offizielle Gedenkveranstaltungen etabliert, die Musealisierung von Geschichte und Alltagswelt wird zu einem global bestimmenden Phänomen (vgl. Huyssen 2012 [1995]) und verschiedene erinnerungspolitisch agierende Akteur:innen treten mit ihren Reparations-, Repatriierungs- und Restitutionsforderungen an die Öffentlichkeit (vgl. Barkan 2001; Lind 2010; Olick 2007; Savoy 2021). Erinnerungspolitik findet daher nicht nur innerhalb eines nationalstaatlichen Rahmens statt, sondern wurde zu einem anerkannten Mittel internationaler Politik. Die Ausdehnung transnational-wirksamer Erinnerungspraktiken findet jedoch nicht in einem machtfreien Raum statt. Insbesondere die Globalisierung der Holocausterinnerung führte zur Bereitstellung eines Interpretationsrahmens, der den Holocaust als einzigartiges Verbrechen der Geschichte gegenüber ‚anderen‘ Vergangenheiten abgrenzte und als Konsequenz deren Anerkennung verweigerte (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 12). Gleichzeitig verknüpften sich mit der transnationalen Holocausterinnerung auch Narrative über die Entstehung einer „internationalen Moral“ (Barkan 2002) und der Verbreitung der Menschenrechte, die unter Forschenden wie Aktivist:innen die Hoffnung einer „internationalen Solidarität“ aufkommen ließen (vgl. Craps und Rothberg 2011). Auffallend an diesen Beiträgen zur Globalisierung von Erinnerungspraktiken ist dabei der stark normative Anspruch, der an die historische Aufarbeitung gestellt wird. Eine theoretische wie methodische Reflexion über die Rolle von Emotionen wird jedoch weitestgehend vernachlässigt. Das Vorhandensein affektiver Zustände als Reaktion auf historische Bedingungen wird vielmehr als eine ontologische Gewissheit vorausgesetzt bzw. das Evozieren bestimmter Emotionen zum normativen Projekt des Erhalts demokratischer Gesellschaften erklärt. In seinem 2007 erschienenen Buch Politics of Regret erklärt Jeffrey Olick (2007) den Ausdruck von Bedauern zum Imperativ westlicher Staaten für ‚erfolgreiche‘ bilaterale Versöhnungsinitiativen. Untersuchungen in den internationalen Beziehungen kommen zu dem Schluss, dass eine Verweigerung der Aufarbeitung vergangener Verbrechen den Nährboden für ‚Misstrauen‘ und ‚Ängste‘ bereiten würde (Lind 2010, 3). Dass eine versöhnende Politik derart an Bedeutung gewinnen konnte, schreibt der His-

Eine „internationale Moral“ als Ausdruck transnationaler Emotionen? 

 37

toriker Elazar Barkan (2002, 9, 11) vor allem einer Veränderung der „moralischen Rhetorik“ im Verlauf der 1990er Jahre zu. In seinem im Jahr 2002 auf Deutsch erschienenen Buch Völker klagen an führt er die zum Teil erfolgreichen Anerkennungs- und Reparationsforderungen, denen sich der globale Norden ausgesetzt sah, auf die Globalisierung eines gesteigerten moralischen Bewusstseins zurück (vgl. Barkan 2002, 356). Indem er das Mitgefühl der ‚Täter‘ gegenüber den ‚Opfern‘ zur Voraussetzung seiner Beschreibung einer „internationalen Moral“ macht, werden Gefühle zur Grundlage erfolgreicher Restitutions- und Entschädigungszahlungen (vgl. Barkan 2002, 358). Deutlich wird in all diesen Zugängen allerdings nicht, wie Emotionen hergestellt werden, wie diese dem Machterhalt oder ihrer Infragestellung dienen und sich entsprechend diskursiv wandeln. Inwiefern sich die Ausbildung einer „internationalen Moral“ als „Gedächtnisimperativ“ (Sznaider 2016, 11) eines demokratisch fundierten „Nie wieder!“ der Kriegsvermeidung kombinierte, zeigt sich besonders in der Untersuchung zur Globalisierung von Erinnerungstopoi von Daniel Levy und Nathan Sznaider (2001). In ihrer wegweisenden Arbeit Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust heben die beiden Autoren hervor, dass der Holocaust zu einem „negativen Code“ und „Erinnerungsemblem“ (Levy und Sznaider 2011, 225, 229) wurde, auf die in erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen Bezug genommen wird (vgl. Levy und Sznaider 2001, 231, 237). Indem der Holocaust zur „universellen Leiderfahrung“ (vgl. Sznaider 2011) wird, stellt er auch gleichzeitig ein Vokabular bereit, das die Globalisierung von Menschenrechtsnarrativen befördert. Als globale Bezugsgröße fand die Referenz zum Holocaust Eingang in verschiedene UN-Menschrechtskonventionen, die sich folglich in nationalen und lokalen erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen widerspiegeln (vgl. Moses 2011a, 90). Während Levy und Sznaider diese Universalisierung als „kosmopolitisches Gedächtnis“ positiv deuten, geben andere zu bedenken, dass die Erinnerung an den Holocaust entsprechend „im Zentrum unseres gegenwärtigen moralischen und empathischen Bewusstseins“ (Aschheim 2016, 24, Übersetzung S. R.) stehe und in der Konsequenz eine Differenz zum ‚Leiden‘ anderer Betroffenen-Gruppen erzeuge. Steven E. Aschheim spricht in diesem Zusammenhang von einer sich herausgebildeten „political economy of empathy“, bei der der Holocaust zum „symbolic construct of absolute evil“ (Aschheim 2016, 24) in der westlichen Hemisphäre wird. Damit sich marginalisierte Erinnerungsgruppen überhaupt Gehör verschaffen können, versteht William F. S. Miles die Bezugnahme zum Holocaust als eine Art strategischen Funktionalismus, um somit „Unterstützung und Sympathie des Westens“ zu mobilisieren (Miles 2004, 371, Übersetzung S.  R.). Da „[d]er Holocaust […] als einzigartiges Ereignis Vergleichbar“ wird (Levy und Sznaider 2001, 146), macht Miles mit dem „H/holocaust parallelism“ eine Strategie aus,

38 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

die zwischen „[t]he capital/lower case H/h“ unterscheidet. Dabei versuchten „victims of (certain) genocides/holocausts“, Nähe mit oder Abgrenzung zu „dem“ Holocaust herzustellen (Miles 2004, 382). Michael Rothberg hingegen verwahrt sich gegenüber einer als kompetitiv verstandenen Bezugnahme kolonialer Vergangenheiten zum Holocaust. Anstatt also von einem „zero-sum struggle over scarce resources“ (Rothberg 2009, 3) auszugehen, versteht er die Referenz zur Judenverfolgung als eine multidirektionale Bezugnahme, die eine Aktualisierung und Neubewertung postkolonialer Erinnerungen ermöglichen kann (Rothberg 2009, 10–11). In diesem Sinne erhoffen sich Stef Craps und Michael Rothberg (2011, 518) die Etablierung einer „transkulturellen Empathie“, die als normatives Ziel einer global ausgerichteten Erinnerungspolitik das Entstehen einer länderübergreifenden Solidarität und von „Allianzen zwischen verschiedenen marginalisierten Gruppen“ bewirken kann. Dennoch gestehen die beiden Autoren ein: „[T]he atrocities of Europe are perceived as morally more significant than atrocities elsewhere“ (Craps und Rothberg 2011, 518). Entsprechend geht es also nicht nur darum, die Globalisierung und Transnationalisierung des HolocaustGedenkens als dynamisches Ringen um Machtverhältnisse zu verstehen, sondern auch weiter die Frage danach zu stellen, auf welche Weise das ‚Leid der Anderen‘ in transnationalen postkolonialen Erinnerungspolitiken erzeugt und anerkannt wird und inwiefern diesem ‚Leid‘ ein zum Holocaust unterschiedlicher Stellenwert zugeordnet wird. Der dargestellte Forschungsüberblick und die Bedeutung, die dem Evozieren von globalen Sympathien zugeschrieben wird, verdeutlicht die Wichtigkeit, Emotionen als eine zentrale Analysekategorie transnationaler Erinnerungsforschung aufzufassen. Der Historiker Robert Frank (2012) hat einen Artikel vorgelegt, in dem er sich der Betrachtung von Emotionen als globalem, internationalen und transnationalen Phänomen annähert. Dabei unternimmt der Historiker eine erste Periodisierung, um die Entstehung transnationaler Emotionen nachzuzeichnen, wobei er insbesondere für die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts eine zunehmende Transnationalisierung beobachtet. Transnationalität drückt sich dabei für Frank in der Transzendenz des nationalen Raums aus (vgl. 2012, 66). Gerade das Aufkommen der Entwicklungszusammenarbeit ab den 1950/1960er Jahren, Solidarisierungsbekundungen mit den Unabhängigkeitsbewegungen im Globalen Süden, aber eben auch die Verbreitung von Menschenrechtsdiskursen, die einen Niederschlag in der Etablierung supranationaler Organisationen finden, lassen ihn auf die Zunahme transnationaler Emotionen schließen. Möglich sei dies aufgrund des weltweit gestiegenen Austauschs und der Entwicklung diverser Kommunikationstechnologien, was er als „système mondial de communication des émotions“ beschreibt (Frank 2012, 69). Gleichsam bedeutet für Frank Transnationalisierung auch das Überwinden nationaler Identitäten und die

Eine „internationale Moral“ als Ausdruck transnationaler Emotionen? 

 39

Identifikation mit den ‚Anderen‘. Daraus schließt er, dass die weiterhin national verorteten Bürger:innen sich nur dann supranationalen Gemeinschaften wie der EU als zugehörig empfinden können, wenn diese Zugehörigkeit auch affektiv vermittelt ist (vgl. Frank 2012, 66). Auch Franks Ausführungen deuten auf die mit der Transnationalisierung verbundene Hoffnung, Grenzen und Nationen zu überwinden. De Cesari und Rigney (2014, 12) schreiben in ihrem Text, dass die Transnationalisierung von Erinnerungen immer auch mit der Vorstellung einherging, eine „internationale Moral“ (Barkan 2002) auf den Grundpfeilern der Menschenrechte befördern zu können. Der Aufruf zu einem transnationalen „Nie wieder!“ gestaltet sich darin als Appell, eine transnationale Erinnerungsgemeinschaft zu kreieren, die gleichsam auf moralischen Prämissen fußt und Emotionen wie ‚Schuld‘ und ‚Scham‘, aber auch – positiver gewendet – ‚Empathie‘ für die ‚Opfer‘ mobilisiert. Solche Überzeugungen folgen allerdings wenig machtkritisch einer ‚westlichen Moral‘ und dem darin angelegten Humanismus-Verständnis, weswegen die Erinnerungskulturelle Forschung das Evozieren transnationaler Emotionen nicht als normatives Projekt zur Generierung weltumspannender Solidaritäten missverstehen sollte. Stattdessen gilt es, die Bedeutung von Emotionen in der Herausbildung globalisierter Erinnerungspraxen als diskursive Praxis zu analysieren, um somit bestehende transnationale Gefühlsordnungen aufzudecken (vgl. hierzu Kap. 4.1). Um eine transnationale Betrachtungsweise auf emotionale Diskurse in postkolonialen Erinnerungspolitiken anzuwenden, müssen nationalstaatliche Erinnerungspolitiken zunächst als Teil eines globalen Systems verstanden werden. Erinnerungspolitisch etablierte ‚Standards‘ und medial vermittelte Narrative zirkulieren zwischen dem Globalen und dem Lokalen, wobei sie sich entsprechend transformieren. Die Unterzeichnung von UN-Konventionen zeitigt somit genauso Konsequenzen auf nationalstaatlicher oder lokaler Ebene wie Produkte der Kulturindustrie. Zu denken wäre beispielsweise an den Erfolg der US-amerikanischen Serie Holocaust in den 1970er Jahren (vgl. Eder 2020; Hammerstein 2019), die eine „Amerikanisierung“ des Holocaustgedenkens beförderte (Sznaider 2001, 23). Obwohl kulturelle Erzeugnisse gleichfalls als wichtiger Faktor erinnerungspolitischen Handelns aufgefasst werden, werde ich dennoch den Begriff des Transnationalen gegenüber dem Transkulturellen bevorzugen. Dabei soll der Nationalstaat nicht erneut als ‚Container‘-Variable betrachtet, sondern in einem dynamisch-relationalen Verhältnis zu globalen und auch lokalen Entwicklungen einbezogen werden. Obwohl die Dynamiken im Zentrum der Arbeit stehen, bleibt der Nationalstaat mit seinen Regierungen trotzdem der Hauptadressat erinnerungspolitischen Handelns, denn nur von staatlicher Seite können die offizielle Anerkennung und Entschuldigung für koloniale Verbrechen erfolgen – mit den entsprechenden materiellen und symbolischen Konsequenzen. Im Anschluss

40 

 Transnationale Erinnerungspolitiken in postkolonialen Zeiten

an De Cesari und Rigney (2014, 4) gehe ich von einem Transnationalismusverständnis aus, „that recognizes the significance of national frameworks alongside the potential of cultural production both to reinforce and to transcend them“. In diesem Sinne gilt es danach zu fragen, auf welche Arten und Weisen nationalstaatliche Grenzen in postkolonialen Erinnerungspolitiken an Bedeutung gewinnen oder verlieren. Wie De Cesari und Rigney mit Verweis auf Anderson (2005 [1983]) ganz richtig schreiben, ist der Nationalstaat zwar eine imaginierte Einheit, dennoch handelt es sich bei dieser um eine legal definierte mit einer entsprechenden Wirkmacht. Das ‚Nationale‘ ist eine weiterhin relevante Bezugsgröße in der Herstellung von Erinnerungen und identitären Anrufungen, auch wenn diese in ihrer Multiplizität und Temporalität verstanden werden sollten. Statt also die ‚Nation‘ zu unterminieren, kann gerade die Referenz zum Globalen diese sogar verstärken und zum Ankerpunkt für die Ausbildung von Identität und Solidarität machen, wie es bei Rigney und De Cesari heißt (2014, 7). Transnationale Interaktionen können demnach „nationalisiert“ werden und folglich den grenzübergreifenden Bezugsrahmen wieder de-thematisieren. Entsprechend können auch transnational zirkulierende Emotionen für nationalstaatliche Belange umgeschrieben werden.

2.5 Z  usammenfassung und Ausblick: Emotionen und postkoloniale Erinnerungspolitiken transnational denken Die Relationalität, das Grenzen Überwindende oder Verstetigende, soll als transnationale Verflechtung analysiert werden. Diese Form des Vergleichs versteht sich als produktiver Prozess in der Generierung von Wissen, der neue Kategorien schafft und das zu analysierende Material in ein Verhältnis zueinander setzt, das über die nationalstaatlichen Grenzen hinausweist. Angesichts der Auswirkungen des Kolonialismus auf die postkolonialen europäischen Gesellschaften ist dies eine notwendige Perspektiverweiterung (vgl. Conrad und Randeria 2002; Cooper und Stoler 1997; Kalter und Rempe 2011; Stoler 2002). Insbesondere die aktuelle Verhandlung von Restitutionen und die Rolle von Museen als ethnografische Sammlungsinstanzen sowie Fragen nach den Möglichkeiten des Reparierens und Repatriierens kolonialer Vergangenheit (vgl. Kößler 2008; Levy und Sznaider 2001; Rothberg 2009; Zimmerer 2007) verweisen auf die gesamteuropäische Bedeutung einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in den ehemaligen Kolonialreichen. Mittels einer transnational-vergleichenden Betrachtungsweise für die Analyse postkolonialer Erinnerungspolitiken wird der Blick erweitert, um die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit nicht als größtenteils ‚nationale‘ Geschich-

Zusammenfassung und Ausblick 

 41

ten fortzuschreiben (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 3). In meinem Anspruch, den sogenannten „methodologischen Nationalismus“ (De Cesari und Rigney 2014, 2) nicht zu reproduzieren, verdeutlicht sich allerdings auch die Schwierigkeit, erneute Grenzziehungen, mitunter durch die Bezugnahme auf die globale Ebene, und die damit verknüpfte Hervorbringung nationaler Subjekte auszublenden. Diese Arbeit bewegt sich somit innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen der Mitwirkung einer möglichen Einschreibung kolonialer Vergangenheiten in nationalstaatliche Narrative und der Inszenierung eines Europas, das sich als transnationales Fortschrittsnarrativ entwirft. Anhand dieses Problemaufrisses verdeutlicht sich die Notwendigkeit eines kritisch-reflektierten Umgangs mit meiner Positionierung als Wissenschaftlerin. Während ein Großteil der Erinnerungsforschung einen stark normativen Anspruch hat, der mit dem Aufruf zu einer „transkulturellen Empathie“ (Craps und Rothberg 2011) passend illustriert wird, haben postkoloniale Untersuchungen wiederholt auf die asymmetrischen und hierarchischen Machtverhältnisse zwischen der westlichen und nichtwestlichen Welt aufmerksam gemacht. Aufbauend auf der postkolonialen Theoriebildung bleibt die Frage zu stellen: Wie lässt sich die Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

3 E  rinnerungspolitiken provinzialisieren? Postkolonialismus als Intervention in die Erinnerungsforschung Das Auslöschen der vorkolonialen Zeit wird in den antikolonialen Schriften Aimé Césaires (2004 [1955]) und Frantz Fanons (1981 [1961]) wiederholt als Legitimierung kolonialer Herrschaftsansprüche benannt (vgl. Rothberg 2013). Obwohl das Vergessen-Machen als ganz wesentlicher Mechanismus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in den postkolonialen Studien gilt, haben diese, so Rothberg (2013, 261), bisher weitestgehend auf die Nutzung erinnerungstheoretischer Begriffe verzichtet. Dabei hatte der Anthropologe Richard P. Werbner (1998, 15) in der Einführung zum Sammelband Memory and the Postcolony proklamiert, dass es Aufgabe der Beiträge sei, eine Lokalisierung von „politicized memory at the very heart of postcolonial studies“ vorzunehmen. Die Erinnerungsforschung hat sich erst seit den 2000er Jahren mit dem transnational und transcultural turn verstärkt den ehemaligen Imperien zugewandt, wie beispielsweise Rothbergs Multidirectional Memory (2009) verdeutlicht. Trotz der historischen Gleichzeitigkeit des Auftretens beider Forschungsfelder in den 1970er und 1980er Jahren vermutet der Literaturwissenschaftler Bryan Cheyette (2018, 1236), dass das Entstehen der Memory Studies im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Holocaust eine strenge Abgrenzung der beiden Forschungsperspektiven voneinander verursachte. Gerade jedoch in Bezugnahme auf das sich in den 1990er Jahren durchsetzende globale Holocaust-Gedächtnis (vgl. Levy und Sznaider 2001) begründet sich schließlich die aktivistische wie akademische Zuwendung zu den kolonialen Vergangenheiten (vgl. Miles 2004; Rothberg 2013). Vor allem in Deutschland, dessen Bevölkerungszusammensetzung im Gegensatz zu Frankreich weniger durch postkoloniale Migrationsbewegungen gekennzeichnet ist, entwickelte sich eine postkoloniale Spurensuche. Bundesweit haben sich dazu zivilgesellschaftliche Initiativen gegründet, um die verschüttete koloniale Vergangenheit im gegenwärtigen Raum sichtbar zu machen (vgl. Göttsche 2019, 5). Insbesondere gedächtnistheoretische Konzepte, wie Pierre Noras Lieux de Mémoire (1984a), die in den 1980er Jahren den französischen Kolonialismus noch großzügig aussparten, beförderten die Nutzbarmachung der Erinnerungsforschung zur Betrachtung der wachsenden Bedeutung der Kolonialgeschichte in der Gegenwart (vgl. Achille et al. 2020; Zimmerer 2013). Mithilfe der Verknüpfung von postkolonialer Theorie und Erinnerungsforschung werde ich in diesem Kapitel analytische Hilfsmittel ableiten, um die Mechanismen der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten in europäischen Kontexten zu untersuchen. Basierend auf der postkolonialen Annahme, dass https://doi.org/10.1515/9783111018683-003

Erinnerungspolitiken provinzialisieren? 

 43

der Kolonialismus nicht nur die (ehemals) kolonisierten Gesellschaften transformierte, sondern gleichwohl die europäischen, kann die Betrachtung von auf den Kolonialismus bezogenen Erinnerungspolitiken nur als transnationale Analyse erfolgen. Obgleich der Schwerpunkt dieser Arbeit auf den europäischen Erinnerungspolitiken liegt, werden abhängig vom jeweils diskursiv hervorgebrachten Gegenstand neben den deutsch-französischen Verstrickungen auch die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien Algerien und Namibia thematisiert. Ziel dieser Arbeit ist es, postkoloniale Theorie nicht nur zur deskriptiven Markierung eines bestehenden Ungleichgewichts zwischen Nord und Süd und der folglich fehlenden Erinnerung an den Kolonialismus in den westlichen Gesellschaften zu nutzen. Stattdessen sollen postkoloniale Konzepte auf europäische Erinnerungspolitiken angewendet werden, um sowohl den historischen Kolonialismus als auch die nunmehr angestoßenen Erinnerungsprozesse als Ländergrenzen überschreitende Phänomene zu kennzeichnen. Dabei wird der Nationalstaat als wichtiger Adressat erinnerungspolitischer Forderungen jedoch weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen. Das folgende Kapitel strukturiert sich wie folgt: In einem ersten Schritt werde ich mich dem Begriff der Postkolonialität zuwenden und erarbeiten, wie sich dieser im Kontext postkolonialer Erinnerungspolitiken auffassen lässt (Kap. 3.1). Daran schließt sich die Frage nach einer möglichen Provinzialisierung (Chakrabarty 2008 [2000]) der in der Erinnerungsforschung zur Anwendung kommenden Konzepte an. Um Möglichkeiten eines solchen Provinzialisierung aufzuzeigen, werden in diesem Kapitel drei erinnerungspolitisch relevante Analyseachsen gewählt, die mithilfe der angestoßenen Reflexionen postkolonialer Theoriebildung für die Erinnerungsforschung nutzbar gemacht werden. Erstens wird eine Perspektive auf das produktive Vergessen-Machen der kolonialen Vergangenheit in den europäischen Gesellschaften entwickelt. Als Politiken des Vergessens verweisen diese auf die spezifischen Machtverhältnisse, die auch in postkolonialen Erinnerungsprozessen deutlich werden. Darauf aufbauend wird in dieser Arbeit die diskursive Rekonstruktion ‚sozialen Vergessens‘ zu einer Analysekategorie gemacht, um somit die Debatten über die gegenwärtige „koloniale Amnesie“ rekonstruieren zu können (Kap. 3.2). Anknüpfend an die in den Politiken des Vergessens inhärenten Machtasymmetrien werden in einem zweiten Schritt Bhabhas (2000 [1994]) Konzept der Hybridität mit Rothbergs (2009) multidirektionalen Bezugssystem zusammengedacht, um daraus die in dieser Arbeit zur Anwendung kommende transnationale Vergleichsperspektive abzuleiten. Denn nur in einer transnational erweiterten Perspektiveinnahme können die Diskontinuitäten und Brüche, die das Erinnern und Vergessen des Kolonialismus kennzeichnen, aufgedeckt werden (Kap. 3.3). Die Untersuchung von (Dis-)Kontinuitäten sowie Linearitäten und Brüchen verweist auf das gemeinsame Interesse der postkolonialen

44 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

Studien und der Erinnerungsforschung an der Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als dritte Analyseachse folgt daher eine kritische Diskussion zu Konzeptualisierung von Zeitlichkeit (Kap. 3.4). Mittels postkolonialer Zugänge soll das westlich dominante Zeitverständnis relativiert und eine relationale Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken in Europa ermöglicht werden. Den Abschluss bildet in Kapitel 3.5 der Ausblick auf die Bedeutung von Emotionen in postkolonialen Erinnerungspolitiken und die Frage nach der Möglichkeit ihrer Provinzialisierung, die dann im vierten Kapitel konkretisiert wird.

3.1 P  ostkolonialität und die Verhandlung kolonialer Erinnerungen Unter dem Begriff „Postkolonialismus“ vereinen sich unterschiedliche, teils widerstreitende theoretische Konzepte. Die einführende Literatur in die postkoloniale Theorie drückt zunächst ihre Einigkeit darüber aus, dass der Begriff postkolonial nicht auf die Beschreibung eines tatsächlich nachkolonialen Zustands abzielt, um die koloniale Periode als eine abgeschlossene Epoche zu behandeln. Vielmehr weist der Begriff auf die bis in die Gegenwart fortwirkenden kolonialen Kontinuitäten, die als Fortführung eines ökonomischen Neokolonialismus die Bedingungen schaffen, unter denen die Ressourcen der ehemaligen Kolonien weiterhin ausgebeutet werden und sich rassistische Imaginationen in die Praktiken der europäischen Grenzregime einschreiben (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 16). Diese im Begriff angelegte Verhandlung von Zeitlichkeit, die das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beleuchtet, ist insbesondere für die Erinnerungsforschung zentral. Dabei lassen sich jedoch zwei gegenläufige Tendenzen beobachten: Zum einen steht postkoloniales Denken für die Weigerung, Zeitlichkeit als Abfolge sich linear vollziehender Fortschrittsnarrationen zu verstehen. Zum anderen bleibt die Begriffswahl der Linearität zeitlicher Abfolgen verhaftet, weil Postkolonialität die Existenz einer nachkolonialen Phase weiterhin impliziere (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 286). Der Historiker Martin Wiener (2013, 20) kritisiert vor allem, dass die Feststellung einer „kolonialen Kontinuität“ eine historisch allzu vereinfachende Perspektive auf die Bedeutung der Vergangenheit in der Gegenwart anbieten würde. Als weiterer Punkt wird außerdem das Festhalten an der Designation des „Kolonialen“ kritisiert, welches sich an einer westlichen Perspektive ausrichte und die Annahme einer historischen Tabula rasa für die präkoloniale Zeit fortführe (vgl. Rothberg 2013, 360). Statt das lineare Zeitverständnis grundsätzlich infrage zu stellen, würden die Erfahrungen der ‚Anderen‘ ungebrochen der europäischen Zeitvorstellung untergeordnet (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 286). Diese

Postkolonialität und die Verhandlung kolonialer Erinnerungen 

 45

Ambiguität im Umgang mit der Kategorie Zeit ermöglicht allerdings Anknüpfungspunkte für die Erinnerungsforschung, indem das gegenwärtige Nachwirken kolonialer Hinterlassenschaften mit erinnerungstheoretischen Herangehensweisen betrachtet wird. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung eines Arbeitsbegriffs des Postkolonialen, den ich als epistemologische Haltung (vgl. Wedl und Wrana 2014, 479) im Forschungsprozess nutzbar machen werde. Diese Haltung ist deswegen wichtig, da Postkolonialität nicht nur als analytisches Vorgehen verstanden, sondern auch als kritische Intervention und Widerstandshandlung gegen einen akademischen und alltagsgebräuchlichen Eurozentrismus in Stellung gebracht wird. Folglich unterstreicht Stuart Hall in seinem oft zitierten Essay „Wann war der Kolonialismus?“ (1997) nicht nur das Postulat, dass mithilfe des Postkolonialismus das Nachwirken des Kolonialen in die Gegenwart abgebildet wird. Vielmehr beschreibt der Begriff für ihn eine politische Intervention, die die „Kolonisation“ als Teil eines im Wesentlichen transnationalen und transkulturellen „globalen“ Prozesses neu [liest] – und […] ein von Dezentrierung, Diaspora-Erfahrung oder „Globalität“ geprägtes Umschreiben der früheren imperialen Großgeschichten mit der Nation als Zentrum [bewirkt]. (Hall 1997, 227)

Hall entwirft somit eine Lesart von Postkolonialität, die ein bewusstes ‚Umschreiben‘ dominanter Geschichten vorsieht. Bei Dhawan und Castro Varela (2015, 17) heißt es daher auch, dass Postkolonialität als „ein Set diskursiver Praktiken [aufgefasst werden kann], die Widerstand leisten gegen Kolonialismus, kolonialistische Ideologien und ihre Hinterlassenschaften“. Das Verständnis postkolonialer Forschung als diskursiver Intervention hat bei Kritiker:innen oft zu der Einschätzung geführt, dass das koloniale Erbe für jedwede gegenwärtige Ungleichheitsfeststellung als Erklärung bemüht würde (vgl. Wiener 2013, 20–21). Gleichzeitig würde die Unterteilung in colonizer und colonized aufrechterhalten, statt diese durch den Kolonialismus etablierten Dichotomien des „kolonialen Diskurses“ zu dekonstruieren (vgl. Albrecht 2020, 2–3; Mbembe 2016 [2000]). In der Konsequenz verfestigte sich die unversöhnliche Gegenüberstellung des Westens gegenüber dem „Rest“ der Welt (vgl. Hall 1992). Kritik wird allerdings auch von Wissenschaftler:innen formuliert, die sich dekolonialer Zugänge bedienen. In den letzten Jahren trat dabei am deutlichsten die politische Forderung nach einer Dekolonialisierung westlicher Universitäten hervor (vgl. Bhambra et al. 2018a). Insbesondere die häufige institutionelle Verortung postkolonialer Theoretiker:innen an den Universitäten des Globalen Nordens sowie der hohe intellektuelle Anspruch ihrer Texte, der westliche Wissenshierarchien reproduziere (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 286–289),

46 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

standen im Fokus der Kritik. Dekoloniale Theoretiker:innen werfen der postkolonialen Strömung vor, ein rein deklaratives Vorgehen zur Feststellung des hierarchischen Nord-Süd-Gefälles zu verfolgen. Dekolonialität wird demgegenüber als Möglichkeit eines „Delinking“ (Mignolo 2007, 453) entworfen, das Mignolo zum Gegensatzpaar mit der in den 1990er Jahren von Anibal Quijano geprägten Kolonialität entworfen hat. Kolonialität zeichnet die Kontinuitäten kolonialer Machtstrukturen am Beispiel Mittel- und Südamerikas nach und verknüpft diese insbesondere mit der Verbreitung des Kapitalismus (vgl. Mignolo 2007, 451). Mignolo formuliert es als ein Ziel dekolonialer Zugänge, „the re-construction and the Restitution of silenced histories, repressed subjectivities, subalternized knowledges and languages“ vorzunehmen (Mignolo 2007, 451). Aber auch als postkolonial verstandene Theoretiker:innen, wie etwa Homi Bhabha (2000 [1994]), Gayatri Chakravorty Spivak (2011 [1988]) und Achille Mbembe (2016 [2000]) – um eine Auswahl zu nennen – geht es darum, die Unsichtbarkeit nichtwestlichen Wissens und die Unmöglichkeit eines Zugangs zu einer präkolonialen Zeit aufzuzeigen. Dhawan und Castro Varela (2015, 318–319) vertreten daher die Ansicht, dass deund postkoloniale Schriften inhaltlich oft nicht viel in ihrem Anspruch trennt, analytisch Kolonialismus und Rassismus zu Forschungsgegenständen zu erklären und diese dabei als konstitutiv für die Entwicklung der Moderne aufzufassen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten haben sich die beiden Schulen in Konkurrenz und Abgrenzung zueinander positioniert und entwickelt. Diese wiederholt vorgetragenen interventionistischen Anliegen post- wie dekolonialer Ansätze erfordern aufgrund ihrer Uneinheitlichkeit die Entwicklung einer epistemologischen Haltung im Forschungsprozess (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 286). Aufgrund dieser interventionistischen Ausrichtung leitet sich die Frage ab, inwiefern eine westlich situierte Studie zu europäischen Erinnerungspolitiken den von einem Großteil der post- und dekolonialen Theoriebildung verfolgten Ansprüchen folgen sollte oder darf. Hilfreich ist dabei das Insistieren post- und dekolonialer Perspektiven auf eine kritische Reflexion der eigenen Positionalität in Forschungsprozessen (vgl. Bhambra et al. 2018b, 2). Als forschende Person kann demnach weder ein objektiver Standpunkt eingenommen noch kann das wissenschaftliche Schreiben außerhalb der etablierten Machtverhältnisse vollzogen werden, die es gleichzeitig aufzudecken wünscht (vgl. Feustel et al. 2014). Insbesondere als ‚weiße‘ Wissenschaftlerin, die im akademischen Betrieb westlicher Universitäten verankert ist, deuten sich die Grenzen einer möglichen Rekonstruktion subalterner Wissensbestände an, wie Mignolo (2007, 451) es als dekoloniale Praxis fordert. Denn die Herstellung von Sichtbarkeit nicht westlicher Perspektiven ist vor allem für dekoloniale Positionen nicht ausreichend. Vielmehr müssten neue Arten des Denkens etabliert werden, die die Möglichkeiten für alternative politische Praktiken eröffnen (vgl. Bhambra et al. 2018b, 2).

Postkolonialität und die Verhandlung kolonialer Erinnerungen 

 47

Allerdings würde es eine umfassende Forschungs- und Übersetzungstätigkeit erfordern, um Literatur zugänglich zu machen, die bisher nicht in den westlichen Kanon aufgenommen wurde. Als Doktorandin erfordert meine Position im westlichen Wissenschaftsbetrieb außerdem die Bezugnahme auf einen schon etablierten Wissensstand. Weiterhin setzt eine Kanonisierung ‚alternativen‘ Wissens auch die Kenntnis nicht westlicher Sprachen voraus, um neue Perspektiven erarbeiten zu können. Diese ‚Unüberwindbarkeit‘ der eigenen Positionalität markiert somit die Grenzen einer als Intervention verstandenen dekolonialen Forschung. Gurminder K. Bhambra, Dalia Gebrial und Kerem Nişancıoğlu (2018b, 3) führen Dekolonisierung in ihrer Arbeit allerdings als eine Provinzialisierung westlicher Wissensformen ein, die aus der Mitte des ‚Zentrums‘ heraus die privilegierte Stellung der westlichen Akademie in der Wissensproduktion problematisiert und gleichsam „from within the imperial Metropoles“ ausgehende Strategien einer Dekolonisierung betrachtet. Daran anknüpfend erachte ich den Begriff der Provinzialisierung als zur Realisierung einer postkolonialen Perspektiverweiterung auf europäische Erinnerungspolitiken geeigneter. Insbesondere an die als postkolonial bezeichnete Theoriebildung anknüpfend lassen sich die schon identifizierten Kontaktpunkte zwischen der Erinnerungsforschung und postkolonialen Untersuchungen am besten aufgreifen (vgl. hierzu Rothberg 2013). Die Integration postkolonialer Theorien in die Erinnerungsforschung ist weiterhin ein noch recht junges Unterfangen, bei dem allerdings zunehmend neue Publikationen entstehen (vgl. Achille et al. 2020; Albrecht 2020; Göttsche 2019; Zimmerer 2013). Michael Rothberg hat sich in dem Essay „Remembering back“ (2013, 360–361) den gemeinsamen Schnittmengen der postkolonialen Theorie mit der Erinnerungsforschung zugewandt. Provinzialisierung bedeutet dabei für ihn vor allem aufzuzeigen, dass die Erinnerungsforschung mit ihren Konzepten zu einem großen Teil zur Aufrechterhaltung imperialer Vorstellungswelten beigetragen und folglich postkolonialen Fragestellungen erst verspätet Raum gegeben hat. Die „Spuren der nicht dominanten Vergangenheiten“ wurden lange Zeit ignoriert und deren Aufdeckung wurde stattdessen einem auf den Holocaust ausgerichteten Eurozentrismus untergeordnet (Rothberg 2013, 364, Übersetzung S. R.). In ihrem Text „Travelling Memory“ unterstreicht Erll (2011a) daher das Potenzial einer Provinzialisierung der Erinnerungskulturenforschung, um über die gängigen europäischen Methoden und Theorien hinauszuweisen und etablierte Grundannahmen infrage zu stellen (vgl. auch Högerle und Wegner 6.11.2015). Bezug nehmend auf Chakrabartys Studie Provincializing Europe (2000) leitet Erll (2011a, 16) aus dem im westlichen Denken verbreiteten Zusammenhang von „Identität-durch-Erinnerung“ die Notwendigkeit einer Provinzialisierung ab. Diese Gedanken weiterführend, ist es Gegenstand dieses Kapitels, über eine deskriptive Beschreibung gegenwärtiger Ungleichheitsverhältnisse hinauszuge-

48 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

hen und Analyseachsen zur Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken zu entwerfen, um eine Provinzialisierung erinnerungstheoretischer Konzepte anzustoßen. Im Folgenden wird die erste der entwickelten Analyseachsen zur Untersuchung der Mechanismen ‚sozialen Vergessens‘ eingeführt.

3.2 „ Faites fonctionner l’oublioir!“ Zum postkolonialen Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Vergessen Mehr noch als das Erinnern steht zunächst das erzwungene Vergessen der Vergangenheit im Fokus der antikolonialen Rhetorik in der Zeit der Dekolonisierung. Frantz Fanons viel rezipiertes Buch Die Verdammten dieser Erde (1981 [1961]) vereint eine Analyse des kolonialen Systems mit dem Aufruf zum antikolonialen Widerstand. Als Chronist des algerischen Befreiungskriegs (vgl. Fanon 2011 [1959]) ist der auf Martinique geborene und in Frankreich ausgebildete Fanon ein wichtiger transnational agierender Protagonist, der mit der postkolonialen Wende eine über den frankophonen Kolonialismus hinausreichende Bedeutung erlangt hat (vgl. Lee 2015, 19–20). In den Verdammten dieser Erde macht Fanon die selbstermächtigte Aneignung und Ausdeutung der eigenen Geschichte zur Grundlage der Hervorbringung einer ‚nationalen Kultur‘, die mit dem Befreiungskampf einhergehen müsse. Gleichzeitig macht er deutlich, dass die koloniale Geschichtspolitik eine grundlegende Strategie zur Rechtfertigung der Unterdrückung ist. Fanon schreibt: Er [der Kolonialismus, Anm. S. R.] gibt sich nicht damit zufrieden, das Volk in Ketten zu legen, jede Form und jeden Inhalt aus dem Gehirn des Kolonisierten zu vertreiben. Er kehrt die Logik gleichsam um und richtet sein Interesse auch auf die Vergangenheit des unterdrückten Volkes, um sie zu verzerren, zu entstellen und auszulöschen. (1981 [1961], 178)

Der Kolonialismus führte demnach eine „koloniale Selbstentfremdung“ herbei, bei der die präkoloniale Zeit mit Barbarei und folglich mit uniformer Geschichtslosigkeit gleichgesetzt wird (Fanon 1981 [1961], 178–179). Für die antikolonialen Theoretiker kann die staatliche Unabhängigkeit nur erzielt werden, wenn diese mit einer kulturellen Befreiung einhergeht. Rothberg (2013, 365), der in seinem Artikel vor allem auf Frantz Fanon, Aimé Césaire und auch Amilcar Cabral eingeht, deutet die Bedeutung, die der Vergangenheit beigemessen wird, als einen „struggle over collective memory“. Für die antikolonialen Autor:innen steht die „Suche nach einer nationalen Kultur“ nicht nur in Opposition zum Kolonialismus der europäischen Mächte, sondern bildet gleichzeitig die Grundlage der entstehenden dekolonisierten Gesellschaften (Rothberg 2013, 365).

„Faites fonctionner l’oublioir!“ 

 49

Mit dem Abschluss der Dekolonisierungsphase schwindet die antikoloniale Rhetorik und stattdessen kommt Kritik an den nationalistischen Tönen der Unabhängigkeitsbestrebungen auf. Allerdings wird auch deutlich, dass die formale Unabhängigkeit nicht zur gewünschten Befreiung von kolonialen Strukturen geführt hat. Die aufkommenden postkolonialen Theorien interessieren sich daher stärker für die Langlebigkeit des „kolonialen Diskurses“, der über die „formale Kolonisierung“ hinaus Bestand hat (Rothberg 2013, 366). Postkolonial engagierte Autor:innen sehen ihre Aufgabe daher auch in der Sichtbarmachung der „unausgesprochenen, nicht dargestellten Vergangenheiten“ (Bhabha 2000 [1994], 12), derer sich bemächtigt werden muss, um sie schließlich in den hegemonialen Geschichtsdiskurs einschreiben zu können. Postkoloniale Erinnerungspolitiken lassen sich daher am ehesten als Politiken des Vergessens beschreiben, was u. a. an der späten ‚Wiederentdeckung‘ der antikolonialen Grundlagentexte ab den 1990er Jahren deutlich wird. Obwohl beispielsweise Fanons Streitschrift, mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre ausgestattet, große Popularität in der antikolonialen Linken genoss (vgl. Lee 2015, 148–149), wurde seine Arbeit nicht in den Kanon kollektiver Erinnerung aufgenommen. Gleiches gilt für Aimé Césaires Discours sur le colonialisme (2004 [1955]), der mittlerweile zu einem der wichtigsten Referenzen postkolonial inspirierter Arbeiten in der Erinnerungsforschung zählt (vgl. Albrecht 2020; Göttsche 2019; Rothberg 2009, 2013). Rothberg (2009) hat Césaires Text ein umfangreiches Kapitel in seiner Studie Multidirectional Memory gewidmet, in der er die im Discours unternommene Verflechtung kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt als Beispiel seines Verständnisses von Multidirektionalität anführt. Multidirektionalität meint dabei „the interaction of different historical memories [which] illustrates the productive, intercultural dynamic“ (Rothberg 2009, 3). Das Herstellen von Querverweisen und der Vergleich unterschiedlicher Vergangenheiten sind, laut Rothberg, ein wesentlicher Bestandteil Erinnerungskultureller Praktiken, die letztendlich eine Transformation der Inhalte kollektiven Erinnerns zur Folge haben. Die Besonderheit an Césaires Text findet sich in den hergestellten Bezügen zwischen dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus. Als choc en retour bezeichnet Césaire (2021 [1955], 27) den Mechanismus, mit dem die angewendete Gewalt in den Kolonien eine gleichzeitige „Dezivilisierung“ in den Kolonialmetropolen zur Folge hat. Gewalt und ‚Barbarei‘ würden demnach nicht nur im ‚Experimentierfeld‘ Kolonie entstehen, sondern wurden von Europa in die kolonialisierten Gesellschaften verbracht, um dort transformiert auch auf europäischem Boden Anwendung zu finden. Rothberg versteht Césaires „Bumerangeinschlag“, wie choc en retour ins Deutsche übersetzt wurde (Césaire 2021 [1955], 28), als eine Provinzialisierung Europas avant la lettre (Rothberg 2009, 70). Indem Césaire ‚Zivilisierung‘ und ‚Barbarei‘ als gleichzeitig existierende Phänomene in Europa

50 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

verortet, führt er eine ‚doppelte Temporalität‘ ein, die das europäische Fortschrittsnarrativ aufbricht und koloniale Gewalt als regressives Moment markiert (vgl. Rothberg 2009, 80). Darin liegt für Rothberg die Besonderheit an Césaires Zugang: He forces an encounter between center and periphery, past and present, culture and violence. His model for this encounter is a double one. That is, […], the encounter he stages between genocide and colonialism ultimately serves to usher in another encounter: that of Europe with itself. (Rothberg 2009, 73)

Césaire, der seine politische Schrift Über den Kolonialismus nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formulierte, macht sowohl die gemeinhin verbreitete Akzeptanz, mit der der ‚koloniale Diskurs‘ in der französischen Gesellschaft fortgeführt wird, als auch den grassierenden Rassismus zum Gegenstand seiner Polemik. Darin skandalisiert der Mitbegründer der Négritude-Bewegung die rassistischen Kommentare französischer Politiker:innen und Journalist:innen, die den Kolonialismus sowie die Unterordnung ‚Schwarzer‘ Menschen und People of Color rechtfertigen. Die Vorstellungen einer progressiven Zeitlichkeit bricht er mithilfe der Darstellung historischer Überkreuzungen auf. Für Rothberg liegt somit die Multidirektionalität in Césaires Verknüpfung von kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt begründet (vgl. Rothberg 2009, 79), wie folgendes Zitat eindrücklich veranschaulicht: [W]as er [der christliche Bourgeois, Anm. S.  R.] Hitler nicht verzeiht, [ist] nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen […], nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren. (Césaire 2021 [1955], 14, kursiv im Original)

Césaires Text als antikoloniale Antwort auf die kolonialen Zustände der 1950er Jahre in Frankreich verdeutlicht hier die rassifizierende Herstellung von Differenz. Um diese Differenzierung von Leiderfahrungen zu erreichen – denn schließlich ist es „das Verbrechen gegen den weißen Menschen“ (Césaire 2021 [1955], 14, kursiv im Original), das der Bourgeois Hitler nicht verzeihen könne –, muss die nationalsozialistische Vergangenheit von der kolonialen Gegenwart ‚entkoppelt‘ und folglich als voneinander abgegrenzte Geschichten entworfen werden. Césaires choc en retour holt die Verstrickungen der separierten Gewaltgeschichten zurück ins Bewusstsein. Letztendlich, insistiert Césaire, arbeite „die Kolonisation darauf hin […], den Kolonisator zu entzivilisieren, ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu verrohen“ (Césaire 2021 [1955], 27). Dieser Prozess bildet den

„Faites fonctionner l’oublioir!“ 

 51

Vorlauf und die Grundlage für die Gewalt, die in Europa im Zweiten Weltkrieg zur Anwendung kommt. Das europäische Kolonialprojekt müsse daher als Wechselverhältnis mit der Ausübung von Gewalt in Europa betrachtet werden. Obwohl die französische Gesellschaft die Adressatin seiner Ausführungen ist, ist es für eine transnational verstandene Erinnerungspolitik wichtig, dass Césaire den Nationalsozialismus in einem größeren europäischen Rahmen verortet – in dem auch Frankreichs Verantwortung für die Verfolgung von Jüd:innen während des Vichy-Regimes aufscheint. Die von Césaire beschriebene Persistenz rassistischer Kolonialdiskurse im Nachkriegsfrankreich lässt sich für ihn nur mittels einer Separierung von Kolonialismus und Nationalsozialismus nachvollziehen. Nur indem diese Verbindung ‚vergessen‘ gemacht werde, könne der kolonialistische Status quo der damaligen Zeit aufrechterhalten und das Weiterbestehen kolonialer Herrschaftsansprüche gerechtfertigt werden (vgl. Césaire 2021 [1955], 27). „Faites fonctionner l’oublioir!“ (Césaire 2004 [1955], 36), heißt es bei Césaire im doppelten Sinne: Das Vergessen-Machen als Herrschaftsinstrument zielt somit nicht nur auf die gewaltvolle „Entinnerung“ (Ha 2012) der präkolonialen Epoche Afrikas durch die Kolonialherr:innen, sondern auch „the postwar forgetting of a very recent Nazism, a forgetting that facilitates the virulent racism of late colonialist discourse“ (Rothberg 2009, 77). Etwas unglücklich ist dieser Begriff als „Gedächtnisloch“ (Césaire 2021 [1955], 62) ins Deutsche übersetzt worden, was in seiner angedeuteten passiven Unkontrollierbarkeit davon ablenkt, dass sich dem französischen oublioir durchaus nicht die aktive Wirkung des Vergessens als Prozess entzieht. Das von Césaire evozierte oublioir legitimiert somit nicht nur das koloniale System, indem Kultur und Geschichte der außereuropäischen Regionen entinnert werden, um somit deren Kolonialisierung zu rechtfertigen. Diese forgetting machine, wie es vielleicht treffender in der englischen Übersetzung heißt, beschreibt außerdem eine Unterscheidung zwischen kolonialen und europäischen Betroffenengruppen und etabliert eine Hierarchie zwischen denen, die ‚erinnerungswürdig‘ sind, und denen, die dem Vergessen überlassen werden sollen (vgl. Butler 2017 [2005]; vgl. Robel 2013). Das Vergessen-Machen nimmt daher einen besonderen Stellenwert in der Herstellung dominanter Geschichtsnarrative in postkolonialen Erinnerungspolitiken ein. Dabei ist es instruktiv, dem Vergessen-Machen dieser Verflechtungen auch wissenschaftsgeschichtlich zu folgen, wie es der Literaturwissenschaftler Bryan Cheyette vorschlägt. Dieser sieht die Ursache für die separierte Betrachtung von Holocaust und Kolonialismus in der Entstehung der Holocaust-Forschung und der postcolonial studies in den 1980er Jahren als eigenständige und sich abgrenzende Disziplinen (vgl. Cheyette 2018, 1238). Das Aufzeigen der historischen Überschneidungen zwischen Holocaust-Erinnerung und „dem Erbe von Kolonialismus

52 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

und Sklaverei“ (Rothberg 2009, xiii, Übersetzung S. R.) fördert die vielen Verbindungslinien zutage, die für die damaligen Intellektuellen wie Jean Améry, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Albert Memmi, Primo Levi und Jean-Paul Sartre selbstverständlich waren (vgl. Cheyette 2018, 1235). Die Wiederentdeckung und Historisierung dieser frühen Schriften gehen einher mit dem gestiegenen Interesse an einer vergleichenden Genozid-Forschung, wie sie auch in Deutschland seit einigen Jahren Gehör findet. Rothberg (2009, 70, kursiv im Original) beschreibt diese Entwicklung als „recent tendency [of] the ‚colonial turn in Holocaust studies‘“. Insbesondere in Césaires Discours konkretisiert sich dessen erinnerungspolitische Relevanz, die über gegenwärtige wissenschaftliche Debatten hinausweist. Denn obschon sich eine postkoloniale Wende in der Erinnerungsforschung andeutet, löst die Verknüpfung von Kolonialismus und Nationalsozialismus weiterhin vehemente Proteste aus (vgl. Bürger 2017; Klävers 2019; Moses 2021). Zuletzt entschied beispielsweise die französische Nationalversammlung im Jahr 1995, den Discours sowie Césaires Gedichtband Cahier d’un retour au pays natal wieder aus dem Lehrplan für das Abitur zu streichen (vgl. Ternisien, 10.5.2008, lemonde. fr), da die gezogene Parallele zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus „übertrieben“ (outré) sei (vgl. Bacqué et al. 13.5.2008, lemonde.fr). Doch nicht nur wissenschaftsgeschichtlich markiert Césaires oublioir das Vergessen als ein zentrales Element postkolonialer Erinnerungspolitiken. Insbesondere die frühen Beiträge der Négritude-Bewegung räumten dem Erinnern, vor allem aber dem Vergessen, einen zentralen Platz ihrer antikolonialen Ideenentwicklung ein (vgl. Rothberg 2013, 365). Aus diesem Grund ist es für diese Arbeit instruktiv, den Nexus Erinnern-Vergessen als Relationierung von Macht und Wissen zu analysieren. Statt das Vergessen allein als gesellschaftlichen „Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens“ aufzufassen, wie Aleida Assmann schreibt (2016, 30), müssen Prozesse des kollektiven Erinnerns und Vergessens im Kontext politischer Machtverhältnisse untersucht werden. Schließlich können Personen und Ereignisse ins Vergessen „gezwungen werden“ (Dimbath 2014, 96)8. In seiner Studie Oblivionismus (2014) unterstreicht der Soziologe Oliver Dimbath den Zusammenhang zeitlicher Abfolgen mit den Prozessen des Vergessens. Dabei hebt er hervor, dass sich die Generierung von Wissen aus der Vergangenheit speist und somit den Erfahrungskontext für die Gestaltung der Zukunft

8  Siehe hierzu auch Paul Connertons Artikel „Seven Types of Forgetting“ (2008, 61), in dem er als ersten Typ „repressive erasure“ als Ausdruck aufgezwungenen Vergessens in vor allem totalitären Regimen benennt und als zweiten Typ das „prescriptive forgetting“, bei dem weniger die Gewalt des Vergessens im Zentrum steht als die Überzeugung, dass es im Interesse aller Beteiligten ist.

Hybridität als Multidirektionalität 

 53

liefert. Vergessen wird allerdings erst „über die Begegnung mit Spuren […] erkennbar“, weswegen es auf „der retrospektiven Einsicht eines Bewusstseins(systems) [basiert], vormals über das Wissen verfügt zu haben, dessen Rekonstruktion nicht ohne Aufwand (Erinnern) möglich ist“ (Dimbath 2014, 96). Dies ist ein besonders erkenntnisbringender Befund im Kontext der Feststellung einer gegenwärtigen „kolonialen Amnesie“ (Kößler und Melber 2018), deren Beschreibung auf der rezenten Einsicht fußt, die Spuren der kolonialen Vergangenheit als Wissen in das kollektive Gedächtnis zu überführen. Inwiefern Gesellschaften bereit sind, sich ‚ihrer‘ Vergangenheiten zu erinnern, hängt – und hier ist der Verweis auf Halbwachs förderlich – davon ab, „dass man den Platz der uns interessierenden vergangenen Ereignisse in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses findet“ (Halbwachs 1985 [1925], 368). Ob die koloniale Vergangenheit in Vergessenheit gerät oder Bestandteil kollektiven Erinnerns wird, lässt sich anhand der emotionalen Verknüpfungen und derer diskursiven Stabilisierungen erklären. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass emotionale Diskurse in dominanten erinnerungspolitischen Arrangements gleichermaßen die Prozesse des Vergessen-Machens strukturieren. Folglich wird die Bedeutung kolonialer Vergangenheiten in der Gegenwart nicht nur mittels emotionaler Diskurse kollektiv produziert, verhandelt und übertragen (vgl. Assmann 2006; Assmann 1988; Cornelißen 2003; Uhl 2010; Wolfrum 1998). Vielmehr – um nochmals auf Stoler (2011, 155) zurückzukommen – bestimmten emotionale Diskurse auch, wenn die spezifisch mit dem Kolonialismus verstrickten Geschichten der Gegenwart „no longer matter at all“. Um eine Analyse der Machtverhältnisse in postkolonialen Erinnerungspolitiken umsetzen zu können, werde ich im folgenden Abschnitt Bhabhas Konzept der Hybridität und Rothbergs Multidirektionalität zu einem geeigneten Analysewerkzeug zusammenführen.

3.3 H  ybridität als Multidirektionalität: Zur Macht des Vergleichens Dass Homi Bhabhas Arbeit bisher recht wenig in der Erinnerungskulturenforschung gewürdigt wurde, ist besonders angesichts des wachsenden Interesses an postkolonialen Fragestellungen ein überraschender Befund. Dabei behandelt Bhabha in seiner 1994 erschienenen Verortung der Kultur vielfältige Themen, die von erinnerungstheoretischem Interesse sind. Seine Untersuchung disjunktiver Zeitlichkeiten, die aus dem sich bedingenden Verhältnis zwischen westlicher Moderne und dem Kolonialismus heraus entstehen, werden später im Text noch ausführlich thematisiert. Besonders deutlich werden die Schnittstellen zwischen postkolonialer Theorie und Erinnerungsforschung aber auch an jenen Stellen, an

54 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

denen Bhabha die Vergangenheit als diskursive Narrativierung beschreibt, die stetig neue Bedeutungszuschreibungen in der Gegenwart erfährt. Sein Verständnis postkolonialer Intervention verdeutlicht er folgendermaßen: Die Intervention der postkolonialen oder schwarzen Theorie zielt auf die Transformation der Äußerungsbedingungen auf der Ebene des Zeichens […], nicht einfach auf der Schaffung neuer Identitätssymbole, neuer „positiver Bilder“ als Basis einer unreflektierten „Identitätspolitik“. Ihre kritische Haltung zur Moderne besteht darin, dass sie die signifizierende Beziehung zu einer disjunktiven „Gegenwart“ neu definiert: sie inszeniert die Vergangenheit als Symbol, Mythos, Erinnerung, Geschichte, das Überkommene – aber dabei handelt es sich um eine Vergangenheit, deren iterativer Wert als Zeichen die „Lehren der Vergangenheit“ mitten in die Textualität der Gegenwart neu einschreibt […]. (Bhabha 2000 [1994], 371, Herv. i. Original)

Bhabha markiert die wiederholte und damit verändernde Einschreibung der Vergangenheit in die Gegenwart mittels iterativer Kulturpraktiken als den Raum des Dazwischen (vgl. Bhabha 2000 [1994], 11, 220). Rothberg (2013, 368) deutet diese in Bhabhas Arbeit wiederholt auftauchende Begrifflichkeit als etwas, was dem Verständnis von „Erinnerung“ (memory) ähnlich ist. Gleichzeitig liest sich Bhabhas Essays als ein Zeitdokument, in dem die Hoffnung durchscheint, dass die ‚nationalen Kulturen‘ – und hier bezieht er sich sowohl auf Ernest Renan und Benedict Anderson als auch auf Walter Benjamin –, die als „erfundene Gemeinschaften“ (Anderson 2016 [1983]) auf der „homogenen, leeren Zeit“ (Benjamin 1978, 701) des Fortschritts beruhen, an Souveränität verlieren (vgl. Bhabha 2000 [1994], 371). Neue kulturelle Differenzen, wie beispielsweise diejenigen, die durch Sexualität, ‚Rasse‘ und Geschlecht markiert werden, bieten den Rahmen für eine „affektive, politische Haltung“ (Bhabha 2000 [1994], 8), die für Bhabha (2000 [1994], 306) die Entstehung „rebellische[r] Handlungsmacht“ begründet.9 Durch die postkoloniale Migration würden Minderheitsdiskurse in die westlichen Metropolen getragen, die dort die „Zwischenräume“ zur Herstellung kul-

9  Bhabha (2000 [1994]) versteht den Dritten Raum als ein affektives Dazwischen, dessen Bedeutung er im Kapitel „Durch Brot allein“ in der „Verortung der Kultur“ nachzeichnet. Er beschreibt darin die Entstehung von Panik als Reaktion auf die Verbreitung des Gerüchts der Weitergabe von Chapati-Broten von Dorf zu Dorf im Jahr 1857, was schließlich zu Aufständen in Nord- und Mittelindien führt. Affekte begründen für Bhabha die Entstehung von Handlungsmacht und das Momentum für widerständige Praxen. Seine affekttheoretische Lesart konzipiert Affekte allerdings als einen inneren psychischen Zustand, der den externen politischen Entwicklungen gegenübergestellt wird (Bhabha 2000 [1994], 310). Diese Unterteilung von innen und außen werde ich versuchen, mit der Konzeption von emotionalen Diskursen und Ordnungen in Kapitel 4 dieser Arbeit zu relativieren (vgl. Bhabha 2000 [1994], Kap. 10: „Durch Brot allein – Zeichen der Gewalt in der Mitte des 19. Jahrhunderts“).

Hybridität als Multidirektionalität 

 55

tureller Hybridität erzeugten (Bhabha 2000 [1994], 5). Bhabha (2000 [1994], 6–8) beschreibt darin seine Vorstellungen der Entstehung eines neuen Internationalismus, der die Perspektive der Migrant:innen stärkt und mittels der Möglichkeit von Differenz die Vorstellung „synchroner Präsenz“ und in der Konsequenz auch die Vorstellung „homogener, leerer Zeit“ auflöst. Kulturelle Differenz, als Voraussetzung für die Hybridisierung von Kulturen, beschreibt Bhabha (2000 [1994], 52) als „Äußerungsprozess“ von Kultur als etwas „Wissensfähigem“, der der „kulturellen Identifikation“ dient und einen „Prozess der Signifikation“ durchläuft. Dabei orientiert er sich an Foucaults Diskursverständnis, bei dem der von ihm beschriebene „koloniale Diskurs“ auf der einen Seite zwar die Regeln für neue Äußerungen vorgibt, auf der anderen Seite allerdings auch die Gegenstände systematisch bildet, von denen gesprochen wird (Foucault 2015 [1969], 74). Somit können postkoloniale Narrative schließlich verändernd auf die Äußerungsbedingungen einwirken (Bhabha 2000 [1994], 371). Diese postkolonialen Geschichten können als „Minderheitsdiskurse“ ihre „heilsame Erinnerung“ an die bestehenden neokolonialen Beziehungen allerdings nur entfalten, wenn sie der westlichen, „nationalen Identität inhärent“ begriffen werden (Bhabha 2000 [1994], 9). Als „oppositionelles Verhältnis zur Moderne“ (Bhabha 2000 [1994], 9) stehen sie für eine Möglichkeit der Aneignung und des Widerstands, was schließlich auch die hegemonialen Erinnerungspolitiken transformieren kann. Dies setzt allerdings eine Hinwendung zu den dominanten Diskursen des Westens voraus, die Bhabha nicht systematisch verfolgt. Rothberg, der in seiner Arbeit den Schritt von der „Postkolonie“ (Mbembe 2016 [2000]) zu den westlichen Erinnerungsdiskursen vollzieht, unterstreicht mit Verweis auf spätere Arbeiten Bhabhas, dass es nicht allein darum gehen kann, unterdrückte Vergangenheit zum Vorschein zu bringen. Vielmehr muss eine neue Beziehung zu dieser hergestellt werden, die auf der Anerkennung der eigenen Verstrickung in der Geschichte beruht (Bhabha 2008, On Global Memory, zit. in: Rothberg 2013, 369). Das Ein- und Umschreiben der Vergangenheit mit dem Ziel, neue Hegemonien auszuhandeln, macht meines Erachtens die Bedeutung von Bhabhas Hybriditätsverständnis aus, denn Hybridität ist vielmehr eine Frage kolonialer Repräsentation, durch welche die Effekte der kolonialen Diskurse umgekehrt werden. Verworfenes Wissen fügt sich in den dominanten Diskurs ein und entfremdet die Basis seiner Autorität – seine Anerkennungsregeln. Dieser Bruch bedeutet keine einfache Anerkennung des verworfenen Wissens, vielmehr wird die Grundlage kultureller Differenz an sich herausgefordert. (Bhabha 1994, 114, Übersetzung von Dhawan und Castro Varela 2015, 248)

Bhabhas Verständnis von Hybridität liegen damit die asymmetrischen kolonialen Ausgangsbedingungen zugrunde, die die Hybridisierung von Kulturen nicht als eine Vermischung gleicher Bestandteile markiert, wie es dieser aus der Biologie

56 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

entlehnte Begriff vermuten lässt (vgl. Kerner 2017 [2012], 126). Der Ort der Hybridisierung ist das schon erwähnte Dazwischen, an dem sich marginalisierte Positionen als widerständige Praxis in hegemoniale Narrative einschreiben. Nur im Dazwischen, als einem Dritten Raum, kann die Aushandlung neuer Positionen und politischer Initiativen erfolgen (Bhabha 1990, 211). Gerade jedoch Bhabhas Vorstellung eines Dritten Raumes, der die Handlungsmacht (agency) begründet, mit der Migrationsdiskurse immer auf hegemoniale Ordnungen einwirken, hat zu zahlreichen Kritiken geführt, die Dhawan und Castro Varela (2015) als Überblick in ihrer Einführung in die postkoloniale Theorie zusammenfassen. Dabei wurde ihm eine Überbetonung einer tatsächlichen transformatorischen Handlungsmacht sowie eine gewisse Machtblindheit – vor allem gegenüber der Bedeutung sozioökonomischer Kämpfe und ungleicher Ressourcenverteilungen – in der Konzeption des Dritten Raumes vorgeworfen (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 273). Weiterhin ignoriere Bhabhas Konzentration auf das Subversionspotenzial von Hybridisierungen, dass diese auch der Herstellung neuer Nationalismen dienen können und nicht zu einer Überwindung des „patriotischen Enthusiasmus“ (Bhabha 2000 [1994], 7) führen müssen (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 272). In Bhabhas Verständnis von Hybridität rekurrieren die beiden Autorinnen insbesondere auf einen für diese Arbeit zentralen Kritikpunkt: Hybridität funktioniere nämlich nur dann, wenn als Gegensatz auch nicht hybride Kulturen existierten, da sonst das Postkoloniale die ihr eigene Macht zur Transformation einbüßen würde (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 269). Dhawan und Castro Varela (2015, 269–270) leiten aus Bhabhas Schriften daher die Tendenz ab, die westlichen Metropolen zu einem nicht hybriden Gegensatz zu homogenisieren. Trotz dieser Einwände in Bezug auf die Abbildung des Westens liefert Bhabhas Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer konsequent antiessenzialistischen Lesart von Kulturen (vgl. Kerner 2017 [2012], 130), die darüber hinaus wichtige Anregungen zum Verständnis transnationaler Transformationen unter den Vorzeichen der Globalisierung bietet (vgl. hierzu auch Kap. 2). Entsprechend wichtig ist es, Hybridität, mit der „die andauernden ‚neokolonialen‘ Beziehungen innerhalb der ‚neuen‘ Weltordnung“ (Bhabha 2000 [1994], 9) untersucht werden können, nicht als unidirektionalen Prozess zu verstehen. Postkoloniale Erinnerungspolitiken müssen folglich als multidirektional konzeptualisiert werden, um das Postkoloniale konsequent im europäischen Kontext in den Blick nehmen zu können. Während Rothberg in Multidirectional Memory (2009) noch keinen direkten Bezug zu Bhabha herstellt, hat er dennoch einen Vorschlag für die Erinnerungskulturenforschung entwickelt, der die postkoloniale Betrachtung der „liberalen Mehrheitskulturen des Westens“ ermöglicht (Castro Varela und Dhawan 2015,

Hybridität als Multidirektionalität 

 57

249). Bhabha wiederum hat eine Betrachtung der westlichen Gesellschaften in seinem Konzept der Hybridität zwar angelegt, aber nicht systematisch verfolgt. Rothbergs Arbeit (2009, 2–3) war wegweisend für die Integration postkolonialer Theorien in die Erinnerungsforschung, weil er aufzeigt, dass die unterschiedlichen Erinnerungen sozialer Gruppen nicht in ein konkurrierendes Verhältnis zueinander treten und dabei eine Erinnerung die andere überlagern oder gar ‚auslöschen‘ würde. Stattdessen spricht er von einem produktiven Prozess, bei dem konfliktäre Erinnerungen aufeinander Bezug nehmen und dabei rhetorische Figuren und Argumente übernehmen, die sich im Prozess wandeln können (Rothberg 2009, 3). Rothberg weiß um die globale Bedeutung der Holocausterinnerung. Statt jedoch der Proklamation der Singularität des Holocaust zu folgen, die eine Vergleichbarkeit mit diesem ausschließt (Rothberg 2009, 8), illustriert der Literaturwissenschaftler, wie die Erinnerung an den Holocaust zu einer Plattform beständiger Bezugnahme wird. Akteur:innen thematisieren koloniale und mit Rassismus verknüpfte Vergangenheiten unter Rückgriff auf ein weit verbreitetes „Holocaust-Bewusstsein“, um zuerst die Thematisierung und daran anschließend eine Legitimierung „ihrer“ Erinnerungen zu erfahren. Folglich seien „comparisons, analogies, and other multidirectional invocations […] inevitable part of the struggle for justice“ (Rothberg 2009, 29). Dass diese Bezugnahmen produktiv und sich wechselseitig konstituierend sind, hat Rothberg auch daran verdeutlicht, dass das Aufkommen eines globalen Holocaust-Gedächtnisses nicht nur die Thematisierung ‚anderer‘ Geschichten ermöglicht hat. Vielmehr sogar hat die Bezugnahme auf die postkolonialen Ereignisse der Nachkriegszeit die Entstehung eines universellen Holocaust-Gedächtnis befördert (Rothberg 2009, 6–7). Allerdings stellt Rothberg (2009, 21, Übersetzung S.  R.) eine Analyse der bestehenden Machtverhältnisse zurück, indem er auf den „dialogischen Austausch zwischen Erinnerungstraditionen und […] der Möglichkeit einer gerechteren Zukunft der Erinnerung“ fokussiert. Somit fehlt es an einer systematischen Betrachtung ungleicher Macht- und Ressourcenverteilungen im öffentlichen Raum. Um den Fragen ungleicher Machtverhältnisse mehr Raum zu geben, hat er in seinem später erschienenen Artikel „Remembering back“ (2013) die Synergien mit Bhabhas Konzept der Hybridität zum Thema gemacht. Die von Bhabha beschriebene Transformation hegemonialer Geschichte aufgrund der hybridisierenden Wirkung von Minderheitsdiskursen liest Rothberg (2013, 368) als countermemory, die wiederholt die Versuche zur Herstellung eines „canonical cultural memory“ unterlaufen. Die Bezeichnung geht auf Michel Foucault zurück, den er in seinem Essay „Nietzsche, Genealogy, History“ erwähnt und der in der Zusammenstellung von Donald F. Bouchard unter dem Titel Language, Counter-memory, Practice (1977, 160) veröffentlicht wurde. Für Foucault bedeutet counter-memory „a transformation of history into a totally different form of time“. Rothberg gibt

58 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

hingegen zu verstehen, dass counter-memory nicht ausschließlich in der von Foucault intendierten Konzeptualisierung als genealogischer Ausdruck einer Diskontinuität verstanden wird, bei der die Vorstellungen teleologischer Zeit sowie die Annahme eines souveränen Subjekts untergraben werden. Stattdessen wird der Begriff häufig als dem hegemonialen Kanon gegenläufige Erinnerungspraktik verstanden (vgl. Rothberg 2013, 366). Der Historiker Berthold Molden (2016) unterstreicht in seinem Artikel „Resistant pasts versus mnemonic hegemony: On the power relations of collective memory“ jedoch, dass counter-memory über die von Foucault als kritische Genealogien entworfene „anti-history“ hinausgehen muss. Entsprechend dürfen counter-memories nicht nur als kritische Einwände verstanden werden, sondern müssen sich „against the hegemonic memory canon“ richten (Molden 2016, 128). Aus dieser Grundposition heraus entwickelt Molden eine hegemonietheoretische Perspektive auf die Prozesse kollektiven Erinnerns, um die stetig verhandelten Machtverhältnisse abbilden zu können. Moldens Blick auf erinnerungspolitische Machtstrukturen bildet ein gutes Bindeglied zwischen Bhabhas Beschreibung einer Hybridisierung dominanter Diskurse durch Minderheitsnarrative sowie Rothbergs Konzept der Multidirektionalität. Multidirektionales Erinnern, das sich als Ausdruck von Hybridisierungen untersuchen lässt, muss folglich als eine Verhandlung und Neubewertung der anerkannten Vergangenheitsversionen verstanden werden. Doch welche methodischen Schlüsse lassen sich aus dieser theoretischen Zusammenführung für die Möglichkeit einer Provinzialisierung postkolonialer Erinnerungspolitiken in Europa ableiten? Bhabhas (2000 [1994], 213) Beitrag zu einer Provinzialisierung besteht insbesondere in der Möglichkeit, die Homogenität der ‚westlichen Nation‘ zu hinterfragen. Zentral an seiner Perspektive ist nicht nur die Hervorbringung der ‚Nation‘ im Rekurs auf die Vergangenheit, sondern ihre Betrachtung unter den Vorzeichen der Globalisierung. Rothbergs Multidirektionalität, auf der anderen Seite, verweist auf die Produktivität des Vergleichs als Ausdruck disjunktiver und kombinatorischer Erinnerungsbezüge, bei denen die „Akte der Erinnerung die Grenzen zwischen ‚Europa und seinen Anderen‘ oder ‚dem Westen und dem Rest‘ überschreiten“ (Rothberg 2013, 372, Übersetzung S. R.). Insbesondere Rothbergs Untersuchung multidirektionaler Vergleichsbezüge ist methodisch wegweisend für die Erinnerungsforschung, insbesondere, weil er sich der Produktivität des Vergleichs in der Hervorbringung seiner Gegenstände bewusst ist (vgl. Rothberg 2009, 18). Als „Politiken des Vergleichens“ sind diese niemals neutral (Stoler und McGranahan 2007, 15) und können folglich auch produktiv sein, um Mechanismen des Ausschlusses aufrechtzuerhalten (vgl. De Cesari und Rigney 2014). An dieser Stelle werde ich Rothbergs Forschungsdesign, das die multidirektionalen Bezüge zwischen Holocaust und Kolonialismus innerhalb eines nationalstaatlichen Analyserahmens in den Blick nimmt, um die transnationale Komponente

„Getrennte Zeitlichkeiten“ 

 59

erweitern. Um den möglichen Bedeutungszuwachs des postcolonial turn für das europäische Erinnern aufzuzeigen, müssen die Erinnerungspolitiken unterschiedlicher europäischer Länder vergleichend analysiert werden (vgl. Kap. 5 für die Darlegung der Vergleichskategorien zwischen Deutschland und Frankreich). Davon ausgehend, dass es sich bei der Vergleichsmethode um ein „active political verb“ handelt (Stoler 2002, xiii), stellt sich die Frage, ob im transnationalen Vergleich das Potenzial einer erinnerungspolitischen Provinzialisierung Europas liegen kann. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die transnationale Betrachtung als einzigen Weg zur Relativierung einer ‚(Re-)Nationalisierung‘ kolonialer Erinnerungen und folglich als Provinzialisierung westlicher Erinnerungspolitiken zu begreifen. Vielmehr müssen auch die Grundsätze der Erinnerungsforschung zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Wie postkoloniale Kritik Anregungen für die Erinnerungsforschung bereitstellen kann, um eine Transformation der Geschichte „into a totally different form of time“ zu erwirken (Foucault 1977, 160), ist Gegenstand des folgenden Unterkapitels.

3.4 „ Getrennte Zeitlichkeiten“ und die (Dis-)Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Postkoloniale Theorien haben wiederholt auf die unterschiedlichen Zeitlichkeiten hingewiesen, die zuerst die Erfahrungen in den Kolonien in Abgrenzung von den Metropolen bestimmten und nun auch die postkoloniale Welt kennzeichnen (vgl. Chakrabarty 2008 [2000]; Mbembe 2016 [2000]; Rothberg 2013). Eine Provinzialisierung westlicher Zeitverständnisse, wie Chakrabarty (2008 [2000]) sie anregt, zielt dabei auf einen Bruch mit der global etablierten Norm, die Europa mit der Vorstellung von ‚Moderne‘ gleichsetzt. Dieses ‚moderne‘ Zeitverständnis zeichnet sich dabei durch eine Vorstellung linearer Progression aus, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einer Kontinuitätslinie mit dem Ziel einer fortwährenden Entwicklung miteinander verknüpft. Als Konsequenz leitet sich daraus nicht nur die Figur der „Verspätung“ ab, die die postkolonialen Gesellschaften mittels strukturanpassender Programme aufzuholen hätten (vgl. Mbembe 2016 [2000]; vgl. Ziai 2006). Die postkoloniale Kritik an einem linearen und auf Fortschritt ausgerichteten Zeitverlauf stößt in der Betrachtung postkolonialer Erinnerungen allerdings an ihre Grenzen. Mit der transkulturellen Wende in der Erinnerungsforschung hat sich das Interesse zwar auf den Kolonialismus erweitert (vgl. Göttsche 2019, 12). Die Kartografierung postkolonialer Erinnerungsorte und das Aufdecken verschwundener Erinnerungsspuren, um koloniale Erfahrungen in die kollektiven Gedächtnisse zu überführen (vgl. Göttsche 2019, 5), folgen oft einer normativen

60 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

Ausrichtung zur Erzeugung grenzüberschreitender Solidaritäten, die in der Zukunft Gewalt und Krieg zu verhindern suchen (vgl. Barkan 2002; Craps und Rothberg 2011). Entsprechend kritisch blicken postkoloniale Perspektiven auf den vertretenen Kosmopolitismus, der sich auch in der Erinnerungsforschung zumeist an Menschenrechtsnarrativen orientiert Bahn bricht (vgl. Bisht 2013). Allerdings relativiert der analytische Fokus auf die ‚Brüche‘ und ‚Risse‘ im als linear angenommenen Geschichtsverlauf die gleichzeitige Herstellung zeitlicher Kontinuität, wie sie dem Tropus des „kolonialen Erbes“ zugrunde liegt (Wiener 2013). Erinnerungspolitisch haben postkolonial orientierte Forschungsansätze sowie zivilgesellschaftliches Engagement mit dem Rekurs auf die ‚koloniale Kontinuität‘ den zentralen Begründungszusammenhang für die Aufdeckung ‚kolonialer Spuren‘ geliefert, die als koloniale Imagination in massenmedialen Kulturprodukten der Gegenwart fortwirkten. Wie lässt sich anhand dieser Einwände und vielleicht auch Widersprüche ein postkolonialer Zugriff auf Zeitlichkeit realisieren? Im Folgenden sollen dazu die Überlegungen Dipesh Chakrabartys (2008 [2000]), Achille Mbembes (2016 [2000]) und Homi K. Bhabhas (2000 [1994]) zu einer kritischen Perspektive auf die Kategorie Zeit in der Analyse postkolonialer Erinnerungspolitiken kondensiert werden. Dafür werden diese postkolonialen Stimmen in einen Dialog gesetzt mit der geschichts- und Erinnerungskulturellen Feststellung, dass die Annahme historisch-abgeschlossener Zeit (vgl. Lorenz 2014) aufgrund der neuen Bedeutung der Vergangenheit in der Gegenwart teilweise aufgekündigt wurde. Ausgangspunkt ist eine historisierende Betrachtung des linearen Fortschrittsempfindens, das dem gegenwärtigen westlichen Zeitverständnis inhärent ist. Ziel soll sein, die bestehenden Ambivalenzen in der Konzeption kontemporärer Zeitlichkeit nachvollziehen zu können, die auch die Debatten um das postkoloniale Erinnern kennzeichnen. Reinhart Koselleck hat in seinem bedeutenden Werk Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (2017 [1979]) nachgewiesen, dass die Vorstellung linearer historischer Zeit sich im Europa des 19. Jahrhundert herausbildete. Das moderne, auf Entwicklung gerichtete Zeitverständnis unterschied dabei zwischen einem vergangenen Erfahrungsraum und einem auf die Zukunft gerichteten Erwartungshorizont (vgl. Koselleck 2017 [1979], 354–359). Die Geschichtsschreibung, die sich vor dem Hintergrund dieses Zeitverständnisses entwickelte, konzipierte daher die Vorstellung historischer Zeit als abgeschlossen und entsprechend dem gegenwärtigen Zugriff entzogen. Chris Lorenz (2014, 48) hebt mit Verweis auf Kosellecks Arbeiten hervor, dass mit dem Glauben an den Fortschritt erst die Voraussetzung geschaffen wurde, um zu definieren, was als vergangen zu gelten hatte. Dipesh Chakrabarty hat mit seinem Buch Provincialising Europe (2008 [2000]) eine einflussreiche Schrift veröffentlicht, in der er aus postkolonialer Per-

„Getrennte Zeitlichkeiten“ 

 61

spektive die Transformationsprozesse Indiens im 19. Jahrhunderts nachzeichnet. Er problematisiert darin, dass alle theoretischen Konzepte „die Last europäischer Geschichte und Denktraditionen tragen“ (Chakrabarty 2008 [2000], 4), die oft unhinterfragt für die weltweite Beschreibung historischer Phänomene herangezogen würden. Dabei nimmt auch er Bezug auf Walter Benjamins prägende Beschreibung der bereits genannten „homogenen, leeren Zeit“, mit der er den Übergang von einem religiösen zu einem säkularen Zeitverständnis im Laufe des 19.  Jahrhundert kennzeichnete (Benjamin 1978, 701; Chakrabarty 2008 [2000], 23). Benedict Anderson (2016 [1983]) popularisierte Benjamins Zeitverständnis in seinem für die Erinnerungsforschung wichtigen Werk, um die Entstehung der „imagined communitities“ erklären zu können. Demnach setzte sich durch die Entstehung der Printmedien die Vorstellung einer homogenen und leer dahinfließenden Zeit durch, die es vermochte, Individuen mittels geteilter Mythen und Rituale zu Gemeinschaften zu verbinden (Anderson 2016 [1983], 24–25). Chakrabartys Kritik (2008 [2000], 12) richtet sich insbesondere auf die marxistische Lesart der vollzogenen kapitalistischen Transformation in Europa, die mit der Kategorie einer „ungleichen Entwicklung“ (Übersetzung S.  R.) operiert, um zu beschreiben, welche Gesellschaften den Weg zur Moderne nicht oder nur unvollständig beschritten haben. Die westlichen Theoriezugänge kennzeichnet der Historiker folgendermaßen: „They all ascribe at least an underlying structural unity (if not an expressive totality) to historical process and time that makes it possible to identify certain elements in the present as ‚anachronistic‘“ (Chakrabarty 2008 [2000], 12). Am Beispiel Indiens verdeutlicht Chakrabarty somit, dass die dort stattfindenden Transformationen nicht zu ihren eigenen Bedingungen betrachtet, sondern immer ins Verhältnis zur europäischen Norm gesetzt werden. Achille Mbembe unternimmt in seinem Buch Postkolonie. Zur politischen Einbildungskraft im Afrika der Gegenwart (2016 [2000], 53) den Versuch, Afrika „zu nichts anderem als zu sich selbst in einer Vielzahl von Zeiten, Rhythmen und Rationalitäten“ ins Verhältnis zu setzen, um somit die Relationalität zu Europa zu überwinden. Damit die Entwicklungen in den afrikanischen Postkolonien nachgezeichnet werden können, bedarf es eines Denkens, so Mbembe (2016 [2000], 69), das von einem nicht linearen Zeitverständnis ausgeht und das die Brüche, Divergenzen und Fluktuationen einbezieht, sodass die Entwicklungen Afrikas nicht ausschließlich im Verhältnis zu Europa betrachtet werden. Die Postkolonie als Konzept wendet sich demnach nicht einzig den Gewaltverhältnissen zwischen Nord und Süd zu, in denen der Westen als „unklare[s] Objekt [des] Hasses“ markiert wird (Mbembe 2016 [2000], 15). Vielmehr sucht die Postkolonie „die Gewalt des Bruders gegenüber dem Bruder“ zu verstehen (Mbembe 2016 [2000], 25). Mbembe (2016 [2000], 66) schlägt dafür eine Rehabilitierung der Begriffe Epoche und Dauer vor, wobei Epoche „vielfältige Zeiträume [meint], die

62 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

aus überlappenden, ineinander verschachtelten und sich umschließenden Diskontinuitäten, Umstürzen, Trägheiten, Schwankungen bestehen“. Ähnlich wie dem Historiker Wiener (2013) geht es Mbembe (2016 [2000], 67) darum, die Vorstellung einer simplifizierenden Vorstellung ‚kolonialer Kontinuität‘ zu brechen, die sich mit ihrer Periodisierung einer vor- und postkolonialen Zeit maßgeblich am Verhältnis zu Europa orientiert. Statt also die Transformationen und Transitionen in eine lineare longue durée einfließen zu lassen, richtet sich Mbembes Epochenbegriff auf das gleichsame Nebeneinander mehrerer Zeitlichkeiten. Lassen sich Mbembes Überlegungen auch auf den europäischen Kontext übertragen? Eine historisierende Perspektive auf den westlichen Zeitbegriff verweist zunächst auf seine Wandelbarkeit. Um die Jahrtausendwende, als Chakrabarty und Mbembe ihre postkolonialen Antworten auf das dominante westliche Zeitverständnis entwickeln, wird dieses mit der erinnerungspolitischen wie auch akademischen Hinwendung zur Vergangenheit seit den 1980er und den 1990er Jahren zunehmend relativiert (Lorenz 2014, 51, 57). Die Vorstellung einer abgeschlossenen, historischen Zeit definierte diese als eine irreversible Kategorie, deren Abwesenheit in der Gegenwart zwar durch die Geschichtsschreibung gesichert werden sollte, aber unabänderlich war. Als strikter Gegensatz zu dieser Vorstellung abwesender Zeit steht die Frage nach Gerechtigkeit, die im Sinne einer juristischen Zeit die Aufarbeitung der Vergangenheit zum Ziel hat (vgl. Bevernage 2008, 150). Eine juristische Aufarbeitung setzt jedoch die Vorstellung der Reversibilität der Vergangenheit voraus, indem vergangenes Unrecht zu Teilen aufgehoben werden kann. Der Historiker Chris Lorenz beschreibt für unsere gegenwärtige Epoche die Favorisierung juristischer Zeit, die einen Bruch mit dem Verständnis der Vergangenheit als abwesend markiert: This limited reversibility is the hallmark of the time of jurisdiction because jurisdiction is based on the presupposition that a sentence and punishment are somehow capable of annulling crime – e. g. in the form or retribution, revenge and rehabilitation – and thus of reversing the arrow of time. (Lorenz 2014, 47)

Anders als in Berber Bevernages Text „Time, Presence, And Historical Injustice“ (2008) unterstreicht Lorenz, dass sich die Bedeutungszunahme der „present pasts“ (vgl. Huyssen 2003) nicht nur auf Transformationsgesellschaften wie etwa in Südafrika oder Guatemala beziehen (vgl. Bevernage 2008, 154–155; Trouillot 2000). Stattdessen wird die Verantwortungsübernahme für immer weiter zurückliegende Vergangenheiten verhandelt (vgl. Garapon 2008, 11). Mit der gleichzeitigen „Wiederentdeckung“ des juristischen Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, der mit den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen erstmals ab 1945 definiert wurde (vgl. Sarkin 2009, 172), dehnte sich das Verständ-

„Getrennte Zeitlichkeiten“ 

 63

nis juristischer Zeit aufgrund der möglichen Aussetzung der Verjährungsfristen weiter aus (vgl. Lorenz 2014, 47). Als Zusammenhang zwischen Geschichte und Gerechtigkeit verweist dies auf den Umstand, dass die gewaltvollen Erfahrungen am ehesten Bedeutung in der Gegenwart erlangen (vgl. Lorenz 2014, 57) und im Wesentlichen „the temporality of modern memory“ (Rothberg 2013, 361) bestimmen. Dieser Wandel, nunmehr weit zurückliegende Verbrechen unter den Vorzeichen der Gerechtigkeit zu verhandeln, vollzieht sich vor dem Hintergrund der globalen Durchsetzung des Einsatzes für Menschenrechte. Wichtig scheint mir an dieser Stelle Chakrabartys (2008 [2000], 43) Einwand, die Universalität der Menschenrechte nicht als Kulturrelativismus abzutun und somit die Bedeutung europäischen Denkens zu negieren. Diese neue Bedeutung, die der juristischen Zeit zukommt, hat postkolonialen Akteur:innen zu einer neuen Sichtbarkeit verholfen und entsprechend auch die Geschichtsschreibung durch das Aufbrechen linearer Zeitverständnisse beeinflusst. In Kapitel 8 werde ich als Ausdruck dieses Wandels postkoloniale Klagevorhaben vor dem Hintergrund der zur Anwendung kommenden Zeitverständnisse reflektieren und der Frage nachgehen, wie Reversibilität respektive Irreversibilität in postkolonialen Zusammenhängen verhandelt wird. Das Hereinbrechen der Vergangenheit in die Gegenwart bricht zwar mit der Vorstellung von Linearität, indem eine partielle Reversibilität angenommen wird, gleichzeitig führt es aber eine Vorstellung von Kontinuität ein, die der Historiker Michel-Rolph Trouillot in dem Artikel „Abortive Rituals: Historical Apologies“ (2000) mit Blick auf die weltweite Multiplikation von Entschuldigungsartikulationen für historische Verbrechen beschreibt. Dabei werde eine historisch fragwürdige Operation unternommen, bei der eine Kongruenz zwischen den historischen Akteur:innen mit den gegenwärtigen hergestellt werde. Um den Akt des Entschuldigens legitimieren zu können, müssten Subjekte und ‚Nationen‘ homogenisiert werden, da die Realisierung einer Entschuldigung nur vermittelbar sei, wenn der vergangene Täter als identisch mit den Nachfahren konstruiert werde (vgl. Trouillot 2000, 175–177). Diese Form von Kontinuitätskonstruktion wird auch deutlich, wenn Rothberg (2013, 360) von der „disjunctive temporality of colonial legacies“ spricht, mit denen er dem Kolonialismus die Fähigkeit attestiert, „to colonize not just space, but time as well“. Demnach sei es das Fortwirken kolonialer Vorstellungswelten in der postkolonialen Zeit, das die Linearität der Abfolge und insbesondere die eindeutige Abgrenzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufheben würde. Der wiederholte Verweis auf das ‚koloniale Erbe‘ erzeugt hingegen eine zeitliche Kontinuität, die ansonsten von postkolonialen Autor:innen zurückgewiesen wird. Die erinnerungstheoretischen Überlegungen legen somit den postkolonialen Widerspruch frei, nach dem erst mit der Fest-

64 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

stellung kolonialer Kontinuitäten der Begründungszusammenhang für die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten geschaffen wird. Die Relevanz der Vergangenheit in der Gegenwart ist eines der wesentlichen Interessen der Erinnerungsforschung. Dass eine klare Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht möglich sei, unterstreicht auch Mbembe (2016 [2000], 69, kursiv im Original), wenn er von der „Verschachtelung von Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünften“ spricht, die er als die „im Entstehen begriffene[] Zeit“ oder „ablaufende[] Zeit“ auffasst. Es geht dabei nicht nur um eine Proklamation der Pluralität verschiedener Zeitlichkeiten, die sich übereinander schieben. „Die Gegenwart“ sei als Erfahrung einer Zeit eben der Moment […], zu dem sich verschiedene Formen der Abwesenheit verschachteln: Abwesenheit von Gegenwarten, die nicht mehr sind, derer man sich erinnert (Gedächtnis) und Abwesenheit von jenen anderen, die noch nicht sind und die man vorwegnimmt (Utopie). (Mbembe 2016 [2000], 69)

Mbembe unternimmt den Versuch einer Auflösung der Dichotomie zwischen dem, was bei Bevernage (2008) oder bei Lorenz (2014) als Unterteilung in eine historische Zeit und die Zeit der Gerechtigkeit vorgenommen wurde. Die Präsenz des Abwesenden ‚verschachtelt‘ sich bei Mbembe zu dem, was als Gegenwart wahrgenommen wird. Erinnerungen sind das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Kategorie Zeit dient dabei als „Orientierungsschema“, das die Gegenwart konstituiert und somit auch den Erklärungszusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen liefern kann (vgl. Dimbath 2014, 53). Versteht man Vergessen als Wissensverlust, dann entsteht dieser, wenn bestimmte Vergangenheitsrepräsentationen die Bedeutung für die Gegenwart verlieren (vgl. Dimbath 2014, 53). Im Anschluss an Norbert Elias schreibt Dimbath (2014, 50), die „Zeitpraktiken einer Gesellschaft“ sind einem stetigen historischen Wandel unterworfen sind, die immer auch mit Macht verbunden sind. Gesellschaften tendierten dabei allerdings dazu, „die Konstruiertheit ihrer Zeit zu vergessen“ (Dimbath 2014, 50), weswegen es sich die postkoloniale Theorie zur Aufgabe gemacht hat, die Disjunktion verschiedener Zeitlichkeiten herauszuarbeiten. Für Elias, so fasst es Dimbath (2014, 51) zusammen, beschreibt Zeit „eine machtvermittelte symbolische Ordnung“, deren Konstruktion die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart erst ermöglichte (vgl. Feindt et al. 2014, 28–29). Dass der Zugriff auf die Vergangenheit und deren Bedeutungszuschreibung erinnerungspolitische Machtdynamiken zum Ausdruck bringt, wird auch deutlich, wenn Mbembe den spezifischen Bruch hervorhebt, der die afrikanischen Gesellschaften gegenüber der westlichen Welt markiert. Denn während die Zukunft unvorstellbar ist, so ist eine Zuwendung zur Vergangenheit unmöglich (vgl. Mbembe 2016 [2000], 70).

„Getrennte Zeitlichkeiten“ 

 65

Fragen nach Gewalt und Tyrannei bestimmten die afrikanische Auseinandersetzung, markiert doch der Sklavenhandel erst den Eintritt Afrikas in die Moderne, womit auch die vermeintlich „unüberbrückbare“ Beziehung zum Westen etabliert wird (Mbembe 2016 [2000], 65). Folglich können die Beziehungen zwischen Europa und Afrika „nicht außerhalb einer Welt gedacht werden können, die sich sozusagen ausdehnt“ (Mbembe 2016 [2000], 53). Dieser ‚Ausdehnung der Welt‘ ist Homi Bhabha auch in seinem Buch Die Verortung der Kultur (2000 [1994], 326) nachgegangen. „Nichtsynchrone Zeitlichkeit“ in der Postmoderne entstehe, laut Bhabha, im Verhältnis des Globalen zu den nationalen oder lokalen Kulturen, was ein von ihm sogenanntes Dazwischen als „kulturellen Raum“ entstehen lässt. Bhabhas und auch Mbembes Betrachtungen zielen zunächst auf eine relationale Perspektiveinnahme, bei der die machtvoll wirkenden Zeitpraktiken als Bestrebungen westlicher Synchronisierungen im Verhältnis zu den anachronistischen, brüchigen, kurz: pluralen Zeitlichkeiten der ‚Anderen‘ aufgedeckt werden sollen. Mit solch einer Perspektive auf Zeitlichkeiten im Plural kann sich auch dem scheinbaren Widerspruch der Proklamation einer kolonialen Kontinuität angenähert werden. Ziel dieser Arbeit ist es daher, das Erzeugen von Kontinuität/Diskontinuität diskursanalytisch zu verfolgen und dabei nachzuzeichnen, welche zeitlichen Ordnungen etabliert werden. Wie Mbembe schreibt, geht es um die Aufdeckung der Verschachtelungen und Überlappungen. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, wenn das dominante (westliche) Zeitverständnis die Synchronisierung innerhalb des Rahmens linearer Fortschrittlichkeit erfordert. Da die Vergangenheit immer vom Standpunkt der Gegenwart betrachtet wird, macht dies auch die Definition von Zeitlichkeit zu einem umkämpften Terrain. Da die Vorstellung von Gegenwart nicht ohne die Bezugnahme auf Vergangenheit und Zukunft möglich ist, lässt sich auch die binäre Trennung zwischen An- und Abwesenheit nicht aufrechterhalten. In diesem Sinne sollte die diskursive Herstellung kolonialer Kontinuität zur Überwindung der „kolonialen Amnesie“ als Strategie gedeutet werden, „to counter official versions and the sovereign status […] implicitly given to European epistemologies“ (Stoler und Strassler 2000, 7–8). Denn trotz der Favorisierung juristischer Zeit, die die historische Abgeschlossenheit der Vergangenheit zugunsten einer an Gerechtigkeit orientierten Aufarbeitung aufbricht, wie Bevernage (2008), Lorenz (2014) und Trouillot (2000) gezeigt haben, gelten nicht alle Vergangenheiten als gleichermaßen reversibel. Die „politics of regret“ (Olick 2007) im „Zeitalter der Entschuldigungen“ (Gibney 2008, Übersetzung S. R.) legen zwar eine Neubewertung der kolonialen Vergangenheiten nahe – eine juristische Neuverhandlung muss dies allerdings nicht zur Folge haben (vgl. Fraser 2005, 80). In Kapitel  8 über die Verhandlung von Reparationen für Kolonialverbrechen zeige ich daher, dass noch keine Mechanismen retributiver Gerechtigkeit eta-

66 

 Erinnerungspolitiken provinzialisieren?

bliert wurden. Demnach haben sich bisher unterschiedliche Zeitordnungen für die Bewertung der Präsenz des Kolonialismus in der Gegenwart herausgebildet, die sowohl eine juristische Neubewertung undenkbar machen als auch eine symbolische Anerkennung erschweren. Provinzialisierung bedeutet für Chakrabarty (2008 [2000], 4), Europa als Imagination wahrzunehmen, die sich auf die historischen Phänomene in den kolonialisierten Gegenden der Welt auswirkte. Als Konsequenz setzt er sich für das Schreiben einer transnationalen Verflechtungsgeschichte ein, bei der „Europa“ nicht „demontiert“ werden kann, ohne dass auch die Entwicklungen in den ehemaligen Kolonien kritisch betrachtet würden (Chakrabarty 2008 [2000], 43). Eine Provinzialisierung des westlichen Zeitverständnisses aus historischer Perspektive wäre, Bevernages (2008, 167) Überlegungen aufnehmend, nur denkbar, wenn keine vereinfachenden Chronologien erzeugt und „Ereignis“ und „Anachronismus“ neu gedacht würden. Dabei gibt Bevernage (2008, 163) jedoch zu bedenken, dass einer Überwindung des westlichen Zeitverständnisses innerhalb der okzidentalen Traditionen Grenzen gesetzt sind. Mit dem Bewusstsein, dass ich mich dieser Wissenschaftstradition im Rahmen dieser Arbeit nicht entziehen kann, scheint es gewinnbringender zu sein, die Definition von Zeitlichkeit als umkämpfte Aushandlung von (Dis-)Kontinuitäten, Brüchen und Fluktuationen zu verstehen (vgl. Mbembe 2016 [2000], 66–69). Insbesondere die Arbeiten der Erinnerungsforschung interessieren sich grundlegend für den „particular mix of history and memory“, auf den Lorenz (2014, 51) hier mit Verweis auf Chakrabarty Bezug nimmt. Welche „historischen Wunden“, um nochmals Chakrabartys (2007) Wortwahl aufzugreifen, als historische Ungerechtigkeiten anerkannt werden, ist Gegenstand erinnerungspolitischer Aushandlungsprozesse, die allerdings, so werde ich in Kapitel 4 dieser Arbeit argumentieren, affiziert werden müssen, um Bedeutung in der Gegenwart zu erlangen.

3.5 Z  usammenfassung und Ausblick: Emotionen provinzialisieren? Rothberg (2013) deutet die antikoloniale Widerstandspraxis im Rekurs auf Fanon, Césaire und Cabral als eine selbstermächtigte Aneignung, um der eigenen Vergangenheit Sinnhaftigkeit zu verleihen. Aus diesem Akt der Selbstermächtigung resultiere folglich: „[T]he postcolonial society will be one that remembers“ (Rothberg 2013, 366). In diesem Kapitel habe ich drei Analysekategorien entworfen, die sich an der Prämisse einer Provinzialisierung orientieren, indem anhand der postkolonialen Theoriebildung Forschungsperspektiven abgeleitet werden, die zu einer umdeutenden Perspektive auf die kolonialen Vergangenheiten in domi-

Zusammenfassung und Ausblick: Emotionen provinzialisieren?  

 67

nanten Diskursen beitragen kann (vgl. Bhabha 2000 [1994], 371). Die erste Analyseachse richtete sich auf die Untersuchung der Politiken des Vergessens. In der diskursiven Rekonstruktion ‚sozialen Vergessens‘ soll die Produktion von Leerstellen und Auslassungen Gegenstand der Untersuchung sein. Als zweite Analyseachse verfolgte ich die Zusammenführung von Rothbergs multidirektionaler Bezugnahme und Bhabhas Konzept der Hybridität. Mein Interesse richtete sich dabei auf die Prozesse, in denen Erinnerungen sich als transnationale Bezugspunkte hybridisieren, um schließlich wieder in nationalstaatliche Bedeutungszusammenhänge einzutreten. Abschließend wurde eine postkoloniale Reflexion über Temporalität und den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfolgt, um die Analyse disjunktiver Zeitlichkeiten und die Transformation von historischer in juristische Zeit in den Blick zu nehmen. Die Forschungszugänge postkolonialer Theorien haben den Anspruch, aufzudecken, was als ‚normalisiertes‘ Wissen in der westlichen Moderne anerkannt wird. Zentral ist ihre Kritik an den westlichen Diskursen um Fortschritt und Rationalität, deren Ursprünge in der europäischen Aufklärung verortet werden (vgl. Castro Varela und Dhawan 2015, 87). Dabei ist es als Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, dass die wiederholte Erzeugung von Differenzen, die den ‚Anderen‘ zuschreibt, ‚unzivilisiert‘, ‚infantil‘ und ‚nicht vernunftgeleitet‘ zu sein, als vermeintliches Wissen ‚rationalisiert‘ wird (vgl. Ziai 2006, 34). Die Feststellung der Verortung von Rationalität im Westen im Gegensatz zu ‚Emotionalität‘ im Globalen Süden kennzeichnet jedoch nicht nur Prozesse des Othering, die den kolonialen Diskurs kennzeichnen. Als zentrale Komponente (post-)kolonialer Machtausübung hat Ann Laura Stoler (2009) darauf aufmerksam gemacht, dass Emotionen und Affekte nicht als unbedeutende Marginalien aufzufassen sind. Diese Arbeit folgt daher der These, dass koloniale Vergangenheiten eine diskursiv erzeugte Affizierung erfahren müssen, um Bedeutung für die gegenwärtigen Gesellschaften zu erlangen. Die Provinzialisierung von Emotionen in postkolonialen Erinnerungspolitiken besteht im Aufdecken der Rationalisierungsprozesse, mit deren Hilfe Wissensbestände über den Kolonialismus normalisiert und damit erinnert bzw. entinnert (vgl. Ha 2012) werden. Im folgenden Kapitel werde ich die diskursive Herstellung emotionaler Ordnungen als einen zentralen erinnerungspolitischen Herrschaftsmodus einführen und vorschlagen, emotionale Diskurse als strukturierende und strukturierte Mechanismen zu analysieren.

4 E  motionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell in der Betrachtung postkolonialer Erinnerungspolitiken Dass Emotionen als eine wesentliche Kategorie der Erinnerungsforschung zu betrachten sind, ist für Aleida Assmann (2015, 42) eine nicht zu verneinende Gewissheit. Den Philosophen Edward Casey zitierend, teilt sie die Feststellung, dass Erinnern selten ohne eine emotionale „Aufladung“ denkbar ist. Gleichfalls werden lang anhaltende affektive Zustände nur durch den Rückbezug auf Erinnerungen ermöglicht bzw. gelten Emotionen als sozial relevante Praktiken in Prozessen des Gedenkens. Emotionale Zuschreibungen, wie ‚Scham‘ und ‚Trauer‘ gehören zwar zum grundlegenden Vokabular der Erinnerungsforschung, dennoch lässt sich erst seit kurzer Zeit der wachsende Einfluss der Affect Studies im Feld beobachten. Neben dem von Aleida Assmann publizierten Text aus dem Jahr 2015 stellte sich auch der Sammelband Disputed Memory. Emotions and Memory Politics in Central, Eastern and South-Eastern Europe (Sindbaek Andersen und Törnkvist-Plewa 2016) die Frage nach der Rolle von Emotionen in der Aushandlung „strittiger“ Erinnerungen. Beide Beiträge sparen jedoch den Rückgriff auf die etablierten Felder der Emotionsgeschichte und soziologie fast vollständig aus, weswegen es nicht nur an methodischen Zugängen zur Erinnerungskulturellen Analyse von Emotionen fehlt, sondern auch an systematischen Überlegungen gegenüber der Frage, was unter Affekten bzw. Emotionen überhaupt zu verstehen ist. Der als offensichtlich angenommene Zusammenhang von Erinnern und Fühlen wird dabei zumeist als eine psychologische Disposition in der Erinnerungsforschung vorausgesetzt, sodass als Konsequenz individuelle Erinnerungsprozesse auf kollektive gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Insbesondere durch das die Erinnerungsforschung prägende Interesse am Holocaust haben sich verschiedene Erinnerungstopoi etabliert, wie das des kollektiven Traumas (vgl. Edkins 2003; Hutchison 2010; Kaplan 2007 [2005]) oder einer moralisch begründeten Schuld- und Verantwortungsübernahme (vgl. Dubiel 1999; Schwan 2001 [1997]). Die emotionale Belastung von Gesellschaften als Folge ‚historischen Leids‘ ist dabei zur unhinterfragten Voraussetzung der Erinnerungskulturellen Auseinandersetzung mit vergangenen Verbrechen geworden. Abweichend von diesen ontologisch bzw. normativ gefassten Emotionszugängen werde ich unter Rückgriff auf die historische Emotionsforschung die geschichtliche Wandelbarkeit und damit den Konstruktionscharakter emotionaler und affektiver Zustände zum Ausgangspunkt meiner Analyse machen. Dafür beleuchte ich in Kapitel 4.1 zuerst den Zusammenhang von Moralitätskonstruktion, Emotionen und der Herhttps://doi.org/10.1515/9783111018683-004

Emotionen und Affekte und die Herausbildung moralischer Kollektivideale 

 69

stellung gesellschaftlicher Normen, die letztlich die Erinnerbarkeit historischer Verbrechen begründen. Darauf aufbauend beschäftige ich mich in Kapitel 4.2 zunächst mit den in der Emotionssoziologie und geschichte verbreiteten Begriffen Emotion und Affekt, um schließlich zu begründen, warum diese Arbeit keine strenge Trennung der Begriffsdefinitionen verfolgt. Stattdessen führe ich als Analysewerkzeug den von Lila Abu-Lughod und Cathrine Lutz (1990) vorgeschlagenen Begriff der emotionalen Diskurse ein, um Emotionen und Affekten konsequent im Sozialen und Kulturellen zu verorten. Um die (emotionalen) Machtdynamiken innerhalb postkolonialer Erinnerungspolitiken verstehen zu können, erläutere ich in Kapitel 4.3 den Begriff der emotionalen Ordnungen als übergeordnete Strukturkategorie, die die emotionalen Diskurse in eine hierarchische Beziehung zueinander setzen. Als weiteren zentralen Punkt, der hier abschließend Beachtung finden soll, benennen Tea Sindbæk Andersen und Barbara Törnquist-Plewa bei ihrer Verknüpfung von Erinnerungen und Emotionen die Bedeutung Letzterer in der medialen Übertragung erinnerungsrelevanter Inhalte. Demnach werden uns zeitlich wie örtlich weit entrückte Vergangenheiten mittels massenmedialer Vermittlung wieder zugänglich gemacht und mit emotionaler Bedeutung versehen (vgl. Sindbæk Andersen und Törnquist-Plewa 2016, 9). In Kapitel 4.4 wende ich abschließend Medientheoretische Forschungszugänge auf die Erinnerungsforschung an, um die Grundsteine für den Umgang mit den größtenteils medial vermittelten Quellen zu legen, die in dieser Arbeit diskursanalytisch untersucht werden (vgl. Kap. 6).

4.1 E  motionen und Affekte und die Herausbildung moralischer Kollektivideale Die in der Erinnerungsforschung zentralen Konzepte und Topoi entstanden in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und deren Zeitzeugenzentrierung (vgl. Kansteiner 2004), weswegen der Literaturwissenschaftler Bryan Cheyette (2018, 1237) die Entstehungsgeschichte der Memory Studies wesentlich in den Holocaust Studies verankert sieht. Bereits in Kapitel 2.4 habe ich darauf verwiesen, wie sich die von Barkan (2002) beschriebene „internationale Moral“ oder die von Assmann beobachtete „ethische Wende“ (Assmann 2014 [2006], 76) vor dem Hintergrund der Globalisierung des Holocaust-Gedenkens vollzog. Einen kritischen Blick gilt es dabei auf den oftmals universell gefassten Begriff der Moralität zu werfen. Als rhetorisches Mittel begründet der Verweis auf das moralisch Gebotene nicht nur einen Erinnerungs- und Aufarbeitungsimperativ gegenüber vernachlässigten Vergangenheiten. Vielmehr wird Moralität grundlegend mit kollektiven Gefühls-

70 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

zuständen verknüpft, wie vor allem wegweisende Arbeiten in Bezug auf die deutsche Auseinandersetzung mit dem Holocaust nahelegen. Im deutschen Kontext hat sich mit dem Buch Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich (2012 [1967]) schon früh eine psychoanalytische Sicht auf die Aufarbeitung der Vergangenheit durchgesetzt. Die beiden Psychoanalytiker:innen übertrugen dabei den auf das individuelle Erleben zielenden Begriff der „Trauerarbeit“ auf die gesellschaftliche Ebene, um Prozesse „kollektiven Verdrängens“ zu beschreiben (vgl. Freimüller 2011). Der Soziologe Bernard Giesen (2004, 18) knüpft daran an, wenn er in seinem Buch Tätertrauma das psychologische Konzept des Traumas auf die nachkriegsdeutsche Gesellschaft anwendet. Eine ‚Verdrängung‘ der Vergangenheit sei deswegen nicht möglich, da sich die gewaltvollen Erfahrungen des Kriegs derart auf das Innenleben auswirkten, dass sie sich immer wieder Bahn brächen (Giesen 2004, 18). In ihrem zuerst 1997 erschienen Buch Politik und Schuld verknüpft die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan die Begriffe Moral und Schuld im Konzept der „moralischen Schuld“. Diese könne zwar nicht vererbt werden, „aber die psychischen und moralischen Folgen ihres Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen und den Grundkonsens einer Demokratie“ (Schwan 2001 [1997], 17, kursiv im Original). Dabei geht Schwan davon aus, „dass Schuld eine zentrale Kategorie menschlichen Grundbefindens ist, in der sich das Selbstverständnis der Person […] bekundet“ (Schwan 2001 [1997], 17). Zentral ist hierbei, dass das ‚Leid der Anderen‘ – hier das Leid der Jüd:innen und der vom Nationalsozialismus Verfolgten – nur anerkannt werden kann, wenn diejenigen, die die Gewalt in der Vergangenheit verantworteten, ihre ‚Schuld‘ akzeptierten. In seiner Studie Niemand ist frei von der Geschichte (1999) hat sich auch der Soziologe Helmut Dubiel der Anerkennung von Schuld im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945 zugewandt. Seine Untersuchung der Parlamentsdebatten des Deutschen Bundestages seit 1949 weist nach, dass die Parlamentarier:innen von 1950 bis 1970 nicht in der Lage gewesen sind, sich selbst als Täter:innen des Nationalsozialismus aufzufassen. In der frühen Bundesrepublik dominierten im kollektiven Gedächtnis die Erzählung, ‚Opfer‘ und Verlierer des Kriegs gewesen zu sein. Aus diesem Grund attestiert Dubiel der deutschen Nachkriegsgesellschaft einen „moralischen Souveränitätsmangel“, der eine kollektive Verantwortungsübernahme für die nationalsozialistischen Verbrechen unterband (Dubiel 1999, 288). In den hier beschriebenen Arbeiten wird deutlich, dass die kollektive Schuldabwehr erst mit dem Generationenwandel überwunden werden konnte. Dubiel (1994, 889) schreibt, dass erst die nachfolgenden Generationen die Schuld akzeptieren konnten, eben weil sie keine individuelle Schuld trugen, sich aber qua ‚Nation‘ oder Familie der „Tätergeneration verwandt fühlen“. Trotz ihres bedeu-

Emotionen und Affekte und die Herausbildung moralischer Kollektivideale 

 71

tenden Beitrags zur nachkriegsdeutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus sind diese früheren Studien durch eine normativ-teleologische Sprache gekennzeichnet, bei der das psychische Leiden an der Vergangenheit durch Schuldanerkenntnis überwunden werden kann. So heißt es bei Dubiel unter anderem: Am Phänomen des Beschweigens dieser Gräuel [des Holocaust, Anm. S. R.] in der frühen Nachkriegszeit kann man aber auch lernen, dass die Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit […] nicht etwa Teil einer unveränderlichen Condition humaine darstellt. Sie ist vielmehr in soziologischer wie in psychologischer Hinsicht ein pathologisches Symptom. (Dubiel 1999, 16)

Daraus leitet der Soziologe den Befund ab, dass „Schuld […] erst dann entsteht, wenn wir uns weigern, eine belastende Vergangenheit so zu erinnern, dass sie tatsächlich zu einem Teil unseres Innern wird“ (Dubiel 1999, 17). Die Wahl der Sprache, die eine Internalisierung von Schuld zur Voraussetzung zur Aufarbeitung ‚schmerzhafter‘ Vergangenheiten machte, führte mich letztlich dazu, näher zu ergründen, auf welche Weise der Vergangenheit emotionale Bedeutung in der Gegenwart zugewiesen wird. Blicke ich auf meine eigene schulische Sozialisationserfahrung, dann hatte ich zwar eine moralisch begründete – und folglich ‚gefühlte‘ – Erinnerungspflicht an den Holocaust internalisiert, dies konnte ich jedoch nicht bei all meinen Mitschüler:innen beobachten. Ich fragte mich daher, inwiefern diese früheren Arbeiten Zeugnisse einer Generation sind, die in einem kommunikativen Austausch über die Kriegserlebnisse stand und insbesondere durch eigene familiäre Erfahrungen geprägt war. Indizien für den generationellen Wandel liefert hier die Dissertation When will we talk about Hitler? der Sozialwissenschaftlerin Alexandra Oeser (2019), die in ihrer Arbeit untersucht hat, wie die Geburtenkohorten zwischen 1984 und 1989, zu denen auch ich zähle, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgehen. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass das Aneignen eines etablierten Geschichtsbilds in der schulischen Bildung unterschiedliche Funktionen erfüllt. Vom Lehrpersonal wird die Vermittlung des Nationalsozialismus vor allem als Beitrag zu einer Erziehung zu Toleranz und Demokratie verstanden. Dass die Schüler:innen diesen „legitimen Diskurs über die NS-Vergangenheit“ (Oeser 2019, 118) inkorporieren, erfolgt jedoch nicht nur aus politischem Engagement heraus, sondern auch, um den schulischen Erfolg sicherzustellen oder sozial aufzusteigen. Weiterhin untersucht Oeser den Begriff der „Übersättigung“, der die öffentlichen Debatten in Bezug auf die Vermittlung der nationalsozialistischen Vergangenheit bestimmte. Dahingehend kommt die Soziologin zu dem Befund, dass „Übersättigung“ aus einer „Kombination von ‚zu viel‘ Inhalt und ‚zu wenig‘ Qualität“ (Oeser 2019, 269, Übersetzung S. R.) resultieren würde. Werden jedoch in der Oberstufe „simplistische emotionale Erklärungsmodelle“ und die Vermittlung „vager Schuldvorstellungen“ aufgegeben, würde

72 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

auch das Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wieder zunehmen, so Oeser (2019, 269, Übersetzung S. R.). Interessant ist hierbei die Frage danach, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit historischen Verbrechen emotionale Relevanz in der Gegenwart zugeschrieben und somit eine Erinnerungspflicht an diese Vergangenheiten inkorporiert wird (vgl. Robel 2013, 74). Am Beispiel der schulischen Bildung vermittelt Oesers Arbeit einen Eindruck davon, auf welche Weise sich das Gedenken an die NS-Verbrechen und deren Vermittlung in den 1990er-Jahren transformierten. Mit den 1990er-Jahren, in denen sich das Holocaust-Gedenken universalisiert und globalisiert, beginnt langsam ein Wandel einzusetzen, bei dem die intergenerationell auf Kommunikation basierende Gedächtnisbildung abgelöst und die Massenverbrechen des Nationalsozialismus zunehmend durch „materielle Träger“ wie Archive, Museen, Filme, Literatur, etc. vermittelt werden (vgl. Assmann 2014 [2006], 51–61, insb. 54). Vor dem Hintergrund des Ablebens der letzten Zeitzeug:innen, der zunehmenden Perzeption Deutschlands als Migrationsgesellschaft und der wachsenden Forderung nach einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit stellt sich die Frage nach der Zuschreibung emotionaler Bedeutung gegenüber unterschiedlichen Vergangenheitsrepräsentationen für die Gegenwart nochmals neu (vgl. Messerschmidt 2008). Diese Arbeit zu schreiben, begründet sich somit mit der Feststellung, dass der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in meiner schulischen und universitären Laufbahn kaum „Erinnerungsrelevanz“ (Robel 2013, 74) zugeschrieben wurde, weil ihr – wie mir schien – die ‚emotionale‘ Bedeutung für die Gegenwart fehlte. Schließlich muss das „unstillbare Entsetzen“ (Dubiel 1994, 884) über die Verbrechen der Vergangenheit als diskursive Praktik hergestellt und als moralische Norm zur Aufarbeitung erst perpetuiert werden (vgl. Oeser 2019). Die diskursive Herstellung von Emotionen und deren Beitrag in der Hervorbringung moralisch begründeter Erinnerungsnormen sind bisher kaum zentraler Gegenstand der Erinnerungsforschung. So wird auch in späteren Studien die affektive Dimension des Moralitätsbegriffs und ihre Bedeutung in der Ausbildung gesellschaftlicher Normen nicht hinreichend in die Analyse integriert, wie ich bereits anhand der Arbeiten Barkans (2002) und auch Craps und Rothbergs (2011) in Kapitel 2.4 gezeigt habe. Kommen wir auf die Beschreibung einer „internationalen Moral“ (Barkan 2002) zurück, ließe sich diese als diskursive Verstetigung eines ethischen Verantwortungsgefühls verstehen, das sich als normativer Standard global durchsetzen konnte. Als moralische Norm akzeptiert, beschreibt sie folglich ein „Kollektivideal“ (Durkheim 1973 [1922], 136), dessen Ansprüchen die Gesellschaft versucht Genüge zu leisten. Den Begriff des „Kollektivideals“ entlehne ich hier dem französischen Soziologen Émile Durkheim, der in seinen Moralsoziologischen wie theoretischen Ausführungen drei grundlegende „Elemente der Mora-

Emotionen und Affekte und die Herausbildung moralischer Kollektivideale 

 73

lität“ bestimmt hat – die Disziplin oder die Autorität der Moral, die sich durch bestehende „Moralregeln“ ausdrückt, die Bindung an eine Gruppe (vgl. Isambert 2013, 30) und schließlich die „Einsicht der Moral“, die auf der Freiwilligkeit der Orientierung an den Moralregeln fußt (Durkheim 1973 [1922], 164–165). Die moralischen Tatsachen bilden sich dabei im Gegensatz von Autorität und Ideal heraus (vgl. Isambert 2013, 28), wobei die Gesellschaft zugleich als „Ziel“ als auch als „Schöpferin“ der Moral auftritt (Durkheim 1973 [1922], 134). Die Moralregeln sowie die Kollektivideale divergieren je nach Gruppenbindung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, was vor allem Assmann und Dubiel mit ihren Untersuchungen herausgearbeitet haben. Die Philosophin Susan Neiman (2020, 311) unterstreicht mit Blick auf die bundesrepublikanische Vergangenheitsaufarbeitung des Nationalsozialismus insbesondere die Bedeutung dessen, was Durkheim als „Einsicht der Moral“ beschrieben hat. Demnach wird die Aufarbeitung historischen Unrechts erst dann zur moralischen Pflicht, wenn die gesellschaftliche Orientierung an den moralischen Kollektividealen bewusst und freiwillig erfolgt (vgl. Durkheim 1973 [1922], 165). Gewendet auf die Sagbarmachung zuvor marginalisierter Vergangenheiten bedeutet dies, dass die im Kollektivideal angelegten gesellschaftlichen Normen ein Koordinatensystem vorgeben, in dem Erinnerungsträger:innen „moralische Autorität“ ausüben können oder ihnen diese verweigert wird (vgl. Assmann 2006, 81; Barkan 2002, 358). Dass der Rekurs auf die moralische Verpflichtung zur Aufarbeitung historischen Unrechts weniger als soziologische Tatsache und stattdessen als normativer Appell gebraucht wird, verstellt den Blick auf die global wirkenden Machtasymmetrien. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Wirkung von Emotionen zu, die die moralischen Standards als eine emotionalisierende ‚Sprache der Versöhnung‘ verstetigten (vgl. Assmann 2014 [2006]; Barkan 2002). Eben jene Machtdimension in den Blick nehmend, macht die Anthropologin Ann Laura Stoler (2009, 68) in ihrem Buch Along the Archival Grain über das koloniale Indonesien deutlich, dass die Moralregeln nicht nur von den kolonialen Zentren der Macht hervorgebracht werden. Vielmehr kann Moral sowohl rational und emotional ausgedeutet werden. Im Rekurs auf Weber und Durkheim verknüpft Stoler die vermeintliche Gegensätzlichkeit von Rationalität und Moralität, wenn sie die Regierungsgewalt kolonialer Staaten als „harnessing of affect in the state’s shaping of what constituted morality and who had the right to assess it“ beschreibt (Stoler 2009, 69). In der diskursiven Hervorbringung moralischer Vorstellungen rationalisieren sich bestimmte soziale Normen, aber auch Affekte und Emotionen. In diesem Sinne gilt es mit Stolers Worten festzuhalten, dass die Zustimmung zu Herrschaft „by adjudicating what constituted moral sentiments (that is, affectively informed good reason)“ erzielt wird (Stoler 2009, 69). Was Stoler am Beispiel des kolonialen Indonesien zeigt, lässt sich jedoch auch auf

74 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

gegenwärtige Erinnerungspolitiken übertragen: Denn ‚moralische Gemeinschaften‘ konstruieren sich weiterhin in Abgrenzung von den ‚Anderen‘, sodass das ‚eigene Leid‘ ins Zentrum gestellt wird (nach David Morris, zit. in: Kleinman et al. 2010, xxi). In den Prozessen der Anerkennung kolonialer Gewalt findet folglich eine Auseinandersetzung um die Bewertung des ‚eigenen Leids‘ im Gegensatz zu dem der ‚Anderen‘ statt (vgl. Kap. 7). Im Folgenden konzeptualisiere ich die Analysewerkzeuge der emotionalen Diskurse und Ordnungen, die als Instrumente dienen sollen, um die ambivalente Konstruktion von Moralität kontextbezogen und historisierend nachzuvollziehen.

4.2 Die Beschreibung emotionaler Diskurse Die mittlerweile etablierte historische Emotionsforschung bzw. die soziologische Affektforschung haben geeignete theoretische und methodische Zugänge hervorgebracht, um Emotionen in der Erinnerungskulturenforschung systematisch als soziale Praktiken erforschen zu können. Die disziplinär unterschiedlich verorteten Forschungszugänge weisen jedoch beachtliche Divergenzen in ihren jeweiligen Herangehensweisen auf, die sich nicht nur in der Wahl der Terminologien widerspiegeln. Während das soziologische Interesse verstärkt auf Affekte und die sozial konstituierten Körperpraktiken abzielt, untersucht die Emotionsgeschichte insbesondere die Verschiebung von Bedeutungssemantiken im Zeitverlauf.10 Dennoch wendet sich die historische Forschung seit einiger Zeit, inspiriert von soziologischen Erkenntnissen, praxeologischen Zugängen zu, die die Affizierung sozialer Normen und das emotionale Körperhandeln in sozialen Kontexten insbesondere mit Bourdieus Habitus-Verständnis zu erklären sucht (vgl. Eitler und

10  Hervorheben möchte ich an dieser Stelle die unterschiedlichen Verwendungen der Begriffe in der französischen und deutschen Wissenschaftstradition. In dem Überblicktext der Historiker Quentin Deluermoz, Emmanuel Fureix, Hervé Mazurel und M’hamed Oualdi (2013, 4) über die Rezeption der Emotionsforschung in Frankreich wird zwischen den Begriffen émotion und sentiment differenziert. Die émotion trete demnach eruptiv auf und verstetige sich erst im Zeitverlauf zu einem dauerhaft bestehenden sentiment. In der deutschen Literatur, die sich stärker an der englischen Tradition orientiert, wurde der Begriff des Gefühls (sentiment) allerdings kaum systematisiert. Émotion hingegen entspricht der deutschen Verwendung des Affekt-Begriffs. In meinen Recherchen, die sich maßgeblich an der deutschsprachigen Forschungstradition ausrichten, habe ich einen disziplinären Unterschied zwischen der Geschichtswissenschaft, die Emotionen als auf Dauer gestellte Formationen untersuchen, und den Sozialwissenschaften, die sich mehr für Affekte als kurzfristige Gefühlsäußerungen interessieren, wahrgenommen (vgl. Deluermoz et al. 2013, 4, 40). Ziel des Kapitels ist es, diese Differenzierung zu relativieren, die trotz unterschiedlicher Begriffsverwendungen auch in der französischen Forschungstradition besteht.

Die Beschreibung emotionaler Diskurse 

 75

Scheer 2009; Gould 2009; Scheer 2012). Ohne einen ausführlichen historischen Überblick der Entwicklungen der beiden Fachdisziplinen nachzeichnen zu wollen, soll anhand des bisherigen Forschungsstands erarbeitet werden, warum ich für die Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken keine Differenzierung von Affekten und Emotionen vornehmen werde. Beiträge zur Emotionsforschung beginnen meist mit einem Blick auf eine ganze Reihe vermeintlicher Gegenüberstellungen, die die Forschung bisher kennzeichnete (vgl. Gammerl und Hitzer 2013). Zentral sind dabei vor allem Fragen nach dem individuellen Gefühlserleben und der Beschreibung von Emotionen auf der kollektiven Ebene, wonach eine Unterscheidung von „innerem“ Empfinden und „äußerem“ Gefühlsausdruck getroffen wird. Es werden ebenso die Gegensätze ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ verhandelt wie auch das Verhältnis zwischen Normen und Erfahrungen, Performativität und Diskurs sowie Körperlichkeit und sprachlicher Ausdruck (vgl. Gammerl 2012, 162). Affekte wurden dabei zumeist als der spontane, unbewusste Gefühlsausdruck verstanden, der im Gegensatz zur Kognition stand, wohingegen Emotionen einen Kognitionsprozess durchlaufen hätten, der verbalisiert werden könne. Der Philosoph Brian Massumi (2002) hat dazu beigetragen, Affekte nicht als ungesteuerte körperliche Reaktionen zu verstehen, sondern in der sozialen Welt zu verorten (vgl. Grusin 2010, 81). Untersuchungen in der Geschichtswissenschaft waren hingegen lange Zeit auf die Analyse semantischer Veränderungen einzelner Emotionswörter und Repertoires im Zeitverlauf konzentriert (vgl. Frevert 2013; Gammerl und Hitzer 2013; Hitzer 2011). Die (Wieder-)Entdeckung des Körpers (oder auch des Raumes) ist dabei weiterhin ein recht neues Phänomen in der Geschichtswissenschaft (vgl. Eitler und Scheer 2009; Gammerl 2012; Scheer 2012). Der Historiker William M. Reddy (2001, vgl. auch Kap. 3) hat mit seinem Buch The Navigation of Feeling eine Studie vorgelegt, die sich verstärkt mit der psychologischen Affektforschung auseinandersetzt und daraus den Begriff des emotives ableitet, der Affektregulierung und Sprache verknüpft und somit einen Gegenentwurf zu bisher dominanten poststrukturalistischen Lesarten der historischen Emotionsforschung anbietet (vgl. Reddy 1997, 331). Reddys Konzept setzt allerdings voraus, dass es „etwas“ gibt, dass sprachlich nicht erfassbar ist, womit sich die methodischen Fallstricke eröffnen, entweder die Existenz „wahrer“ Gefühle oder ein intentionales Gefühlshandeln anzunehmen. Die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari unterstreichen mit ihrem Verständnis von Affekten wiederum deren performativen Charakter, der die Veränderung des affektiven Ausdrucks im Prozess der Reiteration einschließt und somit den Raum für Widerständigkeiten und Abweichungen ermöglicht, was letztendlich die Möglichkeit zur Modifikation von Gefühlsnormen eröffnet. In ihrem 1994 entstandenen Werk What is Philosophy? schreiben sie, dass

76 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell [a]ffect thus cannot be reduced to either „discourse“ or „emotion“ but rather exceeds these categories; it is a material intensity that emerges via the „in-between“ spaces of embodied encounters, circulating power not primarily as a mode of discursive regulation but rather as the potential to „become otherwise“. (Deleuze und Guattari, 1994, zitiert in: Brooks 2016, 103)

Diese Lesart verdeutlicht, dass sich eine strenge Trennung der Begriffe „Affekt“ und „Emotion“ als nicht zielführend erweist. Statt jedoch Diskurse, wie bei Deleuze und Guattari angedeutet, als ausschließlich sprachlich vermittelt zu betrachten, gehe ich davon aus, dass affektives Gefühlshandeln ebenso sprachlich auf Dauer gestellt wird, wie auch semantische Gefühlsartikulationen wiederum als Körpererfahrungen hervorgebracht und verstetigt werden. Für diese Untersuchung zentral ist dabei die Annahme, Affekte und Emotionen als soziale und kulturelle Produkte zu verstehen und nicht als inneres Erleben, dass sich nach Außen Bahn bricht. Denn emotionale Diskurse begrenzen auch unser Repertoire möglicher körperlicher Gefühlsausdrücke. Konkret heißt das aber auch, dass die diskursiv hervorgebrachte körperliche Gefühlspraktik letztendlich auch den lexikalischen Ausdrucksmöglichkeiten Grenzen setzt (vgl. Deluermoz et al. 2013, 15). Zur Konzeptualisierung dieser Annahmen greife ich den von Lila Abu-Lughod und Cathrine Lutz (1990, 13) vorgeschlagenen Begriff der emotionalen Diskurse auf. Beide Autorinnen fassen Emotionen als soziale Praktiken auf, die Auswirkungen auf die soziale Wirklichkeit haben und sich folglich auch körperlich als embodiments einschreiben (Abu-Lughod und Lutz 1990, 13). Durch diese performative Qualität des Diskurses sind Emotionen in einem relationalen Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit zu verstehen, in dem sich wechselnde Machtkonstellationen widerspiegeln (Abu-Lughod und Lutz 1990, 11). Die von den Autorinnen entwickelten Ideen aufnehmend, interessiert sich Sara Ahmed in ihrem viel rezipierten Buch The Cultural Politics of Emotions (2004, 4) deshalb auch weniger dafür, was Emotionen sind, sondern dafür, was sie bewirken. Ebenso wie Abu-Lughod und Lutz macht Ahmed die Sozialität von Emotionen zur Grundlage ihrer Auseinandersetzung (vgl. Ahmed 2004, 8), womit auch sie die Annahme zurückweist, es mit einem inneren und damit psychologischen Gefühlszustand zu tun zu haben, der sich beschreiben ließe (vgl. Ahmed 2004, 9). Folglich kann nicht das Individuum als Urheber:in von Gefühlen betrachtet werden. Indem sie Gefühle als etwas versteht, was den „sozialen Körper“ zusammenhält, können die sozialen Normen herausgearbeitet werden, die sich die Gefühlswelten von Individuen auswirken (vgl. Ahmed 2004, 9). Übertragen auf den hier vorliegenden Untersuchungsgegenstand heißt das, dass der Bezug auf die Vergangenheit diskursiv unterschiedliche Emotionen hervorbringt, die entsprechend auf das individuelle Empfinden der Individuen rückwirken können. Genauso wie Erinnerungen konstruiert werden und ihre Inhalte in Relation zur Gegenwart gesetzt werden, wird auch das affektive Empfinden in Bezug auf diese Vergangenhei-

Die Beschreibung emotionaler Diskurse 

 77

ten hergestellt. Emotionen sind dabei keine ontologischen Konstanten, die ‚in‘ Körpern oder ‚in‘ Texten anzufinden sind (vgl. Ahmed 2004, 9). Sie sind vielmehr Effekte von Konstruktionsprozessen, die abstecken, was die relevanten Inhalte postkolonialer Erinnerungspolitik sind, wie diese textlich affiziert werden und als performative Praktiken darüber bestimmen, was über die koloniale Vergangenheit erinnert wird und was nicht (vgl. Abu-Lughod und Lutz 1990, 10–11). Obwohl Ahmed ihren Untersuchungen ein dynamisches und relationales Emotions-/Affektverständnis zugrunde legt, lässt sie die Frage nicht los, warum sich trotz widerständigen affektiven Verhaltens eine Dauerhaftigkeit einstellt, sodass die etablierten Machtverhältnisse kaum transformiert werden. „Why are relations of power so intractable and enduring, even in the face of collective forms of resistance?“ (Ahmed 2004, 12). Dabei stellt Ahmed fest, dass Emotionen und Affekte zu den Voraussetzungen unserer eigenen Unterordnung werden, da sie sich als Regularien und Normen in die Körper einschreiben. Daran erklärt sie, wie emotionale und affektive Normierungen als Praktiken des Selbst etablierte Machtverhältnisse aufrechterhalten. Sie, und viele andere feministische Autor:innen zuvor, entziehen Emotionen somit ihrer Privatheit und entsprechenden Psychologisierung, um sie stattdessen als Strukturkategorien aufzufassen. Emotionen dienen folglich nicht nur der individuellen Unterordnung, sondern auch als konkretes Machtmittel herrschender Gruppen, um deviante Artikulationen an ihren sozialen/ökonomischen/symbolischen Platz zu verweisen.11 Um diesen auf Dauer gestellten Unterordnungsverhältnissen nachzugehen, ist es nicht nur sinnvoll, Affekte und Emotionen als ein zusammengehöriges und sich bedingendes Strukturmodell zu verstehen, sondern insbesondere eine diachrone Perspektive zu integrieren, um den Wandel dieser Regularien im Zeitverlauf nachvollziehen zu können – was insbesondere als Beitrag der historischen Emotionsforschung auszufassen ist (vgl. Nielsen 2015). Der historisierende Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich interessiert sich dafür, inwiefern emotionale Diskurse „vary across times and settings“ (Gammerl 2012, 162), wobei transnational wirkende emotionale Ordnungen unterschiedliche Effekte in den jeweiligen nationalen Kontexten entfalten können. Aus diesem Grund bietet sich eine diskurstheoretische Herangehensweise zur Betrachtung von Emotionen an. Auch Ahmed (2004, 13) konzentriert sich auf die „Emotionalität“ von Texten. Texte ‚performen‘ demnach Emotionen, die textlichen Emotionen sind gleichsam performativ, was zur Zirkulation und Bedeutungsverschiebung im dia-

11  Als Beispiele lassen sich sowohl klassistische Abwertungen von Arbeiter:innenbewegungen, wie zuletzt mit den „Gelbwesten“ in Frankreich geschehen, oder auch die sexistische Abwertung von Frauen anbringen (vgl. Ahmed 2004, 3).

78 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

chronen Verlauf führt. Folglich geht es für Ahmed zunächst um die Frage, wie Emotionswörter mit anderen Objekten verknüpft bzw. mit anderen Emotionen ins Verhältnis gesetzt werden. Um zu untersuchen, welche Gegenstände in erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen diskursiv hervorgebracht werden und welche emotionalen Praktiken mit diesen im Zusammenhang stehen, werde ich im Folgenden ein von Foucault inspiriertes Diskursverständnis entwickeln und daran als zweites Konzept die Rekonstruktion emotionaler Ordnungen für die Untersuchung vorschlagen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Emotionen als diskursive Verstetigungen zu transnationalen emotionalen Ordnungen gerinnen (können) und auf unterschiedliche Art und Weise französische und deutsche postkoloniale Erinnerungspolitiken formen.

4.3 M  achtverhältnisse abbilden: Zur Untersuchung emotionaler Ordnungen in postkolonialen Erinnerungspolitiken Wie schon in Kapitel 2 ausgeführt, bedeutet eine transnationale Zirkulation emotionaler Bezüge, die mit der kolonialen Vergangenheit verknüpft sind, keineswegs, dass damit die Bedeutung nationalstaatlicher Erinnerungspolitiken unterminiert wird (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 7). Ahmeds wesentliches Interesse an den Cultural Politics of Emotion (2004) besteht in der Beschreibung einer Affizierung der ‚Nation‘ und den dadurch etablierten identitätsstiftenden Mechanismen, die sowohl ein handlungsgenerierendes Potenzial als auch Zugehörigkeiten herstellen oder verweigern können. Eine transnationale Perspektive sollte daher die ‚Nation‘ als mögliche „gefühlte Gemeinschaft“ (Späth 1999) nicht aus dem Blick verlieren, da diese eine entsprechende Wirkungsmacht entfalten kann. In Ergänzung zu Ahmed, die Emotionen als normengeleitete Körpertechniken in den Blick nimmt, die für die Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse sorgen, werde ich Affekte/Emotionen im Anschluss an Ann Laura Stoler (2009) außerdem als Produzenten hegemonialer Wissenssysteme auffassen. Daraus leite ich die für diese Arbeit zentrale Analysekategorie emotionaler Ordnungen ab, um mit deren Hilfe den stabilisierenden und transformierenden Funktionen von Emotionen/Affekten in postkolonialen Erinnerungspolitiken auf die Spur zu kommen. In ihrem Buch Along the Archival Grain (2009, 71) und genauer im Kapitel „Habits of the Colonial Heart“ macht Stoler Affekte12 explizit zum Gegenstand

12  Stoler spricht in ihren Untersuchungen von affect, aber auch sentiment, ohne dass meines

Machtverhältnisse abbilden 

 79

staatlichen Regierens der ehemaligen niederländischen Kolonialverwaltung in Indonesien, indem sie unterstreicht: „Statecraft was not opposed to the affective, but about its mastery […].“ Zentral ist dabei zum einen die Akkumulation „affektiven Wissens“, das der staatlichen Praxis sowie dem Einhegen und Kontrollieren von Emotionen dient (Stoler 2009, 71). Wesentlich ist dabei wohl aber, dass Staaten „affektives Wissen“ produzieren, das als Herrschaftsinstrument nicht nur Gefühlsregeln hervorbringt, sondern auch definiert, welche Gruppen legitime Subjekte bestimmter Gefühlsausdrücke sind. Regierungsführung zeichnet sich somit durch eine emotionale Differenzierungs- und Hierarchisierungsfunktion aus, die nicht nur emotionale Regularien hervorbringt, sondern diese auch „ungleich“ verteilt. Koloniale Herrschaftssysteme generieren, sammeln und verwalten Emotionswissen, welches sich als Mechanismen der Beherrschung in die Herstellung symbolischer und materieller Platzzuweisungen übersetzt hat. Indem Stoler (2009, 71) die Einübung affizierten Wissens als Selbsttechnik auffasst, schreibt sich das koloniale Herrschaftssystem allerdings auch als ein „gefühltes“ ein, das somit legitimiert und auf Dauer gestellt werden kann. Herrschaftswissen bringt folglich legitimes emotionales Handeln hervor, wobei abweichende Praktiken ausgeschlossen und sanktioniert werden. Wichtig ist an Stolers (2009, 73) Ausführungen auch, dass sie Emotionen und Affekte gerade dort sucht, wo sie oft nicht erwartet werden – in den vermeintlich „emotionslos“ dokumentierenden Akten der Kolonialverwaltungen. Sie unterstreicht, dass Rationalität und Emotionalität nicht als Gegensätze zu verstehen sind, vielmehr stehen die Hervorbringung, Definition, Steuerung und Einhegung von Emotionen im Zentrum „politischer Rationalität“ (Stoler 2009, 95). Wenn Emotionen als diskursive Verstetigungen machtstabilisierend sind, werden sie zur Legitimation rationalisiert, während abweichendes Emotionshandeln politisch delegitimiert und als ‚emotional‘ gebrandmarkt wird. Folglich lässt sich auch die vermeintliche Gegensätzlichkeit von Emotionalität und Rationalität nicht aufrechterhalten; denn Diskursivität bedeutet, dass diese die Voraussetzungen schafft, „to sense and feel what exactly constitutes rational actions“ (Koschut et al. 2017, 503, Hervorhebung S. R.). Insbesondere die Favorisierung objektiver Rationalität, wie sie im Westen den Vorzug gegeben wird, muss daher als affektivpolitische Maßnahme verstanden werden, die nicht westliche Positionen mittels des Verweises auf deren Emotionalität delegitimiert. Zum einen zielt diese Arbeit

Wissens nach Erläuterungen zur Begriffswahl gegeben werden. Kontrastierend mit der Arbeit von Sara Ahmed, die beide Begriffe verwendet und mit Affekten vor allem auf die körperliche Einschreibung bestehender Machtverhältnisse abzielt, bevorzuge ich in dieser Arbeit den Begriff der Emotionen, da auch ich, wie Ahmed, eine textliche Untersuchung vornehme.

80 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

auf die Untersuchung von affektivem Wissen, wie Stoler es tut, welches in Form von Emotionsregeln handlungsbestimmend ist. Zum anderen gilt es, darauf zu schauen, wie die Wissensvermittlung kolonialer Vergangenheiten mit emotionalen Diskursen besetzt wird. Denn das hervorgebrachte affektive Wissen gestaltet die Prozesse des Erinnerns und Vergessens, erzeugt entsprechend hierarchisierende Wissensordnungen und definiert, welche Subjekte die Legitimierung erfahren, sich artikulieren zu können. Aus diesem Grunde stellt sich auch die Frage nach den Bedingungen, unter denen Wissen über den Kolonialismus und die Anbindung an entsprechende Gefühlswelten hervorgebracht werden und die sie somit zu einem Herrschaftsinstrument machen (vgl. Stoler 2002, 12). Um eine geeignete Operationalisierung zu entwickeln, die auch Ahmeds Verkörperung emotionaler Praktiken mit Stolers Betrachtung von Affekten als Wissenskategorien zusammenbringt, verfolge ich – wie schon zuvor angedeutet – eine diskurstheoretische Analyse von Emotionen. Der Zugang zu Emotionen durch Sprache (wie es auch zentral für die Arbeiten von Ahmed (2004) und Stoler (2009, 2002) ist) bleibt die zentrale Betrachtungsebene, wobei diese als performative Praxis Emotionen herstellt und sich auch „körperlich“ einschreibt. Emotionen und Diskurs sind nicht als zwei voneinander getrennte Sphären zu verstehen, bei denen der Diskurs Emotionen transportieren würde, die dann durch das Mittel der Sprache zum Ausdruck kommen (vgl. Abu-Lughod und Lutz 1990, 12). Im Anschluss an Foucaults Diskursverständnis, das er in der Archäologie des Wissens (2015 [1969]) darlegt, werde ich eine vergleichende Methode entwickeln, mit der ich die emotionalen Diskurse in postkolonialen Erinnerungspolitiken herausarbeite. Diskurs ist dabei als eine „Menge von Aussagen“ zu verstehen, die einem historischen Wandel unterliegen und die regelnde Ordnung des in der Gegenwart Sagbaren bilden (Kerchner und Schneider 2006, 10). Diskurse beschreiben die Verstetigung von Wissensbeständen, sodass sie, wie schon so oft zitiert, „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 2015 [1969], 74). In ihrer wirklichkeitskonstituierenden Funktion sind Diskurse als „Menge von sprachlichen Performanzen“ zu verstehen (Foucault 2015 [1969], 74). Folglich geht die diskursanalytische Methode über die Beschreibung ausschließlich linguistischer Merkmale hinaus (vgl. Foucault 2015 [1969], 157). Aus diesem Grund ist auch eine alleinige Konzentration auf Emotionswörter nicht ausreichend für eine diskursanalytische Betrachtung. Nur indem der Verdichtung der Aussagen im diachronen Verlauf nachgegangen wird, offenbart sich die dauerhafte Geltung emotionaler Diskurse (vgl. Kerchner 2006, 57). Dabei erlangen emotionale Diskurse ihre Historizität und stabilisieren gleichzeitig hierarchisierende Wissensordnungen (vgl. Diaz-Bone 2006, 73) – was mich zum zweiten konzeptuellen Begriff der emotionalen Ordnungen bringt.

Machtverhältnisse abbilden 

 81

Der Soziologe Rainer Diaz-Bone (2006) schlägt in Anlehnung an den Foucault vor, Diskurse als strukturierte und strukturierende Praxis aufzufassen. Diskurse sind insofern strukturiert, als dass sich bestimmte Bildungsregeln rekonstruieren lassen, nach denen sie ihre Gegenstände hervorbringen. Strukturierend wirkt die diskursive Praxis dahingehend, dass neue Aussagen, die Teil des Diskurses werden, „bereits vorhandene[] Aussagen als Bedingungs- und Ermöglichungskontext vorfinde[n] und deren inneres Gesetz sich auf die neue Aussage […] bildend auswirkt“ (Diaz-Bone 2006, 74). Dies hat zur Folge, so schreibt Diaz-Bone weiter, dass die Individuen, die sich in dem jeweiligen Diskursfeld bewegen, dieses als „vorreflexiv“ wahrnehmen (Diaz-Bone 2006, 73). Emotionale Diskurse strukturieren entsprechend nicht nur das Denk- und Sagbare, sondern formieren auch das Fühlbare. Die Hervorbringung affektiven Wissens zielt allerdings nicht nur auf das „affektive Selbst“ und die entsprechenden emotionalen Handlungsspielräume. Auf den hier behandelten Gegenstandsbereich übertragen, regulieren emotionale Diskurse auch das, was als Wissen über die Vergangenheit Anerkennung erfährt. Folglich zielt die Untersuchung emotionaler Ordnungen in postkolonialen Erinnerungspolitiken darauf ab, die rekonstruierten emotionalen Diskurse in ihren jeweiligen hierarchisierenden Ordnungsfunktionen zu begreifen (DiazBone 2006, 72). Letztendlich führt uns diese Perspektivierung auch auf die von Halbwachs (1972 [1947]) getroffene Annahme zurück, dass für Gesellschaften nur diejenigen Vergangenheiten relevant werden können, die auch emotional erfahrbar sind. Umgekehrt bedeutet dies, dass Vergangenheiten, die nicht emotional besetzt sind, auch nicht „erinnerbar“ sind. Entsprechend wird eine Normalisierung oder Anerkennung bzw. die Verwerfung erinnerter Vergangenheit in Bezug zum Kolonialismus über die Etablierung emotionaler Diskurse reguliert. Da emotionale Diskurse gleichsam an einer „production of disaffection“ beteiligt sein können, wie Stoler (1995, 136) schreibt, können diese Prozesse des Vergessens eine „Entinnerung“ (Ha 2012) anstoßen. Diese Produktion einer „(Dis)Affektion“ (Stoler 1995, 136), die ich nicht nur als „Unzufriedenheit“, sondern vielmehr als „Ent-Affizierung“ deute, könnte einen Hinweis darauf liefern, warum die kolonialen Verbrechen über einen langen Zeitraum keine Bedeutung in den öffentlichen Debatten Frankreichs und Deutschlands eingenommen haben. Interessant ist hierbei diese doppelte Funktion emotionaler Ordnungen, indem sie koloniale Vergangenheiten mit Legitimität oder Illegitimität besetzen können. Wird bestimmtes Wissen über die koloniale Vergangenheit durch Affizierung legitimiert, trägt diese zu dessen Normalisierung und zu entsprechender Rationalisierung bei. Daran anknüpfend beschreiben emotionale Ordnungen die relationalen Verhältnisse zwischen verschiedenen emotionalen Diskursen und deren Zusammenwirken mit den identifizierten Gegenstandsbereichen. Aufgrund der diversen Gegenstandsbereiche oder der Objekte, die erinnerungspoli-

82 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

tisch verhandelt werden, müssen emotionale Diskurse ebenso wie emotionale Ordnungen in ihrer Pluralität verstanden werden. In ihrer Funktion, sowohl die soziale Gegenwart zu strukturieren als auch gleichsam durch diese strukturiert zu werden, können letztendlich verschiedene affektive Praktiken eine Veränderungswirkung auf die etablierten Diskurse und Ordnungen ausüben (vgl. Bourdieu 2003 [1997], 214). Der Anthropologe Thomas Stodulka verdeutlicht diese Wechselwirkung folgendermaßen: [T]he concept [of order of feeling, Anm. SR] can be operationalized as an analytical lens to study affective practices that construct and shape local orders of feeling and individual and collective responses of „falling in line“, as well as the forms and practices of resisting and subverting these orders. (Stodulka 2019, 312)

Der performative Charakter emotionaler Diskurse und Ordnungen als strukturierende und strukturierte Praktiken, wie ich sie hier konzeptualisiere, ermöglicht gemäß Stodulkas Lesart auch abweichendes Affekthandeln. Im Sinne eines strukturierten Handlungsspielraums kann das „falling in line“ aber auch als eine Reaktion verstanden werden, mit der Erinnerungsträger:innen versuchen, die Anerkennung ‚ihrer‘ Vergangenheiten zu erreichen. Was auf der einen Seite die Dauerhaftigkeit der etablierten Ordnung ausmacht, beschreibt gleichzeitig auch die Möglichkeiten ihrer Transformation. Wesentlich hierbei ist, dass emotionale Diskurse und Ordnungen sich nicht losgelöst von ihren jeweiligen Gegenständen formieren können, weswegen diese Objekte als Gegenstände des Fühlens (in Anlehnung an Ahmed 2004) analysiert werden. In Kapitel  6 führe ich aus, welche Gegenstandsbereiche sich diskursiv formiert haben, die ich für den transnationalen Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich miteinander in Beziehung setze. Erst im Zusammenwirken von emotionalen Diskursen und ihren Gegenständen erklärt sich, was die zu analysierenden Materialien „bewegend“ (moving) macht (Ahmed 2004, 12–13). Ahmed unterstreicht allerdings auch, dass die erzeugten Effekte auf uns als Rezipient:innen medial vermittelt sind, weswegen die Bedeutung von Mediationen in postkolonialen Erinnerungspolitiken zentraler Bestandteil der Analyse sein muss.

4.4 Z  ur Rolle der Medien: (Prä-)Mediation von emotionalen Diskursen Eine Untersuchung, die als zentrales Quellenkorpus auf Zeitungsartikel, parlamentarische Debatten, Kleine und Große Anfragen an die Regierungen, Pressemitteilungen und öffentliche Reden – kurzum; auf eine Vielzahl an öffentlich

Zur Rolle der Medien 

 83

zugänglichen Quellen – Bezug nimmt, muss sich der Bedeutung dieser Medien in der Herstellung und Vermittlung von Wissen über die Vergangenheit zuwenden. Astrid Erll versteht unter ‚Medien des kollektiven Gedächtnisses‘ dabei im weitesten Sinne „[a]uch ästhetische Formen, Objekte, natürliche Gegebenheiten (Steine, Flüsse, und Berge) und soziale Gruppen […] [, die] gedächtnismediale Funktionen übernehmen“ können (Erll 2004, 10–11). Der „Kompaktbegriff“ Medium, wie Erll in Anlehnung an Siegfried J. Schmidt schreibt, umfasst somit „Kommunikationsinstrumente (z.  B. Schrift), Medientechnologien (z.  B. Druck), sozialsystemische Institutionalisierung (z.  B. Kanonisierung) und konkrete Medienangebote (z.  B. die Bibel)“ (Erll 2004, 13). Grundlegend ist dabei jedoch, dass die Vermittlung von Erinnerungen nicht nur von den jeweiligen Kommunikationsinstrumenten und Medientechnologien abhängen („materiale Dimension), sondern auch die „soziale Dimension“ Beachtung finden muss. Schließlich handeln soziale Gruppen aus, welche Medien der Gedächtnisproduktion dienen und welche Narrative institutionell verankert und somit verstetigt werden (vgl. Erll 2004, 16–17). Da die vorliegende Arbeit an den öffentlichen Aushandlungsprozessen über die Auseinandersetzung mit postkolonialen Erinnerungen interessiert ist, steht jedoch vor allem die massenmediale Vermittlung kolonialer Vergangenheiten im Fokus. Zum einen wird Zeitgeschichte, wie de Wolff (2021, 114) in ihrer Dissertation unterstreicht, maßgeblich über Massenmedien vermittelt. Demnach ist „gesellschaftliche Erinnerung stets mediatisiert, d. h. überhaupt nur als mediatisierte Erinnerung erfassbar“ (de Wolff 2021, 119). Andererseits werden weit zurückliegende Vergangenheiten vor allem dadurch zum Medienereignis, weil ihre Verhandlung an den Bedürfnissen von Gegenwart und Zukunft ausgerichtet ist (de Wolff 2021, 131). Dabei bestimmen vor allem die Massenmedien, wie beispielsweise die Printmedien, welche Informationen über die Vergangenheit vermittelt werden und welche Meinungen dabei als legitim gelten (vgl. de Wolff 2021, 140–141). Aus diesem Grund reicht es nicht, ausschließlich staatliche Erinnerungspolitiken zu analysieren, um die Transformationen postkolonialen Erinnerns zu verstehen. Schließlich tragen mediale Darstellungen über die Vergangenheit nicht nur maßgeblich zu Wissensproduktion bei. Sie spiegeln gleichzeitig auch die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Versionen der Vergangenheit wider (vgl. Kansteiner 2002; Lünenborg und Sell 2018). Um jedoch das Wechselspiel zwischen der Herstellung von Medienereignissen und der damit verknüpften Zuschreibung eines Nachrichtenwerts und dem erinnerungspolitischen Regierungshandeln bzw. den Aktivitäten postkolonialer Erinnerungsträger:innen nachzuvollziehen, integriere ich zudem Pressemitteilungen, Reden, Regierungserklärungen und weitere Quellen. Die Betrachtung eines umfangreichen Quellenmaterials ist dabei nicht nur notwendige Bedingung, um die Diskursregeln rekonstruieren zu können, sondern auch um nachzuzeichnen,

84 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

auf welche Weise sich diskursive Verschiebungen in den analysierten Zeitungsdarstellungen vollziehen. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich auf Assmanns (2015, 42) Feststellung verwiesen, dass Erinnern ohne eine emotionale „Aufladung“ nicht denkbar ist. In diesem Zusammenhang hat Landsberg (2003, 148–150) das Potenzial einer mediatisierten Übertragung von Erinnerungen in der Herausbildung ethischer Werte hervorgehoben. „Historische Narrative“ könnten durch eine massenmediale Verbreitung schließlich in eine persönliche Erfahrung und somit „into deeply felt memory“ transformiert werden (Landsberg 2004, 2). Anders als in den bisherigen Beiträgen zur Erinnerungsforschung geht es dem Literaturwissenschaftler Richard Grusin (2010, 7) weniger um die Frage einer Beschreibung medialer Repräsentationen, sondern darum, was Mediationen genau machen, also welchen Effekt sie in der sozialen Welt entfalten. Grusin hat dafür die Konzepte der Remediation und Prämediation vorschlagen, die mittlerweile in verschiedenen Arbeiten der Memory Studies aufgenommen wurden. Vor allem Erll (2009) und Rothberg (2013) haben die theoretischen Überlegungen Grusins übernommen, ohne jedoch seinen Fokus der Affektmodulation durch Prämediation zu integrieren. Remediationen sollen dabei die Interaktionen und die jeweiligen Bezugnahmen unterschiedlicher Medien aufeinander beschreiben, dazu heißt es in Grusins und Bolters Medientheorie: „[T]here was never a past prior to mediation; all mediations are remediations, in that mediation of the real is always a mediation of another mediation“ (Bolter und Grusin 1999, 18–19, zitiert in: Assmann 2015, 47). Grusin und Bolter unterstreichen damit den Konstruktionscharakter, mit dem uns der Anschein von „Faktizität“ vermittelt wird. Konkret heißt dies, dass wir nie einen Zugang zur Vergangenheit haben können, der nicht medial vermittelt wird. Prämediation schließt an dieses Phänomen an, indem, wie Aleida Assmann (2015, 47) Grusin liest, die US-amerikanische Medienkultur seit den Anschlägen vom 11. September „no longer geared only to remediating the past in the present: its aim had instead become also to premediate the future“. Prämediation zielt demnach auf das Evozieren künftiger Ereignisse ab, allerdings, indem sich auf das Vergangene berufen wird. So verdeutlicht die Prämediation von 9/11, wie Bilder der Anschläge immerfort Ängste kreieren, die in Bezug zu kommenden Anschlägen gesetzt werden (vgl. Grusin 2010, 2). Gleichzeitig deutet Grusin dies als eine Vermeidungsstrategie, um das nochmalige Erleben eines „traumatischen Schocks“, wie er durch 9/11 erzeugt wurde, zu verhindern. Als Konsequenz wird ein medialer Dauerzustand von Angst hergestellt, basierend auf der ständigen Möglichkeit eines erneuten Anschlags. Erll (2009, 111) hingegen, die Grusins und Bolters Medientheorie auf die Erinnerungskulturenforschung anwendet, deutet Prämediationen weniger als das Evozieren affektiver Zustände in der Zukunft, sondern vielmehr als das Bereit-

Zur Rolle der Medien 

 85

stellen von Schemata, die Möglichkeiten des Umschreibens von Erfahrungen und Repräsentationen bieten. Unter Remediation versteht Erll, dass insbesondere diejenigen Ereignisse, die zu anerkannten Erinnerungsorten (Lieux de Mémoire) wurden, ohne Rückbezug auf eine wie auch immer beschreibbare „reale“ Vergangenheit auskommen. Stattdessen würden sie als immerwährende Zitationen eines bestehenden konstruierten Medienkanons zu verstehen sein, die sich in der Erinnerungskultur etabliert haben (vgl. Erll 2009, 111). Rothberg (2013) knüpft an Erlls Konzepte der Re-/Prämediation in Bezug auf die Mediation kolonialer Vergangenheiten an. Die literarische Beschreibung kolonialer Erinnerungen, die Rothberg in seinem Beitrag untersucht, funktioniert hier nicht nur als eine Möglichkeit eines „Remembering back“, welches er als eine dekoloniale Praxis deutet, sondern legt auch die Mediengattungen offen, „through which imperial power makes itself felt“ (Rothberg 2013, 371). In diesem Sinne muss die mediale Bezugnahme auf die (post-)kolonialen Erfahrungen nicht zwingend in der Etablierung eines „subaltern memory“ münden, vielmehr würde die imperiale Gewalt in der Gegenwart remediert und folglich koloniale Bedeutung in die postkoloniale Gegenwart transportiert (vgl. Rothberg 2013, 372). Für Rothberg deutet sich somit der 17.  Oktober 1961, bei dem die Pariser Polizei gewaltvoll eine friedliche Demonstration von Algerier:innen gegen den Algerienkrieg zerschlug, als „prämediertes Ereignis“. Indem sich inhaltlich und ästhetisch auf die Massenfestnahmen von Jüd:innen während des Zweiten Weltkriegs zurückbezogen wurde, konnte der Oktober 1961 mit einem weiteren Erfahrungs- und Repräsentationsschema versehen werden, der künftig remediert werden kann. Erll (2009, 135) schreibt allerdings, dass ihr Verständnis von Prä- und Remediationen von dem Grusins und Bolters erheblich abweicht. Als Folge wird die Bedeutung von Affektmodulationen nicht weiterverfolgt, die jedoch für Grusins Arbeit zentral ist, wie folgendes Zitat verdeutlicht: Thus thinking of mediality in terms of affect is to think of our media practices not only in terms of their structures of signification or symbolic representation but more crucially in terms of the ways in which media function on the one hand to discipline, control, contain, manage, or govern human affectivity and its affiliated things „from above“, at the same time that they work to enable particular forms of human action, particular collective expressions or formations of human affect „from below“. (Grusin 2010, 79)

Folglich steht nicht nur im Zentrum des Interesses, wie Mediationen durch den Rückbezug auf die Vergangenheit koloniale Bedeutung in die postkoloniale Gegenwart transportieren, wie es etwa Rothberg (2013) hervorgehoben hat. Vielmehr gilt es der Frage nachzugehen, wie Mediationen durch die affizierte Vermittlung der Kolonialgeschichte zu einem Weiterbestehen oder zu einer Umdeutung der kolonialen Imaginationen in der Gegenwart und Zukunft beitragen. Entsprechend geht Grusins Vorschlag über die Analyse medialer Repräsentationen

86 

 Emotionale Diskurse und Ordnungen als Strukturmodell

kolonialer Vergangenheit hinaus. Indem Medialität für ihn die „Modulierung von Affekten“ (Grusin 2010, 79) bedeutet, versteht er diese, in Anlehnung an Foucault, als Regierungstechnik (Grusin 2010, 76). Gouvernementalität und Medialität stünden sich somit nicht als Gegensätze gegenüber, vielmehr strickten beide gleichsam an einer „proper disposition of things“ (Grusin 2010, 76). Diese „richtige Anordnung von Dingen“ beschreibt zum einen ein relationales Verhältnis, wie Menschen im Verhältnis zu ihrem Umfeld, also den jeweiligen Kontexten, in denen sie existieren, beherrscht werden können. Zum anderen geht es aber auch um die Akzeptanz und somit Verinnerlichung der Machtausübung, da diese so angeordnet sei, dass sie, wie Grusin mit Foucault argumentiert, zu einem „convenient end“ führe (Grusin 2010, 75). Grusin nimmt hier Bezug auf Foucaults Verständnis von Macht als allgegenwärtiges Beziehungsgeflecht und als „komplexe strategische Situation in einer Gesellschaft“ (Foucault 2017 [1977], 94), das sich nicht auf die Ausübung von Staatsmacht reduzieren lässt. Dass die koloniale Vergangenheit eine zunehmende Bedeutung in der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland spielt, lässt sich folglich nur verstehen, wenn man Affektmodulationen als Grundlage erinnerungspolitischer Praktiken und entsprechend als Regierungstechnik anerkennt. Mittels Prä- und Remediationen erfolgt zum einen die Herstellung affizierter Bedeutungszuschreibung kolonialer Vergangenheiten und zum anderen deren Verbreitung und Zirkulation durch die wiederholte Bezugnahme auf vorhandene Diskurse. Wichtig ist dabei jedoch herauszustellen, dass Prä- und Remediationen auf die Beschreibung der medialen Vermittlung der Vergangenheit als Anpassung an die Gegenwart abzielen. Dahingehend möchte ich nochmals die eingangs geführten Debatten um die Vermittlung von Traumata aufnehmen und unterstreichen, dass es nicht zielführend ist, anzunehmen, „that representations of symptoms of trauma replicate such symptoms in the minds of the audience and produce a collective trauma which unites many individuals who have never experienced or directly witnessed acts of extreme violence“ (Kansteiner 2004, 207). Die Repräsentationen der Vergangenheit können somit auf unterschiedliche Arten affektiv angeeignet werden, diese steht aber in keinem Verhältnis zu dem Emotionshandeln als Reaktion auf das ‚tatsächliche‘ Erleben. Abschließend lassen sich Prä- und Remediationen, wie sie hier dargestellt worden sind, gleichsam als strukturierende und strukturierte Mechanismen verstehen, wie es weiter oben schon mit der Konzeptualisierung emotionaler Diskurse und Ordnungen vorgeschlagen wurde. Während sich in Remediationen die diskursiven Regeln der jeweiligen Bezugnahmen, Zitationen und Zirkulationen bestimmter Vergangenheitsrepräsentationen manifestieren, können Prämediationen zwar neue Praktiken des Erinnerungshandeln hervorbringen, gleichzeitig stehen auch diese in einem Verhältnis zu den existierenden Strukturen, die reme-

Zur Rolle der Medien 

 87

diert werden. Um diesen Rückgriff auf schon existente Schemata zu beschreiben, schreibt Astrid Erll: Such processes of premediation usually do not take place intentionally, though. Widely available media often provide their schemata inconspicuously. Premediation is a cultural practice of experiencing and remembering: the use of existent patterns and paradigms to transform contingent events into meaningful images and narratives. (Erll 2009, 114)

Der Rückgriff auf das, was Erll als „Unauffälligkeit“ oder „Nicht-Intentionalität“ in der Bezugnahme auf bestimmte Schemata beschreibt, verdeutlicht letzten Endes die Wirkungen von Prä- und Remediationen als strukturierte und strukturierende Mechanismen. Remediationen zielen auf das Zusammenführen verschiedener Quellen, da diese sich in der Produktion, Vermittlung und Zirkulation von erinnerungsrelevanten Inhalten immer wieder aufeinander beziehen (so werden bestimmte Aussage von im Bundestag gehaltenen Reden in verschiedenen Medien immer wieder aufgegriffen, aber auch in Pressemitteilungen, akademischen Schriften etc.). Durch diese Bezugnahmen manifestiert sich schließlich auch die Regelhaftigkeit emotionaler Diskurse. Anhand von Prämediationen wird wiederum die Bedeutung der Affizierung kolonialer Vergangenheiten in der Gegenwart deutlich, woran aufgezeigt werden kann, auf welche Weise der Kolonialismus eine zunehmend größere Bedeutung in den gegenwärtigen postkolonialen Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands gewonnen hat. Das Insistieren auf die Bedeutung von Mediationen ist deswegen zentral, weil gegenwärtige Gesellschaften ihren Zugang zur Vergangenheit ausschließlich medial vermittelt realisieren können (vgl. Bolter und Grusin 1999, 18–19, zitiert in: Assmann 2015, 47). Gleichsam manifestieren sich in den Repräsentationen der kolonialen Vergangenheit die bestehenden Machtverhältnisse. Aus diesem Grund konzentriert sich diese Arbeit auf die Rekonstruktion emotionaler Diskurse in der mediatisierten Vermittlung von postkolonialen Erinnerungen. Bevor ich in Kapitel  6 das methodische Vorgehen zur diskursanalytischen Rekonstruktion emotionaler Diskurse und Ordnungen darlege, leite ich im folgenden Kapitel mithilfe eines Überblicks über die historischen Ereignisse sowie der erinnerungspolitischen Trendwenden in Deutschland und Frankreich die Untersuchungsgegenstände ab, die ich im empirischen Teil der Arbeit untersuche (vgl. Kap. 7–11).

5 V  erstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern: Historischer Überblick und die beginnende Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich 5.1 W  arum vergleichen? Zur Begründung der transnationalen Vergleichsperspektive Im Jahr 2004 beschreibt der Historiker Benjamin Stora (2004) die zunehmende mediale sowie politische Sichtbarkeit des Algerienkriegs in Frankreich als eine „Beschleunigung der Erinnerungen“. Im gleichen Jahr wird eine größere deutsche Öffentlichkeit erstmals mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama konfrontiert, als sich Heidemarie Wieczorek-Zeul, die damalige deutsche Entwicklungsministerin, „im Sinne des gemeinsamen ‚Vater unser‘“ für den von deutschen „Schutztruppen“13 verübten Genozid im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ entschuldigt (Rede Wieczorek-Zeul, 14.08.2004). Seither ist die Beschäftigung mit den kolonialen Vergangenheiten in Frankreich und Deutschland zu einem wichtigen Gegenstand in der Aushandlung offizieller Erinnerungspolitiken geworden. 2017 löste Emmanuel Macron, damals noch Präsidentschaftskandidat, eine weitreichende Debatte aus, als er den Kolonialismus während seines Wahlkampfs zum Menschheitsverbrechen erklärte und eine Entschuldigung gegenüber Algerien in Aussicht stellte (vgl. Roger 2017, 16.  Februar, lemonde. fr). In Deutschland auf der anderen Seite wurde die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus im Koalitionsvertrag von SPD und CDU (2018) gleichberechtigt neben der Erinnerung an den Nationalsozialismus und an die DDR-Vergangenheit genannt. Lassen sich diese Ereignisse als postkoloniale Wende deuten, die eine erinnerungspolitische Neubewertung etablierter Geschichtsschreibungen nach sich zieht? Erst seit den 2000er Jahren nahm auch die wissenschaftliche Rezeption postkolonialer Theorien in Deutschland und Frankreich zu (vgl. Eckert 2021, 251–252). Ferner mehrten sich die Forderungen nach Straßenumbenennungen und die

13  Die euphemistische Bezeichnung „Schutztruppe“ für die deutsche Kolonialarmee bzw. der Begriff des „Schutzgebiets“, der für die ehemaligen deutschen Kolonien verwendet wurde, werde ich in dieser Arbeit als historische Begriffe in Anführungszeichen setzen, um damit gleichzeitig die mit ihren transportierten Herrschaftsansprüche sichtbar zu machen (vgl. Schulte-Varendorff 2007, 387; Robel 2013, 260). https://doi.org/10.1515/9783111018683-005

Warum vergleichen? 

 89

Umdeutung vorhandener Kolonialdenkmäler (vgl. Göttsche 2019, 6) wie auch der Wunsch nach Reparationszahlungen und offiziellen Entschuldigungen (vgl. Assmann und Conrad 2010; Barkan 2002; Branche 2005; Lefranc 2002). Folglich muss das seit den 1990er Jahren wachsende öffentliche Interesse an der kolonialen Vergangenheit in Deutschland und Frankreich vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen betrachtet werden (vgl. Barkan 2002; Deslaurier und Roger 2006; Levy und Sznaider 2001; Miles 2010; Sznaider und Baer 2016; Sznaider 2001). Um den Bedeutungszuwachs postkolonialen Erinnerns nachvollziehen zu können, können die gegenwärtigen Entwicklungen nicht auf die Grenzen des Nationalstaats reduziert, sondern müssen transnational miteinander in Beziehung gesetzt werden. Transnationalität versteht sich daher als ein relationales Beziehungsgeflecht, in dem sowohl lokale, nationale als auch globale Entwicklungen Beachtung finden (vgl. De Cesari und Rigney 2014). Obwohl dieser wissenschaftliche Anspruch längst kein Novum mehr ist, wird die Forschungsliteratur weiterhin von zwei Arten der Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit bestimmt: Zum einen überwiegt die Darstellung erinnerungspolitischer Einzelfälle, zum anderen wird Erinnerungspolitik oft als bilaterales Verhältnis zwischen der ehemaligen Kolonie und der früheren Kolonialmacht analysiert (vgl. Kap. 2). Sonja Dinter (2018, 25) hat in ihrer Dissertation darauf aufmerksam gemacht, dass dem Anspruch einer transnational erzählten Verflechtungsgeschichte oft nicht Rechnung getragen werde und aktuelle Sammelbände weiterhin zu großen Teilen eine Aneinanderreihung von Einzelfällen parat hielten. Für die neueren Monografien lässt sich diese Tendenz allerdings auch beobachten. Gerade in der französischen und deutschen Beschäftigung mit dem Kolonialismus werden die gegenwärtigen erinnerungspolitischen Debatten zu großen Teilen durch die Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg in Frankreich und der deutschen Kolonialherrschaft im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ dominiert. Im französischen Kontext ist insbesondere der eingangs erwähnte Historiker Benjamin Stora (1998 [1991], 2016) zu nennen, der schon seit Anfang der 1990er Jahre die öffentliche Aufarbeitung des Algerienkriegs beeinflusst und dessen erinnerungspolitische Bedeutung in den Zusammenhang mit der französischen identité nationale stellt. In Deutschland sind es die Historiker Jürgen Zimmerer (2014; 2013), der Afrikanist Henning Melber (2018a; 2018b; 2017; 2021; 2005) sowie der Soziologe Reinhart Kößler (2018a, 2018b; 2017; 2015; 2014; 2006), die eine kritische postkoloniale Debatte zur Aufarbeitung des Genozids im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ in der Bundesrepublik initiiert und insbesondere die seit den 2000er Jahren geführte Kontroverse um die Kontinuität zum Holocaust angestoßen haben. In beiden Fällen hat die wissenschaftliche Forschungstätigkeit das zukünftige Gedenken maßgeblich beeinflusst und geprägt (vgl. Zimme-

90 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

rer, 27.04.2016; 2013). Aus diesem Grund diskutiere und reflektiere ich im Folgenden die erinnerungspolitische Relevanz wissenschaftlicher Arbeiten für die öffentliche Wahrnehmung kolonialer Vergangenheiten. Das wachsende wissenschaftliche sowie öffentliche Interesse am Algerienkrieg in Frankreich und dem Genozid an den OvaHerero und Nama in Deutschland begründet allerdings auch deren Auswahl für die vergleichende Untersuchung erinnerungspolitischer Aushandlungsprozesse. Die zweite Kritik an der gegenwärtigen Forschung bezieht sich auf die Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken als ausschließlich bilaterales Verhältnis der ehemals in einem kolonialen Machtverhältnis miteinander stehenden Länder (vgl. Eckert 2021, 254; Jansen 2016a, 265). Der Historiker Jan Jansen (2016) und der Politikwissenschaftler Romain Bertrand (2016) erachten beispielsweise die Forderungen nach Anerkennung, Reparationen und Entschuldigungen als eine Art „Waffe der Schwachen“ (Bertrand 2006, 34), um sich international Gehör verschaffen zu können. Jansen (2016, 265) folgert daraus die Unwahrscheinlichkeit einer „globally concerted remembrance of ‚colonialism‘“. Dem entgegenhaltend verweisen die Historikerin Christine Deslaurier und die Politikwissenschaftlerin Aurélie Roger (2006) auf die Etablierung einer universellen Sprache zur Beschreibung historischer Verbrechen und ihrer Aufarbeitung. Die 1990er Jahre seien folglich durch eine „Globalisierung der Erinnerungen“ geprägt (Deslaurier und Roger 2006, 6), wobei die nunmehr bestehende Pflicht zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ auch eine Neubewertung der nationalen Geschichtsschreibung bewirkte (vgl. Borutta und Jansen 2016, 22). Deslaurier und Roger folgern daraus eine Beschränkung der Analysemöglichkeiten, sollte die Forschung einzig auf das bilaterale Verhältnis zwischen ehemaliger Kolonie und Metropole ausgerichtet werden. In ihrer Einführung zum Dossier Passés coloniaux recomposés. Mémoires grises en Europe et en Afrique schreiben sie: En Afrique et en Europe, le dialogue sur le passé colonial ne se limite pas au huis clos des relations entre ex-colonisés et ex-colonisateurs ou entre anticolonialistes et nostalgiques de l’occupation coloniale, il emprunte aussi à cette langue universelle des motifs et des arguments […]. (Deslaurier und Roger 2006, 19)

Dabei beziehen die Autorinnen das universell zirkulierende Erinnerungsvokabular auf die Erinnerung an den Holocaust, der die „Konstituierung globaler Erinnerungsepisteme“ nach sich zog (Deslaurier und Roger 2006, 18, Übersetzung S. R.). Als transnational wirkendes Phänomen ist die Bezugnahme auf den Holocaust/die Shoah sowohl in Frankreich als auch in Deutschland eine wichtige erinnerungspolitische Referenz für die Verhandlung des Kolonialismus (vgl. Branche 2005; Cole 2003; House und MacMaster 2009; Rothberg 2009; Rousso

Warum vergleichen? 

 91

2016). Im transnationalen Vergleich werde ich zum einen die Erinnerung an den Holocaust/die Shoah als multidirektionalen Bezugskontext für die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit auffassen. Zum anderen verstehe ich unter Transnationalität aber auch das Herausarbeiten der erinnerungspolitischen Verstrickungen zwischen beiden Ländern, d. h. der jeweils gegenseitigen Bezugnahmen, um die Frage zu beantworten, wie sich das spezifisch ‚Eigene‘ durch den Blick auf das ‚Andere‘ konstituiert (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 618–619). Vergleiche sind jedoch nicht neutral, weswegen ich sie anknüpfend an Ann Laura Stoler (2002, xiii) als ein „active political verb“ auffasse. In diesem Sinne muss die Darstellung des historischen und erinnerungspolitischen Forschungsstands, der Inhalt dieses Kapitels ist, als Teil des empirischen Konstruktionsprozesses aufgefasst werden. Den Vergleich als Bestandteil des Konstruktionsprozesses aufzufassen, bedeutet auch, dass die theoretischen Grundlagen, der Forschungsgegenstands, das Methodenrepertoire sowie die Haltung der Forschenden miteinander verschränkt sind (vgl. Schrage 2014, 487). Folgerichtig bin ich als Autorin ebenso in die diskursiven Praktiken verstrickt wie meine Untersuchungsgegenstände, weswegen die etablierten Machtverhältnisse auch auf mein Forschungshandeln zurückwirken (vgl. Feustel et al. 2014, 498–499). Die folgende Erarbeitung des Theorie- und Forschungsstands muss somit als diskursive Praktik aufgefasst werden, die ihre Gegenstände performativ herstellt (vgl. Wrana 2014, 618). Die temporäre Fixierung des historischen und erinnerungspolitischen Überblicks in den folgenden Kapiteln ist dabei Bestandteil der diskursiven Forschungspraktik, die der Eingrenzung des Feldes und der Identifizierung der Untersuchungsgegenstände dient (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 617). Andererseits darf die Erarbeitung einer vergleichenden Perspektive nicht die Unterschiede nivellieren, die die Auseinandersetzungen Deutschlands und Frankreichs mit ihren kolonialen Vergangenheiten prägen. Aus diesem Grund stelle ich die historischen Perspektive sowie die erinnerungspolitischen Entwicklungen seit den 1990er Jahren zunächst getrennt für den deutschen (Kap. 5.2 und 5.3) und für den französischen Kontext (Kap. 5.4 und 5.5) dar. Dabei gebe ich jeweils zuerst einen historiografischen Überblick über den Völkermord im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ zwischen 1904 und 1908 sowie über den Algerienkrieg (1954–1962), um anschließend jeweils die erinnerungspolitischen Entwicklungen sowie die ab 1990 verhandelten Kontroversen abzubilden. In einem Zwischenfazit (Kap.  5.6) führe ich die Erkenntnisse zusammen, um die transnationale Vergleichsmethode herzuleiten, die ich in Kapitel 6 ausführen werde.

92 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

5.2 „ Koloniale Amnesie“ in Deutschland? Die historiografische Aufarbeitung des Genozids an den OvaHerero und Nama von 1904–1908 Der in Hamburg lehrende Historiker Jürgen Zimmerer (2001 [2004], 60) beendet seinen im Jahr 2004 zuerst erschienenen Beitrag „Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika“, der im Sammelband Völkermord in Deutsch-Südwestafrika publiziert wurde, mit dem Verweis darauf, dass der Genozid14 an den OvaHerero und Nama als „Vorgeschichte des Holocaust“ zu deuten sei. Indem er versucht, „strukturelle[n] Ähnlichkeiten“ (Zimmerer 2001 [2004], 60) zwischen diesen beiden deutschen Verbrechen nachzuweisen, verortet Zimmerer seine Arbeit in der vergleichenden Genozidforschung, die in der letzten Dekade auch in Deutschland an Popularität gewonnen hat (vgl. Moses 2010). Zimmerer macht dabei den „ultimativen Tabubruch“ der Anwendung staatlicher Gewalt in den Kolonien aus, die „dann im Holocaust [ihre] radikalste Ausprägung fand“ (Zimmerer 2011 [2004b], 62). Erinnerungspolitisch hat Zimmerer eine kontroverse Debatte um die sogenannte „Kontinuitätsthese“ losgetreten (Eckert 2021, 253), wie sie beispielsweise in der Publikation Von Windhuk nach Auschwitz vertreten wird (als Reaktion auf Zimmerer: Gerwarth und Malinowski 2009; 2007). Die deutsche Übersetzung von Rothbergs Multidirektionaler Erinnerung (2021) und der gemeinsam von Rothberg und Zimmerer verfasste Zeit-Artikel „Enttabuisiert den Vergleich!“ (31.03.2021) entfachten im Jahr 2021 die Auseinandersetzungen aufs Neue. Diese geschichtswissenschaftlichen Debatten zu verfolgen, ist deshalb wichtig, weil sie die erinnerungspolitische Auseinandersetzung um die Anerkennung des im ehemaligen

14  Der Begriff „Genozid“ wurde von dem Juristen Raphael Lemkin (1900–1959) ab 1944 geprägt, den er, wie der Historiker Dirk Moses (2010, 10) schreibt, als besondere Form „fremder Eroberung“ „kolonialer Natur“ betrachtete. Im Jahr 1948 wurde schließlich die „UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verabschiedet, die den Begriff „Genozid“ zum Bestandteil des international verbindlichen Völkerrechts machte (vgl. Moses 2010, 5). In Art. II wird „Genozid“ als Handlung definiert, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“ (erstmals im Bundesgesetzblatt vom 9. August 1954, 729–739). Auch wenn diese Definition einen Allgemeingültigkeitsanspruch vertritt, geriet dennoch die von Lemkin herausgestellte „koloniale Natur“ der Genozid-Definition in Vergessenheit. Stattdessen wurde Genozid mit dem Holocaust gleichgesetzt (vgl. Moses 2010, 12–13, 18; Moses 2011b). Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die lange geführte Debatte, ob der Genozid an den OvaHerero und Nama als solcher bezeichnet werden kann (vgl. Bürger 2017). Wenngleich mittlerweile die Verwendung des Völkermord-Begriffs für die historischen Ereignisse anerkannt ist, wird allerdings eine rückwirkende völkerrechtliche Anwendung nach der Genozid-Konvention zurückgewiesen, da dies juristische Konsequenzen haben könnte (vgl. Kap. 8 für eine ausführliche Diskussion der juristischen Problematik).

„Koloniale Amnesie“ in Deutschland? 

 93

„Deutsch-Südwestafrika“ begangenen Völkermords maßgeblich bestimmen. Im deutschen Kontext beschreibt die Erinnerung an den Holocaust die Kontrastfolie, vor der die koloniale Vergangenheit überhaupt thematisiert werden kann. Erstens geht es dabei um die Anwendung des Terminus „Genozid“ und zweitens um die schon angesprochene Kontinuität vom deutschen Kolonialismus zum Nationalsozialismus, was sich vor allem in den Diskussionen um die Parallelen des Konzentrationslagersystems, der Vorstellungen von ‚Rasse‘ und ‚Lebensraum‘ sowie der Intentionalität der Tötungsabsicht spiegelt (vgl. Kreienbaum 2015, 2021). Im Folgenden verorte ich den Kolonialkrieg und den Völkermord zuerst überblicksartig im Kontext der Kolonisierung „Deutsch-Südwestafrikas“ sowie im Rahmen der deutschen imperialen Bestrebungen, um anschließend auf die ab 1945 bis heute geführten historiografischen Debatten über die sogenannten „Genozid-“ und „Kontinuitätsthesen“ zurückzukommen. Einleitende Sätze zur deutschen Kolonialgeschichte verweisen oft auf die recht kurze Zeit deutscher Kolonialexpansion – oft auch im Vergleich zu den sehr viel länger aufrechterhaltenen Kolonialreichen Frankreichs und Großbritanniens, womit u. a. auch das lange Ausbleiben einer Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus begründet wird (vgl. Bürger 2017, 9; Robel 2013, 263; Zimmerer 2013, 9). Erst 1884 auf der „Berliner Afrikakonferenz“ erklärt das Deutsche Reich offiziell seinen Herrschaftsanspruch auf „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia. Neben den anderen Kolonien Kamerun, Togo, „Deutsch-Ostafrika“, Neuguinea und Samoa sowie dem chinesischen Kiautschou war „Deutsch-Südwestafrika“ allerdings zur einzigen Siedlungskolonie bestimmt worden. Noch heute lebt in Namibia eine deutschsprachige Minderheit auf dem während des deutschen Kolonialismus enteigneten Land der OvaHerero und Nama (vgl. Conrad 2008, 28–30). Die kolonialen Bestrebungen des Deutschen Reichs im südwestlichen Afrika gehen auf die privatwirtschaftlichen Unternehmungen des Tabakwarenhändlers Alfred Lüderitz zurück. Allerdings hatte es schon seit den 1840er Jahren missionarische Aktivitäten durch die Rheinische Missionsgesellschaft gegeben (vgl. Krüger 2011 [2004], 21). Für die Darstellung der historischen Ereignisse, die ich hier nicht im Detail nachzeichnen kann, ist es jedoch wichtig, die OvaHerero und Nama als politische und gesellschaftliche Gruppen zu verstehen, die eigene Strategien im kolonialen Gefüge verfolgten (Krüger 2011 [2004], 22). Außerdem müssen die kolonial-rassistischen Zuschreibungen der Einordnung in „Stämme“, die eine biologisch begründete Einheit herstellen, vor dem Hintergrund der im Westen angenommenen „Geschichtslosigkeit“ des afrikanischen Kontinents reflektiert werden (vgl. Krüger 2011 [2004], 16–17). Der Begriff Herero, und dies unterstreicht die Historikerin Gesine Krüger (2011 [2004], 18) in ihrem Text über „Das goldene Zeitalter der Viehzüchter“, verweise auf einen sozialen Status und nicht auf eine ethnische Zuschreibung. Bis 1893, als Theodor Leutwein

94 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

das Amt des Gouverneurs in „Deutsch-Südwestafrika“ übernahm, hatte die sogenannte „Schutzherrschaft“ allerdings noch keine größeren Konsequenzen für die vor Ort lebende Bevölkerung. Direkte Herrschaftsansprüche im Zentrum und im Süden des Landes konnten sogar erst nach dem Krieg 1908 realisiert werden (vgl. Krüger 2011 [2004], 17). Dass diese sich etablieren konnten, lag insbesondere am Sich-zunutze-Machen der Spannungen zwischen dem OvaHerero-Chief Samuel Maherero und dem Nama-Chief Hendrik Witbooi (vgl. Conrad 2008, 29). Die doppelte Strategie Leutweins, die zum einen Verträge mit den lokalen Chiefs vorsah und gleichzeitig die Ausweitung der deutschen Verwaltung forcierte, erzeugte mit dem Zuzug immer weiterer deutscher Siedler:innen und dem damit einhergehenden Landverlust wachsende Spannungen und Akte des Widerstands gegen die deutschen Kolonialbestrebungen (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 32–33). 1897 markierte einen wesentlichen Einschnitt für die OvaHerero, als die grassierende Rinderpest sie ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit beraubte und die Abhängigkeit von deutschen Siedler:innen erhöhte (vgl. Conrad 2008, 29). Die bestehenden Spannungen mit der deutschen Kolonialadministration führten im Januar 1904 zu einem weiteren Aufstand, bei dem 123 Deutsche bei Überfällen auf deren Farmen ermordet wurden (vgl. Zimmerer 2011 [2004b], 45). Die historische Forschung führt hier insbesondere die Zirkulation von Gerüchten über die Grausamkeit der OvaHerero als Grund für den Kriegsausbruch an (vgl. Gewald 2004, 60; Zimmerer 2011 [2004b], 45). Leutwein, der einigen Siedler:innen auch schon vor dem Aufstand als zu wenig „radikal“ galt, wurde wenige Monate später vom Generalleutnant Lothar von Trotha (1848–1920) als Oberbefehlshaber ersetzt (vgl. Zimmerer 2011 [2004b], 49). Von Trotha formulierte am 2.  Oktober 1904 einen „Aufruf an das Volk der Herero“, der als sogenannter „Schießbefehl“ den Anfang des Vernichtungskriegs gegen die widerständigen OvaHerero und damit den ersten Genozid der 20. Jahrhunderts begründet. Darin schreibt der Generalleutnant: Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Hereros. (zit. in: Zimmerer 2011 [2004b], 51)

Vorausgegangen war dem Schreiben die „Schlacht am Waterberg“ am 11. August 1904, die die kaiserliche „Schutztruppe“ gewann. Mit der militärischen Niederlage blieb den OvaHerero nichts anderes übrig, als in die Wüste zu fliehen, und für die deutsche Militärführung setzte sich schnell die Vorstellung durch, dass „die wasserlose Omaheke […] vollenden [sollte], was die deutschen Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Hererovolkes“ (Kriegsgeschichtliche Abteilung I des

„Koloniale Amnesie“ in Deutschland? 

 95

großen Generalstabs, Berlin 1906/1907, zit. in: Zimmerer 2011 [2004b], 45). So versperrte die deutsche „Schutztruppe“ den Fliehenden systematisch den Zugang zu den bekannten Wasserstellen (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 50). Von Trothas im Oktober übermittelter „Schießbefehl“ forderte die Auslieferung der Anführer an die deutsche Militärführung und erlaubte gleichzeitig, keine Gefangenen mehr machen und auch auf Frauen und Kinder schießen zu dürfen. An späterer Stelle des Aufrufs heißt es zwar, dass „das Schießen auf Weiber und Kinder so zu verstehen ist, dass über sie hinweggeschossen wird, um sie zum Laufen zu zwingen“. Dies relativiert jedoch nicht das Vorhaben, die OvaHerereo in der Wüste verdursten zu lassen. Als im Anschluss an die „Schlacht am Waterberg“ im August 1904 der Plan gefasst wurde, die Nama zu entwaffnen, traten auch diese in den Krieg ein (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 54). Einige Wochen später, im November, nahm Kaiser Wilhelm  II den Schießbefehl aufgrund der zu erwartenden internationalen Proteste persönlich zurück, aber auch, weil die Kapazitäten der „Schutztruppe“ nicht ausreichten, diese Art der Kriegsführung aufrechtzuerhalten. Stattdessen sollte die Kontrolle über die OvaHerero durch deren Internierung ausgeübt werden. Überall im Land wurden unterschiedliche Lagerstrukturen errichtet, zu denen zum einen „Sammellager“ gehörten, die von den Missionen geführt wurden, aber auch von der Militäradministration eingerichtete „Konzentrationslager“ (Zimmerer 2011 [2004a], 55). Dass es sich bei den Lagern nicht um Kriegsgefangenenlager handelt, wird daran deutlich, dass auch Frauen und Kindern interniert wurden. Gleichzeitig wurde aus den Lagern auch die dringend benötigte Arbeitskraft für unterschiedliche Bauprojekte im Land rekrutiert (vgl. Zimmerer 2011 [2004a], 56). Erwähnt sei an dieser Stelle die Schifffahrtslinie Woermann, die von der Zwangsarbeit der Internierten profitierte und gegen die die OvaHerero im Jahr 2001 eine Entschädigungsklage vor einem US-amerikanischen Gericht einreichten (vgl. Kap. 8). Als besonders widrig werden die Bedingungen im Lager auf der Haifischinsel (Shark Island) in der Lüderitzbucht beschrieben, was vor allem auf das feuchte und kalte Meeresklima zurückzuführen ist. Die Nahrungsversorgung war ungenügend, sodass viele Inhaftierte an Typhus und Skorbut erkrankten. Zimmerer (2011 [2004], 58) spricht in diesem Zusammenhang von „einer bewussten Ermordung durch Vernachlässigung“, bei der von Oktober 1906 bis März 1907 von den 1795 Gefangenen auf der Haifischinsel 1032 ums Leben kamen. Es wird davon ausgegangen, dass insgesamt zwischen 30 % und 50 % der Inhaftierten ihr Leben verloren. Obwohl der Krieg schon im März 1907 endete, wurden die Kriegsgefangenen erst im Januar 1908 entlassen (vgl. Zimmerer 2011 [2004], 58). Insgesamt kamen während des Völkermords Zehntausende Menschen ums

96 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Leben,15 wobei insbesondere die hohen Sterberaten in den Konzentrationslagern angeführt werden (vgl. Kreienbaum 2021, 18; Zeller 2011 [2004], 76). Als Folge des Kriegs wurde ein spezielles „Eingeborenenrecht“ etabliert sowie eine tiefgreifende Umverteilung der Besitzverhältnisse vollzogen, die für die betroffenen Gruppen der OvaHerero und Nama bis heute zu spüren ist (vgl. Zimmerer 2011 [2004b], 60). Die Zeit zwischen der Auflösung der letzten Konzentrationslager im Jahr 1908 und der Kriegsniederlage der deutschen „Schutztruppe“ gegen die südafrikanische Armee im Jahr 1915 findet meist nur eine kurze Erwähnung in den historischen Beiträgen. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags 1919 wurde das Deutsche Reich schließlich für „kolonialunfähig“ erklärt, und ihm wurden alle Kolonien abgesprochen (vgl. Zimmerer 2013, 30). Dennoch blieb das ehemalige „Deutsch-Südwestafrika“ als „Südwestafrika“ bis 1990 unter südafrikanischer Verwaltung. Erst mit der Unabhängigkeit Namibias wurden die Forderungen der betroffenen Gruppen der OvaHerero und Nama nach einer Aufarbeitung des Kolonialkriegs zunehmend auch in der deutschen Öffentlichkeit sichtbar (vgl. Förster 2010, 51–53; Kößler 2015, 237). Zimmerer ist einer der bekanntesten Vertreter der „Kontinuitätsthese“ im deutschen Kontext, bei der er in einer „Globalgeschichte der Massengewalt“ die Konzentrationslager des ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ mit den osteuropäischen Vernichtungslagern des Zweiten Weltkriegs miteinander verknüpft. Als Projekt einer Provinzialisierung des Nationalsozialismus versucht der Historiker, die strukturellen Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu beleuchten (vgl. Zimmerer 2007, 15), weswegen er auch die nationalsozialistische Ostpolitik als koloniales Expansionsvorhaben zu verstehen sucht. Vielmehr stehe die Wichtigkeit des Vergleichens im Mittelpunkt, um somit die Spezifizität der jeweiligen historischen Ereignisse herausarbeiten zu können. In der Einleitung zu seinem Buch, das den für den deutschen Kontext provokanten Titel Von Windhuk nach Auschwitz (2007, 23) trägt, argumentiert er, dass der Völkermord an den OvaHerero und Nama die „Existenz Genozidaler Gewaltfantasien (und auch das Handeln danach) im deutschen Militär und der deutschen Verwaltung“ belegen würde. Zentral für Zimmerer ist auch die Markierung des Kolonialismus als „Genozidale Mentalität“, die Vernichtungsfantasien auch

15  Eindeutige Zahlen über die zu Tode gekommene indigene Bevölkerung, zu denen neben den OvaHerero und Nama auch die Damara, Ovambo und San gehörten, lassen sich nicht abschließend feststellen (vgl. Fußnote in Häussler 2018, 8; Robel 2013, 14). Während die drei zuletzt genannten Gruppen in der deutschen Medienberichterstattung kaum Erwähnung finden, werden die Todeszahlen der OvaHerero zumeist mit 80 000 und die der Nama mit 20 000 beziffert. Der Historiker Dominik Schaller spricht in einem Beitrag von 60 000 bis 70 000 Ermordeten (Schaller 2004, 147, zit. in: Robel 2013, 14).

„Koloniale Amnesie“ in Deutschland? 

 97

gesamtgesellschaftlich legitimiert habe (Zimmerer 2007, 23). Zimmerer geht es um die Herausstellung des kolonialen Charakters des Nationalsozialismus, der sich beispielsweise in der Beschreibung der Etablierung eines „Rassenstaats“ manifestiere (Zimmerer 2007, 24). Die rassifizierende Aufteilung des Raumes – folglich die Analysekategorien ‚Rasse‘ und Raum – versteht Zimmerer als verbindendes Element zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Indem er auf Autor:innen wie W. E. B. du Bois, Aimé Césaire und Hannah Arendt eingeht, unterstreicht er nicht nur die Historizität der Darstellung des Gewaltzusammenhangs dieser beiden historischen Epochen. Mit dem Verweis auf Raphael Lemkin, der den Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Reaktion auf die kolonialen Gewaltverbrechen theoretisierte, begründet der Globalhistoriker die Kolonialität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik (vgl. Moses 2010; Zimmerer 2007, 21). Obwohl Zimmerer es ablehnt, von Kausalität oder einem weiteren „deutschen Sonderweg“ zu sprechen, legt sein Fokus auf den Kolonialismus in „Deutsch-Südwestafrika“ und seine Suche nach den „strukturellen Ähnlichkeiten“ mit dem Nationalsozialismus dies allerdings nahe. Seine provokante und auch als Kausalität anmutende Verbindung zwischen „Windhuk und Auschwitz“ rief daher einige Kritik in der deutschen Geschichtswissenschaft hervor (vgl. Gerwarth und Malinowski 2007, 2009; Grosse 2005, 2006; Kundrus 2003, 2006). Dabei vertreten vor allem Robert Gerwarth und Stephan Malinowski (2009, 284–285) die Ansicht, dass sich der deutsche Kolonialismus kaum in seinen Praktiken von dem anderer europäischer Mächte unterscheiden und gleichzeitig die personalen sowie strukturellen Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus überbewertet würden. Diese weiterhin geführten Kontroversen, wie sie auch in der von Steffen Klävers vorgelegten Dissertation Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung (2019) diskutiert werden, können hier nur angedeutet werden. Mit dem Historiker Sebastian Conrad (2008, 103) gesprochen, scheint es allerdings „fruchtbarer, an ein allgemeines koloniales Archiv […] zu denken, als sie [die Beziehung von Kolonialismus und nationalsozialistischer Gewalt, Anm. S. R.] allein in dem kurzlebigen deutschen Kolonialreich zu verorten“. Entsprechend steht das Schreiben transnationaler Verflechtungsgeschichten noch aus, die sowohl die anderen deutschen Kolonien in die Betrachtung einbeziehen als auch den Blick auf die europäischen Kolonialmächte ausdehnen (vgl. Eckert 2021, 254). Die Notwendigkeit des Vergleichens, das hier am Beispiel der Geschichtswissenschaft verdeutlicht wurde, gilt auch für die Analyse postkolonialer Erinnerungspolitiken. Denn im gleichen Maße, wie Wissen und Praktiken während des Kolonialismus in Europa zirkulierten, kann auch die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit nicht ausschließlich auf die Beschäftigung mit einem Nationalstaat reduziert werden.

98 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Allerdings deutet der hier entwickelte historische Abriss auf eine weitere Problematik, die sich in der erinnerungspolitischen Analyse im Umgang mit geschichtswissenschaftlicher Sekundärliteratur auftut. Es mag vielleicht verwundern, dass die bisherige Darstellung der historischen Hintergründe im Rückgriff auf Zimmerers Arbeiten nicht in Konflikt zu stehen scheint mit der Kontroversität um seine Positionen im Zusammenhang von Kolonialismus und Nationalsozialismus. Reinhart Kößler bietet in seinem Text „Entangled History and Politics: Negotiating the Past between Namibia and Germany“ (2008) eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Kontroversen der Jahre 2005–2008 um die „Genozid-“ sowie „Kontinuitätsthese“. Der Soziologe verweist dabei insbesondere auf die starke Tradition rechtsorientierter, kolonialapologetischer und relativistischer Positionen in der deutschen Geschichtswissenschaft. Diese Positionen knüpfen an wichtige kritische Debattenbeiträge zur Frage der Kontinuität an, wie die von Birthe Kundrus (2003, 2006) oder etwa von Gerwarth und Malinowski (2009), zielen allerdings in revisionistischer Manier darauf ab, nicht nur den Genozid an den OvaHerero und Nama, sondern auch den Holocaust zu relativieren. Kößler (2008) schreibt, dass deren Positionen Anfang der 2000er Jahre keine Marginalien sind, schließlich wurde mit Verweis auf den rechtsextremen Historiker Claus Nordbruch der Begriff des Genozids aus einer Bundestagsresolution von Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 2004 wieder gestrichen (vgl. Kößler 2008, 323). Historiker:innen beteiligen sich in besonderem Maße an den Debatten über die „richtige“ Interpretation historischer Quellen und somit auch an der erinnerungspolitischen Bewertung der kolonialen Vergangenheit. Indem der mit dem Nationalsozialismus schon gebrauchte Begriff der „kollektiven Schuld“ bemüht und abgewiesen wird, versuchen vor allem konservative Stimmen, sowohl das Handeln der „Schutztruppe“ als auch die Auswirkungen des deutschen Kolonialismus zu relativieren (vgl. Kößler 2008, 326). Zentral für diese Arbeit ist es, die Historizität der Geschichtswissenschaft zu thematisieren und vor allem die erinnerungspolitische Bedeutung akademischer Wissensproduktion zu markieren. Historiografische Debatten wie die über die „Kontinuitätsthese“ werden schließlich auch vor dem Hintergrund des in Deutschland erinnerungspolitisch etablierten Primats geführt, welches den Holocaust in seiner historischen Einzigartigkeit begreift (vgl. Habermas 2021; Moses 2021). Christiane Bürger (2017, 13), die eine wissenshistorische Arbeit über die deutsche Kolonialgeschichtsschreibung in der BRD und der DDR als Dissertation eingereicht hat, hebt daher auch hervor, dass „Kolonialgeschichte […] immer auch als Teil der jeweiligen Nationalgeschichte“ geschrieben wird. Die historische Wissensproduktion muss daher als ein diskursiver Aushandlungsprozess verstanden werden, in dem darum gerungen wird, was als historische Fakten anerkannt wird. Conrad (2008, 102) hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die „Kontinuitätsthese“ für produktive

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 99

Impulse in der deutschen Geschichtswissenschaft sorgte. Entsprechend haben die Debatten über den Zusammenhang von Kolonialismus und Nationalsozialismus dazu geführt, dass der Genozid an den OvaHerero und Nama mittlerweile nicht mehr kontrovers als ‚These‘ verhandelt wird. Die erinnerungspolitische Bedeutung historischer Wissensproduktion für die erinnerungspolitischen Aushandlungsprozesse in Deutschland steht im Folgenden im Zentrum.

5.3 E  rinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren: Die Kontroversen um die „Genozid-These“ und die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus behandeln, kommen nicht umhin herauszustellen, dass die Beschäftigung mit diesem sowie das wachsende gesellschaftliche Interesse recht rezente Phänomene sind (vgl. Conrad 2019; de Wolff 2021; Habermas 2019; Kößler und Melber 2018a; Schilling 2014). An dieser gegenwärtigen Zustandsbeschreibung hat sich in der letzten Dekade nicht viel geändert, was den Eindruck zu bestätigen scheint, dass der Genozid an den OvaHerero und Nama erst mit der 100-jährigen Erinnerung im Jahr 2004 auf die wissenschaftliche und politische Agenda trat (vgl. Bürger 2017, 11). Die fehlende erinnerungspolitische Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte wird daher gemeinhin als „koloniale Amnesie“ beschrieben (vgl. Albrecht 2014; Kößler 2006; Kößler und Melber 2018a). Conrad (2019, 28) weist indes darauf hin, dass „kollektiv-psychologische Deutungsmuster […] wenig hilfreich“ seien und stattdessen die gegenwärtigen Bedingungen im Fokus stehen sollen, „unter denen koloniale Themen bei einem breiteren Publikum Resonanz fanden“. Wie lässt es sich also erklären, dass das öffentliche Interesse an der kolonialen Vergangenheit Deutschlands erst mit der Jahrtausendwende zunahm (vgl. Kreienbaum 2021, 15)? Das Ringen um die Bedeutung von historischen Ereignissen beginnt, sobald diese als Vergangenheit gelten. Der Genozid an den OvaHerero und Nama war als „regelrechtes Diskursereignis“ (Brehl 2007, 102) schon im damaligen Kaiserreich hinlänglich bekannt und spielte während der Verhandlungen um den Versailler Friedensvertrag eine entscheidende Rolle, Deutschland eine „Kolonieunfähigkeit“ zu attestieren (Bürger 2017, 14). Medardus Brehl (2007, 142) zeigt in seiner Dissertationsschrift Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, dass die 1920er und 1930er Jahre durch eine stark kolonialrevisionistische Publikationskultur geprägt waren, wobei allerdings literarische Texte an Bedeutung verloren, die den OvaHerero- und Nama-Genozid explizit thematisierten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Beziehung

100 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

zum damaligen „South West Africa“ von der Gründung der BRD und der DDR geprägt. Vor allem die Umstände des Kalten Kriegs bestimmten die Positionen der beiden deutschen Staaten gegenüber den Unabhängigkeitsbewegungen in „Südwestafrika“ (Bürger 2017, 13). Dabei entstand die Wissensproduktion über das koloniale Namibia in beiden Ländern in Rückbezug aufeinander und auch auf kolonialapologetische und „populäre Wissenstraditionen“ (Bürger 2017, 268), die vor 1945 veröffentlicht worden sind. Die kolonialrevisionistischen Netzwerke, die auch heute noch bestehen, übten verstärkt bis in die 1980er Jahre einen großen Einfluss auf die Kolonialgeschichtsschreibung aus (vgl. Bürger 2017, 276). In ersten Arbeiten, die vom Völkermord an den OvaHerero und Nama sprachen, war daher auch von der „Genozid-These“ die Rede. Eine Beschreibung der Ereignisse als Völkermord tauchte das erste Mal in der Dissertation Südafrika unter deutscher Kolonialherrschaft auf, die der in der DDR lebende Historiker Horst Drechsler im Jahr 1966 einreichte. Darin stellte er, wie Bürger (2017, 271) schreibt, den Völkermord „gemäß der Faschismustheorie in eine[] theorieimmanente[] Kontinuität zum Nationalsozialismus“. Als Konsequenz sollte die BRD als Nachfolgestaat sowohl des Kaiserreichs als auch der nationalsozialistischen Diktatur diskreditiert werden. Doch auch in der BRD wurden die Verbindungslinien zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus verfolgt, wie etwa in der von Helmut Bley publizierten Arbeit aus dem Jahr 1968, in der er Hannah Arendts These von den „Ursprüngen totaler Herrschaft in Afrika“ nachzuweisen sucht (Bürger 2017, 195–196). Obwohl Bleys Dissertation den Begriff „Genozid“ nicht verwendet (vgl. Bürger 2017, 197), wird seine Monografie – im Gegensatz zu Drechslers Arbeit als ostdeutschem Beitrag zur Debatte – in der gegenwärtigen Forschungsliteratur weiterhin als wichtige Referenzquelle zitiert und tauchte auch in manchen Zeitungsartikeln der später 1990er und frühen 2000er Jahre noch auf. Wie Brehl (2007) macht auch Bürger (2017) deutlich, dass es sich nicht um eine ausschließlich akademische Debatte handelte. Mit der Entstehung der 68erBewegung kommt es zu ersten Forderungen, koloniale Straßennamen umzubenennen und auch Denkmäler abzubauen. Mit dem zweiteiligen Dokumentarfilm „Heia Safari“ (1966) wird die koloniale Vergangenheit auch einem größeren Publikum zugänglich (vgl. Eckert 2021, 251). Trotz der jeweiligen unterschiedlich geführten Debatten kann Bürger (2017, 275) für die koloniale Historiografie in beiden deutschen Staaten aufzeigen, dass diese sich am „erzählerische[n] Fluchtpunkt des Nationalsozialismus“ orientierte. Dabei ist aber auch herauszustellen, dass das akademische Schreiben stark durch die Zirkulation von Wissen zwischen literarisch und wissenschaftlichen Texten bestimmt gewesen sei (vgl. Bürger 2017, 270). Als ein Beispiel nennt die Historikerin den von Uwe Timm veröffentlichten Roman Morenga (1978), der als Mischform fiktionaler Erzählelemente mit historischen Quellen eine kritische Deutung des Kolonialismus anbietet und sowohl

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 101

ost- als auch westdeutsche Debatten prägte. Die Nachwirkungen dieses ersten „postkolonialen Romans“, so Bürger (2017, 225), waren auch noch im Gedenkjahr 1984 zur 100-jährigen Erinnerung an die Überseekolonisierung und zur 80-jährigen Erinnerung an den Beginn des Kolonialkriegs zu spüren. Mit dem Beginn der 1970er Jahre gewann die These vom Völkermord zwar zunehmend an Bedeutung in den Geschichtsschreibungen der beiden deutschen Staaten (Bürger 2017, 276), konnte sich aber erst in den 2000er Jahren wissenschaftlich wie auch gesamtgesellschaftlich durchsetzen. Noch in den 1980er Jahren wandte sich der Historiker Horst Gründer gegen die „Genozid-These“ (Bürger 2017, 247), und ab 1989 beobachtet Bürger sogar eine wissenschaftliche „Welle der Apologetik“ (Bürger 2017, 255), bei der versucht wurde, die Bezeichnung als Völkermord zurückzuweisen. Noch 2005 unternahm Horst Gründer in Abgrenzung von Zimmerer den Versuch, dem deutschen Kolonialismus positive Aspekte abzugewinnen (vgl. Kößler 2008, 326). Ein wissen(schafts)geschichtlicher Überblick ist deshalb wichtig, um zu verdeutlichen, dass der deutsche Kolonialismus nicht erst seit den frühen 2000er Jahren forschungsrelevantes Thema ist. Dass dieser Eindruck entstanden ist, mag sicherlich auch am gesunkenen Interesse an der deutschen Kolonialgeschichte in den 1990er Jahren liegen, wie der Afrikahistoriker Andreas Eckert (2011 [2004], 226) konstatiert. Die weiterhin kontrovers geführte Debatte um die strukturellen Kontinuitäten zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt und die Popularität der vergleichenden Genozidforschung muss daher auch vor dem Hintergrund der historischen Debatten betrachtet werden (vgl. Bürger 2017, 240; Eckert 2011 [2004], 232). Dass sich diese Arbeit allerdings auf die Zeit ab 1990 konzentriert, liegt an der Veränderung der politischen Vorzeichen mit dem Fall der Mauer 1989 und der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990, die dazu führten, dass der Völkermord fortan gesamtgesellschaftlich sichtbar werden konnte (vgl. Kößler 2015, 237). Als betroffene Gruppen erlangten insbesondere die OvaHerero und Nama eine zunehmende Sichtbarkeit, indem die ihre Forderungen nach Anerkennung und Reparation publik machten. Im Verlauf der frühen 1990er Jahre scheiterten jedoch zunächst die Versuche der OvaHerero, mit dem damaligen Kanzler Helmut Kohl oder dem Bundespräsidenten Roman Herzog ins Gespräch zu kommen (vgl. Kößler 2015, 237). Kohl ignorierte bei seinem Namibiabesuch die OvaHerero schlichtweg, die ihm eine Petition mit der Aufforderung zur Zahlung von 600 Millionen US-Dollar Entschädigung für die Toten des Völkermords übergeben wollten (vgl. Kößler 2015, 237). Als Herzog als erstes deutsches Staatsoberhaupt im Jahr 1998 in die ehemalige Kolonie reiste, traf er sich zwar außerhalb des offiziellen Programms mit einem Vertreter der OvaHerero, lehnte gleichzeitig aber die Forderung nach einer offiziellen Entschuldigung mit der Bemerkung ab, dass es sich dabei einzig um eine „Worthülse“ handeln würde („Worthülse“,

102 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

09.03.1998, FAZ, 16). Zudem machte er klar, dass es keine rechtliche Grundlage gebe, die die Zahlung von Reparationen rechtfertige. Obwohl er sein Bedauern über die damaligen Vorfälle zum Ausdruck brachte, verweigerte er gleichzeitig die Formulierung einer Entschuldigung sowie die Zahlung von Entschädigungen (vgl. Kößler 2015, 237). Aus diesem Grund erwogen die OvaHerero schließlich rechtliche Schritte. Im Jahr 1999 scheiterte ein erstes Klagevorhaben vor dem Gericht für Menschenrechte in Den Haag (vgl. de Wolff 2017, 394). Nach dem Erfolg ehemaliger NS-Zwangsarbeiter:innen, Entschädigungszahlungen durch die Einleitung von Klagevorhaben in den USA zu erwirken, reichten auch die OvaHerero im Jahr 2001 Klage gegen die Bundesregierung und drei deutsche Unternehmen vor US-amerikanischen Gerichten ein (vgl. de Wolff 2017, 400). Die OvaHerero griffen dabei auf eine spezielle Rechtsordnung des Zivilrechts zurück, die dem deutschen Justizwesen unbekannt ist und es Staatsangehörigen anderer Länder erlaubt, Sammelklagen vor US-amerikanischen Gerichten gegen ausländische Firmen einzureichen (vgl. Eicker 2009, 325, 409). Obwohl diese Klage 2003 scheiterte, konstatiert Bürger (2017, 11) ab 2004 eine „regelrechte Konjunktur“ der Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus in der Geschichtswissenschaft. Anlass war das 100-jährige Gedenken an den Völkermord an den OvaHerero und Nama, bei dem die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie WieczorekZeul, bei einer Gedenkveranstaltung am Waterberg in Namibia erstmals entschuldigende Worte „im Sinne des gemeinsamen ‚Vater unser‘“ an die Anwesenden richtete (vgl. Kößler 2015, 254). Diese sogenannte „Halb-Entschuldigung“ (Kößler 2015, 247) löste heftige Debatten in Deutschland aus und führte dazu, dass sich selbst die eigene Partei von der Ministerin distanzierte (vgl. Kößler 2015, 257). Gleichzeitig avancierte das Gedenkjahr medial zum ersten „Erinnerungskulturellen Höhepunkt“ in der Thematisierung der kolonialen Vergangenheit (de Wolff 2021, 254). Es vergingen weitere zehn Jahre, bis ein Bundesregierungssprecher im Jahr 2015 indirekt den Begriff „Völkermord“ für die Ereignisse im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ anerkannte (vgl. Kößler und Melber 2017, 69–70). Dieses Eingeständnis folgte auf den erwachsenen Druck aus der vorangegangenen Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen zum 100. Jahrestag am 24. April 2015 (vgl. Kößler und Melber 2017, 70–74). Als Folge wurden die Sondergesandten Dr. Zedekia Ngavirue auf namibischer und Ruprecht Polenz (CDU) auf deutscher Seite ernannt, um die Bedingungen zur Formulierung einer Entschuldigung und die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen zu verhandeln (vgl. Kößler und Melber 2017, 74–75). Eine weitere Klage, die die OvaHerero zusammen mit den Nama im Jahr 2017 gegen die Bundesregierung anstrengten (vgl. Kößler und Melber 2017, 91–92), war erneut nicht erfolgreich (vgl. „Gericht weist Klage zu Kolonialverbrechen ab“, 07.03.2019, SZ). Die Forderung nach einer offiziellen

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 103

Entschuldigung für den von der deutschen „Schutztruppe“ begangenen Völkermord bleibt weiterhin Gegenstand der erinnerungspolitischen Forderungen der OvaHerero und Nama, ebenso wie die Frage nach der Zahlung von Reparationen (vgl. Kößler und Melber 2017, 111–113; Melber 2021). Eine weitere zentrale erinnerungspolitische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Namibia betrifft die Repatriierung menschlicher Gebeine, die im Zuge des Genozids und zu rassenanthropologischen Zwecken nach Deutschland verbracht und in den Museen eingelagert worden sind (vgl. de Wolff 2021, Kap. 7.3). Im Jahr 2011 sorgte die erste Repatriierung für einen „Eklat“, wie sich die Medienberichterstattung einig war (vgl. Hintze, 04.10.2011, 4. Oktober, ND, 6). Die damalige Staatssekretärin Cornelia Pieper, die bei der feierlichen Übergabe als Repräsentantin der Bundesregierung anwesend war, verweigerte nicht nur die Formulierung einer Entschuldigung, sie verließ die Veranstaltung sogar noch vor dem Beginn der Rede des namibischen Kulturministers (vgl. Kößler 2015, 273–316). Weitere Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Namibia folgten 2014 und zuletzt 2018. Mit der Übergabe des Berichts „Restituer le patrimoine africain“ (2018) der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des Wirtschaftswissenschaftlers Felwine Sarr, der von Emmanuel Macron in Auftrag gegeben wurde, wurde ab 2018 eine europaweite Debatte über die Rückgabe musealer Sammlungsbestände aus kolonialen Kontexten angestoßen. In Berlin gerät als Folge das geplante Humboldt Forum zunehmend in die Kritik, aufgrund der geplanten Ausstellung der außereuropäischen Sammlungen im wieder errichteten Berliner Schloss (vgl. Bose 2016), zu denen auch Teile der im Jahr 1897 von der britischen Kolonialarmee aus dem damaligen Königreich Benin geraubte Bronzen gehören (vgl. AfricAvenir  e.  V. 2017; Hicks 2020, 109–114). Auf die Veröffentlichung des Berichts folgte im Februar 2019 die Rückgabe der Witbooi-Bibel und Peitsche nach Namibia, die Ende des 19. Jahrhunderts von der deutschen Kolonialarmee aus dem Besitz Hendrik Witboois (um 1830–1905) entwendet wurden und als Schenkung im Jahr 1902 in den Besitz des Linden-Museums in Stuttgart gelangten. Den Restitutionsforderungen, die aus Namibia schon seit 2013 vorlagen, wurde erst im Zuge des gewachsenen öffentlichen Interesses nachgekommen (vgl. Land Baden-Württemberg, 22.02.2019). Das Jahr 2021 beschreibt den vorläufig letzten Höhepunkt der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Namibia und Deutschland sowie den OvaHerero und Nama und der Bundesrepublik. Die Sondergesandten Ngavirue und Polenz kündigten im Mai 2021 den Abschluss des Dialogprozesses zwischen Namibia und Deutschland an und stellten die baldige Unterzeichnung eines „Versöhnungsabkommens“ in Aussicht, das u. a. eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung noch vor den Bundestagswahlen im September vorsah (vgl. Melber 2021). Diesem Ziel konnte aufgrund der heftigen Kritik seitens der namibischen und deutschen

104 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Zivilgesellschaft, aber auch aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie in Namibia nicht entsprochen werden (vgl. Johnson, 29.06.2021). Gleichzeitig entbrannte im Frühjahr eine erneute Debatte um die „Kontinuitätsthese“ und die Legitimität des Vergleichs zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, der von einigen Kommentator:innen als „Historikerstreit 2.0“ deklariert wurde (vgl. Epple, 19.04.2021; Moltke 2021; Moses 2021; Rothberg und Zimmerer, 31.03.2021). Der hier entworfene Überblick der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen lässt auch für den deutschen Kontext eine „Beschleunigung der Erinnerungen“ vermuten, wie Stora 2004 für die Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich festgestellt hat. Seit der Jahrtausendwende und verstärkt seit 2015 rückte die koloniale Vergangenheit Deutschlands in die öffentliche Wahrnehmung (vgl. Conrad 2019). Zum einen mehrten sich die erinnerungspolitischen Ereignisse, die auf ein wachsendes mediales Interesse stießen, zum anderen verstärkten sich die transnationalen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Themenkomplexen – wie am Beispiel der von Frankreich angestoßenen „Restitutionsdebatte“ oder auch anhand der über die deutschen Landesgrenzen hinaus debattierten „Kontinuitätsthese“ deutlich wird, die in einen erneuten „Historikerstreit“ mündete (vgl. Moses 2021). Im Folgenden gebe ich einen historischen Überblick über die Kolonisierung Algeriens ab den 1830er Jahren bis zum Ende des Algerienkriegs 1962, bevor ich die erinnerungspolitischen Trendwenden in der Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich ab den 1990er Jahren nachzeichne.

5.4 V  erstrickte Geschichte(n) in Frankreich: Die Kolonisierung Algeriens, l’Algérie française und der Unabhängigkeitskrieg von 1954–1962 Das Interesse der vorliegenden Forschungsarbeit richtet sich auf die französische Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg zwischen 1954 und 1962. Dabei wurde im Forschungsprozess ersichtlich, dass die Fokussierung auf den Algerienkrieg zu einer historiografischen, vor allem aber erinnerungspolitischen Vernachlässigung der französischen Kolonialexpansion im 19. Jahrhundert führte (vgl. Bancel et al. 2003, 138; Stora 2006, 59). Dabei gibt es genügend Arbeiten, die sich der Phase der Konsolidierung des französischen Kolonialreichs im 19.  Jahrhundert zuwenden und dabei vor allem den Widerstand gegen die koloniale Fremdherrschaft zum Thema in den Blick nehmen (vgl. Pervillé 2018; Peyroulou et al. 2014). Erst 1848 wurden die besetzten algerischen Territorien in die französische Departement-Struktur überführt (vgl. Shepard 2006, 20) und somit dem wiederkehrenden Widerstand kabylischer und berberischer Bevölkerungsgruppen ein Ende gesetzt. Der antikoloniale Widerstand in der Region um Zaatcha im Novem-

Verstrickte Geschichte(n) in Frankreich 

 105

ber 1849 gehörte zu einem der letzten Kämpfe gegen die französische Kolonialexpansion, die 1830 mit der Besetzung Algiers durch französische Soldaten begann (vgl. Shepard 2006, xiii). Benennen möchte ich diesen Kolonialkonflikt an dieser Stelle, weil die menschlichen Gebeine der Aufständischen als „Kriegstrophäen“ nach Frankreich gelangten, nachdem sie zuerst enthauptet und auf dem Marktplatz von Biskra ausgestellt wurden (vgl. Bocher 1851; Session 2020). Im Juli 2020 wurden 24  Gebeine, die aus diesen kriegerischen Auseinandersetzungen stammten, nach Algerien repatriiert (vgl. Zerrouky 3.7.2020, lemonde.fr). Sora verknüpfte mit der Rückgabe der Schädel die folgende Hoffnung: „Le travail mené autour des dépouilles permettra peut-être de mieux connaître l’histoire de la conquête dans l’Ouest et le Sud algérien“ (Sardier, 10.07.2020, Libération, 20). Erst aufgrund der Rückgabe der menschlichen Gebeine als erinnerungspolitischem Ereignis wurde die koloniale Expansion in der medialen Darstellung sichtbarer. Dabei ist bisher weder die „Schlacht von Zaatcha“ noch die Art und Weise, wie die Schädel nach Frankreich gelangten, historisch besonders gut erschlossen. Die Repatriierung hat im Forschungsprozess zu einer nicht vorhergesehenen Erweiterung des Untersuchungsgegenstands auf die koloniale Phase ab 1830 und die kolonialanthropologische ‚Rasseforschung‘ geführt (vgl. Kap. 9). Dabei kann es der historiografische Überblick jedoch nicht leisten, die gesamte koloniale Phase von 1830 bis zur Unterzeichnung der Évian-Verträge am 19. März 1962, als die koloniale Herrschaft in Algerien endete, abzubilden. Ziel des Unterkapitels ist es vielmehr, den historischen Überblick auf diejenigen historischen Ereignisse zuzuspitzen, die ab den 1990er Jahren zur Bezeichnung der erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen als „Erinnerungskriege“ (Blanchard und Veyrat-Masson 2008) geführt haben und den Algerienkrieg als „Trauma“ (Blanchard et al. 2020, 226) und „offene Wunde“ (Stora 1998 [1991]) der gegenwärtigen französischen Gesellschaft beschreiben. Der kursorische Überblick der Ereignisse in diesem Kapitel wird um jeweils detailliertere Informationen in den empirischen Kapiteln ergänzt. Dabei lässt sich Algeriens Unabhängigkeit weder auf die Daten des Kriegsbeginns 1954 und seines Endes 1962 noch auf die Geschehnisse in Algerien begrenzen. Denn bereits nach dem Zweiten Weltkrieg strebten viele Kolonien nach der nationalen Unabhängigkeit (vgl. Shepard 2006, 56–57). Erkenntlich wird dies besonders am 8.  Mai 1945, der in Europa die Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands und das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert, dem in Algerien jedoch als „Tag nationaler Trauer“ gedacht wird (vgl. Rheinisches JournalistInnenbüro 2014, 131). Am „Tag der Befreiung“ gingen auch die Menschen im Constantinois, d. h. in den Städten Sétif, Guelma und Kherrata auf die Straße, um das Ende eines Kriegs zu feiern, in dem auch ca. 400 000 algerische Soldaten in de Gaulles Forces Françaises Libre gegen den Nationalsozialismus

106 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

gekämpft hatten. Im Mittelpunkt standen allerdings die Hoffnungen auf ein freies Algerien. Als auf einer Demonstration in der Kleinstadt Sétif die algerische Flagge geschwenkt wurde, schoss die französische Armee auf die Demonstrierenden und ging danach mehrere Wochen repressiv gegen die algerische Zivilbevölkerung vor (vgl. Blanchard et al. 2020, 29, 44). Die vom Militär, aber auch von den Algerienfranzosen (pieds-noirs) begangenen Massaker forderten wahrscheinlich zwischen 10 000 und 30 000 Opfer (vgl. Blanchard et al. 2020, 44) und werden als Ausgangspunkt für den ab 1954 geführten bewaffneten Befreiungskampf angesehen (vgl. Rey-Goldzeiguer 2006; Rheinisches JournalistInnenbüro 2014, 131). Die Ereignisse in Algerien müssen vor dem Hintergrund der weltweit einsetzenden Dekolonisierungsprozesse verstanden werden (vgl. Blanchard et al. 2020; Renken 2005, 29), auf die Frankreich 1946 zunächst mit der Gründung der „Union Française“ reagierte (vgl. Shepard 2006, 57). In Algerien, das als Territorium Frankreichs galt, wurden allerdings andere Maßnahmen ergriffen, um den französischen Machterhalt zu sichern. 1947 erhielten alle Bewohner:innen Algeriens die französische Staatsbürgerschaft, wobei jedoch weiterhin die Ungleichbehandlung der „muslimischen“ Bürger:innen (français musulmans d’Algérie) durch die Anwendung eines lokalen Personenstands aufrechterhalten wurde (vgl. Shepard 2006, 41). Letztlich konnte die algerischen Unabhängigkeitsbestrebungen von der französischen Kolonialmacht nicht mehr eingehegt werden. Am 1.  November 1954 begann der Befreiungskampf, als der Front de Libération Nationale (FLN) gezielt Anschläge an verschiedenen Orten des Landes verübte (vgl. Renken 2005, 30). Anders als die Unabhängigkeitsbestrebungen der Vietminh in Indochina erregte der Algerienkrieg schon damals große öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. Jansen 2012, 277). Grund hierfür ist nicht nur der besondere Status der Algérie française als Bestandteil des französischen Staatsgebiets, sondern darüber hinaus auch die mehr als zwei Millionen französischen Soldaten (zu denen insbesondere die Wehrpflichtigen gehörten), die von 1954 bis 1962 in Algerien kämpften (vgl. Hüser 2005b, 95). Gleichzeitig beschreibt der Algerienkrieg einen kolonialen Konflikt, der sich mit Césaire als „choc en retour“ (2004 [1955], 13) bezeichnen lässt. Denn schon 1955 wurden die Auswirkungen des Kriegs auch in Frankreich spürbar, als schrittweise der Ausnahmezustand über Algerien verhängt wurde und immer mehr Soldaten der sogenannten appelés („Wehrpflichtige“) dazu gedrängt wurden, ihre Dienstzeit zu verlängern (vgl. Blanchard et al. 2020, 186). Erstmals im September verweigerten 600 Soldaten ihre Einberufung nach Algerien, indem sie im Zug von Lyon nach Marseille die Notbremse zogen (vgl. Renken 2005, 36). Mehrere solcher Vorfälle wiederholten sich im ganzen Land und destabilisierten weiter die Politik der Vierten Republik, die sich durch häufig wechselnde Regierungen auszeichnete (vgl. Renken 2005, 36). Eine besonders unpopuläre Rolle kam dabei dem Parti Communiste Français

Verstrickte Geschichte(n) in Frankreich 

 107

(PCF) zu, der einen Gesetzestext unterstützte, der die Regierung mit „Sondervollmachten“ (pouvoirs spéciaux) ausstattete (vgl. Blanchard et al. 2020, 177; Renken 2005, 37). Gleichzeitig bewirkte die Einführung der Sondervollmachten eine Übertragung der Ausübung der Polizeigewalt an das Militär, was u. a. den Einsatz von Folterpraktiken als Instrument zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ ermöglichte (vgl. Branche 2001). Das rigorose militärische Durchgreifen trug sowohl in Frankreich als auch in Algerien zu einer Eskalation des Kriegs bei. 1957 machte eine von Intellektuellen getragene Kampagne auf die institutionalisierte Anwendung der Folter aufmerksam und konnte anlässlich des Mordes an Maurice Audin und der Inhaftierung Henri Allegs breiten Protest mobilisieren (vgl. Renken 2005, 38). Die als „Schlacht von Algier“ bekannt gewordene Operation zur Zerschlagung der FLN im Jahr 1957 war Ausdruck des wachsenden innenpolitischen Einflusses des Militärs, der am 29. Mai 1958 zur Selbstentmachtung des Parlaments und zur Übernahme der Regierungsgeschäfte durch de Gaulle führte (vgl. Renken 2005, 42). Obwohl das französische Militär den FLN erfolgreich niederschlagen konnte, führten die groß angelegten „Durchkämmungsaktionen“ des Hinterlandes sowie die andauernde Repression gegenüber der Zivilbevölkerung zu einer dauerhaften Unterstützung des Kampfes der FLN. De Gaulle erkannte, dass sich der Kampf in Algerien nicht mit militärischen Mitteln gewinnen ließ, weswegen er ab 1959 den Plan zur autodétermination fasste und damit offiziell von der Idee einer Algérie française abrückte (vgl. Renken 2005, 44). Während in der französischen Bevölkerung die Beendigung des Kriegs und eine Unabhängigkeit Algeriens immer populärer wurden, wuchs innerhalb der militärischen Reihen der Widerstand gegen de Gaulle (vgl. Renken 2005, 44–45), aus dem am 11. Februar 1961 die rechtsterroristische Organisation des Armées Sécrètes (OAS) hervorging (vgl. Blanchard et al. 2020, 197). Als am 22. April 1961 ein von verschiedenen Generälen initiierter Putsch gegen de Gaulle misslang, verstärkte sich der klandestine Kampf mit massiven Anschlagsserien in die französische ‚Metropole‘ (vgl. Renken 2005, 46). Der Politikwissenschaftler Frank Renken (2005, 46) schreibt, dass allein in der zweiten Hälfte des Septembers 1961 180 Anschläge in Algerien und 34 in Paris verübt wurden. Damit starben in den letzten sechs Kriegsmonaten mehr Zivilist:innen durch die OAS als durch die vom FLN verübten Anschläge ab 1956. Für die erinnerungspolitische Auseinandersetzungen spielt ab den 1990er Jahren insbesondere der 17. Oktober 1961 eine wichtige Rolle. Die Pariser Polizei, die zu großen Teilen mit der OAS sympathisierte, verhängte Anfang Oktober eine Ausgangssperre gegen „moslemische algerische Arbeiter“ (Renken 2005, 47). An der friedlichen Demonstration, die der FLN am 17. Oktober in Frankreich organisierte, nahmen 20  000–40  000 Menschen teil. Schon massiv durch Anschläge der FLN unter Druck geraten, reagierte die Pariser Polizei während der Demonstration mit brutaler Gewalt (vgl. Cole 2003, 24). Es wird davon ausgegangen, dass

108 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

zwischen 31 und 200 Menschen von der Polizei ermordet wurden. Die Leichen der Demonstrant:innen wurden später in der Seine gefunden. Über 14 000 Demonstrant:innen wurden im Laufe der Woche festgenommen und in umliegenden Stadien oder Theatern der Stadt festgesetzt, 500 von ihnen wurden nach Algerien deportiert, andere blieben bis zum Ende des Kriegs in Gewahrsam (vgl. Cole 2003, 24). Eine ausführliche Berichterstattung gab es zu den Ereignissen kaum. Im offiziellen Bericht des Polizeipräfekten Maurice Papon war die Rede von zwei Toten, die durch Polizeigewalt ums Leben kamen, und einem weiteren, der einen Herzstillstand erlitt (vgl. Cole 2003, 25–26). Am 8. Februar 1962 mobilisierte der PCF für eine Demonstration, bei der an der Metrostation Charonne neun Menschen durch Polizeigewalt ums Leben kamen (vgl. Brunet 2003). Die Erinnerung an diese Toten überschattete lange Zeit die Ereignisse vom 17. Oktober 1961 (vgl. House und MacMaster 2009, 185), die erst mit der Strafverfolgung des damaligen Polizeipräfekten Papon im Jahr 1997 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde (vgl. Cole 2003, 42–43). Als infolge der PCF-Demonstration im Februar 1962 von den Gewerkschaften ein Generalstreik für das ganze Land ausgerufen wurde, geriet de Gaulle in Zugzwang. Der Zustimmung der französischen Bevölkerung zur Selbstbestimmung Algeriens folgend, wurden am 18.  März 1962 die Evian-Verträge unterzeichnet. Der Waffenstillstand und das nahende Kriegsende führten dazu, dass innerhalb von vier Monaten fast die gesamte als ‚europäisch‘ verstandene Minderheit, die sogenannten Algerierfranzös:innen (pieds-noirs), aus Algerien floh (vgl. Renken 2005, 48). Der Historiker Todd Shepard hat in seiner Arbeit The Invention of Decolonization (2006) nachgezeichnet, mit welchen Mitteln die Ungleichbehandlung der „muslimischen“ gegenüber der „europäischen“ französischen Bürger:innen Algeriens aufrechterhalten wurde – obwohl Algerien französisches Staatsgebiet war und allen Einwohner:innen die französische Staatsangehörigkeit zugesichert wurde. Diese differente Zuweisung des Personenstands ist zentral im Kontext der „Repatriierungen“, die auf das Ende des Algerienkriegs folgten (vgl. Shepard 2006, 230–242). Bereits ab 1958 wurde – im Widerspruch zu den republikanischen Werten, die seit der Französischen Revolution den Personenstand der Bürger:innen vom Geburtsort abhängig machen – der Begriff français de souche nord-africaine (französisch nordafrikanischer Herkunft) vom français de souche européenne (französisch europäischer Herkunft) unterschieden (vgl. Shepard 2006, 51–52). Fortan wurde zwischen ‚Nordafrikaner:innen‘ und ‚Europäer:innen‘ differenziert und den Algerierfranzös:innen eine ‚europäische‘ Herkunft zugeschrieben (vgl. Shepard 2006, 53). Diese „rassifizierende Ethnisierung“, wie Shepard (2006, 230–231) schreibt, erklärt demnach, warum die ‚muslimischen‘ Hilfskräfte der französischen Armee (Harkis) trotz ihrer französischen Staatszugehörigkeit zu Algerier:innen, während die pieds-noirs als französische Staatsbür-

Verstrickte Geschichte(n) in Frankreich 

 109

ger:innen anerkannt wurden. Während die „Repatriierung“ der pieds-noirs nach Ende des Algerienkriegs als legitime ‚Heimkehr‘ in die métropole galt, wurden die Harkis an der ‚Flucht‘ nach Frankreich gehindert (vgl. Shepard 2006, 233). Weil die Harkis die französische Armee im Kampf gegen den FLN unterstützte, war mit der Unterzeichnung der Évian-Verträge mit Racheaktionen seitens der algerischen Streitkräfte zu rechnen. Am 1.  Juli 1962, als Algerien unabhängig wurde, verließen die französischen Streitkräfte Nordafrika, ohne weiter für die Sicherheit der Harkis sorgen zu können (vgl. Shepard 2006, 233). Schätzungen gehen davon aus, dass bis Dezember 1962 Zehntausende Harkis ermordet wurden (vgl. Blanchard et al. 2020, 209). Insgesamt forderte der Krieg den Tod von ca. 250 000–300 000 Menschen, die im Kampf gegen Frankreich ihr Leben verloren. Auf französischer Seite gibt der französische Veteranenverband La Fédération Nationale des Anciens Combattants en Algérie-Maroc-Tunisie (FNACA) ungefähr 24 000 gefallene Soldaten an (vgl. Renken 2005, 29). Doch nicht nur die Veteranen des Algerienkriegs, die auf ca. zwei Millionen beziffert werden, prägen in den folgenden Jahren die französische Erinnerungspolitik (vgl. Jansen 2012, 279). Insbesondere die Flucht von fast einer Million pieds-noirs (vgl. Jansen 2012, 278) und ca. 25 000 ‚muslimischen‘ Algerier:innen, die den ehemaligen Hilfskräften zugerechnet werden (vgl. Ageron 2000, 5), veränderte die Französische Republik nachhaltig. Was dem Algerienkrieg jedoch in folgenden Jahren die Designation „Trauma“ (Kohser-Spohn und Renken 2005) einbrachte, war vor allem die von de Gaulle verfolgte Strategie, die Kriegsereignisse nicht weiter zu thematisieren. Bis zur offiziellen Anerkennung durch die französische Assemblée Nationale im Juni 1999 wurde der Algerienkrieg von offizieller Seite als „Operation zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Nordafrika“ bezeichnet, was ihm alsbald den Namen „guerre sans nom“ eintrug (Bacque, 11.06.1999, Le Monde, 40). Die Nichtthematisierung des Kriegs fußte auf einer strategischen „Erfindung der Dekolonisierung“, wie Todd Shepard (2006, 272) argumentiert. Auf der einen Seite wurde die Unabhängigkeit Algeriens als unvermeidliches Ergebnis der historischen Gegebenheiten konstruiert. Auf der anderen Seite musste die Bezeichnung der „Ereignisse“ als Kriegs vermieden werden, andernfalls hätte dies bedeutet, den „koloniale[n] Charakter“ der Beziehung zwischen Algerien und Frankreich anzuerkennen (Renken 2005, 33). Die Verabschiedung mehrerer Amnestiegesetze tat ihr Übriges, um eine juristische Strafverfolgung begangener Kriegsverbrechen und folglich eine Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse zu verhindern (vgl. Jansen 2012, 277–278). Obwohl die Algérie francaise und der Algerienkrieg vor allem durch Zeitzeug:innenberichte Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses blieben, erlangten die „Ereignisse“ jedoch erst ab den 1990 Jahren ihre gesellschaftspolitische Bedeutung (vgl. Jansen 2012, 278). Zum einen konnten mit der

110 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Öffnung der Archive im Jahr 1992 weitere Quellenbestände für die geschichtswissenschaftliche Forschung herangezogen werden (vgl. Pervillé 2005, 67), zum anderen erlangten die Forderungen zivilgesellschaftlicher Akteur:innen eine zunehmende öffentliche Sichtbarkeit. Im Folgenden stelle ich die erinnerungspolitischen Entwicklungen ab den 1990er Jahren dar.

5.5 E  rinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren: Frankreichs Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg zwischen communautarisme und identité nationale Ähnlich wie in Deutschland wird sich mit dem Algerienkrieg nicht erst seit den 1990er Jahren beschäftigt. Ein entscheidender Unterschied gegenüber der deutschen Geschichtsschreibung ist jedoch, dass der Zugang zu den historischen Quellen nur sukzessive ermöglicht wurde. In Frankreich bestehen längere Sperrfristen, bis eine Akteneinsicht gewährt werden kann. Die für den Staat unverfänglichsten Quellen sind nach 40 Jahren einsehbar, sodass ab 1992 erste Quellen zum Algerienkrieg ausgewertet und entsprechende historische Arbeiten veröffentlicht werden konnten (vgl. Pervillé 2005, 67). Die Zeit vor den 1990er Jahren war hingegen auch durch eine rege Publikationstätigkeit geprägt. Diese zeichnete sich vor allem durch Memoiren und andere persönliche Erfahrungsberichte aus, die von den ehemaligen Veteranen und den sogenannten pieds-noirs herausgegeben werden (vgl. Branche 2005, 18–23). Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass eine französische Kolonialgeschichtsschreibung schon seit den 1960er Jahren existierte, diese allerdings innerhalb der Regionalwissenschaften marginalisiert wurde und auf wenig Interesse im metropolitanen Frankreich stieß (vgl. Kalter und Rempe 2011, 164). Vor diesem Hintergrund muss die Feststellung der „kolonialen Amnesie“ bzw. der Diagnose eines „trou de mémoire“ erinnerungspolitisch betrachtet werden (vgl. Bancel et al. 2003, 135). Ähnlich wie auch in Deutschland haben schließlich politische Ereignisse nationaler und internationaler Tragkraft erst dazu beigetragen, die Aufarbeitung des Algerienkriegs zu einem gesamtgesellschaftlich relevanten Thema werden zu lassen. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick der Entwicklungen ab 1990 gegeben werden, um daraus auch die bestimmenden Diskussionslinien abzuleiten, die die französische Beschäftigung mit dem Algerienkrieg und zum Teil auch globaler mit der Kolonialepoche prägen.

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 111

5.5.1 Der Algerienkrieg als „Wundbrand“: Die Aufarbeitung in den 1990ern Benjamin Stora ist einer der wichtigsten Algerienhistoriker, der maßgeblich die Deutung des Algerienkriegs als „vergessene[n] Wundbrand“ beförderte (Stora 1998 [1991]) und somit die Aufarbeitung der ‚schmerzhaften‘ Vergangenheit als kollektiven Heilungsprozess der französischen ‚Nation‘ darstellte (vgl. Jansen 2012, 278). Bis 2021 war er Leiter des Musée national de l’histoire de l’immigration, das sich im Palais de la Porte Dorée als Teil der ehemaligen Kolonialausstellung von 1931 befindet. 1991 hat er maßgeblich die öffentliche Debatte in Frankreich zur Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg angestoßen. Zum einen erschien die dreiteilige Dokumentation Les années algériennes, die auf Berichten der im Krieg involvierten Soldaten basiert, zum anderen veröffentlichte er sein mehrfach neuaufgelegtes Buch La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie (1991). Er zeichnet darin die „Politiken des Vergessens“ (Bancel und Blanchard 2011, 22) in beiden Ländern nach und wie die mangelnde Aufarbeitung dazu führt, dass die Erinnerungen an den Krieg einem „Wundbrand“ gleich weder „in den Köpfen noch Herzen“ enden will (Stora 2004, 502). Während in Algerien der Mythos vom erfolgreichen Freiheitskampf entworfen wurde, neben dem abweichende Geschichtsbilder keinen Platz finden, mutierte der Krieg in Frankreich zum „guerre sans nom“ – ein Krieg ohne Namen. De Gaulle selbst kam öffentlich nie wieder auf den Algerienkrieg zu sprechen und seine sowie folgende Regierungen setzten eine erinnerungspolitische Tabuisierung des Kriegs durch (vgl. Renken 2005, 49). Mit der Verabschiedung verschiedener Amnestiegesetze in den 1960er Jahren ist außerdem jede juristische Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse (bis heute) undenkbar (vgl. Rousso 2016, 126; Stora 1998 [1991], 281–283). Ab 1992 nimmt die Anzahl an Publikationen, Spielfilmen, Dokumentationen und Ausstellungen zu. Gleichsam setzt sich die Vorstellung durch, dass nur eine Aufarbeitung der Vergangenheit deren ‚Wunden‘ heilen kann. Renken (2006, 409) spricht in seiner Dissertation über die Erinnerungspolitik im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg von der Herausbildung einer „Ideologie vom verdrängten Krieg“. Als „porteurs de mémoire“ traten zuerst die Veteranenvereinigungen und auch die Repatriiertengruppe der pieds-noirs als (rechts-)konservative Anhänger der Algérie française auf. Während die pieds-noirs sich für die Anerkennung des Kriegs einsetzen, um Kompensationen für den Besitzverlust in Algerien zu erzielen, fordern die Veteranen die Anerkennung des Veteranenstatus, um Pensionszahlungen zugesichert zu bekommen (vgl. Renken 2006, 270–271). Erst im Juni 1999 stimmten die französischen Parlamentarier:innen einstimmig für die Anerkennung des Algerienkriegs und machten somit den Weg frei für eine staatliche geförderte Erinnerungspolitik (vgl. Renken 2006, 437–441). Gleichzeitig wurden

112 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

ab 1999 mit der Wahl Abdel al-Aziz Bouteflikas zum algerischen Präsidenten und dem Ende des algerischen Bürgerkriegs die bilateralen Beziehungen mit Algerien intensiviert. Bouteflika war im Juni 2000 das erste Mal auf Staatsbesuch in Frankreich und hielt dort eine Rede vor der Assemblée Nationale, in der er nicht nur auf die gemeinsame Vergangenheit zu sprechen kam, sondern auch auf die Harkis, für deren Rückkehr Algerien noch „nicht bereit“ sei (Rede des algerischen Präsidenten Abdel al-Aziz Bouteflika, 14.06.2000). Dabei verglich er die Harkis mit den französischen Kollaborateur:innen während der deutschen Okkupation Frankreichs. Der Bezugnahme auf den Nationalsozialismus wurde nicht nur zur Beschreibung der bilateralen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien bemüht, sondern war auch für die innerfranzösische Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg von Bedeutung.

5.5.2 „ Le passé qui ne passe pas“: Aufarbeitung des Algerienkriegs im Verhältnis zu Vichy Von „einer Vergangenheit, die nicht vergeht“, sprachen die Historiker Éric Conan und Henry Rousso im Jahr 1994 in Bezug auf die Aufarbeitung des Vichy-Regimes und der Rolle Frankreichs im Zweiten Weltkrieg (Conan und Rousso 1994). Schon Ende der 1980er hatte Rousso den Begriff des „Vichy-Syndroms“ (1990 [1987]) geprägt, mit dem er zu beschreiben suchte, welche Bedeutung das Vergangene für die gegenwärtige französische Gesellschaft spielt. Idiomatisch für die französische Erinnerungspolitik wird Roussos Buchtitel Le Syndrome de Vichy de 1944 à nos jours später auch auf die Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg angewendet. Doch nicht nur die erinnerungspolitische Aufarbeitung des Algerienkriegs und des Vichy-Regimes werden wiederholt aufeinander bezogen (vgl. Branche 2005, 95–101; Rousso 2016, ab 117, insb. 131–142; Stora 2004, 501). Auch das Kriegsgeschehen als solches wird mit Vichy und der Shoah ins Verhältnis gesetzt. Für den Historiker liegt dies an der zeitlichen Nähe beider Ereignisse, die zu Analogien einlädt. Die „Massaker von Sétif“ rückten dabei nicht nur den Blick auf den 8.  Mai 1945 in eine neue Perspektive, auch wurde ein stärkerer Fokus auf die personellen Kontinuitäten gelenkt. Schließlich waren im Algerienkrieg Personen verwickelt, die schon zuvor im Zweiten Weltkrieg die politischen Geschicke lenkten – wobei als zentralste Figur de Gaulle genannt werden kann (vgl. Rousso 2016, 131). Als weitere Gemeinsamkeit verweist Rousso auf die gesellschaftsverändernden Transformationen, die beide Ereignisse nach sich zogen und die durch den staatlichen Missbrauch des Gewaltmonopols „Risse“ im Bild der französischen ‚Nation‘ als Geburtsland der Menschenrechte aufkommen ließ (Rousso 2016, 131). Die zeitliche Nähe führte dazu, dass auch schon während

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 113

des Algerienkriegs Verweise zum Zweiten Weltkrieg als Handlungs- und Rechtfertigungsstrategien eine wichtige Rolle gespielt haben. Widerstandsgruppen stellten beispielsweise ihr Wirken in die Tradition der Résistance, wobei es wenig entscheidend war, ob diese rechts (OAS) oder links des politischen Spektrums standen (vgl. Kalter 2011, insb. Kap. 4; Rothberg 2009; Ulloa 2005). Als infolge der Demonstrationen vom 17.  Oktober 1961 massenweise Algerier:innen in Stadien und Amphitheatern in Paris festgesetzt wurden, erschien auf dem Cover von France-Observateur am 9.  November 1961 ein Artikel der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, betitelt mit „Les deux ghettos“. Gegenübergestellt wurden ein Foto eines scheinbar algerischen Mannes mit einer Ghettoinsassin, die einen Judenstern trägt (vgl. Rothberg 2009, 237). Mit den 1990er Jahren etablieren sich schließlich die wiederholten Bezugnahmen auf das Gedenken an Vichy in der beginnenden erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Algerienkriegs.16 Vor dem Hintergrund eines sich internationalisierenden Holocaust-Gedächtnisses erklärte Jacques Chirac im Jahr 1995 die vollumfängliche Verantwortung Frankreichs für die Verbrechen des VichyRegimes (vgl. Hüser 2005a, 54). Dem deutschen Kontext ähnlich musste sich auch die französische Gesellschaft mit ihrer eigenen Mittäterschaft an der Deportation und Ermordung der europäischen Jüd:innen auseinandersetzen – weswegen der in dieser Arbeit angestellte erinnerungspolitische Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich instruktiv ist. Die Erinnerung an die Shoah war lange Zeit umkämpft und stand im Schatten des heroischen Gedenkens an die Résistance (vgl. Wieviorka 2010). Mit dem von Chirac etablierten erinnerungspolitischen Konsens entfaltete die Auseinandersetzung mit der Shoah eine Vorbildfunktion für diejenigen, die die Anerkennung bisher marginalisierter Verbrechen einforderten (vgl. Branche 2005, 111; Rousso 2016, 132). Mit der Verbreitung der Holocaust-Erinnerung als Norm verbanden sich auch zunehmend Bestrebungen, die Verbrechen der Vergangenheit mit juristischen Mitteln retroaktiv aufarbeiten zu wollen. Die Verurteilungen der wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angezeigten NS-Täter Klaus Barbie und Paul Touvier in den 1980er Jahren waren hier wegbereitend für weitere Klagevorhaben. Ein besonderes Medienecho erzeugte die Verhandlung gegen den ehemaligen Polizeipräfekten Maurice Papon

16  Eine Analyse der in historischen Arbeiten gezogenen Parallelen könnte hier sicherlich aufschlussreich sein, um die multidirektionalen Bezugnahmen zwischen der Erinnerung an Vichy und dem Algerienkrieg zu betrachten. Die Analogie ist nämlich genauso umstritten, wie sie verbreitet ist. Auch wenn ich keine systematische Analyse der historiografischen Arbeiten durchgeführt habe, besteht dennoch die Annahme, dass kaum eine historische Studie ohne die Referenz zu Vichy auskommt (vgl. Branche 2005, Rousso, 2016, Pervillé 2018).

114 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

in den Jahren 1997–1998 wegen der von ihm ab 1942 verantworteten Deportation von Jüd:innen in das Konzentrationslager Auschwitz (vgl. Mouralis 2002; Rousso 2000). Die Auseinandersetzung mit Papons Verbrechen während des Vichy-Regimes führte Ende der 1990er Jahre das erste Mal zu einem größeren öffentlichen Interesse an der Aufarbeitung des Algerienkriegs. Dies lag vor allem daran, dass das Verfahren genutzt wurde, um Papons Rolle während der Demonstrationen am 17.  Oktober 1961 einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Jim House und Neil MacMaster (2009) haben eine umfassende Untersuchung von diesem Tag vorgelegt, die vor allem auch dessen erinnerungspolitische Aufarbeitung bis in die Gegenwart vornimmt.17 Denn das zuletzt verabschiedete Amnestiegesetz im Jahr 1968 befreite nunmehr auch die Pariser Polizei von jeglicher Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg. Die Nichtthematisierung machte den 17. Oktober zu einer „Untergrund“-Erinnerung (MacMaster 2009, 265, Übersetzung S.  R.). Ab den 1980er Jahren erinnerte vor allem die Organisation SOS Racisme oder ab 1990 der Verein Au nom de la mémoire (ANM) an den Oktober 1961. Das Schweigen der Regierung war für sie Ausdruck der anhaltenden Diskriminierung von Bürger:innen mit algerischem Hintergrund (vgl. Cole 2003, 41). Erst 1991 erschien mit dem von Jean-Luc Einaudi veröffentlichten Buch La bataille de Paris, 17 octobre 1961 eine erste historische Arbeit, die breiter rezipiert wurde. Seine Schätzung von mehr als 200 Toten, die er anhand von FLN-Quellen und Zeitzeug:innenberichten rekonstruierte, wurde zum neuen Konsens in Bezug auf den 17. Oktober. Doch erst mit Papons Gerichtsverhandlung erhielt Einaudis Buch im Jahr 1997 eine umfassende mediale Beachtung. Einaudi wurde von den zivilen Prozessparteien als Zeuge geladen und gab eine ausführliche Stellungnahme ab, in der er die Gewaltanwendung durch die Pariser Polizei als „Massaker“ bezeichnete (vgl. House und MacMaster 2009, 313). Die NGOs ANM, Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples (MRAP), sowie 17 octobre 1961: contre l’oubli nutzten den Prozess gegen Papon, um seine Rolle während des Algerienkriegs thematisieren zu können. Papons Anwalt Jean-Marc Varaut bezeichnete diese Taktik als ein „Verfahren im Verfahren“ (House und MacMaster 2009, 311, Übersetzung S. R.). Papons Verwicklung in diese beiden historischen Ereignisse „created an indelible connection between the memory of the Shoah and the memory of the French-Algerian war in the mainstream press“ (Cole 2003, 32). Der Historiker Joshua Cole erklärt die Verknüpfung der beiden Ereignisse zum einen damit, dass es sich in beiden Fällen um „verdrängte Erinnerungen“

17  Für eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse ab 1990 siehe House und Macmaster 2009, insbesondere Kapitel 11, „Emergent Memories, 1980–1997?“, ab S. 288.

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 115

handele (Cole 2003, 32, Übersetzung S. R.). Zum anderen zeichnen sie sich durch die Verwicklungen des Staates in die begangenen Verbrechen aus, was schließlich die jahrzehntelange Tabuisierung erklärt, die mit dem Verfahren gegen Papon zu einem Ende kam (vgl. Cole 2003, 32). Dabei waren seit der Enthüllung von Papons Beteiligung an den Deportationen mehr als 16 Jahre vergangen, bis es endlich zum Verfahren kam. Papon wurde schließlich wegen der illegalen Festnahme und Inhaftierung von Jüd:innen zu zehn Jahren Haft verurteilt (vgl. House und MacMaster 2009, 312). Seine erfolglose Klage gegen Einaudi im Jahr 1999, mit dem er die Benennung der Polizeigewalt im Oktober 1961 als „Massaker“ zu unterbinden suchte, setzte die Politik unter Zugzwang, sodass sie ihre offizielle Haltung gegenüber dem 17. Oktober ändern musste (vgl. Cole 2003, 27; House und MacMaster 2009, 313). Mit der Einweihung der Gedenkplakette am 17.  Oktober 2001 erkannte der sozialistische Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë, nicht nur das Massaker offiziell an, er schaffte auch den ersten Erinnerungsort an den Algerienkrieg auf französischem Boden (vgl. Jelen 2002, 32). Aufgrund der historischen Verstrickungen des Angeklagten bot das Verfahren gegen Papon einen Anlass, um die Gewalt des Vichy-Regimes mit der des Algerienkriegs in Verbindung zu setzen. Die juristische Aufarbeitung der Vichy-Verbrechen initiierte darüber hinaus auch eine Debatte über die Anwendbarkeit des juristischen Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf koloniale Verbrechen (vgl. Mouralis 2002). Erst in den 1990er-Jahren kehrte der mit der Verurteilung von NS-Täter:innen während der Nürnberger Kriegsverbrechertribunale im Jahr 1945 ins Völkerrecht aufgenommene Begriff ins öffentliche Bewusstsein zurück. Seine juristische Besonderheit besteht in der Aussetzung der Verjährung von Straftaten, weswegen die Forderung nach einer Anerkennung kolonialer Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als Mittel zur Aufarbeitung selbst weit zurückliegender Vergangenheiten erwogen wurde (vgl. Vuckovic 2004, 1024). Der massive Anstieg gerichtlicher Verfahren in den 1990er und 2000er Jahren lässt Rousso von einer „Verrechtlichung der Vergangenheit“ sprechen (Rousso 2016, 137). Dabei ist aufgrund der verschiedenen Amnestiegesetze im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg (1962, 1966, 1968 und 1982) an eine juristische Aufarbeitung bis heute nicht zu denken (vgl. Jelen 2002, 35). Trotzdem erwogen die Harkis und deren Nachfahr:innen schon seit den frühen 1990er Jahren, juristische Schritte gegen den französischen Staat einzuleiten. Im Jahr 2001 verklagten verschiedene Interessenvertreter:innen der Harkis die französische Regierung für die unterlassene Hilfeleistung während der von der FLN verübten Massaker nach der Unterzeichnung der Évian-Verträge im März 1962. Diejenigen, denen die Flucht nach Frankreich gelang, wurden zuerst in Lagern und später in eigens für die eingerichteten Walddörfern, den hameaux forestiers, untergebracht (vgl. Eldridge 2016, 72–73). Als

116 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Bürger:innen zweiter Klasse wurden sie sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Zugang zu Bildung diskriminiert (vgl. Eldridge 2016, 138). Zwar gründeten sich seit den 1970er Jahren verschiedene Interessenverbände, mit deren Hilfe die Harkis diesem Zustand ein Ende bereiten wollten (vgl. Eldridge 2016, Kap. 5.2). Ab den 1990er Jahren war es vor allem die jüngere Generation, die sich für eine Anerkennung der Erfahrungen der Harkis einsetzte (vgl. Eldridge 2016, 203–204). Deutlich wird an der Situation der Harkis, dass nicht nur die historischen Verbrechen im Zentrum der Auseinandersetzung stehen, sondern auch die anhaltende Diskriminierung in der postkolonialen Gegenwart Frankreichs. In dem Klagevorhaben von 2001 versuchten die Vertreter:innen der Harki-Organisationen, die an ihnen verübten Massaker als ‚Genozid‘ zu deuten, um eine Anerkennung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und folglich die Zahlung von Reparationen zu erwirken (vgl. Branche 2005, 111; Eldridge 2016, insb. Kap. 8.2). Die Referenz zur Shoah schafft hier einen wichtigen Begründungszusammenhang, um das Klagevorhaben zu rechtfertigen (vgl. Kap. 8).

5.5.3 D  ie „Beschleunigung“ der Erinnerungen ab 2000: Die Folter-Debatte und die Inszenierung nationalen Gedenkens Nach der offiziellen Anerkennung und Benennung des Algerienkriegs 1999 erfuhr die Auseinandersetzung mit dem letzten französischen Kolonialkonflikt neue Sprengkraft. Nachdem in der Tageszeitung Le Monde im Juni 2000 ein Interview mit dem Folteropfer Louisette Ighilahriz erschien, wurde die Anwendung der Folter durch die französische Armee breit diskutiert (vgl. Renken 2005, 25–28, 2006, 441–458). Es folgten die sogenannten Skandalinterviews mit den Generälen Paul Aussaresses und Jacques Massu, die ihre aktive Beteiligung an diesen Praktiken während des Kriegs nicht abstritten, sondern vielmehr rechtfertigten (vgl. Renken 2006, 444). Nachdem Aussaresses seine Memoiren über die Services Spéciaux (2013 [2001]) veröffentlichte, in denen er detailliert die von der französischen Armee begangenen Verbrechen beschrieb, musste die Regierung intervenieren (vgl. Renken 2006, 445). Aussaresses wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen, konnte aber aufgrund der Amnestiegesetze nicht strafrechtlich verfolgt werden (vgl. Renken 2006, 448). Im Jahr 2001 erschien außerdem die erste in Frankreich geschriebene Dissertation La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie der Historikerin Raphaëlle Branche (2001), die zwischen die erinnerungspolitischen Fronten rechtsgerichteter Offiziersbände und des linksliberalen Milieus geriet (vgl. Pervillé 2005, 73). Dass die Debatte so weitreichend in der Öffentlichkeit geführt wurde, lag vor allem an den zahlreichen Veröffentlichungen, die in diesem Zeitraum zusammenfallen. Durch Branches Dissertation

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 117

wurde den autobiografischen Aussagen Ighilahriz’ die nötige Autorität verliehen, die letztendlich die Bewertung der Folter während des Algerienkriegs maßgeblich änderte (vgl. Cole 2005, 127–128). Auf politischer Ebene leiteten sich aus den Diskussionen allerdings keinerlei Konsequenzen ab. Erst Macron übernahm im Jahr 2018 offiziell die Verantwortung für die von der französischen Armee angewandten Folterpraktiken, indem er sich bei der Witwe des Folteropfers Maurice Audin entschuldigte und seine Ermordung während der „Schlacht von Algier“ im Jahr 1957 durch französische Fallschirmjäger offiziell anerkannte (vgl. Vergnol, 14.09.2018a, L’Humanité, 4). Mit der Gesetzesverabschiedung 1999, die den Algerienkrieg anerkannte, begann das, was Stora (2004) als „Beschleunigung der Erinnerungen“ bezeichnet. Im September des Jahres 2001 und parallel zu dem von ihnen initiierten Klagevorhaben wurde die erste Journée nationale d’hommage aux Harkis ausgerichtet. Die französische Regierung gesteht an diesem Tag ihre Verantwortung für die „Preisgabe“ (abandon) der Harkis nach der Unterzeichnung der ÉvianVerträge ein (Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac, 25.09.2001), womit sie ihnen den Status zusicherte, während des Kriegs der französischen ‚Nation‘ gedient zu haben (vgl. Eldridge 2016, 280–281). Zugleich kündigte sich 2002 der 40. Jahrestag des Endes des Algerienkriegs an, den der Veteranenverband FNACA nutzen wollte, um den 19. März 1962 zum offiziellen Gedenktag zu machen. Die eher liberale FNACA stellte sich mit dieser Forderung in die Tradition des offiziellen Gedenkens an den Ersten und Zweiten Weltkrieg (vgl. Renken 2004, 10). Anders jedoch als bei der Festlegung der Gedenktage zum Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 bzw. des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945, markierte der 19. März 1962 den Tag einer ‚Niederlage‘. Mit ihrem Einsatz für die Schaffung eines Gedenktages, der auch der „Festigung des Friedens“ dienen sollte (Renken 2004, 10), stand die FNACA in Opposition zu den Anhänger:innen der Algérie française, für die der Tag den ‚Verlust‘ eines Teils des französischen Staatsgebiets markiert (vgl. Renken 2006, 308). Obwohl in den 1990er Jahren eine Mehrheit der französischen Bürger:innen die Idee von einem Gedenktag am 19.  März unterstützte (vgl. Renken 2006, 317), führte die Folterdebatte ab 2000 zu einer Spaltung der Gesellschaft, die die „Illusion von der nationalen Leidensgemeinschaft im Algerienkrieg“ obsolet werden ließ (Renken 2006, 321). Anfang des Jahres 2002 scheiterte eine Initiative der linken parlamentarischen Mehrheit, einen Gesetzesentwurf zu verabschieden, der den 19. März zum Gedenktag machen sollte. Allerdings lag es nicht an der verfehlten Mehrheit, sondern am geringen parlamentarischen Engagement, weswegen der Entwurf nicht an den Senat weitergereicht wurde. Am 5. Dezember 2002, einem Tag, der bewusst keinerlei historische Relevanz für das Kriegsgeschehen hatte, weihte der damalige Präsident Jacques Chirac am Quai Branly das Mémorial de la guerre d’Algérie ein

118 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

(vgl. Renken 2006, 320–321). Nachdem im Jahr 2002 eine konservative Regierung an die Macht kam, versuchte diese, im Streit um den Gedenktag das Parlament zu umgehen. In einer kleinen Kommission, an der die FNACA nicht beteiligt wurde, wurde 2003 entschieden, den 5. Dezember zum nationalen Gedenktag zu machen – d. h. den Tag, an dem Chirac im Jahr zuvor das nationale Denkmal eingerichtet hatte (vgl. Renken 2006, 322). Allerdings zeigte das Engagement der politisch divers ausgerichteten Soldatenverbände in den frühen 2000er Jahren auch, dass weder der Kolonialismus noch das Gedenken an die (Folter-)Opfer eine wesentliche Rolle in der Aufarbeitung des Algerienkriegs spielten (vgl. Baussant 2006; Jansen 2016a, 261; Renken 2006, 324). Zelebriert werden stattdessen die Soldaten, die sich für die französische ‚Nation‘ aufopferten. Als Mahnung zum Frieden, wie die FNACA den Tag gern verstanden hätte, ließ er sich im Jahr 2002 noch nicht ausdeuten. Denn das Friedensgebot unterstreicht schlussendlich die eigentliche Sinnlosigkeit dieses Kolonialkriegs, wie Renken (2006, 324) hervorhebt. Solch eine Lesart galt es zu vermeiden, wie auch in den Reden Chiracs deutlich wurde, der die Erinnerung an den Krieg und entsprechend den Kampf für das Ideal der ‚Nation‘ preist (vgl. Renken 2006, 324). Als der damalige französische Präsident François Hollande im Jahr 2012 den 19. März zum nationalen Gedenktag erklärte (vgl. Pervillé 2018, 602), kündigte sich somit ein erinnerungspolitischer Wandel an, der sich mit der Präsidentschaft Macrons ab 2017 beschleunigte. Die genaue Nachverfolgung der Debatten von 2000–2003 mit ihrem Fokus auf die Herstellung der französischen ‚Nation‘ ist zum einen wichtig, um die Analysekapitel zur Frage nach der Anerkennung (Kap. 7) und den Forderungen nach Reparationen (Kap. 8) besser einordnen zu können, aber auch um aufzuzeigen, auf welche Art und Weise sich in den kommenden 15 Jahren eine (wenngleich umstrittene) postkoloniale Wende vollzieht. Diese brachte nicht nur eine neue Historiker:innengeneration hervor, sondern erweiterte sich zu einer Perspektive, bei der die Kriegsereignisse in Algerien umfassender im französischen Kolonialsystem verortet werden.

5.5.4 V  on der Dekolonisierung zu den Unruhen in den Vorstädten im Jahr 2005: Die Entwicklung kolonialer Kontinuitäten Das Jahr 2005 – da ist sich die wissenschaftliche Literatur einig (vgl. Bertrand 2006; Deslaurier und Roger 2006; Le Cour Grandmaison 2006) – markiert eine erinnerungspolitische Zäsur und vielleicht den bisherigen Höhepunkt der sogenannten guerres de mémoires (Erinnerungskriege) (vgl. Blanchard und VeyratMasson 2008). In Bezug auf den Algerienkrieg folgt die Begriffswahl der Idee, dass sich dessen nicht vollzogene Aufarbeitung als ‚Krieg‘ um seine Deutung in

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 119

der Gegenwart fortschreibt. Der Sammelband Colonial Culture in France since the Revolution (2013, 37) versteht unter „Erinnerungskriegen“ vor allem die „revisionistischen Versuche“, den Kolonialismus positiv zu besetzen, weswegen diese mit den sozialen Protesten verknüpft werden müssen, die in den Pariser Vorstädten im Jahr 2005 ausbrachen. Mit dem wachsenden erinnerungspolitischen Engagement migrantischer Gruppen fand eine als ‚identitätspolitisch‘ diskreditierte Verschiebung der Debatte statt, bei der die Aufarbeitung der Vergangenheit zunehmend als Möglichkeit zur Überwindung der gesellschaftlichen Friktionen verstanden wird (vgl. Bancel et al. 2017; Kalter und Rempe 2011). Im Januar 2005 hatte ein Zusammenschluss antikolonialer Aktivist:innen, postkolonialer Migrant:innen und Nachfahren versklavter Menschen als Indigènes de la République die mangelnde Aufarbeitung des Kolonialismus in einem Aufruf skandalisiert. Im Fokus ihrer Polemik stand die Zurückweisung jedweder positiven Ausdeutung der Kolonialvergangenheit und der Verweis auf die bis in Gegenwart nachwirkende Benachteiligung und Ausgrenzung, der sich die ehemals Kolonisierten ausgesetzt sehen. Sie fordern daher eine Dekolonisierung des postkolonialen Frankreichs (zit. in: Robine 2006, 120–122). Kaum einen Monat nach dieser Stellungnahme verabschiedete die Nationalversammlung am 23.  Februar 2005 ein Gesetz, das die „positive Rolle“ der „französischen Präsenz in Übersee, vor allem in Nordafrika“ im Schulunterricht herausstellen sollte (zit. in: Kalter und Rempe 2011, 160). Dieser Passus wurde nach heftiger Kritik von Historiker:innen, die eine Einmischung des Staates bei der Deutung der Geschichte ablehnten, per Dekret im Jahr 2006 abgeschafft. Als Initiative repatriierter Algerienfranzosen (pieds-noirs) zielte das Gesetz vor allem auf weitere Entschädigungszahlungen ab, von denen auch erstmals die Harkis profitieren sollten (vgl. Bertrand 2006, 33–34). Der positive Ton, mit dem der französische Kolonialismus im Gesetzestext behandelt wurde, stellte einen Affront für die algerisch-französischen Beziehungen dar. Ab 2003 verhandelten die beiden Staaten über einen Freundschaftsvertrag (vgl. Pervillé 2008). Da die algerische Regierung allerdings zunehmend unter Druck geraten war, auch eine offizielle Entschuldigung für die koloniale Fremdherrschaft von Frankreich einzufordern, führte die umstrittene Gesetzesinitiative zu einem endgültigen Scheitern der franko-algerischen Verhandlungen im Jahr 2007 (vgl. Jansen 2016a, 264). Gleichzeitig wurde ab 2005 die postkoloniale Gegenwart erstmals vor dem Hintergrund der französischen Kolonialgeschichte gedeutet, womit auch der Begriff „postkolonial“ die öffentliche Arena betrat (vgl. Bancel et al. 2017, 4; Kalter und Rempe 2011, 160; Stoler 2011). In ihrem Aufruf, aber auch mit ihrer Namenswahl als „Eingeborene“, hatten die Indigènes de la République den Kolonialismus in einen direkten Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation von Immigrant:innen gestellt (vgl. Jansen 2016a, 262). Als es im Herbst 2005 zu massiven

120 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Protesten in den Pariser Vorstädten kam, in denen die sozialen Ungleichheiten über Jahre ethnisiert und stigmatisiert wurden, lag für viele Kommentator:innen und Wissenschaftler:innen eine Verknüpfung mit der Kolonialgeschichte Frankreichs auf der Hand (vgl. Kalter und Rempe 2011, 161). Dabei waren es jedoch nicht die aufbegehrenden Jugendlichen, die ihre gegenwärtige Unzufriedenheit mit dem Versklavungshandel oder dem französischen Kolonialismus in Verbindung setzten (vgl. Bertrand 2006). Stattdessen stürzte sich die französische Mehrheitsgesellschaft in eine „crise mémorielle“, in der sich verschiedene politische Ausrichtungen, aber vor allem auch republikanische Ideale und die kommunitaristischen Positionen antirassistischen Engagements unversöhnlich gegenüberstanden (vgl. Bertrand 2006, 29). Die im Jahr 2005 ausgelösten Debatten lassen sich durch drei erinnerungspolitische Friktionen beschreiben, die zum einen spezifisch für den französischen Kontext, zum anderen aber für die Fragestellung dieser Arbeit nach den emotionstheoretischen Implikationen relevant sind. Dies sind erstens der Gegensatz zwischen Republikanismus und Kommunitarismus, zweitens die schon diskutierte Gegenüberstellung von Geschichte und Erinnerung, die in der Beschreibung der guerres de mémoires ihre Zuspitzung erfährt, und drittens die Integration der kolonialen Vergangenheit in den récit national, was als von Historiker:innen getragene erinnerungspolitische Intervention zu deuten ist. In der Herstellung der Opposition von Republikanismus vs. Kommunitarismus wird eine Zuschreibung vorgenommen, bei der das republikanische, alle französischen Staatsbürger:innen einende Ideal als ‚rational‘ entworfen wird.18 Das republikanische Ideal wird dabei den als spalterisch verstandenen und vor allem durch Emotionalität getragenen „Erinnerungen“ kommunitaristischer Bestrebungen entgegengesetzt. Beispielsweise hatte der Historiker Daniel Lefeuvre im Jahr 2006 das Buch Pour en finir avec la repentance coloniale (2006) veröffentlicht und damit ein Schlagwort in den Diskurs eingeführt, das

18  Siehe hierzu auch die aktuellen Debatten, um den „Islamo-Gauchisme“, der 2002 als Neologismus vom Historiker Pierre-André Taguieff in die Debatte eingeführt wurde, um die Nähe linker Intellektueller zu antizionistischem Gedankengut zu beschreiben. 2020/2021 erlebte der Begriff ein Comeback, als die französische Bildungsministerin Frédérique Vidal einen vermeintlich grassierenden „Islamo-Gauchisme“ an den französischen Universitäten ausmachte, der zu einer Spaltung der Gesellschaft beitrage. Insbesondere die Forschung in den Blick nehmend, die sich für Fragen sozialer Ungleichheit interessieren (‚race‘, class, gender), forderte sie die Überprüfung ihrer Wissenschaftlichkeit (vgl. Fassin 12.03.2021). Insbesondere den postkolonialen Studien wurde im Zuge der Debatte unterstellt, die republikanischen Werte zu unterminieren und vor allem Ideologien zu verbreiten (siehe die Reaktion auf den Vorwurf des „Islamo-Gauchism“ in: Bancel und Blanchard 06.10.2020).

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 121

fortan von rechtskonservativen Kreisen genutzt wurde, um die Aufarbeitung des französischen Kolonialismus zurückzuweisen. Der Geschichtswissenschaft kommt hierbei eine besonders widersprüchliche Rolle zu, schließlich sind vor allem in historischen Texten die „Erinnerungskriege“ zu einer prominenten Wortwahl geworden, um die Entstehung einer „Opferkultur“ zu beschreiben, die die öffentlichen Debatten dominieren würden (vgl. Todorov 2015 [1995]). Die französische Historiografie zeichnet sich im besonderen Maße durch die Aufrechterhaltung einer starken Opposition zwischen Geschichte und Erinnerung aus (vgl. Kap.  2). Dieser Gegensatz wird insbesondere im Zusammenhang mit den sogenannten „lobbying mémoriel“ (Abécassis 2008; Jansen 2012, 2016a) oder der „entrepreneurs de mémoire“ (De Cock 2017; Gensburger und Lefranc 2017, 57) diskutiert. Kirsten Staudt (2015, 65) unterstreicht in ihrer deutsch-französischen Vergleichsstudie die negative Konnotation, mit der diese „lobbies“ im französischen Kontext bedacht werden (vgl. Todorov 2015 [1995]). Als Ausdruck angeblich ‚identitätspolitischer‘ Partikularinteressen würden sie den sozialen Zusammenhalt der ‚Nation‘ gefährden, weswegen die erinnerungspolitischen Interventionen der ‚Erinnerungsakteur:innen‘ als illegitime Ausdeutungen der Geschichte markiert werden (vgl. Gensburger und Lefranc 2017, 57; Staudt 2015, 65). Die Geschichtswissenschaft inszeniert ihre Aufgabe entsprechend als eine historische „Wahrheitssuche“ (z. B. Stora 2004, 507) gegen die Instrumentalisierung partikularer Erinnerungen. Trotzdem prägen gerade Historiker:innen die gesellschaftspolitischen Debatten zur Aus- und Umdeutung der Vergangenheit, was sich nicht nur am schon beschriebenen Vorgehen gegen den Gesetzestext im Jahr 2005 zeigt. Auf der Suche nach einer „histoire dépassionnée“ (Pervillé 2018) wird die eigene „Verstrickung“ in den aktuellen erinnerungspolitischen Debatten oftmals nur unzureichend durch die Historiografie reflektiert. Wie Kapitel 2 verdeutlicht hat, zielt diese Arbeit aus theoretischer Perspektive auf die Überwindung der dichotomen Gegenüberstellung von Geschichte und Erinnerung, was die Debatten um die verité historique zum Gegenstand der Diskursanalyse macht (vgl. Kap. 7). Seit den Unruhen in den Vorstädten wurde die Integration der kolonialen Vergangenheit in einer einenden französischen Nationalgeschichte – dem récit national – immer offensiver diskutiert. Der récit national steht dabei für die Antwort auf die Frage, wie kommunitaristische Bestrebungen überwunden und der soziale Zusammenhalt der ‚Nation‘ garantiert werden sollen. In der Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialismus – dem fait colonial – haben sich vor allem die Historiker:innen Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire hervorgetan. In ihren Texten nehmen sie direkten Bezug auf den récit national, indem sie die Aufnahme der kolonialen Vergangenheit in die französische Erzählung fordern. In dem auf Englisch herausgegebenen Sammelband The

122 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

Colonial Legacy in France: Fracture, Rupture, and Apartheid schreiben Blanchard und Bancel in der Einleitung: Our backs are up against the wall […]. Concrete efforts must be made to fight against the segregation of territories and entire segments of the French population, while at the same time standing firm in opposition to all forms of radicalism. We must endeavor to arrive at a national narrative that relinquishes the claim to the univocal, that does not adopt a warlike posture, and that seeks to better understand the situation. Only then will we be able to follow the natural course of history – a common and shared history. (Blanchard und Bancel 2017a, 28–29; Hervorhebung S. R.)

Ihr Argument fußt dabei auf der Annahme, dass das Vergessen, also das diagnostizierte „trou de mémoire“ (Bancel et al. 2003, 135) eine Spaltung der Gesellschaft befördert habe, die nur durch eine angemessene Aufarbeitung der Vergangenheit überwunden werden könne. Für Blanchard, Bancel und Lemaire stehen somit die strukturellen Kontinuitäten zwischen der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart im Fokus. Da die Frage der Kontinuität ein verbindendes Element der deutschen und der französischen Diskussion ist, werde ich diese Kontroverse im Folgenden detaillierter ausführen.

5.5.5 „ La fracture coloniale“: Die Entdeckung des „kolonialen Erbes“ und die Rezeption postkolonialer Theorien Die akademische Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialerbe und insbesondere ihr Verhältnis zu den postkolonialen Studien lässt sich anhand dreier Strömungen unterscheiden. Eine kurze Darstellung dieser Positionen ist nicht nur deswegen relevant, weil der wissenschaftliche Betrieb einen beachtlichen Anteil an der Herstellung erinnerter Vergangenheit trägt, sondern auch, weil sich viele prominent auftretende Akademiker:innen als Aktivist:innen verstehen und daher soziale Medien ebenso nutzen wie die Darstellung ihrer Positionen in Zeitungsartikeln oder durch die Mitwirkung an Ausstellungen19. Ähnlich wie in Deutschland hat die Rezeption postkolonialer Theoriebildung erst ab den 2000er Jahren an Bedeutung gewonnen, wobei deren zunehmende Ver-

19  Siehe beispielsweise die aktuelle Kooperation der Forschungsgruppe ACHAC, zu der auch die Historiker Blanchard und Bancel gehören, mit dem AfricaMuseum in Brüssel. Am 9. November 2021 wurde die temporäre Ausstellung „Zoo humain. Au temps des exhibitions coloniales“ eröffnet (AfricaMuseum 10.11.2021).

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 123

breitung auf starke Vorbehalte stößt (vgl. Kalter und Rempe 2011, 164; Mbembe 2016 [2000], 8). Der Historiker Gérard Noiriel (20.02.2019) sieht beispielsweise in der Anwendung postkolonialer Perspektiven keinen wissenschaftlichen Wert, sondern einzig die Durchsetzung militanter ‚Identitätspolitiken‘. Noiriel retabliert dabei auch die erwähnte Trennung zwischen ‚rationaler Geschichtsschreibung‘ und ‚emotionaler Erinnerungsbildung‘. Der Politikwissenschaftler Jean-François Bayart (2010) publizierte einen Essay, in dem er die postkoloniale Forschung als „akademischen Karneval“ bezeichnet. Die entwickelten Perspektiven des Postkolonialismus seien demnach „superflous, confuses, et dangereuses“, wie es in einer Rezension zu seinem Essay heißt (Gounin 2010, 915). Bayart konstatiert, dass die Verwendung des Begriffs, der zur Beschreibung aktueller Dominanzverhältnisse verwendet wird, mehr als ein politischer Kampfbegriff zu verstehen ist denn als eine Analysekategorie. Die Historikerin Laurence De Cock (2017, 120) schätzt Bayarts Haltung folgendermaßen ein: „Pour lui [Bayart], ces approches ne font qu’essentialiser et déshistoriciser le passé colonial en obérant à la fois sa complexité et ses multiples facettes géographiques, mais aussi en minimisant le passé précolonial de ces sociétés.“ Bayarts Kritik richtet sich dabei vor allem an das schon erwähnte Historiker:innenkollektiv um Blanchard, Bancel und Lemaire, die in ihrer Arbeit auf das Bestehen eines „Kontinuums“ zwischen der französischen Kolonialerfahrung und dem noch immer spürbaren Rassismus rekurrierten. Vor allem die starke Mediatisierung, mit der sich Blanchard als Historiker des fait colonial inszeniert, wird von einigen Historiker:innen offensiv abgelehnt. In der Kritik steht insbesondere die Gruppe ACHAC (l’Association pour la connaissance de l’histoire de l’Afrique contemporaine), die mittlerweile eine beachtliche Wirkung in der Öffentlichkeit entfaltet, weil deren Inhalte in Kolloquien, Tagungen, Ausstellungen und Fernsehproduktionen einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden (vgl. De Cock 2017, 109). Zuletzt produzierte ACHAC vor allem populärwissenschaftliche und bildreiche Publikationen, bei denen vor allem der großformatige Bildband Sexe, Race, et Colonies im Herbst 2018 kontroverse Debatten im Feuilleton über die Reproduktion rassistischer Stereotype auslöste (vgl. JuompanYakam, 05.11.2018, JeuneAfrique.com). Im Jahr 2020 folgte ein Band über die Décolonisations françaises (Blanchard et al. 2020). Als dritte Strömung der Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien kann eine Gruppe von Wissenschaftler:innen identifiziert werden, die zwar postkoloniale Perspektiven in ihren Arbeiten nutzbar machen wollen, gleichzeitig aber vor allem das von ACHAC betriebene „memory entrepreneurship“ ablehnen (De Cock 2017). Ihrer Ansicht nach führte ACHACs Arbeit zu einer simplifizierten Betrachtung der postkolonialen französischen Gesellschaft. Dabei wird nicht nur

124 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

der Anachronismus des „kolonialen Kontinuums“ kritisiert, sondern vor allem auch die Reproduktion rassifizierender und orientalisierender Topoi, die als Kontinuität in die Gegenwart überführt werden. Laurence De Cock (2017), die sich in einem Artikel besonders kritisch mit dem Arbeiten ACHACs auseinandergesetzt hat, problematisiert insbesondere die Annahme, dass sich die gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikte hauptsächlich damit erklären ließen, dass die Kolonialgeschichte nicht hinreichend als französische Nationalgeschichte aufgearbeitet wird. De Cock (2017, 113) folgert daher: „L’expression continuum colonial soutient l’hypothèse que l’un des facteurs des discriminations au présent réside dans la relégation du passé colonial, voire sa non-prise en compte dans le récit national.“ Durch die Aufarbeitung des Kolonialismus ließe sich, so die Annahme, die gegenwärtige Spaltung der Gesellschaft überwinden. Rassismus in der Gegenwart leite sich demnach als Konsequenz aus der Kolonialerfahrung ab, was allerdings als Konsequenz den ‚Opfer‘-Status der Betroffenen essenzalisiere (vgl. De Cock 2017, 120). Aus erinnerungstheoretischer Perspektive untergräbt das Argument der „kolonialen Kontinuität“ die grundlegende Annahme der Variabilität und Historizität von Erinnerungen. Wie ich in Kapitel 2 dargelegt habe, unterliegt die Herstellung kollektiver Bedeutung für vergangene Ereignisse einem an der Gegenwart orientierten Rekonstruktionsprozess. Gleichfalls verweist die „postkoloniale Kontinuität“ auf einen Widerspruch innerhalb postkolonialer Theoriebildung, deren Forschungsinteresse gerade nicht im Schreiben linearer Narrative besteht (vgl. Kap. 3). Ich habe daher eine Perspektive vorgeschlagen, die die Herstellung von Zeitlichkeiten innerhalb erinnerungspolitischer Aushandlungsprozesse diskursanalytisch zu betrachten sucht. Denn der Verweis auf die „koloniale Kontinuität“ vermochte es, den Anliegen postkolonialer Erinnerungsträger:innen Sichtbarkeit zu verschaffen. Die Proklamation von Kontinuität entfaltet sich hier in einem doppelten erinnerungspolitischen Sinn – zum einen geht es um das Aufzeigen historischer Kontinuität, die den Kolonialrassismus mit dem der Gegenwart verknüpft, zum anderen um eine Erinnerungskontinuität, bei der nur die Aufarbeitung der Vergangenheit zur Überwindung der Konflikte der Gegenwart beitragen kann. Die Verhandlung „postkolonialer Kontinuitäten“ steht sowohl in Frankreich als auch in Deutschland im Fokus der Debatten – wenngleich auch in Deutschland auf den Gegenstandsbereich Holocaust zugespitzt. Schließlich verweist die Darstellung der Debattenstränge auf einen weiteren für diese Arbeit relevanten Punkt: das „Auslassen“ des Algerienkriegs in der Behandlung postkolonialer Zugänge. Auch wenn der Algerienkrieg eine wachsende Bedeutung in den Kompendien zum postkolonialen Erinnern erfährt, so hat sich die Wahrnehmung Algeriens als Kolonie doch zumeist auf die Kriegserfahrungen und die entsprechende „Invention of Decolonization“ (Shepard 2006) konzentriert (vgl. auch Stora 2017). Die Nachwirkungen dieser Kriegserfahrungen

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 125

spiegeln sich in gegenwärtigen Debatten vor allem in der Diagnostizierung einer ‚Traumatisierung‘ der französischen ‚Nation‘ wider (vgl. Stora 1998 [1991], 2006, 59). Während Indochina eine untergeordnete erinnerungspolitische Beachtung erfährt, wird der Kolonialismus in Westafrika und in den Antillen unter der Erinnerung an den Versklavungshandel und dessen Abschaffung subsumiert (vgl. Dinter 2018). Algerien wird dabei mit Verweis auf den besonderen Status als integraler Bestandteil des französischen „Mutterlandes“ im Verhältnis zu den anderen Kolonialismen als gesonderter Fall behandelt, der in dieser Funktion auch die Erforschung des Kolonialismus in Frankreich dominiert (vgl. Kalter und Rempe 2011, 196). Ein Umstand, den auch Blanchard et al. in ihrem Buch La République coloniale (2003) kritisieren. Darin zeigen sie auf, dass es eine Erinnerungs-Dichotomie zwischen einem generalisierbaren fait colonial und dem Algerienkrieg gäbe. Auch wenn sie die Unterschiedlichkeit der etablierten Kolonialsysteme nicht relativieren wollen, so fordern sie dennoch: „[U]ne intelligibilité de la colonisation en Algérie et de la tragédie de la guerre doit être pensée – quelles que soient les particularités du cas Algérie par ailleurs – à l’intérieur d’un système plus vaste : l’empire“ (Blanchard et al. 2003, 138). Mit dieser Perspektiveinnahme sprechen sie sich zugleich für eine komparatistische Vergleichsperspektivierung aus, schließlich schreibe sich die erinnerungspolitische Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg gänzlich in eine größere Kolonialgeschichte ein (Blanchard et al. 2003, 138). In ähnlicher Weise, wie ich es anhand der deutschen Historiografie aufgezeigt habe, ist auch die französische Forschung weiterhin durch eine analytische Engführung auf das Verhältnis Metropole-Kolonie geprägt. Als Folge werden kaum Verknüpfungen zu der Geschichte anderer europäischer Kolonialreiche hergestellt noch anderssprachige Arbeiten als die einschlägige frankophone Literatur rezipiert (vgl. Sibeud und Merle 2006, Absatz 26, 27; Thénault 2012, 9–10). Allerdings drängt sich mit Macrons Präsidentschaft die Frage auf, inwiefern sich auf politischer Ebene eine ‚postkoloniale Wende‘ vollzogen hat, bei der der Algerienkrieg zunehmend in der Epoche des französischen Kolonialismus als einem gesellschaftlich umfassenden Herrschaftsverhältnis verortet wird.

5.5.6 E  ine staatlich angeordnete postkoloniale Wende mit Macrons Präsidentschaft? Noch als Präsidentschaftskandidat bezeichnete Macron den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Während eines Interviews, das er im Februar 2017 dem algerischen Sender Echorouk TV gab, sagte er:

126 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

La colonisation fait partie de l’histoire française […]. C’est un crime, c’est un crime contre l’humanité, c’est une vraie barbarie. Et ça fait partie de ce passé que nous devons regarder en face, en présentant nos excuses à l’égard de celles et ceux envers lesquels nous avons commis ces gestes. (zit. in: Roger, 16.02.2017, lemonde.fr)

Noch nie zuvor war der Kolonialismus von politisch Verantwortlichen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet worden bzw. wurde eine Entschuldigung gegenüber einer ehemaligen Kolonie in Aussicht gestellt (vgl. Roger, 16.02.2017, lemonde.fr). Als gewählter Präsident wiederholte Macron seine Einlassung zwar nicht mehr, dennoch unternahm er in den kommenden Jahren weitere erinnerungspolitische Schritte, um eine franko-algerische Annäherung zu befördern, aber auch Frankreich „mit sich selbst zu versöhnen“ (zit. in: Smolar, 27.01.2020, Le Monde, 11, Übersetzung S. R.). Bei seinem ersten offiziellen Staatsbesuch in Algerien im Dezember 2017 kündigte Macron die Repatriierung der Schädel der ‚algerischen‘ Widerstandskämpfer an, die in der „Schlacht von Zaatcha“ im Jahr 1849 von der französischen Kolonialarmee ermordet wurden („Macron prêt à rendre les crânes d’insurgés algériens du Musée de l’Homme“, 06.12.2017, lefigaro.fr). 2018 übernahm er im Namen der Französischen Republik Verantwortung für die Ermordung des Mathematikers Maurice Audin, indem er die systematische Anwendung von Folterpraktiken während des Algerienkriegs anerkannte (vgl. Erklärung Macron, 13.09.2018). Jedoch beschränkten sich Macrons erinnerungspolitische Initiativen nicht nur auf den Algerienkrieg. Im November 2018 löste die offizielle Übergabe des Savoy-Sarr-Berichts (2018) sowie die Ankündigung, 26 Statuen nach Benin zurückzugeben (vgl. Hershkovitch, 28.11.2018, lemonde.fr), eine europaweite Debatte über die Restitution afrikanischen Kulturerbes aus. Im Juni 2020 gab das Verteidigungsministerium eine Liste mit Namen von Kolonialsoldaten heraus, die während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite Frankreichs gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpften und die als Grundlage für Straßenumbenennungen in verschiedenen Gemeinden Frankreichs dienen soll (vgl. Lepidi, 30.6.2020, lemonde.fr). Als schließlich Anfang Juli 2020 die Gebeine der 24 Widerstandskämpfer an Algerien zurückgegeben wurden (vgl. Zerrouky 3.7.2020, lemonde.fr), interpretierte dies die algerische Staatsführung als „demi-excuses“. Der gegenwärtige Präsident Algeriens Abdelmadjid Tebboune leitete aus der Repatriierung die Forderung nach weiteren versöhnenden Schritte zwischen Algerien und Frankreich ab (vgl. Perelman, 04.07.2020, France24.fr). Doch nicht nur die franko-algerische Annäherung sorgte wiederholt für erinnerungspolitische Auseinandersetzungen. Als im Januar 2020 der Bericht Les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie (2021) von Stora an Macron übergeben wurde, führte dies zu anhaltenden Diskussionen über die Bewertung des französischen Kolonialismus (vgl. Thénault, 06.02.2021, Le Monde, 28). Algerien erneuerte vor diesem Hintergrund

Erinnerungspolitische Trendwenden seit den 1990er Jahren 

 127

die Forderungen nach einer offiziellen Entschuldigung (vgl. Verdier, 21.01.2021, La Croix, 7). Im März 2021 schließlich reagierte Macron auf die zwischen Algerien und Frankreich entstandenen Spannungen, indem er die Ermordung des algerischen Juristen Ali Boumendjel im Jahr 1957 durch die französische Armee offiziell anerkannte (vgl. „Emmanuel Macron reconnaît que […]“, 02.03.2021, lefigaro.fr). Am 17. Oktober 2021 erreichte Macrons erinnerungspolitisches Engagement einen weiteren Höhepunkt, als er als erster französischer Präsident an einer Gedenkfeier für die algerischen Opfer der Massaker französischer Polizeigewalt am 17. Oktober 1961 teilnahm (vgl. Bobin und Kessous, 18.10.2021, lemonde.fr). Die Zeitung Le Monde betitelte sein Communiqué zwar als „demi-pas“, schätzte aber dennoch sein erinnerungspolitisches Handeln als weitergehender ein als das von Hollande im Jahr 2012. Steht Macron als Präsident für eine erinnerungspolitische Transformation des französischen Umgangs mit dem kolonialen Erbe? Macrons Präsidentschaft wird gemeinhin als Ausdruck eines Generationswechsels beschrieben, wobei nicht nur seine Jugend als Begründung für den erinnerungspolitischen Wandel angeführt wird (vgl. Baruch 2018). Dass der Historiker Marc Olivier Baruch schon im November 2018 einen Artikel über „Emmanuel Macron et l’histoire (de France)“ publizierte, unterstreicht die Rolle des französischen Präsidenten als Interpret der Nationalgeschichte. Die Verfassung der V. Republik, die unter de Gaulle verabschiedet wurde, stattete den französischen Präsidenten gegenüber dem Parlament und dem Premierminister mit einer besonderen Machtfülle aus (vgl. Renken 2005, 42; Ruß-Sattar 2021, 171–172). Dies brachte eine „Herrschaftskultur“ (Beichelt 2004) hervor, die es den Präsidenten erlaubte, die erinnerungspolitische Ausrichtung des Landes zu dekretieren (vgl. Rousso 2016, 93). Zuerst war es Charles de Gaulle, der das Beschweigen des Algerienkriegs zur offiziellen Staatsdoktrin erklärte (vgl. Rousso 2016, 93–97). Jacques Chirac wiederum gilt als derjenige Präsident, in dessen Amtszeit der Algerienkrieg nicht nur seine offizielle Bezeichnung, sondern seit 2002 einen offiziellen Gedenkort mit der Einweihung des „Mémorial national de la guerre d’Algérie 1954–1962 et des combats du Maroc et de la Tunisie“ fand (vgl. Hüser 2005a, 57). Nach den Debatten um das Gesetz vom 23. Februar 2005, das vorsah, die „positiven“ Aspekte des Kolonialismus in der französischen Schulbildung zu vermitteln (vgl. Bertrand 2006), schien sich allerdings eine Diversifizierung des Gedenkens anzukündigen. Nicolas Sarkozy, der auf Chirac folgte, erklärte den Kolonialismus in einer Rede 2007 im algerischen Constantine als „injuste par nature“ (Rede des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, 05.12.2007). Allerdings wies er mit Verweis auf ein angeblich von Algerien gefordertes „Buß- und Reuegebaren“ eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit sowie jede Form von Entschuldigung zurück (vgl. De Cock 2008; Jansen 2012, 288–290). Mit der zuvor bereits erwähnten Einführung des Begriffs der repentance verstetigten sich indes die

128 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

erinnerungspolitischen Ambivalenzen zwischen der Verantwortungsübernahme für die während des Kolonialismus begangenen Verbrechen auf der einen Seite und dem heroischen Gedenken an die französischen ‚Opfer‘ des Algerienkriegs auf der anderen. Zum 50. Jahrestag des Endes des Algerienkriegs im März 2012 knüpfte François Hollande in seiner Rede zwar an die Lesart des Kolonialismus als „brutales und ungerechtes System“ an (Rede des französischen Präsidenten François Hollande, 19.03.2012), schloss allerdings, wie Sarkozy zuvor, eine Entschuldigung oder eine anderweitige Form der Aufarbeitung aus (vgl. Roger, 16.02.2017, lemonde.fr). Dennoch kündigte Hollandes Amtszeit eine erinnerungspolitische Neuausrichtung an, als er im Dezember 2012 den 19. März zum nationalen Gedenktag erklärte (vgl. Bacholle-Bošković 2014, 235). Im September 2016 machte Hollande den französischen Staat verantwortlich für die „Preisgabe“ (abandon) der Harkis nach der Unterzeichnung der Évian-Verträge sowie den sich anschließenden Massakern (Rede Hollande, 25.09.2016). Zum einen ist es die französische „Herrschaftskultur“ (Beichelt 2014), mit der sich erklären lässt, warum sowohl in wissenschaftlichen Beiträgen als auch in der medialen Berichterstattung der Fokus auf dem Regierungshandeln zur Beschreibung erinnerungspolitischer Maßnahmen liegt. Zum anderen sollte der kurze Überblick auch erläutern, dass Macrons Präsidentschaft weniger als ein Bruch denn vielmehr als Fortführung der Transformationsprozesse verstanden werden sollte, die seit 2005 die französische Gesellschaft bestimmen. Im Interview mit Emmanuel Laurentin am 9.  März 2017 für die Sendung „La Fabrique de l’histoire“ auf France Culture sagte Macron, dass er sich in die Kontinuität der vorangegangenen Präsidentschaften einschreibt, die eine Aufarbeitung des Algerienkriegs anstrebten (vgl. Baruch 2018, 37). Letztendlich geht es aber auch um die Wahrung staatlicher Deutungshoheit über die nationale Geschichte, wird dieser doch weiterhin zugeschrieben, den sozialen Zusammenhalt Frankreichs garantieren zu können. Diesen Gedanken fortführend, schreibt Macron (2016, 46, Übersetzung S. R.) in seinem Buch Révolution, dass „der Staat im Laufe der Zeit den Ort eines jeden in der nationalen Geschichte anerkannt hat“. Die Orientierung an den Werten der „unteilbaren Republik“ (Hüser 2005a, 51), die Frankreich erinnerungspolitisch bestimmen, erklären auch in Macrons Präsidentschaft die Gleichzeitigkeit von Annäherung und Distanz gegenüber Algerien. Zuletzt sorgte Macron im Oktober 2021 für einen diplomatischen Eklat, als er erklärte, dass Algerien eine „offizielle Geschichte“ geschrieben habe, „qui ‚ne s’appuie pas sur des vérités‘ mais sur ‚un discours qui repose sur une haine de la France‘“ („L’Algérie rappelle son ambassadeur à Paris“, 02.10.2021, lemonde. fr). Besonders eindrücklich wird an diesem Beispiel, auf welche Weise die Deutungshoheit über die nationale Geschichtsschreibung als Aufgabe des Staates verstanden wird, worin sich schließlich auch das besondere „Spannungsverhält-

Zwischenfazit 

 129

nis zwischen der Geschichtspolitik staatlicher Stellen und den Erinnerungskulturen betroffener Gruppen“ ausdrückt, wie der Historiker Dietmar Hüser (2005a, 59) konstatierte. Aus diesem Grund sollte das erinnerungspolitische Ringen um die Deutung der Vergangenheit als Aushandlungsprozess verschiedener sozialer Akteur:innen begriffen werden – auch wenn dem französischen Präsidenten, anders als den politischen Entscheidungsträger:innen im föderalen System Deutschlands, eine besondere Rolle in der Festlegung der erinnerungspolitischen Maßnahmen zukommt. Im Folgenden führe ich die einenden sowie trennenden Befunde zusammen, die ich anhand des deutschen und französischen Forschungsstandes aufgefächert habe, um den Vergleich methodisch als transnationale Verflechtung zu begründen.

5.6 Z  wischenfazit: Verstrickung als Sichtbarmachung neuer Problemzusammenhänge Die bisherige überblicksartige Darstellung der historiografischen sowie erinnerungspolitischen Spezifika in beiden Ländern diente zum einen dazu, die asymmetrischen Voraussetzungen des Vergleichs herauszuarbeiten, zum anderen aber auch dazu, die symmetrisch verlaufenden Entwicklungen postkolonialer Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich aufzuzeigen. Im deutschen Kontext begründet nicht nur die nationalsozialistische Diktatur ab 1933 und der Holocaust bis 1945, dass die deutschen Bestrebungen nach einem „Platz an der Sonne“ für die deutsche Nachkriegsgesellschaft zuerst kaum von politischer Relevanz war (vgl. Kößler und Melber 2018a; Kreutzer 2007). Darüber hinaus ist die zeitliche Distanz zum deutschen Kolonialismus, der schon 1919 mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags endete, bedeutend größer als im französischen Vergleichsfall. Die Generation der Zeitzeug:innen prägt folglich schon lange nicht mehr das öffentliche Gedenken. Weiterhin war das postkoloniale Deutschland weniger durch Migrationsbewegungen aus den ehemaligen Kolonien geprägt als die französische ‚métropole‘. Frankreich sah sich im Gegensatz dazu mit der Integration einer großen Anzahl an sogenannten ‚Repatriierten‘ (pieds-noirs) bzw. ‚Geflüchteten‘ (Harkis; vgl. Miller 2013) in die postkolonialen staatlichen Strukturen konfrontiert, als das Kolonialreich auseinanderfiel (vgl. Jansen 2012, 291). Ab den 1990 Jahren waren es zuerst die ehemaligen Soldaten und die ‚Repatriierten‘, die die französische Regierung unter Druck setzten, endlich ihre Erfahrungen anzuerkennen und für die Zahlung von Kompensationen und Pensionen aufzukommen (vgl. Baussant 2006; Renken 2006). Erst in den letzten 15 Jahren vollzog sich in Frankreich ein Wandel, der erinnerungspolitische Akteur:innen hervorbrachte, die nicht mehr persönlich in die Kriegsgeschehnisse

130 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

involviert waren. Insbesondere Gruppen wie etwa die Veteranenverbände verloren aufgrund ihrer Überalterung zunehmend an politischem Einfluss. Vor allem wegen der postkolonialen Migrationsbewegungen zeichnet sich der französische Kontext durch einen widersprüchlichen Erinnerungsaktivismus aus, bei dem mitunter die Anerkennung stark voneinander abweichender Vergangenheitsversionen gefordert wird (vgl. Borutta und Jansen 2016, 23; Jansen 2016a, 260). In Deutschland wiederum wurde der Prozess zur Aufarbeitung des Kolonialismus vor allem von ‚außen‘ angestoßen. Erst ab 1990 konnte mit der Unabhängigkeit Namibias das transnationale Engagement der OvaHerero und Nama für die Anerkennung des Völkermords einsetzen (vgl. Kößler 2015, 231). Aus diesem Grund ist die deutsche Beschäftigung mit dem Genozid sowohl in Forschungskontexten als auch in der medialen Darstellung sehr viel überschaubarer als im Falle der französischen Aufarbeitung des Algerienkriegs.20 So nahm erst ab den 2000er Jahren die historische Beschäftigung mit dem Völkermord im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ zu. Die schon in den 1960er Jahren entstandenen Forschungsbeiträge (vgl. Bürger 2017) wurden indes kaum gesellschaftlich rezipiert (vgl. Eckert 2021, 251–252). In Frankreich hingegen konnte eine historiografische Aufarbeitung des Kriegsgeschehens zwischen 1954 und 1962 erst mit der Teilöffnung der Archive ab 1992 beginnen (vgl. Pervillé 2005). Noch heute beklagen Historiker:innen den weiterhin eingeschränkten Zugang zu französischen und algerischen Archiven (vgl. Association des archivistes français (AAF) u. a. 2020). Trotz dieser asymmetrischen historischen sowie erinnerungspolitischen Voraussetzungen haben die Kapitel  5.2 und 5.3 gezeigt, dass die koloniale Vergangenheit in beiden Ländern ab den 1990er Jahren an Bedeutung gewinnt. Aufgrund des erinnerungspolitischen Konsenses, dem Holocaust/der Shoah zu gedenken, lässt sich sowohl in Deutschland als auch in Frankreich der wiederkehrende Rückgriff auf ein universalisierendes Erinnerungsvokabular ausmachen. Nicht nur werden die erinnerungspolitischen Debatten von Begriffen wie ‚Versöhnung‘ (réconciliation), ‚Verantwortung‘ (responsabilité), ‚Entschädigung‘ (réparation)21 oder ‚Entschuldigung‘ (pardon) geprägt, es haben sich weiterhin

20  Im deutschen Forschungskontext fiel beispielsweise die mediale Berichterstattung über den Völkermord an den OvaHerero und Nama so überschaubar aus, dass für die ausgewählten Zeitungen im Zeitraum 1990 bis ca. 2014 eine Vollerhebung möglich gewesen wäre. Erst ab 2015 (und mit Ausnahme des Gedenkjahres 2004), als die Bundesregierung die Nutzung des Begriffs „Genozid“ für die Ermordung der OvaHerero und Nama inoffiziell anerkannte, nimmt die Berichterstattung signifikant zu. 21  Der Begriff der „Reparation“ lässt im Französischen unterschiedliche Interpretationen zu, während er im Deutschen ausschließlich als „Kriegsreparationen an fremde Staaten, d. h. völkerrechtliche Subjekte“ verstanden wird (Goschler 2005, 13). „Reparationen“ zahlte das Deut-

Zwischenfazit 

 131

spezifische Topoi herauskristallisiert, die die postkolonialen Erinnerungspolitiken Deutschlands und Frankreichs verbinden und prägen. Der Verweis auf die kollektive Vergessen-Machen taucht unter der Verwendung verschiedener Begrifflichkeiten in Forschungsbeiträgen beider Länder auf (vgl. Bancel et al. 2003; Habermas 2019; Kößler und Melber 2018a; Stoler 2011; Zimmerer 2013, 9). Gleichermaßen macht sich die Universalisierung erinnerungspolitischen Vokabulars auch an dem Rekurs auf die „politiques de pardon“ (vgl. Digeser 2014; Gibney 2008; Lefranc 2002; Leroux et al. 2005; Lind 2010), der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ bzw. der französischen devoir de mémoire22 sowie dem

sche Reich beispielsweise nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 an die Sieger (vgl. Defrance 2020). Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich das Verständnis von Reparationen und erweiterte sich auf die Zahlung von Entschädigungen an die Betroffenen. In Deutschland wird seitdem der Begriff der „Entschädigung“ bzw. „Wiedergutmachung“ favorisiert, um vor allem eine „Ausweitung der individuellen und kollektiven Entschädigungsansprüche auf andere im Zweiten Weltkrieg geschädigte Gruppen“ zu verhindern (Goschler 2005, 13–14). Vehemente Kritik wurde wiederholt an dem Konzept der „Wiedergutmachung“ geübt, da dieses nahelegt, dass die Vergangenheit wieder gut gemacht werden könne (vgl. Goschler 2005, 11). Dennoch hat sich dieser Begriff durchgesetzt, um die materielle und symbolische Entschädigung für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu beschreiben (vgl. Robel 2013, 346). Für den französischen Kontext hingegen schreibt Garapon in seinem Buch Peut-on réparer l’histoire (2008, 12), dass zwischen symbolischen, politischen und materiellen Reparationen unterschieden werden müsse. Allerdings betont er, dass materielle Reparationen in Frankreich weit weniger verbreitet sind als anderswo. „La forme la plus spectaculaire“, schreibt Garapon in Bezug auf Reparationen, „est la repentance, c’est-à-dire un acte public de contrition“ (2008, 12, kursiv im Original). In dieser Arbeit werde ich sowohl den Begriff der Reparation als auch der Entschädigungen verwenden, da beide Begriffe diskursiv verwendet werden. Die jeweils unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge der Begriffsverwendung arbeite ich insbesondere in den Kapiteln 7 und 11 heraus. 22  In Deutschland hatte sich kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zuerst der Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit etabliert (vgl. Robel 2013, 35; Weinke 2016, 4). Da das Verb „bewältigen“ die Möglichkeit eines Abschlusses der Aufarbeitung suggeriert, haben sich in späteren Jahren anderen Begriffe durchgesetzt (vgl. Jesse 2013), zu denen auch der Begriff „Aufarbeitung“ gehört, den ich in dieser Arbeit hauptsächlich verwende. Im französischen Kontext stellt der Historiker Henry Rousso (2016, 108) die normative Dimension der „devoir de mémoire“ heraus, wenn er schreibt, dass diese zu einem politischen Instrument zur Verteidigung der Menschenrechte geworden ist. Pierre Nora (2011, 438) hingegen kritisiert eben jenen moralischen Aspekt, mit dem die Beschäftigung mit der Vergangenheit in den letzten Jahren besetzt wurde. Sébastien Ledoux (2016) hat in seiner Dissertation die diskursive Entwicklung des Begriffs nachgezeichnet, die in den 1990er Jahren zu seiner erinnerungspolitischen Popularisierung in Bezug auf die Erinnerung an die Shoah führt. In seinem Artikel „‚Devoir de mémoire‘: The post-colonial path of a post-national memory in France“ zeichnet Ledoux (2013) nach, wie die „devoir de mémoire“ ab Ende der 1990er Jahre zunehmend auch im Kontext der Aufarbeitung des Versklavungshandels in Frankreich Anwendung findet. Paul Ricœur (2000), der wie Nora ein „trop de mémoire“ beklagt, schlägt im Gegenzug den Be-

132 

 Verstrickte Geschichten, verstricktes Erinnern

bekannten „Nie wieder!“ bemerkbar (vgl. Ricœur 2000; Sznaider und Baer 2016). Dass der Algerienkrieg auch in der deutschen Historiografie als ‚Trauma‘ rezipiert wird (vgl. Kohser-Spohn und Renken 2005), spricht für eine transnationale Zirkulation emotionaler Diskurse und Ordnungen. Diese erinnerungspolitischen Gemeinsamkeiten, die sich trotz der unterschiedlichen kolonialen Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs abzeichnen, reflektiere ich vor dem Hintergrund der zunehmenden, jedoch weiterhin umstrittenen Rezeption postkolonialer Theorienentwicklungen (vgl. Bayart 2010; De Cock 2017; Eckert 2021; Sibeud und Merle 2006). Schließlich deutete der historische sowie erinnerungspolitische Überblick auf eine Transformation, bei der sich die deutsche und die französische Gesellschaft zunehmend in einem postkolonialen Europa verorten müssen (vgl. Kap. 2). Folglich kann nur mithilfe einer transnationalen Perspektive erklärt werden, auf welche Weise (emotionale) Diskurse zwischen Deutschland und Frankreich zirkulieren (oder nicht). Aus diesem Grund interessiert sich die vorliegende Arbeit für die Wechselwirkungen zwischen akademischer Wissensproduktion, kulturellen Repräsentationen, politischen Entscheidungen und den Forderungen der Erinnerungsaktivist:innen, um somit die erinnerungspolitischen Transformationsprozesse nachzuvollziehen. Insbesondere durch die Herstellung eines transnationalen Dialogs können neue Perspektiven auf den Gegenstand freigelegt werden. Aus diesem Grund darf die vergleichende Perspektive auf die postkolonialen Erinnerungspolitiken keineswegs als Gleichsetzung der untersuchten Fälle missverstanden werden (vgl. Rothberg 2009, 18). Vielmehr ermöglichen Vergleiche, neue Perspektiven auf die Untersuchungsgegenstände zu gewinnen und dabei Vereinendes und Trennendes herauszuarbeiten. Manuel Borutta und Jan C. Jansen begründen den Vergleich zwischen den historisch sehr differenten Fällen der Vertriebenen in Deutschland und der pieds-noirs in Frankreich in ihrem Sammelband folgendermaßen: Because historical comparisons flesh out commonalities and differences between individual cases that help to describe, interpret, and explain them in greater depth, they enable us to carve out peculiarities, to check generalizations, to defamiliarize the familiar, and to de-provincialize concepts by forcing us to reconsider assumptions about the singularity of the cases. (Borutta und Jansen 2016, 5)

griff der „travail de mémoire“ als historische Praxis vor, um „zu einer kollektiven Trauerarbeit beizutragen, indem man sein Schaffen an der ‚Wahrheitsfindung‘“ orientiert (Dosse 2014, 64, Übersetzung S. R.).

Zwischenfazit 

 133

Da es mir, wie Borutta und Jansen schreiben, um ein Überdenken etablierter Annahmen und das Hinterfragen bestehender Konzepte geht, orientiere ich mich methodisch an Michael Werners und Bénédicte Zimmermanns Ansatz der histoire croisée (2002). Die Historiker:innen beziehen den Vergleich als „Verflechtungsfaktor“ mit ein, weswegen sich ihr Zugang auch von der shared history unterscheidet, von der sie schreiben, dass diese vor allem auf die Überkreuzungen „historischer Vorgänge“ fokussiere (Werner und Zimmermann 2002, 618). Die Entscheidung, mich auf die methodischen Vorschläge der histoire croisée zu stützen, begründet sich zum einen damit, dass der Ansatz als umfassender „Erkenntnisprozess“ (Werner und Zimmermann 2002, 627) die asymmetrischen Abläufe historischer Prozesse in den Fokus rückt. Zum anderen wird mit dem „Überkreuzungsprinzip“ (Werner und Zimmermann 2002, 619) eine historisierende Perspektive verfolgt, bei dem im diachronen Verlauf „die permanente[] Umdefinition der Analyseeinheiten“ nachverfolgt werden kann. Die methodischen Zugänge der global- bzw. Verflechtungsgeschichtlichen Forschung liefern somit den geeigneten Rahmen, um Fragen der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit zu behandeln (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 619). Insbesondere Vertreter:innen postkolonialer Forschungsansätze haben den Hinweis auf die „geteilten Geschichten“ genutzt, um das bestehende Beziehungsgeflecht zwischen Kolonie und Metropole aufzuzeigen und gleichzeitig die Vergleichsmethode als „politisch verorteten Akt der Analyse“ sichtbar zu machen (Conrad und Randeria 2002, Übersetzung S. R.; vgl. Cooper und Stoler 1997; Stoler und McGranahan 2007, 15).23 An dieser Perspektivierung werde ich mich orientieren, um im transnationalen Vergleich das wechselhafte Changieren der Bezugnahmen zwischen globalisierter Erinnerungsrhetorik und der Herausstellung nationalstaatlicher Partikularismen zu analysieren. Wie lassen sich anhand der überblicksartigen Darstellung des historiografischen sowie erinnerungspolitischen Forschungsstands die Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit ableiten und eine Verstrickung der Erinnerungspolitiken umsetzen?

23  Werner und Zimmermann (2006, 32) verwenden die Begriffe der shared, entangled und connected history in ihren Beiträgen synonym für einen Forschungszweig, der sich vergleichenden und vor allem transfergeschichtlichen Methoden in der Geschichtswissenschaft zuwendet. Die Historikerin Margit Pernau (2011) wiederum unterteilt in ihrem Buch Transnationale Geschichte die Forschungsmethoden, die sich „jenseits der Nation“ bewegen, in „connected history“, „Transfergeschichte“, „histoire croisée“, „Verflechtungsgeschichte“, „Translokalität“ und „Weltgeschichte“. Für eine kurze Zusammenfassung unterschiedlicher Zugänge zu einer transnationalen Geschichte, siehe Gassert 29.10.2012 und insbesondere Espagne 1994 und 1988 sowie Paulmann 1998.

6 E  rinnerungspolitiken verstricken: Der transnationale Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich Die histoire croisée interessiert sich nicht nur für die empirisch zu beobachtende Verflechtung ihrer Untersuchungsgegenstände, sondern versteht die Methodik des Vergleichs als „aktiven Verflechtungsfaktor“ (Werner und Zimmermann 2002, 618). Konkret bedeutet dies, den Befund ernst zu nehmen, dass Vergleiche „nie unparteiisch“ sein können (Radhakrishnan 2015, 36), weil mit der Festlegung der Vergleichsgegenstände einerseits zwar „neue Problemzusammenhänge sichtbar [gemacht werden], wo man bisher nur Disparates wahrgenommen hat“ (Assmann 2002, 40), die Verflechtung des „Disparaten“ aber andererseits zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beiträgt. Um die Untersuchungsgegenstände festlegen zu können, schlagen Werner und Zimmermann (2002, 621) ein induktiv pragmatisches Vorgehen vor, bei dem „man von der Beobachtung der Dinge und Gegenstände, von den Handlungssituationen, aus denen heraus Objekte mit Sinn bedacht werden“, ausgeht. Entsprechend fügt sich die Erarbeitung des historischen Sekundärquellenbestands und des erinnerungspolitischen Forschungsstands im vorangegangenen Kapitel in das induktiv geleitete Vorgehen. Mithilfe dieser an „Problemen“ interessierten Forschungsperspektive (Werner und Zimmermann 2002, 617) habe ich die folgenden fünf Gegenstandsbereiche zur Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich identifiziert: (1) Anerkennung, (2) Reparationen, (3) Repatriierungen24 menschlicher Gebeine, (4) Restitutionen von Objekten kolonialer Provenienz und (5) Entschuldigungen. Den Vergleich dieser aus dem Forschungsstand abgeleiteten Untersuchungsgegenstände realisiere ich als synchrone sowie diachrone Gegenüberstellung, wobei ich mich methodisch der Werkzeuge der De- und anschließenden Rekontextualisierung bediene. Dieses Vorgehen werde ich im Folgenden erläutern.

24  Gemeinhin versteht die Forschungsliteratur unter „Repatriierung“ die „(Wieder)Eingliederung französischer Bürger aus den ehemaligen Kolonien [wie etwa den pieds-noirs, Anm. S. R.], in das französische ‚Mutterland‘“ (Borutta und Jansen 2016, 8). Ich verwende den Begriff in dieser Arbeit jedoch, um die Rückführung menschlicher Gebeine in die ehemals kolonialisierten ‚Herkunftsländer‘ zu beschreiben. „Restitution“ nutze ich wiederum für die Rückführungen von Objekten kolonialer Provenienz. Da in der Forschungsliteratur beide Begriffe synonym verwendet werden, führe ich die Unterscheidung zur besseren Abgrenzung der Untersuchungsobjekte in den Kapiteln 9 und 10 dieser Arbeit ein (vgl. Förster 2016, 49). https://doi.org/10.1515/9783111018683-006

Erinnerungspolitiken verstricken 

 135

Obwohl die fünf Gegenstandsbereiche als gemeinsame Objekte der deutschen und französischen Erinnerungspolitik auftauchen, zeichnen sie sich in beiden Ländern durch ungleichzeitige und auch widersprüchliche Bewegungen aus. Die an Objekten ausgerichtete Analyse konstruiert eine Relationierung der Vergleichskategorien, die größtenteils auf einer temporalen Ungleichzeitigkeit fußen (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 617). Als Beispiel sei hier auf die parlamentarische Anerkennung des Algerienkriegs im Jahr 1999 verwiesen und auf die halb offizielle Anerkennung des Genozids an den OvaHerero und Nama seitens der Bundesregierung im Jahr 2015. Die verflechtungsgeschichtliche Methodik ist somit weniger an zeitlicher Synchronität interessiert ist, sondern an den Gegenständen, die in den erinnerungspolitischen Aushandlungsprozessen auftauchen. Als Folge werden sowohl die Blickwinkel als auch die Untersuchungsmaßstäbe als variabel erachtet und gleichzeitig die Asymmetrien ungleicher Prozesse kenntlich gemacht, die in der Konstruktion der Vergleichsebenen erzeugt werden (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 617–619). Indem also asynchrone Ereignisse zu einer Verflechtung konstruiert werden, werden die disjunktiven Momente europäischen Erinnerns an den Kolonialismus hervorgehoben. Letztendlich realisiert sich damit auch die Möglichkeit, mit den Darstellungen einer ‚homogen‘ dahinfließenden Zeitlichkeit zu brechen (vgl. Benjamin 1978). Die erinnerungspolitischen Debatten folgen dabei aber nicht nur unterschiedlichen historischen Abfolgen, sie basieren auch auf anderen Zeitstrukturen, Sprachen und folglich „Verschachtelungen in der einen oder anderen nationalen Geschichte“ (Werner und Zimmermann 2002, 619). Folglich zielt die Dekontextualisierung auf die Aufdeckung bestehender Machtverhältnisse, indem der Untersuchungsgegenstand seines ‚ursprünglichen‘ Kontexts enthoben wird (vgl. Friedman 2015, 70–71), um neue Gesichtspunkte in der Betrachtung des Gegenstands aufzudecken. Dazu gehört auch „die Vielfalt der möglichen Standpunkte und die Unterschiede, die sich aus Sprachen, Terminologien, Kategorisierungen und Konzeptualisierungen, Traditionen und disziplinären Verwendungen ergeben“, in die vergleichende Analyse einzubeziehen (Werner und Zimmermann 2006, 32, Übersetzung S. R.). Dieses Vorgehen dient nicht nur dem Aufzeigen der Konstruiertheit der Untersuchungsgegenstände, sondern verweist darüber hinaus auf die zu hinterfragenden Dominanzstrukturen (vgl. Friedman 2015, 70–71). Der Übergang zur Rekonstruktion setzt wiederum eine rigorose Historisierung voraus, wie auch Werner und Zimmermann (2002) unterstreichen. Anhand der für die Untersuchung identifizierten Gegenstände verfolge ich gleichzeitig die diachronen Entwicklungen von den frühen 1990er Jahren bis in die Gegenwart. Die empirischen Kapitel konzentrieren sich folglich auf den Wandel der Begriffe und somit auf die „permanenten Umdefinitionen der Analyseeinheiten“ (Werner

136 

 Erinnerungspolitiken verstricken

und Zimmermann 2002, 619), womit die Langzeitperspektive berücksichtigt wird. Erst vor dem Hintergrund der langfristig wirkenden Strukturen kann das dynamische Verhältnis des erinnerungspolitischen Wandels erklärt werden (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 621). Letztlich lässt sich nur im diachronen Zeitverlauf eine postkoloniale Analyse der „Umdefinitionen“ der Kategorien Zeitlichkeit und historisches Unrecht realisieren. Zur Umsetzung eines diskursanalytischen Vergleichs ist es daher unerlässlich, einen historisierenden, d. h. diachronen Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu werfen. Denn nur in der historischen Betrachtung können emotionale Diskurse und ihr Wandel verstanden (vgl. Landwehr 2009, 97–98) und letztlich die Diagnose der postkolonialen Gegenwart nachvollzogen werden. Während der Vergleich eine Möglichkeit synchroner Betrachtung ausgewählter deutscher und französischer erinnerungspolitischer Ereignisse in Bezug auf ihre kolonialen Vergangenheiten bietet und neue Perspektiven und Wissensbestände hervorbringen kann, wird mithilfe einer Rekontextualisierung die Wiedereinbettung in den historischen Kontext vorgenommen (vgl. Friedman 2015, 72). Die Darstellung des Forschungsüberblicks im Sinne einer konstitutiven Verflechtung bezieht sich außerdem auf die gegenseitigen erinnerungspolitischen Bezugnahmen Deutschlands und Frankreichs aufeinander. Werner und Zimmermann (2002, 618) unterstreichen dahingehend, dass „überkreuzen zunächst“ heißt, „für jede Fragestellung, für die Bearbeitung jedes Problems mindestens zwei Blickwinkel zu berücksichtigen“. Aus diesem Grund werde ich die synchronen wechselseitigen Bezugnahmen und Kommentierungen der jeweiligen erinnerungspolitischen Entwicklungen in Deutschland und Frankreich in den Blick nehmen. Der Blick von „außen“ auf die Entwicklungen im jeweils anderen Land ist ebenso konstituierend für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit wie der Blick auf die eigenen nationalstaatlichen Politiken (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 619). Werner und Zimmermann unterstreichen, dass der transnationale Vergleich immer eine „Verdopplung des Blickwinkels“ bedeutet, in dem das Verhältnis der untersuchenden Objekte beleuchtet werden muss. Erst anhand eines solch verflechtenden Blicks auf den Gegenstand lässt sich nachvollziehen, inwiefern „das eine seine Bedeutung erst durch das andere erhält und umgekehrt“ (Werner und Zimmermann 2002, 618–619). Folglich schlagen die beiden Historiker:innen einen transnationalen Vergleich vor, der die jeweiligen nationalstaaten einander nicht mehr als klar definierte Entitäten vergleichend gegenüberstellt und Gefahr läuft, die ‚Nation‘ in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit zu retablieren. Sie liefern damit eine methodische Antwort auf die von De Cesari und Rigney (2014, 1–2) geforderte Überwindung des „methodologischen Nationalismus“. Indem ich mich auf die Prozesse konzentriere, in denen Erinnerungen sich als transnationale Bezugspunkte hybridi-

Beschreibung der Untersuchungsgegenstände 

 137

sieren, können schließlich die Möglichkeiten einer Provinzialisierung postkolonialer Erinnerungspolitiken aufgezeigt werden. Dafür nehme ich teilweise auch die bilateralen Verhältnisse mit Namibia bzw. Algerien in den Blick, um deutlich zu machen, auf welche Art und Weise der Beziehung zur ehemaligen Kolonie diskursiv Bedeutung zugeschrieben wird.

6.1 Beschreibung der Untersuchungsgegenstände Die Erarbeitung des historischen sowie erinnerungspolitischen Forschungsüberblicks in Kapitel 5 war, wie bereits ausgeführt, Bestandteil einer verflechtenden Forschungspraxis, anhand derer ich induktiv die Untersuchungsgegenstände Anerkennung, Reparationen, Repatriierungen, Restitutionen und Entschuldigungen ableitete. Gleichzeitig verknüpfte ich mit der Sichtung der Forschungsliteratur eine erste explorative Erhebung primärer Materialbestände, um zuerst einen Überblick über das Untersuchungsfeld und die darin verorteten Gegenstände zu generieren. Ausgehend von einem zunächst umfassenden Quellenmaterial vollzog sich im Laufe der Untersuchung die Eingrenzung der konkreten „Probleme“ für jeden einzelnen Untersuchungsgegenstand (vgl. Werner und Zimmermann 2002, 617). Daran anknüpfend konnte ich die finale Festlegung der Quellen treffen, die Bestandteil des Materialkorpus und somit diskursanalytisch ausgewertet werden sollten. Dass der Blick auf die Untersuchungsgegenstände als variabel zu erachten ist, zeigt sich insbesondere anhand der Unabgeschlossenheit, durch die sich der Forschungsprozess auszeichnet. Im Laufe der Untersuchung musste ich mehrmals auf aktuelle politische Geschehnisse reagieren, wie etwa, als im Jahr 2021 das Thema politische Entschuldigungen erneut medial diskutiert wurde. Entsprechend habe ich die Auswahl der Quellen in meinem Korpus angepasst, was auch ein erneutes Lesen der Forschungsliteratur oder das Hinzuziehen weiterer Sekundärquellenbestände bedeutete. Im Folgenden definiere ich die „Probleme“ der jeweiligen Untersuchungsgegenstände und den sich daraus ergebenden Untersuchungszeitraum.

6.1.1 A  nerkennungsdebatten um den Algerienkrieg 1999 und den Völkermord an den OvaHerero und Nama 2015/2016 Im Jahr 1999 wurde der Algerienkrieg offiziell von der französischen Assemblée Nationale anerkannt. Der Begriff des „Völkermords“, um die Ermordung Zehntausender OvaHerero und Nama zu beschreiben, wurde hingegen erst 2015/2016 von der Bundesregierung zum offiziellen Sprachgebrauch erklärt. Gemein ist beiden

138 

 Erinnerungspolitiken verstricken

Fällen, dass die Anerkennungen als ausschließlich sprachliche Benennungen der kolonialen Ereignisse verstanden werden sollten. Der Annahme folgend, der gemäß sich eine „internationale Moral“ (Barkan 2002) etabliert habe, gehe ich in Kapitel 7 der Frage nach, welche „Idee von Moral“ (Durkheim 2014 [1895], 122) in den jeweiligen nationalstaatlichen Kontexten konstruiert wird und inwiefern die gesetzten moralischen Normen in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten Anwendung finden. Dabei rekonstruiere ich, wie Forderungen nach der Anerkennung des Algerienkriegs und des Genozids an den OvaHerero und Nama gestellt und vermittelt werden und auf welche Weise offizielle Politiken reagieren. Das Quellenkorpus in diesem Kapitel besteht aus dem Transkript der parlamentarischen Debatte der Assemblée Nationale, die die Anerkennung im Juni 1999 initiierte, sowie der begleitenden Medienberichterstattung. Im Gegensatz zu Frankreich wurde der OvaHerero- und Nama-Genozid inoffiziell während einer Regierungspressekonferenz im Juli 2015 anerkannt. Ein Jahr später wurde die Anpassung der offiziellen Sprachreglung bestätigt und die Ankündigung gemacht, sich gegenüber Namibia für den Genozid entschuldigen zu wollen. Neben der Medienberichterstattung wurden zudem die Abschriften der Pressekonferenzen sowie Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung und Anträge der Oppositionsparteien zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in das Quellenkorpus aufgenommen. Indem sich die Analyse auf die Rekonstruktion der emotionalen Diskurse konzentriert, die der Herstellung von Moralität dienen, eröffnet sich außerdem ein Spannungsverhältnis zwischen der Anerkennung kolonialer Vergangenheit und der Verkennung des ‚Leids der Anderen‘. Die Betrachtung der offiziellen Debatten zeigt in beiden Fällen, dass der rhetorische Rekurs auf Moral zwar an universalisierten Moralstandards orientiert ist, gleichzeitig aber eine Aufarbeitung des Kolonialismus unterbunden wird. Die Bundesregierung versteht „moralische Verantwortung“ im Sinne einer in die Zukunft gerichteten Entwicklungszusammenarbeit. Die OvaHerero und Nama werden dabei als mögliche legitime Verhandlungspartner:innen verkannt, wobei ihre Forderungen als moralisch verwerflich konstruiert und folglich ihr ‚Leid‘ delegitimiert wird. Die französischen Parlamentarier:innen hingegen verstehen Moralität vornehmlich im Sinne einer positiven Bilanzierung ihres Handlungsanspruchs, sich einer „mutigen Wahrheitssuche“ verschrieben zu haben. Die diskursive Herstellung von ‚Leid‘ adressiert in der französischen Parlamentsdebatte vordergründig den ‚geteilten Schmerz‘ der französischen Gesellschaft, um diese zu einer „nationalen Leidensgemeinschaft“ (Renken 2006, 321) zusammenzuschweißen. Die diskursive Konstruktion von Moralität zeugt in beiden Fällen von Ambivalenzen. Auf der einen Seite wird sich der Erfüllung moralischer Standards verschrieben, die eine Anerkennung kolonialer Vergangenheiten vorgeben. Auf der anderen Seite werden die Prämissen der Moralität vor allem als das erinnerungspolitisch richtige Handeln der eigenen ‚Nation‘ ausgelegt.

Beschreibung der Untersuchungsgegenstände 

 139

6.1.2 Reparationsforderungen und postkoloniale Klagevorhaben seit 2001 Im Forschungsüberblick der erinnerungspolitischen Entwicklungen in Deutschland und Frankreich habe ich die Bedeutung juristischer Schritte als zentrales Instrument herausgestellt, mit dem postkoloniale Akteur:innen ihren Forderungen nach Anerkennung und Entschädigung Gehör verschaffen. Um die retroaktive Anerkennung kolonialer Verbrechen zu erwirken, versuchen im Jahr 2001 postkoloniale Erinnerungsträger:innen sowohl gegenüber Deutschland als auch gegenüber Frankreich, koloniale Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkennen zu lassen. Da dieser Begriff zuerst als Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus definiert wurde, ist die Bezugnahme auf den Holocaust eine wichtige Voraussetzung zur Begründung der Reparationsforderungen. In Kapitel 8 argumentiere ich, dass die Bezugnahme auf das globalisierte Holocaust-Gedenken nicht nur als Referenzpunkt für die entsprechende Erinnerungsgruppen fungiert. Vielmehr müssen marginalisierte Erinnerungsträger:innen Bezug zum Holocaust-Gedenken herstellen, um kolonialen Verbrechen erinnerungspolitische Intelligibilität zu verleihen. Dies begründet sich damit, dass das Holocaust-Gedenken gleichzeitig eine emotionale Ordnung beschreibt, die die universellen Standards historischer Leiderfahrung definiert. Um diese Annahme zu überprüfen, rekonstruiere ich die emotionalen Diskurse in der Sammelklage der OvaHerero gegen Deutschland und drei deutsche Firmen aus dem Jahr 2001 sowie die von Harki-Vertreter:innen eingereichte Klage gegen den französischen Staat im gleichen Jahr. Zeitungsartikel in Bezug auf die Klage der OvaHerero habe ich im deutschen Kontext bis 2003 in das Materialkorpus integriert, da sie in diesem Jahr endgültig scheiterte. Im Fall der Klage der Harkis habe ich zudem das Buch Harkis, crime d’État (2002) von Boussad Azni, dem Initiator der Klage, und eine arte-Dokumentation, die erstmals am 12. Februar 2002 gesendet wurde und direkten Bezug auf Aznis Buchtitel nimmt, in das Quellenkorpus aufgenommen. Beide Klagen werden nicht nur juristisch mit Verweis auf die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zurückgewiesen, auch die Analyse der Medienberichterstattung legt nahe, dass eine Parallelisierung mit dem Holocaust/der Shoah moralisch illegitim ist. Die Zurückweisung von Entschädigungen für koloniale Verbrechen weise ich als postkoloniales Dilemma aus (vgl. de Wolff 2017), da eine diskursive Trennung zwischen Moralität und Justiziabilität entworfen wird. Als Folge wird eine strafrechtliche Aufarbeitung kolonialer Gewalt als undenkbar konstruiert. Nach dem Scheitern der Klagevorhaben erneuern die OvaHerero, nun zusammen mit den Nama, im Jahr 2017 ihre Forderungen mit einer weiteren Sammelklage, in der sie die Bezugnahme auf den Holocaust verstärken. Da eine Klassifizierung der Massaker an den Harkis historisch nicht als Völkermord zu

140 

 Erinnerungspolitiken verstricken

rechtfertigen und eine juristische Strafverfolgung von Kriegsverbrechen aufgrund der Amnestiegesetze undenkbar ist, geben die ehemaligen Hilfssoldaten der französischen Armee die Verweise zum Vichy-Regime auf. Statt weitere juristische Schritte einzuleiten, wählen die Harkis jedoch andere Instrumente, um die Regierung unter Handlungsdruck zu setzen. Für den diachronen Vergleich wird die deutsche Medienberichterstattung von 2017, als die OvaHerero und Nama ihre Klage gegen die Bundesregierung vor einem Gericht in New York einreichen, bis zum März 2019 berücksichtigt, als auch dieses Vorhaben scheitert. Im Fall der Harkis habe ich die Medienberichterstattung zwischen 2001, als die Klage gegen den französischen Staat eingereicht wurde, und 2021 erhoben, als Macron den Harkis zum Journée nationale d’hommage aux Harkis die Verabschiedung eines Reparationsgesetzes zusichert. Neben der Berichterstattung der überregionalen Tagespresse findet außerdem der Bericht Aux Harkis, la France reconnaissante (Ceaux und Chassard 2018) Eingang in die Analyse, sowie im deutschen Fall Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung sowie Reden und Pressemitteilungen von Vertreter:innen der OvaHerero und Nama. Schließlich habe ich auch aktuelle rechtswissenschaftliche Fachbeiträge in die Analyse einbezogen, um die Möglichkeiten einer rechtlichen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen juristisch erfassen zu können (vgl. Eicker 2009; Goldmann 2020; Sarkin 2004, 2009). Da sich das „postkoloniale Dilemma“ allerdings als persistent erweist, bleiben auch die postkolonialen Asymmetrien weiterhin intakt. Dieser Befund bestätigt sich in den Kapiteln über die Restitution kultureller Objekte (Kap. 10) und der möglichen Formulierung politischer Entschuldigungen (Kap. 11) nachweisen.

6.1.3 Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Algerien und Namibia Die Übergabe des Savoy-Sarr-Berichts im Jahr 2018 an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat eine europaweite Debatte über die Restitution afrikanischer Kulturgegenstände angestoßen. Dabei wurde erneut die Aufmerksamkeit auf die unzähligen menschlichen Gebeine gelenkt, die sich in den Sammlungen europäischer Museen und Universitäten befinden. In Kapitel 9 setze ich die erinnerungspolitischen Debatten über die Repatriierung menschlicher Gebeine in Frankreich und Deutschland miteinander in Beziehung. Die Vermittlung kolonialer Vergangenheiten und deren Bedeutungsgewinn in der Gegenwart analysiere ich dabei als Konstruktionsprozess affektiven Wissens. Denn die Debatten der Rückgabe menschlicher Gebeine vollziehen sich in Deutschland und Frankreich vor dem historischen Hintergrund der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘, die das museale Sammeln während des Kolonialismus

Beschreibung der Untersuchungsgegenstände 

 141

rechtfertigte. Das mediale Interesse war in Frankreich ausgesprochen gering, als im Juli 2020 24  Schädel nach Algerien repatriiert wurden, die im Jahr 1849 nach der „Schlacht von Zaatcha“ als „Kriegstrophäen“ den Weg in die französischen Sammlungen fanden. Im Gegensatz dazu sorgte die erste Repatriierung von human remains, die die Berliner Charité 2011 nach Namibia initiierte, für ein beachtliches Medienecho. In der transnationalen Vergleichsperspektive setze ich die Berichterstattung zwischen Dezember 2017, als Macron sich „bereit“ erklärte, die menschlichen Gebeine nach Algerien zu repatriieren, bis zu deren Repatriierung im Juli 2020 in Beziehung mit den drei Repatriierungen, die 2011, 2014 und zuletzt 2018 nach Namibia stattgefunden haben. Analytisch konzentriere ich mich zum einen auf die mediale Darstellung der jeweiligen Zeremonie sowie auf die bewertenden Einschätzungen einige Tage vor und nach den Übergaben. Im französischen Kontext kontrastiere ich die Repatriierung nach Algerien zudem mit vorangegangen Rückgaben menschlicher Gebeine, um den Stellenwert postkolonialer Repatriierungen besser kontextualisieren zu können. Einbezogen werden dabei die Rückführungen der sterblichen Überreste von Sarah Baartman nach Südafrika im Jahr 2002, von Maori-Schädeln nach Neuseeland 2012 sowie des Schädels des Kanak-Chiefs Ataï und die Gebeine seines „sorcier“ nach Neukaledonien im Jahr 2014. Dabei betrachte ich die gesellschaftliche Aushandlung, mit der koloniale Vergangenheiten entweder er- oder entinnert werden, als Ausdruck erinnerungspolitischer Machtverhältnisse in der Gegenwart. Dabei spreche ich von einer Praktik affektiven Entinnerns, mit der die ‚algerischen‘ Schädel emotional ‚außerhalb‘ der Kolonialgeschichte platziert werden. Denn – obwohl historisch gut erforscht – weder die Phase der Kolonialisierung Algeriens im 19.  Jahrhundert noch der französische Beitrag zur ‚Rasseforschung‘ haben kollektive Bedeutung in der heutigen französischen Gesellschaft erlangt. Im Gegensatz zu den affektiven Praktiken der Entinnerung in Frankreich entfaltet die mediale Benennung des Vergessen-Machens der kolonialen Vergangenheit in Deutschland eine performative Produktivität, mit der die kolonialrassistische Sammlungspraktik menschlicher Gebeine in die koloniale Erzählung eingepflegt wird.

6.1.4 Die „Restitutionsdebatte“ in Frankreich und Deutschland seit 2018 Anders als bei den vorangegangenen Untersuchungsgegenständen, bei denen keine empirische „Relationierung“ vorliegt, kreierte der von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im November an Macron überreichte Restitutionsbericht einen „realen Verflechtungs- oder Kausalzusammenhang“ (Epple, 19.04.2021). In der deutschen Berichterstattung wird nicht nur die französische Restitutionspolitik

142 

 Erinnerungspolitiken verstricken

kommentiert, vielmehr werden auch politische Konsequenzen gezogen, als im März 2019 die „Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten“ bekannt gegeben werden, die von Bund und Ländern erarbeitet worden sind. In Frankreich erlangte somit auch die deutsche Kolonialgeschichte größere Bekanntheit. Vor allem die anstehende Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin stieß auf größeres Medieninteresse. In einem ersten analytischen Schritt betrachte ich die Medienberichterstattung einige Wochen vor der Übergabe des Restitutionsberichtes im November 2018 bis Ende März 2019, als Bund und Länder das „Eckpunktepapier“ bekannt geben. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, inwiefern transnationale Bezugnahmen eine grenzüberschreitende Zirkulation emotionaler Diskurse ermöglicht, worin sich die länderspezifischen Auseinandersetzungen unterscheiden und auf welche Weise der transnationale Diskussionsrahmen konstitutiv für die jeweils nationalen Restitutionspolitiken ist. Auf der anderen Seite wird in der Untersuchung der Berichterstattung ersichtlich, dass sich die „Restitutionsdebatte“ in Frankreich maßgeblich auf die Rückgabe von Statuen aus dem Königsschatz des Béhanzin nach Benin konzentrierte. In Deutschland lag der Fokus vor allem auf den sogenannten BeninBronzen, die nach einer „Strafexpedition“ der britischen Kolonialarmee im Jahr 1897 aus dem Königreich Dahomey nach Europa gelangten und zum Kernstück der Sammlungen im neu entstandenen Berliner Schloss werden sollten. Da der Schwerpunkt meiner Arbeit auf der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg und dem Völkermord an den OvaHerero und Nama liegt, rekonstruiere ich daher in einem zweiten Schritt die Restitutionsforderungen, die aus Namibia und Algerien vorliegen. Im Februar 2019 wurden, nur wenige Monate nach der Übergabe des Restitutionsberichts, die Witbooi-Bibel und Peitsche nach Namibia restituiert, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in der Sammlung des Linden-Museums in Stuttgart befanden. Die Berichterstattung rekonstruiere ich dabei von 2013, als die ersten Forderungen an Deutschland gerichtet werden, bis zur Übergabezeremonie im Februar 2019 in Namibia. Nur kurze Zeit, nachdem die „Restitutionsdebatte“ ihren Höhepunkt in Frankreich erreichte, wurde auch der sogenannte franko-algerische Archivstreitfall (contentieux archivistique algéro-français) erneut ausgetragen (vgl. Shepard 2017). Im Sommer 2020 erneuerte Algerien die Forderungen nach einer Rückgabe der archives de souveraineté. Für die diskursanalytische Betrachtung konzentriere ich mich maßgeblich auf die Berichterstattung von November 2018 bis März 2021, als mit dem Stora-Bericht die „Archivfrage“ ein weiteres Mal medial diskutiert wurde. Vor dem Hintergrund der transnational geführten „Restitutionsdebatte“ frage ich nach der Verbindung, die zu den aus Algerien und Namibia vorliegenden Rückgabeforderungen hergestellt werden. Dabei zeigt sich, dass der franko-algerische ‚Streitfall‘ maßgeblich als binationale Angelegenheit verhandelt und folglich auch nicht mit dem Restitu-

Beschreibung der Untersuchungsgegenstände 

 143

tionsbericht in Beziehung gesetzt wird. Die Rückgabe der Bibel und der Peitsche nach Namibia ist hingegen im Kontext der transnational geführten „Restitutionsdebatte“ verankert. Im französischen Kontext ist eine Rückgabe der Archive nicht nur wegen der komplizierten franko-algerischen Beziehungen ausgeschlossen, sondern auch aufgrund der im code du patrimoine festgelegten Unveräußerlichkeit des nationalen Kulturerbes. Im deutschen Fall kommt vor allem dem Föderalismus und dem damit zusammenhängenden umfassenderen Handlungsspielraum von Museen und Universitäten eine entscheidende Rolle in der Umsetzung von Restitutionsvorhaben zu. Neben der Analyse von Zeitungsartikeln, die in den genannten Zeiträumen erhoben werden, betrachte ich außerdem Reden, Gesetzestexte, Ausschussberichte des deutschen Bundestags, Anträge, Anfragen an die Bundesregierung, internationale Resolutionen der UNO, Empfehlungen und Expertisen vom International Council of Museums (ICOM), vom Deutschen Museumsbund e. V. und vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) sowie Pressemitteilungen zivilgesellschaftlicher und staatlicher Institutionen.

6.1.5 Die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen Die erinnerungspolitischen Debatten im Jahr 2021 rückten verstärkt die Bedeutung politischer Entschuldigungen ins Zentrum der Auseinandersetzung. Anlass dazu bot der Rapport sur les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie (2021) von Stora, der im Januar veröffentlicht wurde. Stora äußerte sich darin zurückhaltend gegenüber der politischen Forderung einer offiziellen Entschuldigung. Darauffolgend wurde im Umfeld des Élysée-Palasts die Losung „ni excuse, ni repentance“ ausgegeben, was Spannungen mit der algerischen Regierung provozierte, die ihre Forderung nach einem Eingeständnis französischer Schuld für die Verbrechen des Kolonialismus erneuerte. Die Debatten beruhigten sich erst im März 2021 im Zuge von Macrons offizieller Anerkennung der Ermordung des Juristen Ali Boumendjel, dessen Tod im Jahr 1957 während der „Schlacht von Algier“ bisher von offizieller Seite als Selbstmord deklariert wurde. In Deutschland hingegen, wo sich die Bundesregierung bereits seit 2016 zu einer offiziellen Entschuldigung gegenüber Namibia für den durch deutsche „Schutztruppen“ begangenen Völkermord bereit erklärt hatte, wurde im Mai 2021 die Terminierung des bilateralen Dialogs zwischen Deutschland und Namibia sowie die Unterzeichnung eines „Versöhnungsabkommens“ angekündigt. Titelgebend für das abschließende Kapitel der Arbeit ist die (Un-)Möglichkeit der Formulierung einer offiziellen Entschuldigung für koloniale Verbrechen. Dabei zeigt sich im französischen Untersuchungskontext, dass Entschuldigungen als ‚unnötiges Reuegebaren‘ konstruiert werden, was folglich ihre grundsätzliche Ablehnung

144 

 Erinnerungspolitiken verstricken

begründet. In Deutschland hingegen droht die geplante Entschuldigung deswegen zu scheitern, weil die von der Bundesregierung definierten Bedingungen weder von der namibischen Regierung noch von den Vertreter:innen der OvaHerero und Nama akzeptiert werden. Unter Einbezug der bisherigen Forschungsliteratur werde ich Entschuldigungen nicht als Abschluss einer erfolgreichen Vergangenheitsaufarbeitung verstehen, sondern als Teil eines Prozesses, in dem zum einen die erinnerungspolitischen Selbstverständnisse (neu) verhandelt werden, zum anderen aber auch um eine mögliche Umverteilung materieller und immaterieller Ressourcen gerungen wird. Kapitel 12 setzt eine Klammer um die in Kapitel  7 begonnenen Diskussionen um das Verhältnis zwischen Anerkennung und Verkennung, das sich in der Frage nach der (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen fortschreibt. Im französischen Kontext vergleiche ich die Bedingungen, die im September 2018 die Entschuldigung Macrons gegenüber Josette Audin für die Folter und Ermordung ihres Ehemanns im Jahr 1957 zu einer ‚erfolgreichen‘ macht, während eine Entschuldigung gegenüber Algerien als unmöglich konstruiert wird. Die Berichterstattung analysierte ich für den Zeitraum September 2018 und Januar bis Ende März 2021. Im deutschen Fall treten insbesondere die diskursiven Kontinuitäten hervor, mit denen die Bundesregierung die Artikulation einer Entschuldigung weiterhin mit erhöhten entwicklungspolitischen Investitionen zu verbinden sucht und in diesem Zusammenhang eine völkerrechtliche Anerkennung des Völkermords zurückweist. Im Gegensatz zur offiziellen erinnerungspolitischen Haltung der Bundesregierung findet die von aktivistischen Gruppen vorangetriebene Verknüpfung von Anerkennung, Entschuldigung und Reparationen in der deutschen Medienberichterstattung eine immer stärkere Verbreitung. Ersichtlich wird daran, dass sich die moralisch etablierten Kollektivideale in der deutschen Gesellschaft zunehmend verschoben haben, was den Druck auf die Bundesrepublik erhöht. Sollte die Bundesregierung ihre Bedingungen nicht ändern, wird ein Scheitern der avisierten politischen Entschuldigung umso wahrscheinlicher. Diskursanalytisch konzentriere ich mich vor allem auf die mediale Berichterstattung zwischen Mai 2021 und Ende Juni 2021 sowie begleitende Pressemitteilungen des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!“, Stellungnahmen des OvaHerero Traditional Authority (OTA) und der Nama Traditional Leader Association (NTLA) sowie deren offizielle Redebeiträge. Weiterhin bezog ich im Bundestag gestellte Anträge und Anfragen der Oppositionsparteien seit 2019 in das Quellenkorpus mit ein. Von grundsätzlicher Wichtigkeit ist für dieses Kapitel jedoch, die Unabgeschlossenheit der derzeitigen Ergebnisdarstellung hervorzuheben. Aufgrund der schwierigen coronabedingten Lage in Namibia und der im September 2021 abgehaltenen Bundestagswahl kam es zu Verzögerungen im Dialog über das „Versöhnungsabkommen“. In den franko-algerischen Beziehungen kam es seit

Zusammenstellung des Materialkorpus 

 145

Oktober 2021 wieder zu heftigen Spannungen, nachdem Macron die präkoloniale Existenz eines algerischen Staates infrage gestellt und Algerien vorgeworfen hat, den Algerienkrieg als „rente mémorielle“ gegenüber Frankreich zu instrumentalisieren (Kessous, 02.10.2021, lemonde.fr). Vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 schien es, als würde Macron seine versöhnende Gesten gegenüber Algerien zugunsten der Mobilisierung rechter Wähler:innen zurückstellen (vgl. „L’Algérie rappelle son ambassadeur à Paris et interdit son espace aérien aux avions militaires français“, 02.10.2021, lemonde.fr; Kessous et al., 23.10.2021, Le Monde, 2). In den folgenden Monaten jedoch richtete sich Macron wieder verstärkt an die algerische Regierung, auch in der Absicht, eine gemeinsame Vereinbarung über ein „partenariat renouvelé“ zu treffen („Nous sommes prêts pour bâtir un nouveau pacte d’avenir“, 26.08.2022, France24). Im Zuge der Feierlichkeiten zum 60.  Jahrestag der Unterzeichnung der Évian-Verträge am 19. März 2022 zieht Macron wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen Bilanz seiner erinnerungspolitischen Initiativen. Dabei formuliert er an die algerische Regierung gerichtet: „Alors, pendant ces quelques années, j’ai tenu beaucoup de mains, je ne les lâcherai pas et j’ai un rêve : c’est qu’elles se tiennent les unes les autres“ (Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 19.03.2022). Im August 2022 folgte dann ein weiterer Staatsbesuch Macrons in Algerien, wo er u.  a. die Einrichtung einer algerisch-französischen Historiker:innenkommission ankündigte (vgl. „Nous sommes prêts pour bâtir un nouveau pacte d’avenir“, 26.08.2022, France24). Am 19. April 2023 wurde schließlich in einer Pressemitteilung der Regierung die Zusammensetzung der Kommission sowie das erste Zusammentreffen der Historiker:innen bekanntgegeben (Pressemitteilung der Présidence de la République, 19.04.2023). Deutlich wird hieran, wie volatil die Aushandlung des Stellenwerts des französischen Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis ist. In Deutschland hingegen scheint die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zunehmend einen affektiven Platz im gesellschaftlichen Bewusstsein einzunehmen – wofür auch die Debattenbeiträge im gegenwärtigen „Historikerstreit 2.0“ sprechen.

6.2 Zusammenstellung des Materialkorpus Die Arbeiten der Literaturwissenschaftler:innen Richard Grusin (2010) sowie Astrid Erll und Ann Rigney (2009) haben herausgestellt, dass es keinen Zugang zu einer „faktischen“ Vergangenheit bzw. historischen Erfahrungen gibt, der nicht mediatisiert ist (vgl. Kap.  4.3). Folglich vollziehen sich erinnerungspolitische Aushandlungsprozesse maßgeblich mithilfe von Medienangeboten. Die Medienund Kommunikationswissenschaftlerin Kaya de Wolff (2021, 13) unterstreicht

146 

 Erinnerungspolitiken verstricken

daher auch, dass diese nicht nur Aushandlungsplatz kollektiven Erinnerns sind, „sondern Journalist:innen selbst Deutungen der kolonialen Vergangenheit vornehmen und Positionen und Forderungen verschiedener sozialer Akteur:innen legitimieren oder delegitimieren können“. Demnach bestimmen insbesondere die Printmedien, welche Informationen über die Vergangenheit weitergegeben werden und welche Sichtweisen legitim sind. Weiterhin selektieren sie, welche Positionen zu Wort kommen können, d. h. sie definieren beispielsweise, welcher Bundestagsdebatte ein entsprechender Nachrichtenwert zugewiesen und somit, welchen parlamentarischen Inhalten ein größeres Publikum verschafft wird (vgl. de Wolff 2021, 140–141). Printmedien sind somit zugleich Orte der Wissensproduktion wie auch Abbild der zu einem bestimmten Zeitpunkt akzeptierten Vergangenheitsversion (vgl. Kansteiner 2002; Lünenborg und Sell 2018). Dabei sind insbesondere Tageszeitungen und Zeitschriften (sowie TV- und Radioangeboten) allgemein zugänglich und können daher von einer breiten Masse rezipiert werden (vgl. de Wolff 2021, 128). Aus diesem Grund habe ich erstens die überregionale Tagespresse zu meinem zentralen Untersuchungsmaterial gemacht (1). Da ich mich insbesondere für die Repräsentation der Positionen aktivistischer Gruppen in den massenmedialen Darstellungen interessiere, habe ich zweitens den Quellenbestand um Pressemitteilungen, Reden und Internetauftritte von Erinnerungsaktivist:innen ergänzt (2). Schließlich habe ich als dritte Quellengattung die Transkripte französischer und deutscher Parlamentsdebatten, Regierungserklärungen, Gesetzestexte, Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung, parlamentarische Fragen an den französischen Präsidenten, offizielle Reden, Transkripte von Pressekonferenzen, Sachstände, Berichte und Handlungsempfehlungen sowie wissenschaftliche Expertisen und weitere Drucksachen in das Korpus aufgenommen (3). Erinnerungspolitik verstehe ich somit als ein Zusammenspiel kultureller, wissenschaftlicher, sozialer und politischer Faktoren, in dem die offizielle Erinnerungspraxis ausgehandelt und sich folglich eine Institutionalisierung des Gedenkens vollziehen kann. (1) Printmedien Mediationen stellen Schemata zur Deutung der Vergangenheit bereit, die, wie Grusin (2010, 79) hervorgehoben hat, durch Affekte ‚moduliert‘ werden. Folglich werden mittels Mediatisierungen kollektive Gefühlspraktiken hervorgebracht und verfestigt (Grusin 2010, 79). Wenn diese Arbeit die diskursive Affizierung kolonialer Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich untersucht, dann geht es nicht um die Spezifizität des jeweils analysierten Medienformats, sondern darum, wie sich emotionale Diskurse und Ordnungen über deren Grenzen hinweg konstituieren. Um die Vielfalt medialer Repräsentationen abbilden zu können,

Zusammenstellung des Materialkorpus 

 147

orientierte ich mich bei der Auswahl der Zeitungen erstens daran, ein möglichst großes politisches Meinungsspektrums abzubilden. Zweitens wählte ich Zeitungen der überregionalen Tagespresse, um zu gewährleisten, dass postkoloniale Erinnerungsereignisse auf nationaler Ebene abgebildet werden können. Drittens achtete ich auf den Verbreitungsgrad der Medienformate, um sicherzustellen, dass die Erinnerungsereignisse einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Zu den auflagestärksten Zeitungen in Deutschland gehörten 2021 die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Süddeutsche Zeitung (SZ) (vgl. Statista 2021a). Aufgrund ihres bundesweiten Vertriebs habe ich außerdem die Frankfurter Rundschau (FR) in das Korpus aufgenommen. Schließlich ergänzen das Neue Deutschland (ND), die taz und Die WELT das Korpus mit ihren divergenten politischen Ausrichtungen. In Frankreich waren 2020 Le Monde, Le Figaro und Aujourd’hui en France (Le Parisien) die drei auflagenstärksten Zeitungen (vgl. Statista 2021b). Als weitere bedeutende Tageszeitungen nationaler Reichweite, die „Politik und Allgemeines“ als Schwerpunkt haben, habe ich zudem L’Humanité, Libération und La Croix in das Materialkorpus aufgenommen (vgl. Vatter 2021, 442). Die Darstellung erinnerungspolitischer Ereignisse in der französischen und deutschen Presse lässt darauf schließen, dass diese eine gewisse Institutionalisierung erreicht haben. Schließlich vermitteln Printmedien ihre Inhalte nicht nur einer breiteren Öffentlichkeit, sie stecken auch den diskursiven Rahmen ab, in dem Kunst, Kultur, Politik etc. verortet werden, und liefern darüber hinaus ein Deutungsangebot, wie Erinnerungskulturelle Erzeugnisse zu bewerten sind (vgl. de Wolff 2021, 13). Die Recherche der Zeitungsartikel erfolgte über themenbezogene Schlagworte, die in den digitalen Zeitungsarchiven oder auf den von den Bibliotheken bereitgestellten Online-Recherche-Tools genutzt werden konnten. Im Jahr 2018 begann ich, in meiner Recherche zuerst alle Zeitungsartikel ab 1990 zu erheben, die den Begriff „Herero“ in unterschiedlichen Kombinationen mit „Aufstand“, „Massaker“, Völkermord“ und „Krieg“ verschlagwortet hatten. Während meines Forschungsaufenthalts in Paris im akademischen Jahr 2018/2019 konnte dieses Vorgehen für die umfangreiche französische Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg nicht mehr realisiert werden. Fortan definierten die Gegenstände sowohl den Untersuchungszeitraum als auch die Auswahl der Zeitungsartikel. Beispielsweise erfasste ich für den Untersuchungsgegenstand „Repatriierungen“ alle Zeitungsartikel, die seit 1990 in Bezug auf etwaige Rückgaben von menschlichen Gebeinen nach Algerien in der französischen Presse veröffentlicht wurden. Weil die Berichterstattung allerdings gering ausfiel, entschied ich mich, zusätzlich die online verfügbaren Artikel der französischsprachigen algerischen Zeitungen Le Matin d’Algérie und El Watan sowie weiterer Internetquellen wie etwa observalgerie.com einzubeziehen. Eine andere Strategie

148 

 Erinnerungspolitiken verstricken

zur Eingrenzung des Materialbestands erfolgte mithilfe der Festlegung ausgewählter Erinnerungsereignisse, wie etwa die Anerkennung des Algerienkriegs im Juni 1999 und der halb offiziellen Anerkennung des Genozids, die in Regierungspressekonferenzen jeweils im Sommer 2015 und 2016 bekannt gegeben worden sind. Wurde sich an konkreten erinnerungspolitischen Ereignissen orientiert, wie der Übergabezeremonie der human remains nach Namibia in den Jahren 2011, 2014 und 2018, dann erstreckte sich der Erhebungszeitraum der Zeitungsartikel meistens zwischen 3–5 Tagen vor sowie 5–10 Tagen nach dem Ereignis. Verweisen möchte ich hier auf das asymmetrische Verhältnis der Medienberichterstattung in Deutschland und Frankreich. Während im deutschen Fall eine vollständige Erhebung publizierter Artikel in Bezug auf den Genozid and den OvaHerero und Nama für den Untersuchungszeitraum denkbar wäre, ist dies für den französischen Fall ein nicht zu realisierendes Unterfangen. Die Darstellung der erinnerungspolitischen Trendwenden im vorangegangenen Kapitel verdeutlichte die Disparitäten erinnerungspolitischer Thematisierung des Algerienkriegs in Frankreich und des OvaHerero- und Nama-Genozids in Deutschland. Diese Unterschiedlichkeit der beiden Fälle begründet zwar das Interesse am Vergleich, erlaubt aber keine Aussagen anhand von Häufigkeitsdarstellungen, weil es dazu quantitativer Auswertungsstrategien der Berichterstattung in beiden Ländern bedurft hätte. Angaben zur Häufigkeit werden nur dann gemacht, wenn eine themenspezifische Erhebung gemacht wurde und die Gesamtheit der Berichterstattung erfasst werden konnte. Weiterhin war angedacht, die begleitende Bildsprache publizierter Zeitungsartikel als relevante Untersuchungsgröße einzubeziehen. Allerdings hat es sich in der Zusammenstellung des Materialkorpus als hinderlich erwiesen, dass die meisten Onlinedatenbanken kein Bildmaterial in den digitalisierten Darstellungen der Zeitungsartikel mitliefern. Aus forschungspragmatischen Gründen konnten die genutzten Bildquellen daher nicht systematisch erhoben werden, um diese einer visuellen Diskursanalyse zu unterziehen. (2) Aktivistische Stellungnahmen Eine weitere Achse der Untersuchung sind die Stellungnahmen und Positionen von Vereinen, Initiativen und Gruppen marginalisierter Erinnerungsträger:innen wie den Berliner Vereinen Berlin Postkolonial und AfricAvenir International e. V., namibischen Zusammenschlüssen der Nachfahren der ‚Opfer‘ wie der OvaHerero Traditional Authority (OTA) und der Nama Traditional Leader Association (NTLA) sowie Harkis-Verbänden in Frankreich wie dem Comité national de liaison des Harkis (CNLH), dem Collectif de justice pour les Harkis oder der Association justice information réparation pour les Harkis (Ajir). Dabei wurden die involvierten aktivistischen Gruppen jedoch nicht vollständig erschlossen oder deren Positionen

Zusammenstellung des Materialkorpus 

 149

systematisch ausgewertet. Chakrabarty (2007, 85) verweist auf die ungleichen Machtverhältnisse, wenn er Medienerzeugnisse und die somit vermittelte Vergangenheit in der Gegenwart als „commodity-form of experience“ bezeichnet. Aus diesem Grund untersuche ich, inwiefern die Positionen aktivistischer Gruppen in die Medienberichterstattung integriert und dort kommentiert werden. Dafür habe ich abhängig vom Untersuchungsgegenstand deren Internetauftritte sowie deren Stellungnahmen, Redebeiträge, Pressemitteilungen und Petitionsschriften in das Korpus aufgenommen. Weiterhin sollten auf diese Weise auch abweichende Positionen sichtbar gemacht und entsprechend gegen den Diskurs gelesen werden. Mit einem machtkritischen Blick auf Institutionen darf nicht vergessen werden, dass sich nur langsam ein Wandel zu mehr Diversität in der deutschen und französischen Medienlandschaft vollzieht und folglich postkoloniale Perspektiven mehr Beachtung finden. (3) Parlamentarische Drucksachen und zusätzlich erhobenes Material Da sich erinnerungspolitische Forderungen maßgeblich an nationalstaatliche Institutionen richten, um von diesen die Anerkennung kolonialer Vergangenheiten, finanzielle Entschädigungen, formelle Entschuldigungen, aber auch die Rückgabe kultureller Artefakte oder menschlicher Gebeine zu fordern (vgl. Rousso 2016, 93), integriere ich als dritte Quellengattung offizielle Drucksachen, die von staatlichen Einrichtungen herausgegeben werden. Dazu gehören Parlamentsdebatten, Abschriften von Regierungspresseerklärungen, offizielle Reden, der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD aus dem Jahr 2018, Gesetzestexte und kommentare sowie auch von Ministerien angeforderte Expertisen/Berichte bzw. die Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Besonders Kleine und Große Anfragen an die Bundesregierung sowie Anträge der Fraktionen im Bundestag bieten den Oppositionsparteien im Bundestag Gelegenheit, die jeweiligen Regierungen zu Stellungnahmen hinsichtlich der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Deutschland zu bewegen. In Frankreich steht auch das Instrument der parlamentarischen Frage (Question) an die verschiedenen französischen Ministerien oder an den Präsidenten zur Verfügung. Allerdings kommt diesem Instrument keine mit den Anfragen und Anträgen im deutschen Parlamentarismus Vergleichbare Kontrollfunktion zu. Dies lässt sich zum einen an den zum Teil langen Zeiträumen ablesen, die verstreichen, bis Fragen beantwortet werden, und zum anderen daran, dass auf manche Fragen gar nicht reagiert wurde. Weiterhin habe ich auch internationale Richtlinien und Empfehlungen wie die des Internationalen Museumsrats (ICOM) und der UNESCO in das Materialkorpus aufgenommen, da diese z. B. wichtige Referenzpunkte in der international geführten „Restitutionsdebatte“ sind. Ergänzend habe ich zudem

150 

 Erinnerungspolitiken verstricken

Museumskataloge, Empfehlungen (z. B. des Deutschen Museumsbunds e. V.) und eine arte-Dokumentation zur Auswertung hinzugezogen, deren Auswahl sich aufgrund der jeweiligen Relevanz für den Untersuchungsgegenstand ergab (vgl. Rose 2012, 195). Während die Analyse der Medienberichterstattung systematisch für alle Untersuchungsgegenstände erfolgte, begründete sich die Auswahl der Drucksachen und weiterer öffentlich zugänglicher Quellen zum einen mit der Relevanz für den Untersuchungsgegenstand, zum anderen wurde die Auswahl anhand der Themensetzungen getroffen, die die Tagespresse vornahm. Folglich wurde nach der Sichtung der Berichterstattung sowie der einschlägigen Sekundärliteratur festgelegt, welche Dokumente zusätzlich in das Materialkorpus aufgenommen und zu welchen Erinnerungsereignissen weitere Quellen herangezogen werden. Die ergänzende Materialsichtung erfüllte einmal eine überprüfende Funktion, um die medial abgebildeten Erinnerungsereignisse besser zu rekonstruieren. Zudem erlaubte mir die diskursanalytische Feinbetrachtung staatlicher Drucksachen, abweichende Perspektiven freizulegen sowie die sich im Zeitverlauf verändernde staatliche Haltung gegenüber der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich und Deutschland herauszuarbeiten. Wissenschaftliche Arbeiten habe ich auch einer diskursanalytischen Reflexion unterzogen, wenn in der Presse auf sie Bezug genommen wurde oder sich wissenschaftliche Begriffe diskursiv in der Medienberichterstattung verstetigten.

6.2.1 Erhebung der Quellen Die in Kapitel 6.1 genannten Untersuchungsgegenstände bestimmten die Schwerpunktsetzung und begrenzten das Materialkorpus, der anhand der beschriebenen umfangreichen Quellenbestände zusammengestellt wurde. Diskursanalytisch habe ich für den Zeitraum von 1999–2021 ca. 760 Zeitungsartikel ausgewertet, die entweder online oder als Print in den insgesamt zwölf ausgewählten Zeitungen der deutschen und französischen Tagespresse erschienen sind. Die Stellungnahmen und die Positionen der aktivistischen Gruppen und deren Pressemitteilungen, Empfehlungen von Institutionen wie dem Deutschen Museumsbund e. V., Expertisen etc. und UN-Konventionen konnten ausnahmslos über die online verfügbaren Internetseiten abgerufen werden. Für politische Reden, Parlamentsdebatten, Gesetzestexte, Kleine und Große Anfragen, Anträge der Fraktionen im Bundestag, Berichte vom Wissenschaftlichen Dienst der Bundesregierung konsultierte ich die Internetseite des Dokumentations- und Informationssystems für Parlamentsmaterialien (DIP) des Deutschen Bundestags. Die französischen Parlamentsdebatten konnten online im Journal officiel de la

Auswertung des Materialkorpus 

 151

République (JORF) abgerufen werden, genauso wie die französischen Gesetzestexte, die auf legifrance.gouv.fr zugänglich sind. Fragen von der französischen Nationalversammlung an die Regierung konnten auf den Seiten der Assemblée Nationale recherchiert werden, präsidiale Reden waren auf elysee.fr verfügbar. Für die Zusammenstellung des Korpus an Zeitungsartikeln habe ich folgende Bibliotheken und Archive aufgesucht: die Staatsbibliothek zu Berlin sowie das Portal justfind der Justus-Liebig-Universität Gießen, um auf die Zeitungsdatenbank Lexis Nexis bzw. die Archive der jeweiligen Zeitungen zuzugreifen, und die Bibliothèque nationale de France (BnF) in Paris für die Artikelrecherche in der Datenbank europresse, um den Quellenbestand der französischen Tageszeitungen zu erheben. Mit Beginn der Corona-Pandemie konnte ich die Datenbanken der BnF auch im deutschen Homeoffice abrufen. Alle Quellen des Korpus wurden in den Originalsprachen ausgewertet, sodass französische Quellen in der Studie in der Originalsprache zitiert werden, soweit nicht anders ausgewiesen. Die Textquellen wurden mithilfe der qualitativen Analysesoftware MAXQDA verwaltet, kodiert und ausgewertet. Im folgenden Kapitel wird das diskursanalytische Vorgehen zur Auswertung des Materialkorpus näher erläutert.

6.3 A  uswertung des Materialkorpus: Das diskursanalytische Vorgehen als qualitative Forschungspraxis In seiner Vorlesung vom 7.  Januar 1976, die mit weiteren am Collège de France gehaltenen Vorlesungen zum Band Society must be defended zusammengefasst wurde, spricht Foucault (2003, 9) von der diskursanalytischen Genealogie als einer „antiscience“. Darauf aufbauend haben Diskurstheoretiker:innen die Diskursanalyse auch immer als eine Intervention in den Diskurs begriffen, die nicht nur dessen bestehenden Logiken aufdeckt, sondern auch die Abweichungen, Brüche und Auslassungen abbildet. Deutlich wird hieran, dass die bereits vorgestellten methodischen Werkzeuge der De- und Rekontextualisierung sowie der Reflexivität, die in den vorangegangenen Kapiteln zur Anwendung kamen, diesen zentralen diskurstheoretischen Grundannahmen entsprechen. Das in dieser Arbeit zur Anwendung kommende Diskursverständnis basiert als „epistemologische Erkenntnispraxis“ (Wedl und Wrana 2014, 479) auf Foucaults Ausführungen in der Archäologie des Wissens (2015 [1969]). Darin versteht er Diskurse als eine „Menge von Aussagen“, die durch Wiederholung zu den Wahrheiten gerinnen, die das Denk-, Sag- und, wie Stoler (2009, 2011) unterstreicht, auch das Fühlbare strukturieren. Diskurse bilden folglich verstetigte Wissensbestände ab, die die „langfristigen Voraussetzungen aktuellen politischen Handelns“ in der Gegenwart schaffen (Kerchner und Schneider 2006, 10). Zentral ist dabei, dass die Dis-

152 

 Erinnerungspolitiken verstricken

kursanalyse weniger als kohärente Methode, sondern als selbstreflexives und vor allem rekursives Forschungsprinzip entworfen wird (vgl. Diaz-Bone 2006; Wrana 2014). Ebenso konzeptualisieren Werner und Zimmermann (2002) die Methodik der histoire croisée als einen verflechtenden Konstruktionsprozess. Die theoriegeleitete Herleitung der Vergleichskategorien in diesem Kapitel und das beschriebene ‚synchrone‘ sowie diachrone Vorgehen entspricht dabei den diskurstheoretischen Forschungsprinzipien, denen ich in dieser Arbeit folge. Insbesondere mithilfe der Synchronisierung der deutschen und französischen erinnerungspolitischen Debatten lassen sich diese als diskursive Praktiken nachvollziehen (vgl. DiazBone 2006, 81). Der diachrone Vergleich, auf der anderen Seite, verdeutlicht den wissenschaftlichen Standpunkt, dass „sich diskursive Praktiken nur historisch verstehen“ lassen (Diaz-Bone 2006, 81). Demnach muss der Wandel emotionaler Diskurse in einer historisierenden Perspektive nachvollzogen werden. Der synchrone und der diachrone Vergleich begründen wiederum das schon erläuterte de- und rekontextualisierende Vorhaben, bei dem der Untersuchungsgegenstand zuerst seines Ursprungskontextes enthoben wird, um ihn schließlich wieder historisch zu verorten (vgl. Friedman 2015). Diaz-Bone (2006, 78), der dieses Vorgehen explizit diskursanalytisch wendet, unterstreicht somit zum einen den dekonstruktiven Charakter der Diskursanalyse, um die Erzeugung ‚historischer Wahrheit‘ als diskursive Praktik zu markieren. Dekonstruktiv wird versucht, die Konstruktion postkolonialer „Selbstevidenzen von Wissenseinheiten“ aufzuzeigen (Diaz-Bone 2006, 78), wodurch die Ambivalenzen, Bruch- und Leerstellen erst hervortreten können. Die Rekonstruktion wiederum zielt auf die Identifikation der einen Diskurs prägenden Regeln, die sich nur diachron nachvollziehen lassen (vgl. Diaz-Bone 2006, 79). Das diskursanalytische Vorgehen zielt somit auf die rekonstruktive Aufdeckung der „epistemischen Tiefenstrukturen“ der Diskurse ab (Diaz-Bone 2006, 74). Schließlich unterstreichen Werner und Zimmermann (2002, 618), dass die Rolle des:der Forscher:in als zu reflektierender „Verflechtungsfaktor“ mitgedacht werden muss. Diese Art der Reflexivität bedeutet für den Erziehungswissenschaftler Daniel Wrana zum einen, sich der eigenen Verstrickungen im Untersuchungsgegenstand bewusst zu sein, und zum anderen „das ‚Sich-Einschreiben‘ in die wissenschaftlichen Spiele […] zu beobachten und kritisch zu situieren“ (Feustel et al. 2014, 485). Folglich würden Diskursanalysen, so der Politikwissenschaftler Robert Feustel (2014, 491), „in den Sinnhorizont von Aussagen […] intervenieren und Bedeutungsverschiebungen an[]kurbeln“. Und auch für Foucault (2003, 9) sind Diskursanalysen als „Aufstand gegen die zentralisierenden Machteffekte, die mit der Institutionalisierung und Funktionsweise jedes wissenschaftlichen Diskurses verbunden sind“, zu verstehen. Aufgrund der eigenen Verstrickung im Untersuchungsgegenstand kann das diskursanalytische

Auswertung des Materialkorpus 

 153

Vorgehen auch keine vollständige Beschreibung postkolonialer Erinnerungspolitiken liefern. Schließlich lassen sich Diskurse nicht auf einen eindeutigen Beginn oder ein Ende festlegen, da sie unterschiedliche Gegenstandsbereiche durchkreuzen und in andere Politikbereiche hineinwirken. Im Folgenden konkretisiere ich das diskursanalytische Vorgehen, mit dem ich die Materialauswahl für die jeweiligen Untersuchungsgegenstände 1. Anerkennung, 2. Reparationen, 3. Repatriierungen, 4. Restitutionen und 5. Entschuldigungen eingegrenzt habe. Dafür habe ich in einem ersten Schritt strukturierende Fragen an einen explorativ erhobenen Materialbestand gerichtet, um diesen theoriegeleitet zu ergänzen. Anschließend habe ich mittels einer Einzeltextanalyse die emotionalen Diskurse im Material rekonstruiert. Da Foucaults Arbeiten, aber auch viele andere diskursanalytische Zugänge, Emotionen nicht explizit als ihre Gegenstände adressieren, verlangt die Rekonstruktion emotionaler Diskurse eine methodische Spezifizierung in Bezug auf die Analyse von Emotionen. Abschließen werde ich dieses Kapitel mit einigen Anmerkungen zur Nutzung der Software MAXQDA, mit der ich computergestützt das Materialkorpus ausgewertet habe.

6.3.1 Strukturierende Fragen an das Materialkorpus Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Kerchner (2011) hat einen methodisch offenen Vorschlag zu einer an Foucault orientierten Diskursanalyse gemacht. Dabei kondensiert sie Foucaults Methodenprogramm, wie er es in der Archäologie des Wissens (2015 [1969]) beschreibt, zu sieben strukturierenden Fragen, mit denen sich dem Material angenähert werden kann. Dieser offene Zugang wurde eingangs genutzt, um mir eine erste Orientierung im Forschungsprozess zu verschaffen und daraus die Auswahl der Untersuchungsgegenstände und deren Eingrenzung abzuleiten. Um das finale Materialkorpus für den zu untersuchenden Bereich der postkolonialen Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich zusammenzustellen, habe ich mich auf die ersten beiden von Kerchner (2011, 10) formulierten Fragen gestützt: 1. Wann taucht das „Problem“ auf und „in welchem Zusammenhang tauchen die Vorläufer dieses Themas als ‚Problem‘ auf“? 2. Welche „Gegenstände“ formieren sich in der Textauswahl im Zusammenhang mit postkolonialen Erinnerungspolitiken? Anknüpfend an die Wichtigkeit einer diachronen Betrachtung diskursiver Praktiken fragt Kerchner explizit nach den historischen Bedingungen des für die Gegenwart als relevant definierten Themas. Bei der historischen Perspektive

154 

 Erinnerungspolitiken verstricken

geht es jedoch nicht darum, nach dem allerersten Auftauchen einer Thematik zu fahnden (vgl. Kerchner 2011, 9). Die Festlegung des Untersuchungszeitraums ab den 1990er Jahren begründete sich folglich aus der zu beobachtenden Relevanzzunahme der öffentlichen und medial vermittelten Thematisierung kolonialer Vergangenheiten. Ähnlich der bei Werner und Zimmermann (2002) beschriebenen induktiven Pragmatik wurde nachvollzogen, wann etwas diskursiv zum „Problem“ gemacht wird, was zuvor keines war. Mit welcher Frequenz erhöht sich beispielsweise die Medienberichterstattung in Bezug auf das Problem? Nimmt die Anzahl der Akteur:innen zu, die sich zu diesem „Problem“ verhalten? Erfahren wissenschaftliche Beiträge zum Thema ein zunehmendes Medienecho und diffundieren wissenschaftliche Themen und Termini in öffentliche Debatten? Zusammen mit welchen anderen Themen taucht dieses Problem auf? Diese Fragen waren untersuchungsleitend während der Erarbeitung des in Kapitel 5 dargestellten Forschungsstandes. Die theoretische Erarbeitung des Feldzugangs wurde mit der Erhebung empirischen Materials kombiniert, um anhand eines zunächst umfangreichen Quellenfundus eine theoriegeleitete Identifikation der Untersuchungsgegenstände durchzuführen. Konkret bedeutete dies, nachzuvollziehen, wie sich anhand der Textauswahl die Debatten um das postkoloniale Erinnern formierten und wie Menschen und Dinge in Beziehung zueinander gesetzt und entsprechend definiert, gruppiert und eingeordnet werden. Auf die Identifizierung der untersuchten Gegenstände folgte die Zusammenstellung der Quellen für das Materialkorpus, um die emotionalen Diskurse rekonstruieren zu können. Diaz-Bone (2006) verweist in diesem Zusammenhang auf die rekursive Forschungspraxis, bei der es zum einen notwendig werden kann, weiteres Material theoriegeleitet im Forschungsprozess hinzuzuziehen, um die Rekonstruktion abschließen zu können. Zum anderen bedeutet ein solch nichtlinearer Forschungsprozess ein wiederholtes Neu- und Gegenlesen der Theorien und Forschungsliteratur und entsprechend die Erschließung eines umfassenden Quellenbestands (vgl. Diaz-Bone 2006, 78), um den Regeln des Sag-, Denk- und Fühlbaren auf die Spur kommen zu können. Forschungspragmatisch wird für das zusammengestellte Materialkorpus zunächst vorausgesetzt (Kap.  6.2), dass er eine aufzudeckende „Wissenspraxis“ bereithält (Diaz-Bone 2006, 79), die im weiteren Forschungsverlauf anhand der Einzeltextanalyse rekonstruiert wird. Um der bestehenden Wissenspraxis auf die Spur zu kommen, muss laut Kerchner (2011, 10) überprüft werden, welche Äußerungen sich durch „Wiederholung, Verstärkung, Zustimmung“ zu wiederholbaren Aussagen verdichten, die als ‚Wahrheiten‘ anerkannt werden. Diese Verdichtung von Äußerungen zu Aussagen lässt sich allerdings nicht nur anhand der diachronen Betrachtung nachvollziehen, sondern auch, wenn sich die Analyse synchron auf die Suche nach der „Zirkulation“ begibt (Kerchner 2011, 10). Konkret leitet sich daraus die

Auswertung des Materialkorpus 

 155

Frage ab, inwiefern sich eine transnationale Zirkulation von Begriffen zwischen Deutschland und Frankreich ausmachen lässt. Auf welche Art und Weise finden koloniale Vergangenheiten in beiden Ländern politische Anerkennung? Wie transformieren sich die genutzten Begriffe? Anhand der Zirkulation und Transformation von Aussagen lässt sich schließlich nachverfolgen, auf welche Weise Aussagen persistent sind oder verschwinden und sich neue Äußerungen zu Aussagen verstetigen (vgl. Foucault 2015 [1969], 153). So gesehen untersucht die Diskursanalyse, „wie spezifische Äußerungen zu einer Zeit in bestimmte Redeordnungen eingreifen, wie im Reden die geltenden Regeln übernommen oder verworfen werden, wie alte und neue Regeln des Aussagens die Möglichkeitsbedingungen des Handelns bestimmen“, wobei folglich der „‚Ort‘ der Machtausübung im Diskurs“ liegt (Kerchner und Schneider 2006, 24, Hervorhebung im Original). Um die Verdichtung des im Material Ausgesagten zu ‚Wahrheiten‘ und die damit verknüpften emotionalen Diskurse und Ordnungen rekonstruieren zu können, habe ich für die folgende Übersicht die theoretischen Überlegungen der vorangegangenen Kapitel in Fragen überführt, die ich an die einzelnen Texte im Materialkorpus gerichtet habe. Tab. 1: Strukturierende Analysefragen

Vergessen

Multidirektionalität

Akteur:innenposition

Affizierung

Analysefragen Linguistische und visuelle Marker

1. Welche Emotionen tauchen auf? 2. Wie wird in den Texten über Emotionen gesprochen? 3. Welche Begriffe/Konzepte/etc. werden mit emotionalen Darstellungen verknüpft?

Regeln und Normen

4. Welches emotionale Wissen liegt vor (implizit, explizit)? 5. Was ‚sollte‘ wie gefühlt werden? 6. Was ist ‚richtiges‘ Fühlen?

Herstellung von Akteur:innen und Othering

7. Wer wird emotional adressiert? 8. Wer darf sprechen? Wie konstituiert sich der:die Akteur:in im Diskurs? 9. Wem wird das Sprechen verweigert?

Erinnerungsreferenzen

10. Welchen Bezug stellt der Text zu historischen Ereignissen her? 11. In welchem Zusammenhang stehen NS, Holocaust/ Shoah, armenischer Genozid etc. und Kolonialverbrechen zueinander?

Aktuelle Politik

12. Werden Bezüge zu aktuellen politischen Themen hergestellt? Wie?

Praktiken der Entinnerung//(Dis-) Kontinuität

13. Wie wird Vergessen sozial erzeugt bzw. überwunden? 14. Werden historische bzw. Erinnerungskontinuitäten erzeugt?

156 

 Erinnerungspolitiken verstricken

Temporalität

Transnationalität

Analysefragen Hybridisierung

15. Wie beziehen sich Frankreich und Deutschland erinnerungspolitisch aufeinander? a) Universalisiert sich die Erinnerungsrhetorik? b) Wird die transnationale Referenz nationalstaatlich gewendet?

historische vs. juristische Zeit

16. Welche Vorstellungen von Temporalität werden entworfen? 17. Wie verschiebt sich das Verhältnis von historischen zu juristischen Zeitvorstellungen?

An verschiedenen Stellen dieser Arbeit habe ich argumentiert, dass es die diskursivität von Emotionen voraussetzt, über die Beschreibung linguistischer Merkmale hinauszugehen (vgl. Foucault 2015 [1969], 157). Dennoch muss die Affizierung postkolonialer Erinnerungspolitiken zunächst auf der textlichen Ebene der einzelnen Quellen analytisch greifbar gemacht werden, um sie vor dem Hintergrund des umfassenden Quellenbestands interpretieren zu können. Wie dies methodisch umgesetzt werden kann, erläutere ich im Folgenden.

6.3.2 Die Identifizierung sprachlicher Marker in der Einzeltextanalyse Foucault (2015 [1969], 133) unterstreicht in der Archäologie wiederholt, dass sich Diskursanalysen keineswegs auf eine formale sprachliche oder linguistische Analyse reduzieren ließen. Demnach wäre es zu kurz gegriffen, ausschließlich die auf der textlichen Ebene auftauchenden Emotionswörter zu analysieren. Dennoch kann auf die Anwendung sprachlicher Analysewerkzeuge für die systematisierte Betrachtung der textlichen Ebene nicht verzichtet werden, auch wenn die in dieser Arbeit konzipierte Diskursanalyse keine linguistische ist. Für die Einzeltextanalyse orientiere ich mich an den Vorschlägen der Politikwissenschaftler Simon Koschut et al. (2017) und des Soziologen Jochen Kleres (2010). Koschut et al. (2017) schlagen drei Analyseperspektiven für die Betrachtung der Einzeltexte vor: 1. die Identifizierung von Emotionswörtern, 2. deren Konnotationen und 3. die Verwendung von Metaphern, Vergleichen und Analogien. Bei Emotionswörtern handelt es sich um Begriffe, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Empfinden stehen, wie etwa ‚Scham‘, ‚Trauer‘, ‚Reue‘, ‚Angst‘ usw. und ihre jeweiligen Adjektive. Der Blick auf die verwendeten Emotionswörter ist vor allem in der vergleichenden Perspektive wichtig, da je nach sprachlichem Kontext semantische und lexikalische Abweichungen auftreten und somit unterschiedliche Wissensbestände transportiert werden können (vgl. Koschut et al. 2017, 483). Im wissen-

Auswertung des Materialkorpus 

 157

schaftlichen Kontext zeigt sich dies beispielsweise hinsichtlich der Verwendung des französischen Begriffs émotion, der im Gegensatz zur deutschen Verwendung einen kurzfristigen Impuls beschreibt (vgl. Corbin et al. 2016–2017; Deluermoz et al. 2013, 4). Neben den genutzten Emotionswörtern müssen außerdem Begriffe in die Analyse Eingang finden, denen in der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung ein ‚affektiver Gehalt‘ zukommt und die Koschut als „emotionale Konnotationen“ bezeichnet (Koschut et al. 2017, 483). Demnach ließe sich beispielsweise fragen, welche emotionalen Diskurse mit der Verwendung des Wortes „Konzentrationslager“ verknüpft sind (vgl. Koschut et al. 2017, 484), in welchen Kontexten dieser Begriff im Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit Anwendung findet und worin sich die Nutzung im deutschen und französischen Fall unterscheidet. Ähnliches lässt sich für den fait colonial (kolonialer Fakt) oder das ‚historische Trauma‘ untersuchen. Koschut et al. machen dahingehend deutlich, dass außerdem auf die sprachlichen Markierungen geachtet werden muss, die durch die Anzeige von Dauer und Intensität die „emotionale Wertigkeit“ verändern können (Koschut et al. 2017, 483–484). Der Soziologe Jochen Kleres (2010, 194), der ein linguistisches Vorgehen zur Analyse von Emotionen in Texten vorschlägt, weist darauf hin, dass insbesondere über Vergrößerungs- und Verkleinerungsformen, bewertende Prä- oder Suffixe, Assoziationen, Partikel und Modalwörter wie z. B. ‚endlich‘, ‚natürlich‘, ‚sehr‘, oder auch ‚leider‘ den verwendeten Emotionen ein bestimmter Ausdruck verliehen werden kann. In einem dritten Schritt sollen Metaphern, Vergleiche und Analogien untersucht werden. Die Rede von der ‚offene Wunde‘, mit der nicht aufgearbeitete Vergangenheiten oft beschrieben werden (vgl. Stora 1998 [1991]), schreibt der historischen Erfahrung zwar eine hohe Bedeutung zu, überführt die Prozesse ‚sozialen Erinnerns‘ allerdings in einen biologistischen Terminus, über den wiederum gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse verhandelt werden. Um diesen Konnotationen nachzugehen, bedarf es einer Betrachtung der gesamten Struktur des Textes. Konkret heißt dies, nach Gegensätzen, Ausschmückungen, der Detailtreue, Ironie etc. zu suchen (vgl. Kleres 2010, 190–192), um der Frage nachzugehen, wie die affektive Wissensproduktion mit der Erinnerung an den Kolonialismus zusammenhängt. Gleichzeitig verweist der Blick auf die Analogien und Vergleiche auf die Wichtigkeit, Emotionswörter und emotionale Konnotationen in ihren jeweiligen thematischen Kontexten zu verstehen (vgl. Kleres 2010, 184). Anhand der Analyse möglicher multidirektionaler Bezugnahmen auf der Ebene des Einzeltextes lassen sich die jeweiligen Relativierungen oder Bedeutungszuschreibungen der Erinnerung an die kolonialen Vergangenheiten nachvollziehen. Wenngleich in diesem Unterkapitel ein besonderer Schwerpunkt auf die Analyse von Emotionen und Affekten in den Einzeltexten gelegt wurde, so müssen die zuvor entwickelten strukturierenden Analysefragen in einem relationalen Zusammenhang miteinander ver-

158 

 Erinnerungspolitiken verstricken

standen werden. Erst, indem die Analysefragen auf das gesamte Materialkorpus eines Untersuchungsgegenstands angewendet werden, können die unterschiedlichen Wissensbestände erschlossen sowie die diskursiv erzeugten Ein- und Ausschlüsse nachvollzogen werden.

6.3.3 Qualitative Materialauswertung mit der Software MAXQDA Zur Auswertung der Einzeltexte habe ich die Software MAXQDA verwendet, die sich für diverse methodologische und methodische Analysen eignet (vgl. Kuckartz und Rädiker 2019, 7). Mithilfe der Codierungsmöglichkeiten konnten sowohl Emotionswörter als auch emotionale Konnotationen markiert und thematischen Kontexten zugeordnet werden. Die Codierung erfolgte dabei sowohl deduktiv als auch induktiv (vgl. Diaz-Bone 2006, 79): Viele der identifizierten Emotionswörter oder der emotionalen Konnotationen leiteten sich induktiv anhand ihres wiederholten Auftauchens im Materialkorpus ab. Gleichzeitig wurde das Material theoriegeleitet hinsichtlich relevanter Konzepte deduktiv untersucht. In diesem rekursiv angelegten Forschungsprojekt wurde ein Codierungssystem entworfen, das immer wieder verändert und erweitert wurde (vgl. Kuckartz und Rädiker 2019, 67). Außerdem verfügt das Programm über die Funktion, die analysierten Texte mit Zusammenfassungen zu versehen sowie die erwähnten selbstreflexiven Memos abzulegen, die sich sowohl auf den gesamten Text als auch auf einzelne Textabschnitte beziehen können (vgl. Kuckartz und Rädiker 2019, 52–53). Insbesondere hinsichtlich der durch die Textlektüre evozierten Emotionen war das Anlegen der Memos ein wichtiger Bearbeitungsschritt, um mir zu vergegenwärtigen, was bestimmte Texte in mir auslösten, wie dies meine Bewertung der erinnerungspolitischen Ereignisse beeinflusste und beispielsweise Abwehrhaltungen oder Sympathien auslöste. Wiederholt war ich damit konfrontiert, dass die mediale Behandlung nationalsozialistischer und kolonialer Gewalt unterschiedliche emotionalen Reaktionen bei mir hervorrief. Die methodisch geleitete Verschriftlichung meiner emotionalen ‚Schieflagen‘ (bias) verhalf mir zu einem selbstreflexiven Umgang mit meiner eigenen Positionierung im Untersuchungsfeld. Basierend auf den erstellten Memos konnte ich Gespräche in unterschiedlichen Forschungskontexten suchen, um somit eine gewisse Distanzierung zum Material herzustellen. Für die Diskursanalyse, die das gesamte Materialkorpus für den gewählten Gegenstandsbereich in den Fokus stellt, hat vor allem die Übersichtlichkeit der Quellenanordnung in MAXQDA den Auswertungsprozess und die Identifikation zitierfähiger Quellen erleichtert. Zum einen lassen sich die jeweiligen Codierungen, Memos und Zusammenfassungen tabellarisch zusammenstellen und zum

Auswertung des Materialkorpus 

 159

anderen können Texte entsprechend ihrer Codierungen, beispielsweise in Bezug auf die identifizierten Emotionswörter oder ihren thematischen Zusammenhang, gruppiert werden (vgl. Kuckartz und Rädiker 2019, 75–79). Anhand der Häufigkeit auftauchender Begriffe oder der multidirektionalen Bezugnahmen lassen sich die Zitationen, Wiederholungen und entsprechend die Zirkulation von Wissenselementen über die koloniale Vergangenheit und damit ihre Verstetigung zu Wahrheiten nachvollziehen (vgl. Landwehr 2009; Kap. 5). Aufgrund der unterschiedlichen Sprachen und auftauchenden Konzepte bot es sich nicht an, beide Fälle in einem gemeinsamen Dokument in einer vergleichenden Perspektive anzulegen. Somit erleichterte die nach Untersuchungsgegenständen getrennte Betrachtung die rekonstruktive Wiedereinbettung der Fälle, um den Wandel erinnerungspolitischer Debatten nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Software habe ich dabei vor allem als ein Hilfsmittel verstanden, mit dem ich sowohl meine Reflexionsprozesse als auch meine wissenschaftliche Haltung transparent machen konnte. Wichtig waren jedoch die strukturierenden Analysefragen, die den Rahmen bereitstellten, um die postkolonialen Erinnerungspolitiken Deutschlands und Frankreichs miteinander ins Verhältnis zu setzen.

7 Z  wischen Anerkennung und Verkennung: Die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten als moralisches Kollektivideal? Am 10. Juni 1999 beschließt die französische Assemblée Nationale in einem Gesetzesvorschlag die offizielle Anerkennung des Algerienkriegs. Frankreich erkennt damit an, zwischen 1954 und 1962 in einem Kolonialkrieg in Algerien verwickelt gewesen zu sein. Bis dahin war von staatlicher Seite einzig die Rede von den in „Nordafrika durchgeführten Operationen“ (Renken 2006, 437). Der „guerre sans nom“ (Bacque, 11.06.1999, Le Monde, 40) erhielt nach 37 Jahren seine offizielle Bezeichnung als Algerienkrieg. Auch im deutschen Fall resultiert die Forderung nach einer Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama zuerst in der offiziellen Benennung der von der deutschen Kolonialarmee begangenen Verbrechen. Im Jahr 2015 wird während einer Bundespressekonferenz die offizielle Leitlinie der Bundesregierung bekannt gegeben, fortan von „Völkermord“ zu sprechen. Allerdings vermeidet der Pressesprecher des Auswärtigen Amts in seiner Erklärung jedwede Verwendung des Begriffs. Ein Jahr später wurde in einer weiteren Bundespressekonferenz die nunmehr offizielle Haltung der Bundesregierung bestätigt. Ergänzend wurde außerdem eine offizielle Entschuldigung für den Völkermord gegenüber der namibischen Regierung in Aussicht gestellt – die allerdings bis heute noch nicht realisiert wurde. Das Benennen von Ereignissen der Vergangenheit beschreibt durch deren „Sagbarmachung“ einen „Prozess der Anerkennung“, wie die Historikerin Yvonne Robel in ihrer Dissertation Verhandlungssache Genozid (2013, 74) hervorhebt. Außerdem, so Robel (2013, 74), konstituiere der „Anerkennungsakt“ gleichzeitig das ‚Opfer‘ als Produkt des Diskurses aufgrund seiner zentralen Bedeutung in der Aufarbeitung kolonialer Gewalt. Daraus resultiere gemeinhin die Annahme, wie die Historikerin feststellt, dass das Benennen vergangener Verbrechen gleichzeitig deren Anerkennung und die Anerkennung der ‚Opfer‘ impliziere. Auf welche Weise die Anerkennung vergangenen Unrechts mit der Anerkennung der ‚Opfer‘ (oder deren Nachfahren) verknüpft wird, zeigt sich an den zunehmend ethischnormativen Forderungen nach einer Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ (vgl. Sznaider 2011). Der gesellschaftliche Wandel, der die Forderung nach einer Anerkennung historischer Leiderfahrungen zum konstitutiven Moment erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen macht, lässt sich seit den 1990er Jahren beobachten. Für den Soziologen Natan Sznaider (2011, 252) begründet sich die Entstehung eines „new system of universalized sympathy for the suffering of others“ mit der Universalisierung des Holocaust-Gedenkens und der damit zusammenhängenden https://doi.org/10.1515/9783111018683-007

Zwischen Anerkennung und Verkennung 

 161

Kodifizierung der Erfahrung von ‚Leid‘. Aleida Assmann spricht in ihrem Buch Der lange Schatten der Vergangenheit (2014 [2006], 76) von einer „ethische[n] Wende“, bei der zunehmend die Opfer von Massenverbrechen ins Zentrum des Erinnerns rückten. Diese Verschiebung vom Helden- zum Opfergedenken erklärt der Politikwissenschaftler Barkan (2002, 9, 11), wie ich bereits in Kapitel 2.4 ausgeführt habe, mit dem Wandel der „moralischen Rhetorik“. Als Ausdruck einer „neuen internationalen Moral“ bezeichnet er die Bereitwilligkeit der ‚Täter‘, historisches Unrecht aufgrund eines gesteigerten Mitgefühls gegenüber den ‚Opfern‘ aufzuarbeiten (Barkan 2002, 358). Den Zusammenhang von ‚Schuld‘ und ‚Leiden‘ beschreibt Barkan folgendermaßen: An einem Ende des Spektrums befindet sich die Schuld des Nichtleidens im Angesicht derer, die leiden. Ob jemand – oder die Vorfahren von jemandem – dieses Leid verschuldet haben, spielt keine Rolle. Allein die Tatsache, dass ein anderer auf Grund menschlicher Taten leidet und dass man es entweder ignoriert oder wahrnimmt, aber nichts unternimmt, reicht aus, um schuldig zu sein. (Barkan 2002, 358)

Das daraus resultierende „Empfinden von Schuld“, welches nicht mehr an tatsächliche und vor allem personalisierte Täterschaft geknüpft ist, statte die ‚Opfer‘ und deren Nachfahren mit einer „moralischen Überlegenheit“ aus, mit der sie ihre Forderungen gegenüber den ‚Täterstaaten‘ durchsetzen können. Die proklamierte „Ausweitung des Mitgefühls auf die Schwachen“ (Barkan 2002, 358) fußt auf der Implementierung global geltender moralischer Normenvorstellungen, die eine Aufarbeitung historischen Unrechts zur Pflicht erklären. Dabei bleibt der Zusammenhang zwischen der Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ aufgrund ihrer vermeintlich ‚moralischen Überlegenheit‘ jedoch weiterhin erklärungsbedürftig. Anders als gemeinhin mit den „Politiken der Anerkennung“ (Taylor et al. 2017 [1994]) intendiert wird, geht es mir nicht um die Anerkennung marginalisierter Identitäten. Stattdessen konzentriere ich mich auf die politische Durchsetzung von Anerkennung, indem das historische ‚Leiden der Anderen‘ – und folglich deren ‚Opferstatus‘ – als diskursiv vermittelte Repräsentationen Bedeutung für die Konstitution der Gegenwart erlangen. Bedeutung in der Gegenwart – und mit Robel (2013, 74) gesprochen „Gedenkrelevanz“ – erlangen die kulturellen Repräsentationen vergangener Ereignisse nur, wenn sie diskursiv als ‚Leid der Anderen‘ affiziert werden (vgl. Kleinman et al. 2010, xii). Dabei wird dieses Kapitel zeigen, dass weder alle Vergangenheiten noch alle Betroffenen historischer Gewalt als ‚Opfer‘ gleichermaßen anerkennbar sind. Aus diesem Grund müssen die ungleichen Machtverhältnisse Beachtung finden, die bei der Anrufung der als universell verstandenen moralischen Normen zumeist verdeckt werden. Um die in den etablierten Moralitätsvorstellungen eingeschriebenen Machtverhältnisse kenntlich zu machen, verfolge ich die These, dass die Hervorbringung morali-

162 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

scher Standards in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten auf der Hervorbringung und Verstetigung emotionaler Diskurse beruht (vgl. Kap. 4). Emotionale Diskurse bringen nicht nur das ‚Leid der Anderen‘ hervor, sie konstituieren auch ihre gegenwärtige Relevanz durch die Art und Weise ihrer Mediatisierung (vgl. Kap. 4.4). Erst im Prozess der diskursiven Affizierung schreibt sich das ‚Leid der Anderen‘ „als Verkörperung kollektiver Erinnerungen“ (Kleinman 1997, 317) in der Gegenwart ein, wodurch dessen Aufarbeitung zur moralischen Pflicht wird. Im vorliegenden Kapitel rekonstruiere ich zum einen die emotionalen Diskurse und deren Rolle in der Herstellung moralischer Standards hinsichtlich der Anerkennung des Algerienkriegs in Frankreich und des Völkermords an den OvaHerero und Nama in Deutschland. Zum anderen analysiere ich, auf welche Weise das ‚Leid der Anderen‘ erinnerungspolitisch hergestellt wird und die Forderungen nach Anerkennung entweder Akzeptanz gewinnen oder verworfen werden. Der empirischen Untersuchung vorangestellt folgt eine theoretische Verortung des Anerkennungsbegriffs für die Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken (Kap. 7.1). Für die empirische Analyse werte ich die Parlamentsdebatte in der französischen Assemblée Nationale vom 10. Juni 1999 aus, in der der „Krieg ohne Namen“ zu seiner offiziellen Bezeichnung als Algerienkrieg gelangt (Kap.  7.2). Anschließend konzentriere ich mich auf die Anerkennungsdebatte in Deutschland, die am 10.  Juli 2015 ihren Anfang nahm, als in einer Regierungspressekonferenz der Begriff „Völkermord“ zum offiziellen Sprachgebrauch deklariert und 2016 mit der Ankündigung bestätigt wurde, eine offizielle Entschuldigung gegenüber der namibischen Regierung zu formulieren (Kap. 7.3). Im deutschen wie auch im französischen Fallbeispiel wird dabei deutlich, dass die rhetorische Bezugnahme auf moralische Register bei der Benennung des Algerienkriegs bzw. des Genozids weitere erinnerungspolitische Zugeständnisse zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit unterbinden soll. Im deutschen Fall wird die wiederholte Zusicherung einer „moralischen und historischen Verantwortungsübernahme“ für Namibia in die Zahlung von Entwicklungshilfegeldern übersetzt. In der französischen Parlamentsdebatte von 1999 zeigt sich wiederum, dass das entworfene Moralitätsverständnis, das die Anerkennung des Algerienkriegs begründet, eine kritische Lesart des französischen Kolonialismus verhindert. In den Kapiteln 7.4 und 7.5 zeige ich zuerst, wie sich in der Berichterstattung über die ‚Anderen‘ das jeweils ‚nationale‘ Geschichtsverständnis hinsichtlich des Blicks auf die koloniale Vergangenheit bestätigt, bevor ich die Ergebnisse des Kapitels abschließend in 7.6 zusammenführe.

Die Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ 

 163

7.1 D  ie Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ als moralisches Kollektivideal? Im Jahr 1992 und somit in der Dekade, in der Barkan und andere die ‚ethische Wende‘ (Assmann 2014 [2006], 76) verorten, veröffentlichte der Philosoph Charles Taylor seinen Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (2017 [1992]). Vielfach zitiert gilt der Text als Ausgangspunkt für die in den folgenden Jahren formulierten Anerkennungstheorien (vgl. Butler 2017 [2005]; Fraser und Honneth 2003; Hayden und Schick 2016; Honneth 2016 [1994]). Taylor (2017 [1992], 60) geht von der Beobachtung aus, dass Minderheiten und marginalisierte Gruppen zunehmend Anerkennung und gleiche Rechte einforderten, was die „Politiken der Anerkennung“ zum konstitutiven Moment der Gegenwart machte (für einen Überblick verschiedener Anerkennungstheorien vgl. de Wolff 2021, 190–199). Grundlegend geht der Philosoph in seinem Essay von der hegelianischen Annahme aus, dass sich die Anerkennung des Selbst im intersubjektiven dialogischen Austausch mit der Gesellschaft ausbilde und daher ein „menschliches Grundbedürfnis“ (Taylor 2017 [1992], 15) beschreibe. Dabei habe sich die Überzeugung durchgesetzt, dass „wir durch Anerkennung geformt“ seien, weswegen ihr ein zentraler Stellenwert für die Wahrnehmung des Selbst zukomme (Taylor 2017 [1992], 60). Aus diesem Grund sei die Anerkennung des Selbst und der ‚Anderen‘ ganz grundsätzlich mit der Ausbildung, Bestätigung oder auch mit der Zurückweisung von Identitäten verknüpft. Taylors grundlegende These lautet: [U]nsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen kann […], wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form der Unterdrückung sein, […]. (Taylor 2017 [1992], 14)

Wenn eine gesellschaftliche Verkennung der ‚Anderen‘ möglich ist, wirft dies die zentrale Frage auf, wer die Macht hat, Anerkennung zuzugestehen oder zu verweigern. Frantz Fanon, den Taylor als einen zentralen Autor eines differenztheoretischen Verständnisses von Anerkennung zitiert, hat insbesondere die kolonialen Machtverhältnisse und folglich das Verkennen als Mechanismus kolonialer Unterwerfung adressiert (vgl. Taylor 2017, 60–61). In seinem Buch Black Skin, White Masks (Schwarze Haut, weiße Masken) (2008 [1952]) beschreibt Fanon, wie mittels der objektivierenden und rassifizierenden Blicke der ‚Weißen‘ das ‚Schwarze‘ Subjekt hervorgebracht wird und sich die ‚weiße‘ Konstruktion von ‚Schwarzsein‘ als Ausdruck von Minderwertigkeit in die „leibliche Existenz“

164 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

einschreibt (Fanon 2008 [1952], 82–108, insb. 87). Für den Philosophen Thomas Bedorf (2010) begründet sich Fanons Bezugnahme auf die ‚weißen Anderen‘ damit, weil diese der Grund sind, warum das ‚Schwarze‘ Subjekts nach Anerkennung strebt. Denn die ‚Weißen‘ „stell[en] jeden erstrebenswerten Status dar, der aus der unterdrückten Position befreien könnte“; aufgrund des hierarchisch organisierten kolonialen Systems sei dieser ‚Wunsch‘ jedoch „unerfüllbar“ (Bedorf 2010, 31). Der Blick auf die Theorien Taylors und Fanons verdeutlicht, dass die ‚Politiken der Anerkennung‘ vor allem als Anerkennung von Identitäten diskutiert werden, bei denen zunehmend die „negativen Begleiterscheinungen“ in den Fokus gerückt worden sind. Assmann beispielsweise spricht von einer „viktimologischen Identitätspolitik“ (2014 [2006], 79), mit der Erinnerungsaktivist:innen ihre ‚Opfergeschichten‘ instrumentell für redistributive Zwecke einsetzten. Diese Entwicklung hält die Kulturwissenschaftlerin für hinderlich in der Aufarbeitung gewaltvoller Vergangenheiten, da diese „auf Opfersemantik fußende Identitätspolitik“ (Assmann 2014 [2006], 81) zu einer Überbetonung der Leiderfahrungen der ‚Opfer‘ führe und instrumentalisiert werde, um die Gruppeninteressen durchzusetzen (vgl. Assmann 2014 [2006], 77–79). Erkenntnisbringender als Assmanns Vorwurf der Identitätspolitik scheint mir jedoch, diesen als erinnerungspolitisches Machtinstrument aufzufassen, mit dem Forderungen nach Entschädigungen, Entschuldigungen und der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten abgewehrt werden können (vgl. McQueen, 31.08.2021). Schließlich brachte es der Wandel von der historischen ‚Heldenverehrung‘ zum ‚Opfergedenken‘ mit sich, dass die Anerkennung als „kollektives Opfer“ zur Grundbedingung für die Anerkennung von Massengewalt wurde (Robel 2013, 81). Nur eine Zuerkennung des Opferstatus ermöglicht es, den Geschädigten politische Forderungen zu stellen, weswegen sich die Anerkennung als ‚Opfer‘ als erinnerungspolitischer Aushandlungsprozess vollzieht. Robel (2013, 81) hat in ihrer Arbeit unterstrichen, dass im Kontext historischer Massengewalt nicht nur eine Anerkennung als „kollektives Opfer“ ausschlaggebend ist, sondern sich der Opferstatus als genealogische Kategorie auch auf die Nachfahren ausweitet. Mit dieser Entwicklung treten allerdings auch die Ambivalenzen des Opferbegriffs zutage. Während sich aus der Zuschreibung der Opferrolle die Relevanz zur Verantwortungsübernahme in der Gegenwart ableitet, wird der Opferstatus gleichsam als unüberwindbar fixiert. Das ‚Opfer‘ steht somit nicht nur für das Erleben „asymmetrischer Gewaltformen“, sie verbleiben zugleich auch in der „Logik von Verlust, Erleiden und Gewaltunterworfenheit“ (Stegemann 2000, 193, zit. in: Robel 2013, 80). Auf der einen Seite werden somit historische Ambivalenzen nivelliert, die eine dichotome Zuweisung als ‚Täter‘ oder ‚Opfer‘ erschweren. Gleichzeitig erweist sich die Ausdehnung des Opferbegriffs insbesondere auf die nachfolgenden Generationen

Die Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ 

 165

als schwierig (vgl. Trouillot 2000), beispielsweise in den Fällen, in denen Reparationen auf dem juristischen Weg eingefordert werden (vgl. Kap.  8). Dennoch bleibt es weiterhin relevant, welche Selbstbezeichnungen die Betroffenen bzw. Geschädigten selbst wählen, um ihre politischen Forderungen anerkennbar zu machen (vgl. Robel 2013, 81). Aufgrund der im Begriff angelegten Uneindeutigkeiten werde ich ihn in diesem Kapitel in Anführungszeichen verwenden, um ihn als selbst gewählten Begriff der OvaHerero und Nama nicht unsichtbar zu machen. Entgegen der intersubjektiv gedachten – und daraus folgend als ‚identitätspolitisch‘ abgewerteten – Anerkennungstheorien eines Taylor (vgl. McQueen, 31.08.2021) schreibt die Philosophin Judith Butler (2017 [2005], 62): „Anerkennung zu fordern oder zu geben [heißt] gerade nicht, Anerkennung dafür zu verlangen, wer man bereits ist.“ Bei Butler wird das Selbst folglich in einem diskursiven Prozess konstituiert, indem die ‚Anerkennbarkeit‘ (recognizability) und die Intelligibilität der Subjekte im Kontext der Grenzsetzungen der Diskurse hergestellt werden. Ähnlich wie bei Fanon treten vor allem die ungleichen Machtbeziehungen zutage, die den Kampf um Anerkennung (Honneth 2016 [1994]) bestimmten (vgl. Butler 2017 [2005], 62). Relevant für die erinnerungspolitische Fragestellung dieser Arbeit werden Butlers Überlegungen vor allem dann, wenn Butler auf die ungleiche ‚Verteilung von Betrauerungswürdigkeit‘ zu sprechen kommt. Am Beispiel von US-amerikanischen Traueranzeigen, in denen die von den USA verschuldeten Kriegstoten keine Erwähnung finden, macht sie deutlich, dass deren Tod keine Anerkennung erfährt, also deren Leben „nicht betrauernswert“ ist (Butler 2017 [2005], 50–51). Als Folge ist es für Butler „nicht nur so, dass ein Tod kaum erinnert wird, sondern dass er nicht erinnerbar ist“ (Butler 2017 [2005], 50–51). Gewendet auf die Aufarbeitung der Vergangenheit stellt Robel fest: An Fälle von Massengewalt zu erinnern, heißt zunächst, über sie zu sprechen bzw. sie als relevant genug zu erachten, dass über sie gesprochen wird (und werden sollte) und dass sie damit Sinnangebote für die Gegenwart bieten (könnten). Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich durch die Tatsache des Sprechens bzw. des Sagbarmachens ein Prozess der Anerkennung vollzieht. Im Bekenntnis zur Gedenkrelevanz bis hin zur Erinnerungspflicht bestätigt sich der performative Charakter von Gedenkakten: ‚Wir gedenken‘ heißt im übertragenden Sinne, ‚wir erkennen hiermit Gedenkrelevanz an‘. (Robel 2013, 74)

Anhand des bisher Aufgezeigten scheinen mir für die Analyse von Anerkennungsprozessen vergangener Verbrechen drei Elemente wesentlich: Erstens setzt die Sichtbarmachung des ‚Leids der Anderen‘ zunächst ein Erkennen voraus, das, wie Butler insistiert, nur möglich ist, wenn im Diskurs die Bedingungen seiner Anerkennbarkeit erfüllt sind – d. h. konkret auch, dass mediale Sichtbar-

166 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

keit keineswegs mit Anerkennung gleichzusetzen ist (vgl. de Wolff 2021, 193).25 Zweitens richtet sich mit der Frage nach der Erinnerbarkeit kolonialer Gewalt das Interesse auf die sogenannten ‚Täter‘-Gesellschaften, an die sich die Forderungen nach Anerkennung zum überwiegenden Teil richten. Drittens ist der Moment der Performativität zentral, da sich durch die Anerkennung von „Gedenkrelevanz“, wie Robel (2013, 74) schreibt, die Bedeutung der vormals marginalisierten Vergangenheit ändert und somit weitere Schritte zu deren Aufarbeitung ergriffen werden können (beispielsweise in Form von Entschuldigungen, die in Kapitel 11 behandelt werden). Auf welche Weise sich die Bedingungen der Anerkennbarkeit formieren, rekonstruiere ich im folgenden Kapitel.

7.2 D  er Kolonialismus als Leerstelle in der parlamentarischen Anerkennungsdebatte des Algerienkriegs 1999 Am 10. Juni 1999 stimmten alle 117 anwesenden Vertreter:innen der französischen Assemblée Nationale für einen Gesetzesvorschlag, der die Benennung des Algerienkriegs offiziell anerkannte. Im Oktober desselben Jahres folgte die Annahme durch den Senat. Der „guerre sans nom“26 hatte bis in die 1990er Jahre keine offizielle Bezeichnung im staatlichen Sprachgebrauch. Das Gesetz überwand die langanhaltende Praxis, die kriegerischen Handlungen in Algerien einzig als „Ereignisse“ und „Operationen“ aufzufassen. Umso erstaunlicher ist daher der Befund, dass diese anerkennende Sprachanpassung in der französischen Presse kaum auf Resonanz stößt. Die emotionalen Diskurse, die sich sowohl in der Parlamentsdebatte als auch in der Berichterstattung rekonstruieren lassen, begründen den geringen Nachrichtenwert, der der Anerkennung zugedacht wird. Im Folgenden rekonstruiere ich anhand der Parlamentsdebatte, auf welche Weise die Parlamentsabgeordneten die Benennung des Algerienkriegs als moralisches Kollektivideal konstruieren und dabei gleichzeitig versuchen, einen erinnerungspolitischen Abschluss der Beschäftigung mit dem Algerienkrieg zu erzielen.

25  Für eine Analyse der Darstellung und des Umgangs mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama in der deutschen Presseberichterstattung im Zeitraum von 2001–2016 s. die 2021 erschienene Dissertation Post-/koloniale Erinnerungsdiskurse in der Medienkultur der Medienwissenschaftlerin Kaya de Wolff. 26  Es handelt sich dabei um den französischen Dokumentarfilm von Bertrand Tavernier aus dem Jahr 1992, dessen Titel seither sowohl in wissenschaftlichen Publikationen als auch in journalistischen Texten wiederholt Erwähnung findet.

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 167

7.2.1 „ Le courage, c’est de chercher la vérité“: Anerkennung als moralisches Kollektivideal Das Gesetz von 1999 war eine Initiative der Sozialistischen Partei Frankreichs (Parti socialiste – PS) und schlug die sprachliche Anpassung in zwei bereits bestehenden Gesetzen vor, in denen die Begriffe „opérations“ und „évènements“ mit dem Terminus „guerre d’Algérie“ ersetzt werden sollten (Assemblée Nationale, 10. Juni 1999, 5714). Seit 1974 regelten die schon existierenden Gesetze die Zahlung von Militärrenten an die ehemaligen Soldaten und den Zugang zu speziellen Versicherungen (vgl. Renken 2006, 270–272, 279). Folglich war der Anerkennung des Algerienkriegs im Jahr 1999 bereits die „Anerkennung der Existenz der Algerienkriegsveteranen“ (Renken 2006, 271, kursiv im Original) in den 1970er Jahren vorausgegangen. Federführend setzte sich vor allem die Fédération nationale des anciens combattants en Algérie, Maroc et Tunisie (FNACA) während einer eineinhalb Jahrzehnte währenden Kampagne dafür ein, dass die ehemaligen Wehrpflichtigen (appelés du contingent) im Algerienkrieg die carte du combattant erhielten. Mit diesem Kriegsveteranenausweis wurden die Algeriensoldaten den Veteranen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs zu einem gewissen Grad gleichgestellt. Hinsichtlich der Auszahlung von Renten und materiellen Entschädigungen waren sie gegenüber diesen jedoch weiterhin benachteiligt. Auch das Gesetz von 1999 sah nicht vor, höhere finanzielle Transferleistungen zu erwägen oder eine Gleichbehandlung aller Veteranengruppen zu forcieren (vgl. Renken 2006, 281). Dennoch zeigte sich die FNACA, auf deren politischem Engagement die Gesetzesinitiative der französischen Nationalversammlung beruhte, zufrieden mit der symbolisch verstandenen Benennung des Algerienkriegs. In einem Interview mit La Croix unterstreicht der damalige Präsident des Veteranenverbands Wladyslas Marek, dass die moralische und symbolische Anerkennung schwerer wiege als eine materielle (vgl. Hassoux, 10.06.1999, La Croix, 3). Den ausschließlich symbolischen Charakter der Gesetzgebungsinitiative erklärt Alain Néri, Sprecher des Kulturausschusses und Repräsentant der PS, in der Parlamentsdebatte folgendermaßen: „Nous aurions pu aller plus loin en incluant dans ce texte des mesures matérielles, mais cela aurait conduit, à notre avis, à affaiblir son caractère symbolique, à affaiblir notre volonté de reconnaissance officielle“ (Assemblée Nationale 1999, 5711). Wenig später in der Diskussion verknüpft der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums und Verantwortliche für die ehemaligen Soldaten Jean-Pierre Masseret (PS) diese Form symbolischen Handelns mit Vorstellungen von Moral und Ethik: „Nous aurons naturellement à débattre de ces questions au moment de la discussion budgétaire. Mais aujourd’hui, notre démarche est éthique, morale, et il est bon de ne pas y mêler des revendications matérielles“ (Jean-Pierre Masseret, Assemblée Nationale 1999, 5713, Hervorhebung S. R.).

168 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

Materielle Transferzahlungen auf der einen Seite und moralische Erwägungen auf der anderen werden hierbei als zwei voneinander getrennte Felder entworfen. Auch wenn viele der Sprecher:innen durchaus die Notwendigkeit thematisieren, eine Erhöhung der finanziellen Transfers in Erwägung zu ziehen, treten diese Forderungen hinter der ausschließlich sprachlichen Anerkennung des Algerienkriegs zurück. Diese solle zwar in jedem Fall vollzogen werden, keinesfalls aber zum Preis, „alte Wunden“ wieder zu öffnen (Assemblée Nationale 1999, 5715, 5720). Was als moralische Verpflichtung bezeichnet wird, soll indes keine politischen Konsequenzen im Sinne einer Neuverhandlung der kolonialen Vergangenheit Frankreichs nach sich ziehen. Die Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed (2004, 117) spricht in diesem Zusammenhang von der Aushandlung von „words that [do] less“; also „Worten, die weniger bewirken“. Folglich vermeiden die Parlamentarier:innen in ihrer Suche nach Formulierungen, „that do less“, auch jede kritische Diskussion über die koloniale Vergangenheit Frankreichs. Daran wird deutlich, dass die Anrufung moralischen Handelns nicht nur der Unterscheidung zwischen symbolischer Anerkennung und materieller Kompensation dient, sondern vor allem auf eine politische Handlungsebene zielt. Der schon erwähnte Staatssekretär Masseret sagt von sich selbst, dass er „moralisch und intellektuell“ nicht in der Lage gewesen wäre, ein anderes Wort als „Krieg“ zu verwenden. Folglich ergibt sich für ihn eine moralische Handlungsaufforderung, endlich die offizielle Anerkennung zu vollziehen (vgl. Assemblée Nationale 1999, 5713), bei der die juristische Sprache der sozial gelebten Wirklichkeit in der französischen Gesellschaft angeglichen wird (vgl. Assemblée Nationale 1999, 5711). Die Feststellung, moralisch zu handeln, wird dabei mit den emotionalen Bezügen verbunden, „mutig die Wahrheit zu sprechen“ (Assemblée Nationale 1999, 5725). Der Gesetzestext sei demnach eine „Ausübung der Ehrlichkeit“ (Assemblée Nationale 1999, 5725). Die Einstimmigkeit, mit der die Gesetzesinitiative angenommen wird, aber vor allem die Unvermeidbarkeit ihrer Umsetzung werden hier als moralisches Kollektivideal entworfen, da die Augen nicht mehr vor der historischen „Wahrheit“ verschlossen werden können. Diese Einstimmigkeit, aber auch Eindeutigkeit, mit der sich für die Anerkennung des Terminus „Algerienkrieg“ ausgesprochen wird, deuten auf eine Normalisierung der Umbenennungspraxis. Das moralische Handeln der französischen Parlamentarier:innen äußert sich zum einen im ‚mutigen‘ Einsatz gegen eine juristische Sprachfixierung, die nicht der Alltagssprache entspricht. Zum anderen zielt die moralische Gewissensübung, die „Wahrheit zu sprechen“, auf das Herstellen historischer Eindeutigkeit, indem behauptet wird, dass eine andere Bezeichnung als „Krieg“ niemals denkbar gewesen wäre. Die Verknüpfung moralischen Handels mit der in den Reden hervorgebrachten Selbstverständlichkeit der Normalisierung der Bezeichnung als Krieg verstetigt sich somit zu einer

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 169

emotionalen Gewissheit. Stoler (2009, 69–71) verweist in diesem Zusammenhang auf die Funktion der Machtausübung durch die Herstellung und Verfestigung emotionaler Wissenskategorien. Die Darlegung der emotionalen Diskurse in der Parlamentsdebatte zeigt, wie die Gesetzgebungsinitiative und das damit vermittelte Wissen um die Bezeichnung Algerienkrieg zwar als historisch-evidente Schlussfolgerung konstruiert wird, gleichzeitig aber von politischen Aushandlungsprozessen um materielle Ausgleichszahlungen für die Kriegsveteranen oder gar von weiterreichenden Debatten über den französischen Kolonialismus entkoppelt wurde. Die bisher gepflegte staatliche Tabuisierung des Algerienkriegs wird genauso ausgeblendet wie die ausgetragenen Konflikte verschiedener Erinnerungsträger:innen um die Einführung neuer Gedenktage oder die Forderung, auch deren ‚Leid‘ offiziell anzuerkennen. Stattdessen legen die Redebeiträge der Parlamentarier:innen nahe, dass die ‚leidvollen‘ Erfahrungen des Kriegs ausschließlich in ihrer Einheit für die französische ‚Nation‘ zu erfassen sind.

7.2.2 „ L’histoire douleureuse“: Der Kolonialismus als Leerstelle der gemeinsamen französischen Geschichte In ihren Reden gehen die Parlamentarier:innen weder auf die französischen Kriegsverbrechen, wie etwa die Anwendung der Folter, noch die algerischen Kriegsopfer oder den Kriegsgegner, den FLN, ein. Stattdessen steht die gemeinsam geteilte „schmerzhafte“ Geschichte im Zentrum der Debattenbeiträge. Indem die Parlamentarier:innen wiederholt auf den gemeinsam „geteilten Schmerz“ zu sprechen kommen (Assemblée Nationale 1999, 5712), verwischen sie zum einen die Unterschiede zwischen ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ und entwickeln zum anderen einen vereinfachenden Blick auf die historischen Abläufe (vgl. Renken 2006, 439). Erklärtes Ziel ist, dass das „wahrhaftige“ Sprechen über die „schmerzhafte“ Vergangenheit zu einer Überwindung eben dieser führen soll. Zur Überwindung des ‚Schmerzes‘ soll insbesondere der nationalen Geschichtsschreibung eine exemplarische Funktion in der Herstellung der ‚Nation‘ zukommen. Der Sozialist Jacques Floch beschreibt die versöhnende Kraft der Geschichte in seiner Rede vor der Nationalversammlung, wie folgt: Il est temps, il est grand temps que l’histoire, celle qui apaise les esprits, celle qui ne fait plus saigner les cœurs, celle qui dit le droit, la justice, celle qui suggère l’amitié, la coopération, fasse son œuvre. En acceptant cette proposition de loi, c’est dans cette voie que la France s’engage. (Assemblée Nationale 1999, 5714)

170 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

Das Parlament versteht sich somit als aktives Gestaltungsinstrument für die Ausdeutung der Geschichte. Ziel ist es, die französische ‚Nation‘ in einer „histoire commune“ (Assemblée Nationale 1999, 5713, 5723) zu vereinen, die letztendlich zur ‚Versöhnung‘ des französischen Volkes führen soll. Indem der Algerienkrieg losgelöst von seinen historischen Spezifika benannt wird, wird er gleichfalls seiner Einbettung in die antikolonialen Befreiungskämpfe entzogen. Der Kolonialismus als Herrschaftsstruktur wird folglich zu einer unbenannten Leerstelle in der Debatte. So heißt es beispielsweise im Redebeitrag des Sozialisten Alain Clary (Assemblée Nationale 1999, 5718): „L’histoire de l’Algérie a été marquée par la colonisation, la guerre, les luttes d’indépendance, les violences qui les ont accompagnées : massacres, tueries. Les conséquences s’en font sentir aujourd’hui encore, notamment sur le plan économique.“ Clarys Aussage macht deutlich, wie der Kolonialismus und die Dekolonialisierung der 1960er Jahre zu abstrakten globalen Referenzgrößen reduziert werden (vgl. Assemblée Nationale 1999, 5731). Die koloniale Gewalt, die als Massaker und Morde benannt werden, finden nur als „abstraktes Eingeständnis, ohne Urheber“ (Renken 2006, 439) Erwähnung. Den einzigen konkreten Verweis zum französischen Kolonialismus liefert der neogaullistische Abgeordnete Didier Quentin, der hervorhebt, dass „la France n’a globalement pas à regretter ce qui a été fait en Algérie pendant 132 ans et qui a eu bien des aspects positifs“ (Assemblée Nationale 1999, 5715). In der positiven Aufwertung, die der französische Kolonialismus erfährt, wird auch der Algerienkrieg als Maßnahme der Aufrechterhaltung des kolonialen Status quo legitimiert. Im Bestreben, Wörter zu finden, die der „Beschwichtigung der Gemüter“ dienen, unternehmen die Parlamentarier:innen zudem den Versuch, auch die algerischfranzösischen Beziehungen in den Blick zu nehmen. Die offizielle Anerkennung markiere folglich nur einen ersten Schritt in einem „bon combat pour la paix et la réconciliation“ (Assemblée Nationale 1999, 5713). Den deutsch-französischen Élysée-Verträgen ähnlich, solle schließlich eine „grande reconciliation“ (Assemblée Nationale 1999, 5713) zwischen Frankreich und Algerien erreicht werden. Im Jahr 2005 kam es zu einem jähen Ende der Bemühungen um einen franko-algerischen Freundschaftsvertrag, als im Gesetz vom 23. Februar die politische Rechte versuchte, die Vermittlung „positiver Aspekte“ des Kolonialismus in die schulischen Curricula zu integrieren (Bertrand 2006, 40–41). Schon die Parlamentsdebatte von 1999 markiert durch die Anrufung von „Frieden“ und „Versöhnung“ den französischen Kolonialismus als eine Leerstelle in den staatlichen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit. Koloniale Strukturen und die von ihnen ausgehende Gewalt werden – wenn überhaupt – als abstrakte Gemeinplätze erwähnt. Die Benennung des Algerienkriegs verbleibt auch deswegen auf einer ausschließlich symbolischen Ebene, um letztendlich einen Schlussstrich unter die koloniale Vergangenheit ziehen zu können und das französische Volk mittels

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 171

der einigenden Kraft der Geschichte zu einer „nationalen Leidensgemeinschaft“ zusammenschweißen (Renken 2004). Zusammenfassend konnte ich anhand der Parlamentsdebatte zeigen, dass mittels zweier emotionaler Diskurse eine Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialismus unterbunden wurde. Dazu gehörte erstens die „mutige Wahrheitssuche“, derer sich die Abgeordneten verschrieben haben, um die geänderte Benennungspraxis des Algerienkriegs zu ‚normalisieren‘. Zweitens konnte die Imagination einer ‚weißen‘ französischen ‚Nation‘ aufrechterhalten werden, indem die Parlamentarier:innen wiederholt den gemeinsam erlebten ‚historischen Schmerz‘ hervorhoben. Des Kolonialismus als hierarchische Machtbeziehung zwischen Algerien und Frankreich geriet dabei aus dem Blick und erzeugte eine Leerstelle postkolonialer Erinnerungspolitik. Doch schon im Juni 2000 kann der parlamentarische Konsens nicht mehr aufrechterhalten werden, als eine polemisch geführte Debatte über die von der französischen Armee eingesetzte Folter während des Algerienkriegs ausbricht. In den Jahren 2000/2001, als diese Debatte mit besonderer Heftigkeit geführt wurde, wurden daraus jedoch zunächst keine politischen Konsequenzen gezogen (vgl. Branche 2005, 105). Diese Schwierigkeit einer ‚Versöhnung‘ oft widersprüchlicher erinnerungspolitischer Positionen tritt offenkundig zutage, wenn verschiedene Erinnerungsaktivist:innen ihre gegensätzlichen Forderungen an den Staat richten und die Legitimität ihrer spezifischen ‚Leidensnarrative‘ beanspruchen. Ahmed (2004, 116–117) macht uns allerdings auf den Umstand aufmerksam, dass Akte der Anerkennung weiteres politisches Handeln initiieren, was wiederum die Grundlagen für die Artikulation neuer Forderungen schafft. In diesem Sinne kehrt die Debatte um die Folter im September 2018 ins öffentliche Bewusstsein zurück, als Staatspräsident Emmanuel Macron eine Entschuldigung gegenüber der Witwe des Folteropfers Maurice Audin ausspricht und somit im Namen der Französischen Republik die Verantwortungsübernahme für diese Kriegsverbrechen offiziell machte. In Kapitel 11 werde ich auf die Anerkennung der systematischen Anwendung der Folter während des Algerienkriegs zurückkommen. Dieses Unterkapitel abschließend rekonstruiere ich die Medienberichterstattung um Zusammenhang mit der offiziellen Anerkennung des Algerienkriegs durch die Assemblée Nationale im Jahr 1999.

7.2.3 „ Le passé qui ne passe pas“: Französische Medienberichterstattung über die Anerkennung des Algerienkriegs 1999 Die französische Presse publizierte nur wenige Artikel zwischen dem 10.  Juni 1999, dem Tag der Parlamentsdebatte in der französischen Assemblée Nationale, und dem 5. Oktober, als der Senat den Gesetzentwurf einstimmig annahm. Einzig

172 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

die Zeitungen Le Monde und Libération veröffentlichten mehrere Beiträge und auch längere Meinungsartikel über die offizielle Anerkennung der Benennung des Algerienkriegs und dessen Bedeutung. In den anderen Zeitungen erschienen vornehmlich kurze Meldungen, in denen wiederholt der anerkennende Satz, den das Parlament einstimmig angenommen hat, zitiert wird: „[L]a République française reconnaît les services rendus par les personnes qui ont participé sous son autorité à la guerre d’Algérie ou aux combats en Tunisie et au Maroc entre le 1er janvier 1952 et le 2 juillet 1962“ („La ‚guerre d’Algérie‘ officiellement nommée“, 06.10.1999, Libération, 18). Die Art und Weise der Berichterstattung erklärt indes den überraschend geringen Nachrichtenwert, der der parlamentarischen Gesetzesinitiative beigemessen wird. Mehrfach wird auf den ausschließlich symbolischen Charakter der Anerkennung verwiesen und dass mit dem Gesetz eine schon etablierte Praxis offizialisiert wurde. Bezug genommen wird dabei u. a. auf den damaligen Präsidenten Jacques Chirac, der schon seit 1996 die Anpassung des offiziellen Sprachgebrauchs an die Alltagssprache gefordert hatte (vgl. Fabius, 11.06.1999, lefigaro.fr). Le Monde hebt zusätzlich hervor, dass Politiker:innen wie zuerst Staatssekretär Masseret und später Premierminister Lionel Jospin (PS) den Begriff „Algerienkrieg“ schon ab 1997 verwendet hatten (vgl. Bacque, 11.06.1999, Le Monde, 40). Der Argumentation der Abgeordneten folgend, deuten sich auch in der Medienberichterstattung kaum erinnerungspolitische Konsequenzen durch die offizielle Anerkennung des Algerienkriegs an. In Le Figaro etwa wird der Sprecher des Kulturausschusses Néri (PS) mit der Aussage zitiert, dass mit der Gesetzesinitiative die „Ungerechtigkeit gegenüber den ehemaligen Soldaten Algeriens“ „repariert“ werden könne (Fabius, 11.06.1999, lefigaro.fr). Dass die ‚Reparation der Ungerechtigkeit‘ ausschließlich symbolisch verstanden wird und keine materiellen Kompensationen in Aussicht stellt, wie der Abgeordnete der PS unterstreicht, gibt der Medienberichterstattung allerdings keinen Anlass zu einer kritischen Kommentierung. Vielmehr findet wiederholt Erwähnung, dass die Algeriensoldaten schon 1973 den Veteranenstatus zuerkannt bekamen und fortan Rentenzahlungen vom französischen Staat beziehen konnten. Stattdessen vermitteln die analysierten Zeitungsartikel die Hoffnung, dass mit der Benennung des Kriegs ein „Schlusspunkt“ unter die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit gesetzt werden kann, wie Libération mit Verweis auf Masseret explizit formuliert: Trente-sept ans après les accords d’Evian, le gouvernement estime donc qu’il est temps de mettre un point final à cette affaire. La quasi-unanimité politique lui (Masseret, Anm. S. R.) fait penser que l’initiative parlementaire n’ouvrira pas un débat au sein de la communauté pied-noir, la plus hostile à cette reconnaissance. (Grosjean, 10.06.1999, Libération, 20–21)

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 173

Masseret führt als Grund die „Macht der Gefühle“ an, die über lange Zeit verhinderten, dass man sich dieses Themas annehmen konnte (Grosjean, 10.06.1999, Libération, 20–21). Im Mittelpunkt stehen zum damaligen Zeitpunkt insbesondere die sogenannten pieds-noirs als zentrale erinnerungspolitische Akteur:innen, auf die nicht nur der genannte Libération-Artikel Bezug nimmt. Als Anhänger:innen der Algérie française geltend, lehnten diese das Eingeständnis ab, dass Frankreich zwischen 1954 und 1962 einen Krieg mit Algerien führte, weil dies bedeuten würde, den kolonialen Charakter der Beziehung zwischen Algerien und Frankreich anzuerkennen. Dass die Anerkennung einstimmig von den Parlamentarier:innen entschieden wurde, sollte ihr eine Selbstverständlichkeit verleihen, um zu vermeiden, „die noch offenen Wunden wieder aufzureißen“ („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde). Als Ausdruck einer erinnerungspolitischen ‚Normalisierung‘ steht die Benennung des Kriegs für die Anpassung an eine ohnehin bestehende „réalité vécue“. Dabei werden zwei Gründe für die konstruierte Unvermeidbarkeit der semantischen Anerkennung des Algerienkriegs angeführt: erstens der Generationenwechsel in den politischen Verantwortungspositionen und zweitens der erinnerungspolitische Bedeutungsgewinn des Algerienkriegs aufgrund des Papon-Prozesses 1997/1998, in dem das Vichy-Regime und der Algerienkrieg multidirektional miteinander verwoben werden, wie ich im Folgenden ausführe. Die Einstimmigkeit, mit der sowohl das Parlament als auch der Senat das Gesetz angenommen haben, wird in der Medienberichterstattung mit dem Generationswechsel erklärt, der sich in den 1990er Jahren vollzogen hat. Mittlerweile bekleiden ehemalige Soldaten, die wie beispielsweise der sozialistische Abgeordnete Jacques Floch während des Kriegs ihren Militärdienst in Algerien ableisten mussten, zentrale politische Positionen. Allerdings fasst nur ein einziger Artikel, der in Libération erschienen ist, Zeitzeug:innenaussagen verschiedener Abgeordneter aus der Parlamentsdebatte zusammen (vgl. Grosjean, 10.06.1999, Libération, 20–21). Zwar seien „kaum“ 30 Algerien-Veteranen unter den 577 Abgeordneten, dennoch eröffne die offizielle Benennung des Kriegs einen Raum für sie, um ihre persönlichen Erfahrungen ‚sagbar‘ zu machen (vgl. Grosjean, 10.06.1999, Libération, 20–21). Der Gesetzesvorschlag wird somit zum „befreienden“ Akt, um das Schweigen über die persönlichen Kriegserfahrungen und das „Tabu“ des Algerienkriegs brechen zu können. Die Bedeutung der „Sagbarmachung“ (Robel 2013) mit der offiziellen Bezeichnung des Algerienkriegs hebt auch die Historikerin Claire Mauss-Copeaux in einem Interview für die Wochenzeitung L’Express hervor: Pendant plus de trente ans, l’Etat leur a certes reconnu le statut d’anciens combattants, mais leur a refusé la possibilité de mettre un nom sur ce qu’il leur avait demandé de faire. Qu’ils regrettent la perte de l’Algérie française ou adhèrent aux accords d’Evian, tous se sont

174 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

retrouvés isolés dans une sorte de non-lieu historique, aux prises avec un passé traumatisant et jugé inutile. Il est juste qu’aujourd’hui leur sacrifice soit pleinement réhabilité dans la mémoire nationale. (Aude, 24.06.1999, L’Express, 30)

In der Einschätzung Mauss-Copeauxs als Historikerin lässt sich der erinnerungspolitische Konsens der Jahrtausendwende ablesen. Zum einen unterstreicht sie die ausschließliche Bedeutung des soldatischen Erinnerns und dass dieses als ‚Helden‘- oder vielmehr als ‚Opfererzählung‘ für die „nationale Geschichtsschreibung rehabilitiert werden soll“ (Aude, 24.06.1999, L’Express, 30, Übersetzung S. R.). Zum anderen habe sich der gesellschaftliche Zwang, den Krieg vergessen zu müssen, deswegen etabliert, weil er „eine wenig ruhmreiche Periode unserer Geschichte“ beschreibt (Aude, 24.06.1999, L’Express, 30, Übersetzung S. R.). Das Sprechen über den Krieg, das sich hier ausschließlich an den soldatischen Erinnerungen ausrichtet, erlaubt somit einen positiv konnotierten Blick eines ‚rechtmäßig‘ geführten Kriegs. Demnach darf das Ende der Algérie française auf die gleiche Weise bedauert werden, wie die Unterzeichnung der Évian-Verträge begrüßt werden kann. Die Sagbarmachung des Kriegs auf der einen Seite zieht auf der anderen Seite die Unsichtbarmachung der kriegsbestimmenden Akteur:innen nach sich, sodass die Benennung von ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ sowie der kolonialen Gewaltanwendung undenkbar wird. Im Sinne der erzeugten historischen Unschärfe werden die Algeriensoldaten als passive Befehlsempfänger dargestellt – was sich jedoch mit der Zusammensetzung der französischen Armee begründen lässt. Während des Algerienkriegs wurden zum letzten Mal in der französischen Geschichte Wehrdienstleistende zum Kriegseinsatz verpflichtet: Anders als im Indochinakrieg, in dem Berufssoldat:innen eingesetzt wurde, waren es in Algerien mehr als 1,5 Millionen Wehrpflichtige, die zu Teilen auch gegen ihre Mobilmachung protestierten (vgl. Hüser 2005b, 95). Aus diesem Grund wird in der Presse wiederholt das damals niedrige Alter der heutigen Parlamentarier zur Sprache gebracht. Allerdings wird somit auch eine scheinbare Passivität sowie Unbeteiligtheit an den Kriegsgeschehnissen vermittelt. Denn anders als François Mitterand, der als französischer Präsident den Putschisten der Organisation de l’armée secrète (OAS) im Jahr 1982 Amnestie gewährte und der während des Algerienkriegs Innen- und später Justizminister war (vgl. Renken 2006, 357–366), hatten die nun zu Wort kommenden Veteranen keine Verantwortungspositionen während des Kriegs inne. Das Ableisten des Militärdienstes macht den überwiegenden Teil der Berichterstattung im genannten LibérationArtikel aus. Beispielsweise ist die Rede davon, dass „les mieux placés“ für ihren Dienst nach Deutschland geschickt wurden. Dass die Wehrdienstleistenden in Algerien hingegen „richtig zu töten“ lernten, beschreibt der Abgeordnete Jacques Floch (PS) als eine „Traumatisierung auf Lebenszeit“ (Übersetzung S.  R.). Ver-

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 175

knüpft mit der Unbeteiligtheit überwiegen in der Wiedergabe der Zeitzeug:innenberichte in Libération vor allem die Erinnerungen widerständigen Handelns, wie an folgendem Auszug illustriert werden kann: Michel Dasseux (PS, Dordogne) a refusé de commander dans une unité de renseignement. Jacques Barrot (UDF, Haute-Loire) est intervenu auprès du garde des Sceaux, un ami personnel de son père député, pour que cessent les tortures […]. (Grosjean, 10.06.1999, Libération, 20–21)

Mit dem Fokus auf die junge Generation der Wehrpflichtigen wird die Verantwortung für die Anwendung von Folterpraktiken den älteren Generälen und Offizieren zugeschrieben. Die dabei häufig in Nebensätzen genannte Folter verdeutlicht allerdings auch, dass die begangenen Kriegsverbrechen in Algerien der französischen Gesellschaft bereits im Jahr 1999 bekannt waren, bevor sie ab Juni 2000 zu einer Debatte gesamtgesellschaftlicher Tragweite anwuchsen. Doch nicht nur der Generationswechsel erklärt die Unvermeidbarkeit, mit der das Gesetzesvorhaben zur Anerkennung des Algerienkriegs angenommen wurde. Die Presseberichterstattung deutet ebenfalls darauf hin, dass die parlamentarische Initiative vor dem Hintergrund des Prozesses gegen Maurice Papon verstanden werden muss. In den Jahren 1997/1998 wurde gegen Papon aufgrund seiner Beteiligung am Holocaust prozessiert, da er als Staatsbeamter unter dem Vichy-Regime zwischen 1942 und 1944 die Deportationen von Jüd:innen in das Konzentrationslager Drancy organisierte (vgl. Mouralis 2002 zur Bedeutung des Prozesses als seconde épuration). Dabei schufen zivilgesellschaftliche Akteure wie Au nom de mémoire (ANM) oder das Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples (MRAP) erfolgreich einen „Prozess im Prozess“, wie die Historiker Jim House und Neil MacMaster (2009, 310) in ihrem Buch Paris 1961 herausarbeiten. Denn Papon verantwortete im Oktober 1961 als Pariser Polizeipräfekt das gewaltvolle Vorgehen der Polizei gegen eine von der FLN organisierten Demonstration, bei der eine hohe, aber immer noch umstrittene Zahl der Teilnehmer:innen durch Polizeigewalt ums Leben kamen (vgl. House und MacMaster 2009, 310). Während des Prozesses gegen Papon wurde erstmals die Aufmerksamkeit auf das Pariser Massaker vom 17. Oktober 1961 gelenkt. Papon gerät dabei zur Personifizierung der historischen Kontinuitäten, durch die das Vichy-Regime fortan mit dem Algerienkrieg verknüpft wird. Im Jahr 1999 war die Medienberichterstattung noch immer von diesem heftig diskutierten Gerichtsprozess beherrscht, insbesondere weil Papon einen Prozess wegen Verleumdung gegen den Historiker Jean-Luc Einaudi anstrengte, der während des Prozesses wiederholt auf Papons Rolle als Polizeipräfekt im Oktober 1961 aufmerksam machte (vgl. Acacio, 05.02.1999, Le Monde). Im Februar 1999 wird Papons Prozessanstrengung gegen Einaudi in Le Monde als

176 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

ebenso „armselig“ wie „symbolisch“ kommentiert (Acacio, 05.02.1999, Le Monde). „Armselig“, weil Papon mit dem Angriff auf Einaudi versucht, seine Situation im laufenden Verfahren gegen ihn wegen seiner Beteiligung an den Deportationen zu verbessern. „Symbolisch“, weil sich für den Le-Monde-Journalisten aus der Aufarbeitung des Vichy-Regimes erinnerungspolitische Konsequenzen für den Umgang mit dem Algerienkrieg ableiten müssen. Entsprechend folgert er: [D]e Vichy a l’Algérie, les deux parts d’ombre de la mémoire nationale sont ainsi soulignées. Nul trait d’égalité évidemment: le régime pétainiste était une dictature, la torture en Algérie était pratiquée par une démocratie. Mais, dans les deux cas, le pays a du mal à regarder en face son passé. Il a fallu attendre les années 80 pour que s’impose le travail de mémoire sur Vichy. S’agissant de la guerre d’Algérie, nous n’en sommes encore qu’au début. (Acacio, 05.02.1999, Le Monde)

Dem Politikwissenschaftler Frank Renken (2006, 438) zufolge ist es auf den Papon-Prozess und die gesteigerte Aufmerksamkeit für den Algerienkrieg zurückzuführen, dass eine offizielle Benennung des Algerienkriegs nicht länger unterbunden werden konnte. Entsprechend werden Vichy und Algerien auch in einem Le-Monde-Artikel vom 12.  Juni 1999, der die Gesetzgebungsinitiative der Parlamentarier:innen kommentiert, miteinander in Beziehung gesetzt. Der Algerienkrieg beschreibe ebenso wie die Zeit der „Okkupation“ eine „Vergangenheit, die nicht vergeht“ („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde). „Le passé qui ne passe pas“ ist ein direkter Verweis auf den Historiker Henry Rousso, der diesen Ausdruck bereits Ende der 1980er Jahre prägte, um das Nachwirken des VichyRegimes in der Gegenwart zu beschreiben (vgl. Conan und Rousso 1994; Rousso 1990 [1987]). Folglich nehme es auch nicht wunder, so der Le-Monde-Artikel, dass der versäumte travail de deuil („Trauerarbeit“) über diese beiden „dunklen Kapitel“ Frankreichs „die nationale Gemeinschaft zerrissen habe“: [I]l est symptomatique que ces sombres chapitres de notre histoire se soient trouvés au centre du tardif exorcisme que fut le procès Papon, où l’accusé se vit reprocher à la fois son comportement à l’égard des juifs dans les années 40 et à l’égard des Algériens dans les années 60. („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde)

Dass Papon sich für beide Verbrechen (zumindest gegenüber der Gesellschaft) rechtfertigen muss, ist das Resultat der lang anhaltenden Tabuisierung beider Vergangenheiten. Entsprechend wird die offizielle Benennung des Algerienkriegs durch das französische Parlament erinnerungspolitisch als gleichbedeutend mit der offiziellen Anerkennung der französischen Kollaboration bei der Deportation der Jüd:innen durch Chirac im Jahr 1995 gewertet. Im Gegensatz jedoch zum parlamentarischen Wunsch, einen „Schlusspunkt“ der Aufarbeitung

Der Kolonialismus als Leerstelle  

 177

des Algerienkriegs mit der Anerkennung zu erzielen, versteht der Kommentar in Le Monde die Benennung des Algerienkriegs als Ausgangspunkt, „die diversen Erinnerungen des Algerienkriegs in ein gemeinsames Gedächtnis einzuschreiben“ („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde, Übersetzung S. R.). Ziel müsse es demnach sein, die „zerrissene nationale Gemeinschaft“ wiederherzustellen, schließlich sei „die Ehre eines Volkes und einer Nation, seine Geschichte anzuerkennen und für diese Verantwortung zu übernehmen“ („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde, Übersetzung S.  R.). Als Teil der multiplen Erinnerungen an den Krieg erwähnt der Autor jedoch nicht nur französische Kriegsbeteiligte, wie etwa die Wehrpflichtigen, die pieds-noirs oder die Harkis, die sich in der gemeinsamen Geschichtserzählung wiederfinden sollen. Auch die Erinnerungen der Algerier:innen werden benannt, denn „die Verweigerung, dass Frankreich in Algerien einen wahrhaftigen Krieg geführt hat, bedeutete, auch seinen Akteuren – Franzosen und Algeriern – die Würde als Soldaten zu verwehren“ („Mémoires d’Algérie“, 12.06.1999, Le Monde, Übersetzung S. R.). Indem das Parlament den Kriegszustand anerkennt, erhoffen sich einige Kommentator:innen den Anfang eines Versöhnungsprozesses mit „dem Feind von gestern“. Im Gegensatz zu späteren Jahren, in denen die sogenannten „Erinnerungskriege“ (guerres de mémoires) (vgl. Blanchard und Veyrat-Masson 2008; Stora 2016) die gesellschaftliche Auseinandersetzung bestimmen, wird die Berichterstattung 1999 noch von der Annahme getragen, zu einer gemeinsamen historischen Erzählung finden zu können. Dennoch scheint den meisten Kommentator:innen die Ausbildung eines Nationalgedächtnisses, das zur Wiederherstellung der französischen ‚Nation‘ beiträgt, wichtiger als die zum Ausdruck gebrachte Hoffnung einer Vereinheitlichung des Gedenkens zwischen Frankreich und Algerien (vgl. Grosjean, 10.6.1999, Libération, 20–21). Entsprechend richtet sich der Fokus der erinnerungspolitischen Debatten im Jahr 1999 auf das soldatische Erinnern als zentraler Beitrag zur ‚Ehre‘ der Nation – weswegen auch die im Algerienkrieg begangenen Verbrechen medial keine Erwähnung finden. Die Analyse der französischen Anerkennungsdebatte hat gezeigt, dass die ausschließlich symbolisch verstandene Sprachanpassung als moralisches Kollektivideal entworfen wird. Dabei konnte sich die längst überfällige Benennung des Kriegs durch das ‚mutige‘ Handeln der Politiker:innen realisieren. Ohne eine materielle Anspruchsgrundlage zu schaffen, wurde die Anerkennung als „Schlusspunkt“ unter der Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg verstanden. Die Integration der Erfahrungen der Algeriensoldaten in die französische Nationalgeschichtsschreibung sollte nicht nur „die Gemüter beruhigen“ (Assemblée Nationale 1999, 5713), sondern darüber hinaus den Algerienkrieg sinnstiftend zum gemeinsam geteilten ‚Leid‘ der französischen ‚Nation‘ ausdeuten. Im moralischen Kollektivideal verknüpfen sich die emotionalen Diskurse eines

178 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

gemeinsam geteilten ‚Schmerzes‘ mit dem ‚mutigen‘ Einsatz für die Etablierung der ‚historischen Wahrheit‘, um den ‚Stolz‘ auf die französische ‚Nation‘ wiederherzustellen. Der Versuch der Abgeordneten, weitere Debatten durch die Benennung des Kriegs zu verhindern, schlägt nur zwei Jahre später mit der Folterdebatte ins Gegenteil um, worin der performative Akt des Bezeichnens des Algerienkriegs liegt. Die diachron angelegten Analysen der folgenden Kapitel werden zeigen, auf welche Weise sich die öffentlichen Debatten in der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Frankreichs verändert haben. Mit der sich andeutenden postkolonialen Wende verschiebt sich der Fokus zunehmend von einer positiven Bewertung des Kolonialismus und der verstärkt auf das ‚eigene Leid‘ gerichteten soldatischen Erinnerung zur Sichtbarmachung kolonialer Gewalt und den damit verbundenen postkolonialen Auswirkungen, sodass auch das ‚Leid der Anderen‘ zunehmend sagbar wird (vgl. Robel 2013, 74). Letztlich eröffnen die Parlamentarier:innen mit der offiziellen Anerkennung einen diskursiven Raum, in dem der Algerienkrieg in die transnationalen Prozesse der Dekolonialisierung eingebettet werden kann.

7.3 „Dann melden Sie es!“ – Die inoffizielle Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama 2015/2016 Erst mit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 konnten die OvaHerero (und ab ca. 2004 auch die Nama) für eine Anerkennung des Völkermords gegenüber der eigenen und der deutschen Regierung eintreten. Ins Interesse der deutschen Öffentlichkeit geriet der Völkermord allerdings erst 2004 (vgl. Bürger 2017, 11), als die damalige SPD-Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, zum Anlass des 100.  Jahrestages der „Schlacht am Waterberg“ ihre persönliche Bitte „um Vergebung unserer Schuld“ an die Anwesenden der Gedenkveranstaltung in Namibia richtete (Rede von Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, 14.08.2004). In ihrer Rede bezeichnete Wieczorek-Zeul „[d]ie damaligen Gräueltaten“ als das, „was heute als Völkermord bezeichnet würde“. Erinnerungspolitische Konsequenzen resultierten aus Wieczorek-Zeuls Rede allerdings nicht. Sowohl die Bezeichnung „Völkermord“ als auch die Bitte um Vergebung wurden von der Bundesregierung zur persönlichen Meinungsäußerung der Ministerin abgestuft (vgl. Kößler 2015, 257; Kap. 5.3). Weitere Anträge der Oppositionsparteien, die in den Jahren 2004 (Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 15/3329, 16.06.2004), 2007/2008 (Fraktion Die LINKE, Drucksache 16/4649, 09.03.2007; Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Drucksache 16/9708, 23.06.2008), sowie 2012 (Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 17/9033, 20.03.2012) im Bundestag einge-

„Dann melden Sie es!“ 

 179

reicht wurden, um den Völkermord anerkennen zu lassen, scheiterten (vgl. Robel 2013, 125–126). Erst im Juli 2015 erklärte der Regierungspressesprecher Martin Schäfer den Begriff „Völkermord“ zum offiziellen Sprachgebrauch des Auswärtigen Amtes (vgl. Regierungspressekonferenz, 10.07.2015). Ein Jahr später wurde erneut im Rahmen einer Bundespressekonferenz die neue Sprachreglung bestätigt und außerdem angekündigt, dass die namibische und die deutsche Regierung die Bedingungen einer offiziellen Entschuldigung aushandeln werden (vgl. Regierungspressekonferenz, 13.06.2016). Im folgenden Kapitel rekonstruiere ich zunächst den politischen Kontext, der im Jahr 2015 zur Benennung des Völkermords durch die Bundesregierung führte. Anschließend zeige ich, auf welche Weise mit der Anpassung der offiziellen Sprachpraxis auf die moralischen Kollektivideale reagiert wurde, die sich als Normen deutscher Erinnerungspolitik herausgebildet haben. Besonderes Merkmal der deutschen Erinnerungspolitik ist dabei, dass die Konstruktion einer moralisch begründeten Verantwortungsübernahme vor allem mit dem Ausbau der Entwicklungskooperation zwischen Deutschland und Namibia verknüpft wird.

7.3.1 M  oralische Register deutscher Erinnerungspolitik: Die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen als multidirektionaler Bezugspunkt im Jahr 2015 Während einer Regierungspressekonferenz am 10.  Juli 2015 deutet der Bundespressesprecher Martin Schäfer an, dass die Verwendung des Begriffs „Völkermord“ für die an den OvaHerero und Nama begangenen Verbrechen fortan dem offiziellen Sprachgebrauch der Bundesregierung entspricht. Dass es ein diplomatisch heikles Unterfangen ist, zeigt sich nicht nur daran, dass der gewählte Rahmen einer Pressekonferenz keiner offiziellen Stellungnahme durch eine:n Vertreter:in der Bundesregierung gleichkommt. Grund hierfür ist, dass die namibische und die deutsche Regierung bereits seit 2014 an einer gemeinsamen Regierungserklärung arbeiten, um „ein gemeinsames Verständnis über das, was geschehen ist, zu gewinnen“ (Regierungspressekonferenz, 10.07.2015). Um dem Ergebnis der Verhandlungen ‚nichts vorwegzunehmen‘, verwendete Schäfer den Begriff „Völkermord“ nur als Zitat in Bezugnahme auf vorangegangene Stellungnahmen zu dem Thema (vgl. Regierungspressekonferenz, 10.07.2015). Zuerst zitierte er aus der Rede Wieczorek-Zeuls vom 14. August 2004, in der sie „die damaligen Gräueltaten“ als „Völkermord“ einstufte (Regierungspressekonferenz, 10.07.2015, 10). Diese Einlassung sei „die politische Leitlinie […] des jetzt amtierenden Außenministers“ und „Grundlage für die laufenden Gespräche

180 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

mit unseren Partnern innerhalb der Regierung in Namibia“ (Regierungspressekonferenz, 10.07.2015, 10). Zur Präzisierung zitiert Schäfer außerdem aus einem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 2012, den Frank-Walter Steinmeier als damaliger Fraktionsvorsitzender der SPD als Mitzeichnender einreichte. Darin heißt es: Der Deutsche Bundestag erkennt die schwere Schuld an, die deutsche Kolonialtruppen mit den Verbrechen an den Herero, Nama, Damara und San auf sich geladen haben und betont, wie Historiker seit langem belegt haben, dass der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 ein Kriegsverbrechen und Völkermord war […]. (Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 18/5385, 20.03.2012, 1, Hervorhebung S. R.)

Allerdings fand dieser Antrag, der von Schäfer nunmehr zur „Leitlinie“ der Bundesregierung erklärt wurde, damals keine Mehrheit im Bundestag. Dass Steinmeier im Jahr 2015 deutscher Außenminister ist, gereicht Schäfer als Begründung, den Antrag nun zur offiziellen Haltung der Regierung zu erklären. Da Schäfer selbst auf die Nutzung der Begriffe „Völkermord“ oder „Genozid“27 verzichtet, besteht der befragende Journalist auf einer eindeutigen Klärung der Sachlage: „Die Bundesregierung sagt: Das war Völkermord. – Das wäre ja jetzt eine Meldung“, worauf Schäfer schließlich antwortet: „Dann melden Sie es“ (Regierungspressekonferenz, 10.07.2015, 11). Wie erklärt sich diese überraschende, wenngleich weiterhin inoffizielle Benennung des Völkermords? Auslöser für diese halb offizielle Anerkennung des Völkermords im Juli 2015 war ein anderes erinnerungspolitisches Ereignis, das den Weg zum Zugeständnis gegenüber den OvaHerero und Nama ebnete: Zum 100. Jahrestages des Genozids an den Armenier:innen am 24. April 2015 hatte der Bundestag eine Gedenkveranstaltung abgehalten, in der der Begriff „Völkermord“ wiederholte Verwendung in allen politischen Lagern fand (vgl. „Gedenken an Völkermord an den Armeniern“ 2015, bundestag.de). In den Monaten zuvor hatten die Fraktionen von CDU/CSU und SPD (vgl. Drucksache 18/4684, 21. April 2015), der LINKEN (vgl. Drucksache 18/4335, 18.03.2015) sowie von Bündnis 90/Die Grünen (vgl. Drucksache 18/4687, 22.04.2015) Anträge eingereicht, in denen sie „die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord“ bezeichneten (Antrag CDU/CSU und SPD, Drucksache 18/4684, 21.04.2015, 3). Schon während der Gedenkveranstaltung wurden

27  Da der Begriff „Genozid“ in der deutschen Sprache gemeinhin mit „Völkermord“ übersetzt wird, verwende ich beide Begriffe synonym. Siehe hierzu auch die „Genozid-Konvention von 1948“, die im englischen „Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“ heißt und ins Deutsche folgendermaßen übertragen wurde: „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ (Bundesgesetzblatt vom 9. August 1954, 729–739).

„Dann melden Sie es!“ 

 181

dabei auch Parallelen zur deutschen Kolonialvergangenheit im heutigen Namibia gezogen, als etwa der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir sagte, dass „das zweifelhafte Privileg des ersten Völkermords in diesem Jahrhundert“ den Deutschen zukomme. Özdemir nahm mit seiner Äußerung Bezug auf Papst Franziskus, der am 12. April den Genozid an den Armenier:innen als ersten des 20. Jahrhunderts bezeichnete (vgl. „Davutoğlu: Papst schürt Islamophobie“, 12.04.2015, Süddeutsche.de). Auf Nachfrage der SZ präzisierte der Politiker, dass das „Kapitel Südwest-Afrika in der deutschen Kolonialgeschichte nicht unbearbeitet bleiben“ kann, nun da vom Völkermord an den Armenier:innen gesprochen wird (Munzinger, 28.04.2015, SZ, 6). Am 29. April 2015 wurde zudem der Herero-Aktivist Israel Kaunatjike mit der Aussage zitiert, dass „[j]etzt, wo offen über den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren gesprochen werde, […] auch die Vorgänge im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika neu in den Blick genommen werden“ müssten („Herero starten neue Genozid-Debatte“, 29.04.2015, FR, 7). Doch nicht nur das 100-jährige Gedenken des Völkermords an den Armenier:innen und die Diskussionen um eine offizielle Anerkennung durch den Bundestag rückten die Verbrechen an den OvaHerero und Nama in den Fokus der Medienberichterstattung. Besondere Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang ein Artikel des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er die beiden Völkermorde in Beziehung zueinander setzte. Lammert bezieht sich in seinem Artikel wiederholt auf den Völkermord an den Armeniern. Zunächst, indem er seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringt, dass die Debatten anlässlich des 100.  Jahrestages des Genozids an den Armenier:innen mit so viel Leidenschaft geführt wurden, während der „unmittelbaren […] deutschen Schuld an den Grausamkeiten in den Kolonien“ kaum gedacht werde (Lammert, 09.07.2015, Die Zeit, 16). Anhand einer kurzen Darstellung der historischen Ereignisse in „Deutsch-Südwestafrika“ leitet Lammert ab, dass „die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord“ war und auch dass diejenigen, die „in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid [sprechen], […] vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen“ dürfen (Lammert, 09.07.2015, Die Zeit, 16). Auf verschiedene Anlässe Bezug nehmend, bei denen Parlament und Regierung bereits ihre moralische Verantwortung gegenüber Namibia zum Ausdruck brachten, schließt Lammert: „[W]ie die Türken tragen auch wir dafür Verantwortung, wie wir mit dieser Geschichte umgehen“ (Lammert, 09.07.2015, Die Zeit, 16). Und auch Wieczorek-Zeul fordert in der SZ: „Wir müssen deutsche Schuld und Verantwortung in Klarheit benennen. Wir erwarten das von anderen, zum Beispiel von der Türkei, und müssen das auch selbst tun. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit“ (Munzinger, 02.05.2015, Süddeutsche.de). Eine fehlende Aufarbeitung kolonialen Unrechts würde als Konsequenz die moralischen Standards unterminieren, die in Deutschland erin-

182 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

nerungspolitisch etabliert sind. Der Historiker Jürgen Zimmerer schreibt etwa in einem Gastkommentar für die taz im Mai 2015, dass „der kritische Umgang mit der eigenen Vergangenheit, das schonungslose Aufdecken der dunklen Seiten der eigenen Geschichte […] zum Selbstverständnis Deutschlands nach 1945“ gehöre (Zimmerer, 09.07.2015, taz, 4). Die Nichtanerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama stelle somit „die Erfolgsgeschichte der deutschen Vergangenheitspolitik insgesamt infrage“ (Zimmerer, 09.07.2015, taz, 4). In einem Leitartikel der FR vom 8. Juli 2015 wird die moralische Pflicht des Gedenkens an den Holocaust als Vorbild für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit genommen: Welchen Wert haben die zu jedem Jahrestag des Holocaust erneuerten Beteuerungen deutscher Spitzenpolitiker, der Genozid an den Juden dürfe niemals vergessen werden, er bedeute Verantwortung weit über die Gegenwart hinaus, denn Völkermord verjähre nicht, wenn den nach Berlin gereisten Herero und Nama mit ihrem Appell „Völkermord verjährt nicht“ das Gehör verweigert wird, weil sich die Adressaten dank kontrollierten Gedächtnisverlusts an keinen Massenmord erinnern? Doppelmoral ist hier ein entschieden zu freundliches Wort. (Bommarius, 08.07.2015, FR, 11).

Vor dem Hintergrund der klaren Haltung gegenüber dem Genozid an den Armenier:innen im Jahr 2015 gefährdet die Weigerungshaltung der Bundesregierung, den Völkermord an den OvaHerero und Nama anzuerkennen, das Kollektivideal einer erfolgreichen Aufarbeitung der Vergangenheit. Dass die Bundesregierung den moralischen Normen nicht genügen kann, zeigt sich insbesondere in der Medienberichterstattung, die keinen Zweifel daran lässt, dass sich im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ ein Völkermord zugetragen hat. In Abgrenzung zur Aussage des Papstes, der den Genozid an den Armenier:innen als ersten des Jahrhunderts bezeichnete (vgl. Bommarius, 14.04.2015, FR, 13), verstetigt sich als Korrektiv die Hervorhebung, dass der Genozid an den OvaHerero und Nama der „erste des 20. Jahrhunderts“ war (Wieczorek-Zeul, 07.07.2015, FR, 10; vgl. „Herero starten neue Genozid-Debatte“, 29.04.2015, FR). Zum einen wird damit eine spezifisch deutsche Kontinuität nachgezeichnet, bei der Windhuk und Auschwitz miteinander in Beziehung gesetzt werden. Zum anderen wird die deutsche Verantwortung für zwei Völkermorde in einem Jahrhundert hervorgehoben. Auf der Meinungsseite der SZ drückt Joachim Käppner in seinem Text „Deutschlands erster Völkermord“ den historischen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus folgendermaßen aus: Es war einer der ersten Völkermorde eines Jahrhunderts, das zu einem Jahrhundert der Genozide und des Zivilisationsbruchs werden sollte – bis hin zum Holocaust, dem ersten Versuch eines modernen Staates, ein Volk bis zum letzten Kind auszulöschen. Das Denken,

„Dann melden Sie es!“ 

 183

das dorthin führte, ein Weltbild aus rassistischen Feindbildern und Vernichtungsfantasien, zeichnete sich schon mehr als schemenhaft ab in jener Order des Befehlshabers Lothar von Trotha von 1904 […]. (Käppner, 05.07.2016, SZ, 4).

Während bei Käppner das Aufzeigen historischer Kontinuitäten im Mittelpunkt steht, wird in anderen Beiträgen hingegen eine Kontinuität der Aufarbeitung historischer Verbrechen debattiert. Dabei werden sowohl der Holocaust als auch der Völkermord an den Armenier:innen in Beziehung mit den Kriegsverbrechen an den OvaHerero und Nama gesetzt. Im Zentrum steht vor allem die Weigerung der Bundesregierung einer rückwirkenden Anwendung der UN-Genozid-Konvention aus dem Jahr 1948 auf die historischen Ereignisse zwischen 1904 und 1908 im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ (vgl. „Herero starten neue GenozidDebatte“, 29.04.2015, FR). Demnach müsse auf die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen auch eine Einstufung des Völkermords an den OvaHerero und Nama als solcher folgen. Denn wie ein CDU-Abgeordneter im April 2015 in der SZ zitiert wird, sei die Verwendung Ausdruck einer „lebendigen Sprachentwicklung“ und könne daher auch auf „alte Sachverhalte“ angewandt werden (Munzinger, 28.04.2015, SZ, 6). Demnach sei es „kaum vorstellbar“, so Zimmerer in seinem Gastbeitrag in der taz, dass „eine Bundesregierung […] dies [eine nicht rückwirkende Anwendung des Völkermord-Begriffs, Anm. S. R.] für den Holocaust erklären [würde], nur weil die Genozid-Konvention der UNO erst 1948 in Kraft trat“ (Zimmerer, 09.07.2015, taz, 4). Ein Jahr später werden im multidirektionalen Bezugskontext der Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen und des deutschen Gedenkens an den Holocaust erneut moralische Register adressiert, um die Verkennung des Genozids an den OvaHerero und Nama als erinnerungspolitische „Doppelmoral“ (Bommarius, 08.07.2015, FR, 11) zu kennzeichnen. Schon während der Bundestagsdebatte zur Annahme der Armenien-Resolution am 2.  Juni 2016 durch einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und SPD bringen die Oppositionsparteien B90/Die Grünen und die Linkspartei auch den Völkermord an den OvaHerero und Nama zur Sprache (vgl. van Riel, 03.06.2016, ND, 6). Gregor Gysi (Die LINKE) fordert beispielsweise, dass sich der Bundestag „genauso klar und unmissverständlich zu den Grausamkeiten gegenüber den Herero zwischen 1904 und 1908 erklären“ sollte (Plenarprotokoll 18/173, 17030). Wenige Tage später schaltete sich außerdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in die Debatten ein. Er verurteilte dabei die Einmischung Deutschlands in türkische Angelegenheiten und gab u.  a. zu verstehen, dass Deutschland zuerst „Rechenschaft über den Holocaust und über die Vernichtung von mehr als 100  000 Herero in Südwestafrika […] ablegen“ solle, bevor es ‚sogenannte Genozide‘ der Türkei verurteilen könne („Erdoğan fordert, Deutschland solle Rechenschaft über Holocaust ablegen“, 06.06.2016, Sueddeutsche.de). Erneut

184 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

liefert der Bundestagspräsident Lammert eine viel zitierte Stellungnahme, als er es im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) „bedauerlich und im Kontext der jüngeren Auseinandersetzungen auch ein bisschen peinlich“ findet, dass es bisher keine „ähnlich unmissverständliche Erklärung auf deutscher Seite“ gebe (zit. in: Sattar, 14.06.2016, FAZ, 2). In der taz wertete es der Journalist Tobias Schulze als einen „Eiertanz“, wie die Bundesregierung eine öffentliche Verwendung des Völkermord-Begriffs vermied (Schulze, 14.07.2016, taz). Wenngleich er die Gründe des anfänglichen „Zögerns“ – gemeint ist der Ende 2015 offiziell gestartete Dialogprozess zwischen den Sonderbeauftragten Ruprecht Polenz (CDU) für die deutsche Regierung und Dr. Zedekia Ngavirue für die namibische– zunächst für „verständlich“ hielt, hätten sich mit der Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen jedoch die Voraussetzungen verändert. Schulze (14.07.2016, taz) schlussfolgert: „Seit der Armenien-Resolution des Bundestags sind die Umstände nicht mehr normal. Denn damit hat sich der Bundestag schließlich selbst in die Position des moralischen Richters begeben, der Schuld und Sühne anderer bewertet“. Als Reaktion auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der LINKEN wird der Abgeordnete Movassat in der SZ mit der Forderung zitiert, es werde Zeit, „dass die Bundesregierung sich der Meinung der wissenschaftlichen Fachwelt anschließt und besser spät als nie von Völkermord spricht“ (Hackenbruch, 14.07.2016, taz.de; Munzinger und Das Gupta 13.07.2016, Süddeutsche.de). Dabei behauptet Die WELT in einem Interview mit Jürgen Zimmerer im Oktober 2016 sogar, dass „am Genozidalen Charakter der Niederschlagung des HereroAufstandes“ niemand mehr zweifele (Kellerhoff, 14.10.2016, WELT online). Zimmerer relativiert dies unter Rückgriff auf einen Artikel, der wenige Monate zuvor im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschienen ist und kritische Aufmerksamkeit erregte, weil darin der Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill den Völkermord durch die Wiedergabe kolonialrevisionistischer Positionen relativierte (vgl. de Wolff 2018, 426). Ähnlich relativistische Positionen finden sich allerdings auch in einzelnen Artikel der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Rundschau. Dabei wird vor allem Deutsch-Namibier:innen, die von den kolonialen Landeignungen im Zuge des Kolonialkriegs und Völkermords profitierten, und sogenannten „Hobbyhistorikern“ das Wort gegeben, die den Völkermord für „Unsinn“ und die Forderungen der OvaHerero und Nama für überzogen halten (vgl. Zick, 22./23.10.2016, SZ, 11–12). Während die Journalist:innen der SZ dennoch ohne Einschränkungen von Völkermord sprechen (vgl. Zick, 22./23.10.2016, SZ, 11–12), wird in den Artikeln von Thomas Scheen in der FAZ die Einstufung der „Massaker“ als Völkermord weiterhin als eine historische Kontroverse dargestellt (vgl. Scheen, 03.07.2016, faz.net). Insgesamt hat sich in der Medienberichterstattung im Gegensatz zu den frühen 2000er Jahren die Nutzung des Begriffs „Völkermord“ als Selbstverständlichkeit durchgesetzt (vgl. de Wolff

„Dann melden Sie es!“ 

 185

2018; Robel 2013, 284). Dabei wird er weder in Anführungszeichen verwendet noch wird Leugner:innen des Völkermords ein beträchtliches Podium geboten. Die Mehrheit der Artikel bezieht nicht nur Stellung hinsichtlich der ‚lange überfälligen‘ Anerkennung des Genozids, auch eine Entschuldigung wird als angemessene Form der Wiedergutmachung diskutiert. Wissenschaftlich begründete Ansichten, wie die Jürgen Zimmerers, der konsequent von „Völkermord“ spricht und eine offizielle Anerkennung fordert, prägen die Berichterstattung. Der mittlerweile erzielte wissenschaftliche Konsens über die historischen Ereignisse erfährt somit eine stetig wachsende mediale Akzeptanz und Verbreitung (vgl. Ewald, 17.02.2016, nd-aktuell.de). Die Verabschiedung der Armenien-Resolution bietet schließlich im Juni 2016 der Opposition und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen die Gelegenheit, die Bundesregierung zu einer weiteren Stellungnahme zum Völkermord an den OvaHerero und Nama zu bringen. Am 13. Juni 2016 wird zuerst in einer Regierungspressekonferenz die Bezeichnung „Völkermord“ als offizieller Sprachgebrauch der Bundesregierung bestätigt. Erneut verwendet Schäfer den Begriff nicht, sondern verweist stattdessen auf die Pressekonferenz von vor einem Jahr und auf den nicht angenommenen Antrag der SPD aus dem Jahr 2012 (vgl. Regierungspressekonferenz, 13.06.2016). Mediale Aufmerksamkeit hingegen erfährt erst die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Am 14. Juni 2016 fragen die Abgeordneten der LINKEN, ob es sich bei der Nutzung des Begriffs „Völkermord“ um die „offizielle Position“ der Bundesregierung handele. Die Antwort, die im Juli 2016 folgt, ist indes ebenso unspezifisch wie alle vorangegangenen offiziellen Stellungnahmen. Darin heißt es: „Die diesbezüglichen Antworten des Sprechers des Auswärtigen Amts und des Regierungssprechers [u. a. Martin Schäfer am 10.07.2015, Anm. S. R.] spiegeln die Position der Bundesregierung wider“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 2). Während die Berichterstattung im Jahr 2015 eine perspektivische Nutzung des Begriffs „Völkermord“ in Aussicht stellte und somit vor allem die erstmalige Benennung durch das Auswärtige Amt würdigte, wird der kurze Satz aus der Antwort auf die Kleine Anfrage vom 11.  Juli 2016 (vgl. Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 2) in der Medienberichterstattung nunmehr als offizielle Anerkennung gewertet. Allerdings merkt etwa die SZ an, dass sich „[d]as Wort Völkermord […] in dieser Antwort gleichwohl nicht“ findet (Munzinger und Das Gupta 13.07.2016, Süddeutsche.de). Der Verzicht auf den Begriff resultiert dieses Mal allerdings nicht aus dem Umstand, „entschädigungsrelevante Aussagen“ vermeiden zu wollen, wie noch in den Jahren zuvor begründet wurde (vgl. Kap. 8). Die Bundesregierung kommt in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage zu dem Schluss, dass „in einer historisch-politisch geführten öffentlichen Debatte die Definition nach der Völkermord-Konvention als Maßstab für eine nicht rechtliche Einschätzung eines historischen Ereignisses als Völker-

186 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

mord dienen“ könne (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 3). Folglich bedeutet dies, dass die Bundesregierung innerhalb eines Jahres eine ausschließlich moralisch verstandene Auslegung des „Genozid“-Begriffs begründen kann, bei der völkerrechtliche Konsequenzen ausgeschlossen werden können. Entsprechend präzisierte die Bundesregierung in ihrer Antwort bezüglich möglicher Entschädigungsansprüche, dass „[d]ie von einigen Volksgruppenvertretern der Herero und Nama vorgetragenen materiellen Forderungen […] nach Ansicht der Bundesregierung der rechtlichen Grundlage“ entbehrten (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 9). Nur zwei Tage nach der Antwort auf die Kleine Anfrage folgt die offizielle Verwendung des „Völkermord“-Begriffs durch die stellvertretende Pressesprecherin des Auswärtigen Amtes Sawsan Chebli. Weiterhin spricht sie von einer gemeinsam zu erstellenden deutsch-namibischen Regierungserklärung, die als Bestandteile das Finden einer „gemeinsame[n] Sprache zu den historischen Ereignissen“ und die Formulierung einer „deutsche[n] Entschuldigung sowie deren Annahme durch Namibia“ enthalten soll (Regierungspressekonferenz, 13.07.2016). Außerdem äußert sie die Hoffnung, dass die Verhandlungen bis zum Ende des Jahres abgeschlossen sein könnten. In der Woche zuvor hatten der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für den deutsch-namibischen Dialog, Ruprecht Polenz (CDU), und der deutsche Botschafter in Namibia, Christian Schlaga, in einer Pressekonferenz in Namibia die Formulierung einer deutschen Entschuldigung sowie zusätzliche entwicklungspolitische Projekte als weitere Schritte der bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik angekündigt. Indem die Bundesregierung auf der Bundespressekonferenz in Aussicht stellt, sich für den Völkermord zu entschuldigen, macht sie gleichzeitig die offizielle Anerkennung des Genozids zu deren Voraussetzung. Diese Verknüpfung von Anerkennung und Entschuldigung ist jedoch nur möglich, weil die rechtlichen Bedenken möglicher Reparationen ausgeräumt werden konnten (vgl. Eveleens, 14.07.2016, taz, 2; von Bullion, 14.07.2016, SZ, 5). Aus diesem Grund verhalten sich die OvaHerero und Nama 2016 auch deutlich zurückhaltender als noch im Jahr zuvor, als Israel Kaunatjike in einer Pressemittelung des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!“ die Anerkennung des Genozids begrüßte (vgl. PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 10.07.2015). 2016 hingegen reagiert das Bündnis mit unverhohlener Kritik auf den Besuch Polenz in Namibia. Demnach fühle sich „neben der namibischen Opposition auch die Regierung von diesem Vorgehen [der Bundesregierung, Anm. S.  R.] brüskiert und überfahren“ (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 18.07.2016). Zentrale Kritikpunkte sind nicht nur der „diktierte Zeitplan“, sondern auch der „kategorische Ausschluss von Reparationen“ durch Deutschland, die die namibische Regierung seit 2006 fordert (Kößler 2015, 268). Der namibische Präsident Hage Geingob wird mit der Aussage zitiert, dass die deutsche Seite es an „Respekt“ und „Höflichkeit“ habe

„Dann melden Sie es!“ 

 187

fehlen lassen, und der Oppositionsführer McHenry Venaani nennt es „eine Verhöhnung des Schmerzes und der Leiden […], welche die betroffenen Gemeinschaften bis heute mit sich tragen“ (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 18.07.2016). Mit der Ankündigung der gemeinsamen Regierungserklärung hat die Bundesregierung unmissverständlich ihre Bedingungen definiert, die neben der Zurückweisung der materiellen Forderungen vor allem alleinige Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung umfassen. In der bereits zitierten Antwort auf die Kleine Anfrage präzisiert die Bundesregierung, beide Regierungen seien sich „einig, die besonders betroffenen Volksgruppen einzubeziehen, aber ohne eine direkte Teilnahme an den Verhandlungen“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 5). Die Nutzung des Begriffs „Völkermord“ als „politische Leitlinie“ der bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik wird folglich von den Vertreter:innen der OvaHerero und Nama nicht als offizielle Anerkennung des Genozids akzeptiert. Denn für sie werde eine Anerkennung nur dann vollzogen, wenn sie mit der Formulierung einer Entschuldigung und einer „symbolischen und materiellen Wiedergutmachung“ gegenüber den Nachfahren der Opfer verbunden ist (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 16.03.2016). In diesem Unterkapitel habe ich gezeigt, dass die multidirektionalen Bezugnahmen zur Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen und zum Gedenken an den Holocaust die diskursiven Bedingungen erzeugten, die eine Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama unumgänglich machten. Die fehlende Positionierung der Bundesregierung gegenüber dem deutschen Kolonialismus wurde vor dem Hintergrund der etablierten moralischen Normen einer angemessenen Aufarbeitung der Vergangenheit als inkonsistent wahrgenommen. Innenpolitischer Druck durch die Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft, aber auch außenpolitische Reaktionen wie die Erdoğans zwangen die Bundesregierung zu einer Positionierung. Zwar wird die Bezeichnung „Völkermord“ in den politischen Sprachgebrauch übernommen, allerdings ohne diesen mit einer offiziellen Stellungnahme seitens Regierungsvertreter:innen anzuerkennen. Dies zeigt sich nicht nur an den wiederholt indirekten Bezugnahmen auf den Begriff durch das Zitieren von vergangenen Anträgen und Reden, sondern auch anhand des Verweises auf den noch nicht beendeten Dialogprozess zwischen Namibia und Deutschland. Die Benennung des Völkermords erfolgt allerdings erst, nachdem erinnerungspolitische Konsequenzen ausgeschlossen wurden. Dass die Bundesregierung zunächst die Formulierung einer Entschuldigung verweigert und auch weiterhin die Forderung nach Entschädigungen zurückweist, verdeutlicht, dass sich das erinnerungspolitische Handeln ausschließlich an den ‚eigenen‘ Registern erinnerungspolitischer Moralität orientiert. Die namibische Regierung wird dabei genauso übergangen wie die Vertreter:innen der OvaHerero und Nama, wenn etwa unilateral angekündigt wird, einen zügigen Abschluss der Verhand-

188 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

lungen anzustreben. Zwar lässt sich die Bundesregierung ab 2016 auf eine Entschuldigung für die historischen Ereignisse ein, jedoch weiterhin zu den eigenen entwicklungspolitischen Zielen und ohne, dass sich daraus Reparationen ableiten ließen. Die Bedingungen, zu denen diese Entschuldigung formuliert werden soll, konkretisieren sich jedoch erst mit dem in Aussicht gestellten Abschluss des Dialogprozesses im Mai 2021. Eine Beteiligung derjenigen OvaHerero- und NamaGruppierungen, die u.  a. im Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ organisiert sind, wurde indes bis heute nicht vorgesehen. Als Folge zeichnet sich eine Differenz ab zwischen der Anerkennung der historischen Begebenheiten als Völkermord und der Verkennung der Nachfahren der Opfer und ihres ‚Leids‘, wie ich im Folgenden Abschnitt konkretisiere.

7.3.2 „Not about us without us“ – Die Verkennung der ‚Anderen‘ Als das Auswärtige Amt im Jahr 2015 den Begriff „Völkermord“ zum offiziellen Sprachgebrauch erklärt, fordert das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ in einer Pressemitteilung, dass auf die Anerkennung des Völkermords eine „förmliche Entschuldigung“ gegenüber den Nachfahren sowie eine direkte Beteiligung an den „Reparationsverhandlungen“ folgen müssen (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 10.07.2015). Denn eine Wiedergutmachung müsse gegenüber den Nachfahren der einstigen Opfer geleistet werden und nicht gegenüber der namibischen Regierung. Schließlich habe sich der „Vernichtungsbefehl“ allein gegen die OvaHerero gerichtet, wie Paramount Chief Vekuii Rukoro wiederholt betont (vgl. Putsch, 08.06.2016, WELT online). Wesentlicher Antrieb der Forderung nach Beteiligung an den Gesprächen mit der Bundesregierung ist, dass die OvaHerero und Nama die Verhandlungen zu ihren Bedingungen führen wollen. Im Frühjahr 2016, als die erste Verhandlungsrunde zwischen den Sonderbeauftragten Polenz und Ngavirue aufgenommen wurde, ohne dabei die wichtigsten OvaHerero- und Nama-Gruppen einzubeziehen, wird in einer Pressemitteilung die Losung ausgegeben: „Ohne Zustimmung und Vergebung derjenigen, deren widerständige Vorfahren während des Genozids ermordet, vertrieben und enteignet wurden, kann es keine Versöhnung geben“ (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 16.03.2016). Dennoch bestätigte die Bundesregierung in ihrer Antwort an die Linksfraktion im Juli 2016, dass es keine direkten Verhandlungen mit den „betroffenen Volksgruppen“ geben werde (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 5). Wie wird über den Ausschluss der OvaHerero und Nama von den deutsch-namibischen Verhandlungen in der Presse berichtet und lässt sich auch medial eine Verkennung der ‚Anderen‘ beobachten?

„Dann melden Sie es!“ 

 189

In den Jahren 2015/2016 finden die Forderungen der OvaHerero und Nama zunehmend Gehör in der deutschen Presselandschaft. Dies liegt insbesondere daran, dass postkoloniale Initiativen bundesweit an Bedeutung gewonnen haben und sich ab 2015 ein „Meinungsumschwung“ abzeichnete, an dem vor allem zivilgesellschaftliche Akteur:innen ihren Anteil hatten (Kößler und Melber, 18./19.06.2016, ND, 25). 2016 erhöht sich die Berichterstattung in Bezug auf den deutschen Kolonialismus beträchtlich, da nicht nur im Zusammenhang der (weiterhin inoffiziellen) Anerkennung des Völkermords und der Verhandlungen mit Namibia umfänglich berichtet wird. Weiterhin zeugen auch die Artikel über Straßenumbenennungsinitiativen, Forschungsprojekte zum deutschen Kolonialismus und zur Provenienzforschung sowie die anstehende Ausstellung „Deutscher Kolonialismus“ im Deutschen historischen Museum (DHM) von dem zunehmenden medialen Interesse an Deutschlands kolonialer Vergangenheit. Das zivilgesellschaftliche Engagement wird dabei zudem als eine erfolgreiche transnationale Kooperation deutscher Initiativen mit den namibischen OvaHerero- und Nama-Verbänden gezeichnet (vgl. Kößler 2015, 264). Vereine wie Berlin Postkolonial, AfricAvenir International und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) wurden somit zum Sprachrohr der namibischen Vertreter:innen in Deutschland (vgl. Vorstellung der Bündnismitglieder „Völkermord verjährt nicht!“, genocide-namibia.net). Sie treten dabei nicht nur als Kontaktpersonen für die deutsche Presse auf, sondern organisieren und unterstützen als Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ zudem die verschiedenen Delegationsreisen der OvaHerero und Nama nach Deutschland (vgl. Ewald, 17.02.2016, ND; Nickel, 17.10.2016, ND, 12). Im Oktober 2016 trat Berlin Postkolonial beispielsweise als Veranstalter eines transnationalen Kongresses auf, bei dem OvaHereround Nama-Vertreter:innen aus den USA, Großbritannien, Südafrika und Namibia für eine Beteiligung an den deutsch-namibischen Verhandlungen protestieren (worüber allerdings nur das ND berichtet, vgl. Nickel, 17.10.2016, ND, 12). Gleichzeitig wird in den Anfragen und Anträgen der Oppositionsparteien Die LINKE und B90/Die Grünen deutlich, dass die Forderungen und Stellungnahmen der Aktivist:innen aufgegriffen werden und – auch wenn sie keine politische Umsetzung erfuhren – zumindest institutionelle Sichtbarkeit im Bundestag erlangten. Insbesondere die Abgeordneten der LINKEN Niema Movassat und Hüseyin Aydin wurden mit dem Einzug ihrer Partei in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 zu Fürsprechern der Sache der OvaHerero und Nama (vgl. Kößler 2015, 266). In der Medienberichterstattung werden sowohl die genannten oppositionellen Politiker:innen also auch Stellungnahmen zivilgesellschaftlicher Akteur:innen zitiert, wie beispielsweise die des in Berlin lebenden Herero-Aktivisten Israel Kaunatjike. Dabei wird insbesondere der Ausschluss der OvaHerero und Nama aus den laufenden Verhandlungen kritisch kommentiert. Seitens der

190 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

‚Opferverbände‘ erlangen u. a. der Paramount Chief der OvaHerero Vekuii Rukoro, Esther Muinjangue als Vertreterin des OvaHerero Genocide Committee (OGC) sowie die namibische Abgeordnete und Vertreterin des Nama Genocide Technical Committee Ida Hoffmann mediale Sichtbarkeit. Hoffmanns „Empörung“ über die „Abfertigung“ durch das Bundespräsidialamt zum 100. Jahrestag des Endes des Kolonialismus in „Deutsch-Südwestafrika“, der am 9. Juli 2015 begangen wurde, wird in der Berichterstattung mehrfach aufgegriffen (vgl. Johnson, 09.07.2015, taz, 4; „Wie Deutschland langsam seine Kolonialgeschichte aufarbeitet“, 09.07.2015, Süddeutsche.de). Im Rahmen des Gedenktages zeigt sich der Beitrag des oben beschriebenen transnationalen Engagements an der „gewachsenen Sensibilität für das Schicksal der Herero und Nama“ in der deutschen Gesellschaft, wie Bundestagspräsident Lammert (2015) in seinem viel zitierten Zeit-Artikel am 9.  Juli 2015 feststellt. Vorgesehen war, dass eine aus Namibia angereiste Delegation dem Bundespräsidenten Joachim Gauck einen Appell übergibt, in dem „mehr als 150 prominente Erstunterzeichner:innen“, zu denen u. a. die Politiker:innen Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD), Claudia Roth (B90/Die Grünen) oder Gregor Gysi (Die LINKE) zählten, eine Anerkennung des Völkermords forderten (vgl. PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 26.06.2015; 06.07.2015). Die Oppositionsparteien Die LINKE (Drucksache 18/5407, 01.07.2015) und Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache 18/5385, 20.03.2012) hatten im Rahmen des Jahrestages zudem jeweils eigene Anträge im Bundestag eingereicht, die eine Anerkennung des Völkermords forderten. Als den Vertreter:innen der OvaHerero und Nama der Empfang im Bundespräsidialamt mit dem Hinweis auf die laufenden Verhandlungen mit der namibischen Regierung verwehrt wird, kommentiert dies die FR folgendermaßen: Bis heute verweigert die Bundesrepublik die Anerkennung des Genozids als Genozid, bis heute hat sich noch keine Bundesregierung zur Bitte um Entschuldigung bereitgefunden. Derzeit ist eine Delegation führender Herero und Nama in Berlin mit dem Appell im Gepäck, vor aller Welt den Völkermord nach mehr als 100  Jahren anzuerkennen. Sie wird nicht einmal offiziell empfangen, stattdessen wird auf die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ zwischen der Bundesrepublik und dem heutigen Namibia und auf die Summe der finanziellen Entwicklungshilfe verwiesen. (Bommarius, 08.07.2015, FR, 11)

Bommarius kritisiert in seinem Text nicht nur die fehlende Anerkennung des Genozids und die ausbleibende Formulierung einer Entschuldigung, die er als selbstverständlich erachtet, sondern auch die Verweigerung, mit den OvaHerero und Nama ins Gespräch zu gehen und Entschädigungen als eine Form der Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt in Betracht zu ziehen. In der taz wird zudem der Zweifel der Bundesregierung an der „Repräsentativität“ der Delegation der Nachfahren des Völkermords mit den Worten des Paramount Chiefs Rukoro

„Dann melden Sie es!“ 

 191

als „koloniale Ausrede“ markiert – denn schließlich herrsche Einigkeit zwischen den verschiedenen Gruppen hinsichtlich der Forderung nach Anerkennung des Völkermords (Johnson, 09.07.2015, taz, 4). Als Ende 2015 die Intensivierung des Dialogprozesses mit der Berufung der Sondergesandten Ruprecht Polenz und Zedekia Ngavirue beschlossen wird, nimmt der Konflikt um die Repräsentation der Nachfahren in den Verhandlungen einen zunehmend größeren medialen Stellenwert ein. Dabei rücken verstärkt die innernamibischen Interessenskonflikte zwischen den OvaHerero und Nama und der namibischen Regierung in den Fokus. Während es den OvaHerero und Nama um eine Entschädigung für das enteignete Land und den Verlust ihrer Lebensgrundlage geht, vertritt die namibische Regierung die Position, dass Entschädigungen „allen Namibiern zugutekommen“ sollten (Scheen, 08.07.2016, FAZ,  32). Ausgangspunkt für den Konflikt bildet eine schon im Jahr 2006 durch das namibische Parlament beschlossene Regierungserklärung, die vorsieht, dass in Zusammenarbeit mit den ‚Opferverbänden‘ eine Entschuldigung sowie materielle Entschädigungen gegenüber Deutschland gefordert werden. In einer Pressemitteilung der OvaHerero Traditional Authority (OTA) vom 17. Mai 2016, die eine weitere Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag auf Zahlungen von Reparationen ankündigt, wird auf eine Erklärung des namibischen Außenministers Utoni Nuyoma aus dem Jahr 2011 Bezug genommen. Darin bestätigte er gegenüber dem Parlament, dass „die Rolle der namibischen Regierung die einer Mediatorin zwischen der deutschen Regierung und den betroffenen Gemeinschaften ist“ und dass die „namibische Regierung nicht gegen die Interessen ihres eigenen Volkes handeln wird“ (PM OvaHerero Traditional Authority, 17.05.2016, Übersetzung S. R.). Artikelüberschriften wie „Unter Ausschluss der Betroffenen“ (taz, 14.07.2016, 2), „Namibischer Stamm beklagt Rassismus“ (WELT online, 08.06.2016), „Die Täter zum Gespräch zwingen“ (ND, 21.05.2016, 5), „Nicht über uns ohne uns!“ (ND, 17.10.2016, 12), „Wir vergessen nicht“ (FR, 10.082016, 18), „Opfervertreter fordern Geld von Berlin“ (FAZ, 11.07.2016, 1) deuten zwar auf die mediale Sichtbarkeit der betroffenen Gruppen, allerdings ist diese nicht gleichbedeutend mit deren Anerkennung oder der Anerkennung ihrer Forderungen. Durch den wiederkehrenden Verweis auf die innernamibischen Konflikte werden nicht nur die OvaHerero und Nama für die Verzögerungen des Dialogprozesses verantwortlich gemacht, die Aufarbeitung der Vergangenheit wird damit auf eine Angelegenheit Namibias reduziert. Beispielsweise schreibt Thomas Scheen in der FAZ der namibischen Regierung eine inkompetente Verhandlungsführung zu und stellt außerdem die Repräsentativität des Paramount Chiefs Rukoro infrage:

192 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

Gleichzeitig aber ist das Ausbleiben von Fortschritten auch der Unfähigkeit der namibischen Regierung geschuldet, die zerstrittenen Herero, Nama und OvaMbanderu28 auf eine einheitliche Position einzuschwören. Einer der wortmächtigsten Anführer der Herero beispielsweise, der selbst ernannte „Paramount Chief“ Vekuii Rukoro, verlangt Schadensersatzzahlungen in Milliardenhöhe und will direkt mit Berlin verhandeln […]. (Scheen, 08.07.2016, FAZ, 32)

Anknüpfend an kolonialrassistische Imaginationen wird der namibischen Regierung die Regierungsfähigkeit abgesprochen, da sie es nicht vermag, die Interessen der verschiedenen Gruppen zu bündeln. Weiterhin wird den OvaHerero und Nama eine Instrumentalisierung der Vergangenheit vorgeworfen, um die eigene ökonomische Stellung in der namibischen Gesellschaft zu verbessern. Von „politischem Kalkül“ ist die Rede und davon, dass der „Herero-Fürsprecher Rukoro offen zu[gibt], [dass] ‚wirtschaftlicher Erfolg […] zwangsläufig zu politischem Einfluss [wird]‘“ (Scheen, 08.07.2016, FAZ, 32). In einem anderen Artikel von Scheen heißt es: „Rukoro will viel Geld.“ Und weiter: „Es gibt Stimmen, die wiederum Rukoro vorwerfen, allein sich selbst bereichern zu wollen.“ Ihm sei es außerdem egal, was bei den deutsch-namibischen Verhandlungen rauskommen würde, denn klagen werde er ohnehin. Rukoros Agieren gerät somit zur Darstellung eines wenig kompromissbereiten Cholerikers, der „wettert“ und deutschstämmige Farmer bedroht, was ihn als ernst zu nehmenden Verhandlungspartner disqualifiziert. Die von ihm gestellten Reparationsforderungen werden folglich als überzogen und „weltfremd“ dargestellt – auch, weil Namibia die höchsten Entwicklungszahlungen pro Kopf weltweit erhalte. Die Unangemessenheit der Reparationsforderungen wird auch deutlich, wenn es etwa in einem anderen FAZ-Artikel heißt, dass die Entschädigungen aus Deutschland zur Finanzierung einer „Shopping List“ genutzt werden sollen (Scheen, 03.07.2016, faz.net).

28  Bei den OvaMbanderu handelt es sich um eine weitere ‚traditionelle‘ Gruppierung, die in Namibia der Bevölkerung der Herero zugerechnet wird. In der deutschen Presselandschaft wird jedoch die Diversität der unterschiedlich agierenden Vertreter:innen der OvaHerero und Nama nicht abgebildet. Abgesehen von den Paramount Chiefs der OvaHerero Riruako (bis 2014) und seinem Nachfolger Rukoro sowie der Vorsitzenden der OvaHerero Genocide Foundation Esther Muinjangue und der Nama-Aktivistin Ida Hoffmann werden andere Personen und Gruppen kaum repräsentiert. Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Kaya de Wolff hat folglich auf die Einschränkungen hingewiesen, die sich durch die Analyse der Medienberichterstattung ergeben, da Printmedien „bestimmen […], was wie zu welcher Zeit sagbar ist“ und welchen Sprecher:innen überhaupt die Möglichkeit zur Vermittlung ihrer Inhalte gegeben wird (de Wolff 2018, 418). Aus diesem Grund ist es in dieser Untersuchung nicht möglich, einen umfänglichen Überblick über die sich engagierenden OvaHerero- und Nama-Aktivist:innen zu geben, da dies eine umfängliche Analyse namibischer Quellen vorausgesetzt hätte (vgl. Förster 2010 zur Darstellung der namibischen „Erinnerungslandschaften“).

„Dann melden Sie es!“ 

 193

Die genannten Artikel reproduzieren gängige kolonialrassistische Dichotomien, indem Rationalität als westlich konstruiert und Emotionalität den ‚Anderen‘ zugeschrieben wird. Als Reaktion darauf, warum es keine Angriffe auf die deutschstämmigen Farmer geben werde, heißt es etwa: „Wir Namibier sind nicht heißblütig, wir sind phlegmatisch“ (Scheen, 03.07.2016, faz.net). Insbesondere in der Bezugnahme auf die deutschstämmigen Namiber:innen werden die OvaHerero und Nama als ‚gefährlich‘ entworfen, weil sie sich unter Umständen „mit Gewalt nehmen könnten, was ihnen ihrer Ansicht nach zusteht“ (Zick, 22./23.10.2016, SZ, 11–12). Der auffallende Fokus auf die ‚Deutsch-Namibier:innen‘ lenkt von einer deutschen Aufarbeitung des Völkermords ab, indem die gegenwärtige ungleiche Landverteilung nicht als Folge kolonialer Enteignung anerkannt wird (vgl. Kößler und Melber, 18./19.06.2016, ND, 25). Darüber hinaus werden aber auch weitere kolonialrassistische Gegensätze wie etwa ‚entwickelt‘ vs. ‚unterentwickelt‘ oder ‚gebildet‘ vs. ‚ungebildet‘ reproduziert: ‚Schwarzen‘ Namibier:innen wird nicht nur naive Unwissenheit unterstellt, weil sie individuelle Entschädigungen erwarten und sich der deutsche Journalist in der Rolle wähnt darüber aufzuklären, dass Deutschland solche gar nicht vorsieht. Weitere rassistische Weltbilder artikulieren sich außerdem, wenn beispielsweise von einem Schnapsladen namens „Bottle Store“ die Rede ist, „der bereits um neun Uhr morgens gut besucht ist“ (Scheen, 03.07.2016, faz.net) oder wenn Die WELT das koloniale Bildwelten evozierende Wort „Stamm“ verwendet (vgl. Putsch, 08.06.2016, WELT online). Die Forderung der OvaHerero und Nama nach einer Beteiligung an den Verhandlungen wird zudem zu einem innernamibischen Konflikt reduziert, in dem nicht nur die Legitimation der Betroffenengruppen in Zweifel gezogen, sondern teilweise auch eine politische Unmündigkeit der OvaHerero impliziert wird. Die Verkennung der Gruppen der OvaHerero und Nama schreibt sich hier als Reproduktion kolonialrassistischer Imaginationen fort, bei der ‚weiße‘ Journalist:innen ihre objektivierenden und rassifizierenden Blicke auf die ‚Anderen‘ richten. Aus der Verkennung der Leiderfahrung der Nachfahren der ‚Opfer‘ folgt die Nichtanerkennbarkeit der Forderung, der Aufarbeitung kolonialer Gewalt mit Entschädigungszahlungen zu begegnen. Auf der anderen Seite zeigt sich anhand der Anerkennungsdebatte 2015/2016 allerdings auch, dass die moralischen Kollektivideale diskursiv neu ausgehandelt werden. Insbesondere die Artikel in der taz, dem ND und zu Teilen auch in der SZ geben nicht nur den deutschen Oppositionsparteien eine Stimme, sondern bestehen zudem auf die Anerkennung der OvaHerero und Nama als Verhandlungspartner:innen der Bundesregierung. Als 2016 die (inoffizielle) Anerkennung des Völkermords in den Medien verkündet wird, wird beispielsweise der LINKENAbgeordnete Movassat mit der Forderung zitiert, dass die „Geheimdiplomatie unter Ausschluss der Nachfahren der Überlebenden“ enden müsse (Munzinger

194 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

und Das Gupta 13.07.2016, Süddeutsche.de). Im ND macht Peter Nowak die Weigerung der Bundesregierung, mit den OvaHerero und Nama über Reparationen zu verhandeln, zum zentralen Thema. Mit seinem Titel „Die Täter zum Gespräch zwingen“ impliziert er die Angemessenheit von Reparationszahlungen, indem er die historischen ‚Täter‘ mit der gegenwärtigen deutschen Regierung als identisch konstruiert und somit die Fortdauer des Völkermords bis in die Gegenwart begründet (Nowak, 21./22.05.2016, ND, 5). Die in den Zeitungsartikeln ambivalente Haltung gegenüber der bundesrepublikanischen Zurückweisung von Reparationen weist somit auf eine sehr viel grundlegende erinnerungspolitische Aushandlung: die Anerkennung des Deutschen Reichs als europäische Kolonialmacht und die daraus resultierenden Konsequenzen. Illustrieren lässt sich diese Debatte beispielsweise anhand der von Joachim Käppner getroffenen Aussage in der SZ: Angesichts der Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Schuld daran ist die Erinnerung an die Kolonialverbrechen überlagert worden; außerdem ging das deutsche Übersee-Imperium schon mit dem Ersten Weltkrieg verloren. Das macht den Völkermord in Namibia aber nicht ungeschehen; ebenso wenig der Verweis, dass andere Kolonialmächte, etwa Frankreich, in ihren Besitzungen noch viel mehr Menschen umgebracht haben – allein der vergebliche Versuch, Algerien mit Gewalt zu halten, kostete bis 1961 wohl eine Million Tote. Aber das ist nicht die deutsche Geschichte. Zu der jedoch gehören Ignoranz und Ablehnung gegenüber allen Forderungen und Bitten der Herero und Nama, ihr Leid anzuerkennen. (Käppner, 05.07.2016, SZ, 4)

In Abgrenzung zur bundesrepublikanischen Erinnerungspolitik besteht in der Medienberichterstattung Einigkeit darüber, dass eine klare Benennung des Genozids erfolgen muss. Medial wird allerdings zu Teilen die Differenz zwischen der angekündigten Anerkennung des Genozids und der Verkennung der ‚Anderen‘ als legitime Vertreter:innen ihrer Interessen reproduziert. Dennoch kritisiert die Berichterstattung die bundesrepublikanische Strategie, eine ‚moralische Verantwortungsübernahme‘ für den Völkermord vordergründig als entwicklungspolitische Maßnahme zu begreifen. Im abschließenden Abschnitt rekonstruiere ich die Nichtanerkennbarkeit historischer Schuld, die aus der als Aufarbeitung verstandenen Entwicklungszusammenarbeit resultiert und bei der die Verkennung marginalisierter ‚Leiderfahrungen‘ fortgeführt wird.

„Dann melden Sie es!“ 

 195

 ntwicklungspolitik als Ausdruck der „politischen und moralischen 7.3.3 E Verantwortung“ Deutschlands Schon 1989 wurde die ‚besondere Verantwortung gegenüber Namibia‘ im Sprachgebrauch bundesdeutscher Politik verankert und sogleich als ausnahmslos entwicklungspolitische Investition in den südwestafrikanischen Staat verstanden (vgl. Drucksache 11/4205, 15.03.1989). Entsprechend übersetzte auch WieczorekZeul im Jahr 2004 in ihrer Rolle als Entwicklungsministerin das von ihr zum Ausdruck gebrachte Verantwortungsbekenntnis für die Verbrechen des deutschen Kolonialismus in die Ankündigung einer „Versöhnungsinitiative“, die ab 2007 auf eine Stärkung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der beiden Länder zielen sollte (vgl. Kößler 2015, 263). Dennoch vollzieht sich eine wesentliche diskursive Verschiebung im Jahr 2015, bei der die Anerkennung des Völkermords und die Formulierung einer Entschuldigung mit Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit zu einer Strategie historischer Aufarbeitung verbunden werden. Noch Anfang der 2000er Jahre diente der Verweis auf das entwicklungspolitische Engagement Deutschlands der Begründung, eine Benennung des Völkermords und folglich die historische Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus gänzlich auszuschließen, wie ich in Kapitel 8 im Detail zeigen werde (vgl. „Herero-Häuptling fordert von Deutschland Entschädigung“, 03.09.2001, Die WELT; „Schuld ja – Entschädigung nein“, 29.10.2003, FR, 7; Bittdorf, 24.01.2003, SZ, 9; Bittdorf, 30.10.2003, SZ, 7). Lammert hingegen verbindet in seinem Artikel aus dem Jahr 2015 die Forderung nach einer offiziellen Anerkennung des Völkermords mit dem bereits bestehenden entwicklungspolitischen Engagement Deutschlands. Die von ihm geforderte Anerkennung des Völkermords dürfe nicht als Abschluss der Aufarbeitung der Vergangenheit verstanden werden, sondern müsse den „Anstoß zu einem Versöhnungsprozess“ geben (Lammert, 09.07.2015, Die Zeit, 16). Lammert nennt daraufhin die deutsche „Beteiligung am Aufbau eines Dokumentationszentrums zur Aufarbeitung der Geschichte des namibischen Widerstands“ und „die Restaurierung der Gedenkstätte Memorial Park Cemetery bei Swakopmund“. Auf welche Weise der Kolonialismus allerdings in Deutschland aufgearbeitet werden soll, erwähnt er nicht. „Die besondere Verantwortung Deutschlands für seine frühere südwestafrikanische Kolonie“ drücke sich demnach in den höchsten Entwicklungshilfeleistungen pro Kopf für das heutige Namibia aus (Lammert, 09.07.2015, Die Zeit, 16). Entwicklungszusammenarbeit als versöhnende Geste zur Aufarbeitung der Vergangenheit, wie Lammert sie in seinem Artikel entwirft, spricht indes die ehemaligen Kolonialherr:innen von einer Auseinandersetzung mit dem kolonialen Genozid frei. Schließlich unterstreicht das Insistieren auf die Zahlung von Entwicklungshilfe die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Namibia und Deutschland sowie zwischen den OvaHerero und Nama und der

196 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

deutschen Regierung. Denn Entwicklungszusammenarbeit wird immer zu den Bedingungen der Geldgeber:innen betrieben, die die Konditionen einer erfolgreichen Kooperation definieren (vgl. Böhlke-Itzen 2005, 103). Die Anrufung der „historischen und moralischen Verantwortung“ erhält den Status quo aufrecht und macht eine Aufarbeitung des Genozids ausschließlich zu deutschen Bedingungen möglich. Deutlich wird dies auch an den erneut von den OvaHerero und Nama vorgebrachten Forderungen nach Reparationen. Israel Kaunatjike macht in verschiedenen Pressemitteilungen des Jahres 2015 unmissverständlich klar, dass die OvaHerero und Nama diejenigen sein sollten, die über die Bedingungen einer deutschen Entschuldigung für den Völkermord zu entscheiden haben sollten und dass dies „[m]it Entwicklungszusammenarbeit […] alles nichts zu tun“ habe (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 09.07.2015). Im Gegensatz zur namibischen Regierung, die für das gesamte südwestafrikanische Land verhandelt, fordern Verbände wie das OvaHerero Genocide Committee (OGC), das Nama Genocide Technical Committee sowie Anhänger:innen des Paramount Chiefs Rukoro, Entschädigungen an sie als Nachfahren der ‚Opfer‘ des Genozids zu zahlen (vgl. PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 09.07.2015). Begründet wird dies zum einen damit, dass sie als betroffene Gruppe von den Entwicklungshilfegeldern nicht profitierten, zum anderen könne die ohnehin bestehende Entwicklungszusammenarbeit nicht als Ersatz für Entschädigungen für den Völkermord herhalten. Mit Beginn des Dialogprozesse Ende 2015 tritt allerdings auch die namibische Regierung mit der Forderung nach Entschädigungen an die Bundesregierung heran. Mehrmals wurde in der Presse der namibische Sonderbeauftragte Ngavirue zitiert, der gegenüber dem ZDF forderte, „dass der Völkermord erstens anerkannt wird und dass sich Deutschland zweitens dafür entschuldigt. Und dann wollen wir zum dritten, zum wichtigsten Punkt kommen: der Frage der Reparationen“ (Sattar, 14.06.2016, FAZ, 2). Dass die Frage nach Reparationszahlungen solch einen großen Stellenwert in den deutsch-namibischen Verhandlungen und in der Medienberichterstattung einnimmt, verdankt sich explizit dem Engagement der OvaHerero und Nama. Dabei macht insbesondere das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ die Forderungen der OvaHerero und Nama in der deutschen Gesellschaft bekannt, indem u. a. Zitate oder Pressemitteilungen verschiedener OvaHerero- und NamaInteressenvertretungen veröffentlicht werden (vgl. Kößler und Melber 2017, 77). Besondere Sichtbarkeit erlangen dabei der wiederholt in den Medien zitierte Herero-Aktivist Israel Kaunatjike sowie die Wissenschaftler Reinhart Kößler und Henning Melber, die ebenso im Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ engagiert sind. Ihre Forderungen beschreiben sie in einer am 1. Juni 2016 veröffentlichten Pressemitteilung wie folgt:

„Dann melden Sie es!“ 

 197

Als zivilgesellschaftliches Bündnis, das den Völkermord in Namibia und seine Konsequenzen als gesamtgesellschaftliches Thema begreift, fordern wir die Bundesregierung dazu auf, sich für die schnellstmögliche Einbeziehung der Opfergruppen der OvaHerero und Nama in die laufenden Regierungsverhandlungen einzusetzen: Der Anerkennung des Völkermordes muss eine Bitte um Entschuldigung gegenüber den Nachfahren der Opfer des Genozids folgen, die auch materiellen Ausdruck in angemessenen Entschädigungen für enteignete Ländereien und Besitztümer findet. (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 01.06.2016, Hervorhebung S. R.)

Die Pressemitteilung verdeutlicht, dass die OvaHerero und Nama neben den materiellen Entschädigungen für die „enteigneten Ländereien und Besitztümer“ eine Anerkennung des Genozids sowie eine „Bitte um Entschuldigung“ einfordern, wobei die „Einbeziehung der Opfergruppen“ zur Voraussetzung für die Verhandlungsführung erklärt wird. In der Transitional-Justice-Forschung können „Entschädigungen“ verschiedene Maßnahmen umfassen, die der Kompensation von Massenverbrechen dienen (vgl. Barkan 2002, 15; Freudenreich 2010, 36). Barkan (2002, 366) hebt dabei hervor, dass die „Korrektur historischen Unrechts“ nicht zwangsläufig materielle Entschädigungen voraussetzt – auch deswegen, weil Einigkeit besteht, dass die Schäden von Massengewalt keineswegs finanziell kompensiert werden können (vgl. Appiah 2004, 27; Odier-Contreras Garduño 2018, 2). In der Analyse der Pressemitteilungen des Bündnisses fällt dahingehend auf, dass in den Jahren 2015/2016 die Begriffe „Reparation“, „Entschädigung“ und „Wiedergutmachung“ synonym verwendet werden und teilweise auch unterschiedliche Forderungen beschreiben. Mit der Forderung nach „Wiedergutmachung“ nehmen die OvaHerero und Nama allerdings auf einen Begriff Bezug, der im historischen Kontext deutscher „Vergangenheitsbewältigung“ verortet werden muss (vgl. Fußnote 21, ausführliche Definition in: Jesse 1997, 12). Dabei umfasst „Wiedergutmachung“ vor allem Maßnahmen, die zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen implementiert worden sind (vgl. Robel 2013, 346). Mit Verweis auf die deutsche „Wiedergutmachungspolitik“ für NS-Verbrechen wird in der Medienberichterstattung auch begründet, warum sich die Forderung der OvaHerero und Nama nach Entschädigungen nicht durchsetzen kann. Schließlich sei damit die „Angst“ begründet, dass auch Länder wie etwa Griechenland und Italien für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs erneut Ansprüche gegenüber Deutschland erheben könnten. Als juristische Begründung wird zudem angeführt, dass eine „individuelle Entschädigung“ nur für direkt Betroffene, nicht aber für die Nachfahren der ‚Opfer‘ infrage käme, weil „[a]uch bei anderen Entschädigungsfällen […] Ansprüche nicht vererbt worden“ seien, wie Polenz gegenüber der Presse im Hinblick auf die Aufarbeitung des Nationalsozialismus begründet (Vates und Geyer, 14.06.2016, FR, 6). Die „Angst vor Reparationen“ verhinderte auch die Anerkennung des Völkermords bis 2015. Erst mit der

198 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

moralisch-historischen Ausdeutung des Begriffs schloss die Bundesregierung im Sommer 2016 mögliche Rechtsfolgen, die in Entschädigungsansprüchen münden könnten, aus. In der Beantwortung der Kleinen Anfrage der LINKEN präzisiert die Bundesregierung, dass Reparationszahlungen nur als „zwischenstaatliche[r] Ausgleich für Kriegsschäden“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 9) infrage kämen, womit die Reparationsforderungen der OvaHerero und Nama zurückgewiesen werden. Der Begriff der „Entschädigungen“ wird auf der anderen Seite mit dem Prinzip der „Wiedergutmachung“ gleichgesetzt, was allerdings „die von Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgenommene Entschädigung von Opfern des Holocaust und anderen NS-typischen Unrechts bezeichnet“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 10). Das Verständnis von Wiedergutmachung sei demnach nicht auf „den historischen Hintergrund und den Kontext der deutschnamibischen Gespräche“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 10) anwendbar. In der Berichterstattung wird dahingehend auch deutlich kommuniziert, dass Namibia zuerst auf Entschädigungsforderungen verzichten musste, damit Deutschland sich überhaupt auf Verhandlungen einlässt. Die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den beiden Ländern artikulieren sich nicht nur darin, dass die deutsche Seite die Bedingungen definieren kann, zu denen die Verhandlungen stattfinden, sondern auch, dass die Bundesregierung die Definitionsmacht über die Bewertung der historischen Ereignisse für sich beansprucht. Beispielsweise wird Polenz die Rolle zugeschrieben, „[zu] klären, was zwischen 1904 und 1908 in der deutschen Kolonie passiert ist, und vor allem: was daraus für beide Seiten folgt“ (Pfaff, 22.10.2016, SZ, 13). Wie selbstverständlich leitet sich daraus auch die Überzeugung ab, dass „[e]ine individuelle Wiedergutmachung oder Entschädigung […] heute natürlich nicht mehr möglich“ sei, wie Wieczorek-Zeul in unterschiedlichen Beiträgen der Jahre 2015/2016 zu verstehen gibt (Munzinger, 02.05.2015, Süddeutsche.de). Und auch die SZ kommt zu dem Schluss: „Eine bessere und praktikablere Idee [als Reparationen, Anm. S. R.] wäre eine durch die Bundesrepublik großzügig ausgestattete Stiftung“ (Käppner, 05.07.2016, SZ, 4). Der Regierungspressesprecher Martin Schäfer stellt wiederum die „weltrekordverdächtigen“ Finanztransfers in einer Regierungspressekonferenz im Jahr 2017 heraus (vgl. Regierungspressekonferenz, 06.01.2017). Die deutsche „Großzügigkeit“ entwicklungspolitischer Investitionen wird somit als verantwortungvoller Umgang mit der deutschen Vergangenheit markiert, wobei sich die Bundesregierung als gebende Wohltäterin inszenieren kann. Die Machtdifferenzen zwischen Nord und Süd bleiben dabei allerdings intakt. Schließlich verneint die Konstruktion der ‚besonderen historischen und moralischen Verantwortung‘ für Namibia mit ihrer in die Zukunft weisenden Entwicklungszusammenarbeit ein Eingeständnis ‚historischer Schuld‘.

„Dann melden Sie es!“ 

 199

Auf der anderen Seite stößt es in der Medienberichterstattung allerdings auch auf Kritik, dass der Transfer von Entwicklungshilfezahlungen mit einer moralischen und historischen Aufarbeitung der Vergangenheit gleichgesetzt wird. In dem bereits zitierten FR-Artikel „Kolonialismus und Doppelmoral“ von Christian Bommarius wird in Bezugnahme auf die geplante Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen festgestellt, dass es unmöglich sei, die Türkei zu einer Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu ermahnen und „andererseits zu versuchen, dem Eingeständnis des eigenen Völkermords unter Hinweis auf großzügige Entwicklungshilfe zu entkommen“ (Bommarius, 08.07.2015, FR, 11). Die SZ schreibt, „Berlin bekennt sich moralisch zu den Verbrechen, streitet eine Haftung im juristischen Sinne jedoch weiter ab“ (Pfaff, 22.10.2016, SZ, 13). Implizit schwingt die Überlegung mit, dass eine juristische Neubewertung hinsichtlich der Aufarbeitung kolonialer Gewalt geboten sein könnte. Und auch das ND urteilt, dass die Begriffsverwendung „Völkermord“ nur ein rhetorischer Schritt ist, aber keine weitreichende Bedeutung hat, weil Entschädigungen ausgeklammert werden: „So ließe sich die Geschichte weiter als Geschichte der Herrschenden schreiben: Sorry für den Völkermord, Schwamm drüber. Mit Recht und Gerechtigkeit hat das nichts zu tun“ (Ling, 14.07.2016, ND, 1). Als Konsequenz wird bei der diskursiven Verknüpfung von Entwicklungszusammenarbeit als Ausdruck moralischer Verantwortung eine weiterführende Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit verhindert. Zusammenfassend hat die Anerkennungsdebatte in den Jahren 2015/2016 in besonderer Weise die Ambivalenzen zwischen den diskursiv hergestellten moralischen Kollektividealen und einer normativen Anrufung der moralischen Verpflichtung zur Aufarbeitung kolonialer Gewalt aufgezeigt. Die rhetorische Verpflichtung zu moralischer Verantwortungsübernahme markiert somit den Versuch, Worte zu finden, die am erinnerungspolitischen Status quo nichts ändern. Innen- wie außenpolitisch unter Druck geraten, musste die Bundesregierung zwar eine Sprachanpassung akzeptieren, allerdings unter der Voraussetzung, keinerlei finanzielle Entschädigungen zuzugestehen. Somit verschieben sich die Moralregeln zwar dahingehend, dass eine Benennung des Genozids unvermeidbar ist, das gesellschaftlich auferlegte Kollektivideal indes nicht die Verpflichtung zur Zahlung von Entschädigungen beinhaltet. Der wiederholte rhetorische Verweis auf die moralische Verantwortungsübernahme wird als Gegensatz zu einer politischen und rechtlichen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit verstanden und letztlich diskursiv zu dem, was Ahmed (2004, 117) als „words that do less“ beschrieben hat. Dabei deutet sich in der Analyse ein diskursiver Wandel der moralischen Normen an, wenn medial die Verknüpfung von Moral und Entwicklungspolitik kritisiert wird. Inwiefern die Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ und die Zahlung von Reparationen zum moralisch akzeptierten Kol-

200 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

lektivideal wird, stelle ich in Kapitel 11 anhand des „Versöhnungsabkommens“ dar, das die deutsche Regierung im Mai 2021 ankündigte. Im Folgenden rekonstruiere ich, wie die Anerkennung des Algerienkriegs in der deutschen Presse respektive die deutsche Benennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama in der französischen Presse besprochen wird. Die Darstellungen der kolonialen Vergangenheiten des jeweils anderen Lands verweisen insbesondere auf die Selbstbilder, die von der erinnerungspolitischen Aufarbeitung der ‚eigenen‘ historischen Verbrechen entworfen werden. Tendenzen zu einer Transnationalisierung in der Aufarbeitung des Kolonialismus als europäisches Phänomen lassen sich dabei kaum nachvollziehen.

7.4 „ Der Mantel des Vergessens“ – Deutsche Medienberichterstattung über die Anerkennung des Algerienkriegs 1999 Als im Juni 1999 der Algerienkrieg offiziell anerkannt wurde, widmete die deutsche Presse dem Gesetzesvorschlag nur eine kurze Notiz. Der französischen Medienberichterstattung ähnlich stieß auch in Deutschland der Papon-Prozess auf größeres Interesse als die parlamentarische Benennung der ‚Ereignisse‘ als „Algerienkrieg“ (vgl. Schneider 2004 für eine Analyse der deutschen Medienberichterstattung). Allein drei Artikel, davon zwei in der Frankfurter Rundschau, kommentieren die Bedeutung der offiziellen Anerkennung ausführlicher (vgl. Meister, 03.07.1999, FR, 2; Willms, 17.8.1999, SZ, 13; „Späte Entschleierung“, 15.06.1999, FR, 11). Stärker als in der französischen Medienberichterstattung wird der Algerienkrieg in den genannten Artikeln als „Trauma“ und „Tabu“ beschrieben, weswegen 37  Jahre lang die Geschehnisse im offiziellen Sprachgebrauch offiziell nicht als Krieg bezeichnet wurden. Aufgrund der zeitlichen Nähe zum Papon-Prozess und durch die Öffnung der Archive, die Details über das Massaker vom 17. Oktober 1961 ans Licht brachten, wird auch in den drei Artikeln eine Verbindung zwischen Vichy und Algerien hergestellt. In der FR wird am 3.  Juli 1999 der Historiker Claude Liauzu mit der Aussage zitiert, dass Frankreich „ein doppeltes Trauma erlebt“ habe: „Die Niederlage des Zweiten Weltkrieges war noch nicht verwunden, als die Nation der ‚hundert Millionen Franzosen‘ seine Kolonien verlor“ (Meister, 03.07.1999, FR, 2). Dies sei eine ‚schmerzhafte‘ Erfahrung gewesen und ein „Schock“ für die „grande nation“, den sie sich nicht eingestehen konnte. Mit den nach dem Krieg beschiedenen Amnestien, die eine strafrechtliche Aufarbeitung des Algerienkriegs unterband, „folgte die Amnesie“, so die Journalistin Martina Meister (03.07.1999, FR, 2). Mit Verweis auf die Historikerin Raphaelle Branche, die 1999 für ihre Dissertation über die Anwendung

„Der Mantel des Vergessens“ 

 201

der Folter in Algerien forschte, wird diese als „Tabu“ und „weißer Fleck im französischen Gedächtnis“ beschrieben. Dass „die staatlich verordnete Amnesie“ langsam zu einem Ende kommt, wird dabei insbesondere der zweiten Einwanderergeneration zugeschrieben, der auch Branche zugerechnet wird. Die Historikerin sieht „einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem völlig unverarbeitet gebliebenen Trauma der Dekolonisation und dem Fremdenhass Frankreichs“. Abschließend wird befunden, dass „‚die nationale Depression Frankreichs‘ […], in der verpassten Vergangenheitsbewältigung wurzelt“ (Meister, 03.07.1999, FR, 2). Nach Vichy müsse nun auch der Algerienkrieg aufgearbeitet werden. In dem anderen FR-Artikel, der zwar auf die Worte „Amnesie“, „Tabu“ und „Trauma“ verzichtet, wird dennoch das Unverständnis gegenüber dem Beschweigen der französischen Vergangenheit zum Ausdruck gebracht. Deutlich wird dies, wenn etwa von „der gespenstischen Weise“ die Rede ist, mit der die französische Regierung „unerbittlich und verschleiernd“ auf die Benennung des Algerienkriegs verzichtete, „obwohl der allgemeine Sprachgebrauch und selbst jener der Schulbücher die vernebelnde Redeweise bereits in den 1970er Jahren aufgaben“ („Späte Entschleierung“, 15.06.1999, FR, 11). Die ausbleibende historische Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich wird in allen drei analysierten Artikeln diskursiv mit einer Semantik des Unverständnisses belegt, wobei vor allem psychologisierende Begriffe wie der des „Tabus“, des „Traumas“ und der „Verdrängung“ Anwendung finden. Während in den beiden FR-Artikeln keine Bezüge zur deutschen Erinnerungspolitik hergestellt werden, steht im Artikel „Geschichte und Staatsräson“ von Johannes Willms (17.8.1999, SZ, 13) in der Süddeutschen Zeitung vor allem das Selbstverständnis deutscher ‚Vergangenheitsbewältigung‘ im Zentrum des Interesses. Willms stellt dabei eine Parallele zwischen der französischen und der deutschen Erinnerungspolitik her und befindet, dass das Ausblenden ‚dunkler Vergangenheiten‘ im deutschen Kontext niemals auf die Art möglich wäre wie in Frankreich. Veranschaulicht wird diese Behauptung anhand der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Demnach speise sich aus der „großen Vergangenheit“ der Französischen Republik eine „hohe Selbsteinschätzung“, aus der sie den „moralische[n] wie politische[n] Anspruch“ ableite, „nach wie vor zu den großen Mächten der Welt zu zählen“. Weniger gloriose Momente der eigenen Geschichte würden hingegen „mit dem Mantel des Vergessens oder Verschweigens bedeckt werden“ – was bisher für den Algerienkrieg und die Massaker vom 17. Oktober 1961 galt (Willms, 17.8.1999, SZ, 13). Allein mit der Überschrift des Artikels deutet Willms eine direkte Verbindung zur deutschen Erinnerungspolitik an, wenn er schreibt: „Auch Frankreich wird von seiner Vergangenheit eingeholt“. Dabei zeichne sich das „republikanische Geschichtsverständnis“ besonders durch die Herstellung positiver Bezugspunkte

202 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

aus, wie aus der Französischen Revolution oder der Résistance, die der nationalen Identitätsstiftung dienen und somit „wichtiger Bestandteil der französischen Staatsräson“ seien (Willms, 17.8.1999, SZ, 13). In Deutschland verbiete hingegen der Nationalsozialismus eine solch positive und identitätsbildende Rückbesinnung auf die Vergangenheit, was „stets mit einem gewissen Neid gesehen“ wurde. Schließlich lässt Willms ein gewisses Bedauern erkennen, indem er seinen Text wie folgt abschließt: „Was in Frankreich aber geradezu ein Gebot der Staatsräson ist, verbietet uns Deutschen jedoch die eigene Geschichte“ (Willms, 17.8.1999, SZ, 13). Auf der einen Seite stellt Willms Deutschland als ein Land dar, das seine „dunkle Vergangenheit“ aufgearbeitet hat. Gleichsam eigne sich der Nationalsozialismus aber nicht zur deutschen Identitätskonstruktion im Gegensatz zum französischen „ausnahmslos alle Epochen umfassende[n] republikanische[n] Geschichtsbewusstsein“. Dabei ignoriert Willms, dass sich das Holocaust-Gedenken erst ab den 1980er Jahren in Deutschland etablierte (vgl. Dubiel 1999), wenn er die fehlende deutsche „Gelassenheit“ im Umgang mit der eigenen Geschichte herausstellt. Indem der Journalist darüber hinaus den Nationalsozialismus in Deutschland mit der französischen Kolonialgeschichte in Frankreich parallelisiert, finden weder die deutsche Kolonialgeschichte noch die erinnerungspolitischen Aushandlungen zur Etablierung des Holocaust-Gedenkens Erwähnung. „Der Mantel des Vergessens“ breitet sich folglich nicht nur über den historischen Verbrechen der grande nation aus, wie der Autor der SZ herauszustellen meint. Vielmehr zeigt sich anhand der deutschen Berichterstattung über den französischen Kolonialismus, dass die deutsche Kolonialvergangenheit um die Jahrtausendwende noch keinen Platz im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft gefunden hat, wenn sich deutsche Erinnerungskultur ausnahmslos auf das Gedenken an den Nationalsozialismus bezieht und dies als einzige ‚dunkle Vergangenheit‘ anerkennt.

7.5 E  ine „préfiguration du nazisme“? – Der Genozid an den OvaHerero und Nama in der französischen Berichterstattung Vom 25. November 2016 bis zum 12. März 2017 zeigte das Mémorial de la Shoah in Paris eine, wie es in der Pressemitteilung der Gedenkstätte hieß, „beispiellose Ausstellung“ (Mémorial de la Shoah 2017, „Le génocide des Herero et Nama“). Zeitgleich zur Ausstellung „Deutscher Kolonialismus: Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin widmete das Mémorial dem „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ eine Ausstellung – gemeint ist der von der Deutschen „Schutztruppe“ begangene Völker-

Eine „préfiguration du nazisme“? 

 203

mord an den OvaHerero und Nama. „Beispiellos“ ist die Ausstellung deswegen, weil es sich um die erste in Frankreich handelt, die sich dem Genozid im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ zuwendet. Das Mémorial, das seinen Schwerpunkt auf die Erforschung und Dokumentation der Verfolgung der französischen Jüd:innen im besetzten Frankreich legt, „befasst sich [in seinen] Ausstellungen und Aktivitäten“ auch mit den anderen Völkermorden des 20. Jahrhunderts, wie die Gedenkstätte auf ihrer Internetseite schreibt. Die Kuratorin Sophie Nagiscarde sagt in einem kurzen Interview auf den Seiten des Mémorials, dass sich die Gedenkstätte „seit einigen Jahren der Vermittlung, der Vorbeugung um dem Vergleich von Völkermorden zuwendet“, mit dem Ziel, demokratische Werte zu verteidigen und weiterzugeben (Mémorial de la Shoah 2017, „Le premier génocide du XXe siècle – Questions“, Übersetzung S. R.). Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ausstellung, Leonor Faber-Jonker, stellt als Besonderheit des Völkermords in „Deutsch-Südwestafrika“ heraus, dass dieser insbesondere im vergangenen Jahrzehnt als „Wegbereiter der Shoah“ debattiert wurde. Gleichzeitig kommentiert des Mémorial auch die jüngste deutsche Erinnerungspolitik, wenn auf der Internetseite darauf hingewiesen wird, dass „[d]ie Bundesrepublik Deutschland dabei sei, den Völkermord öffentlich als solchen anzuerkennen“ (Mémorial de la Shoah 2017, „Le premier génocide du XXe siècle – L’exposition“, Übersetzung S. R.). Die Anerkennungsdebatten der Jahre 2015/2016 sowie die Pariser und die Berliner Ausstellung haben auch das französische Medieninteresse am deutschen Kolonialismus erhöht. Pascal Blanchard, einer der führenden Historiker, der zum (post-)kolonialen Frankreich forscht, nimmt die Pariser Ausstellung zum Anlass, um einen Überblick über die koloniale Vergangenheit Deutschlands und die bisherigen erinnerungspolitischen Aktivitäten der letzten Jahre zu geben. Blanchard beendet seinen Artikel mit der inoffiziellen Anerkennung des Völkermords im Jahr 2015, der Ankündigung einer offiziellen Entschuldigung und den erneut angestrengten Klagevorhaben zur Erwirkung finanzieller Kompensationen. Er folgert: C’est donc dans ce contexte, toujours éminemment sensible, que se déroule l’exposition présentée par le Mémorial de la Shoah à Paris, au moment même où le Deutsches Historisches Museum propose, jusqu’au 14 mai 2017, une exposition intitulée German Colonialism. Fragments Past and Present. Au moment, enfin, où en France, les déclarations d’Emmanuel Macron sur la notion de crime contre l’humanité associée à la question coloniale déclenche moult débats et polémiques. (Blanchard 2016)

Die Analyse der französischen Zeitungsartikel im Zeitraum von 2015 bis 2017 zeigt indes, dass die Berichterstattung weniger durch transnationale Bezugnahmen in der Thematisierung des französischen Kolonialismus auffällt, wie Blanchard in

204 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

seinem Beitrag andeutet. Vielmehr dominieren die Bezugnahmen auf die nationalsozialistischen Verbrechen im Allgemeinen und die Shoah im Besonderen. Vergleichbar mit der deutschen Berichterstattung widmet sich die französische Presse kaum den deutschen Anerkennungsdebatten in den Jahren 2015/2016. Nur Le Monde schreibt im Juli 2015 über die Verwendung des Völkermordbegriffs mit dem Verweis, dass diese nur als „ligne directrice politique“ ausgegeben wurde und daher keine rechtliche Geltung habe. Ebenso wie in der deutschen Presse wird die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen als Grund der politischen Initiative angeführt (vgl. Lemaître, 17.7.2015, Le Monde, 5). 2016 nimmt einzig Le Figaro Bezug auf die Berliner Regierungspressekonferenz, in der die Pressesprecherin Sawsan Chebli eine Entschuldigung gegenüber Namibia in Aussicht stellte (vgl. Djorkaeff und Martineau, 21.07.2016, lefigaro.fr). Gleichwohl kommentiert der in Jerusalem ansässige Historiker Stefan Ihrig in Le Monde die Anerkennung des Armenien-Genozids durch den deutschen Bundestag Anfang Juni 2016. Auf die Stellungnahmen der Abgeordneten zurückgreifend, folgert Ihrig, dass Deutschland sich auch der Aufarbeitung des OvaHerero- und Nama-Genozids stellen müsse (vgl. Ihrig, 09.06.2016, Le Monde, 26). Ohne Markierung eines konkreten tagespolitischen Anlasses erschienen im Dezember 2016 und im Juni 2017 außerdem zwei ausführliche Reportagen zu dem Völkermord an den OvaHerero und Nama in der Print- und Onlineausgabe des Le Figaro. Im Artikel „Le génocide oublié“ steht eine Delegationsreise von Vertreter:innen der OvaHerero und Nama nach Deutschland im Fokus, und dabei insbesondere das fehlende Gedenken an die von der Deutschen „Schutztruppe“ begangenen Verbrechen (vgl. Barotte, 07.12.2016, Le Figaro, 16). Den Direktor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) Hermann Parzinger zitierend, wird als Grund die Erinnerung an den Holocaust angeführt, die die „blutige“ Phase des Kolonialismus in den Hintergrund drängte (vgl. Barotte, 07.12.2016, Le Figaro, 16). Der Artikel „Hereros, la mémoire d’un peuple massacré“ aus dem Jahr 2017 bietet hingegen eine ausschließlich durch die Nachfahren der ‚Opfer‘ geprägte Sicht auf die Nachwirkungen des Völkermords im heutigen Namibia. Im Gegensatz zu manchen Artikeln, die 2015/2016 in der deutschen Presse erschienen sind, kommen keine Stimmen der deutschsprachigen Namibier:innen zu Wort, die eine relativierende Perspektive auf die Kolonialverbrechen entwickeln könnten (vgl. Gombeaud, 09.06.2017, lefigaro.fr). Insgesamt jedoch geben die Ausstellungen in Paris und im DHM in Berlin sowie die Veröffentlichung des Romans Blue Book von Elise Fontenaille-N’Diaye mehr Anlass zur Berichterstattung als die Einlassungen während der Regierungspressekonferenzen in den Jahren 2015 und 2016. Interessanterweise eröffnen insbesondere die Museumsausstellungen (vgl. Flandrin, 25.11.2016, lemonde.fr; Waberi, 31.1.2017, lemonde.fr) und die Buchveröffentlichung (vgl. Bart, 27.3.2015,

Eine „préfiguration du nazisme“? 

 205

Le Monde, 6) einen diskursiven Raum, in dem die Kontinuität von „Windhuk nach Auschwitz“ (Zimmerer 2007) diskutiert wird und folglich die Besonderheit des deutschen Kolonialismus in den Fokus gerät. Am deutlichsten wird dies anhand der Berichterstattung über das Buch Blue Book von Fontenaille-N’Diaye, in der der Völkermord an den OvaHerero und Nama als „préfiguration du nazisme“ verhandelt wird (Bart, 27.3.2015, Le Monde, 6). Das Blue Book entstand ab 1917 im Auftrag der britischen Krone. Darin hatte der Kommandant Thomas O’Reilly deutsche Dokumente zusammengetragen, die von den Verbrechen der deutschen Kolonialarmee zeugten (vgl. Faber-Jonker 2017, 39). 1926 unter Druck geraten, weil die deutsche Regierung die Veröffentlichung eines White Books über die britischen Kolonialverbrechen androhte, wurden die Zerstörung aller Vervielfältigungen angekündigt (vgl. Bat, 26.02.2017, liberation.fr). Fontenaille-N’Diaye entdeckt in einer südafrikanischen Bibliothek eine Kopie der historischen Quelle und entscheidet sich daraufhin, diese zu einem literarischen Text zu verarbeiten. Die rezensierenden Artikel verweisen dabei wiederholt auf Personen, die den späteren „Nazismus ankündigen oder zu diesem inspirieren“ (Bat, 26.02.2017, liberation.fr, Übersetzung S. R.), wie etwa Heinrich Göring, der erste Gouverneur „Deutsch-Südwestafrikas“ und der Vater „der späteren rechten Hand Hitlers“ war (Chatain, 23.10.2015, l’humanité.fr). Erwähnung findet außerdem Eugen Fischer als späterer „Mentor“ Josef Mengeles sowie seine ‚Forschung‘ zur „Rassenhygiene“, die Hitlers Mein Kampf prägte (Rabaté, 15.01.2015, Libération, LIV7). Im schon erwähnten Artikel „La colonie génocidaire“ von Emile Rabaté wird der Zusammenhang zwischen dem Völkermord in „Deutsch-Südwestafrika“ und dem Holocaust folgendermaßen expliziert: Par ailleurs, les recherches d’Elise Fontenaille-N’Diaye mettent au jour un pan insoupçonné de ce génocide. L’extermination méthodique, notamment via des camps de concentration, de ces tribus perçues comme des races inférieures ressemble à s’y méprendre à la „solution finale“. (Rabaté, 15.01.2015, Libération, LIV7)

Dass der Völkermord in der ehemaligen Kolonie eher als deutscher ‚Sonderweg‘ aufzufassen ist, verdeutlicht auch ein Artikel in L’Humanité. In diesem wird eine semantische Kontinuität zwischen den beiden Völkermorden herstellt, wenn etwa das Wort „Konzentrationslager“ in deutscher Sprache verwendet oder auf die Tätowierungen der gefangenen OvaHerero verwiesen wird. Folglich müsse der Völkermord als eine „Vorwegnahme der kommenden Vernichtungen“ betrachtet werden (Chatain, 23.10.2015, l’humanité.fr). In seiner Besprechung der Kolonialismus-Ausstellung des DHM kommt der Schriftsteller Abdourahman Waberi in Le Monde zu folgendem Schluss:

206 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

Certes, ce colonialisme ne diffère pas de ses cousins français, britannique ou portugais, qui comportent aussi leur „mission civilisatrice“ et leur hiérarchie raciale. Mais le cas allemand se caractérise par ses accents „scientifiques“, comme le montrent les tableaux métriques et les crânes d’Africains dont des moules sont présentés dans l’exposition. (Waberi, 31.1.2017, lemonde.fr)

Obwohl Waberi den deutschen Kolonialismus in Relation zu seinen europäischen „Cousins“ setzt, stellt er dennoch die rassenanthropologische Forschung als eine deutsche Besonderheit heraus. Die Bezugnahme auf die rassistisch begründete Hierarchisierung in der ehemaligen deutschen Kolonie dient Le Figaro zur Einführung von Zimmerers Argumentation der Kontinuität „Von Windhuk nach Auschwitz“ (vgl. Barotte, 07.12.2016, Le Figaro, 16). Wenige Monate zuvor hebt auch Le Monde mit Verweis auf Zimmerer die „Verbindung zwischen Windhuk […] und Auschwitz“ hervor und dass Deutschland im heutigen Namibia seine ersten Konzentrationslager errichtet habe (Lemaître, 10.6.2016, lemonde.fr, Übersetzung S. R.). Abwägender hingegen sind die Zeitungsartikel hinsichtlich der ‚Kontinuitätsthese‘, wenn es um die Ausstellung im Mémorial de la Shoah geht. Zwar wird auch die Einzigartigkeit des „Vernichtungsbefehls“ herausgestellt, wenn die Kuratorin Nagiscarde mit der Aussage zitiert wird, dass es „solche Schriften […] im Falle der Shoah und des Genozids an den Armeniern und Tutsi“ nicht gegeben habe (Flandrin, 25.11.2016, lemonde.fr, Übersetzung S. R.). Gleichzeitig lehnt sie die Herstellung einer direkten Verknüpfung zwischen Windhuk und Auschwitz ab. Stattdessen unterstreicht sie die vergleichende Perspektive der Ausstellung, mit der dafür sensibilisiert werden soll, „dass Rassenhass, die Erfahrung der Konzentrationslager und das Sammeln menschlicher Schädel für die anthropologische ‚Forschung‘ einen Nährboden [für den Nationalsozialismus, Anm. S.  R.] bereitete“ (Flandrin, 25.11.2016, lemonde.fr, Übersetzung S.  R.). Der Ausstellungskatalog, der Internetauftritt der Gedenkstätte sowie die Zeitungsinterviews eröffnen dabei eine transnationale Perspektive, mit der der Völkermord im Kontext europäischer Kolonialbestrebungen verortet wird. Im Katalog heißt es beispielsweise bezüglich der rassenanthropologischen Forschungsunterfangen um die Jahrhundertwende: „En 1900, la collecte de restes humains à des fins scientifiques a entraîné la constitution d’importantes collections anthropologiques dans l’Europe entière“ (Faber-Jonker 2017, 41). Illustriert wird dies mit dem Titelbild der „Crania Ethica. Les crânes des races humaines“, die 1882 als Forschungsergebnisse einer Untersuchung der Sammlungen des Muséum d’histoire naturelle de Paris entstanden ist (vgl. Faber-Jonker 2017, 40). Mit den Hinweisen in Le Monde und in Libération auf die Bedeutung des Blue Book – das hingegen in der deutschen Medienberichterstattung kaum Aufmerksamkeit erfährt – wird nicht nur eine zentrale historische Quelle eingeführt, sondern auch die macht-

Fazit: Praktiken verkennender Anerkennung 

 207

politische Auseinandersetzung mit den kolonialen Verbrechen zwischen dem Deutschen Reich und dem britischen Empire als relationales Beziehungsgeflecht eingeführt. Der transnationale Blick, der von den Kuratorinnen der Ausstellung für die historische Betrachtung eingeführt wird, schreibt sich indes auch in deren erinnerungspolitischen Bewertungen fort. Im Interview mit Libération schätzt Faber-Jonker die erinnerungspolitischen Entwicklungen folgendermaßen ein: Cependant, de nouvelles publications et expositions montrent que l’histoire coloniale allemande est en cours de réévaluation – qui participe de manière plus large d’un mouvement européen. Je crois que l’actuelle attention portée au génocide namibien forcera les autres Nations européennes à reconnaître leurs crimes coloniaux également. (Bat, 26.02.2017, libération.fr)

Faber-Jonkers und Nagiscardes Sichtweisen entsprechen jedoch nicht der Mehrheitsmeinung, die sich anhand der Analyse der Mediendarstellungen rekonstruieren lässt. Weder lässt sich aus der geringen Anzahl der Artikel schließen, dass sich eine Transnationalisierung der Erinnerungspolitiken vollzieht, noch wurden in den analysierten Artikel Bezüge zum französischen oder zu anderen Kolonialismen hergestellt. Allerdings weist die französische Medienberichterstattung über die Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama im Zeitraum von 2015 und 2017 einige Parallelen zu den medialen Debatten in Deutschland auf, wie beispielsweise anhand der Bezugnahme auf die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen deutlich wird. Weiterhin ist der deutschen Debatte nicht unähnlich, dass insbesondere die Partikularität des deutschen Kolonialismus diskutiert wird. Die Kontinuitäten von der kolonialen Gewalt zum Holocaust werden fast ausnahmslos in den analysierten Artikeln angesprochen und dabei entweder bestätigt oder zurückgewiesen. Bezüge zum französischen Kolonialismus werden indes nur selten und meist auch nur oberflächlich hergestellt. Anders als beim etablierten Gedenken an den Holocaust/die Shoah zeigt sich weder in der deutschen Berichterstattung über die Anerkennung des Algerienkriegs noch in den französischen Darstellungen deutscher Erinnerungspolitik die Tendenz, koloniale Gewalt als transnationales Phänomen zu verstehen und folglich postkoloniales Erinnern als ‚europäische‘ Aufgabe aufzufassen.

7.6 Fazit: Praktiken verkennender Anerkennung Im Fokus dieses Kapitels stand die Anerkennung des Algerienkriegs in Frankreich und des Völkermords an den OvaHerero und Nama in Deutschland. Als Gemeinsamkeiten in beiden Ländern zeigte sich, dass im Anerkennungsprozess von staatlicher Seite der Versuch unternommen wurde, die Anerkennung als eine

208 

 Zwischen Anerkennung und Verkennung

vordergründig sprachliche Anpassung zu realisieren, aus der keinerlei politische Konsequenzen abgeleitet werden sollten. Dabei wurden in beiden Fällen auch die Ambivalenzen der diskursiven Moralitätskonstruktion deutlich. Das Einhalten der moralischen Standards wird auf der einen Seite in den abgebildeten Debatten als Handlungsaufforderung verstanden, um den Anerkennungsprozess zu vollziehen. Auf der anderen Seite jedoch richten sich die Prämissen der Moralität an das erinnerungspolitisch richtige Handeln der eigenen ‚Nation‘, ohne dabei eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kolonialsystemen zuzulassen. So wird in der französische Parlamentsdebatte Moralität im ‚mutigen‘ Handeln der französischen Abgeordneten gesehen, um den einzig denkbaren Schritt, die überfällige Benennung des Algerienkriegs, zu gehen. Der moralische Standard diktiert zum einen die Benennung, normalisiert diese auf der anderen Seite allerdings auch. Schließlich wird sich nur dem alltäglichen Sprachgebrauch angepasst, wodurch die Auswirkungen der Anerkennung minimiert werden sollten. Weiterhin stellt die Parlamentsdebatte das geteilte ‚Leiden‘ der französischen ‚Nation‘ ins Zentrum, wodurch eine Auseinandersetzung mit dem französischen Kolonialsystem vermieden wird. Repräsentationen des ‚Leids der Anderen‘ bilden in der Parlamentsdebatte wie auch in der Berichterstattung eine Leerstelle, sodass sich allein auf die Geschichte der französischen ‚Nation‘ fokussiert wird. Der Beginn der deutschen Anerkennungsdebatte muss im Rahmen des multidirektionalen Bezugskontexts verstanden werden, in dem die Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen die Bundesregierung unter politischen Druck setzte, zum Völkermord im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ Stellung zu beziehen. Den Begriff „Völkermord“ fortan zur politischen Sprachregelung zu erklären, wird mit dem Bekenntnis zur moralischen Verantwortungsübernahme verbunden. Diese wird indes als Intensivierung der Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland und Namibia verstanden, um somit die Schaffung eines Präzedenzfalls für die Zahlung von Entschädigungen zu vermeiden. Moralische und historische Verantwortung als eine auf die Zukunft gerichtete Entwicklungszusammenarbeit klammert nicht nur die historische Aufarbeitung der Phase deutscher Kolonialherrschaft aus, sondern legitimiert außerdem die Zurückweisung der Reparationsforderungen der OvaHerero und Nama. Während die ‚Anderen‘ im französischen Fall gar nicht erst auftauchen, tut sich im deutschen Kontext eine Kluft zwischen der zunehmenden Bereitschaft einer Anerkennung des Völkermords und einer persistenten Verkennung der OvaHerero und Nama als betroffene Gruppen auf. Obwohl staatlicherseits der Versuch unternommen wird, die Anerkennung der kolonialen Vergangenheiten auf eine folgenlose Sprachanpassung zu reduzieren, resultiert die Benennung in einer „Sagbarmachung“ des Algerienkriegs und des Völkermords. Die Bezeichnung als „Algerienkrieg“ eröffnet den diskur-

Fazit: Praktiken verkennender Anerkennung 

 209

siven Raum, um Kriegsverbrechen, unterschiedliche Zeitzeug:innenberichte und neue Lesarten der Kriegsgeschehnisse sichtbar zu machen. Aus diesem Grund verwundert es auch nicht, dass kaum zwei Jahre später die Anwendung der Folter durch die französische Armee die erinnerungspolitischen Debatten in Frankreich dominierte. Indem die Bundesregierung offiziell von „Völkermord“ spricht, wird der Begriff auch abschließend für die mediale Nutzung legitimiert. Gleichzeitig erweitern sich die erinnerungspolitischen Forderungen: Während die OvaHerero und Nama seit Beginn ihres Engagements die Anerkennung des Völkermords in Verbindung mit einer offiziellen Entschuldigung und mit Zahlungen von Entschädigungen einfordern, gehen diese drei Komponenten auch in der deutschen Presse zunehmend eine diskursive Einheit ein. Folglich wird es in der Berichterstattung nicht mehr als ausreichend erachtet, den Völkermord anzuerkennen, ohne gleichzeitig eine Entschuldigung zu formulieren und Entschädigungen zu erwägen. Schließlich umfasst der Prozess der Anerkennung kolonialer Vergangenheiten sehr viel mehr als die staatliche Benennung kolonialer Gewalt. Praktiken der Anerkennung markieren außerdem einen wichtigen Moment, um vergangenen Ereignissen auch offiziell „Gedenkrelevanz“ zuzuschreiben (Robel 2013, 74) – dabei sollten sie jedoch weder als Anfangs- noch als Endpunkt erinnerungspolitischer Aushandlungsprozesse aufgefasst werden. Die folgenden vier Kapitel werden zeigen, dass anerkennende oder verkennende erinnerungspolitische Praktiken auch die Verhandlung von Reparationen für koloniale Verbrechen (Kap. 8), der Repatriierungen menschlicher Gebeine (Kap. 9) und die Erwägung von Restitutionen kolonialer Sammlungsbestände (Kap.  10) bestimmen. Aufgrund des performativen Charakters, der in der Anerkennung oder Verkennung (post–)kolonialer Erinnerungen angelegt ist, zeigt diese Arbeit im diachronen Verlauf von mehr als 20 Jahren, wie sich die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich und Deutschland transformiert hat. Das letzte empirische Kapitel dieser Arbeit zum Thema Entschuldigungen (Kap.  11), die im Jahr 2021 als mögliche Strategie zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen diskutiert werden, verdeutlicht den diskursiven Wandel der erinnerungspolitischen Bedeutung von Anerkennungen und bildet somit mit dem vorliegenden Kapitel eine Klammer.

8 „ We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“ – Postkoloniale Reparationsklagen und die ‚emotionale Einzigartigkeit‘ des Holocaust-Gedenkens La justice va-t-elle dire la vérité un jour de l’histoire des Harkis? Cette plainte pour crime contre l’humanité a-t-elle une chance d’aboutir ? Ce que les juifs ont demandé, les Harkis comme d’autres victimes d’histoire demandent aujourd’hui. (Hintergrundkommentar in der arte-Dokumentation Harkis, crime d’État; Vergessene Opfer des Algerienkriegs: die Harki, gezeigt am 12. Februar 2002, in kürzerer Fassung zitiert in: Eldridge 2006, 276.) We’re equal to the Jews who were destroyed. The Germans paid for spilled Jewish blood. Compensate us, too. It’s time to heal the wound. (Chief Kuaima Riruako in The Scotsman, September 2001, zit. in: de Wolff 2017, 392)

Im September 2001 erlangte die deutsche Kolonialvergangenheit erstmals größere öffentliche Aufmerksamkeit, als Vertreter:innen der OvaHerero eine Sammelklage (Class Action) in den USA einreichten. Dabei forderten sie nicht nur Reparationen für den von 1904–1908 verübten Völkermord, sondern auch Entschädigungen für den Verlust ihres Landes sowie die bis in die Gegenwart fortwährenden schlechten Lebensbedingungen. Im Besonderen ging es ihnen außerdem um die offizielle Anerkennung der Verbrechen, die neben der expliziten Benennung des Völkermordes zudem die Formulierung einer Entschuldigung umfassen soll. Die eingereichte Class Action adressierte sowohl die deutsche Bundesregierung als auch drei deutsche Unternehmen mit Sitz in den USA. Dabei wurde angenommen, dass die Deutsche Bank AG, die Reederei Woermann-Linien bzw. Deutsche-Afrika-Linien GmbH & Co. KG (DAL) und der Baugerätehersteller Terex Corp. wirtschaftlich vom deutschen Kolonialismus im heutigen Namibia profitiert haben (vgl. Eicker 2009, 325). Etwa zur gleichen Zeit reichte Boussad Azni, der Präsident des Comité national de liaison des Harkis (CNLH) mit Unterstützung des Collectif de justice pour les Harkis und mehrerer Harkis als Privatpersonen eine Klage gegen den französischen Staat ein. Gegenstand der Klage waren die an ihnen begangenen Massaker durch die algerische Befreiungsarmee unmittelbar nach dem Ende des Algerienkriegs. Die Harkis hatten als algerisch-muslimische Hilfstruppen die französische Armee gegen die antikolonialen Bestrebungen Algeriens unterstützt. Mit dem Ende des Kriegs erhielt die französische Armee den Befehl, die Flucht der Harkis nach Frankreich zu unterbinden, wohlwissend, dass der FLN sich für ihren ‚Verrat‘ an ihnen rächen würde (vgl. Henry, 30.08.2001a, Libération, 4). Die https://doi.org/10.1515/9783111018683-008

„We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“ 

 211

Klage forderte daher Wiedergutmachung vom französischen Staat für die „nonassistance à peuples en danger“ und für ihren abandon29 am Ausgang des Kriegs (Azni 2002, 165). In den oben genannten Zitaten wird deutlich, dass sowohl der Herero Chief Kuaima Riruako als auch der Harki-Vertreter Boussad Azni Bezug auf die Reparationen nehmen, die jüdische Überlebende als Entschädigung für den Holocaust beansprucht hatten. Im deutschen sowie im französischen Fall begründeten sowohl die OvaHerero als auch die Harkis ihre Klagen mit dem ausdrücklichen Ziel, dass der Völkermord bzw. die Massaker als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkannt würden. Dass juristische Mittel auch zur Aufarbeitung historisch weit zurückliegender Verbrechen in Erwägung gezogen werden, verdankt sich der Etablierung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und für Ruanda (1994), wo der juristische Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als Strafbestand des Völkerstrafrechts das erste Mal nach 1945 Anwendung fand (vgl. Sarkin 2004, 67). Definiert wurde der Begriff zuerst im Londoner Statut von 1945, welches den rechtlichen Rahmen für die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgab. Die Besonderheit dieses Tatbestands besteht in der Aussetzung der Verjährung, wodurch die Möglichkeit eröffnet wurde, auch weit zurückliegende Verbrechen der Justiziabilität zuzuführen und den Anspruch auf Wiedergutmachung neu zu verhandeln (vgl. Vuckovic 2004, 1024). Seither vervielfachten sich die Klagevorhaben der Erinnerungsaktivist:innen, wodurch die Erwägung rechtlicher Schritte als erinnerungspolitische Interventionsmöglichkeit an Bedeutung gewann (vgl. Branche 2005, 111). Diese neue globale Aufmerksamkeit für vergangene Verbrechen war der Beschleuniger für einen postkolonialen Erinnerungsaktivismus, um bisher marginalisierte ‚Leidensgeschichten‘ anzuerkennen (vgl. Barkan 2001). Der Politikwissenschaftler William F. S. Miles (2010) hat vor diesem Hintergrund argumentiert, dass der Holocaust als „unvergleichliches“ Menschheitsverbrechen (vgl. Levy und Sznaider 2001; Moses 2011a, 104) zu der Strategie des H/holocaust parallelism inspiriert habe. Miles (2010, 382) betont dabei, dass marginalisierte Erinnerungsgruppen die Bezugnahme auf

29  Abandon taucht in den französischen Quellen in einer doppelten Deutung auf, weswegen sich der Begriff nur ungenau ins Deutsche übertragen lässt. Zum einen meint er das Im-StichLassen und das Zurücklassen der Harkis nach der Unterzeichnung der Waffenstillstandserklärung im März 1962. Gleichzeitig wird er aber auch für die langjährige und segregierende Unterbringungspraxis in den französischen Aufnahmelagern angewandt. Abandonner meint in diesem Sinne auch, dass die Harkis von der Gesellschaft vergessen gemacht worden sind durch deren Absonderung in weit entfernten Walddörfern und Lagereinrichtungen (vgl. Crapanzano 2008).

212 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

den Holocaust auf unterschiedliche Weise nutzen, um Nähe bzw. Distanz zu dem Holocaust herzustellen. Das Erzeugen von Parallelität mit dem Holocaust helfe demnach, „Unterstützung und Sympathie vom Westen zu erhalten“ (Miles 2010, 371, Übersetzung S. R.), womit folglich die Anerkennung kolonialer Verbrechen befördert werden könne. Insbesondere Frankreich und Deutschland werden als Vorreiter für die Überführung des Holocaust in eine europäische Gedächtniskultur erachtet (vgl. Koposov 2017, 81), wobei sich mit der Universalisierung des Holocaust-Gedenkens gleichzeitig eine „human rights ideology“ (Koposov 2017, 82) durchzusetzen beginnt. Allerdings ist in beiden Ländern mit Verweis auf die im Londoner Statut festgeschriebene Definition von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eine strafrechtliche Verfolgung nur für während des Nationalsozialismus begangener Verbrechen vorgesehen. In Kapitel 8.1 stelle ich zuerst dar, auf welche Weise einer juristischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen strenge Grenzen gesetzt wurden, was ich im Anschluss an Chakrabarty (2010) als „postkoloniales Dilemma“ beschreiben werde.30 Vor diesem Hintergrund kann auch nachvollzogen werden, warum beide Klagevorhaben juristisch keine Aussicht auf Erfolg hatten. Weiterhin geht dieses Kapitel von der Feststellung aus, das juristische Verfahren durch eine massenmediale Mediatisierung einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden können. Als erinnerungspolitische Diskursereignisse sind Strafverfahren somit gleichwohl auch Produzenten kollektiven Erinnerns (vgl. Savelsberg und King 2007, 200–202). In Kapitel 8.2 rekonstruiere ich die medial vermittelten emotionalen Diskurse im Zusammenhang mit den Klagevorhaben der Harkis und OvaHerero im Jahr 2001, in denen die Entschädigungsforderungen beider Gruppen als illegitim entworfen werden. In Kapitel 8.3 schließt sich die diachrone Vergleichsperspektive an, die die deutschen Debatten ab 2017 rekonstruiert, als die OvaHerero und Nama eine weitere Klage gegen die Bundesregierung vor einem Gericht in New York einreichen, die jedoch im März 2019 erneut abgewiesen wird. Im Gegensatz zu den OvaHerero und Nama verfolgen die Harkis nach dem endgültigen Scheitern ihrer Klageversuche im Jahr 2003 andere Strategien, um ihre Forderungen auf Entschädigungen durchzusetzen. Ich vollziehe die Entwicklungen bis zum September 2021 nach, als Macron zum Journée nationale d’hommage aux Harkis

30  Gedacht sei hier an die vier Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag, die erst 1979 dazu führten, dass die nationalsozialistischen Verbrechen endgültig von der Verjährung ausgenommen wurden. Das französische Parlament hatte hingegen bereits 1964 in einem Gesetz das Prinzip der Unverjährbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen beschlossen (vgl. Koposov 2017, 75).

Das „postkoloniale Dilemma“  

 213

schließlich die Verabschiedung eines Reparationsgesetzes ankündigt. Die zentrale These dieses Kapitels beruht dabei auf der Annahme, dass das universalistische Gedenken an den Holocaust eine emotionale Ordnung hervorgebracht hat, die die erinnerungspolitischen Standards im Verhältnis zur Aufarbeitung kolonialer Verbrechen definiert. Im Kontext der beiden Klagevorhaben wird deutlich, dass der Holocaust als universelles „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ den Referenzrahmen vorgibt, auf den die OvaHerero und Nama sowie die Harkis Bezug nehmen müssen, um ihre Forderungen begründen zu können. Im diachronen Vergleich zeige ich, auf welche Weise sich die emotionalen Diskurse im Zeitverlauf transformiert haben und folglich das Verhältnis von kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt neu strukturiert wurde. In Kapitel 8.4 fasse ich zusammen, auf welche Weise die Klageinitiativen als Erinnerungsereignisse im Zeitverlauf zu einem Wandel der öffentlichen Wahrnehmung von Entschädigungsforderungen für koloniale Verbrechen beigetragen haben.

8.1 D  as „postkoloniale Dilemma“ in der Aufarbeitung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Im Folgenden gebe ich einen historischen Überblick, wie der Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Teil der jeweiligen nationalen Rechtspraxis wurde und welche Konflikte sich damit hinsichtlich der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen ergeben. Weiterhin steht der komplizierte und mitunter widersprüchliche Zusammenhang zwischen (deklarativen) Erinnerungsgesetzen und strafrechtlich relevanten Gesetzgebungen im Fokus. Eine Historisierung der juristischen Normen ist deswegen wichtig, um deren Entstehung einer postkolonialen Kritik zu unterziehen. Abschließend beschreibe ich in Anlehnung an Chakrabarty (2010, 11–12, zit. in: Kerner 2017 [2012], 76) mit dem Begriff des postkolonialen Dilemmas den Umstand, dass eine juristische Strafverfolgung kolonialer Gewalt mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln nicht denkbar ist.

8.1.1 E  rinnerungsgesetze und die strafrechtliche Verfolgung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Frankreich Erst 1995 erkannte der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac Frankreichs Kollaboration mit Nazideutschland während der Vichy-Zeit an (vgl. Rousso 2016, 104). Gleichzeitig wurde in den 1990er Jahren auch die Aufarbeitung des Algerienkriegs vorangetrieben, weswegen die französische Erinnerungskultur – anders als die deutsche – stets durch die Verknüpfung der Erinnerungen an den

214 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Algerienkrieg, das Vichy-Regime und den Holocaust geprägt war (vgl. Mouralis 2002; Rousso 2016, 131). Die 1990er Jahre stehen somit für zahlreiche Versuche, sowohl für die Vichy-Zeit (vgl. Rousso 2016, 140) als auch für den Algerienkrieg (vgl. Branche 2005, 111–122) juristische Gerechtigkeit einzufordern. HarkiAktivist:innen erwogen bereits 1991 die Einleitung rechtlicher Schritte, als eine weitere Folge von Protesten, begleitet von Hungerstreiks, nicht zu der gewünschten Anerkennung der Massaker am Ende des Algerienkriegs führten und auch die Diskriminierung der nachfolgenden Generationen weiter anhielt (vgl. Laiß Mai/ Juni 2013, 12). Gleichzeitig waren die Harkis nicht die Einzigen, die das Rechtssystem als geeigneten Adressaten für ihre Ansprüche ansahen. Im Jahr 1997 hat der Pieds-noirs-Verein Véritas eine Klage gegen den General Joseph Katz wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingereicht, weil dieser keine französischen Truppen zum Schutz der europäischen Siedler:innen abstellte, als mit den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten am 6.  Juli 1962 Aufstände losbrachen und mehrere Siedler:innen ums Leben kamen (vgl. Eldridge 2016, 271). Auch hat der Zusammenschluss Le 17 octobre contre l’oubli versucht, die Anerkennung der in Paris verübten Massaker an Algerier:innen durch die Pariser Polizei juristisch zu erwirken (vgl. Eldridge 2016, 272). Die Historikerin Raphaëlle Branche (2005, 111, zit. in: Eldridge 2016, 270) beschreibt den Gerichtssaal daher als „lieu privilégié“, an dem die Erinnerungspolitik des Algerienkriegs verhandelt wurde. Denn all diesen Klagen ist gemein, dass sie darauf abzielen, die Verbrechen im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuerkennen (vgl. Eldridge 2016, 271). In der Literatur herrscht dahingehend Einigkeit, dass die zunehmende Erwägung juristischer Schritte im Zusammenhang mit den erfolgreich geführten Vichy-Prozessen steht, genauer gesagt mit dem Prozess gegen den Gestapo-Offizier Klaus Barbie im Jahr 1987 (vgl. Branche 2005; Edwards 2010; Eldridge 2016; House und MacMaster 2009; Rousso 2016). Um seine Strafverfolgung zu ermöglichen, musste jedoch zunächst das französische Rechtssystem modifiziert werden. Während die Unverjährbarkeit von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schon 1964 in die französische Gesetzgebung aufgenommen wurde, dehnte der Cour de cassation im Jahr 1985 den Opferstatus auf diejenigen aus, die eine religiöse, rassistische oder politische Verfolgung durch Staaten erlebten, die „une politique d’hégémonie politique“ verfolgten (Pourvoi no. 85-95166 de la Chambre criminelle de la Cour de cassation du 20 décembre, zitiert in: Edwards 2010, 202). Erst mit der beginnenden erinnerungspolitischen Wende, die Verbrechen des Vichy-Regimes offiziell anzuerkennen,31 war diese Änderung und damit auch die Verurteilung des ehemaligen

31  Die sogenannte révolution paxtonienne setzte schon 1973 ein, als das Buch Vichy France: Old

Das „postkoloniale Dilemma“  

 215

Gestapo-Agenten Klaus Barbie und seiner Verbrechen an französischen Widerstandskämpfer:innen und Jüd:innen denkbar geworden (vgl. Edwards 2010, 202). Konkret heißt das, dass die gegenwärtigen Gesellschaften in Bezug auf die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen eine Ausdehnung der „time of jurisdiction“ erlebten (Bevernage 2008, 152). Aktivistische Gruppen, Historiker:innen und Jurist:innen versuchten, die nunmehr zur Verfügung stehenden juristischen Mittel auf die Verfolgung von Kolonialverbrechen auszudehnen, da im französischen Rechtssystem einzig das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ die Aufhebung der Verjährung vorsah und folglich Möglichkeiten zur Geltendmachung von Entschuldigungen und Wiedergutmachungen eröffnen (vgl. Vuckovic 2004, 1024). Im Jahr 1991 bezichtigen Veteranengruppen den französischen Professor George Boudarel, während des Indochina-Kriegs französische Gefangene in einem Vietminh-Lager gefoltert zu haben, und verlangten eine Verurteilung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (vgl. Edwards 2010, 194). Eine Verurteilung hätte eine Erweiterung des Straftatbestands auf koloniale Kontexte bedeutet, weswegen der Gesetzgeber die Anwendbarkeit der Definition auf Kolonialverbrechen zu verhindern suchte. 1993 entschied das Gericht, dass der Fall Boudarel aufgrund der ausgeschlossenen retroaktiven Anwendbarkeit bestehender Gesetze sowie der seit 1962 verabschiedeten Amnestiegesetze nicht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft werden konnte. Die Entscheidung des Gerichts von 1993 wurde schließlich in einer Überarbeitung des Strafgesetzbuches im Jahr 1994 bestätigt. Darin wird zwar die Unverjährbarkeit von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ integriert, jedoch eine rückwirkende strafrechtliche Verfolgung für begangene Verbrechen vor 1994 ausgeschlossen (vgl. Edwards 2010, 208). Mit Verweis auf die dargestellte Rechtsgeschichte erklärt der Le-Monde-Journalist Eric Chambon im Jahr 2001, dass der Versuch der Harkis keinerlei Erfolgsaussichten habe, da sich die Definition eines crime contre l’humanité ausschließlich anwenden ließe „pour les faits antérieurs à la réforme de 1994, aux exactions commises pas ‚les puissances de l’Axe‘ pendant la seconde guerre mondiale“ (Chambon, 31.8.2001, Le Monde, 7). Diese Lesart wird vom Verfassungsgericht im Jahr 2016 auch in Bezug auf die mittlerweile zahlreich verabschiedeten Gesetzgebungen, die einen Négationnisme (eine Leugnung) vom Staat anerkannter Völkermorde unter Strafe stellen (vgl. Koposov 2017, 64). Konkret bezieht sich dies auf die Leugnung des Genozids an den Armenier:innen

Guard and New Order 1940–1944 des US-amerikanischen Historikers Robert Paxton in französischer Sprache erschien und somit einen erinnerungspolitischen Wandel einleitete, der mit dem Mythos brach, dass das Vichy-Regime sich einer Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland verweigert hätte (vgl. Prinz 2007; Rousso 2016, 158).

216 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

und auf globalen Versklavungshandel, der 2001 in der Loi Taubira zum „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erklärt wurde (vgl. Koposov 2017, 112). Im Kommentar zu Entscheidung des Verfassungsgerichts des auf die Einschränkung der Pressefreiheit abzielenden Erinnerungsgesetztes heißt es: [L]a négation des crimes contre l’humanité commis pendant la seconde guerre mondiale correspond à une réalité différente de la négation d’autres crimes contre l’humanité, compte tenu de la charge intrinsèquement raciste et antisémite qu’elle comporte et du fait qu’elle correspond à l’histoire passée et présente de notre pays. […] En somme, aucune autre négation d’un crime contre l’humanité reconnu comme tel par une décision de justice ne serait porteuse, dans notre société, d’une violence symbolique équivalente. (Conseil constitutionnel, 08.01.2016, 23)

Damit bestätigt das Verfassungsgericht die gezogene Differenz zwischen einer Leugnung des Holocausts und den ‚anderen‘ vom französischen Staat anerkannten Menschheitsverbrechen, womit auch der ausschließlich deklarative Charakter der verabschiedeten Erinnerungsgesetze bestätigt wird. Aus der dargestellten Rechtsgeschichte lässt sich ableiten, dass weder eine retroaktive Strafverfolgung anerkannter kolonialer „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ noch die Verurteilung ihrer Leugnung justiziabel ist (vgl. Koposov 2017, 103–104). Für die Verbrechen während des Algerienkriegs kam allerdings nie eine Qualifizierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ infrage, was mit den schon erwähnten Amnestiegesetzen begründet wurde, die bereits mit der Unterzeichnung des Évian-Vertrags am 22.  März 1962 vereinbart wurden (vgl. Jansen 2012, 277–278; Jelen 2002, 35). Im Londoner Statut von 1945 wurden jedoch nicht nur „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ definiert, sondern auch Verbrechen gegen den Frieden und Kriegsverbrechen. Kriegsverbrechen zielen auf Verletzungen der Kriegsrechte oder Gebräuche. Solche Verletzungen umfassen, […] Mord, Misshandlungen oder Verschleppung der entweder aus besetztem Gebiet stammenden oder dort befindlichen Zivilbevölkerung zur Zwangsarbeit […]; Ermordung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen […]; Tötung von Geiseln; Raub öffentlichen oder privaten Eigentums; mutwillige Zerstörung […]. (Statut des Internationalen Militärgerichtshofs vom 8.  August 1945 (Londoner Statut), Art.  6c, zit. in: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1994 [1947], 12)

„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unterschieden sich von Kriegsverbrechen durch ihren explizit rassistischen Begründungszusammenhang und dass sie auch außerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen auftreten können (vgl. Koposov 2017, 62). Erst mit der Verabschiedung der Völkermordkonvention im Jahr 1948 erhält der Begriff „Genozid“ eine eigene Begriffsdefinition, die sich von

Das „postkoloniale Dilemma“  

 217

den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ablöste und explizit die „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“ zum Gegenstand machte (Artikel 6, Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998; vgl. auch Eicker 2009, 175). „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind nun als Überbegriff für den „ausgedehnten oder systematischen Angriff[] gegen die Zivilbevölkerung“ zu verstehen (Artikel 7, Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs 1998). Diese juristische Unterscheidung ist deswegen wichtig, weil diese Begriffe sowohl medial als auch in aktivistischen Stellungnahmen oft synonym verwendet werden. Im Gegensatz zu den ins Strafgesetzbuch aufgenommenen crimes contre l’humanité hat Frankreich Kriegsverbrechen bis heute nicht zu einer juristischen Anspruchsgrundlage werden lassen, bei der die Verjährung ausgesetzt wäre (vgl. Curran 2003, 699). Die ehemals Kolonisierten haben daher keine Möglichkeiten, wegen begangener Kriegsverbrechen gerichtlich gegen den französischen Staat vorzugehen. Der Möglichkeit beraubt, sich juristischer Mittel zu bedienen (vgl. Eldridge 2016, 271), liegt die Bezugnahme zu den Verbrechen des Nationalsozialismus auf der Hand, um die Anerkennung kolonialer Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erwirken. Obwohl es Ende der 1980er Jahre eine Provokation war, als Barbies Anwalt Jacques Vergès den Kolonialismus öffentlich als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete (vgl. Eldridge 2016, 271), steht die Parallelisierung von Vichy mit dem Algerienkrieg dennoch für eine Kontinuität in der französischen Erinnerungspolitik, in die auch die Klage der Harkis eingebettet werden muss. Schon 1993 heißt es im Vorwort zu Mohand Hamoumous Dissertation „Et ils sont devenus Harkis“ (2001 [1993], 10): L’épisode des Harkis constitue une des pages honteuses de l’histoire de France, comme l’ont été l’instauration du statut des juifs le 3 octobre 1940 ou la rafle du Vel d’Hiv le 16 juillet 1942 […]. Ce que les juifs ont demandé, les enfants de Harkis pourraient aussi le demander au nom de leurs pères silencieux, et au nom de la vérité.

Die Bezugnahmen auf Vichy oder auf die deutschen Naziverbrechen sind also nicht zufällig gewählt, stattdessen schreiben sich die Harkis in diese bereits festgestellte Parallele von Vichy und dem Algerienkrieg ein. Insbesondere der Papon-Prozess, der erst 1998 zu Ende ging, muss hier in der Beförderung einer „judicially orientated mentality“ Erwähnung finden, da diese Verhandlung eine unmittelbare historische Kontinuität von Vichy zum Algerienkrieg herstellte, die sich an der Figur Papons materialisierte (Eldridge 2016, 275–276, vgl. Kap. 7.2).

218 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

8.1.2 Erinnerungsgesetze und Entschädigungspolitik in Deutschland Die sogenannten Erinnerungsgesetze, wie sie in Frankreich in größerem Ausmaß die öffentlichen Debatten bestimmt haben, spielen für den deutschen Fall eine untergeordnete Rolle. Dies liegt zum einen daran, dass das deutsche Strafgesetzbuch im 1994 ergänzten § 130 zur „Volksverhetzung“ eine Strafverfolgung nur im Falle einer Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen vorsieht. Koposov (2017, 89) bewertet dies als Aufwertung der Möglichkeit der Strafverfolgung im Falle der Holocaust-Leugnung, was „in line with the new pan-European trend“ liege. Allerdings wurde der Völkermord an den OvaHerero und Nama bis heute noch nicht offiziell als solcher anerkannt. Erinnerungsgesetze können aber nur dann greifen, wenn historische Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkannt werden – was sich beispielsweise anhand der Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen im Jahr 2015 durch den Bundestag betrachten ließe. Wie auch in Frankreich wird diese Anerkennung ausschließlich deklarativ verstanden und zieht, anders als bei der im Volksverhetzungsparagrafen beschriebenen Leugnung des Holocaust, keine weiteren strafrechtlichen Konsequenzen nach sich (vgl. Koposov 2017, 101). Dessen ungeachtet wurde eine solch deklarativ verstandene Bewertung des Völkermords zwischen 1904 und 1908 bisher noch nicht vorgenommen. Dabei hat sich juristisch die Ansicht durchgesetzt, dass sich selbst bei einer völkerrechtlichen Anerkennung des Völkermords keine Anspruchsgrundlage aus der Genozid-Konvention von 1948 ableiten ließe. Der Jurist Steffen Eicker (2009) verweist in seiner Dissertationsschrift zur völkerrechtlichen Einordnung und Bewertung des Kolonialkriegs im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ auch auf die Erklärung, die während der „Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz“ (im folgenden Weltrassismuskonferenz) im Jahr 2001 in Durban abgegeben wurde. In dieser wird der Völkermord zwar verurteilt, allerdings ergebe sich aus den historischen Verbrechen einzig eine „moralische Verpflichtung“ und keine „völkerrechtliche Bewertung“ (Eicker 2009, 34, 194–195, 413–415). Anders gelagert als im französischen Fall, wo die Massaker an den Harkis erst nach der französischen Ratifizierung der zentralen Vertragswerke zur Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ stattfanden, wird im deutschen Fall daher der „zeitliche Anwendungsbereich der Völkermordkonvention“ für den Anfang des Jahrhunderts verübten Genozid diskutiert (Eicker 2009, 175). Anerkannte Lehrmeinung ist allerdings, dass dem juristischen Terminus „ein Konzept zugrunde [liegt], welches sich erst nach dem Deutsch-Herero-Krieg entwickelt hat“ (Eicker 2009, 173). Gleichzeitig könne auch keine völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Völkermordkonvention für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts angenommen werden (vgl. Eicker

Das „postkoloniale Dilemma“  

 219

2009, 175). Völkerrechtlich geltend gemachte Ansprüche sind folglich unter Ausschluss einer rückwirkenden Anwendung aktuell geltenden Rechts auszuschließen (vgl. Eicker 2009, 184, 389). Eicker spricht hier von einem „Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit“. Da dem Prinzip der Rechtssicherheit der Vorrang gegeben wird, kann auch „offensichtlich Ungerechte[s]“ wie der Völkermord an den OvaHerero und Nama nicht mit juristischen Mitteln verhandelt werden (Eicker 2009, 502, kursiv im Original). Darüber hinaus sind außerdem nur Staaten parteifähig, weswegen die OvaHerero (und später auch die Nama) als Gruppe nicht „aktivlegitimiert“ sind (Eicker 2009, 304). Im Völkerrecht hat sich außerdem der Grundsatz der Staatenimmunität durchgesetzt, der auch im Falle des Genozids an den Herero und Nama gelte, so Eicker (2009, 348). Allerdings gibt es zunehmend Rechtswissenschaftler:innen, die vor allem das Prinzip der Intertemporalität in Zweifel ziehen, mit dem eine juristische Aufarbeitung kolonialer Verbrechen zurückgewiesen wird (vgl. Goldmann 2020). Unter Intertemporalität wird dabei verstanden, dass ein Straftatbestand nach den Gesetzen behandelt werden muss, die zum Zeitpunkt des Geschehens galten. Dennoch beruft sich die Bundesregierung weiterhin auf dieses Prinzip, um eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids abzulehnen (vgl. Imani und Theurer 2021). Unabhängig von der juristischen Bewertung macht der Rechtswissenschaftler Eicker (2009) aber auch auf die politische Dimension des heutigen Umgangs mit den historischen Verbrechen aufmerksam. Schließlich seien Wiedergutmachungszahlungen als politisches Instrument auch ohne erfolgreiches Strafverfahren denkbar (vgl. Eicker 2009, 496). So sieht beispielsweise auch die in Durban verabschiedete Erklärung vor, „den anhaltenden Folgen dieser Praktiken [wie beispielsweise die durch die Kolonialherrschaft verursachte Landenteignung der OvaHerero, Anm. S. R.] ein Ende zu setzen und sie rückgängig zu machen“ (Erklärung der Weltrassismuskonferenz, Nr. 102, 14). Das Fehlen völkerrechtlicher und juristischer Mechanismen reiche demnach nicht aus, Entschädigungszahlungen zurückzuweisen (vgl. Eicker 2009, 496). Das „postkoloniale Dilemma“ beschreibt nicht nur die fehlenden Mechanismen einer juristischen Strafverfolgung, sondern verweist auch auf das fehlende öffentliche Interesse an einer Aufarbeitung kolonialer Verbrechen.

8.1.3 Die Grenzen einer völkerrechtlichen Verfolgung kolonialer Verbrechen Mit Blick auf das Fehlen probater juristischer Mechanismen zur Aufarbeitung kolonialer Gewalt unternimmt der Rechtswissenschaftler Jörn Axel Kämmerer eine Relativierung des universalistisch verstandenen Völkerrechts, das er als eurozentristische und vor allem koloniale Institution markiert. Den europäischen

220 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Mächten gelang es somit während der Kolonialzeit, „eine universelle und monopolistische Anwendung ihrer Rechtsgrundlagen durch[zu]setzen“, ohne dass dabei die nicht westlichen Regionen einbezogen worden wären (Kämmerer 2010, 85, Übersetzung S. R.). Das „postkoloniale Dilemma“ bestehe darin, dass diejenigen Gruppen, die als Betroffene Gerechtigkeit für vergangene Kolonialverbrechen einfordern, einen limitierten Handlungsspielraum haben, um vor nationalen und internationalen Gerichten Wiedergutmachungsforderungen zu stellen (vgl. de Wolff 2017, 395; 2021, 177–178). Hauptausschlusskriterium ist dabei, dass die rückwirkende Anwendung heutiger Standards zur Durchsetzung der Menschenrechte verweigert werde (vgl. Kämmerer 2010, 85–86). Nikita Dhawan (2010, 100, Übersetzung S. R.) argumentiert daher auch, dass das Völkerrecht von „strukturellen Ungleichheiten“ geprägt sei, die „die historische Mittäterschaft an kolonialer Gewalt“ verschleiere). Beispielsweise verständigte sich die westliche Staatengemeinschaft während der Durban-Konferenz im Jahr 2001 auf den Grundsatz des „intertemporalen Rechts“, das eine völkerrechtliche Strafverfolgung und als Folge die Zahlung von Entschädigungen für historische Verbrechen ausschloss (vgl. Eicker 2009, 413–414). Kämmerer (2010) und de Wolff (2017) beziehen das „postkoloniale Dilemma“ daher vordergründig auf die im Völkerrecht festzustellenden Asymmetrien, mit der eine juristische Strafverfolgung nicht möglich ist. Chakrabarty (2010) hingegen nutzt die Bezeichnung des „postkolonialen Dilemmas“ darüber hinaus, um auf die Ambivalenzen westlichen Denkens zu verweisen. Denn auf der einen Seite ist das westliche Denken unverzichtbar, um zeitgenössische Politik und historische Prozesse zu verstehen, auf der anderen Seite offenbaren sich aber auch die Unzulänglichkeiten europäischer Denktraditionen für die Beschreibung nicht westlicher Phänomene (vgl. Chakrabarty 2010, 11–12, zit. in: Kerner 2017 [2012], 76). Demnach müssen Gerichtssäle bemüht werden, um marginalisierte Verbrechen überhaupt im Rahmen universeller Gerechtigkeitsverständnisse verorten zu können. Savelsberg und King (2007, 200–202) haben deshalb auf den Zusammenhang zwischen der etablierten Rechtspraxis und kollektiven Erinnerungsprozessen verwiesen. Denn selbst ohne erfolgversprechende Aussichten, Entschädigungen auf dem juristischen Weg zu erwirken, können die gestellten Entschädigungsforderungen postkolonialer Erinnerungsaktivist:innen Präzedenzfälle internationaler Tragkraft schaffen (vgl. Eicker 2009, 498). Denn wie schon zuvor erwähnt, schließen die juristischen Beschränkungen keine politischen Entschädigungsinitiativen aus. Im Folgenden rekonstruiere ich anhand der Klagevorhaben der Harkis und der OvaHerero aus dem Jahr 2001, inwiefern die Forderungen nach Reparationen für koloniale Verbrechen Anerkennung finden oder ihnen diese verwehrt werden. Dabei wird deutlich werden, dass das universelle Holocaust-Gedenken als emotionale Ordnung wirkt, mit der das beschriebene „postkoloniale Dilemma“ letztlich perpetuiert wird.

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 221

8.2 „ [P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ – Das Klagevorhaben der Harkis On a reconnu le génocide d’Arméniens, on a reconnu le génocide de Monsieur Hitler, pourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis? (Teilnehmer einer Demonstration, gezeigt in der arte-Dokumentation Harkis, crime d’État, Februar 2002)

Der arte-Dokumentarfilm Harkis, crime d’État wurde erstmals am 12.  Februar 2002 gezeigt und beginnt mit einer Aufnahme einer Harki-Demonstration, in der einer der Demonstrant:innen die Parallele zwischen „Herrn Hitlers Völkermord“ und dem, was er als „Harki-Völkermord“ bezeichnet, herstellt. Indem die Sprecherin des Dokumentarfilms die Massaker an den Harkis in die jüngsten Diskussionen über die Völkermorde von Srebrenica und in Ruanda einbettet, bietet sie eine Lesart an, die eine Deutung der Massaker als Genozid zulässt. Gleichzeitig werden die Massaker in eine Linie mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gestellt, wenn die Aussage getroffen wird, dass das Schweigen nach Nürnberg zu lang war, da „les oubliés de l’histoire se réveillent et réclament justice“ (arteDoku, Min.: 21:53). Auf welche Weise verknüpft das Klagevorhaben emotional die an den Harkis verübte koloniale Gewalt mit den Verbrechen des Nationalsozialismus? Um dies nachzuzeichnen, gebe ich zunächst einen Überblick der historischen Ereignisse, aus denen die Genozid-These abgeleitet und somit die Klageeinreichung im Jahr 2001 gerechtfertigt wird.

8.2.1 H  istorischer Hintergrund: Die Massaker, die Repatriierung und die Symbolik des „Lagers“ Berichte der französischen Armee geben für den März 1962 an, dass ca. 2500 Harkis ums Leben kamen und mehr als 3900 verletzt wurden. Einen Höhepunkt der durch die FLN begangenen Massaker werden allerdings nach dem 3. Juli 1962 erreicht, als Frankreich die Exekutivgewalt an den neu entstandenen algerischen Staat übertragen hat. Bis heute lassen sich nicht mit eindeutigen Zahlen angeben, wie viele dieser Hilfskräfte seit März 1962 ums Leben kamen, die Angaben schwanken zwischen 10 000 bis 100 000 (vgl. Ageron 2000; Miller 2013, 25–26). Dass das Klagevorhaben dabei vor allem die unterlassene Unterstützung der Harkis zum Gegenstand macht, liegt nicht nur an deren umfassender Entwaffnung durch die französische Armee, sondern auch an der Unterbindung einer rettenden Migration nach Frankreich (vgl. Shepard 2006, 233). Trotz aller einschränkenden Maßnahmen flohen ca. 100  000 berberische und arabische

222 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Harkis aus dem unabhängig werdenden Algerien. Das Évian-Abkommen vom 19. März 1962 sah die Zusicherung der französischen Staatsbürgerschaft für alle ‚Repatriierten‘ vor, wobei zunächst keine Unterscheidung zwischen den ‚europäischen‘ und ‚muslimischen‘ Einwohner:innen Algeriens gemacht wurde. Doch innerhalb weniger Monate vollzog sich ein politischer Wandel, der die französischen Staatsbürger:innen muslimischen Glaubens nicht mehr als Teil der ‚Nation‘ anerkannte (Shepard 2006, 234). Während die französische Staatsangehörigkeit der europäischen ‚Repatriierten‘ unbestritten war, verknüpfte sich im Fall der muslimischen Französ:innen der ihnen zugeschriebene Glauben mit Herkunft und Ethnizität (vgl. Shepard 2006, 230–231). Im Zuge der Etablierung einer „racialized ethnicity“ wurde den muslimischen Bürger:innen, die zunehmend zur Gruppe der Harkis kollektiviert wurden, der Status als ‚Repatriierte‘ aberkannt. In dem Artikel „Appel aux réfugiés“, erschienen am 8.  Juni 1962 in Le Monde, spricht der Journalist von der „Gefahr“, die der Begriff der ‚Repatriierung‘ enthält, impliziere dies doch „une idée d’installation définive“ (Cohen, 08.06.1962, Le Monde). Diese Otherness begründete im Gegensatz zu den als Europäer:innen wahrgenommenen pieds-noirs eine separierte Unterbringung der Harkis in Militär-, Flüchtlings- und Kriegsgefangenenlagern im ländlichen und wenig besiedelten Südwesten Frankreichs. Zwar wurde für diese Entscheidung auch die angespannte Wohnungssituation in Frankreich angeführt, zentral waren aber strategische sowie rassistische Erwägungen, die eine militärische Überwachung begründeten. Zum einen fürchtete man eine mögliche Infiltration durch den FLN, zum anderen waren „diese Muslime“ „not prepared for European life“, wie Todd Shepard (2006, 231) einen Bericht des Secrétariat d’Etats aux rapatriés zitiert. Folglich verknüpfte man die Unterbringung in den Lagern mit bildungspolitischen Maßnahmen, die den Harkis die Werte der Französischen Republik vermitteln sollten (encadrement) (vgl. Miller 2013, 31–32). Besonders brisant ist diese Unterscheidung vor allem deshalb, weil die Harkis als ‚Repatriierte‘ ebenso wie die pieds-noirs einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen für das in Algerien verlorene Land sowie Zugang zu den Sozialwohnprogrammen des Staates gehabt hätten. Ihre Unterbringung in den Lagern begründete jedoch den Ausschluss von diesen Ansprüchen; spätere Gesetzgebungen sicherten den privilegierten Zugang der pieds-noirs zu den Staatshilfen weiter ab. Die provisorischen Lager wurden schließlich durch vier große Unterbringungscamps ersetzt: Rivesaltes, Saint-Maurice-l’Ardoise, Bias und La Rye-Vigéant. Mit der Unterbringung in den Camps wurde eine Segregationspraxis initiiert, die die Harkis bis in die Gegenwart zu „Français à part“ macht (Eldridge 2016, 139). Der emotionale Diskurs des abandons dehnt sich somit auf die dem Algerienkrieg folgende diskriminierende Behandlung der Harkis in Frankreich aus. Nach der Auflösung der Lager wurden die Harkis entweder in die sogenann-

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 223

ten hameaux forestiers (Walddörfer) umgesiedelt, die teilweise weiterhin unter militärischer Überwachung standen, oder in den urbaneren sozialen Wohnungsbau, der sogenannten habitation à loyer modéré (HLM) (vgl. Miller 2013, 36–37). Insbesondere die als Provisorium errichteten Walddörfer, die ausschließlich für die Unterbringung der Harkis vorgesehen waren, waren oft schlecht an die regionale Infrastruktur angebunden und spärlich ausgestattet, und sie verfestigten den Ausschluss der Harkis aus der französischen Gesellschaft. Die letzten Lager zur Unterbringung der Harkis wurden erst 1978 geschlossen (vgl. Crapanzano 2008, 121). Ab den 1970er Jahren führte dies zu einem militanten Aktivismus, der schon früh Parallelen zur Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs aufwies. In einer wiederholten Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart wird das Camp von Rivesaltes, das nur bis 1964 Bestand hatte, gemeinsam mit den später errichteten Walddörfern als „camps de concentration“ betitelt (Miller 2013, 37). Obwohl in den 1970er Jahren nur noch circa 16  000 von den 180  000 Harki in den Walddörfern lebten (vgl. Miller 2013, 37) und auch insgesamt weniger als die Hälfte aller Harkis, die nach Frankreich kamen, jemals in den Camps untergebracht worden waren, werden diese dennoch zur zentralen erinnerungspolitischen Figur im Aktivismus der Harkis (vgl. Ireland 2020, 230). Die Klageschrift deutet den abandon der Harkis im doppelten Sinne aus: Zum einen sollen die Massaker als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkannt und Frankreich für seine Mittäterschaft zur Rechenschaft gezogen werden. Zum anderen soll auch die langjährige Segregation der Harkis in den Lagern, ihr erschwerter Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt als Menschheitsverbrechen kriminalisiert werden.

8.2.2 Die Klage und ihr Inhalt Am 30. August 2001 reichte der damalige Präsident des CNLH, Boussad Azni, mit der Unterstützung weiterer Interessenvertreter:innen und Einzelpersonen der Harkis in Paris eine Zivilklage wegen der Verübung von Menschheitsverbrechen und der französischen Mittäterschaft an diesen ein. In der Klageschrift begründeten die Harkis Frankreichs Mitschuld mit der umfassenden Entwaffnung bei gleichzeitiger Unterbindung der Flucht in die ‚Metropole‘. In der Klageschrift heißt es: „[D]e nombreaux Harkis […] ont été voués à la mort dans des conditions entourées souvent d’une très grande sauvagerie“ (Klageschrift, zitiert in Azni 2002). Als ‚Verräter‘ an der algerischen Unabhängigkeit denunziert, rief der FLN in den ersten Monaten des Jahres 1962 öffentlich zur Rache an den Harkis auf. Die Harkis erkennen zwar die algerische Befreiungsarmee als Urheberin der Massa-

224 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

ker an, fassen jedoch die französische Regierung als Wegbereiterin des Mordens auf. In der Klageschrift heißt es dahingehend: Ces exécutions massives et sommaires constituent par leur ampleur et le fait qu’elles aient été planifiées, perpétrées et inspirées pour des raisons politiques des crimes contre l’humanité. Leurs auteurs, membres pour la plupart de l’Armée de Libération de l’Algérie, agissant dans le cadre d’un plan concerté […]. Les autorités françaises qu’elles soient militaires ou politiques, voire administratives en ont permis sciemment le déroulement en refusant, dans le cadre d’un plan concerté, d’assurer la sécurité de ces supplétifs et de leurs familles ainsi qu’en interdisant toute retraite salvatrice alors qu’elles avaient une connaissance claire des intentions des auteurs principaux du crime. (Klageschrift, zit. in: Azni 2002)

Die Klageschrift unternimmt damit den juristisch schwierigen Versuch, Frankreich für die Mittäterschaft an Massakern verantwortlich zu machen, die nicht auf französischem Boden stattfanden und auch nicht von der französischen Armee begangen wurden. Der Jurist Géraud de La Geouffre Pradelle (2011) sieht allerdings einige Voraussetzungen gegeben, um die Massaker als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bewerten zu können. So ließe sich eine Mittäterschaft Frankreichs anhand des Umstands begründen, dass die Harkis bis zum Juli 1962 weiterhin französische Staatsbürger:innen waren und somit unter französische Gerichtsbarkeit fallen könnten. Wie zuvor im Unterkapitel 8.1 begründet, beschreiben die juristischen Prinzipien der nicht retroaktiven Anwendung des Strafrechts und die bestehenden Amnestiegesetze juristisch umstrittene Rechtsgrundlagen (vgl. La Geouffre Pradelle 2011, 242–245). Für La Geouffre Pradelle (2011, 240) sind im Fall der Massaker an den Harkis durchaus die Bedingungen gegeben, um von einem „plan concerté“ zu sprechen, allerdings existierten nicht die einschlägigen Bestimmungen im französischen Strafrecht, um diese Ansprüche durchsetzbar zu machen. Folglich ist die nötige Beweislast nur schwer herzustellen, um die Massaker als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkennen zu lassen. Denn um einer juristischen Aufarbeitung den Weg zu bereiten, müssten die Amnestiegesetze aufgehoben werden, was wiederum die Rechtssicherheit zwischen Algerien und Frankreich gefährden würde (vgl. La Geouffre Pradelle 2011, 240). Als Konsequenz wurde die Klage am 17. Juni 2003 vom Cour de cassation abgewiesen. Weitere juristische Schritte, die sich zum einen gegen den damaligen Verteidigungsminister (Ministre des Armées) Pierre Messmer richten oder versuchten, den Fall der Harkis vor europäischen Gerichten zu verhandeln, scheiterten ebenfalls (vgl. Eldridge 2016, 273). Die analysierten Zeitungsartikel heben wiederholt die geringen juristischen Erfolgsaussichten des Klagevorhabens der Harkis hervor. Eine Mehrheit führt dabei die geltenden Amnestiegesetze an, die eine juristische Strafverfolgung verunmöglichten. In einem Artikel, der in Libération veröffentlicht wurde, proble-

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 225

matisiert der damalige Jura-Doktorand und Harki-Aktivist Charles Tamazount32 in einem Gastkommentar, dass die Überarbeitung des Strafrechts im Jahr 1994 eine retroaktive Anwendung der Definition von Menschheitsverbrechen für die Zeit vor der Verabschiedung des Gesetzes ausschließt – mit Ausnahme der während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Indem Tamazount (29.08.2001, Libération, 5) hervorhebt, dass das Rechtssystem nicht „starr“ sei, fordert er eine Anpassung an die internationalen Standards. Ohne es als solches zu benennen, verdeutlicht Tamazounts Kritik das „postkoloniale Dilemma“, das einer juristischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen entgegenwirkt. Denn hätte die Klage der Harkis Erfolg, würde sie für einen Präzedenzfall sorgen, der weitere Entschädigungszahlungen für koloniale Verbrechen nach sich ziehen könnte, so der Jurist. Dass die bestehenden juristischen Normen gesellschaftlich ausgehandelt werden und folglich politischer Natur sind, hebt auch La Geouffre Pradelle hervor, wenn er seinen Text folgendermaßen abschließt: [L]’échec d’éventuelles poursuites judiciaires  

ou de fond  

  qu’il tienne à des raisons de procédure   ne signifierait pas que les Harkis et leurs proches n’ont pas été victimes de

„crimes contre l’humanité“ au sens large et non juridique du terme. (La Geouffre Pradelle 2011, 247)

Deutlich werde daran vor allem, dass einigen Verbrechen weniger Bedeutung beigemessen werde als ‚anderen‘ (vgl. La Geouffre Pradelle 2011, 245) und diese es nicht vermögen, die „gleichen Emotionen ‚bei uns‘ hervorzurufen“ (La Geouffre Pradelle 2011, 239). Von der These ausgehend, dass die dominante Erinnerung an den Holocaust eine emotionale Ordnung definiert, analysiere ich im Folgenden die Strategie der Harkis, die Massaker im Jahr 2001 als „Genozid“ zu deuten.

8.2.3 D  ie „Legende vom Genozid“: Deutungsversuche der Massaker als Verbrechen gegen die Menschheit Obwohl die Klageschrift kein einziges Mal das Wort „Genozid“ erwähnt bzw. Bezug nimmt auf die Völkermordkonvention von 1948, hebt die durch Azni

32  Charles Tamazount ist außerdem Gründer des Vereins Comité Harkis et Vérité, der vor allem eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit der Harkis anstrebt. Ziel ist „la reconnaissance de l’État de sa responsabilité dans l’abandon et le massacre des Harkis“ (zitiert in: Khemache 2018, 140). Mit Unterstützung des CNLH wurden verschiedene Klagevorhaben realisiert, die aber in diesem Kapitel keine weitere Beachtung finden werden, weil sie nicht die Qualifizierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Gegenstand ihrer Anspruchserhebung haben.

226 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

geprägte Medienkampagne explizit den Genozidalen Charakter der Gewalt am Ende des französischen Kolonialismus hervor. In der Klageschrift wird der Bezug zum Nationalsozialismus bzw. zum Nürnberger Tribunal nur insofern hergestellt, als dass es zu begründen gilt, warum sich die Definition von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht auf die durch die Achsenmächte verübten Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs reduzieren lässt. Gleichzeitig werden in der Klage auch die Lebensumstände der Harkis in Frankreich ab 1962 thematisiert, obwohl diese nicht herangezogen werden, um den Tatbestand eines Menschheitsverbrechens zu begründen. Erwähnung findet sowohl die Unterbringung in den Aufnahmelagern als auch die fortdauernde Diskriminierung und Segregation der Harkis im öffentlichen Leben. Dabei resoniert der Verweis auf die „gesundheitsschädigende Lagerumgebung“, die hohe Kindersterblichkeit aufgrund der „erbärmlichen“ sanitären Einrichtungen sowie die unvergüteten „travaux forcés sans rémunération“ mit den Sprachbildern, die in Bezug auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager etabliert worden sind (Abdruck der Klageschrift in Azni 2002; vgl. Eldridge 2016, 276). Dass diese Bezugnahme keineswegs zufällig ist, wird in dem 2002 veröffentlichten Buch Harkis, crime d’État deutlich, in dem Boussad Azni nicht nur das Klagevorhaben rechtfertigt, sondern die Massaker auch explizit als „Völkermord“ bezeichnet. Das Buch ist stilistisch gekennzeichnet von der wiederholten Verwendung rhetorischer Fragen, die dem Text eine entsprechende Emotionalität verleihen. Im Kapitel „Crime d’état, crime de guerre, crime contre l’humanité“ fragt Azni: „‚Crime contre l’humanité‘ vous semble exagéré? Mais comment appeler autrement le massacre concerté, réalisé à grande échelle, d’une population déterminée sur des critères précis d’appartenance à un corps constitué ou d’opinion?“ (Azni 2002, 160). Indem er behauptet, dass die Harkis eine „Bevölkerung darstellen, die durch präzise Kriterien als zu einer tatsächlichen oder wahrgenommenen Gemeinschaft zugehörig definiert ist“ (Übersetzung S. R.), ethnisiert Azni die Harkis. Dabei nimmt er keinerlei definitorische Unterscheidung zwischen „Genozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor. Und obwohl er den Begriff nur ein einziges Mal in seinem Buch verwendet, wird er dort als historische Gewissheit zur Deutung der Massaker angeführt (vgl. Azni 2002, 170). Diese Lesart wird von ihm in der Medienberichterstattung noch konsequenter verfolgt. Als Initiator der Klage wird er in den Jahren 2001 und 2002 am häufigsten zitiert und nimmt auch eine prominente Rolle in der bereits erwähnten arte-Dokumentation ein, die auch im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Dabei werden die an den Harkis verübten Massaker in eine Linie mit der Völkermord-Definition gestellt. Nicht nur der einleitende Kommentar stellt die Verknüpfung zwischen Nürnberg und dem Ende des Algerienkriegs her, vielmehr zieht sich diese Lesart durch die gesamte Sendung, z. B. wenn die Tochter eines getöteten Harki anklagend fragt,

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 227

warum manche Genozide Anerkennung finden, „andere“ jedoch, wie der „HarkiGenozid“, nicht. Katia Khemache bemerkt in ihrem Buch Harkis, un passé qui ne passe pas (2018, 141–142) in Bezug auf die mediale Rezeption der Klage, dass kaum Historiker:innen zu Wort kamen und stattdessen der historischen Ausdeutung der Harkis ein besonderes Gewicht beigemessen wurde. Eindeutig sind die historischen Positionen dabei allerdings nicht: Während Charles-Robert Ageron (2000, 14) von der „légende du ‚génocide‘“ spricht, den Begriff ausschließlich in Anführungszeichen verwendet und folglich eine Verantwortungsübernahme durch die französische Regierung ablehnt, erklärt Gilles Manceron den französischen Staat für das begangene Unrecht verantwortlich (vgl. Khemache 2018, 146). Für Azni, der das Kamerateam in der arte-Dokumentation durch das ehemalige Bias-Camp führt, stehen die provisorisch eingerichteten Lager, in denen die Harkis untergebracht worden sind, für „a genuine concentration camp“, wie die Historikerin Claire Eldridge (2016, 272) schreibt. Azni kam im Jahr 1963 in Frankreich an und lebte selbst bis 1973 im Bias-Lager zwischen Toulouse und Bordeaux (vgl. Eldridge 2016, 272). Die Beschreibung von Ausgangssperren, der Stacheldraht, die militärische Überwachung und der eingeschränkte Zugang zu Bildung, die in der Klageschrift nur Erwähnung finden, werden in Aznis Buch und auch in der Dokumentation zur Exemplifizierung des Vernichtungswillens der französischen Regierung herangezogen. In seinem Buch stellt Azni fest: „Was haben die Deutschen gesagt? ‚Arbeit macht frei‘, Arbeit macht frei, das stand über dem Eingang von Buchenwald“ (Azni 2002, in: Eldrigde 2016, 276). An diese Gleichsetzung mit den nationalsozialistischen Lagern anknüpfend, beschreibt Azni die Harki-Camps als „mouroir“ (Ort zum Sterben), woraus sich für ihn auch eine Mittäterschaft Frankreichs über den eigentlichen Dekolonialisierungsprozess Algeriens hinaus begründet. In seinem Buch heißt es dazu: L’Algérie a été le bourreau d’une sentence prononcée par la France. La France, coupable de non-assistance à peuples en danger. La France qui a achevé, dans les mouroirs des camps de Rivesaltes et d’ailleurs, la sale besogne commencée par les tireurs du FLN. (Azni 2002, 165)

Azni (2002, 165, Übersetzung S. R.) unterstellt damit der französischen Regierung einen Vernichtungswillen, bei dem Algerien „zum Henker eines Urteils wird, das Frankreich gesprochen hat“. Den Nachweis für diesen Befund versucht er im Anhang seines Buches zu bringen, indem er mehrere Dokumente anführt, die eindeutige Bezüge zum Vokabular des Holocaust erstellen. Das Dokument, das einen Überblick über die Situation der „1963 repatriierten französischen Muslime“ gibt, übertitelt er mit dem Satz: „Ce compte rendu établit clairement qu’un plan d’extermination des Harkis avait été envisager“ (Azni 2002, Dokument 10). „Ausbeutung“, „Vernichtung“ und „Völkermord“ etablieren als genutzte

228 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Begriffe wiederholt die Verbindung zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Eldridge (2016, 276) unterstreicht daher auch in ihrem Buch: „[Azni] not only made direct reference to the precedent set by Vichy, but did so in language rooted in the concepts of persecution and genocide strongly reminiscent of that which accompanied the reawakening of Jewish memory in the 1970s.“ In den Printmedien fällt hingegen auf, dass ein Großteil der erschienenen Zeitungsartikel die Deutung der Massaker als „Völkermord“ nicht übernimmt. Allerdings wird wiederholt der „plan concerté“ zur Folter und Hinrichtung der Harkis sowie die Darstellung der Lager als „mouroir“ aufgegriffen (vgl. Royer, 30.8.2001, La Croix; Tamazount, 29.08.2001, Libération). Zum einen wird damit bildsprachlich an das durch den Nationalsozialismus etablierte Vokabular angeknüpft, auf der anderen Seite wird durch die Aussparung der expliziten Begriffe vermieden, eine Einordnung der Massaker als crime contre l’humanité oder als Genozid vorzunehmen. Dabei erfolgt medial keine definitorische Unterscheidung der beiden Begriffe. Nur ein einziger Journalist lehnt die Bewertung der Massaker als Genozid ab, indem er unterstreicht, dass es sich bei den Harkis keineswegs um eine „ethnische Gruppe“ handeln würde (Henry, 30.08.2001b, 30.  August, Libération). Zwei weitere Artikel bringen diese Haltung indirekt durch ein Interview mit dem damaligen Verteidigungsminister Pierre Messmer (vgl. Bernard, 25.09.2001, Le Monde, 9) und einen die Klage ablehnenden Harki-Aktivisten (vgl. Henry, 30.08.2001a, Libération, 4) zum Ausdruck. Generell fällt für den Untersuchungszeitraum von 2001–2002 auf, dass wenige Harki-Vertreter:innen in der Presse zu Wort kamen bzw. immer wieder ähnliche Zitate Erwähnung finden. Dabei existierten im Jahr 2000 ca. 540 verschiedenen Harki-Organisationen, die ein vielfältiges Meinungsspektrum vermuten lassen, das aber keine mediale Abbildung erfährt (vgl. Eldridge 2016, 203). Nur in einem einzigen Artikel, erschienen in Libération, werden die unterschiedlichen Perspektiven der zweiten Generation der Harkis abgefragt. Saïd Merapti, der Vizepräsident des nationalen Zusammenschlusses Justice pour les Harkis, unterstützt das Klagevorhaben und schreibt: „Beaucoup ne veulent pas entendre le terme de génocide, mais on est vraiment dedans: les Harkis ont été massacrés parce qu’ils avaient une idée différente du FLN“ (Henry, 30.08.2001a, Libération, 4). Andere hingegen machten ihre Kritik an der Bezugnahme auf die NS-Verbrechen deutlich. Der Journalist und Filmemacher Farid Haroud fordert entsprechend: „Et il faut peut-être arrêter les parallèles avec la Deuxième Guerre mondiale, avec la rafle du Vel’ d’Hiv‘. Parce que le parallèle, les Harkis en souffrent aussi quand on les compare aux collabos“ (Henry, 30.08.2001a, Libération, 4). Haroud reagiert hier auf die Haltung der algerischen Regierung, die Harkis mit den Kollaborateuren des Vichy-Regimes gleichzusetzen. Während eines Staatsbesuchs des algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika im Juni 2000 reagiert er auf die Frage nach einer möglichen Rückkehr

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 229

der Harkis nach Algerien: „C’est exactement comme si on demandait à un Français de la Résistance de toucher la main d’un collabo“ (Rede des algerischen Präsidenten Abdel al-Aziz Bouteflika, 14.06.2000). In seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer möglichen Versöhnung mit den Harkis und ihren Nachkommen macht der algerische Präsident deutlich, dass bei einer Anerkennung der Geschichte der Harkis die algerisch-französischen Beziehungen auf dem Spiel stünden. Das politische Engagement der Harkis und die Auseinandersetzung um deren Anerkennung und Sichtbarkeit in der französischen Geschichte muss daher immer auch vor dem Hintergrund parteilicher Interessenkonflikte und der bilateralen Beziehungen mit Algerien betrachtet werden. Dass die Harkis zum einen als ‚muslimische Andere‘ diskriminiert, zum anderen von der politischen Rechten als ‚treue‘ Soldaten im Dienste Frankreichs instrumentalisiert werden,33 markiert einen Widerspruch, der zu Beginn des Jahrtausends über die Forcierung einer vereinheitlichenden Opferidentität aufgelöst wird. Zeitgleich zum Klagevorhaben vollzieht sich mit der ersten Ausrichtung des Journée nationale d’hommage aux Harkis deren Einschreibung in die nationale „Schicksalsgemeinschaft“ (Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac, 25.09.2001).

8.2.4 D  er abandon der Harkis und ihre Zugehörigkeit zur französischen „Schicksalsgemeinschaft“ ab den 2000er Jahren Dass dieser Wandel möglich wird, liegt vor allem an der Etablierung und Persistenz des emotionalen Diskurses des abandon. Schon zu Kriegsausgang sprachen einige französische Offiziere vom „abandon de nos fidèles Harkis“ und auch vom „Genozid“ (Ageron 2000, 11). Allerdings müssen diese Aussagen im Rahmen der Kriegsgeschehnisse gedeutet werden, an deren Ende der Zerfall des französischen Kolonialreichs stand. Entsprechend fürchteten damals die Behörden, dass diese Sicht von den Anhänger:innen der Algérie francaise, der OAS und anderen Nostalgiker:innen instrumentalisiert werden könne (vgl. Ageron 2000, 5). Frühzeitig wandelten sich die ursprünglich militärischen Funktionsbeschreibungen in eine identitäre Kategorie. Schon im Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre vollzog sich eine Essenzialisierung und Homogenisierung der Erfahrungen, die auch die nachfolgenden Generationen prägten (vgl. Eldridge 2016, 160). Aznis Deutung der Massaker als Völkermord ergänzt das essenzialisierte Erleben des

33  Zur Vorgeschichte parteipolitischer Interessenskonflikte im Hinblick auf die Erinnerung an die Vergangenheit der Harkis, vgl. Kapitel 4, „Breaking the silence“, in From Empire to Exile (Eldridge 2016, insb. 150–158).

230 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

abandons um die Ethnisierung der Harki. Wenngleich es auch schon frühere Versuche gab, die Massaker als Genozid zu deuten (vgl. Ageron 2000, 11), stößt Aznis Klage nun auf ein ungeahntes mediales Interesse (vgl. Khemache 2018, 141). Bis zur Klage im Jahr 2001 blieben die Forderungen der Harkis der französischen Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt, trotz des teilweise radikalen Engagements der zweiten und dritten Generation der Harkis (vgl. Eldridge 2016, 161). Das gestiegene Interesse lässt sich vor allem damit erklären, dass die Klage nur wenige Wochen vor der ersten Ausrichtung des Journée nationale d’hommage aux Harkis eingereicht wurde (vgl. Khemache 2018, 141). In der letzten Dekade geriet die staatliche Politik zunehmend unter Druck, gegenüber den diversen aktivistischen Deutungsversuchen der französischen Kolonialgeschichte Stellung zu beziehen (vgl. Eldridge 2016, 203), was u.  a. auch zur offiziellen Anerkennung des Algerienkriegs im Jahr 1999 führte. Der französische Präsident Jacques Chirac sah sich in den frühen 2000er Jahren einer politischen Situation ausgesetzt, in der kolonial-nostalgische wie auch linke und antikolonialistische Positionen immer wieder die Mediendebatten bestimmten. Insbesondere seit der Folterdebatte in den Jahren 2000 und 2001, so der Politikwissenschaftler Frank Renken (2006, 451), haben linke Deutungen des Algerienkriegs gesellschaftlich an Sichtbarkeit gewinnen können. Chiracs rechtskonservative Politik unternahm in dieser verzwickten Situation den Versuch, die Beziehungen zu Algerien zu stabilisieren, gleichzeitig aber auch die Algeriennostalgiker:innen durch Zugeständnisse einzubinden und somit gegenüber der Linken handlungsfähig zu sein (Renken 206, 452). Im Jahr 2001, und nur kurze Zeit nach der Einreichung der Klage, findet der erste Journée nationale d’hommage aux Harkis statt. In seiner Rede weist Chirac allerdings die Anerkennung des abandon der Harkis zurück: Zwar könne er das Gefühl des abandon nachvollziehen, sieht die Republik aber nicht verantwortlich für die „Aufgabe“ der Harkis. Trotzdem gesteht er ein, dass Frankreich „seine Kinder nicht habe retten können“, die aufgrund ihrer Liebe für das Vaterland („souffrances d’hommes qui ont aimé notre patrie“) sterben mussten. Chirac beschwört eine französische „Schicksalsgemeinschaft“, in der die Harkis eine besondere Stellung einnehmen, weil sie sich ihre Zugehörigkeit zur ‚Nation‘ erst erstreiten mussten, wie er hervorhebt. Chiracs Rede konzentriert sich vor allem auf eine militärische Würdigung. So spricht er von den „tragischen Jahren“, „in deren Verlauf sich Frankreich und Algerien voneinander trennten“ (Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac, 25.09.2001). Der Präsident handelt hier gänzlich im Geiste der „mémoire combattante“, die Ende der 1990er Jahre die Erinnerungspolitik dominierte und keine kritische Neubewertung des französischen Kolonialismus zuließ, wie Michèle Baussant (2006, 170) in ihrem Beitrag „Ni mémoire, ni oubli. La France à l’épreuve de son histoire coloniale“ feststellt. Folglich sind Chiracs

„[P]ourquoi la France ne reconnaîtra pas le génocide des Harkis?“ 

 231

Worte gekennzeichnet von einer ausschließlich militärischen Würdigung und der Aufopferung für die französische ‚Nation‘. Die Klage von 2001 folgt diesem Aufopferungsgedanken im Dienste Frankreichs, weswegen ihr Inhalt von der patriotischen ‚Liebe‘ für die französische ‚Nation‘ getragen ist. Allerdings macht Azni deutlich: „Puisque la France veut faire la lumière sur la guerre d’Algérie, qu’elle assume complètement, sans oublier les milliers de Harkis qu‘elle a abandonnés en 1962“ (Bernard, 09.06.2001, Le Monde, 9). Die diversen Kriegserfahrungen und die unterschiedlichen Motive zum Kampf auf der Seite Frankreichs werden zu einer ‚Leidensgeschichte‘ verbunden, die im emotionalen Diskurs des abandon zu einer einheitlichen ‚Opfer‘-Narration verschmelzen. In einem Editorial von Le Monde, das schon im Februar 2001 erschien, heißt es, dass der geplante nationale Gedenktag zu einer Nivellierung der divergierenden Kriegserfahrungen führen würde. Gleichzeitig ist es auch der einzige Beitrag, der ein nationales Gedenken deswegen ablehnt, weil dadurch der Kolonialkrieg mit einer apologetischen Geste versehen werden würde, statt ihn als „Fehler der Republik“ wahrzunehmen. Der Artikel endet mit der folgender Aufforderung: „La République de demain devrait plutôt se construire sur la condamnation nette et entière des guerres coloniales“ („Les Harkis et la mémoire“, 08.02.2001, Le Monde, 17). Diese Haltung muss allerdings als Ausnahme der Medienberichterstattung gewertet werden. Von den meisten anderen Kommentator:innen wird als Begründung für die Initiierung des Klagevorhabens der emotionale Diskurs des abandon angeführt. In den Texten entsteht somit eine Tonalität, die, unabhängig vom Ausgang der Klage, eine zwingende Anerkennung des ‚Leids‘ der Harkis vorsieht. Indem sich der emotionale Diskurs gesamtgesellschaftlich etabliert und nicht nur für rechtskonservative Belange steht, entfaltet er eine Integrationskraft, mit der die Harkis in die französische Nationalgeschichte eingeschrieben werden. Obwohl die Klage abgewiesen wurde, werden die Harkis erfolgreich als die „zurückgelassenen Anderen“ zu einem Teil der französischen „communauté de destin“ (Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac, 25.09.2001). Wie auch in der Klageschrift, verschmelzen in der Medienberichterstattung die Kriegserfahrungen und die Massaker mit den Darstellungen anschließender Diskriminierung durch die Unterbringung in den Lagern und dem benachteiligenden Arbeitsmarktzugang. Gleichzeitig markiert die Einrichtung des Journée nationale d’hommage aux Harkis einen Wandel, bei dem sich die Forderungen der Harkis zunächst von der Zugehörigkeit zur ‚Nation‘ hin zur Anerkennung ihres abandons und später zur Verantwortungsübernahme für diesen verschieben (vgl. Crapanzano 2008, 134). Die Diskursanalyse der Beiträge des Jahres 2001 und 2002 zeigt, dass sich weder die Lesart der Massaker als Verbrechen gegen Menschlichkeit noch die Genozid-Gleichsetzung durchsetzen können. Auffallend ist allerdings auch, dass sich die wenigsten Artikel mit den juristischen Terminologien oder einer mögli-

232 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

chen strafrechtlichen Aufarbeitung kolonialer Gewalt auseinandersetzen. Eine juristische Aufarbeitung kolonialer Verbrechen wird diskursiv als unmöglich, die etablierten Rechtsnormen werden als unabänderliche Wahrheiten konstruiert. Wie schon auch in der Folterdebatte des vorangegangenen Jahres, wird eine juristische Antwort vorgeschoben, um eine politische Antwort aussparen zu können. Als Konsequenz werden juristische Fragestellungen entpolitisiert und die politischen Rahmenbedingungen, die zur Verabschiedung der Amnestiegesetze führten, werden ignoriert (vgl. Baussant et al. 2018, 171). Trotzdem hat es die Klage geschafft – auch ohne juristische Erfolgsaussichten –, ein einzigartiges Medieninteresse zu erzeugen, das die Massaker einem größeren Publikum bekannt machte (vgl. Eldridge 2016, 173; Khemache 2018, 141). Mit dem endgültigen Scheitern verschiedener Klagevorhaben bis 2003/2004, die die Anerkennung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu erwirken suchen, verliert die Referenz zum Nationalsozialismus und auch die Verwendung der juristischen Begriffe in späteren Jahren an Bedeutung. Dies schmälert allerdings nicht den Aktivismus der Harkis – allein zwischen 2001 und 2012 haben sich nicht weniger als 148 Harki-Vereine gegründet (vgl. Khemache 2018, 139). Durch den Status der Harkis als Kriegsveteranen schlägt sich die Forderung nach Anerkennung und der Zahlung von Entschädigungen schon frühzeitig in verschiedenen Gesetzesinitiativen nieder. Mit der offiziellen Anerkennung ihrer Vergangenheit wandeln sich jedoch zunehmend die Forderungen. In Kapitel 8.3.1 rekonstruiere ich den diskursiven Wandel, der sich auf Regierungsebene von der Anerkennung des ‚Schmerzes‘ und ‚Leids‘ der Harkis hin zur Verantwortungsübernahme für den abandon ab 2016 vollzieht. Doch zuerst analysiere ich das Klagevorhaben der OvaHerero im Jahr 2001 und ihre Forderungen nach einer Entschädigung für den Genozid.

8.3 W  enn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern – Das Klagevorhaben der OvaHerero 8.3.1 Die Klagen von NS-Zwangsarbeiter:innen als Vorbild der Sammelklage Im August 2001 beriefen sich Vertreter:innen der OvaHerero auf das ihnen nach US-amerikanischem Recht zur Verfügung stehende Mittel der Sammelklage (class action), um drei in den USA ansässige deutsche Unternehmen auf die Zahlung von Entschädigungen zu verklagen (vgl. Eicker 2009, 325–328). Zusammen mit einer inhaltlich deckungsgleichen Klage gegen die Bundesregierung Deutschland am 18. September 2001, wenige Tage nach der Weltrassismuskonferenz in Durban, wird die strafrechtliche Verfolgung kolonialer Verbrechen und die mög-

Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern 

 233

liche Zahlung von Reparationen das erste Mal zu einem in der deutschen Öffentlichkeit diskutierten Thema. Seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 versuchen die OvaHerero erfolglos, mit Deutschland einen Dialog über die gemeinsame koloniale Vergangenheit aufzunehmen (vgl. Kößler 2015, 236–237). Nachdem die OvaHerero im Jahr 1999 schon einmal aussichtslos vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geklagt hatten (vgl. de Wolff 2017, 394), fanden sie in den Klagen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter:innen ein Vorbild, um ihre eigenen Ansprüche geltend zu machen. Aus diesem Grund muss das Klagevorhaben der OvaHerero vor dem Hintergrund deutscher Wiedergutmachungspolitik betrachtet werden – die allerdings bis weit in die 1990er Jahre auch einen Großteil der vom Nationalsozialismus Verfolgten von der Zahlung von Entschädigungen ausschloss, wie der Fall der NS-Zwangsarbeiter:innen verdeutlicht. Das 1953 beschlossene Londoner Schuldenabkommen regelte zunächst den Umgang mit den bestehenden Auslandsschulden (vgl. Goschler 2005, 152–159), im Bundesentschädigungsgesetz vom 29. Juni 1965 wurden der anspruchsberechtigte Personenkreis sowie die Tatbestände erweitert, für die Entschädigungen gefordert werden konnten. Allerdings schloss das Gesetz Entschädigungszahlungen an Personen mit ausländischem Wohnsitz aus, Ausnahmen konnten nur für die in Israel ansässigen Jüd:innen erwirkt werden (vgl. Goschler 2005, 181–203, insb. 201). Zahlungen gegenüber den Staaten Ost- und Mitteleuropas, die vor allem nach der Wiedervereinigung 1990 abgeschlossen worden sind, wurden als Globalabkommen verabschiedet und sahen keine individuellen Leistungen vor (vgl. Goschler 2005, 429–437). Mit den ersten Klagen wegen nicht geklärter Vermögensfragen gegen Schweizer Banken, die im Zusammenhang mit dem Holocaust standen, wurde das Einleiten rechtlicher Schritte in den 1990er Jahren zu einer neuen erinnerungspolitischen Strategie (vgl. Eicker 2009, 404). Wegbereitend war außerdem die Entschädigungsklage des US-Amerikaners und ehemaligen Zwangsarbeiters Hugo Princz, die zum Abschluss zweier Globalabkommen zwischen den USA und Deutschland führte. Ab 1998 reichten schließlich auch ehemalige NS-Zwangsarbeiter:innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit Sammelklagen in den USA ein, um Entschädigungszahlungen von deutschen Unternehmen zu erwirken, die während des Nationalsozialismus vom Einsatz von Zwangsarbeit profitiert hatten. Das in der US-amerikanischen Rechtskultur zur Verfügung stehende Mittel der Sammelklage war der deutschen Gerichtsbarkeit unbekannt (vgl. Eicker 2009, 478) und zielte auf deutsche, aber in den USA ansässige Unternehmen. Allerdings – und dies ist für die Betrachtung des Klagevorhabens der OvaHerero zentral – hatten die Klagen keinen juristischen Erfolg und mündeten in der Vereinbarung außergerichtlicher Vergleiche. Als Konsequenz wurde den deutschen Unternehmen die Formulierung eines Schuldeingeständnisses erspart, während des Nationalsozialismus von der Zwangsarbeit profitiert

234 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

zu haben (vgl. Pagenstecher 2016). Am 16. Februar 1999 stimmten die Unternehmen der Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ) sowie der Zahlung von Entschädigungen in Höhe von 10 Millionen DM zu (vgl. Borggräfe 2014, 7). Als Voraussetzung für die Zahlungsanweisung forderten die Unternehmen jedoch die Zusage, künftige Klagen auszuschließen und Rechtssicherheit herzustellen (vgl. Goschler 2012, 26). Seither ist der Rechtsweg für diejenigen, die während des Nationalsozialismus Zwangsarbeit verrichten mussten, ausgeschlossen. Im August 2001 reichten die OvaHerero Sammelklagen gegen die Deutsche Bank AG, die Reederei Woermann-Linie (als Rechtsnachfolger der DeutscheAfrika-Linien GmbH und Co. KG) und Terex Corporation (als Rechtsnachfolger der Firma Orenstein & Koppel) ein, um Entschädigungen in Höhe von 2 Milliarden US-Dollar zu erwirken (vgl. Eicker 2009, 325). Im Falle von Terex konnte die Rechtsnachfolge nicht belegt werden, sodass die Klage schon am 5. September 2001 zurückgenommen wurde (vgl. Eicker 2009, 326). Nach einer ersten Abweisung der Klage gegen die Woermann-Linien und die Deutsche Bank wurden in den folgenden Jahren weitere Klagen anhängig gemacht, die vom Bundesgericht District Court for the District of Colombia wegen Nichtzuständigkeit bzw. wegen „failure to state a claim“ im Sommer 2003 endgültig zurückgewiesen wurden (Eicker 2009, 326–327). In Bezug auf die Schadensersatzklage gegen die Bundesregierung kommt Eicker in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die OvaHerero nach US-amerikanischem Recht nicht anspruchsberechtigt sind, da der Bundesrepublik Immunität zu gewähren ist (vgl. Eicker 2009, 348, 358). In einem Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags heißt es, dass die zivilrechtliche Sammelklage „unter Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität“ abzuweisen ist (WD 2 – 3000 – 016/18 2018, 5). Aus diesem Grund verweigerten die Behörden die Zustellung der Klageschrift. Nachdem die Zustellungsfristen verstrichen waren, wurde die Klage schließlich am 16.  Juni 2003 zurückgenommen (vgl. Eicker 2009, 329). Mit den eingereichten Sammelklagen wählten die OvaHerero die gleiche Strategie wie die ehemaligen Zwangsarbeiter:innen, um Entschädigungen von deutschen Unternehmen für den Völkermord zu erwirken. Sammelklagen sind aufgrund der völkerrechtlich anerkannten Staatenimmunität das einzige zur Wahl stehende juristische Mittel, von dem postkoloniale Akteur:innen Gebrauch machen können, wobei es sich bei den in den USA eingereichten Klagen um von „Privatpersonen geltend gemachte Reparationen für kriegsbedingte Schädigungen“ handelt (Eicker 2009, 409). Solche Reparationen wurden allerdings seit dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich auf der Regierungsebene verhandelt. Im Rahmen des Völkerrechts werden kriegsbedingte Entschädigungen als Anspruch eines geschädigten Staates und nicht als individueller Schadensersatz ange-

Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern 

 235

sehen (Eicker 2009, 479). In dieser Hinsicht, so Eicker (2009, 411), müssten die Ansprüche der OvaHerero im Rahmen einer deutsch-namibischen Wiedergutmachungspolitik geprüft werden und dürften nicht in den Zuständigkeitsbereich US-amerikanischer Gerichte fallen. Zusätzlich erschwerend ist im Rahmen des zivilrechtlichen Verfahrens außerdem, dass die OvaHerero als Nachfahren im Gegensatz zu den NS-Zwangsarbeiter:innen und anderen NS-Verfolgten nicht unmittelbar durch den Genozid betroffen sind. Eine Entschädigung für persönliche Schäden ist somit ausgeschlossen (vgl. Eicker 2009, 496), weswegen nur „vererbte Ansprüche“ geltend gemacht werden könnten (Eicker 2009, 489). Wie schwer ein solcher Nachweis aufgrund der verstrichenen Zeit zu realisieren ist, zeigt sich beispielsweise an der erneuten Klageeinreichungen gegen die Deutsche Bank AG und die Rederei Woermann-Linien. Beide Klagen wurden 2003 u. a. deswegen abgelehnt, weil die Kläger:innen ihre Ansprüche nicht überzeugend darlegen konnten (vgl. Eicker 2009, 327). Aufgrund dieser wenig Erfolg versprechenden juristischen Rahmenbedingungen lässt sich vermuten, warum die OvaHerero und Nama in den folgenden Jahren von weiteren Entschädigungsklagen gegen deutsche Unternehmen absahen. Im Folgenden werde ich die Klageschrift analysieren und nachzeichnen, auf welche Weise die OvaHerero zum einen eine historische Kontinuität zwischen den kolonialen Verbrechen und denen des Nationalsozialismus herstellen und zum anderen eine erinnerungspolitische Kontinuität erzeugen, indem sie auf die deutsche Wiedergutmachungspolitik Bezug nehmen.

8.3.2 [ G]enauso, wie [die deutsche Regierung] es mit dem Holocaust hat tun müssen“: Verweise zu NS-Verbrechen und zum Fall der NS-Zwangsarbeiter:innen Die deutsche Regierung hat damals Verbrechen gegen die Menschheit begangen, denn sie töteten drei Viertel der Herero und ihre Rinder, machten sie zu Sklaven auf ihrem eigenen Land – das ist Zerstörung einer ganzen Gesellschaft, einer ganzen Kultur. („Herero-Häuptling fordert von Deutschland Entschädigung“, 03.09.2001, Die WELT)

Der Paramount Chief Kuaima Riruako, der hier in Die WELT zitiert wurde, ist zum einen höchster Vertreter der Gruppe der OvaHerero und als Initiator der Klage gleichzeitig Mitglied der Herero People’s Reparation Corporation (HPRC), die eigens zur Einreichung der Sammelklage gegründet wurde. In genanntem Zitat benennt er als Anspruchsgrundlage für die Klage der OvaHerero die Verübung

236 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

des Genozids, Sklaverei und Zwangsarbeit. Unter Punkt  141 der Klageschrift werden die Punkte wie folgt ausgeführt: (a) initiation of and implementation of a race war against the Hereros; (b) initiation of and implementation of an implicit and explicit campaign of genocide, extermination and extirpation of the Hereros; (c) the brutalization and enslavement of the Hereros, and the systematic use of forced labor; (d) the systematic forced degradation of Herero women held as captives; and (e) the systematic destruction of the Herero culture.“ (Klageschrift HPRC 2001, 61)

Dabei werden die historischen Ausführungen zu den begangenen Menschheitsverbrechen in der Klageschrift von einer expliziten Referenz zu den Verbrechen des Nationalsozialismus begleitet. In der über 60 Seiten umfassenden Sammelklage wird detailliert dargelegt, dass der Genozid an den OvaHerero und Nama als „Vorreiter des Holocaust“ zu betrachten sei. Umfassend wird in der Klageschrift anhand historischer Quellen eine Beschreibung der verfolgten Volksgruppen vor und während der Kolonisierung vorgenommen. Es folgen historische Darstellungen der deutschen Kolonisierung im 19. Jahrhundert, die Schilderung des Kolonialkriegs von 1904–1908, die Umsetzung des „Vernichtungsbefehls“ von Lothar von Trotha sowie die Internierung in den Konzentrationslagern, in denen die Gefangenen Zwangsarbeit zu verrichten hatten.34 In diesem Zusammenhang stellt der Text auch wiederholt Bezug auf die „Endlösung“ (Klageschrift HPRC 2001, 47), zum „Konzentrationslager“-System (Klageschrift HPRC 2001, 21, 29, 43, 54–7) – auch in der deutschen Übersetzung (Klageschrift HPRC 2001, 53) – sowie zu Eugen Fischer (Klageschrift HPRC 2001, 57) und dessen rassenmedizinischen Experimenten her (Klageschrift

34  Die Darstellung der historischen Hintergründe in der Klageschrift werden aus dem sogenannten Blaubuch entnommen, dem „Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany“ (Eicker 2009, 332–333). Das Blaubuch wurde von der englischen Kolonialmacht im Jahr 1918 als Propagandaschrift gegen das Deutsche Reich veröffentlicht, weswegen die Glaubwürdigkeit des Dokuments in Zweifel gezogen wurde, sollte es doch die deutsche Kolonialherrschaft in „Deutsch Südwestafrika“ desavouieren. Im Jahr 2003, und somit ein Jahr vor dem 100-jährigen Gedenken an den Völkermord, wurde das Blaubuch von den Historikern Jeremy Silvester und Jan-Bart Gewalt als neu editierte und kritisch kommentierte Ausgabe herausgegeben und bot somit Anlass zu einigen Buchrezensionen (vgl. Zeller 28.07.2003, SZ; Zimmerer 18.11.2003, FR, 21). Diese boten die Gelegenheit, die sogenannte „Kolonialschuldlüge“ aufzugreifen, die sich kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs durchzusetzen begann und die sich als Kontinuität bis in die Gegenwart fortschreibt. Eine Bezugnahme auf das Blaubuch findet in der Medienberichterstattung über die Klage allerdings nicht statt. Eicker sieht in der Verwendung der Quelle zwar keinen Nachteil, vermutet bei ihrer Wahl jedoch, dass auf besonders eindrückliche Darstellungen kolonialer Gewalt zurückgegriffen werden sollte (vgl. Eicker 2009, 332–333).

Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern 

 237

HPRC 2001, 21), die in „Deutsch-Südwestafrika“ durchgeführt worden sind. In diesem Zusammenhang steht auch eine explizite Referenz zu Adolf Hitler, wenn es in der Klageschrift heißt: „A book he [Fischer, Anm. S. R.] wrote about his findings, The Principle of Human Heredity and Race Hygiene, was a favorite of Adolf Hitler“ (Klageschrift HPRC 2001, 57). Als explizite Bezugnahme auf den Holocaust heißt es in der Einführung zu Sammelklage: Foreshadowing with chilling precision the irredeemable horror of the European Holocaust only decades later, the defendants and Imperial Germany formed a German commercial enterprise which cold-bloodedly employed explicitly-sanctioned extermination, the destruction of tribal culture and social organization, concentration camps, forced labor, medical experimentation and the exploitation of women and children in order to advance their common financial interests. (Klageschrift HPRC 2001, 21, Hervorhebung S. R.)

Mit dem Verweis auf den „europäischen Holocaust“ schuf die Sammelklage nicht nur eine Kontinuität „von Windhoek nach Auschwitz“ (Zimmerer 2007), sondern „provinzialisierte“ (Chakrabarty 2008 [2000]) gleichfalls den Holocaust. Indem die Klageschrift die europäische Situiertheit des Holocaust betont, wird die westliche Aufmerksamkeit auf die Existenz ‚anderer‘ Genozide gelenkt. Die von Aimé Césaire für die unmittelbare Nachkriegszeit beschriebene Separierung der kolonialen von den nationalsozialistischen Gewalterfahrungen (vgl. Kap. 3.2) wird in der Klageschrift aufgehoben. Indem die beiden Genozide zeitlich miteinander verknüpft werden, werden außerdem die bisher unterschiedlich wahrgenommenen Zeitlichkeiten synchronisiert und der europäische Ursprung kolonialer Gewalt hervorgehoben. Die Sammelklage steht hier als Ausdruck einer multidirektionalen Hybridisierung, bei der die koloniale Vergangenheit als Bestandteil der deutschen Geschichte anerkannt werden soll. Neben dieser historischen Kontinuität werden aber auch erinnerungspolitische Kontinuitäten hergestellt, indem die OvaHerero ihre Forderungen in die deutsche Wiedergutmachungspolitik in Bezug auf den Nationalsozialismus einschreiben. Im schon eingangs zitierten Die-WELT-Artikel folgt auf die Schilderung der begangenen Menschheitsverbrechen Riruakos Forderung, dass „die Bundesregierung […] sich ihrer Verantwortung stellen [solle] – genauso, wie sie es mit dem Holocaust hat tun müssen“ („Herero-Häuptling fordert von Deutschland Entschädigung“, 03.09.2001, Die WELT). Dabei ist der Paramount Chief der einzige Herero-Vertreter, der in der deutschen Berichterstattung Erwähnung findet. Einzig in den Zeitungsartikeln, die in Die WELT erscheinen, werden die Positionen Riruakos als direkte Zitate wiedergegeben. Zugleich verwendet die Zeitung allerdings auch als einzige die rassifizierende Bezeichnung „Häuptling“, wodurch eurozentrische Stereotype fortgeschrieben werden (vgl. Robel 2013, 299). Ist die Rede vom Paramount Chief, beziehen sich alle Zeitungsartikel auf seine Ver-

238 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

weise auf die Wiedergutmachungspolitik für nationalsozialistische Verbrechen. In einem anderen Artikel, der in Die WELT erschienen ist, schätzt er die Chancen eines juristischen Erfolgs hoch ein, denn „wir gehen ja denselben Weg wie die Juden“ („Herero-Häuptling verklagt zwei deutsche Konzerne“, 08.09.2001, WELT online). Eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus nimmt Riruako dabei allerdings nicht vor. Dabei kann am Beispiel der ehemaligen Zwangsarbeiter:innen nachverfolgt werden, dass selbst Opfergruppen nationalsozialistischer Gewalt nicht ohne Weiteres damit rechnen konnten, entschädigt zu werden („NS-Entschädigungsgelder können fließen“, 23.05.2001, taz, 1). Ohne den öffentlichen Druck, die Unterstützung weiterer Staaten sowie international operierender Organisationen wäre der Abschluss von Globalabkommen zwischen Deutschland und den USA sowie die Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ) nicht denkbar gewesen (vgl. Goschler 2005, 450–452). Dass die Klagen der OvaHerero und Nama nicht zur erhofften Zahlung von Wiedergutmachungen führten, erklärt sich somit anhand der grundlegenden Bedeutung, die den nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland, Europa und den USA zugeschrieben wird (vgl. Eicker 2009, 497). Nur, weil die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen zu einem globalen „moral touchstone“ wurde (Craps und Rothberg 2011, 518), waren die Gründung der EVZ sowie der Abschluss weiterer Globalabkommen möglich geworden. Wie hat die deutsche Medienberichterstattung auf den Vergleich mit dem Holocaust reagiert und welche emotionalen Diskurse lassen sich rekonstruieren? Und erzeugt die Bezugnahme auf den Holocaust eine „moralische Autorität“, die Miles (2004, 371) vermutet?

8.3.3 Die affektive Entinnerung kolonialer Gewalt in den Medien Die Einreichung der Klage wurde in der Tagespresse im Jahr 2001 nicht als eigenständiges Diskursereignis wahrgenommen. Zwar gibt es in allen Zeitungen kurze Mitteilungen zum Vorhaben der OvaHerero (vgl. „Herero klagen auf Entschädigung wegen Völkermords“, 06.09.2001, FAZ, 1). Anlass für längere Ausführungen ergaben sich hingegen erst in Bezugnahme auf andere tagespolitische Ereignisse wie beispielsweise die Weltrassismuskonferenz in Durban, bei der Reparationen für den europäischen Kolonialismus und den Versklavungshandel diskutiert wurden (vgl. „Südafrikanischer Kompromissvorschlag stößt in Durban auf Ablehnung“, 07.09.2001, FAZ, 2). Im Oktober 2003 findet die Klage nochmals im Zusammenhang mit dem Staatsbesuch des damaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer in Namibia Erwähnung, bei dem dieser zu Protokoll gab, „keine Äußerung vor[zu]nehmen, die entschädigungsrelevant wäre“ (Bitt-

Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern 

 239

dorf, 30.10.2003, SZ, 7). Stattdessen bestätigte er die entwicklungspolitischen Hilfszahlungen als Kern der deutsch-namibischen Zusammenarbeit (vgl. Bittdorf, 30.10.2003, SZ, 7). Als die Klage im Juni 2003 zurückgewiesen wird, sehen die untersuchten Zeitungen darin keinen Nachrichtenwert. Generell lässt sich konstatieren, dass nur wenige Zeitungen in den Jahren 2001 und 2003 über den Fall berichteten (vgl. de Wolff 2017, 403). Gleichzeitig wird in fast allen Artikeln, die das Vorhaben der OvaHerero besprechen, Bezug auf die Klagen der ehemaligen Zwangsarbeiter:innen genommen (vgl. Müller, 10.09.2001, FAZ, 1; Müller, 25.02.2003, FAZ, 1). Die Klagen der NS-Zwangsarbeiter:innen werden dabei als Begründung herangezogen, um den OvaHerero die Legitimität zur Formulierung von Entschädigungsansprüchen zu entziehen. Die Analyse der Zeitungsartikel legt nahe, dass das Gedenken an den Holocaust in der deutschen Medienlandschaft eine emotionale Ordnung etabliert hat, die ich im Folgenden anhand zweier Gesichtspunkte diskutiere. Das relative Desinteresse an den Klagen der OvaHerero deutet erstens auf eine affektive Entinnerung hin (vgl. Ha 2012; Stoler 2011, 125). Erinnert sei hier an Halbwachs (1985 [1925], 368), der hervorhebt, dass ein historisches Ereignis, um erinnert zu werden, einen „Platz“ im sozialen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses einnehmen muss. Ein solcher Platz entsteht jedoch nicht passiv. Anhand der Berichterstattung über die Klage im Jahr 2001 lässt sich ein produktives ‚Ausblenden‘ des Kolonialismus beobachten. Zweitens strukturiert die etablierte Ordnung des Holocaust-Gedenkens die Hervorbringung emotionaler Diskurse, in die sich die Klage der OvaHerero einpasste. Ein Großteil der mit der Klage in Zusammenhang stehenden Artikel nimmt dabei Bezug auf den Holocaust, ohne dabei den Genozid an den OvaHerero und Nama historisch zu kontextualisieren oder Riruakos Bezugnahme auf die gegenüber Jüd:innen geleisteten Entschädigungen zu erklären. Außerdem erfolgt auch in der Medienberichterstattung keine Differenzierung zwischen dem Holocaust und anderen NS-bezogenen Verbrechen, wie dies für die Aufarbeitung nationalsozialistischer Zwangsarbeit nötig gewesen wäre. Dem Genozid an den OvaHerero und Nama wird somit ein legitimer Platz in der deutschen Erinnerung verweigert. In der FAZ wird beispielsweise besonders scharf kritisiert, dass der Paramount Chief Riruako auf die erfolgreichen Entschädigungsforderungen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter:innen Bezug nimmt. Mit folgender Argumentation lehnt der Journalist Reinhard Müller die Klageeinreichung ab: Die griechische Justiz will das Athener Goethe-Institut pfänden, um Opfer deutscher Gewalt im Zweiten Weltkrieg zu entschädigen. Das afrikanische Volk der Herero klagt gegen deutsche Firmen, weil sie an der Vernichtungspolitik des kaiserlichen Deutschland in Südwestafrika beteiligt gewesen seien. Beiden Fällen liegen Verbrechen zugrunde, die vor sechzig,

240 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

vor hundert Jahren von Deutschen begangen wurden. In beiden Fällen gibt es keine rechtliche Grundlage für die Forderungen. […] Die von Deutschland eingegangene Verpflichtung zur Entschädigung früherer Zwangsarbeiter regt jetzt zur Nachahmung an. Die Herero geben offen zu, daß ihnen die Klagen in den Vereinigten Staaten als Vorbild dienen. (Müller, 10.09.2001, FAZ, 1, Hervorhebung S. R.)

Müller problematisiert nicht nur, dass der Zwangsarbeiter:innen-Fall als Vorbild für die Forderungen der OvaHerero diene (vgl. Müller, 10.09.2001, FAZ, 1). Die Wahl des Konjunktivs relativiert darüber hinaus die Deutung des Kolonialkriegs als historisches Verbrechen, die sich auch im Jahr 2003 noch in Müllers Artikeln wiederfindet. Ein halbes Jahr vor der Zurückweisung der Klage spricht Müller von einem „US-amerikanischen ‚Rechts-Wildwest‘“, das „zahlreiche[] angeblich menschenrechtlich motivierte[] tatsächliche[] oder nur angedrohte[] Klagen“ nach sich ziehe, „mit denen andere Staaten und Unternehmen unter Druck gesetzt werden“ (Müller, 25.02.2003, FAZ, 1). Müller erklärt in seinen Ausführungen zum US-amerikanischen Justizsystem, wie dieses die Staatenimmunität untergrabe, vor allem aber die Souveränität anderer Nationalstaaten gefährde. In den Zeitungsartikeln der Jahre 2001 und 2003 wird wiederholt auf die Klagen der NS-Zwangsarbeiter:innen Bezug genommen, u. a. indem die Drohung erneuter „Nürnberger Prozesse“ Erwähnung findet oder die Deutschen als „Geizhälse des Jahrtausends“ dargestellt werden (Müller, 10.09.2001, FAZ, 1). Weiter ist in der FAZ die Rede von einer „legalisierten Erpressung“ und davon, dass „‚Opferanwälte‘ die hohe Profitabilität von Sammelklagen entdeckt hätten“ („Amerikas Justiz richtet gern über Auslandsfirmen“, 19.03.2003, FAZ, 23). In der FAZ wie auch in der SZ findet die „eigens in Amerika gegründete Firma“ Erwähnung, mittels derer die Klageeinreichung bewerkstelligt wird (Bittdorf, 24.01.2003, SZ, 9). Indem die SZ titelt, „die Herero hoffen auf deutsche Milliarden“, wird die Klage zu einem an Profit orientierteren Vorhaben reduziert (Bittdorf, 24.01.2003, SZ, 9). Das Einklagen individueller Entschädigungen – worauf die in den USA eingereichten Sammelklagen abzielen (vgl. Eicker 2009, 415) – wird infolgedessen als ‚unmoralisches‘ Unterfangen verworfen. Dass das Fehlen rechtlicher Rahmenbedingungen zu einer Klageeinreichung in den USA führte, wird hingegen kaum ausgeführt. Nur in einem Artikel in der SZ wird der Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht, Rüdiger Wolfrum, zitiert, der auf die fehlenden juristischen Grundlagen zu sprechen kommt, die eine Aufarbeitung von Sklaverei und Kolonialismus unmöglich machen (vgl. Berger, 29.08.2001, SZ, 10). Obwohl es politisch wie medial in den frühen 2000ern noch umstritten ist, „ob der Vernichtungsfeldzug Trothas als geplanter ‚Genozid‘ zu bezeichnen ist“ (Perras, 29.08.2001, SZ, 10), wird die Zurückweisung der Klage jedoch maßgeblich mit der Staatenimmunität und der nicht retroaktiven Anwendung der Völkermordkonvention begründet (vgl. Berger, 29.08.2001, SZ, 10; Perras, 29.08.2001,

Wenn Vergleiche mit dem Holocaust scheitern 

 241

SZ, 10). Wiederholt wird hervorgehoben, dass nur Nationalstaaten das Recht hätten, Anklage gegen andere Staaten zu erheben. Im Gegensatz zu den Verbrechen des Nationalsozialismus hat sich für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit das Konzept „juristischer Zeit“ nicht durchgesetzt, wonach koloniale Verbrechen auch retroaktiv zu ahnden wären (Lorenz 2014, 57). Stattdessen wird der Völkermord zwar als „bedauernswürdiges“, aber in der Vergangenheit abgeschlossenes Ereignis besprochen (vgl. Perras, 29.08.2001, SZ, 10). Als „postkoloniales Dilemma“ zeigt sich hier die widersprüchliche Konzeption des Völkerrechts, das zum einen als universalisierte Rechtsnorm konzipiert ist, zum anderen die „kolonialisierten Subjekte“ von einer juristischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen ausschließt (vgl. Dhawan 2010; Eicker 2009; Kämmerer 2010). Der Holocaust wird somit nicht nur als „ultimatives“ „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bestätigt (Moses 2012, 230), sondern definiert in seiner Einzigartigkeit zudem die erinnerungspolitischen Gefühlsstandards. Aus diesem Grund kommt die Medienberichterstattung auch zu der übereinstimmenden Annahme, dass „das ‚schlimme Erbe des Kolonialismus‘ nicht mit Entschädigungen getilgt werden kann“ (Bittdorf, 30.10.2003, SZ, 7). Ein Großteil der Berichterstattung folgt somit der offiziellen Position von Regierungsvertreter:innen, die die Formulierung einer Entschuldigung deswegen ablehnen, um unvorhersehbare Entschädigungsforderungen und folglich das Schaffen von Präzedenzfällen zu vermeiden. Der Fall der OvaHerero zeigt, dass sowohl die rechtliche als auch die politische Verhandlung kolonialer Verbrechen innerhalb eines affektiven Zusammenhangs mit der Erinnerung an den Holocaust betrachtet werden muss. Steven E. Aschheim (2016) weist mit der Konzeptualisierung einer „political economy of empathy“ auf die ungleiche Verteilung von Empathie im Hinblick auf verschiedene Opfergruppen hin. Diese durch die Erinnerung an den Holocaust etablierten emotionalen Rahmenbedingungen, die ich als emotionale Ordnung fasse, beschreiben laut Aschheim „a symbolic construct of absolute evil [that] has become engraved at the very centre of our contemporary moral and emphatic consciousness“; gleichzeitig ist sich Aschheim sehr wohl bewusst, dass „our contemporary moral and emphatic consciousness“ von westlichen Normvorstellungen geprägt ist, was sich folglich auf die Herstellung gefühlter Nähe oder Distanz gegenüber dem ‚Leiden der Anderen‘ ausdrückt (Aschheim 2016, 24). In dieser eurozentrischen oder westlichen Perspektive werde der Holocaust „generell besser erinnert“, weil „die Verbrechen Europas als moralisch bedeutsamer empfunden werden als die Verbrechen andernorts“ (Craps und Rothberg 2011, 518, Übersetzung S. R.). Folglich kann die Bezugnahme auf den Holocaust dazu führen, dass ‚andere‘ Leidensgeschichten entinnert werden. Zur Beantwortung der Ausgangsfrage, ob der Verweis auf den Holocaust globale Asymmetrien

242 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

überbrücken kann, legt die Analyse der Medienberichterstattung in Bezug auf die Sammelklage eher eine Wirkung nahe, die Aschheim (2016, 26) als „counterempathic“ beschreibt. Demnach verhindert die Bezugnahme auf den Holocaust eine moralisch begründete Erinnerungspflicht an den Kolonialismus. Im vorliegenden Kapitel habe ich gezeigt, auf welche Weise die Harkis in ihrer Klage aus dem Jahr 2001 Bezüge zur Shoah herstellen, um die „Legende des ‚Genozids‘“ (Ageron 2000, 14) als Narrativ zu entwerfen. Obwohl das Klagevorhaben wie auch die Gleichsetzung mit der Judenverfolgung scheitern, etabliert sich medial der emotionale Diskurs des abandon, der die Harkis und die nachfolgenden Generationen zu ‚Opfern‘ des Dekolonisierungsprozesses essenzialisiert und gleichzeitig in die französische ‚Nation‘ einschreibt. Die Analyse der deutschen Medienberichterstattung in Bezug auf die Klage der OvaHerero verdeutlichte hingegen, dass deren Vergleich mit dem Holocaust als ‚moralisch verwerflich‘ konstruiert und folglich deren Entschädigungsforderungen zurückgewiesen werden. Dabei zeigt sich jedoch im diachronen Verlauf, wie die sprachlichen Bezugnahmen auf den Holocaust erinnerungspolitisch produktiv werden und zu einer (noch andauernden) Transformation sowohl der Erinnerung an den Kolonialismus als auch an den Holocaust beitragen. In Kapitel 8.5 analysiere ich die Klage, die Vertreter:innen der OvaHerero diesmal gemeinsam mit den Nama im Jahr 2017 gegen die Bundesregierung einreichen. Während die Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Verbrechen zentraler Referenzpunkt der Argumentation der Aktivist:innen bleibt, um ihre Anspruchsgrundlage zu begründen, verliert jedoch das „counter-empathic narrative“ (Aschheim 2016, 26) in der Medienberichterstattung an Bedeutung. Im Falle der Entschädigungsforderungen der Harkis zeigt sich indes, dass statt einer Anerkennung des abandon zunehmend die Verantwortungsübernahme des französischen Staates für die Massaker eingefordert wird. Im Folgenden zeichne ich den ab 2016 einsetzenden Wandel nach, als Hollande die staatliche Verantwortungsübernahme für den abandon offiziell macht und verschiedene Harkis-Verbände zunehmend auf die Verabschiedung eines Entschädigungsgesetzes drängen.

8.4 „ La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ – Verantwortungsübernahme der französischen Regierung für den abandon der Harkis Im Juli 2018 erschien der Bericht Aux Harkis, la France reconnaissante, der einen „plan Harkis“ im Umfang von 40 Millionen Euro in den kommenden vier Jahren vorsah, die der communauté harkie zugutekommen sollten. Nach dem Scheitern des Klagevorhabens im Jahr 2001 stieß die Frage nach einer finanziellen Wieder-

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 243

gutmachung gegenüber den Harkis auf neuerliches Medieninteresse – allerdings erst im September zum alljährlichen Journée nationale d’hommage aux Harkis. Der Bericht machte 56 Vorschläge, die nicht nur finanzielle Entschädigungen an die Harkis vorsehen, sondern auch darauf abzielten, deren Sichtbarkeit in Kunst und Kultur zu erhöhen und ihre Geschichte in die französischen Lehrpläne zu integrieren. Als weitere symbolische Geste wurden außerdem sieben Personen für die Aufnahme in die „légion d’honneur“ vorgesehen (vgl. Pressemappe, Ministère des Armées, 25.09.2018). Erstmalig steht mit der Einrichtung eines „Solidaritätsfonds“ insbesondere die zweite und dritte Generation der Harkis im Fokus staatlicher finanzieller Zuwendung. Mit diesen soll für die Diskriminierungen entschädigt werden, die die Harkis und die nachfolgenden Generationen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt erfahren haben (vgl. Théveniaud und Vernet, 25.09.2018, Aujourd’hui en France, 5). Dabei stehen die Zusagen von 2018 in einer ganzen Reihe von Gesetzesverabschiedungen und Zugeständnissen an die Harkis. In diesem Kapitel rücken die Forderungen der Harkis nach der Zahlung von Entschädigungen in den Fokus. Dabei rekonstruiere ich den diskursiven Wandel, der von einer Anerkennung des abandon zur Forderung nach der Verantwortungsübernahme für diesen führt. Mit der geforderten Verantwortungsübernahme werden auch die Stimmen in den Harkis-Verbänden lauter, die die Verabschiedung eines Reparationsgesetzes fordern. Am 20. September 2021 kündigt Macron eine Gesetzesinitiative „zur Anerkennung und Reparation“ an, die noch bis Ende des Jahres im Parlament verabschiedet werden soll (Kessous, 22.09.2021, Le Monde, 12). Nach dem Scheitern der Klage verliert die Darstellung der Massaker als Genozid an Bedeutung. Zudem geraten mit dem Generationswechsel die Benachteiligungen der Harkis in der französischen Gesellschaft zunehmend in den Fokus. Dennoch bleibt der Verweis zum Nationalsozialismus eine Bezugsgröße für die Aktivist:innen, um die anvisierten erinnerungspolitischen Maßnahmen zu evaluieren.

8.4.1 Der lange Weg zu Anerkennung und Entschädigung Im Gegensatz zu den Entschädigungsforderungen der OvaHerero und Nama, die diese erst ab den 1990er Jahren gegenüber der Bundesregierung geltend machen konnten, gab es schon seit den 1970er Jahren erste Gesetzestexte, die auf eine Entschädigung der Harkis abzielten. Im Unterschied zu den OvaHerero und Nama bezogen sich die ersten gesetzgeberischen Initiativen auf den Status der Harkis als Veteranen des Algerienkriegs. Ab dem 9. Dezember 1974 wurde dem ehemaligen supplétif der offizielle Status des „combattant“ und die Aushändigung der „carte du combattant“ zugesichert, womit ihnen auch die Auszahlung von Inva-

244 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

liden- und Kriegsopferrenten zustehen sollte (vgl. Ceaux und Chassard 2018, 55). In dem damaligen Gesetz war allerdings noch die Rede von ihrem Engagement in den sogenannten „Operationen in Nordafrika“, da die Benennung des Algerienkriegs erst 1999 erfolgte (Ceaux und Chassard 2018, 54). Allerdings konnten nur diejenigen Harkis Ansprüche geltend machen, die eine französische Staatsangehörigkeit besaßen und ihren Wohnsitz in Frankreich hatten. Im Gegensatz zu den pieds-noirs, deren französische Staatsangehörigkeit nie infrage gestellt wurde, mussten die Harkis ihre Zugehörigkeit zur französischen Republik in einem administrativen Verwaltungsakt beantragen. Trotz dieser ausgrenzenden Hürden wurden letztendlich 86  % der 70  000 Anträge bewilligt, die zwischen 1962 und 1970 gestellt wurden (vgl. Miller 2013, 27). Bevor den Harkis die „carte du combattant“ zugesichert wurde, hatte das französische Parlament schon am 15. Juli 1970 erste Gesetze verabschiedet, die Entschädigungen (indemnisations) für die materiellen Verluste der ‚Repatriierten‘ regelten. Eine Anspruchsberechtigung der Harkis war auch hier nur gegeben, wenn diese zum 1. Januar 1970 die französische Staatsbürgerschaft vorweisen konnten (vgl. Ceaux und Chassard 2018, 126). In einem weiteren Gesetz im Jahr 1987 wurde ein Pauschalbetrag von 60 000 Francs festgelegt, der diesmal ausschließlich den ehemaligen „Hilfskräften“ zugutekommen sollte (Ceaux und Chassard 2018, 132). Allerdings konnten die Harkis die bestehenden Gesetze kaum zur Entschädigung von Vermögensverlusten nutzen. Der Bericht gibt als Gründe die oft kollektiv verwalteten Besitzverhältnisse in Algerien an und auch, dass einige Familienmitglieder in der ehemaligen Kolonie geblieben waren und das Land weiterhin nutzen. Miller (2013, 27) macht außerdem darauf aufmerksam, dass diejenigen Harkis, die in französischen Internierungslagern untergebracht waren, nicht berechtigt waren, Ansprüche geltend zu machen. In den Jahren 1987 und 1994 verabschiedete die französische Regierung weitere Gesetze, die die „préjudices moraux subis par les Harkis en raison de leur coopération avec la France“ (Ceaux und Chassard 2018, 131) ausgleichen sollten. Vorgesehen war die Ausschüttung von Pauschalzahlungen, von denen auch die Witwen und Kinder der Harkis profitieren sollten. 1999 wurde außerdem noch die Zahlung einer lebenslangen Rente eingeführt, die der Bericht folgendermaßen bewertet: „Cette mesure […] s’inscrit cette fois explicitement dans une logique de reconnaissance des services rendus à la France en Algérie“ (Ceaux und Chassard 2018, 132). Indem sich die implementierten Maßnahmen vor allem auf eine militärische Würdigung der Harkis ausrichteten, konnten sich allerdings auch die kolonialapologetischen Töne durchsetzen, wie sie im Gesetz von 2005 angeschlagen wurden (vgl. Kap. 5.5). Angesichts des knappen Wahlausgangs zwischen Jacques Chirac und seinem rechtsextremen Herausforderer Jean-Marie Le Pen vom Front National (FN) im Jahr 2002 wendete sich Chirac wieder stärker den ‚Repatriierten‘ als potenzielle

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 245

Wähler:innen zu (vgl. Eldridge 2016, 277). Anders als im Gesetz von 1994, als es um die Anerkennung der „moralischen Schuld gegenüber den Männern und Frauen“ ging, „die aufgrund ihres Engagements für Frankreich leiden mussten“ (Branche 2005, 100, Übersetzung S. R.), zielte der Gesetzestext von 2005 auf die Anerkennung und Entschädigung aller ‚Repatriierter‘. Die Harkis, die so lange gegenüber den pieds-noirs benachteiligt worden sind, konnten nun für deren rechtskonservative Vorstöße vereinnahmt werden (vgl. Eldridge 2016, 277–279). Aufgrund des mittlerweile günstigen politischen Klimas schafften es die Anhänger:innen der Algérie française, dem Gesetzestext ihre positive Sicht auf den französischen Kolonialismus aufzuprägen. Folglich ging es nicht nur um die Festlegung materieller Ausgleichszahlungen, sondern vor allem auch um die Anerkennung des ‚Leids‘ der ‚Repatriierten‘. Besonders umstritten in der französischen Gesellschaft war daher der Artikel 4 der Gesetzesinitiative, der festlegte, dass die „positive Rolle des französischen Kolonialismus“ im Schulunterricht vermittelt werden sollte (vgl. Eldridge 2016, 277–279). Die Debatten um den vierten Artikel verschärften zudem die Konflikte mit Algerien, die 2007 zum endgültigen Abbruch der Verhandlungen über einen algerisch-französischen Freundschaftsvertrag führten (vgl. Renken 2006, 454). Allerdings löste besagter Artikel auch unter Interessenverbänden der Harkis erheblichen Widerstand aus, selbst bei denjenigen, die an dem Gesetzesentwurf mitgearbeitet hatten (vgl. Eldridge 2016, 278–279). Dabei geriet in den Kontroversen um das Gesetz vom 23. Februar jedoch aus dem Blick, dass es sich bei diesem Gesetz vordergründig um ein Entschädigungsgesetz handelte. Zur Zahlung der Entschädigungen sah das Gesetz von 2005 drei verschiedene Optionen vor: entweder die einmalige Zahlung eines Geldbetrags von 30 000 Euro ohne weitere Renten, eine Mischung aus Rentenzahlung und einmaliger Zahlung oder die Weiterzahlung der „allocation de reconnaissance“ – einer Rente auf Lebenszeit (vgl. Ceaux und Chassard 2018, 133). Neben diesen direkten Entschädigungszahlungen sind auch immer wieder Direktiven verabschiedet worden, die den Harkis einen erleichterten Zugriff auf Wohnraum ermöglichen sollten, um ihre gesellschaftliche Teilhabe zu erhöhen (vgl. Ceaux und Chassard 2018, 136). Mehrere sogenannte plans harki in den Jahren 1994, 1999 und 2001 sahen unterschiedliche Hilfen vor, wie beispielsweise einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt, Nachhilfeprogramme sowie Programme zur Freizeitgestaltung (vgl. Khemache 2018, 149).

246 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

8.4.2 D  ie Aushandlungen von Anerkennung und Verantwortungsübernahme für den abandon In den frühen 2000er Jahren beschleunigen sich die erinnerungspolitischen Maßnahmen, die auf die offizielle Anerkennung der Harkis abzielen. Dazu gehört die Einführung offizieller Gedenktage, wie dem schon genannten Journée national d’hommage aux Harkis im Jahr 2001 und später dem Journée nationale d’hommage aux morts pour la France en Afrique du Nord am 5.  Dezember 2003 (vgl. Renken 2006, 322). Im gleichen Zeitraum wird das ehemalige Lager von Rivesaltes als künftiger Erinnerungsort festgelegt, um den Harkis als Gruppe der Indésirables (Unerwünschte) zu gedenken (vgl. Lebourg 2011, 423–424). Die Sichtbarkeit der Anliegen der Harkis erhöht sich weiterhin durch die zahlreichen autobiografischen Romane und Filme, die als Zeugnisse der zweiten und dritten Generation in den 2000er Jahren entstehen (vgl. Ireland 2020, 230–231). Diese geben historische Deutungsmuster vor, die bald über die Community der Harkis hinausweisen und durch ihre Rezeption in der Tagespresse einem größeren Publikum zugänglich werden (vgl. Khemache 2018, 143). Erwähnenswert sind insbesondere die Bücher von Dalila Kerchouche (Mon père, ce harki 2003) und Fatima BesnaciLancou (Fille de harki 2003), die ein breites Medienecho erfahren. Besnaci-Lancou ist außerdem Mitgründerin des Vereins Harkis et droits de l’homme und verknüpft somit ihr literarisches Schreiben mit aktivistischen Positionen, um die Erinnerung an die Geschichte der Harkis zu befördern (vgl. Khemache 2018, 140). Weitere Harki-Aktivist:innen, die die erinnerungspolitischen Ereignisse auch medial kommentieren, sind beispielsweise Charles Tamazount, der schon im Jahr 2001 die Klage vom CNLH kommentierte und als Jurist und Gründer des Vereins Harkis et droits de l’homme vor allem eine juristische Neubewertung der Vergangenheit der Harkis anstrebt. Außerdem tritt Mohand Hamoumou, Soziologe und Autor der Dissertation Et ils sont devenus Harkis (2001 [1993]), als wichtige öffentliche Person und als Experte in Erscheinung. Die verschiedenen Entschädigungsgesetze bis 2005 und vor allem die Einführung des nationalen Gedenktags sicherten die Zugehörigkeit der Harkis zur französischen ‚Nation‘ ab, indem der französische Staat sowohl den abandon als auch das für Frankreich erbrachte ‚Leid‘ der Harkis anerkannte. Diskursiv führt die Einschreibung der Harkis in die französische ‚Nation‘ dazu, dass der Staat nunmehr zur Verantwortungsübernahme für den abandon aufgefordert wird. Vom abandon der Harkis war schon mit Abzug der französischen Armee 1962 die Rede (vgl. Ageron 2000, 5). Doch erst Chirac verlieh diesem emotionalen Diskurs erinnerungspolitische Bedeutung, indem er erste anerkennende Worte für die „Preisgabe“ der Harkis während der Einrichtung des Journée nationale d’hommage aux Harkis fand. In seiner Rede vom 25. September 2001 verwendet er

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 247

den Begriff abandon an zwei Stellen: zum einen, um Verständnis gegenüber dem Empfinden der Harkis auszudrücken, im Stich gelassen worden zu sein, und zum anderen, um ausschließen, dass ihr ‚Leid‘ jemals vergessen werde. Zwar gesteht Chirac ein, dass Frankreich die Harkis nicht vor den Übergriffen des FLN habe schützen können, geht aber nicht so weit, den abandon offiziell anzuerkennen (vgl. Rede des französischen Präsidenten Jacques Chirac, 25.09.2001). Stattdessen steht die Würdigung der Harkis als Soldaten im Dienste Frankreichs im Fokus. Im Rahmen der Einweihung des Mémorial national des guerres d’Afrique du Nord am Quai Branly in Paris am 5. Dezember 2002 unterstreicht Chirac ihre militärische Würdigung, wenn er sagt: „[L]es Harkis […] qui ont tant donné à notre pays, ont également payé un très lourd tribut“ und „qu’à eux, à leur honneur de soldats, à leurs enfants qui doivent trouver toute leur place dans notre pays, la France adresse aujourd’hui un message tout particulier d’estime, de gratitude et d’amitié“ (Ceaux und Chassard 2018, 57). 2012 im Präsidentschaftswahlkampf versprechen die beiden Kandidaten Nicolas Sarkozy und François Hollande die Anerkennung des abandon der Harkis. Zunehmend vollzieht sich somit eine diskursive Verschiebung, bei der die Verantwortungsübernahme sowohl für die Massaker als auch für die Unterbringung der Harkis in den Lagern an Bedeutung gewinnt (vgl. Khemache 2018, 151). In einer Rede, die Sarkozy am 14. April 2012 zur Aufnahme des Generals François Meyer in die Ehrenlegion hält, kommt er auf zwei Telegramme zu sprechen, die die Weisung geben, die Flucht der Harkis nach Frankreich zu unterbinden. Für Sarkozy leitet sich aus diesen Dokumenten „ohne jeden Zweifel die Verantwortung der französischen Regierung für die Aufgabe eines Teils der Harkis ab“ (Ceaux und Chassard 2018, 57, Übersetzung und Hervorhebung S. R.). Die größten Zugeständnisse macht allerdings Hollande in seiner Rede zum Journée nationale am 25. September 2016, indem er nicht nur den abandon anerkennt, sondern auch die Verantwortungsübernahme der französischen Regierung für die Massaker und die Lagerinternierung der Harkis formuliert. Oft zitiert in der Medienberichterstattung ist daher der folgende von Hollande geäußerte Satz: Je reconnais les responsabilités des gouvernements français dans l’abandon des Harkis, des massacres de ceux restés en Algérie, et des conditions d’accueil inhumaines des familles transférées dans les camps en France. Telle est la position de la France. (Rede des französischen Präsidenten François Hollande, 25.09.2016)

Auffallend an Hollandes Verantwortungsübernahme ist, dass er diese nicht nur auf die Lagerinternierung der Harkis bezieht, sondern auch auf die an den Harkis verübten Massaker in Algerien. Gleichzeitig unterstreicht er jedoch, dass „die Anerkennung der Verantwortung Frankreichs […] ein symbolischer Akt“ sei

248 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

(Rede des französischen Präsidenten François Hollande, 25.09.2016, Übersetzung S. R.). Ein Le-Monde-Artikel wertet, dass sich die Schritte zur Anerkennung des „drame des Harkis“ nur langsam vollziehen würden, da „une reconnaissance totale ne peut que déboucher sur une demande de réparation“ („Harkis: le devoir de vérité“, 27.09.2016, Le Monde, 23). Tatsächlich fordern einige Interessensgruppen der Harkis seit 2014 die Verabschiedung eines Reparationsgesetzes, seit Hollande im Präsidentschaftswahlkampf angekündigt hatte, den abandon anzuerkennen (vgl. „Les associations de Harkis divisées sur la portée d’une réparation“, 25.09.2014, La Croix, 7). Deutlich wird hierbei, dass die Ankündigung der Verantwortungsübernahme die Formulierung weiterer Reparationsforderungen begünstigte. Die Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed (2004, 117) hat in diesem Zusammenhang auf die Performativität emotionaler Diskurse hingewiesen, wonach politische Zugeständnisse den diskursiven Raum für weitere Forderungen öffnen. Die Forderung nach einem Reparationsgesetz, das 2014 in der communauté harkie noch umstritten war, wie der Artikel in La Croix hervorhebt („Les associations de Harkis divisées sur la portée d’une réparation“, 25.09.2014, La Croix, 7), ist 2018 zur zentralen Forderung geworden. Der Bericht Aux Harkis, la France reconnaissante (2018), der zwar weitere Entschädigungen für die Harkis vorsieht, jedoch kein Reparationsgesetz, versucht daher, sowohl die Anerkennung des abandon als auch die von Hollande zugesicherte Verantwortungsübernahme zu entkräften. Begründet wird dies vor allem mit innen- sowie außenpolitischen Herausforderungen.

8.4.3 A  ußen- und innenpolitische Herausforderungen der Anerkennung des abandon Im Juli 2018 wird der Bericht des Präfekten und Präsidenten der Harki-Arbeitsgruppe Dominique Ceaux und des kommissarischen Mitglieds im französischen Staatsrat Simon Chassard veröffentlicht. Mediale Aufmerksamkeit erfährt er allerdings erst zum Journée nationale d’hommage aux Harkis am 25. September. Neu an den vorgeschlagenen Maßnahmen des Berichts ist vor allem, dass erstmals die zweite und dritte Generation dezidiert in den politischen Blick gerät. In der Pressemappe hebt das Verteidigungsministerium die „création d’un dispositif de réparation et de solidarité“ heraus, wobei „solidarité pour les enfants, réparation pour les parents“ versprochen wird (Ministère des Armées, 25.09.2018, 3, fett im Original). Dem Bericht lässt sich ebenso wenig wie der Pressemappe eine klare Definition des Reparationsbegriffs entnehmen, der vielmehr synonym mit dem Begriff der indemnisations (Entschädigungen) verwendet wird. Antoine Garapon hat in seinem Buch Peut-on réparer l’histoire (2008, 12) darauf hingewie-

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 249

sen, dass Reparationen im französischen Sprachraum sowohl symbolisch, politisch als auch materiell verstanden werden können. In Frankreich hat sich somit keine strenge terminologische Abgrenzung etabliert, wie sich in Deutschland beispielsweise am Begriff der „Wiedergutmachung“ zeigt, der in Abgrenzung zu kriegsbedingten Reparationen in die Debatte eingeführt wurde (vgl. Robel 2013, 346). Dennoch macht der Bericht klar, dass Entschädigungszahlungen für die Massaker nicht infrage kommen. Sowohl die von Hollande formulierte Verantwortungsübernahme für die Massaker als auch der Begriff des abandon wird im Bericht an mehreren Stellen relativiert. Der abandon wird in der Expertise des Verteidigungsministeriums zumeist in Anführungszeichen verwendet (vgl. Ceaux und Chassard 2018, 56–57, 70). Die Relativierung des Begriffs wird vor allem damit begründet, dass es nicht geboten ist, die historischen Ereignisse aus einer gegenwärtigen Perspektive zu bewerten, wie folgendes Zitat verdeutlicht: Il est plus que délicat, même près de soixante ans après, de porter un regard réprobateur sur les décisions politiques – et il peut même y avoir quelque facilité à cela – qui ont été prises et assumées par ceux qui avaient alors l’immense charge de maîtriser, autant que faire se pouvait, toutes les conséquences de la guerre et de l’indépendance algérienne. (Ceaux und Chassard 2018, 77, Hervorhebung S. R.)

Folglich relativieren die Autor:innen den mittlerweile akzeptierten emotionalen Diskurs des abandon, nach dem die Harkis von der französischen Armee nach 1962 im Stich gelassen worden sind. Mit der Zurückweisung, einen „Fehler“ in der Vergangenheit begangen zu haben, erklärt der Bericht folgerichtig, warum eine Verantwortungsübernahme auszuschließen ist. In direkter Ansprache der Leser:innen wird die Perspektive der Regierung auf die historischen Ereignisse folgendermaßen erklärt: Le lecteur attentif aura remarqué que, nulle part, nous n’utilisons les mots de „responsabilité“ ou de „faute“ pour caractériser l’attitude des gouvernements français successifs dans le sort réservé aux Harkis et à leurs familles. (Ceaux und Chassard 2018, 179)

Mit dieser Stellungnahme distanzieren sich die Autor:innen von der Verantwortungsübernahme Hollandes für den abandon und vor allem von einer Lesart, die ein historisches Schuldeingeständnis nach sich ziehen könnte. Allerdings muss diese Zurückweisung der Verantwortung auch vor dem Hintergrund der frankoalgerischen Beziehungen betrachtet werden. Folglich stellt der Bericht fest, dass „eine Anerkennung der Massaker zu ernsthaften diplomatischen Schwierigkeiten mit Algerien führen könnte“ (Ceaux und Chassard 2018, 85, Übersetzung S. R.). Nur langsam ändert sich die algerische Perspektive, die die Harkis als ‚Verräter‘

250 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

und ‚Kollaborateure‘ wahrnahm und damit begründete, warum ihnen die Einreise nach Algerien untersagt werden sollte (vgl. Eldridge 2016, 274). Aus diesem Grund verknüpft Macron schon zu Beginn seiner Präsidentschaft während eines Staatsbesuchs in Algier die Perspektive auf erinnerungspolitische Zugeständnisse an Algerien mit der Forderung nach einem Entgegenkommen im ‚dossier Harkis‘ (vgl. Bonnefous und Bozonnet, 08.12.2017, Le Monde, 6). In Le Figaro, der den rechtskonservativen Positionen der ‚Repatriierten‘ nahesteht, wird es als „Öl ins Feuer gießen“ kommentiert, dass Macron als erster französischer Präsident nur wenige Tage vor dem nationalen Gedenktag die systematische Anwendung der Folter während des Algerienkriegs anerkennt (vgl. Hofstein, 21.09.2018, lefigaro.fr). Boaza Gasmi, Präsident der CNHL, fordert Macron deswegen dazu auf, das „Drama“ der Harkis nicht zu vergessen (Hofstein, 21.09.2018, lefigaro.fr). Tatsächlich stößt sowohl die Veröffentlichung des Berichts im Juli 2018 als auch der Journée nationale am 25. September auf ein nur geringes Medieninteresse, was u. a. daran liegt, dass Macron am Gedenktag keine Rede hält und die Feierlichkeiten dazu der Staatssekretärin des Verteidigungsministeriums, Geneviève Darrieussecq, überlässt. In der Medienberichterstattung, die die Veröffentlichung des Berichts im Jahr 2018 begleitet, fallen die weitestgehend negativen Reaktionen der Harkis und die zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung über die unzureichenden finanziellen Zusagen auf. Harki-Aktivist:innen wie Mohand Hamoumou kritisieren vor allem, dass sich die gefassten Maßnahmen „in eine Logik der Solidarität einschreiben und nicht der Anerkennung und Reparation“ (Hamoumou, 25.09.2018, lefigaro.fr, Übersetzung S.  R.). Denn eine „würdige Entschädigung“ setze erstens die Einsicht voraus, einen „Fehler“ begangen zu haben und verbinde sich zweitens mit einer Schadensermittlung. Hamoumou insistiert in seinem Text folglich auf eine historische Aufarbeitung der Massaker und eines Schuldeingeständnisses Frankreichs für den abandon durch die französische Armee. Entsprechend folgert er: „Les Harkis pensaient justice et droit quand l’État raisonnait contraintes budgétaires et action sociale“ (Hamoumou, 25.09.2018, lefigaro.fr). Die 40  Millionen Euro, die der Fonds vorsieht, werden vor allem vom CNLH als zu wenig erachtet, der 4 bis 40  Milliarden für angemessen hält. Vor allem aber wird die Forderung nach einem Reparationsgesetz erneuert, das „die Verantwortung Frankreichs in Stein meißelt“ (Hofstein, 21.09.2018, lefigaro.fr, Übersetzung S. R.). Der Regionaldelegierte der CNHL Mohamed Otsmani hat schon 2016 insistiert, dass eine Anerkennung ohne Reparation nicht vorstellbar ist, wie folgendes Zitat illustriert: „[M]aintenant, il est important que cette reconnaissance soit actée par une loi, qu’elle soit inscrite dans le marbre de l’Histoire de France : la reconnaissance ne va pas sans la réparation“ (Hofstein, 21.09.2018, lefigaro.fr, Hervorhebung S. R.).

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 251

Doch einzig der CNLH erwägt aufgrund der Unzufriedenheit über die im Bericht vorgeschlagenen Maßnahmen 2018 die Möglichkeit einer erneuten Klage wegen Menschheitsverbrechen. Der CNHL-Präsident Gasmi erinnert Macron dabei an die Unterstützung der Harkis bei den Wahlen 2017. Würden nun keine konkreten Maßnahmen zu deren Entschädigung folgen, werde eine weitere Klage erwogen (vgl. Hofstein, 21.09.2018, lefigaro.fr). Ein auf der Internetseite von Les Echos erschienenen Artikel fasst die Ausgangslage folgendermaßen zusammen: La communauté harki avait appelé début septembre le chef de l’Etat à lui accorder des réparations à la hauteur du préjudice subi à la fin de la guerre d’Algérie, rappelant le soutien qu’elle lui a apporté en 2017 et menaçant de porter plainte contre la France pour crimes contre l’humanité. („Macron fait un geste envers les Harkis“, 21.09.2018, lesechos.fr)

Dabei knüpft die Interessenvereinigung der Harkis an ihre Rhetorik aus dem Jahr 2001 an, wenn sie damit droht, „bis ans Ende gehen“ zu wollen, um Gerechtigkeit zur Not auch vor internationalen Gerichten einzufordern („Macron fait un geste envers les Harkis“, 21.09.2018, lesechos.fr). Allerdings setzt der CNHL seine Ankündigung nicht in die Tat um. Im Gegensatz zum Klagevorhaben von 2001, das durch die rhetorische Bezugnahme auf das globalisierte Holocaust-Gedenken gekennzeichnet ist, tauchen 2018 keine Genozid-Vergleiche auf. Die erinnerungspolitische Strategie, die Massaker als Genozid darzustellen, wurde folglich nicht weiterverfolgt. Dennoch setzen sich die Harkis-Verbände im Jahr 2021 mit ihrer Forderung nach einem Reparationsgesetz durch.

8.4.4 „ Il était temps de demander pardon“ – Die Ankündigung eines Reparationsgesetzes 2021 Nachdem der Bericht von Ceaux und Chassard (2018) die historische Bewertung des Abzugs der französischen Armee nach 1962 als abandon sowie Hollandes Verantwortungsübernahme für diesen relativierte, wurde es als unerwartet kommentiert, dass Macron im Vorfeld des 25.  September 2021 nicht nur ein Reparationsgesetz ankündigt, sondern sich darüber hinaus bei den Harkis entschuldigt. Während einer Veranstaltung im Élysée-Palast fünf Tage vor dem Journée nationale, bei der er drei Personen mit Orden der Französischen Republik auszeichnet, erklärt Macron: C’est pourquoi aujourd’hui, au nom de la France, je dis aux Harkis et à leurs enfants, à voix haute et solennelle, que la République a alors contracté à leur égard une dette. Aux combattants, je veux dire notre reconnaissance. Nous n’oublierons pas. Aux combattants abandonnés, à leurs familles qui ont subi les camps, la prison, le déni, je demande pardon, nous n’oublierons pas. (Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 20.09.2021)

252 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Die Harki-Verbände zeigen sich überrascht über Macrons Erklärung und verweisen darauf, dass sie nie eine Entschuldigung gefordert haben. Aus diesem Grund wird seine Geste aber auch als „inouï, inespéré et réparateur“ bezeichnet (Kessous, 22.09.2021, Le Monde, 12). Auf der anderen Seite wird ihm, wie auch schon zuvor Hollande, von der politischen Rechten, aber auch von einigen Harkis-Vertreter:innen „electoralisme“ vorgeworfen. D.  h., dass seine erinnerungspolitischen Zugeständnisse, wozu die Verabschiedung eines Reparationsgesetzes bis Februar 2021 gehört, als wahltaktisches Manöver ausgelegt wird. Die Bedeutung der ‚Repatriierten‘-Gruppen als zu mobilisierende Wähler:innen wurde in verschiedenen Zeitungsartikeln von 2001 bis 2021 wiederholt hervorgehoben (vgl. Bernard, 09.06.2001, Le Monde, 9; Boiteau, 21.09.2021, Libération, 16; „Le devoir de vérité“, 27.09.2016, Le Monde, 23). Allerdings bestätigt die Klageandrohung des CNHL-Präsidenten Gasmi im Jahr 2018, dass erinnerungspolitische Forderungen als Druckmittel im Präsidentschaftswahlkampf nicht unüblich sind. Dennoch zeigt sich als wesentlicher Unterschied zu 2016, dass Macron nicht die von Hollande vorgetragene Verantwortungsübernahme für die Massaker und den abandon wiederholt. Zwar verwendet er den Begriff in der Erklärung, allerdings differenzierter, als dies sein Vorgänger getan hat. In oben genanntem Zitat ist daher die Rede von „combattants abandonnés“ oder auch vom „abandon militaire“. Einzig ihre „Aufnahme“ (accueil) in Frankreich wird von Macron ohne Einschränkung als abandon bezeichnet. An mehreren Stellen macht er klar, dass er keine Bewertung der historischen Ereignisse vornehmen wird. Hinsichtlich des zu formulierenden Reparationsgesetzes präzisiert Macron: [C]e texte n’a pas vocation à dire ce qu’est l’histoire, ce n’est pas le travail d’un texte de loi. […] Ce qui est vrai, c’est qu’il y a une singularité pour ce qui est des Harkis. C’est l’abandon militaire et c’est ensuite l’abandon et la maltraitance des familles sur notre sol. Ça, c’est une spécificité. Et donc, la reconnaissance de ces deux faits, qui sont des caractéristiques historiquement établies qui sont des singularités de la question harki doivent être mises dans cette loi […] Sur ce sujet, je serai clair : il s’agit de réparer d’abord pour la première génération et de pouvoir revaloriser les allocations pour les anciens combattants et leurs veuves, c’est un devoir. […] Ensuite, il s‘agit de recueillir les témoignages et de réparer pour la deuxième génération qui a eu à vivre les camps, qui a eu à vivre les hameaux de forestage ou les foyers dans des conditions de vie indignes et l’absence d’accès à l’école pour les enfants. (Erklärung des französischen Präsidenten, 20.09.2021)

Deutlich wird hier, dass, anders als in der Debatte im Jahr 2001, eine historische Bewertung über die Rolle Frankreichs an den Massakern ausgeklammert wird. Die historischen Begebenheiten werden zwar anerkannt, daraus aber keine erinnerungspolitischen Maßnahmen abgeleitet. Macron definiert in diesem Kontext auch deutlich, was unter „Reparationen“ zu verstehen ist. Denn anders als Hamoumou

„La reconnaissance ne va pas sans la réparation“ 

 253

in seiner Reaktion auf den Bericht aus dem Jahr 2018 darlegte, in der er die Anerkennung der Massaker ins Zentrum rückte, bezieht Macron Reparationen einzig auf die zweite Generation, die in den Internierungslagern und in den sogenannten Walddörfern in Frankreich untergebracht war. Gegenüber der ersten Generation wird eine Erhöhung der finanziellen Beihilfen für die ehemaligen Soldaten und deren Witwen vorgesehen. Konkret bedeutet dies, dass es ihr Veteranenstatus ist, der die Zahlung von Ausgleichsleistungen begründet, und nicht die Massaker als „historisches Unrecht“. Darin drückt sich nicht nur aus, dass die Massaker juristisch nicht aufzuarbeiten sind, sondern auch der Generationswechsel, der den Fokus stärker auf die Benachteiligung der Harkis im postkolonialen Frankreich rückt. Dabei schreibt sich der emotionale Diskurs des abandon auch 2021 fort. Neben dem „abandon militaire“ benennt Macron auch die Diskriminierung, die die Harkis in den 1960er und 1970er Jahren in Frankreich erlebten, als abandon. Die Harki-Verbände konnten somit das Verständnis eines zweifachen abandon durch Frankreich erinnerungspolitisch durchsetzen. Allerdings unterstreicht dies auch die Herstellung einer vereinheitlichenden ‚Opfer‘-Identität. Baussant (2006), Crapanzano (2008), Eldridge (2016), Khemache (2018) und andere haben wiederholt hervorgehoben, dass das Selbstverständnis als ‚Opfer‘ grundlegender Bestandteil der Identitätsbildung der Harkis ist. Eldridge schreibt dahingehend auch, dass die Harkis ihrer raison d’être berauben würden, sollten sie die Forderungen jemals als erfüllt betrachten, die sie an den Staat richten – schließlich basiere ihre Identität auf einem „unacknowledged suffering“ (Eldridge 2016, 288). Aufgrund der Fokussierung auf den ‚Opfer‘-Status der Harkis finden zum einen die historischen Ambivalenzen ihrer Vergangenheit kaum öffentliche Beachtung. Nicht nur die Gruppe, die gemeinhin als Harkis bezeichnet wird, war in ihrer Zusammensetzung äußerst divers, auch die Motive für die nicht immer freiwillige Unterstützung der französischen Armee waren vielfältig. Zudem lassen sich auch die Erfahrungen der zweiten und dritten Generation nur schwerlich in einer vereinheitlichten ‚Opfer‘-Erzählung zusammenfassen (vgl. Crapanzano 2008, 133). Wenngleich der emotionale Diskurs des abandon der historischen Komplexität der Geschichte der Harkis nicht gerecht werden kann, darf nicht vergessen werden, dass die kollektive Viktimisierung als eine auf die Gegenwart gerichtete erinnerungspolitische Strategie betrachtet werden muss. Schließlich sind die Harkis, ihre Kinder und Kindeskinder als ‚muslimische Andere‘ auch in der Gegenwart noch rassistischer Diskriminierung ausgesetzt. Aus diesem Grund hat auch der ‚zweite‘ abandon in den Debatten von 2021 eine größere Bedeutung eingenommen. In ihrer Kritik an dem Gesetzesvorschlag weisen Vertreter:innen der Harkis wiederholt darauf hin, dass sie weit über die 1970er hinaus diskriminiert wurden, auch wenn die meisten Internierungslager zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierten. Im Gegensatz zu den ‚weißen‘ pieds-noirs bleibt folglich

254 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

die ‚Andersartigkeit‘ der Harkis trotz ihrer Integration in die französische ‚Nation‘ bestehen. Mit der Etablierung des emotionalen Diskurses des abandon wird einerseits die essenzialisierende ‚Opferidentität‘ der Harkis und ihrer Nachkommen bestätigt. Andererseits können die Harkis nur aufgrund des für die ‚Nation‘ erbrachten Opfers in diese integriert werden (vgl. Eldridge 2016, 288–289). Allerdings werden dadurch die Harkis nicht als koloniale Subjekte anerkannt, sondern als Soldaten in einem Krieg zwischen gleichberechtigten Gegnern betrachtet. Gleichzeitig jedoch ermöglicht die Etablierung des Diskurses des abandon und folglich die Integration der Harkis in die ‚Nation‘, dass sie ihre Forderungen nach einem Reparationsgesetz durchsetzen konnten. Im Gegensatz zum deutschen Vergleichsfall verschwinden im französischen Untersuchungskontext die Bezugnahmen auf die globalisierte Rhetorik des Holocaust-Gedenkens, die 2001 das Klagevorhaben geprägt hatten. Grund hierfür ist, dass eine strafrechtliche Verfolgung kolonialer Verbrechen juristisch aussichtslos ist, weswegen der CNHL erinnerungspolitisch davon Abstand nimmt, die Massaker als Genozid bzw. als crime contre l’humanité anerkennen lassen zu wollen. Dennoch bleibt der Verweis zur Aufarbeitung des Vichy-Regimes ein wichtiger Bezugsrahmen, um erinnerungspolitische Maßnahmen zu evaluieren. Als im Rahmen des Journée nationale im Jahr 2018 einige Harkis in die „légion d’honneur“ aufgenommen werden sollten, begründete der Élysée dies als „hommage rendu aux Justes“ (Théveniaud und Vernet 2018, 25.09.2018, Aujourd’hui en France, 5). „Les justes de France“ geht auf den israelischen Ehrentitel der „Gerechten unter den Völkern“ zurück, der 2007 von Chirac eingeführt wurde. Dabei sollten diejenigen geehrt werden, die während des Zweiten Weltkriegs Jüd:innen gerettet haben. Mit der Bezugnahme auf „les justes“ schreibt der Élysée die Harkis in eine vereinte und ‚gerechte‘ französische ‚Nation‘ ein. Der Verweis auf die erinnerungspolitischen Maßnahmen, die zur Erinnerung an das VichyRegime ergriffen wurden, dienen somit einer Bewertung des Regierungshandelns in Bezug auf den Algerienkrieg, wie auch in späteren Kapiteln noch deutlich wird.

8.5 ‚ Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik: Das Einschreiben deutscher Kolonialvergangenheit in die Erinnerung an den Holocaust Im Jahr 2017 haben sich die Rahmenbedingungen in der deutschen Erinnerungspolitik hinsichtlich der Akzeptanz der Forderungen der OvaHerero und Nama deutlich verändert (vgl. Kap. 7). Im Jahr 2015 wurden die im ehemaligen „DeutschSüdwestafrika“ begangenen Verbrechen zuerst vom Auswärtigen Amt und später

‚Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik 

 255

von der Bundesregierung zunächst inoffiziell als Völkermord bezeichnet – ohne jedoch Entschädigungen für den Völkermord vorzusehen (vgl. Regierungspressekonferenz, 10.07.2015). Zuvor häuften sich kleinere schriftliche Anfragen politischer Parteien sowie Petitionen, die eine offizielle Anerkennung des Völkermords sowie die Übernahme von Verantwortung für die koloniale Vergangenheit forderten (vgl. Drucksache 18/5385, 20.03.2012, 1–4). Seit 2015 verhandeln Sonderbeauftragte aus Namibia und Deutschland über die Bedingungen einer offiziellen Anerkennung des Völkermords und der Formulierung einer formellen Entschuldigung (vgl. Zimmerer, 24.01.2018, taz, 3). Da die Verhandlungen ausschließlich zwischen der namibischen und der deutschen Regierung stattfinden, werden die OvaHerero und Nama nicht als offizielle Vertreter:innen ihrer Anliegen in den Gesprächen zugelassen. Dieser Ausschluss veranlasste sie dazu, erneut Klage gegen Deutschland zu erheben (vgl. Kößler 2020, 126). In der neuen Klageschrift werden die Bezüge zur „Kontinuitätsthese“ (vgl. Zimmerer 2007), d. h. das Aufzeigen der historischen Verbindungslinien zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt, intensiviert. Doch auch in der Medienberichterstattung werden die historischen Verbindungslinien zwischen der kolonialen und nationalsozialistischen Gewalt zunehmend thematisiert. Dabei wird nicht nur eine historische, sondern ebenfalls eine erinnerungspolitische Kontinuität hergestellt. Anhand der nicht aufgearbeiteten Kolonialvergangenheit wird somit abgeleitet, warum rassistische Strukturen im gegenwärtigen postkolonialen Deutschland fortbestehen. Referenzpunkt bleibt dabei weiterhin der Holocaust und die Erinnerung daran sowie die daraus resultierenden Auseinandersetzungen um die Kontinuität zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Vergangenheit.

8.5.1 „ Von Windhuk nach Auschwitz“: Debatten um die historischen Kontinuitäten Mit der erneuten Klageeinreichung im Jahr 2017 verändern die OvaHerero und Nama ihren argumentativen Schwerpunkt. Die Klageschrift nimmt somit nicht nur Bezug auf die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker von 2007, um die Anerkennung der OvaHerero und Nama als offizielle Vertreter:innen in den Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia einzufordern (vgl. Class Action 2017, 2). Zudem wird als juristisches Mittel auf den sogenannten Alien Torts Claim Act (ATCA) zurückgegriffen, der es nicht US-amerikanischen Staatsbürger:innen erlaubt, zivilrechtliche Sammelklagen wegen „grober Verstöße“ einzureichen, die außerhalb der USA begangen wurden (vgl. WD 2 – 3000 – 021/16, 2.  März 2017, 4, 7). ATCA, das juristisch keine Entsprechung in Deutschland findet, ist seit

256 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

1789 Bestandteil des US-amerikanischen Rechtssystems. Schon 2001 wurde diese Rechtsnorm in der deutschen Presse als Anspruchsgrundlage für weltweite Entschädigungsforderungen diskutiert (vgl. Müller, 10.09.2001, FAZ, 1), obwohl sie erst 2017 gegen die Bundesregierung Anwendung findet (vgl. Eicker 2009, 359). An der etablierten Rechtspraxis hat sich indes nichts geändert, weswegen die Klage mit Verweis auf die Staatenimmunität sowie das Prinzip der Intertemporalität im Frühjahr 2019 abgewiesen wird (vgl. WD 2 – 3000 – 016/18 2018, 7). Allerdings rückt mit der erneuten Klageeinreichung gegen die Bundesrepublik die völkerrechtliche Beurteilung kolonialer Gewalt ins Zentrum der Auseinandersetzung. Dabei lässt sich die wachsende Auseinandersetzung mit den historischen Kontinuitäten zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt auch auf die zunehmende Akzeptanz des Feldes der vergleichenden Genozidforschung zurückführen (vgl. Moses 2010). In dieser Arbeit geht es mir jedoch nicht um eine historische Überprüfung der „Kontinuitätsthese“, sondern um ihre Relevanz in der Gegenwart. Am Beispiel der Sammelklage lässt sich zeigen, inwiefern das Holocaustgedenken einen „Ermöglichungskontext“ (Diaz-Bone 2006, 74) herstellt, in dem die emotionalen Standards vorgegeben werden, die sich strukturierend auf die Anliegen der OvaHerero und Nama auswirken. Auffallend an der Sammelklage ist die Expertise, mit der die OvaHerero und Nama die deutsche Wissenschaftsgeschichte nachzeichnen und dabei die nationalsozialistische Ideologie in kolonialrassistischen Rassentheorien verorten. Ausgeführt wird beispielsweise der im 19. Jahrhundert von Friedrich Ratzel geprägte Begriff des „Lebensraums“ (Class Action 2017, 8). Während die medizinischen Experimente, die Eugen Fischer an den sterblichen Überresten der OvaHerero und Nama durchführte schon in der Klage von 2001 Erwähnung finden, stellt die Klage von 2017 zudem eine direkte Verbindung zwischen den Konzentrationslagern auf Shark Island und Auschwitz her. So argumentieren die Kläger:innen: [T]he German authorities learned many of the lessons [on Shark Island, Anm. S. R.] that were later employed at Auschwitz and other concentration camps during World War II. All prisoners were first divided into two categories: those who were fit to work and those who were not. For administrative purposes, pre-printed death certificates uniformly gave the cause of death as ‚death by exhaustion following privation‘. (Class Action 2017, 12–13)

Die OvaHerero und Nama erläutern dabei sowohl die „Selektionsprozesse“ in arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Gefangene sowie das Tragen von „metal discs“, nachdem das „Shark Island Concentration Camp and other death camps“ geschlossen worden sind (Class Action 2017, 14). Damit referenzieren sie eine Sprache, die bewusst an die Terminologien der Internierung und Vernichtung jüdischer Menschen in osteuropäischen Lagern anschließt. Die globalisierte Erin-

‚Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik 

 257

nerung an den Holocaust schafft hier eine Vorlage, auf die sich marginalisierte Gruppen beziehen müssen, wenn sie im Diskurs um Anerkennung gehört werden wollen (vgl. Aschheim 2016; de Wolff 2017; Miles 2010). Dies hat zur Folge, dass ihre Leidensgeschichten in Beziehung zum Holocaust gesetzt werden. Im Gegensatz zur ersten Sammelklage im Jahr 2001, über die kaum von der Presse berichtet wurde, stieg die Zahl publizierter Artikel im Jahr 2017 merklich an. Aufgrund der ab 2015 angestoßenen Anerkennung des Völkermords fanden auch andere Themen im Zusammenhang mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit ein stärkeres mediales Interesse, wie etwa die Frage nach der Repatriierung menschlicher Gebeine (Kap.  9) oder die Restitution geraubten Kulturguts (Kap.  10). Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass Deutschlands koloniale Vergangenheit zunehmend ins gesellschaftliche Bewusstsein rückt und somit einen erinnerungspolitischen ‚Platz‘ im kollektiven Gedenken einnimmt. Zwar nehmen auch in den Jahren 2001–2003 die meisten Artikel, die die Sammelklage besprachen, Bezug auf den Holocaust. Allerdings wurde mit der Bezugnahme begründet, warum die Forderung der OvaHerero nach Reparationen moralisch verwerflich ist, wodurch der Holocaust schließlich in seiner emotionalen Einzigartigkeit bestätigt wurde. Mit dem Klagevorhaben von 2017 zeigt sich, dass die Erinnerung an den Holocaust mittlerweile zur Exemplifizierung herangezogen wird, um aufzuzeigen, wie an den Kolonialismus erinnert werden sollte. Dass die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus in der Medienberichterstattung zunehmend als moralische Notwenigkeit betrachtet wird, lässt auf die Prozesse einer diskursiven Affizierung des Völkermords schließen.

8.5.2 „ Unser Völkermord wird ignoriert, weil wir schwarz sind“: Erinnerungspolitische Kontinuitäten Der Verweis auf die Klage der Zwangsarbeiter:innen spielt aufgrund der verstrichenen Zeit keine Rolle mehr in den analysierten Zeitungsartikeln der Jahre 2017–2019 (nur einmal wird der Bezug in der taz im Jahr 2018 hergestellt). Auffallend ist außerdem, dass die zuvor dominierende negative Lesart der Entschädigungsforderungen fast gänzlich verschwunden ist. Zentrale Erkenntnis der Untersuchung ist, dass nicht nur der Begriff „Völkermord“ vorbehaltlos Anwendung findet, sondern auch die Forderung der OvaHerero und Nama, entschädigt zu werden, akzeptiert und folglich rationalisiert wurde. So heißt es in einem Artikel in Die Zeit, dass Deutschland „endlich zur Rechenschaft gezogen [werden sollte] für das Wüten der Kaiserlichen ‚Schutztruppen‘ in Deutsch-Südwestafrika“ (Buchter, 11.01.2018, Die Zeit, 19). Die Zeitung Die WELT vom 25. Januar 2018 bezeichnete es als „absurd“, dass das Auswärtige Amt die Klage ignoriert

258 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

habe, weil die Bundesregierung die US-amerikanische Zuständigkeit des Verfahrens nicht anerkenne und auf ihre staatliche Immunität verweise (vgl. Leimbach, 25.01.2018, WELT online). Erst ein Jahr nach Klageeinreichung und mehreren vertagten Anhörungen versenden deutsche Beamte schließlich einen Vertreter, um eine offizielle Vertagung zu beantragen (vgl. „Deutscher Völkermord an Herero: New Yorker Gericht vertagt sich“, 26.01.2018, taz.de; Zimmerer, 24.01.2018, taz, 3). Im Gegensatz zu 2001/2003 wird die Sammelklage nicht mehr ausschließlich als „hoffnungslos“ und „unrechtmäßig“ dargestellt, vielmehr wird ihr nun die Möglichkeit attestiert, einen „Präzedenzfall“ mit „ungewisse[m] Ausgang“ schaffen zu können (Pelz, 31.07.2017, dw.com). In vielen Artikeln wird zwar nicht die juristische Rechtmäßigkeit der Forderungen der OvaHerero und Nama diskutiert, allerdings wird der „Anstand“ betont, den die Bundesregierung walten lassen sollte. Die Frage nach der Zahlung von Reparationen wird nunmehr als eine „moralische Frage“ (Rietzschel, 07.01.2017, Süddeutsche.de) behandelt. In der taz, der SZ, der FAZ und in Die WELT heißt es, dass Deutschland – auch, wenn es keine rechtlichen Verpflichtungen zur Entschädigung für den Völkermord gibt – mit den OvaHerero und Nama in einen Dialog treten und auch „kollektive Reparationen“ in Erwägung ziehen sollte (Memarnia, 09.07.2018, taz). Der Die-WELTArtikel schließt mit der unmissverständlichen Aussage, dass die OvaHerero und Nama ernst genommen werden müssen, indem sie als Repräsentant:innen ihrer Sache in den Verhandlungen zugelassen und die Zahlung von Reparationen in Betracht gezogen werden (vgl. Leimbach, 25.01.2018, WELT online). Die Bezugnahmen auf den Holocaust zur Thematisierung der geforderten Reparationszahlungen dominieren die Medienberichterstattung nicht mehr in dem Maße, wie es noch bei der ersten Sammelklage im Jahr 2001 der Fall war. Dennoch hebt Paramount Chief Rukoro, der seit 2014 der Nachfolger von Riruako ist,35 in einem Interview mit der Zeitung Die WELT auf diesen Vergleich ab. Dem Ton der Medienberichterstattung ähnlich, aber mit Verweis auf die einstigen Verhandlungen zwischen Deutschland und Israel zeigt sich Rukoro für eine „diplomatischen Lösung“ offen, solange die OvaHerero und Nama in die Verhandlungen einbezogen werden. Er präzisiert: Wir wollen das Rad nicht neu erfinden. Deutschland hat das schon einmal gemacht, als es um den Holocaust ging, in einer Vereinbarung mit den israelischen Juden. Und Adenauer war klug genug, darauf zu bestehen, dass nicht nur der Staat Israel am Tisch sitzen sollte. Er bestand darauf, dass das jüdische Volk, die betroffenen Menschen, vertreten durch ihre eigenen Organisationen, auch mit am Verhandlungstisch saßen. Er wollte eine umfassende und abschließende Lösung. (Aust und Konnerth, 12.03.2018, WELT online)

35  Riruakos Tod im Jahr 2014 findet einzig im ND Erwähnung, vgl. Hintze 17.06.2014, ND, 10.

‚Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik 

 259

In ihrem Versuch, auf juristischem Wege Reparationen zu erwirken, erzeugen die OvaHerero und Nama nicht nur eine historische Kontinuität von „Windhuk nach Auschwitz“ (Zimmerer 2007), wie anhand der Klageschrift deutlich wurde. Sie kreieren gleichsam eine Erinnerungskontinuität, indem sie sich auf die deutsche Wiedergutmachungspolitik im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus beziehen. In diesem Sinne wären sie auch bereit, eine außergerichtliche Lösung zu finden, wie damals mit den jüdischen Organisationen und später den ehemaligen Zwangsarbeiter:innen. Auch die Idee einer Stiftungsgründung steht im Raum. In einem Artikel auf Zeit online führt Barnabas Veraa Katuuo, der Gründer der „Association of OvaHerero Genocide in the USA“, jedoch die Unterschiede in Deutschlands Umgang mit der kolonialen und der nationalsozialistischen Vergangenheit an. „Deutschland ist so stolz auf die sogenannte Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus“, bemerkt Katuuo, weswegen er hinter der zögerlichen Haltung Deutschlands, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, Rassismus vermutet (Buchter, 11.01.2018, Die Zeit, 19). Die Politikerin und Herero-Aktivistin Esther Utjiua Muinjangue vermutet ähnliche Motive, wenn sie sagt, dass „unser Völkermord […] ignoriert [wird], weil wir schwarz sind“ (Schlüter und Habermalz, 20.12.2017, deutschlandfunkkultur.de). Somit beschreibt der Einsatz für die Anerkennung des Völkermords gleichzeitig eine Erinnerungskontinuität, die das Vergessen des Kolonialismus mit dem Weiterbestehen rassistischer Stereotype in der Gegenwart verbindet. Folglich muss die Wahrnehmung kolonialen ‚Leids‘ im Rahmen einer emotionalen Ordnung betrachtet werden, die sich durch die globalisierte Erinnerung an den Holocaust herausgebildet hat und in der das „postkoloniale Dilemma“ verortet ist. Dieses „postkoloniale Dilemma“, von dem Chakrabarty (2010, 11–12, zitiert in: Kerner 2012, 76) spricht, bringt auf der einen Seite zum Ausdruck, dass in rechtlicher Hinsicht kaum Ansprüche auf die Wiedergutmachung kolonialen Unrechts vor nationalen und internationalen Gerichten geltend gemacht werden können (vgl. de Wolff 2017, 395), da eine rückwirkende Anwendung heutiger Menschenrechtsstandards verweigert wird (vgl. Kämmerer 2010, 85–86). Einer Aufarbeitung der Vergangenheit im Gerichtssaal sind auch deswegen enge Grenzen gesetzt, weil juristische Mittel den Schadensersatz direkt Betroffener regeln sollen. Eine Anspruchsberechtigung der Nachfahren der OvaHerero und Nama ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln daher kaum zu begründen (vgl. Eicker 2009, 496). Die Bundesregierung hat folglich ihre Position gegenüber den Reparationsansprüchen der OvaHerero und Nama zu keinem Zeitpunkt geändert. Als die Klage im März 2019 schließlich unter Berufung auf die staatliche Immunität Deutschlands abgewiesen wurde (vgl. Oer, 11.03.2019, taz.de), kommentiert dies der Sondergesandte Ruprecht Polenz (CDU) mit den Worten: „Wir haben daher immer gesagt, dass es sich hierbei nicht um eine rechtliche, sondern um eine politische

260 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

und moralische Frage handelt“ („US-Gericht weist Klage zu deutschen Kolonialverbrechen ab“, 07.03.2019, Süddeutsche.de). Dabei findet in Deutschland im Gegensatz zu Frankreich ein sehr eng gefasster Reparationsbegriff Anwendung. Zuletzt im Jahr 2016 definierte die Bundesregierung „Reparationen“ ausschließlich als „Ausgleich für Kriegsschäden“ (Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 9), die nur zwischen Nationalstaaten vereinbart werden können. „Entschädigungen“ wurden wiederum in den Kontext der deutschen „Wiedergutmachungspolitik“ eingeordnet, was zur Folge hat, dass Entschädigungszahlungen nur für die Verbrechen des Nationalsozialismus infrage kommen. Als Konsequenz wird den OvaHerero und Nama jedwede Anspruchsgrundlage zur Geltendmachung von Entschädigungen entzogen (vgl. Drucksache 18/9152, 11.07.2016, 10; Kap. 7). Auf der anderen Seite führt das Beschreiten rechtlicher Wege zu einer Einschreibung marginalisierter Verbrechen in den Rahmen universalisierter Gerechtigkeit. Dass der Völkermord zunehmend als Teil der nationalen Geschichte Deutschlands aufgefasst wird, spiegelt sich nicht nur in der gestiegenen Zahl der zwischen 2017 und 2019 veröffentlichten Artikel wider, sondern auch in der einhelligen Forderung nach einer moralischen und finanziellen Entschädigung. In einem im Dezember 2019 erschienenen FAZ-Kommentar legt der Rechtshistoriker Patrick Heinemann zunächst ausführlich dar, warum Wiedergutmachungsansprüche rechtlich nicht erfolgreich sein können, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass [j]uristische Demut […] angezeigt [ist]: Denn das Recht ist nur einer von vielen menschlichen Konfliktbewältigungsmechanismen – und nicht immer der beste. Auf das bis heute spürbare Leid der Herero und Nama muss die Politik reagieren: mit einer Entschuldigung von höchster Stelle, mit der Rückführung der sterblichen Überreste, mit einer finanziellen Wiedergutmachung […]. (Heinemann, 31.12.2019, faz.net)

Somit werden die rechtlichen Rahmenbedingungen weiterhin als nicht verhandelbar innerhalb der emotionalen Ordnung des Holocaust-Gedächtnisses entworfen. Der Holocaust gilt dabei als universeller rechtlicher Standard eines vollkommenen Verbrechens, an dem die Bewertung marginalisierter Verbrechen gemessen wird. Als Konsequenz werden die westlichen Ursprünge der GenozidKonvention unsichtbar gemacht, und gleichzeitig wird die juristische Sphäre entpolitisiert. Auf der anderen Seite jedoch erzeugt das Holocaust-Gedenken den universalistischen Anspruch, auch ‚andere‘ Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Folglich hat sich im Vergleich zur Medienberichterstattung von 2001/2003 ein diskursiver Wandel vollzogen, bei dem zunehmend Ausgleichszahlungen für die damaligen Kolonialverbrechen gefordert werden. Der multidirektionale Bezugsrahmen des Holocaust-Gedenkens im Verhältnis zur Forderung

‚Scham‘ und ‚Schande‘ deutscher Erinnerungspolitik 

 261

der OvaHerero und Nama nach Entschädigungen steht im Folgenden im Zentrum der Betrachtung.

8.5.3 E  rinnern ja, entschädigen nein: Die emotionale Einzigartigkeit des Holocaustgedenkens Noch bevor die Klage im Jahr 2017 eingereicht wird, kommt es in der deutschen Botschaft in Windhuk zu einem „Eklat“, wie der Deutschlandfunk berichtet, als Polenz die Einzigartigkeit des Holocaust unterstreicht. Im Nachgang des Treffens mit den Vertreter:innen der OvaHerero und Nama gesteht er ein, dass es „sicher so [ist], dass ich da etwas emotional reagiert habe. Aber die Bewertung des Holocaust gehört zum deutschen Selbstverständnis. Die Afrikaner, sie müssen dann schon auch ertragen, unser Selbstverständnis zu hören“ (Schlüter und Habermalz, 20.12.2017, deutschlandfunkkultur.de). Im Gegensatz zu den Debatten der frühen 2000er Jahre hat sich die Thematisierung der historischen Kontinuität von „Windhuk nach Auschwitz“ sowie die Vergleichbarkeit kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt gewandelt. Der neu gewonnene erinnerungspolitische ‚Platz‘ des Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis zeigt sich anhand der wiederholt in der Medienberichterstattung formulierten Notwendigkeit, den Völkermord aufarbeiten zu müssen. Während Polenz die Referenz zum Holocaust nutzt, um Entschädigungsforderungen zurückzuweisen, zeigt sich in der Analyse der Zeitungsartikel, dass das Holocaustgedenken als Vorbild einer künftigen Erinnerung des Kolonialismus herangezogen wird. Dies steht in einem Zusammenhang mit den heftig geführten Debatten um die historische Kontinuität, die seit 2004 vor allem aufgrund Zimmerers (2007, 2011 [2004]) Arbeiten geführt werden. Wie ich schon ausgeführt habe, ist der Historiker einer der prominentesten Verfechter der Anliegen der OvaHerero und Nama und publiziert regelmäßig in verschiedenen Zeitungen über den Völkermord, die deutsche Kolonialgeschichte und Erinnerungspolitik im Allgemeinen. Dabei wird die Frage nach einer möglichen historischen Kontinuität zu einer erinnerungspolitischen erweitert. Ebenso wie die in den deutschen Medien präsenten Vertreter:innen der OvaHerero und Nama zieht Zimmerer immer wieder Parallelen zur Erinnerung an den Holocaust. In seinen Beiträgen nimmt er Bezug auf das vorbildliche Gedenken an den Holocaust, um daraus den Maßstab für die künftige Erinnerung an die koloniale Vergangenheit abzuleiten. Im Januar 2018 schreibt er in der taz: In Deutschland wurde die Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wesentlichen Element der deutschen Identität, die Anerkennung historischer

262 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

Schuld und die damit verbundene Aussöhnung zu einem Teil der Staatsräson. (Zimmerer, 24.01.2018, taz, 13).

Es sei daher „schwer zu vermitteln“, dass Deutschland versucht, durch „völkerrechtliche Winkelzüge“ die Klage abzuwenden, statt einen „offenen Dialog“ zu suchen. Weiter heißt es: „Sehr viel Wohlwollen wurde verspielt, Prestige beschädigt.“ Früher waren die Deutschen „so stolz [auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung], dass deutsche Politiker in den letzten Jahren Deutschland der Türkei wiederholt als Vorbild für den Umgang mit einer Genozidalen Vergangenheit empfahlen“ (Zimmerer, 24.01.2018, taz, 13, vgl. Kap. 7.3). Indem Deutschland die Klage ignoriert und den Dialog verweigert, verhält es sich „beschämend“. In der Folge riskiert Deutschland, seine Vorbildfunktion in der Erinnerungspolitik und den damit verbundenen „Stolz“ im Zusammenhang mit seinen Gedenktraditionen einzubüßen. In den Zeitungsartikeln setzt sich die Ansicht durch, dass der Stolz auf die ‚Nation‘ sowie die internationale Vorbildfunktion nur wiederhergestellt werden können, wenn die Bundesregierung den Kolonialkrieg und den Völkermord ernsthaft aufarbeitet. Ahmed (2004, 108) hat in ihrem Buch The Cultural Politics of Emotions gezeigt, dass die Herstellung kollektiver Scham eine wichtige Komponente in Prozessen der historischen Anerkennung ist. Sie stellt fest, dass die „Nation may bring shame ‚on itself‘“, indem sie die eigenen Ideale verletze. Christian Kopp, Mitglied von Berlin Postkolonial und des Zusammenschlusses „Völkermord verjährt nicht!“ fasst den Ausgang des Klagevorhabens als „beschämende[] Weigerung“ zusammen, weswegen Deutschland „doch vor der Weltöffentlichkeit schon längst auf der Anklagebank“ sitze („Gericht weist Klage indigener Gruppen gegen Deutschland ab“, 07.03.2019, faz.net). Indem Deutschland nicht angemessen der kolonialen Vergangenheit gedenke, kann es den eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht werden, die im Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenken etabliert worden sind. Die Erinnerung an den Holocaust beschreibt weiterhin die dominierende emotionale Ordnung, da die Bezugnahme als Gradmesser für andere Erinnerungspraxen und gleichzeitig auch als Argument dient, um eine juristische Aufarbeitung des Kolonialismus zurückzuweisen. Während die Referenz in den Jahren 2001/2003 dazu diente, das ‚Leid der Anderen‘ vom offiziellen Gedenken auszuschließen, transformiert sich der Holocaust in den Jahren 2017 bis 2019 zum erinnerungspolitischen Vorbild mit beispielhafter internationaler ‚Strahlkraft‘. Gleichwohl sollte das Einschreiben der kolonialen Vergangenheit in die nationale Geschichtsschreibung Deutschlands unsere Aufmerksamkeit auf die von Ahmed geäußerten Vorbehalte lenken, nämlich: „[R]ecognition [would work] to restore the national or reconcile the nation to itself by ‚coming to terms with‘ its own past“ (Ahmed 2004, 102).

Fazit: Das „postkoloniale Dilemma“  

 263

8.6 F azit: Das „postkoloniale Dilemma“ bei der Verhandlung kolonialer Vergangenheiten In diesem Kapitel habe ich betrachtet, inwiefern das Holocaust-Gedenken eine emotionale Ordnung vorgibt, die die erinnerungspolitischen Prozesse der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen beeinflusst. Untersucht wurde diese übergeordnete Fragestellung anhand der Klagevorhaben der OvaHerero und der Harkis, mit denen versucht wurde, koloniale Gewalt im deutschen und französischen Kontext als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkennen zu lassen. Dass verschiedene aktivistische Gruppen um die Jahrtausendwende zunehmend die Anerkennung von historischem Unrecht auf juristischem Wege suchten, wurde häufig im Zusammenhang mit dem Entstehen einer „internationalen Moral“ (Barkan 2002) erklärt. Angenommen wird dabei das Entstehen einer „moralischen Rhetorik“, die darauf basiert, Lehren aus der Geschichte zu ziehen (Eldridge 2016, 271). Mit der Wiederentdeckung des juristischen Begriffs des Menschheitsverbrechens, der eine Aussetzung der Verjährung vorsieht, wurde insbesondere postkolonialen Akteur:innen die Möglichkeit einer juristischen Neubewertung bisher vergessener Kolonialverbrechen eröffnet. Dabei ist eine retroaktive Anwendung der Begriffsdefinition in Frankreich und Deutschland ausschließlich für die juristische Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen vorgesehen. Im Widerspruch zwischen Universalismus und Einzigartigkeitsansprüchen hat sich das Holocaust-Gedenken als emotionale Ordnung verstetigt, die die Aufarbeitung und Erinnerung an den Kolonialismus strukturiert. In Bezug auf die beiden Klagevorhaben zeigte die Untersuchung, dass der Holocaust als universalistisch verstandener Genozid (vgl. Miles 2004; Moses 2011a, 2011b) einen Referenzrahmen definiert, auf den Bezug genommen werden muss, um die Anwendung des juristischen Begriffs zu begründen. Obwohl die Parallelisierung der Massaker mit dem Holocaust nicht Gegenstand der Klageschrift im Jahr 2001 ist, wird diese von den Harkis offensiv in den Medien verfolgt. Um deren Bewertung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu begründen, werden nicht nur die französischen Transitlager mit NS-Konzentrationslagern gleichgesetzt und als „mouroir“ bezeichnet. Der CNLH und andere Harki-Vertreter:innen sprechen auch wiederholt von einem an ihnen verübten Genozid. Die Bezugnahmen auf die durch den Nationalsozialismus geprägte Rhetorik wird von der französischen Medienberichterstattung jedoch kaum rezipiert oder diskutiert. Anders als die Harkis stellen die OvaHerero in ihrer Klageschrift den kolonialen Völkermord als direkten Vorläufer des Holocaust dar. Im Gegensatz zum relativen Desinteresse der französischen Medien an den gezogenen vergleichen mit dem Nationalsozialismus werden die Kontinuität von „Windhuk nach Auschwitz“ (Zimmerer 2007) in der deutschen Presse als Impertinenz wahrgenommen und

264 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

die damit verknüpften Reparationsforderungen als moralisch verwerflich zurückgewiesen. Die beide im Jahr 2001 eingereichten Klagen wurden genauso abgewiesen wie folgende Klagevorhaben in späteren Jahren. Bis heute werden universalistisch verstandene Rechtsgrundsätze einzig auf eine retroaktive Verhandlung nationalsozialistischer Verbrechen angewandt, was das „postkoloniale Dilemma“ der unterschiedlichen Bewertung kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt bis in die Gegenwart fortschreibt. Der Holocaust beschreibt somit den Prototyp eines Völkermords und wird gleichzeitig als „schlimmstes“ „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ konstruiert. Dieser Widerspruch deutet darauf hin, dass die ‚anderen‘ Verbrechen nicht gleichermaßen anerkannt werden können wie der Holocaust (vgl. Moses 2012, 233). Im Hinblick auf die erinnerungspolitische Aufarbeitung zeigte sich allerdings eine größere Ambivalenz im Verhältnis von kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt. Als emotionale Ordnung strukturiert die Erinnerung an den Holocaust die Verwendung bestimmter sprachlicher Marker und definiert das Verhältnis von kolonialer zu nationalsozialistischer Gewalt. Die Analyse der deutschen Mediendebatten hat die Herstellung emotionaler Einzigartigkeit aufgezeigt, die die Erinnerung an den Holocaust ausmacht. Als Konsequenz wird die von den OvaHerero verfolgte Parallelisierung zurückgewiesen und ihnen darüber hinaus die Legitimität zur Artikulation ihrer Forderungen entzogen. Auf der anderen Seite zeichnet sich die Berichterstattung im Zeitraum 2001/2003 weiterhin durch ein gewisses Desinteresse aus. Diese Nichtwahrnehmbarkeit der kolonialen Vergangenheit beschreibt das, was Stoler (1995, 135) als „production of dis-affection“ bezeichnet hat. Im französischen Kontext hingegen zeigt sich ein anderes Bild. Die Mehrheit der ausgewerteten Artikel unterstrich zwar unter Verweis auf die Amnestiegesetze die Unwahrscheinlichkeit eines juristischen Erfolges. Gleichzeitig setzte sich der emotionale Diskurs des abandon durch, der von den Harkis als Begründung für die Klage angeführt wird. Als „Vergessene der Geschichte“ erfuhren sie somit eine Anerkennung als die „Im-Stich-Gelassenen“. Ihnen wird somit ein legitimer Platz in der französischen Nationalgeschichtsschreibung zugewiesen – der dem Genozid an den OvaHerero und Nama im deutschen Kontext verweigert wird. Als Teil der französischen „Schicksalsgemeinschaft“ werden die Harkis als ‚Opfer‘ bzw. als sich für die ‚Nation‘ aufopfernde Soldaten im Rahmen des Journée nationale d’hommage aux Harkis im Jahr 2001 von Chirac anerkannt. Im diachronen Vergleich zeigte sich am französischen Beispiel, dass mit der Etablierung des emotionalen Diskurses des abandon, der die Harkis zu einem Teil der französischen Nationalgeschichte werden ließ, gleichzeitig auch die Bedingungen geschaffen wurden, um weitere Forderungen an den Staat zu richten. Nach dem Scheitern der Klage gelang es den Harkis, die Anerkennung des abandon zunehmend mit der Zahlung von Reparationen zu verknüpfen, was

Fazit: Das „postkoloniale Dilemma“  

 265

sich auch in der Forderung nach der Verabschiedung eines Reparationsgesetzes niederschlug. Obwohl die Macron-Administration zuerst versuchte, den Diskurs des abandon und die zuvor von Hollande geäußerte Verantwortungsübernahme für diesen zu relativieren, wie anhand des Berichts Aux Harkis, la France reconnaissante (2018) gezeigt wurde, wurde 2021 schließlich der Verabschiedung eines Reparationsgesetzes zugestimmt. Die Referenz zum Holocaust oder zur Erinnerung an das Vichy-Regime verlieren im französischen Fall stark an Bedeutung, liefern aber vor allem im Jahr 2018 einen Referenzpunkt, um die anvisierten Maßnahmen zur Anerkennung und Entschädigung der Harkis zu evaluieren. Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich verdeutlichte dabei auch die unterschiedlichen Definitionen des „Reparationsbegriffs“. Die Harkis waren mit ihren Reparationsforderungen vor allem deshalb erfolgreich, weil „Reparationen“ symbolisch, materiell sowie politisch verstanden wurden, was eine historische und juristische Aufarbeitung der Massaker nicht nötig machte. In Deutschland hingegen wird der Begriff der „Wiedergutmachung“ ausschließlich in Bezug auf die Entschädigung nationalsozialistischer Verbrechen angewandt. Die Verbrechen des Nationalsozialismus definieren im deutschen Kontext somit den Referenzrahmen, in dem der Völkermord an den OvaHerero und Nama verhandelt wird. Gleichzeitig zeigte die Diskursanalyse, dass die Bezugnahmen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus dem Völkermord zunehmend einen eigenen erinnerungspolitischen Platz verschafften – ohne dass das Primat des Gedenkens an den Holocaust dadurch bedroht würde. Denn im Gegensatz zu 2001/2003 wird deutlich, dass die Medienberichterstattung es mittlerweile für das moralisch Richtige hält, Entschädigungen für den Völkermord zu zahlen. Auf der anderen Seite definiert die Erinnerung an den Holocaust weiterhin die Standards deutscher Erinnerungspolitik, indem die mangelnde Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit im Verhältnis zum Holocaust-Gedenken als ‚schamvoll‘ konstruiert wird. Nur die angemessene Erinnerung an die koloniale Vergangenheit könne die ‚Scham‘ überwinden und den ‚Stolz‘ auf die gelungene ‚Vergangenheitsbewältigung‘ wiederherstellen. Die multidirektionalen Bezugnahmen zwischen Holocaust und Kolonialvergangenheit verknüpften sich mit den emotionalen Diskursen der ‚Scham‘ und des ‚Stolzes‘. Die OvaHerero und Nama wurden – als die postkolonialen ‚Anderen‘ – aus diesen Debatten jedoch weitgehend ausgeklammert. Emotionale Diskurse und Ordnungen drücken sich mittels strukturierter und strukturierender Effekte aus, mit der sie erinnerungspolitische Aushandlungsprozesse steuern. Sie bieten ein Instrument zum Verständnis, wie emotionale Diskurse etablierte Asymmetrien perpetuieren, aber auch verändern können. Für beide Fälle gilt, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen mit Verweis auf die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen als unabänderlich konstruiert

266 

 „We’re equal to the Jews who were destroyed! Compensate us too!“

werden, sodass eine retroaktive Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit ausgeschlossen wird. Das Holocaust-Gedächtnis manifestiert sich hier als ordnende Struktur im Hinblick auf die Zuweisung eines legitimen Platzes der Erinnerung an den Kolonialismus. In juristischer Hinsicht wird das „postkoloniale Dilemma“ unverändert perpetuiert, bei dem keine „liaison dangereuse“ (Lorenz 2014, 57, kursiv im Original) zwischen Geschichte und Strafverfolgung eingegangen wurde, wie Lorenz kritisch den Bedeutungsgewinn in der Vergangenheit in der Gegenwart kommentiert. Dennoch wurde den kolonialen Vergangenheiten im Zeitverlauf eine emotionale Relevanz zuschrieben, wie die Analyse der Medienberichterstattung verdeutlichte. Dabei hat sich die Art und Weise verändert, wie Holocaust-Gedächtnis und koloniale Vergangenheit miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dass mittlerweile auch die juristischen Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund postkolonialer Theoriebildung reflektiert werden, deutet auf das produktive Potenzial multidirektionaler und hybridisierender Erinnerungspraktiken hin (vgl. Goldmann 2020). Zumindest für die OvaHerero und Nama könnte dies in Zukunft die Zahlung von Entschädigungen für den Völkermord bedeuten.

9 D  ie vergessenen Schädel? Die Repatriierungen menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten zwischen affektiver Er- und Entinnerung der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ Am 3.  Juli 2020 wurden kurz vor den algerischen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten 24 berberische und kabylische Schädel repatriiert, die zuvor als sogenannte „Kriegstrophäen“ (Arzel und Foliard 2020) in die Sammlung des Naturhistorischen Museums (Muséum d’histoire naturelle, MNHN, im folgenden Muséum) in Paris gelangten. Als Widerständige gegen die französische Kolonialexpansion im 19.  Jahrhundert (vgl. Zerrouky, 03.07.2020, lemonde.fr) wurden die Kämpfer während der „Schlacht von Zaatcha“ im Jahr 1849 getötet und anschließend enthauptet, um ihre Schädel als „Zeichen des Sieges“ der französischen Armee zur Schau zu stellen (Arzel und Foliard 2020; Session 2020). Die weiteren Umstände der Aufnahme der Schädel in die französischen Sammlungen sind nicht dokumentiert. Anzunehmen ist allerdings, dass sie seit den 1880er Jahren im Muséum aufbewahrt wurden (vgl. „Les têtes des résistants algériens n’ont rien à faire au Musée de l’homme“, 11.06.2016, Le Monde, 26). Erst im Dezember 2017 forderte die algerische Regierung offiziell ihre Repatriierung, nachdem sich Macron während seines ersten Staatsbesuchs wenige Wochen zuvor in Algier bereit erklärte, die Gebeine zurückzugeben. Bereits 2016 bezeichnete die Journalistin Rosa Moussaoui (08.06.2016, l’humanité.fr) die menschlichen Gebeine als „crânes d’amnésie“, um den Mangel an Interesse für die kolonialanthropologischen Sammlungen seitens der französischen Gesellschaft zu beschreiben. In Deutschland wurde die Erwägung von Repatriierungen menschlicher Gebeine früher zu einem Thema öffentlichen Interesses als in Frankreich und deren Übergabezeremonien von einer ausführlichen Medienberichterstattung begleitet. Die menschlichen Überreste in den anthropologischen Sammlungen deutscher Museen machte erstmals 2008 Schlagzeilen, nachdem eine Sendung des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) über Bestände berichtete, die auf den Völkermord an den OvaHerero und Nama zurückzuführen sind (vgl. Kößler 2015, 284). Als Reaktion initiierte die Humboldt Universität zu Berlin das „Charité Human Remains Project“, das 2011 in der ersten Repatriierung von 20 Schädeln mündete (vgl. Stoecker 2016; Stoecker und Teßmann 2013). 2014 und zuletzt 2018 organisierten die Bundesländer weitere Repatriierungen. Sowohl im deutschen als auch im französischen Kontext war es den Recherchetätigkeiten sowie dem anhaltenden Engagement von Akteur:innen der Zivilbevölkerung zu verdanken, dass die menschlichen Gebeine aufgefunden und https://doi.org/10.1515/9783111018683-009

268 

 Die vergessenen Schädel?

deren Existenz einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht worden sind. Dass Repatriierungen schwierig zu realisieren sind, liegt vor allem daran, dass Museen und Universitäten ihre Sammlungen oft nicht eindeutig benennen oder zurückverfolgen können. Begründen lässt sich dies zum einen mit der fehlenden Provenienzforschung und zum anderen mit der historischen Kolonialforschung selbst, die sich nicht für die Erwerbshintergründe der Objekte oder deren Herkunft interessierte (vgl. Kößler 2015, 280–283). Dabei besteht seit Jahren Einigkeit darüber, dass human remains36 als „sensible“ Objekte zu betrachten sind, wie u. a. der International Council of Museums (ICOM) in seinem Code of Ethics (2017 [2004]) festgelegt hat. Obgleich Einigkeit über die erforderte Sensibilität im Umgang mit menschlichen Gebeinen aus kolonialen Kontexten besteht, befinden sich weiterhin unzählige human remains in den europäischen Sammlungen. Die menschlichen Gebeine in den anthropologischen Sammlungsbeständen Europas sind allerdings mehr als museale Residuen einer bedeutungslos gewordenen Vergangenheit. Sie sind Zeugen der Verbreitung der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und der Beteiligung der Wissenschaften an den kolonialen Expansionsbestrebungen der europäischen Imperien. Dabei passte sich die anthropologische Sammlungspraxis in koloniale Denkwelten ein, verstetigte aber zugleich die kolonialen Wissensordnungen (vgl. Laukötter 2013, 26). Gleichzeitig sind die Sammlungen auch Beweise für die Anwendung kolonialer Gewalt und im deutschen Fall Belege für den an den OvaHerero und Nama begangenen Völkermord (vgl. Förster 2013b). Die jahrelange wissenschaftliche Vernachlässigung dieser Sammlungen sowie das fehlende gesellschaftliche Interesse verweisen auf die Mechanismen des wiederholten Vergessen-Machens (vgl. Dimbath 2014; Kap. 3.2) sowohl der historischen ‚Rasseforschung‘ als auch der unter kolonialen Vorzeichen begangenen Verbrechen. Die leitende Frage dieses Kapitels ist daher, inwiefern die Repatriierungen menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten nach Algerien bzw. Namibia die kolonialanthropologische Sammlungspraxis zu einem erinnerungspolitischen Thema in der Gegenwart gemacht haben. Im französischen Fall steht die Repatriierung der ‚Rebellen‘-Schädel im Fokus, die während der „Eroberung“ Algeriens im 19. Jahrhundert nach Frank-

36  In der deutschen Debatte hat sich die Verwendung des englischen Begriffs human remains etabliert, der allerdings synonym zu den Begriffen „menschliche Überreste“ oder „Gebeine“ verwendet wird. Der Leitfaden Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen (2021) versteht unter menschlichen Überresten „[a]lle unbearbeiteten, bearbeiteten oder konservierten Erhaltungsformen menschlicher Körper sowie Teile davon“. Dazu zählen neben Knochen, Schädeln, Weichteilen, Organen und Gewebeschnitten auch Haut, Haare, Finger- und Fußnägel sowie Zähne und deren bewusste Einarbeitungen in (Ritual-)Gegenstände (Leitfaden 2021, 14–15).

Die vergessenen Schädel? 

 269

reich gebracht worden sind. Die Analyse fokussiert sich dabei diachron auf die Zeit seit der ‚Entdeckung‘ der Schädel im Muséum im Jahr 2011 bis zu deren Repatriierung im Juli 2020. Dafür recherchierte ich im gesamten Untersuchungszeitraum nach Artikeln, die in Bezug zu den ‚algerischen‘ Schädeln37 standen. Im deutschen Fall konzentriere ich mich auf die Berichterstattung im Zusammenhang mit den Repatriierungen von human remains der OvaHerero und Nama, die während des Kolonialkriegs zur kolonialrassistischen Untersuchung in die deutschen Museen gelangten. Mein Interesse gilt insbesondere den Zeremonien, die in den Jahren 2011, 2014 und 2018 stattfanden. Schwerpunkt der Diskursanalyse liegt auf der medialen Thematisierung der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ und wie diese die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich befördert. Vorwegschicken möchte ich dabei, dass ich terminologisch „Repatriierungen“ von „Restitutionen“ abgrenzen werde, wie es die Anthropologin Larissa Förster vorgeschlagen hat. Während Repatriierungen die Rückgabe menschlicher Gebeine meinen, beziehen sich Restitutionen auf die Rückführung von Artefakten (Förster 2016, 49). In der Sekundärliteratur wird jedoch keine eindeutige definitorische Unterscheidung angeboten, sodass beide Begriffe mitunter synonym verwendet werden. Eine begriffliche Unterscheidung ist für diese Arbeit insbesondere deswegen wichtig, weil die Repatriierungen von human remains sowohl in Deutschland als auch in Frankreich der ab 2017 einsetzenden „Restitutionsdebatte“ vorausgehen. Als Macron in seiner Rede im November 2017 in Ouagadougou die Restitution kolonialer Artefakte in Aussicht stellt, verschränken sich beide Debattenstränge zunehmend miteinander. Weiterhin werden Restitutionen und Repatriierungen in den national wie international geschaffenen Vertragswerken und Leitlinien ebenfalls gemeinsam behandelt (vgl. exemplarisch die Publikationen von ICOM, UNESCO, dem Deutschen Museumsbund etc.). In Kapitel 9.1 werde ich kurz auf die Inhalte und Regularien eingehen, die in (ethischen) Museumsleitfäden, internationalen Vereinbarungen und in den nationalen Gesetzgebungen getroffen worden sind. Zusätzlich habe

37  Ich verwende die Bezeichnung ‚algerisch‘ im Zusammenhang mit den nach Algerien repatriierten Schädeln in Anführungszeichen, da diese Designation historisch problematisch ist. Zum einen entsteht erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – auch als Reaktion auf den französischen Kolonialismus – eine algerische Nationalbewegung (vgl. Jansen 2016b). Da Algerien als Nationalstaat erst mit dem Ende des Algerienkriegs im Jahr 1962 entsteht, versucht die algerische Regierung, die résistants der „Schlacht von Zaatcha“ als „Märtyrer“ eines nationalen Befreiungskampfes zu instrumentalisieren, der sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt (vgl. Session 2020, 175; Kap. 9.3). Auf der anderen Seite ist jedoch auch die Bezeichnung als ‚kabylisch‘ und ‚berberisch‘ ebenso schwierig, da sich diese Bezeichnungen in die kolonialen Wissensordnungen der anthropologischen Sammlungspraxis einfügen (vgl. Session 2020, 170–171, 175).

270 

 Die vergessenen Schädel?

ich für den französischen Fall Artikel der algerischen Berichterstattung gesichtet, da die französische Quellenlage teilweise unergiebig war und der Fokus stark auf die bilateralen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich gelegt wurde.38 Um die erinnerungspolitischen Mechanismen des Vergessen-Machens als zentrale Kategorie der Aufarbeitung des Kolonialismus untersuchen zu können, werde ich in Kapitel 9.2 das Vergessen als einen produktiven Prozess affektiven Entinnerns konzeptualisieren. In Kapitel 9.3 zeige ich, wie die Schädel der ‚algerischen Rebellen‘ diskursiv ‚außerhalb‘ des kolonialen Kontextes verortet werden. Entkoppelt von der rassenanthropologischen Forschung, die das museale Sammeln während des Kolonialismus begründete, werden die human remains in den französischen Sammlungen als ‚neutrale‘ Untersuchungsobjekte entworfen. Im Prozess des affektiven Entinnerns zeigt sich, dass – obwohl historisch gut erforscht (vgl. Pervillé 2018; Stora 1998 [1991], 2008, 2016) – das Wissen über die koloniale Expansion im 19. Jahrhundert noch keine kollektive Bedeutung in der heutigen französischen Gesellschaft erlangt hat. Im Gegensatz zur affektiven Entinnerung der ‚Rebellenschädel‘ tritt im deutschen Fall die performative Produktivität der Benennung des Vergessen-Machens zutage. Unterkapitel 9.4 zeigt, wie in der wiederholten Ansprache der „vergessene[n] Schuld“ Deutschlands (Neshitov, 27.09.2011, SZ, 11) das Vergessen-Machen diskursiv expliziert und die koloniale Vergangenheit als Folge medial zunehmend sichtbar wird. Das Vergessen-Machen entfaltet unterschiedliche ordnende emotionale Effekte mit jeweils verschiedenen Auswirkungen in Frankreich und Deutschland. In Kapitel  9.5 fasse ich die Mechanismen affektiven Erinnerns in beiden Ländern zusammen, die unterschiedlichen Regeln folgen, nach denen die Bedingungen für die Anerkennung der kolonialen Vergangenheit festgelegt und verändert werden. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen, die in nationalen Gesetzen bzw. internationalen Vereinbarungen getroffen wurden. Dass sich Repatriierungen kaum juristisch begründen lassen, verdeutlicht, dass sich deren Initiierung vor allem als politische Herausforderung stellt.

38  Dazu wurde insbesondere der Internetauftritt der französischsprachigen und sich als oppositionell verstehenden Zeitung El Watan konsultiert. Zur Verortung der Zeitung vgl. https:// www.courrierinternational.com/notule-source/el-watan (letzter Zugriff: 01.03.2021).

Internationale Vereinbarungen und nationale gesetzliche Vorgaben  

 271

9.1 I nternationale Vereinbarungen und nationale gesetzliche Vorgaben für Repatriierungen In der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker vom 13. September 2007 heißt es in Artikel 12.1 in der deutschen Übersetzung: „Die indigenen Völker haben das Recht […] auf die Rückführung ihrer menschlichen Überreste“. In 12.2 heißt es weiter: „Die Staaten bemühen sich, durch gemeinsam mit den betroffenen indigenen Völkern entwickelte faire, transparente und wirksame Mechanismen den Zugang zu den […] sterblichen Überresten und/oder ihre Rückführung zu ermöglichen“ (United Nations 2007). Der nicht staatliche Internationale Museumsrat (ICOM), der der UNESCO nahesteht und sich als global vernetzte „Selbstorganisation“ zum „Schutz und der Bewahrung beweglicher Kulturgüter und Naturalien verpflichtet“ hat (ICOM Deutschland e. V. 2021), entwickelte schon 1986 ein grundlegendes Ethikverständnis, das die beruflichen Prinzipien für die Arbeit der Museen festlegte. Im Jahr 2004 wurde diese zuletzt bearbeitet und schließlich im Jahr 2010 in deutscher Sprache autorisiert. In den Ethischen Richtlinien für Museen von ICOM werden menschliche Überreste als „kulturell sensible Gegenstände“ definiert (Internationaler Museumsrat 2010, 13), deren Ausstellung nur erfolgen kann, wenn den „Interessen und Glaubensgrundsätzen der gesellschaftlichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, denen die Objekte entstammen, Rechnung“ getragen wird (Internationaler Museumsrat 2010, Art. 3.7., 18). Empfehlungen werden außerdem zugunsten der Rückführung von menschlichen Überresten gegeben. In Artikel  4.4, „Entfernung aus öffentlichen Ausstellungen“, heißt es: Die Ausstellung von menschlichen Überresten und Gegenständen von religiöser Bedeutung muss unter Einhaltung professioneller Standards erfolgen und, soweit bekannt, den Interessen und Glaubensgrundsätzen der gesellschaftlichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, denen die Objekte entstammen, Rechnung tragen. Die Objekte sind mit Taktgefühl und Achtung vor den Gefühlen der Menschwürde, die alle Völker haben, zu präsentieren. (Internationaler Museumsrat 2010, 19)

Im Gegensatz zu diesen international festgelegten Richtlinien zum Umgang mit menschlichen Gebeinen in den Sammlungsbeständen entwickelten jedoch weder die deutsche noch die französische Gesetzgebung geeignete juristische Mechanismen, um eine beschleunigte Repatriierung dieser „kulturell sensiblen Gegenstände“ zu ermöglichen (Internationaler Museumsrat 2010, 13). Der französische code du patrimoine unterscheidet dahingehend auch nicht zwischen kulturellen Artefakten und human remains. Die strengen Prinzipien der inaliénabilité (Unveräußerlichkeit), der imprescriptibilité (Unantastbarkeit) und der insaisissabilité (Unpfändbarkeit), die das nationale Kulturerbe bewahren sollen, gelten dabei für

272 

 Die vergessenen Schädel?

die gesamten staatlichen Bestände. In Artikel L 451.7 des Gesetzes heißt es: „[L] es biens incorporés dans les collections publiques par dons et legs ou, pour les collections ne relevant pas de l’État, ceux qui ont été acquis avec l’aide de l’État ne peuvent être déclassés“ (zit. in: Fontanieu 2014, 221). Während die im code civil definierte Würde des Menschen zunächst gegen eine museale Aufbewahrung menschlicher Gebeine sprechen würde, rechtfertigt ein begründetes „öffentliches Interesse“ jedoch deren Konservierung und Ausstellung. Der code civil schließt folglich nicht aus, dass menschliche Gebeine den Status eines „biens culturels“ einnehmen. Als Verständnis hat sich dabei durchgesetzt, dass menschliche Gebeine unter staatlicher Verwaltung als eine „chose publique humaine“ erachtet werden können, weswegen der code du patrimoine und der code civil nicht als widersprüchliche Regelungen begriffen werden müssen (vgl. Cornu 2016, 10–11). Die sich in den musealen Sammlungen befindlichen menschlichen Überreste gelten folglich als Bestandteil des französischen Kulturerbes (vgl. Wesche 2013, 346) – wenngleich deren Konservierung gesonderten Prinzipien folgen muss (vgl. Cornu 2016). Dennoch hat sich der französische Staat im Gegensatz zu den Restitutionsforderungen von Kulturgütern gegenüber den Repatriierungsgesuchen menschlicher Gebeine in der jüngeren Vergangenheit aufgeschlossener gezeigt. Im Jahr 2002 hat die Assemblée Nationale erstmals spezielle Sondergesetze erlassen, um die sterblichen Überreste von Sarah Baartman nach Südafrika restituieren zu können (vgl. Ritter 2009). Damit wurde erstmals das Prinzip der Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes aufgeweicht und eine Gesetzesvorlage für künftige Repatriierungsforderungen geschaffen. In den Jahren 2010 und 2012 folgten weitere gesetzlich beschlossene Deklassierungen, um die von Neuseeland zurückgeforderten Maori-Schädel den Kulturgut-Status zu entziehen (vgl. Wesche 2013, 347). Da sich die Verhandlungen zwischen der französischen und der neuseeländischen Regierung aufgrund der Unveräußerlichkeitsprinzipien des code du patrimoine mehrere Jahre hinzogen, wurde schließlich im Gesetz von 2010 der Beschluss gefasst, eine Commission scientifique nationale de collections (CSNC) einzurichten, die „a pour mission de conseiller les personnes publiques […] dans l’exercice de leurs compétences en matière de déclassement ou de cession de biens culturels appartenant à leurs collections“ (LOI Nr. 2010501, Art. 2). Seit der ersten Repatriierung im Jahr 2002 waren alle Forderungen nach Rückgaben von der „Angst vor dem Präzedenzfall“ (Escudié 3 septembre 2014) begleitet, weswegen offizielle Stellungnahmen auch nicht müde wurden, die Unveräußerlichkeit des Kulturerbes und damit das Festhalten an gesetzlichen Einzelfallregelungen zu unterstreichen. Nichtsdestotrotz hat sich mit der Etablierung der Expert:innenkommission CSNC das Verständnis durchgesetzt, dass den Restitutions- und Reparationsforderungen nachgegangen werden muss (vgl. Fontanieu, 14.11.2013, 44).

Internationale Vereinbarungen und nationale gesetzliche Vorgaben  

 273

Im deutschen Kontext hingegen besteht eine unklare Gesetzeslage hinsichtlich der Rahmenbedingungen zur Repatriierung menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten. Als anwendbare Gesetze kommen insbesondere der Artikel 1 Absatz  1 des Grundgesetzes infrage, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen festlegt. Das Ausstellen menschlicher Gebeine wird gemeinhin allerdings als unproblematisch angesehen, solange die Würde nicht verletzt oder der Tote zu einem Objekt herabgesetzt wird (vgl. Wesche 2013, 348). Wird sich stattdessen auf das Bürgerliche Gesetzbuch berufen, werden die menschlichen Gebeine als „verkehrsfähige Sachen“ behandelt (§ 90 BGB), was bei Verstorbenen lang zurückliegender Epochen denkbar ist. In diesem Fall ginge es um den Nachweis von Besitz- und Eigentumsansprüchen, die von den Herkunftsgesellschaften geltend gemacht werden könnten, um „die Herausgabe einer Sache zu verlangen“ (§ 854 und § 985 BGB; vgl. Wesche 2013, 348–349). Allerdings gibt das BGB eine Verjährungsfrist von 30 Jahren vor, sodass hinsichtlich der human remains kolonialer Provenienz eine Anspruchsgrundlage nicht mehr gegeben ist (vgl. Thielecke und Geißdorf 2021, 113–114). Zuletzt könnten Ansprüche nach dem 2016 novellierten Kulturgutschutzgesetz (KGSG) geltend gemacht werden. Allerdings gilt bei der Rückgabe außereuropäischer human remains, dass die Regelungen erst ab 2007 Anwendung finden. Denn in diesem Jahr ratifizierte Deutschland erst das „UNESCO-Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“ von 1970 (WD 10 – 3000 – 023/18 2018, 10). Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags kommt daher zu dem Schluss, „dass auch nach dem Kulturgutschutzgesetz kein Anspruch auf die Rückführung kolonialer Raubkunst von Seiten der betreffenden Staaten besteht, die vor dem Stichtag aus dem jeweiligen Ursprungsstaat entfernt wurden“ (WD 10 – 3000 – 023/18 2018, 10). Der Verein „Deutscher Museumsbund e. V.“, der als Interessenverband der deutschen Museen u. a. Expertisen erarbeitet, unterhält die Arbeitsgruppe „human remains“, die im Juni 2021 eine aktualisierte Version des Leitfadens Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen herausgegeben hat. Die Autor:innen Carola Thielecke und Michael Geißdorf kommen in ihrem Beitrag „Rechtliche Grundlagen für den Umgang der Museen und Sammlungen mit menschlichen Überresten“ (2021, 116) zu dem Schluss, dass aufgrund der unklaren Vorgaben sowohl nach deutschem als auch nach internationalem Recht eher politische und „sammlungsethische[] Maßstäbe[]“ bei etwaigen Repatriierungen zur Anwendung kommen. Denn auch aus den verschiedenen UNESCO-Übereinkommen ließen sich keine „[r]echtlich verbindliche[n] Herausgabeansprüche“ ableiten, auf die sich die ehemals kolonisierten Länder berufen könnten (Thielecke und Geißdorf 2021, 117). Repatriierungsentscheidungen werden daher zumeist auf nationalstaatlicher Ebene in

274 

 Die vergessenen Schädel?

den jeweils betroffenen Institutionen getroffen – wie auch die in diesem Kapitel diskutierten Beispiele illustrieren werden. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland hat sich mittlerweile das Verständnis durchgesetzt, dass menschliche Gebeine in ihrer Bedeutung von anderen Objekten zu unterscheiden sind, was u. a. auch auf die Verabschiedung des US-amerikanischen „Native American Grave Protection and Repatriation Act“ aus dem Jahr 1990 sowie auf die neuseeländischen und australischen nationalen Repatriierungsprogramme zurückgeht (vgl. Wesche 2013, 343–346). Human remains müssen demnach nicht nur mit größtmöglichem Respekt behandelt werden (vgl. Internationaler Museumsrat (ICOM) 2010, 13, 19), sondern entziehen sich außerdem den Zwängen des Marktes, da sie nicht als „Artefakte“ betrachtet werden können (vgl. Förster 2016, 50). Aus diesem Grund, so die Anthropologin Larissa Förster, seien Repatriierungen gesellschaftlich weniger umstritten als beispielsweise die Restitution kultureller Objekte. Dabei zeigte der längst nicht erschöpfende Einblick in die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und Frankreich, dass die Frage der Repatriierung menschlicher Gebeine aus kolonialen Zusammenhängen auf politischer Ebene beantwortet werden muss. Dass die kolonialanthropologischen Bestände lange Zeit unbeachtet in den Depots ‚verschwinden‘ konnten, soll im folgenden Abschnitt als affektive Entinnerung konzeptualisiert werden, wobei das Vergessen-Machen als produktiver politischer Prozess aufgefasst wird.

9.2 Die Praktiken des Vergessens als affektive Entinnerung In einen kurzen Artikel für die APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) zum Thema „Deutsche Kolonialgeschichte“ schreibt die Historikerin Rebekka Habermas (2019, 18), dass es nicht nur Deutschland, sondern auch den anderen ehemaligen Kolonialmächten Westeuropas an (post-)kolonialem Bewusstsein mangele: „Auch die Nachbarländer, die wie Frankreich, Belgien und England eine wesentlich längere Kolonialgeschichte hatten, haben sich mit diesem Teil ihrer blutigen Vergangenheit bisher nur am Rande auseinandergesetzt.“ Der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha (2005, 105) fasst das Beschweigen des Kolonialismus als „eine bewusste Amnesie“ und somit als „eine politische Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses“. Die Begrifflichkeit der „kolonialen Amnesie“ avancierte dabei in den letzten Jahren vor allem im deutschen Kontext zur präferierten Beschreibung der postkolonialen Gegenwart. Sie findet in Konferenzbeiträgen und in von Akademiker:innen verfassten Feuilletonbeiträgen Erwähnung (vgl. Savoy, 12.01.2018, FAZ, 9; Zimmerer, 19.02.2019, SZ, 12), taucht aber auch als Bestandteil wissenschaftlicher Textpro-

Die Praktiken des Vergessens als affektive Entinnerung 

 275

duktion auf (vgl. Kößler und Melber 2018a; Zimmerer 2013, 13).39 Wie lässt sich „koloniale Amnesie“ begrifflich fassen? Der Soziologe Reinhart Kößler und der Afrikanist Henning Melber (2018, 2) erklären die „koloniale Amnesie“ in ihrem gleichnamigen Text in der Publikationsreihe Standpunkte der Rosa-Luxemburg-Stiftung folgendermaßen: Amnesie bedeutet hier nicht die Ausschaltung von Wissen, sondern von Erinnerung. Wissen ist zwar vorhanden, wird aber weder thematisiert noch spielt es für die Gegenwartsbeschreibung eine Rolle. Diese Nicht-Thematisierung kann als Verdrängung ebenso wie als Nachlässigkeit verstanden werden.

Dass es nicht um das fehlende Wissen über den Kolonialismus geht, sondern um die mangelnde Erinnerungsfähigkeit, wird auch im französischen Kontext zum Thema gemacht – allerdings unter Verwendung anderer Begriffe. So spricht der Historiker Pascal Blanchard (2003, 135) von einem „véritable trou de mémoire“ – einem „Gedächtnisloch“ – um die mangelnde Bedeutung des Kolonialismus in der Gegenwart hervorzuheben. Als „Gedächtnisloch“ (Césaire 2021 [1955], 62) wurde auch Aimé Césaires oublioir aus dem Discours sur le colonialisme (2004 [1955]) ins Deutsche übertragen. In diesem zuerst als Rede konzipierten Text argumentiert er, dass der Nationalsozialismus und die in Europa erlebte Gewalt „vergessen“ werden musste, um die Aufrechterhaltung der weiterhin bestehenden kolonialen Weltordnung rechtfertigen zu können (vgl. Kap. 3.2). Césaires oublioir beschreibt folglich weniger ein ‚Gedächtnisloch‘ als vielmehr eine Vergessens-Maschine40, die das Vergessen als produktiven gesellschaftlichen Prozess offenlegt (vgl. Césaire 2000 [1955], 52; Rothberg 2013, 365–366). Das Vergessen wird demnach als zentraler Bestandteil im Konstruktionsprozess dominanter historischer Narrative erachtet, weswegen sich im Verhältnis von Erinnern und Vergessen auch immer die bestehenden Machtverhältnisse artikulieren. Stoler knüpft in ihrem Text „Colonial Aphasia. Race and Disabled Histories in France“ (2011) an die von Césaire beschriebenen Prozesse der Entkopplung der europäischen von der kolonialen Geschichte an, wählt dafür allerdings den Begriff der „kolonialen Aphasie“. Sie argumentiert, dass sich im Prozess der Separierung verknüpfter Geschichten gleichzeitig ein „Verlust des Zugriffs“ sowie eine „aktive Dissoziation“ vollziehen,

39  Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat im Februar 2021 eine Studie zur Aufarbeitung der „kolonialen Amnesie“ in Auftrag gegeben, auf arte erschien im Oktober 2020 ein kurzer Beitrag zur Frage „Koloniale Amnesie: Was Macht Europa?“ (Vox Pop. Koloniale Amnesie: Was macht Europa? – Komplette Sendung | ARTE). 40  Weswegen die englische Übersetzung auch treffender den Begriff „forgetting machine“ wählt.

276 

 Die vergessenen Schädel?

die mit dem Begriff der Amnesie nicht gefasst werden können. Auch Halbwachs (1985 [1925]) hat sich in seinen Arbeiten mit dem Begriff der Aphasie beschäftigt und hervorgehoben, dass es sich dabei um kein einfaches Vergessen handele. Er schreibt, dass „dem Aphasiker weniger die Erinnerungen fehlen, als vielmehr das Vermögen, sie in einen Rahmen einzuordnen“ (Halbwachs 1985 [1925], 117). Folglich beschreibt eine „Aphasie“ keine physiologische Störung, die – wie im Begriff der Amnesie angelegt – eine Minderung der zerebralen Gedächtnisleistung zur Folge hat, sondern eine ‚Störung‘ der Wissensvermittlung. Zentral für Halbwachs ist dabei jedoch, dass sich diese ‚Störung‘ der Wissensvermittlung im sozialen Beziehungsgeflecht vollzieht und somit als gesellschaftliches Verhältnis in den Blick genommen werden muss (vgl. Marcel und Mucchielli 2003, 202). Demnach beschreibt Stoler den aphasischen Zustand der französischen Gesellschaft hinsichtlich ihrer Kolonialvergangenheit folgendermaßen: In aphasia, an occlusion of knowledge is the issue. It is not a matter of ignorance or absence. Aphasia is a dismembering, a difficulty speaking, a difficulty generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts with appropriate things. Aphasia in its many forms describes a difficulty retrieving both conceptual and lexical vocabularies and, most important, a difficulty comprehending what is spoken. (Stoler 2011, 125, Hervorhebung S. R.)

Zentral ist somit auch bei Stoler, dass es zu einer ‚Störung‘ in der Wissensvermittlung kommt, bei der vorhandene Begriffe und Konzepte nicht in Verbindung gesetzt werden können. Allerdings kann Stolers Konzeptualisierung nur unzureichend die Prozesse des ‚sozialen Vergessens‘ erklären, da sie selbst keine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und sozialen Aushandlungsprozesse vornimmt. Die Begriffe der „kolonialen Amnesie/Aphasie“ bleiben somit als analytische Konzepte vage und bieten aufgrund ihres Ursprungs in der Psychologie keine Perspektive darauf, inwiefern sich ihr Zustand überwinden ließe. Ihre Verwendung oder die Kenntlichmachung des „trou de mémoire“ (Blanchard et al. 2003, 135) sind dabei weniger als Kategorien der wissenschaftlichen Analyse zu verstehen, sondern vielmehr ein strategisches Mittel, um ihr zu entkommen. Aus diesem Grund ist es für mich von analytischem Interesse zu untersuchen, auf welche Weise und in welchen Kontexten auf den Begriff der „kolonialen Amnesie“ in postkolonialen Erinnerungspolitiken Bezug genommen wird (vgl. auch Kap. 10). Um hingegen die Prozesshaftigkeit des Vergessens in den Blick zu nehmen, werde ich stattdessen von Entinnerung sprechen – was Stoler selbst in ihrem Text unter dem Begriff des „dismembering“ erwähnt. Genauso wie die Geschichtsund Kulturwissenschaftlerin Nicola Lauré Al-Samarai (2005 118, zit. in: Youssefi 2017, 44) die „fortdauernde Anstrengung“ herausstellt, mit der Gesellschaften Vergangenheiten entinnern, spricht auch der Politikwissenschaftler Joshua Kwesi

Die Praktiken des Vergessens als affektive Entinnerung 

 277

Aikins (2007, 50, zit. in: Youssefi 2017, 44) von einem „aktiven“ Prozess des Entinnerns. Deutlich wird hieran, dass sich die gesellschaftliche Aushandlung von Er- und Entinnerung der kolonialen Vergangenheiten als Ausdruck erinnerungspolitischer Machtverhältnisse in der Gegenwart vollzieht. In Anlehnung an den Soziologen Dimbath (2014, 96), der die politischen Machtverhältnisse zum konstitutiven Kern der Prozesse des Vergessens macht, interessiere ich mich dafür, wie Personen und Ereignisse ins Vergessen „gezwungen werden“ können. Im Kontext postkolonialen Erinnerns haben Stoler und McGranahan (2007, 21) zu Recht darauf hingewiesen, dass das Privileg „imperialer Formationen“ darin besteht, die Verflechtungen von europäischer/n und kolonialer/n Geschichte/n im postkolonialer Europa auszublenden und reduktionistische „single stories“ (Adichie 2009) zu kreieren. Jedoch können diese „single stories“ nicht ausschließlich kognitiv vermittelt werden, wie ich zuvor in Kapitel 4 ausgeführt habe (vgl. Egger 2003, 200). Im produktiven Prozess der Entinnerung (vgl. Ha 2012) führen die hergestellten emotionalen Verknüpfungen nicht dazu, dass der Vergangenheit in der Gegenwart Bedeutung beigemessen wird (vgl. Stoler 1995, 136). Halbwachs (1972 [1947]) hat in seinen Arbeiten ausgeführt, dass sich Gesellschaften nur auf der Grundlage ihrer affektiven Zustände erinnern können. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, zu rekonstruieren, auf welche Weise die Vergangenheit affiziert werden muss, damit Gesellschaften der Aufarbeitung und Erinnerung des Kolonialismus einen kollektiven Wert zuschreiben und ihr, wie Halbwachs (1985 [1925], 368) argumentiert hat, einen „Platz [im] Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses“ zuweisen. Demnach werden in der Gegenwart nur diejenigen historischen Ereignisse in Erinnerung bleiben, denen eine emotionale Bedeutung zugeschrieben wird. Letztendlich wird im Prozess der Affizierung kolonialer Vergangenheiten das legitime Wissen über die Vergangenheit hergestellt und verbreitet. Im Folgenden wird anhand des Gegenstands der sogenannten ‚algerischen Rebellenschädel‘ und deren Repatriierung der Prozess affektiven Entinnerns der kolonialen Expansion Frankreichs und der damit verknüpften ‚Rasseforschung‘ aufgezeigt.

278 

 Die vergessenen Schädel?

9.3 „ Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ als Ausdruck postkolonialer Entinnerung 9.3.1 S  chädelsammlungen als „trophées de guerre“: Wissenschaftliche Komplizenschaft in der kolonialen Expansion Die Entinnerung menschlicher Überreste als Residuen kolonialer Herrschaft in den europäischen Museen konkretisiert sich nicht allein anhand fehlender Inventarlisten. Frappierend sind zudem die Wissenslücken hinsichtlich des Erwerbskontextes oder der Verwahrungsgeschichten der kolonialen Sammlungsbestände. Auch wenn keine genauen Zahlen festgestellt werden können, ist dennoch davon auszugehen, dass mehrere Tausend Schädel und menschliche Gebeine im 19. Jahrhundert zu kolonialrassistischen Zwecken in die anthropologischen Sammlungen europäischer Museen gelangten (vgl. Arzel und Foliard 2020, 20). In Frankreich führte die Regionaldirektion für kulturelle Angelegenheiten (Directions régionales des affaires culturelles, DRAC) im Jahr 2015 eine Umfrage unter den Museen durch, um genaue Daten über die menschlichen Überreste in ihren Beständen zu erhalten. Allerdings kamen nur zwei Drittel der Befragten der Aufforderung nach, so Michel Van Praët (2018), emeritierter Professor am Muséum und verantwortlich für die Untersuchung. 2018 erschien das Vademecum, betitelt mit Les restes humains dans les collections publiques, das von der Groupe de travail sur la problématique des restes humains dans les collections publiques herausgegeben wurde. Darin heißt es, dass sich mehr als 150 000 menschliche Gebeine in den französischen Sammlungen befinden, wovon allerdings eine Mehrheit französischen Ursprungs sei (vgl. Van Praët et al. 2018, 3). Bezüglich der Bestände, die einem außereuropäischen Kontext zugeordnet werden können, präzisiert der Bericht: „Les quelques milliers de restes humains d’origine étrangère constituent une part infime des restes humains patrimonialisés“ (Van Praët 2018, 13, Hervorhebung S. R.). Ein Befund, den der im April 2023 veröffentliche Bericht Patrimoine partagé: universalité, Restitutions et circulation des œuvres d’art des ehemaligen Direktors des Musée du Louvre Jean-Luc Martinez (2023, 59) bestätigt. Der Historiker Ali Farid Belkadi hat in den gegenwärtigen Beständen des Muséum 68 menschliche Schädel und Köpfe algerischer Provenienz identifiziert, wie die Historikerin Jennifer Session (2020, 166) zusammenfasst. Diese „collections sensibles“, wie es im Vademecum in Anlehnung an die Handreichung des ICOM heißt, bedürfen folglich einer „vigilance accrue“ (Van Praët et al. 2018, 13). Aus diesem Grund kündigt bereits der Bericht von Van Praët (2018, 9) die Erarbeitung einer Gesetzesgrundlage an, um Restitutions- und Repatriierungsforderungen systematischer begeg-

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 279

nen zu können. Eine erste Lesung eines Gesetzesvorschlags zur Novellierung des code du patrimoine, der von der Commission de la culture, de l’éducation et de la communication schließlich im Jahr 2021 erarbeitet wurde, wurde am 10. Januar 2022 zwar vom französischen Senat angenommen (vgl. PM Sénat, 10.01.2022), allerdings ohne dass die Regierung bisher Stellung zum Gesetzesvorschlag genommen hätte (vgl. Martinez 2023, 60; Méheut, 29.11.2022, The New York Times (New York edition), 1). Der in 2023 erschienene Bericht hat nun zum Ziel, klare Rückgabekriterien festzulegen, die in ein weiteres Gesetzesvorhaben einfließen sollen (Noce, 26.04.2023, theartnewspaper.com). Denn bisher bedurfte es der Verabschiedung gesonderter Gesetze durch die Assemblée Nationale, um den Status der zu repatriierenden bzw. zu restituierenden Gegenstände als französisches Kulturerbe aufzuheben – wie zuerst im Jahr 2002 für die Rückgabe der sterblichen Überreste von Sarah Baartmann geschehen (vgl. Ritter 2009). Am 13. Juni 2023 hat der französische Senat in erster Lesung einem Gesetzesvorhaben zugestimmt, dass die im code du patrimoine festgelegte inaliénabilité umgehen kann, um die Repatriierung menschlicher Gebeine an die außereuropäischen Herkunftsnationen zu ermöglichen (République française 2023). Eine Annahme des Gesetzesvorhabens durch die Assemblée Nationale steht noch aus (Stand: Juni 2023). Im Zusammenhang mit der Sammlungsgeschichte der von Belkadi identifizierten ‚algerischen‘ Schädel im Muséum fallen wesentliche historiografische Lücken auf, die in dieser Arbeit allerdings nicht geschlossen werden können. Denn die Schädel gelangten zunächst nicht als Forschungsobjekte in die französischen Sammlungen, sondern als „Kriegstrophäen“ (Session 2020, 168). Bei einem der Getöteten handelte es sich um den Scheich Bouziane, der in der „Schlacht um Zaatcha“ und der anschließenden Belagerung als Widerständiger gegen die französische Kolonialexpansion im Jahr 1849 ermordet wurde. Als Praxis der Machtdemonstration und der Festigung kolonialer Herrschaft wurden die „Besiegten“ enthauptet und öffentlich in den unterworfenen Gebieten ausgestellt (vgl. Arzel und Foliard 2020, 18). Im Jahr 1851 berichtete der Soldat Charles Bocher in der Revue des Deux Mondes (erschienen bis 1971) von seinen Erfahrungen bei der Belagerung von Zaatcha. Dabei kommt er auf die entwürdigende und enthumanisierende Ausstellungspraxis der Unterworfenen zu sprechen: Les figures de nos soldats accusaient les souffrances et les privations. Les durs travaux de ce long siège avaient usé leurs effets, et c’est pour la plupart avec des vêtements de peaux de chèvre ou de mouton qu’ils firent leur rentrée dans ce premier poste occupé par la France, où ils amenaient les troupeaux de la razzia des nomades, de nombreux otages, et les têtes des chefs de l’insurrection que les Arabes des Ziban durent voir longtemps encore exposées sur la place du marché de Biskara en signe de l’éclatante défaite des révoltés. (Bocher 1851, 99, Hervorhebung S. R.)

280 

 Die vergessenen Schädel?

Session schreibt in ihrem Artikel „Horace Vernet’s Tête Arabe: the Artist as Colonial Collector“ (2020, 167), dass öffentliche Enthauptungen in der frühen Phase der Kolonisierung Algeriens als „heilsamer Terror“ verstanden wurden, um den Widerstand der lokalen Bevölkerung zu brechen. Als Maßnahmen des Kampfes gegen Aufständische wurden die abgetrennten Köpfe auf Bajonette aufgespießt und bei Paraden vorgeführt oder auch in der Nähe der französischen Militärcamps gut sichtbar ausgestellt. Sessions Archivrecherchen zeigen, dass französische Offiziere Belohnungen für die Beschaffung von abgetrennten Köpfen und Ohren auspriesen (2020, 167). Bochers (1851, 99) Darstellung, dass die Schädel der „Arabes des Zibans“ auf dem Markt von Biskara ausgestellt worden sind, beschreibt somit eine gängige Kriegspraxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Algerien. Dass die Schädel schließlich in die französischen Museumssammlungen gelangten, begründet sich mit dem wissenschaftlichen Interesse, diese Schädel als Spezimen „phrenologischer“ Forschung41 zu konservieren. Session (2020, 170) stellt dabei heraus, dass Anthropolog:innen ein besonderes Interesse an diesen Gebeinen hatten, da „the racial identities of their owners“ bekannt waren. Die „Authentizität“ der Schädel, die der damaligen kolonialrassistischen Erforschung der Gruppen der Kabyle, Berber und Araber diente (vgl. Session 2020, 171), erleichterte im Fall der hier thematisierten ‚algerischen‘ Schädel deren Repatriierung, da eine eindeutige Zuordnung und Identifizierung der Verstorbenen vorgenommen werden konnte (vgl. Session 2020, 166; Belkadi, 03.12.2017). Dies führte dazu, dass im Zuge der Repatriierung im Jahr 2020 die historischen Widerstandsbewegungen ein wenig ausdifferenzierter besprochen werden. Neben der „Schlacht von Zaatcha“ werden auch die Kämpfe in der Kabylei thematisiert, bei denen 1854 Chérif Boubaghla ermordet wurde (vgl. Arroudj, 03.07.2020, Le Figaro, 10). Deutlich wird an Sessions (2020) Ausführungen außerdem, dass Wissenschaftler:innen an der kolonialen Eroberung Algeriens direkt beteiligt waren und die ausgeübte Gewalt gegen die Bevölkerung wenn nicht aktiv unterstützten, so doch zumindest billigten. Als Konsequenz spricht die Historikerin von einer „symbiotischen Beziehung“ zwischen der wissenschaftlichen Etablierung des jungen Fachs der Anthropologie und der Ausdehnung des französischen Kolonialreichs (Session 2020, 164).

41  Die Phrenologie verfolgte die Ansicht, dass sich aus der pseudo-wissenschaftlichen Vermessung menschlicher Schädel Aussagen über den Intellekt und die Persönlichkeit unterschiedlicher „Menschenrassen“ treffen ließe. Die sich im 19. Jahrhundert etablierende ‚Rasseforschung‘ diente der Rechtfertigung des kolonialen Projekts und der sogenannten „mission civilisatrice“, bei der die „weiße Rasse“ als höherwertig betrachtet wurde (vgl. Session 2020, 165–166). Aus diesem Grund verwende ich den Begriff auch in einfachen Anführungsstrichen.

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 281

Gleichzeitig gelangten im 19.  Jahrhundert auch Gebeine von Kriegsgefangenen und indigenen Hilfstruppen, die in Krankenhäusern verstorben waren, in die Sammlung französischer Museen (vgl. Session 2020, 171) – was in der Medienberichterstattung auch als Grund für die anfängliche Zurückhaltung der algerischen Regierung, eine Rückführung der Schädel zu fordern, angeführt wird. Session (2020, 164) macht jedoch auch klar, dass die Quellenlage im Allgemeinen zu dürftig ist, um nachvollziehen zu können, wie human remains aus Algerien in die französischen Sammlungen gelangten. Auch wenn es in Sessions Text nicht primär um die „Schlacht von Zaatcha“ geht, findet sich dennoch eine Illustration in ihrem Artikel, die von Dr. Ferdinand Quesnoy im Jahr 1888 angefertigt wurde und die ausgestellten Köpfe von Bouziane, seinem Sohn und Si-Moussa im Militärlager von General Herbillon darstellte, der die Schlacht im Jahr 1849 befehligte (vgl. Session 2020, 168). Bocher (1851, 99) gibt in seinem Bericht an, dass die drei genannten Widerständigen, die als Anführer identifiziert worden sind, zu einem späteren Zeitpunkt erschossen, enthauptet und auf dem Markt in Biskara ausgestellt wurden. Auf welchem Weg diese Schädel nach Frankreich kamen, ist bis jetzt jedoch noch nicht historisch erforscht. In einem Zeitungsartikel, der am 11.  Juni 2016 in Le Monde erschien, gibt ein Kollektiv von Historiker:innen das Jahr 1874 oder die 1880er Jahre als Zeitraum an, in dem einige der Schädel zuerst in der Société d’anthropologie de Paris und später an das Musée de l’homme transferiert worden sind (vgl. Collectif: „Les têtes des résistants algériens n’ont rien à faire au Musée de l’homme“, 11.06.2016, Le Monde, 26). In anderen Artikeln heißt es hingegen, dass die Schädel niemals der Öffentlichkeit zugänglich waren (vgl. Bommelaer und Biétry-Rivierre 7.12.2017, Le Figaro, 32), weswegen dahingehend keine eindeutige Aussage getroffen werden kann. Unklarheit besteht auch hinsichtlich der genauen Anzahl menschlicher Gebeine algerischer Provenienz in den französischen Sammlungsbeständen, da beispielsweise in der algerischen Presse wiederholt die Angabe von mehreren Tausend gemacht wird. Wie schon am deutschen Beispiel aufgezeigt, ist diese Uneindeutigkeit ein gängiger Befund im Zusammenhang mit der Erforschung von Museumsbeständen kolonialen Ursprungs, dennoch lassen sich für Frankreich aufgrund der zentralistischen Verwaltungsstruktur leichter Zahlen erheben.

9.3.2 „ Un contact […] dépassionné avec la mort“? Affektive Entinnerung der kolonialen ‚Rasseforschung‘ Anders als bei den Rückgaben der human remains nach Südafrika (2002), Neuseeland (2012) und Neukaledonien (2014) in den Jahren zuvor hatte die algerische Regierung bis Dezember 2017 keine offizielle Repatriierung der Schädel von Frankreich gefordert. Eine offizielle Rückgabeforderung ist jedoch die Vorausset-

282 

 Die vergessenen Schädel?

zung dafür, dass die europäischen Staaten den Gesuchen anderer Länder überhaupt nachkommen. Dabei war sowohl der französischen als auch algerischen Öffentlichkeit schon seit 2011 bekannt, dass sich ‚algerische‘ Schädel in den französischen Sammlungen befinden. Der algerische Historiker Ali Farid Belkadi stieß bei Nachforschungen im Muséum auf die Schädel, die er einzelnen Personen des algerischen Widerstands gegen die französische Kolonialexpansion zuordnen konnte, da deren Namen und Inventarnummern dokumentiert waren. Zunächst forderte er die Rückgabe der identifizierten Schädel von Bou Amar Ben Kedida, Chérif Boubaghla, Mokhtar Al Titraoui, Cheikh Bouziane, Moussa Al Darkaoui und Aïssa Al Hamadi. Zu diesem Zweck startete Belkadi im Mai 2011 eine Petition mit dem Titel „Pour le rapatriement des restes mortuaires algériens conservés dans les musées français“. Belkadis Ziel, eine Rückführung der Schädel durch den algerischen Staat initiieren zu lassen, erfüllte sich allerdings nicht. Seine Petition fand nie mehr als 14  Unterstützer:innen (vgl. petitionenligne.com 2011). Erst 2016 erfuhr das Thema eine größere Aufmerksamkeit, als der Schriftsteller, Journalist und Dozent Brahim Senouci im Mai eine weitere Petition zur Repatriierung der Schädel erstellte (vgl. Petition „Restitution des têtes des résistants algériens“ 2016). Als im Juni eine Gruppe bekannter Historiker:innen, zu denen auch Benjamin Stora und Pascal Blanchard zählten, in dem bereits erwähnten Le-Monde-Artikel die Rückführung der Schädel forderten, berichtete die nationale Tagespresse zunehmend über den Fall (vgl. „Les têtes des résistants algériens n’ont rien à faire au Musée de l’homme“, 11.06.2016, Le Monde, 26). Den Wendepunkt bringt allerdings der Regierungswechsel im Jahr 2017. Schon während eines Wahlkampfauftritts in Algerien im Februar 2017 bezeichnete Macron als damaliger Präsidentschaftskandidat den Kolonialismus als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, was ein Novum in der französischen Erinnerungspolitik war. Nach einer heftigen medialen Auseinandersetzung musste Macron seine Worte zwar relativieren, dennoch stand eine mögliche Repatriierung der Schädel auf der Agenda seines im Dezember stattfindenden Staatsbesuchs in Algerien (vgl. Oberlé, 05.12.2017, Le Figaro, 12). Schon im Juni 2017 unterstützten mittlerweile fast 30 000 Menschen die Petition zur Rückführung der Gebeine nach Algerien (vgl. Senouci, 16.06.2017, l’humanité.fr). Obwohl die algerische Regierung zu diesem Zeitpunkt noch keine offizielle Anfrage zur Repatriierung gestellt hatte, erklärte sich Macron im Dezember 2017 während seines präsidentiellen Besuchs in Algier dazu „bereit“, die menschlichen Gebeine zurückzugeben, die im Zusammenhang mit der Kolonisierung Algeriens stehen (vgl. Bommelaer und Biétry-Rivierre, 07.12.2017, Le Figaro, 32). Dass die algerische Regierung am 26. Dezember 2017 ein offizielles Repatriierungsgesuch an den französischen Staat richtete, konnte ich der Antwort des Ministère Europe et affaires étrangères vom 28. August 2018 auf die Frage der

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 283

Parlamentsabgeordneten Fadila Khattabi (La République en Marche – LREM) entnehmen, die sie am 17. Juli 2018 formulierte (vgl. Question N°10652, Assemblée Nationale 2018). In ihrem Fragetext schreibt sie auch, dass die algerische Regierung schon 2016 eine erste Anfrage gestellt habe, um eine Auflistung der sich in den französischen Museen befindlichen sterblichen Überreste zu erhalten. Die Antwort wiederum benennt Punkte, die die Repatriierung zu einem „komplexen“ Unterfangen machen. Dazu gehört zum einen die im code du patrimoine festgelegten inaliénabilité, insaisissabilité und imprescriptibilité, zum anderen aber auch, dass die Identität einiger human remains noch nicht abschließend geklärt ist (vgl. Question N°10652, Assemblée Nationale 2018). Erst zweieinhalb Jahre später, im Juli 2020, werden die Schädel schließlich repatriiert, wobei der französischen Medienberichterstattung die Prozesse und etwaigen Verzögerungen der algerisch-französischen Verhandlungen nicht zu entnehmen sind. Anhand der ‚algerischen‘ Gebeine in den französischen Museen lässt sich besonders eindrücklich die diskursive Trennung der gegenwärtigen Museumsbestände von ihrem kolonialen Erwerbskontext rekonstruieren. Denn zunächst stieß Belkadis ‚Entdeckung‘ der ‚algerischen‘ Schädel im Jahr 2011 auf keinerlei mediales Interesse. Einer der wenigen Artikel über anthropologische Sammlungsbestände erscheint in der Tageszeitung Libération, die ausführlich über drei mumifizierte ‚algerische‘ Schädel berichtet, die bereits im Jahr 2007 in einem Kunstmuseum einer anonymen Kleinstadt aufgefunden worden sind (vgl. „Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10). Obwohl die verschiedenen Konfliktlinien im Umgang mit diesen Beständen klar benannt werden, dominiert dennoch der Duktus, Museen als ‚neutrale‘ und vor allem unpolitische Orte der Wissensproduktion zu entwerfen. So gibt André Langaney, der bis 2002 Leiter des anthropologischen Forschungsbereichs des Musée de l’homme war, zu verstehen, dass die außereuropäischen Objekte nichts mit dem Großteil der Sammlungen zu tun hätten und auch nichts mit den aktuellen Recherchen. Er hätte sich daher gewünscht, beim diplomatischen wie politischen „Zirkus“ um die Repatriierung der „Venus“42 nicht involviert gewesen zu sein („Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10). Und auch die Restaurateurin der ethnologischen Objekte im Muséum, Laure Cadot, grenzt das Museum als Ort der Wissensproduktion von politischen Interessenskonflikten ab, wenn sie sagt:

42  „Venus“ bezieht sich hier auf Sarah Baartman, die als sogenannte „Hottentottenvenus“ im Jahr 1810 nach Europa kam und zuerst in London und später in Paris ein ‚weißes‘ Publikum mit „erotisch aufgeladenen Darbietungen“ (Ritter 2009, 125) unterhielt, die an kolonialrassistische Fantasien anknüpften.

284 

 Die vergessenen Schädel?

Le musée a un rôle de gardien destiné à la fabrication du savoir. C’est aussi souvent le dernier endroit public où il est possible d’avoir un contact direct, physique mais dépassionné, avec la mort. Cependant, quand il s’agit de dépouilles extra-occidentales, il ne faut pas se voiler la face. Il existe des conflits d’intérêts politiques et diplomatiques qui dépassent la communauté scientifique. („Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10).

Indem die politischen und diplomatischen Interessenskonflikte als Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung entworfen werden, wird die museale Tätigkeit entpolitisiert und somit als nicht relevant für erinnerungspolitische Auseinandersetzungen verstanden. Zwar wird die Kolonisierung Algeriens als „abject“ und „odieux“ („Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10) beschrieben, woran auch die schlechte Dokumentation der Objektgeschichte festgemacht wird. Aufgrund dieser Lückenhaftigkeit leite sich für Cadot allerdings die Notwenigkeit einer Bewahrung der Bestände ab. Die Restaurateurin gibt zu bedenken, dass man es bei einigen zurückgegebenen Objekten bereue, diese „verloren“ zu haben. Dass zudem die Beweise französischer Gewaltgeschichte verloren gehen könnten, spricht für sie gegen groß angelegte Restitutionsmaßnahmen, wie sie später im Artikel hervorhebt: Quelles preuves tangibles de l’horreur des exactions coloniales nous resterait-il? A l’heure où l’information est manipulable et les dénonciations de la domination raciale facilement instrumentalisées, l’importance de ces pièces me semble renforcée. („Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10)

Dennoch legt die Medienanalyse und insbesondere das auffällige Fehlen einer Berichterstattung über die ‚algerischen‘ Schädel nahe, dass sich der „horreur des exactions coloniales“, wie Cadot formulierte, nicht als emotionales Wissen in die französische Gesellschaft eingeschrieben hat. Vielmehr wird ihre Bewahrung der anthropologischen Sammlungen und ihre weitere wissenschaftliche Beforschung gerechtfertigt. Im Jahr 2015 erscheint ein weiterer Artikel, der sich mit den anthropologischen Sammlungsbeständen beschäftigt und dabei das wissenschaftliche Interesse an diesen als legitim unterstreicht (vgl. Morin, 14.10.2015, Le Monde, 4). Die bestehenden Restitutionsforderungen werden als hauptsächlich identitär begründet abgetan. Zudem wird hervorgehoben, dass Rückgaben für die Herkunftsgemeinschaften deswegen problematisch sein könnten, weil es oft nicht möglich sei, die rechtmäßigen Besitzer:innen mit Sicherheit festzustellen (vgl. Morin, 14.10.2015, Le Monde, 4). Dass der Ursprung der gegenwärtigen Schädelsammlungen jedoch im französischen Kolonialismus und den ihm zugrunde liegenden Rassenvorstellungen liegt, wird nicht weiter thematisiert. Der Artikel schließt mit der Perspektive des wissenschaftlichen Leiters der anthropologischen Sammlungen, Alain Froment, der hervorhebt: „En cas de Restitution et de

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 285

réinhumation, on se prive de ce moyen d’exploration du passé, notamment pour les sociétés qui n’ont pas d’écriture“ (Morin, 14.10.2015, Le Monde, 4). Die Artikel stellen somit weder die Existenz der Schädel in den französischen Sammlungen infrage noch wird sich für die während des Kolonialismus praktizierte ‚Rasseforschung‘ interessiert. Indem die Legitimität der gegenwärtigen anthropologischen Forschung im Zentrum steht, werden die Schädel als Objekte ‚außerhalb‘ der Kolonialgeschichte platziert. Die Entkopplung dieser während der kolonialen Expansion in die Sammlungen gelangten Objekte von ihren kolonialen Ursprüngen lässt sich anhand der erinnerungspolitischen Engführung auf den Algerienkrieg 1954–1962 begründen. Die Aufarbeitung des Kolonialismus erstreckt sich dabei nicht auf die Zeit der kolonialen Expansion Frankreichs im 19.  Jahrhundert, wodurch auch die sogenannte „Zivilisierungsmission“ nicht als Gewaltsystem aufgefasst und erinnert wird. Durch die Konstituierung der wissenschaftlichen Forschung als scheinbar ‚neutrale‘ Sphäre wird die museale Sammlungspraxis rationalisiert und in der Konsequenz legitimiert. Wenn Froment die Möglichkeit erwägt, dass das Abtrennen der Schädel der algerischen Opponenten als „legitime pathologische Klassifikation“ nach deren Tod gedeutet werden könne (Morin, 14.10.2015, Le Monde, 4, Übersetzung S. R.), unterstreicht dies die angenommene Neutralität der Wissenschaft ebenso, wie wenn die Restaurateurin Cadot herausstellt, dass „die politischen und diplomatischen Interessenkonflikte […] über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinausweisen“ („Musées, arrière-boutiques et horreurs“, 29.01.2011, Libération, 10, Übersetzung S.  R.). Die anthropologische Forschung wie auch die Museologie werden im Gegensatz zu einer als emotional konstruierten Erinnerungspolitik entworfen. Dabei wird die Wissenschaft als rationales Feld gegenüber emotionalen Zuschreibungen abgegrenzt. Anhand der Produktion des emotionalen Diskurses einer ‚rationalen‘ und ‚neutralen‘ Wissenschaft folgt deren Entpolitisierung, wodurch die Schädel, losgelöst von ihrer kolonialen Vergangenheit, zu legitimen Untersuchungsgegenständen werden. Diese ‚Platzierung‘ der ‚algerischen‘ Schädel ‚außerhalb‘ der Kolonialgeschichte und somit entkoppelt von der anthropologischen ‚Rasseforschung‘ stellt sich als affektive Entinnerung dar. Als Konsequenz wird der kolonialen Expansion Frankreichs im 19. Jahrhundert keine gesellschaftliche Relevanz für die französische Gegenwart beigemessen. Expliziert wird die Entkopplung der anthropologischen Museumsbestände von ihren kolonialrassistischen Erwerbskontexten jedoch erst im Jahr 2016. In einem Artikel für die Tageszeitung L’Humanité, der im Zuge des zweiten Petitionsvorhabens erscheint, schreibt die Journalistin Rosa Moussaoui:

286 

 Die vergessenen Schädel?

Un siècle et demi plus tard, le statut de ces restes mortuaires est le cruel symbole de la barbarie de la conquête de l’Algérie. Il témoigne, aussi, des politiques d’oubli que partagent l’ex-métropole et l’ex-colonie. Pour l’État français, ces têtes sont de simples „objets scientifiques“. (Moussaoui, 08.06.2016, l’humanité.fr, Hervorhebung S. R.).

Indem sie zu „simplen wissenschaftlichen Objekten“ gemacht werden, entziehen sich die Schädel der erinnerungspolitischen Aufarbeitung der geteilten Kolonialvergangenheit Algeriens und Frankreichs. Aus diesen von Frankreich und Algerien geteilten Politiken des Vergessens leitet die Journalistin Moussaoui (08.06.2016, l’humanité.fr) die Bezeichnung der „crânes d’amnésie“ ab, die die ‚algerischen‘ Schädel als Ausdruck eines amnesischen Zustands markieren. Moussaouis Berichterstattung ist allerdings eine Ausnahme. Nur drei Artikel berichten im Jahr 2016 über die Petition, woraus sich kein erhöhtes mediales Interesse am Verbleib der ‚algerischen‘ Schädel in den französischen Sammlungen ablesen lässt. Gleichwohl führt die Senoucis Petition im Jahr 2016 einen erinnerungspolitischen Wendepunkt herbei, weil sich der schon erwähnte Zusammenschluss französischer Wissenschaftler:innen und Intellektueller des Themas annimmt und sich für eine Repatriierung der Schädel einsetzt (vgl. „Les têtes des résistants algériens n’ont rien à faire au Musée de l’homme“, 11.06.2016, Le Monde, 26). In seinem Beitrag verknüpft das Historiker:innen-Kollektiv Vergangenheit und Gegenwart zu einer Kontinuität, bei der der Kolonialismus als Ursprung des Rassismus der französischen Gegenwart beschrieben wird. Die Notwendigkeit der Rückgabe der Schädel begründet das Kollektiv folgendermaßen: Soutenir les appels de citoyens algériens à rapatrier ces dépouilles dans leur pays, pour leur donner une sépulture digne, comme cela fut fait pour les rebelles maoris ou le résistant kanak Ataï et ses compagnons (en 2014), ne revient aucunement pour nous à céder à un quelconque tropisme de „repentance“ ou d’une supposée „guerre des mémoires“, ce qui n’aurait strictement aucun sens. Il s’agit seulement de contribuer à sortir de l’oubli l’une des pages sombres de l’histoire de France, celles dont l’effacement participe aujourd’hui aux dérives xénophobes qui gangrènent la société française. („Les têtes des résistants algériens n’ont rien à faire au Musée de l’homme“, 11.06.2016, Le Monde, 26)

Der Beitrag der Historiker:innen fokussiert dabei auf den gegenwärtigen Rassismus als Kontinuität eines französischen Vergessen-Machens der kolonialen Vergangenheit. Das aktivistische Engagement zielt hier auf das Aufdecken des Vergessens, um die französische Ignoranz gegenüber diesen materiellen Spuren des Kolonialismus zu aufzuzeigen. Das Verhältnis von Erinnern und Vergessen beschreibt das diskursiv ordnende Prinzip französischer postkolonialer Erinnerungspolitik. Denn das Vergessen steht im französischen Kontext immer in einem Gegensatz zu einem Übermaß des Erinnerns, wie es sich anhand des emotionalen Diskurses der repentance (Reue) nachvollziehen lässt (vgl. Kap. 5.5 und 11). Das

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 287

gemeinsam in Le Monde verfasste Unterstützungsschreiben verschafft der Petition von Senouci im Juni 2016 eine größere Öffentlichkeit. Bis August wächst die Zahl der Unterschriften auf mehr als 25  000 (vgl. „Des crânes algériens attendent une sépulture“, 05.08.2016, La Croix, 6). Allerdings lassen sich anhand der Online-Petition keine zusätzlichen Informationen über die Gruppe der Unterstützer:innen, wie etwa deren Nationalität, gewinnen, um somit die Reichweite der Petition in Frankreich einschätzen zu können. Im Dezember 2017 kündigte Macron schließlich die Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel an. Die Diskursanalyse der Medienberichterstattung ist vor allem durch ihre Auslassungen in der Thematisierung der ‚algerischen‘ Schädel gekennzeichnet. Allerdings geschieht diese Abwesenheit nicht zufällig, sondern beschreibt die Mechanismen affektiver Entinnerung des französischen Kolonialprojekts. Macron stellte im Dezember 2017 neben der Rückgabe der Schädel auch die Restitution von Archivbeständen in Aussicht. Doch weder die politische Brisanz einer möglichen Rückgabe von Archivmaterialien, die Algerien seit Jahrzehnten forderte, noch die tatsächlich gestellte Repatriierungsforderung durch die algerische Regierung Ende Dezember 2017 wird in den Medien behandelt. Und auch, dass die für Dezember 2018 vorgesehene Repatriierung der Gebeine verschoben werden musste, hatte keinen herausragenden Nachrichtenwert für die französische Presse. Als im Juli 2020 die Schädel zurückgegeben wurden, fand zudem – im Gegensatz zu den Übergaben der Maori-Schädel (vgl Gagné 2012) oder des Schädels des Kanaken Ataï – keine offizielle Übergabezeremonie in Frankreich statt, die die Existenz der Schädel in den französischen Beständen mit der französischen Nationalgeschichte verknüpft hätte. Entsprechend wird auch keinerlei Verantwortungsübernahme adressiert, die die Notwenigkeit einer Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit unterstreichen würde. Ein Interview mit dem Historiker Benjamin Stora erscheint erst am 10.  Juli 2020 und somit fünf Tage nach der Repatriierung. Im Gegensatz zu sieben Artikeln, die in Le Figaro erschienen sind, beschäftigte sich Libération als einzige linksgerichtete Zeitung ausführlicher mit der Repatriierung. Hinsichtlich der Rückgabe der ‚algerischen‘ Schädel fällt somit die asymmetrische Verteilung in den Publikationspraktiken der überregionalen Tagespresse auf. Die geringe Bedeutung der frühen Kolonialexpansion im kollektiven Gedächtnis der französischen Gesellschaft bringt auch Stora in Interview mit Libération zum Ausdruck, wenn er folgende Hoffnung artikuliert: „Le travail mené autour des dépouilles permettra peut-être de mieux connaître l’histoire de la conquête dans l’Ouest et le Sud algérien“ (Sardier, 10.07.2020, Libération, 20). Gleichzeitig verweist er aber auch auf die in der Gegenwart vollzogene Entkopplung rassistischer Ideologien von den kolonialen Ursprüngen, wenn er die Ermordung von George Floyd als Katalysator für eine (transnationale) Aufarbeitung der historischen ‚Rassefor-

288 

 Die vergessenen Schädel?

schung‘ und des gegenwärtigen Rassismus sieht, was Stora auf folgende Weise beschreibt: „L’assassinat de George Floyd […] éveille dans le monde entier une conscience citoyenne sur la question des races et du racisme, et donc sur ce passé-là“ (Sardier, 10.07.2020, Libération, 20). Ein diskursiver Wandel, der die kolonialanthropologischen Schädelsammlungen mit dem gegenwärtigen Rassismus verbinden würde, lässt sich im Kontext der Medienberichterstattung über die Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel jedoch nicht beobachten. Folglich besteht die etablierte emotionale Ordnung, die sich anhand der Aufrechterhaltung des „trou de mémoire“ beobachten lässt, fort (Bancel et al. 2003, 135). Weder die Debatten über eine Rückgabe menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten noch die Repatriierung im Jahr 2020 vermochten es, eine Affizierung der frühen Kolonisierung Algeriens herzustellen und folglich den kolonialen Residuen in den französischen Sammlungen eine gesellschaftliche Bedeutung beizumessen. Vielmehr wurden die anthropologischen Sammlungsbestände von ihren Ursprüngen in der kolonialen ‚Rasseforschung‘ entkoppelt. Als Folge wurden die Schädel nicht als Bestandteil der Kolonialgeschichte wahrgenommen, was sie emotional ‚außerhalb‘ des französischen Kolonialprojekts und den damit verknüpften rassistischen Forschungspraktiken platzierte. Erst im Jahr 2022 deutet sich an, dass die koloniale Provenienz der human remains in den französischen Sammlungen sowie die Frage ihrer möglichen Restitution auf ein wachsendes Interesse einer (vor allem internationalen) Öffentlichkeit zu stoßen scheint (vgl. Azimi, 17.01.2023, Le Monde, 20; Méheut, 29.11.2022, The New York Times (New York edition), 1). Statt einer Auseinandersetzung mit der Kolonisierung Algeriens und der kolonialrassistischen Sammlungspraxis dominiert 2020 jedoch das bilaterale Verhältnis zu Algerien im Kontext der Repatriierung. Die Rückgabe der Schädel wird entsprechend als Marginalie außenpolitischer Fragestellungen behandelt. Das folgende Unterkapitel untersucht die Darstellungen der bilateralen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich und ihre gemeinsam geteilten „Politiken des Vergessens“ (Moussaoui, 08.06.2016, l’humanité.fr) im Kontext der Repatriierung der human remains im Juli 2020.

9.3.3 „ Aller plus loin dans l’apaisement“: Neuausrichtung der Beziehungen zu Algerien? Das affektive Vergessen-Machen der menschlichen Gebeine kolonialer Provenienz in den französischen Sammlungen steht im Gegensatz zur medialen Bewertung, dass die Rückgabe der ‚algerischen‘ Schädel im Jahr 2020 den Beginn des politischen Tauwetters (dégel) zwischen Algerien und Frankreich eingeleitet

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 289

habe. Weil sich die Mechanismen der Entinnerung auch an der geringen Anzahl an veröffentlichten Zeitungsartikeln in der französischen Tagespresse spiegelt, habe ich für dieses Kapitel auch Artikel der französischsprachigen algerischen Presse im Zeitraum 2011–2020 in das Korpus integriert. Interessiert habe ich mich vor allem für die Rezeption der Übergabezeremonie der Schädel in Algerien, über die in Frankreich fast gar nicht berichtete wurde. Dabei waren über die Archivsuche der BnF allerdings nur einige wenige Zeitungen wie El Watan, Le Matin d’Algérie und El Moudjahid abrufbar. 9.3.3.1 In Algerien: Die Rückkehr der ‚Helden‘ Je souhaite qu’on ravive la relation avec le travail mémoriel entre nos deux pays, que la Restitution des crânes soit décidée, je la déciderai, je suis prêt. (Bommelaer und BiétryRivierre 7.12.2017, Le Figaro, 32)

Macrons Aussage zeigt, dass seine Bereitschaft zur Repatriierung menschlicher Gebeine vor dem Hintergrund einer angestrebten Neugestaltung der außenpolitischen Beziehungen zu Algerien zu verstehen ist. Zunächst jedoch überraschte er mit seiner Ankündigung, da sich aus der bisherigen Medienberichterstattung keine politische Relevanz einer Rückgabe der human remains für die frankoalgerischen Beziehungen ableiten ließ. Anders auch als viele andere ehemaligen Kolonien hatte Algerien zum Zeitpunkt von Macrons Besuch im Dezember 2017 noch keine offizielle Rückforderungsforderung gestellt. Obwohl die Existenz der ‚algerischen‘ Schädel in den französischen Sammlungen bekannt war, konstatierte die Zeitung La Croix bereits 2016: „L’Algérie semble peu demandeuse face à ces enjeux historiques complexes“ („Des crânes algériens attendent une sépulture“, 05.08.2016, La Croix, 6). Der Grund für diese Zurückhaltung wird der uneindeutigen Herkunft dieser Schädel zugeschrieben. Während der koloniale Gewaltzusammenhang im Falle der Gebeine der OvaHerero und Nama unbestritten ist, ist die historische Herkunftsbestimmung der algerischen Gebeine komplexer. Denn neben den „Helden“ des Widerstands gegen die französische Kolonisierung befänden sich unter den Gebeinen auch Schädel sogenannter „auxiliaires“, die „für Frankreich starben“, andere, die „im Krankenhaus verstorben sind“, oder sogar solche, die als „Mörder“ qualifiziert werden können, wie Michel Guiraud, der Direktor der Sammlungen des Muséum, im selben Artikel zu verstehen gibt. Dass es sich bei den im Jahr 2020 repatriierten human remains der Bestände des Muséum nicht ausschließlich um „héros“ des antifranzösischen Widerstands handelt, wird allerdings erst im Oktober 2022 kritisch in einigen wenigen Artikeln der französischen Presse aufgegriffen, nachdem die algerische Webseite Algérie patriotique sowie die New York Times über den Fall berichteten (vgl. Kessous und

290 

 Die vergessenen Schädel?

Zerrouky, 22.10.2022, Le Monde, 3; Masseguin, 19.10.2022, Libération, 17; Méheut, 18.10.2022, The New York Times, 4; Verdier, 19.10.2022, La Croix, 8). Seit der Entdeckung der menschlichen Gebeine in der Sammlung des Muséum im Jahr 2011 spielte die unterschiedliche Provenienz jedoch keine herausragende Rolle in der französischen Presse. Weiterhin thematisieren die französischen Medien weder die von der algerischen Regierung bereits im Dezember 2017 geforderte Repatriierung der Schädel noch, warum die Regierung in Algier dies mittlerweile mit erinnerungspolitischer Bedeutung versah. Hinweise dafür lassen sich allerdings der algerischen Berichterstattung entnehmen. Schon 2011 wird in der algerischen Zeitung El Watan die Deutung angeboten, die ‚algerischen Rebellen‘ als „Märtyrer“ des algerischen Befreiungskampfes zu verstehen: Ils sont calfeutrés dans de vulgaires boîtes cartonnées, qui évoquent les emballages des magasins à souliers! Ces boîtes sont elles-mêmes rangées dans les étagères d’énormes armoires métalliques grises aux portes coulissantes, fermées à double-clé, une bien triste fortune pour des hommes de la trempe de Chérif Boubaghla qui sacrifia sa vie et son existence pour que vive l‘“Algérie libre“, a-t-il regretté, en exhibant des photos des restes de ces héros. („Les restes mortuaires de chefs insurrectionnels algériens retrouvés dans un musée à Paris“, 07.05.2011, elwatan.com)

Insbesondere die unwürdige Aufbewahrungsart der Schädel in den „vulgaires boîtes cartonnées“ – ein Vorwurf, der von französischer Seite zurückgewiesen wird – findet wiederholt Erwähnung (vgl. Arab, 02.07.2020 [07.07.2011], lematindalgerie.com). Dass sich die Ausdeutung der Toten zu ‚Helden‘ des antikolonialen Kampfes für ein „freies Algerien“ gelingt, lässt sich auch exemplarisch an einer weiteren von Belkadi lancierten Petition ablesen. Die Heldenerzählung aufnehmend, forderte der Historiker 2018 mit einer Petition die ausschließliche Rückführung des Schädels von Chérif Boubaghla, mit dem Ziel, „une journée commémorative pour célébrer la lutte et le sacrifice suprême de ces hommes prodigieux“ in Algerien einzuführen (Petition Belkadi 2018, change.org). Dabei fällt vor allem im französischen Le Figaro auf, dass dieser sich im Jahr 2020 der algerischen Heldenerzählung bemächtigt hat. Wenngleich der „Märtyrer“-Begriff in der französischen Presse im Gegensatz zu den gesichteten algerischen Artikeln zumeist in Anführungszeichen verwendet wird, spricht Le Figaro dennoch von „Nationalhelden“, denen mit der Bestattungszeremonie in Algerien die letzte Ehre erwiesen werde (vgl. „L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anti-coloniaux“, 05.07.2020, lefigaro.fr). Indem der Artikel die ‚algerischen‘ Schädel als „héros de la première résistance anti-française“ bezeichnet und anschließend Kriegsveteranen zu Wort kommen lässt (Hervorhebung S. R.), werden die human remains in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Algerienkrieg von 1954–1962 gestellt. Diese Lesart verfestigt sich auch in

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 291

der geplanten Bestattung im carré des ‚Martyrs de la Révolution algérienne‘. Bei einer Live-Fernsehübertragung wurden Kanonen abgefeuert und Fallschirmjäger eingesetzt, was die Rückführung der Gebeine als nationales sowie militärisches Ereignis inszenierte. Bei der Empfangnahme der Särge, die in einem algerischen Militärflugzeug aus Frankreich eintrafen, war neben dem algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune auch der Chef der Armee Said Chengriha anwesend (vgl. Arroudj, 03.07.2020, Le Figaro, 10). Dass eine „große Menschenmenge“ den Weg der 24  Särge vom Palais de la Culture zum Friedhof säumte, unterstreicht dabei die Bedeutung der Repatriierung für Algerien (vgl. Bersali, 05.07.2020, elwatan.com). Der besonderen Feierlichkeit und Emotionalität der Zeremonie wird wiederum Ausdruck verliehen durch die weinenden Männer und Frauen, die der berichtende Journalist in der Fernsehübertragung auszumachen meint (vgl. „L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anti-coloniaux“, 05.07.2020, lacroix.com). Wenn die Rede von einer Rückkehr der Schädel in die „terre natale“ ist, dann vollzieht sich hier die Nivellierung der unterschiedlichen Interessen der oppositionellen Kriegsparteien im 19. Jahrhundert zugunsten eines vereinheitlichenden nationalen Befreiungskampfes. Die Vereinnahmung der Widerstandskämpfer als ‚algerische‘ Nationalhelden erklärt auch das geringe Interesse der algerischen Autoritäten, der unterschiedlichen Herkunft einiger der restituierten human remains zu viel Bedeutung beizumessen, 9.3.3.2 In Frankreich: „une affaire des crânes“? Im Gegensatz zur medialen Beschreibung der zeremoniellen Empfangnahme in Algerien fällt die Abwesenheit eines offiziellen Übergabeereignisses auf der französischen Seite auf.43 Der Élysée-Palast wird mit nur einer einzigen schriftlich übermittelten Stellungnahme zitiert. Darin heißt es: Ce geste s’inscrit dans une démarche d’amitié et de lucidité sur toutes les blessures de notre histoire. […] C’est le sens du travail que le Président de la République [Emmanuel Macron, Anm. S. R.] a engagé avec l’Algérie et qui sera poursuivi, dans le respect de tous, pour la réconciliation des mémoires des peuples français et algérien. („Accueil solennel des restes des premiers combattants anticoloniaux“, 03.07.2020, lefigaro.fr).

Deutlich wird an dieser allgemein gehaltenen Einlassung, dass der erinnerungspolitische Gegenstand der „Versöhnung der Erinnerungen des französischen und

43  Im Gegensatz dazu stehen die Übergabezeremonien im Zusammenhang mit der Rückgabe von human remains nach Neuseeland im Jahr 2012 (Gagné 2012) bzw. nach Neu-Kaledonien im Jahr 2014.

292 

 Die vergessenen Schädel?

algerischen Volkes“ – die Schädelrückgabe – keiner Bezugnahme bedarf. In der französischen Presse wird die in Algerien abgehaltene Zeremonie als ausschließlich algerische Angelegenheit darstellt, losgelöst von den museologischen Sammlungspraktiken der Kolonialzeit. Bei der Zeremonie in Algerien fehlen beispielsweise hochrangige französische Regierungsvertreter:innen, die in gemeinsamen Erklärungen die Aufarbeitung der Frühphase des französischen Kolonialismus als gemeinsames franko-algerisches Anliegen thematisieren könnten. Die Zuschreibung gesellschaftlicher Relevanz gegenüber der kolonialen Gewaltgeschichte wird folglich nach Algerien relegiert, sodass die kolonialrassistischen Hinterlassenschaften des französischen Expansionsstrebens keine Aufarbeitung des Kolonialismus in Frankreich nach sich ziehen. Stoler (2011, 130) verdeutlicht in ihrem Beitrag über die kolonialen Aphasien in der gegenwärtigen französischen Gesellschaft, dass es spezifische Gefühle sind, die – im Rahmen ‚rassifizierter Formationen‘ – definieren, wer als Subjekt wahrgenommen wird und wie sich daraus Handlungskompetenz ableitet. Zentral ist aber auch, dass Emotionen dazu beitragen, bestimmte Themen als (erinnerungspolitische) „Probleme“ überhaupt erst zu konstruieren (vgl. Stoler 2011, 130). Im französischen Fall haben wir es jedoch mit der Abwesenheit eines solchen Problembewusstseins zu tun. Die Rückgabe der Schädel steht in keinerlei Verhältnis zur französischen Kolonialgeschichte, wodurch sie sich einer möglichen Aufarbeitung entziehen kann. Deutlich wird dies beispielsweise an der Rede von den „Rebellen“ und „Aufständischen“ gegen die französische Herrschaft, wodurch jedoch implizit die koloniale Expansion in Nordafrika legitimiert und folglich die Gewaltförmigkeit des Kolonialismus unzureichend kritisch reflektiert wird. Stattdessen steht als hauptsächliches Ziel die Wiederanbahnung bilateraler Beziehungen zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und seiner Kolonie im Fokus des Interesses. Die diskursive affektive Entinnerung der Schädel in Frankreich ist demzufolge die Voraussetzung für die Aufnahme bilateraler Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. Eine Annäherung hinsichtlich erinnerungspolitischer Fragestellungen hat dabei jedoch nicht nur symbolischen Charakter, sondern ist wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung der künftigen bilateralen Beziehungen der beiden Länder. In Le Figaro heißt es dahingehend: „La question mémorielle reste au cœur des relations volatiles entre la France et l’Algérie, où la perception est que la France ne fait pas assez pour solder son passé colonial“ („L’Algérie attend des excuses de la France pour son passé colonial“, 05.07.2020, lefigaro.fr). Außenpolitisch bewegt sich Frankreich im Spannungsverhältnis, einerseits Zugeständnisse gegenüber der algerischen Seite machen zu müssen, andererseits aber das historische Selbstverständnis Frankreichs nicht zur Disposition stellen zu können. Die Rückgabe der Schädel kann auch deswegen als Marker der Neugestaltung der Beziehungen zu Algerien interpretiert werden, da mit ihr ein anderes, sehr viel kontroverser dis-

„Les crânes d’amnésie“ – Die Repatriierung der ‚algerischen Rebellenschädel‘ 

 293

kutiertes Thema ins Hintertreffen geriet: die ebenfalls von Algerien im Jahr 2018 geforderte Rückgabe von Archivbeständen (vgl. Kap. 10). Deren geforderte Restitution spielte, neben einigen wenigen Nennungen, kaum eine Rolle in der französischen Berichterstattung. Die algerische Presse hingegen insinuiert, dass der Grund für die Verzögerung der Schädelrückgaben Frankreichs Zurückhaltung hinsichtlich einer möglichen Restitution der Archive war (vgl. „Ce dossier ne doit pas être otage de considérations politiques“, 05.07.2020, elwatan.com). Die Zurückweisung von Restitutionen erklärt sich damit, dass diese zum einen das französische Verständnis von kulturellem Erbe grundsätzlich infrage stellen und zum anderen das Machtgefüge gegenüber Algerien hinsichtlich der Kontrolle, des Zugangs und der Deutung historischer Quellen neu ordnen würde. Aus diesem Grund macht eine anonyme Quelle aus Élyséekreisen schon 2017 nach der von Macron in Ouagadougou gehaltenen Rede in einem Artikel in Le Figaro deutlich: „L’Élysée a, depuis le Burkina Faso, laissé entendre que la politique de Restitution ne serait pas massive, et que l’État ferait la distinction entre les restes humains et les œuvres d’art“ (Bommelaer und Biétry-Rivierre 7.12.2017, Le Figaro, 32). Auf der einen Seite wird somit an der bisherigen Entscheidungspraxis festgehalten, die Rückgaben weiterhin als Einzelfälle zu behandeln, wodurch auch keine Modifikation der bisher etablierten Regelung zur Verabschiedung von Sondergesetzen vorgesehen ist. Auf der anderen Seite wird damit am Verständnis des unveräußerlichen patrimoine festgehalten. Das Zugeständnis, menschliche Gebeine zu repatriieren, war vor allem deshalb unstrittig, weil deren Status als ‚sensible Objekte‘ mittlerweile anerkannt und somit deren Herauslösung aus dem französischen Kulturerbe aufgrund vorangegangener Rückgaben denkbar geworden ist. Statt also als eine „affaires des crânes“ bilateralen Ausmaßes thematisiert zu werden (Arroudj, 03.07.2020, Le Figaro, 10), zeigt die Analyse der französischen Berichterstattung, dass die ‚algerischen‘ Schädel und die Debatten über deren Repatriierung gegenüber außen- und sicherheitspolitischen Fragestellungen nachrangig behandelt werden. Abgesehen von einigen Beiträgen in Le Monde ist in der Berichterstattung 2020 besonders auffallend, dass maßgeblich Le Figaro über die Schädelrückgaben berichtet und diese als ein außenpolitisches Thema adressiert. Schon 2017 heißt es in einem Artikel recht unverblümt, dass die Bekämpfung des Terrorismus oder die fallenden Ölpreise für die zukünftige bilaterale Zusammenarbeit zwischen Algerien und Frankreich wichtiger seien als eine Aufarbeitung der Vergangenheit (vgl. Oberlé, 05.12.2017, Le Figaro, 12). Im Jahr 2020 werden noch weitere Streitpunkte zwischen Algerien und Frankreich benannt, wie die Verschwundenen des Algerienkriegs, die Offenlegung geografischer Karten, die die

294 

 Die vergessenen Schädel?

Minenfelder der Grenzregion zu Tunesien anzeigen,44 sowie Entschädigungen für die Nuklearversuche in der Sahara in den 1960er Jahren (vgl. Bobin, 31.07.2020, Le Monde, 2). Folglich unterstreicht der algerische Präsident Tebboune, dass die Repatriierung als Vorbedingung zu werten ist, um ein „Klima“ zu erzeugen, „plus serein pour des relations économiques, pour des relations culturelles, pour des relations de voisinage“ („L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anti-coloniaux“, 05.07.2020, la-croix.com). Die Klärung erinnerungspolitischer Konflikte ist somit die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Kooperation zwischen den beiden Ländern. Folglich eröffnet die Repatriierung einen neuen Handlungsspielraum für die algerische Seite, der es Tebboune erlaubt, weitere erinnerungspolitische Schritte von Frankreich abzufordern („L’Algérie attend des excuses de la France pour son passé colonial“, 05.07.2020, lefigaro.fr). Weil die ‚algerischen‘ Schädel weder innenpolitisch als kontrovers konstruiert werden noch eine Herausforderung für die frankoalgerischen Beziehungen darstellen, kann ihre Rückgabe schließlich als Entspannungspolitik zwischen den beiden Ländern und folglich als Beginn des politischen ‚Tauwetters‘ (dégel) gedeutet werden (vgl. „Les restes de 24 combattants enterrés à Alger“, 06.07.2020, La Croix, 9; „L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anti-coloniaux“, 05.07.2020, la-croix.com). Die Diskursanalyse hat gezeigt, dass die Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel vor dem Hintergrund einer außenpolitischen Neuausrichtung der Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien betrachtet werden muss. Cynthia Scott hat in ihrem Buch Cultural Diplomacy and the Heritage of Empire: Negotiating Postcolonial Returns (2020) nachgezeichnet, auf welche Weise Restitutionen als Mittel kultureller Kooperation zu einem festen Bestandteil des sich verstärkenden Paradigmas entwicklungspolitischer Zusammenarbeit zwischen den Kolonialmächten und ihren ehemaligen Kolonien wurden. Mittels Kulturpolitik könne somit der Einfluss in den ehemaligen Kolonien abgesichert und folglich die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse aufrechterhalten werden (vgl. Scott 2020, 11–12). Spezifisch für die franko-algerischen Beziehungen ist dabei die Klärung erinnerungspolitischer Konflikte als Voraussetzung für das Gelingen bilateraler Kooperationen. Erinnerungspolitik als Ausdruck einer cultural diplomacy verdeutlicht hier, wie das Inaussichtstellen von Restitutionen und Repatriierungen kein Ausdruck großmütiger Benevolenz ist, sondern dass die Herausgabe von Sammlungsbeständen immer auch einem politischen Zwecken dient (vgl. Scott 2020). Die affektive Entinnerung der kolonialen Sammlungsbestände war dabei

44  Erst 2007 hat die französische Regierung die Karten offengelegt. Die Verminung der Grenzregion hat auch nach der Unabhängigkeit Algeriens noch viele Tote gefordert (vgl. Bobin, Le Monde, 31.07.2020).

„Die vergessene Schuld“? 

 295

eine Voraussetzung, um die außenpolitische Annäherung an Algerien priorisieren zu können. Im Folgenden untersuche ich die hier aufgezeigten Ambivalenzen affektiver Er- und Entinnerung anhand der Repatriierungen von human remains nach Namibia, die in den Jahren 2011, 2014 und 2018 stattgefunden haben.

9.4 „ Die vergessene Schuld“? Die Repatriierungen menschlicher Gebeine der OvaHerero und Nama Anders als im französischen Repatriierungsfall stößt die Rückgabe der menschlichen Gebeine nach Namibia auf ein größeres mediales Echo. Vormals hatte es nur zwei Repatriierungen gegeben: Im Jahr 1954 wurden der Schädel des WaheheChiefs Mkwawa nach Tanganjika und 2011 zwei Maori-Schädel nach Neuseeland zurückgegeben. Beide Rückgaben fanden allerdings recht unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit statt (vgl. Stoecker 2016, 470). Das besondere Interesse an den Schädelrückgaben nach Namibia begründet sich zum einen mit der großen Anzahl menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten, die sich weiterhin in deutschen Museumsbeständen befinden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) beispielsweise übernahm im Jahr 2011 5000 Schädel aus der Sammlung des Anthropologen Felix von Luschan (1854–1924), die vorher der Charité gehörte. Insgesamt befinden sich ca. 6300 Schädel allein in der Sammlung der SPK (vg. Jöbstl, 18.08.2017). Weiterhin wird den Repatriierungen der human remains auch deswegen eine besondere Bedeutung zugeschrieben, weil sie Beweise des Völkermords im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ sind und folglich mit dessen Aufarbeitung verschränkt werden (vgl. Faber-Jonker 2020, 35). Die OvaHerero und Nama verknüpfen die Rückgaben daher von Beginn an mit den Forderungen nach Anerkennung, Entschädigung und Entschuldigung. Zusätzlich erhöht sich der Nachrichtenwert auch deswegen, weil die Repatriierungen als Erinnerungsereignisse ausgerichtet sind und folglich die diplomatischen Beziehungen zwischen Namibia und Deutschland in den Fokus rücken. Als weiterer zentraler Punkt kommt hinzu, dass – im Gegensatz zum französischen Fall – die im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Genozids verhandelte Kontinuität zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt schon frühzeitig den Blick auf den wissenschaftlich beförderten Rassismus während des Kolonialismus lenkt. In der folgenden Analyse konzentriere ich mich zuerst auf die mediale Darstellung der Repatriierungsfeierlichkeiten in den Jahren 2011, 2014 und 2018. Im Anschluss befasse ich mich mit der Einbettung der Schädelrückgaben in die Geschichte kolonialanthropologischer ‚Rasseforschung‘ und den dabei gezogenen historischen wie erinnerungspolitischen Verknüpfungen mit dem Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Konsequenzen für die gegenwärtige Aufarbeitung des Kolonialismus.

296 

 Die vergessenen Schädel?

9.4.1 Die Schädelrückgaben als diplomatischer „Drahtseilakt“ In den erst spät einsetzenden deutsch-namibischen Aushandlungen der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, war die Rückgabe menschlicher Gebeine schon frühzeitig ein wichtiges Anliegen der namibischen Regierung. Kößler beispielsweise unterstreicht in seinem Buch Negotiating the Past. Namibia and Germany (2015, 283) die Bedeutung, die der Raub der sterblichen Überreste in der mündlichen Überlieferung der namibischen Geschichte einnimmt. Doch erst, als im Juli 2008 die MDR-Fernsehsendung FAKT über die namibischen Gebeine in den deutschen Museen berichtet, kündigt die namibische Regierung Schritte an, deren Repatriierung zu realisieren (vgl. Kößler 2015, 284). Zum Jahresende 2009 folgt die Beantragung der offiziellen Rückführung menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten durch die namibische Regierung. In der Medienberichterstattung changiert zu dieser Zeit die Zahl der aus Namibia stammenden Schädel zwischen 300 bis 3000. Da die Bestände jedoch zu Teilen nicht erforscht bzw. die Überlieferungen schlichtweg nicht vorhanden sind, können nur sehr unzuverlässige Aussagen zu den genauen Zahlen gemacht werden (vgl. Wegmann 2013, 400). Mit Sicherheit konnte jedoch bei 72 Schädeln der Berliner Sammlung das heutige Namibia als Herkunftsort bestimmt werden (vgl. Faber-Jonker 2020, 34; Stoecker 2016, 479). Da die Forschungsaktivitäten zur Untersuchung der Provenienzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Freiburg zu einem verspäteten Abschluss gelangten und sich außerdem die Verhandlungen zwischen den Botschaften in Deutschland und Namibia hinzogen, wurde die Übergabe schließlich für September 2011 terminiert (vgl. Kößler 2015, 286). Vor dem Hintergrund dieser langwierigen Verhandlungen muss der von den Medien als diplomatischer „Eklat“ oder „Drahtseilakt“ (Habermalz, 23.08.2018) bezeichnete Auftritt der Staatsministerin Cornelia Pieper (FDP) betrachtet werden, den sie mit ihrer Rede während der feierlichen Zeremonie der Schädelübergabe in der Charité provozierte (vgl. „Cornelia Piepers Eklat“, 01.10.2011, SZ, 17). Auslöser für den „Eklat“ war das frühe Verschwinden der Staatsministerin Pieper, aber auch die Rede, die sie zum Anlass der Rückgabe am 30. September 2011 in der Charité hielt. Darin spart sie sowohl die Anerkennung des Völkermords als auch entschuldigende Worte für diesen aus und erbittet stattdessen Versöhnung: Die heutige Feierstunde soll sich aber nicht nur im Gedenken an die Opfer erschöpfen. Ich bitte an dieser Stelle im Namen der Bundesregierung das namibische Volk um Versöhnung. […] Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Wir können uns aber der Vergangenheit stellen, diese erforschen und aus den gewonnenen Erkenntnissen Konsequenzen für die Gestaltung der Zukunft ziehen. Das im Zusammenhang mit Fragen der Vergangenheitsbewältigung oft in Erinnerung gerufene Zitat Wilhelm von Humboldts

„Die vergessene Schuld“? 

 297

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ bringt es auch hier auf den Punkt. Auch der heutige Anlass ist ein Akt der Bewusstwerdung unserer geteilten Geschichte, der uns Gelegenheit zum Nachdenken über die künftige Ausgestaltung unseres gegenseitigen Verhältnisses gibt. […]. Ich meine damit nicht nur, dass Deutsche die größte Gruppe ausländischer Touristen in Namibia stellen […] In der Entwicklungszusammenarbeit leistet auch die Bundesrepublik Deutschland ihren Teil – mit weit über eine halben Milliarde Euro seit der Unabhängigkeit Namibias. (Rede der Staatsministerin Cornelia Pieper, 30.09.2011)

Piepers Rede steht in der Tradition bisherigen Regierungshandelns, das Formulierungen zu vermeiden sucht, die eine offizielle Anerkennung des Völkermords bedeuten oder Reparationszahlungen begründen könnten. Stattdessen fokussiert die Staatsministerin auf eine Intensivierung künftiger Entwicklungszusammenarbeit, woraus sie die Forderung einer ‚Versöhnung‘ ableitet, die ohne die offizielle Anerkennung des Völkermords auskommt. Entsprechend wurde mit der namibischen Regierung die Übereinkunft getroffen, dass die von aktivistischen Gruppen geforderten Entschädigungen für das deutsche Kolonialunrecht während des Aufenthalts nicht zum Gegenstand gemacht werden sollen (vgl. Drucksache 17/7749, 15.11.2011, 4). Indem die deutsche Regierung die Bedingungen definieren kann, unter denen eine Rückgabe der Schädel erfolgt, tritt das hierarchische Machtgefüge zwischen Deutschland und Namibia zutage (vgl. Kößler 2015, 300). Zwar muss eine Entschuldigung nicht notwendigerweise mit einer Vereinbarung zur Zahlung von Reparationen einhergehen; will sie aber ‚erfolgreich‘ sein, müssen dennoch politische Konsequenzen folgen (vgl. Ahmed 2004, 116– 117), da eine Entschuldigung eine Verhaltensänderung oder eine zukünftige Verpflichtung dazu impliziert (vgl. Ahmed 2004; Barkan 2002). Indem Pieper direkt zur „Versöhnung“ aufruft, ohne eine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Betracht zu ziehen, sucht sie nach „words that do less“, wie Ahmed (2004, 117) treffend ausgedrückt hat. Die Existenz der sterblichen Überreste der OvaHerero und Nama in deutschen Sammlungen wird als Folge vom Grund ihrer Verwahrung – nämlich dem Genozid und der kolonialanthropologischen Sammlungspraxis – entkoppelt (vgl. Kößler 2015, 300). Allerdings lehnt es die deutsche Medienberichterstattung als ‚unangemessen‘ ab, dass der Völkermord während der Übergabezeremonie nicht benannt wird. Weiterhin besteht der „Eklat“ auch darin, dass Pieper als Reaktion auf die sie ausbuhenden deutschen Aktivist:innen die Zeremonie vorzeitig verließ, ohne die Rede des namibischen Kulturministers Kazenambo Kazenambo abzuwarten. Die Bundesregierung begründet das Verhalten der Staatsministerin mit der „aufgebrachte[n] Stimmung und [der] konfrontative[n] Grundhaltung einiger Teilnehmer“, wobei allerdings klargestellt wird, dass die Störungen nicht von der namibischen Delegation ausgingen (Drucksache 17/7749, 15.11.2011, 7). In den Medien herrscht hingegen

298 

 Die vergessenen Schädel?

Einigkeit darüber, dass das Verhalten der Staatsministerin „beschämend“ und „peinlich“ (Hintze, 04.10.2011, ND, 6) sei und dass der damit provozierte diplomatische „Eklat“ Deutschlands mangelndes Schuldeingeständnis zum Ausdruck bringe. Die namibische Delegation zeigte sich zudem „irritiert“ über die Abwesenheit eines deutschen Amtskollegen (Johnson und Beis, 01.10.2011, taz, 7), wodurch die deutsche Regierung ihr fehlendes Feingefühl für den festlichen und würdevollen Akt der Schädelübergabe ausdrücke. Der Kulturminister warf der deutschen Regierung eine „erniedrigende Missachtung [und einen] Mangel an Sensibilität und Intoleranz“ vor (Hintze, 04.10.2011, ND, 6). Der von Pieper ausgelöste „Eklat“ wird somit mit den emotionalen Diskursen der ‚Empörung‘ und ‚Scham‘, aber auch der ‚Irritation‘ und ‚Wut‘ besetzt, woraus eine mediale Legitimierung der Forderungen der OvaHerero und Nama nach einer offiziellen Entschuldigung sowie nach Reparationszahlungen resultiert. Der Nama-Kaptein Fredericks unterstreicht im Zusammenhang mit der Schädelübergabe das „fehlende Interesse“ der Bundesregierung, woran er seine Kritik am Ablauf der Zeremonie zum Ausdruck bringt: We have observed with deep dismay that the German Government has no interest in these Namibian People’s skulls affair from the day that we have arrived in this country and we hold the opinion that the German Government is withholding the truth from us or is shy or afraid to face the reality. […] I understood before I had come to Germany that the German Government would officially hand over the skulls to ourselves. It was thus with severe shock that I learned that a private instance should make such a handover. (Rede des Chiefs David Fredericks, 30.09.2011)

Der hier konstatierte geringe Stellenwert, der den Schädelrückgaben beigemessen wird, verdeutlicht sich im Unterbinden einer Auseinandersetzung mit den Reparations- und Entschuldigungsforderungen, im Fernbleiben des damaligen Außenministers Guido Westerwelle (FDP) sowie in der entwicklungspolitischen Schwerpunktsetzung. Die bundesrepublikanische Politik verfolgt demnach eine Strategie des affektiven Entinnerns, bei der die Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit und die damit verknüpfte Forderung nach Reparationen nicht zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden sollen (vgl. Garsha 2020, 48). Stattdessen rückt die zukünftige Gestaltung der diplomatischen Beziehungen zu Namibia ins Zentrum. In der Medienberichterstattung setzt sich jedoch die kritische Sichtweise der Aktivist:innen durch, und die Markierung des scheinbaren „Desinteresses“ an der kolonialen Vergangenheit wird zur Kritik an der offiziellen erinnerungspolitischen Haltung der Bundesregierung. Im ND es heißt dahingehend:

„Die vergessene Schuld“? 

 299

Aber es sind nur 20 von schätzungsweise 7000 Schädeln, die in deutschen Sammlungen liegen. Die genauen Zahlen sind bis heute nicht bekannt. Ein Zeichen für das Desinteresse an kolonialem Unrecht, das sich bis heute gehalten hat. Die Schädel wurden zersägt, vermessen, seziert, um die angebliche Minderwertigkeit dieser Menschen wissenschaftlich zu untermauern. Auch sie hätten längst an die Nachfahren zurückgegeben werden müssen. Stattdessen sind die Namibier bis heute gezwungen, als Bitsteller über die Rückgabe zu verhandeln. (Wallrodt, 01./02.10.2011, ND, 6, Hervorhebung S. R.)

Die Journalistin Ines Wallrodt macht mit diesem Kommentar ebenfalls auf den begrenzten Handlungsspielraum postkolonialer Akteur:innen aufmerksam. Restitutionen und Repatriierungen werden zusätzlich dadurch erschwert, dass die Kenntnis über die vorhandenen Bestände in den Ländern des Nordens fehlt. Die mangelnde Aufarbeitung der kolonialen Sammlungsbestände, die die Journalistin als westliches „Desinteresse“ markiert, zeigt, auf welche Weise die geteilte Gewaltgeschichte zwischen der ehemaligen Kolonialmacht und den Kolonisierten ignoriert werden kann und sich somit als asymmetrisches Machtverhältnis fortschreibt. Als affektive Strategie des Entinnerns beschreibt das ‚Desinteresse‘ eine bewusst gewählte Handlungsunfähigkeit, bei der in der Rhetorik um die Verantwortungsdiffusion zwischen Bund und Ländern die Handlungsmacht nicht aufseiten der staatlichen Akteur:innen verortet wird. Als Folge liegt die Verantwortung bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, kritischen Medien, aber auch den Institutionen selbst, die die Museumsbestände und die ungleichen postkolonialen Beziehungen offenlegen (vgl. Kößler 2015, 290). Insbesondere die Charité und die Freiburger Universität fallen durch ihr frühes Engagement hinsichtlich der Einleitung von Rückgaben auf. Allerdings tritt bei der zweiten Übergabe im Jahr 2014 noch offenkundiger die Kritik am bundesrepublikanischen ‚Desinteresse‘ gegenüber der kolonialen Vergangenheit zutage. Dass die Rückgaben von 14 Schädeln aus der Freiburger und 21 aus der Berliner Sammlung auf der Initiative der Charité und der Freiburger Universität beruhten (vgl. Kößler 2015, 308), erneuerte die an die Bundesregierung gerichtete Kritik, dass der Repatriierung menschlicher Gebeine nicht die nötige Wichtigkeit beigemessen werde. Der ehemalige deutsche Botschafter in Namibia, Egon Kochanke, der im Jahr 2014 in seiner neuen Funktion als Afrikabeauftragter der Bundesregierung in der Charité anwesend war, hatte zuvor schon die Übergabe im Jahr 2011 als eine „private Aktivität“ bezeichnet, was das Fernbleiben hochrangiger Regierungsvertreter:innen rechtfertigen würde. Die Bundesregierung verweist wiederholt auf ihre vermittelnde Rolle, da es Sache der Länder sei, ihre jeweiligen Museumsbestände zu erforschen und eine Repatriierung in die Wege zu leiten (vgl. Drucksache 17/7749, 15.11.2011, 5). Deutlich wird die für die Bundesrepublik typische Verantwortungsdiffusion zwischen Bund und Ländern, die der Bund dazu nutzt, um eine federführende Rolle in der Initiierung von Repa-

300 

 Die vergessenen Schädel?

triierungen zurückzuweisen (vgl. „Charité gibt Schädel und Gebeine an Namibia zurück“, 06.03.2014, FAZ, 4). Dass der Übergabetermin äußerst kurzfristig festgesetzt wurde und man es vermied, die betroffenen Communitys einzubeziehen, legt für Kößler (2015, 309) die Vermutung nahe, dass ein größeres öffentliches Interesse unterbunden werden sollte. Letztlich wird der Rückgabe von 2014 kein vergleichbares Medieninteresse wie 2011 zuteil, was sich auch in der geringen Publikationstätigkeit im Zusammenhang mit diesem Ereignis spiegelt. Am 29.  August 2018 fand die dritte und bisher letzte Schädelübergabe im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes im Französischen Dom in Berlin statt. Der Gottesdienst wurde von der Auslandsbischöfin der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Petra Bosse-Huber, und dem Oberhaupt der namibischen lutherischen Kirche, Bischof Ernst Gamxamub, abgehalten. Anwesend waren weiterhin die namibische Kulturministerin Katrina Hanse-Himarwa45 sowie die Staatsministerin des Auswärtigen Amts, Michelle Müntefering (SPD). Zurückgegeben wurden 19 Schädel, einige Skelette, eine Kopfhaut, ein Schulterblatt und ein Unterkiefer, die sich bisher in verschiedenen Sammlungen in Berlin, Greifswald, Witzenhausen, Jena, Hannover und Hamburg befunden hatten. Ein Schädel stammte zudem aus privatem Besitz (vgl. „Bitte um Vergebung“, 30.08.2018, SZ, 6). Wie zuletzt im Jahr 2011 war auch diesmal eine namibische Delegation aus 40 Vertreter:innen verschiedener namibischer Communitys angereist. Mit der Wahl des Französischen Doms und des Abhaltens eines Gedenkgottesdienstes wurde ein religiöser Rahmen gewählt, der im Gegensatz zum „unwürdigen Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit“ im Jahr 2011 stehen sollte (Fauth, 30.08.2018, ND, 7). Dass es eine Gedenkfeier nebst Zeremonie geben werde, wird in der Medienberichterstattung als Versuch gewertet, „es besser zu machen als vor sieben Jahren“ und es „[d]iesmal […] würdiger zugehen“ zu lassen (Otto, 28.08.2018, ND, 6). Als Novum gilt auch, dass Staatsministerin Müntefering und der Sondergesandte für Namibia Ruprecht Polenz gemeinsam zur Übergabe der menschlichen Gebeine nach Windhuk gereist waren (vgl. Habermalz, 29.08.2018, deutschlandfunk.de). Wiederholt wird auf den „Eklat“ von 2011 Bezug genommen, auf Piepers frühzeitiges Verlassen der Veranstaltung, das fehlende Zeremoniell sowie den Umstand, dass die Schädel „in weißen Pappkartons übergeben worden [waren], als sei die Sache nicht der Rede wert“ (Fauth, 30.08.2018, ND, 7). Angesichts des häufigen Rückbezugs auf die Übergabe im Jahr 2011 ist es verwunderlich, dass der Ablauf der Zeremonie im Jahr 2018 im ausgewerteten Quellenbestand kaum gewürdigt wird. Im Deutschlandfunk, dessen Berichterstattung hier exemplarisch herangezogen wurde, beschreibt die

45  Leider war es mir nicht möglich, auf ihre komplette Rede zuzugreifen. Mir sind folglich nur die Zitate bekannt, die in der Presse wiedergegeben worden sind.

„Die vergessene Schuld“? 

 301

Journalistin Christiane Habermalz die Gedenkzeremonie etwa als „bewegend“ und „feierlich“ und als „Meilenstein im Prozess der Aufarbeitung deutscher kolonialer Schuld“ (Habermalz, 29.08.2018, deutschlandfunk.de). Allerdings stieß die geplante Repatriierung im Vorfeld der Zeremonie auf ein größeres Medieninteresse. In verschiedenen Artikeln wurde die Befürchtung eines weiteren „Eklats“ geäußert (Schrörs, 24.08.2018, faz.net), weil insbesondere Kritiker:innen der deutschnamibischen Verhandlungen keine offizielle Einladung zur Übergabe der menschlichen Gebeine erhalten hatten (vgl. Habermalz, 23.08.2018, deutschlandfunk.de). Prominente Erwähnung findet dabei der Paramount Chief Vekuui Rekuro, der im Jahr 2017 erneut eine Klage zur Erwirkung von Entschädigungen vor US-amerikanischen Gerichten eingereicht hatte, was nun als Grund für die stockenden Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia angeführt wird (vgl. Sonderbeauftragter Polenz zit. in: Schrörs, 24.08.2018, faz.net). Aufgrund der zeitlichen Nähe wird die Klageeinreichung als weiteres bedeutendes Diskursereignis wiederholt in den Kontext der Repatriierungen gestellt, um somit die Fragen nach der Anerkennung des Völkermords, der Zahlung von Reparationen und der Formulierung einer Entschuldigung zu thematisieren. Diese Trias, wie sie schon die Berichterstattung im Jahr 2011 prägte, bleibt somit auch Gegenstand der medialen Auseinandersetzung sieben Jahre später. Gleichzeitig treten aber auch in der deutschen Presse stärker die abweichenden Haltungen der verschiedenen Verhandlungsparteien hervor, wodurch sich eine Diversifizierung der Akteur:innen vollzieht, die in der Medienberichterstattung abgebildet werden. Während in den Jahren zuvor zumeist nur die Paramount Chiefs der OvaHerero zu Wort kamen, erlangen nun auch die Nama-Verbände eine größere Sichtbarkeit in der Presse, wie beispielsweise Ida Hoffmann für das Nama Genocide Technical Committee. Weiterhin werden Esther Muinjangue für die OvaHerero Genocide Foundation sowie Israel Kaunatjike und Christian Kopp für das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, aber auch Vertreter:innen US-amerikanischer Initiativen mit ihren Positionen sichtbar (vgl. Kimmerle, 28.08.2018, taz.de). Genannte Gruppen und Personen waren als Unterstützer:innen der Klage allesamt nicht bei der Zeremonie anwesend (vgl. Schrörs, 24.08.2018, faz.net). Ihr Engagement für die Anerkennung des Genozids und für Reparationen wird hier als transnational erkennbar, manifest durch den Zusammenschluss deutscher Aktivist:innen mit den ‚ausgeladenen‘ namibischen Akteur:innen. Gemeinsam bringen sie ihre Kritik am Vorgehen der namibischen Botschaft in Deutschland und des Auswärtigen Amts zum Ausdruck. In weiten Teilen stehen die Perspektiven aktivistischer Gruppen im Fokus, was beispielsweise anhand der wiederkehrenden medialen Bezugnahme auf die als Protest gestaltete Mahnwache vor dem Dom deutlich wird.

302 

 Die vergessenen Schädel?

Die genannten Bündnisse und Organisationen äußern insbesondere Kritik an der Wahl der Kirche als Ort der Zeremonie. Rukoro, der schließlich doch mit einem Redebeitrag auf der Gedenkveranstaltung vertreten ist, fragt ins Auditorium, warum „die Verantwortung auf die Komplizen“ abgeschoben werde. „Als gäbe es kein anderes würdiges Gebäude in ganz Berlin, das 450 Menschen aufnehmen kann“ (Habermalz, 29.08.2018, deutschlandfunk.de). Für Israel Kaunatjike vom Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ kommt als würdigerer Rahmen nur „eine staatliche Rückgabezeremonie im Bundestag“ infrage (Schrörs, 24.08.2018, faz. net), wozu dann auch eine offizielle Entschuldigung gehören würde. Trotz des Versuchs, nicht die gleichen Fehler wie 2011 zu machen, wird vor allem das religiöse Zeremoniell von den opponierenden Aktivist:innen als „respektlos“ und „unwürdig“ bezeichnet (Kimmerle, 29.08.2018, taz.de). Grund hierfür ist, dass die Wahl einer kirchlichen Zeremonie einer Entpolitisierung der Schädelübergabe gleichkommt, da die Forderungen nach einer Entschuldigung sowie der Zahlung von Entschädigungen ausgeklammert werden können. Während aus aktivistischer Sicht ein würdevoller Umgang die Adressierung politischer Fragestellungen zu einer Voraussetzung macht, nutzt die Bundesregierung den rhetorischen Bezug auf den Begriff „Würde“, um eine Politisierung der Repatriierung zu vermeiden. Diese Strategie zeigt sich auch in der von Staatsministerin Müntefering formulierten Rede im Französischen Dom, bei der die Forderungen der OvaHerero und Nama keine Erwähnung finden. Als Widerhall von Wieczorek-Zeuls Rede, die sie im Jahr 2004 anlässlich des 100-jährigen Gedenkens an den Völkermord in Namibia gehalten hat, sprach die Staatsministerin zwar davon, dass „[d]ie damaligen im deutschen Namen begangenen Gräueltaten [das] waren […], was heute als Völkermord bezeichnet würde“. Einschränkend fügte sie jedoch an, dass „dieser Begriff erst später mit rechtlichen Normen unterlegt wurde“ (Rede der Staatsministerin Michelle Müntefering, 29.08.2018). In erwartbarer Weise sparte die Staatsministerin somit den Begriff „Völkermord“ in ihrer Rede aus, um nicht von der offiziellen Haltung der Bundesregierung abweichen zu müssen und die Frage nach Reparationen und nach einer Entschuldigung ausklammern zu können. Dass die Schädelrückgabe nicht den richtigen Rahmen für das Aussprechen einer Entschuldigung bietet, begründet Müntefering im Vorfeld der Zeremonie mit den laufenden Verhandlungen zwischen den Sonderbeauftragten Namibias und Deutschlands, deren Ergebnissen sie „nicht vorgreifen“ will (Kimmerle, 28.08.2018, taz.de). Im Gegensatz zu Pieper, die in ihrer Rede am 30. September 2011 sagte, dass „Deutschland und die Deutschen […] ihre Vergangenheit kennen“ (Kimmerle, 28.08.2018, taz.de), hebt Müntefering zwar hervor, dass „[w]ir in unserer Gesellschaft noch viel zu wenig über diese Vergangenheit [wissen]. Es ist nun an uns, diese erinnerungspolitische Gedächtnislücke zu schließen“ (Rede der Staatsministerin Michelle Müntefering,

„Die vergessene Schuld“? 

 303

29.08.2018). Allerdings konzentriert sich die Staatsministerin im Verlauf ihrer Rede ausschließlich auf eine zusätzliche Finanzierung der Provenienzforschung, womit diese gleichbedeutend für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit steht. In der Folge wird das Thema „Repatriierung“ in die kulturpolitische Sphäre verlegt und von den Reparations- und Entschädigungsforderungen der OvaHerero und Nama entkoppelt. Im Gegensatz zum offiziellen Regierungshandeln verortet jedoch die Medienberichterstattung die Repatriierung im Kontext der stockenden diplomatischen Verhandlungen zwischen Namibia und Deutschland sowie im Rahmen der Forderungen der OvaHerero und Nama nach Anerkennung, Entschädigung und Entschuldigung. Folglich zeigen sich die erinnerungspolitisch produktiven Momente, indem die Zeitungsartikel das ihrer Ansicht nach defizitäre Regierungshandeln benennen. Dass die bundesrepublikanische Erinnerungspolitik die Repatriierung der human remains von den Forderungen der OvaHerero und Nama nach Entschädigung für den Völkermord entkoppelt, lässt auf ein affektives Entinnern schließen. Deutlich wird dies insbesondere an der geplanten Intensivierung der Provenienzforschung seit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“, die die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus vordergründig als ein kulturpolitisches Themenfeld zu etablieren versucht. Verknüpft ist dies mit der erinnerungspolitischen Strategie, das Aussprechen einer offiziellen Entschuldigung für den Völkermord zu vermeiden. Medial hingegen wird das staatliche Erinnerungshandeln mit den emotionalen Diskursen der ‚Respektlosigkeit‘ (vgl. Zeremonie 2018) und der ‚Empörung‘ (vgl. Übergabe 2011) besetzt. Das Ausklammern der Entschädigungs- und Entschuldigungsforderungen und das bescheinigte ‚Desinteresse‘ an einer Aufarbeitung des Kolonialismus wird folglich in der Medienberichterstattung als eine ‚unwürdige‘ Praxis markiert, der ein Ende gesetzt werden muss. Über die diskursive Verstetigung der ‚Empörung‘ und des Unverständnisses, dass dem Kolonialismus nicht angemessen gedacht wird, wird ihm letztlich ein Platz im öffentlichen Gedenken zuerkannt. Ähnliche Mechanismen lassen sich auch anhand der schon seit 2011 nachweisbaren diskursiven Verknüpfungen des wissenschaftlichen Kolonialrassismus mit der rassistischen NS-Ideologie feststellen.

 ie koloniale „Sammelwut“ – die Rückgaben vor dem Hintergrund der 9.4.2 D historischen kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ Schon mehrfach angeklungen sind in diesem Kapitel die ungleichen Zugangsvoraussetzungen und asymmetrischen Machtverhältnisse, die Repatriierungen erheblich erschweren. Im Fall der hier diskutierten Schädelrückgaben werden die Hürden vor allem daran deutlich, dass die OvaHerero und Nama ihre Forde-

304 

 Die vergessenen Schädel?

rungen gleichzeitig gegenüber der namibischen und deutschen Regierung durchsetzen müssen, da offizielle Repatriierungsgesuche nur von Regierungen gestellt werden können und sie nicht zur politischen Elite Namibias gehören.46 Hinzu kommt das bisherige staatliche wie institutionelle ‚Desinteresse‘, die kolonialen Sammlungsbestände aufzuarbeiten. Zum einen mangelt es an der Kenntnis über die vorhandenen Bestände kolonialer Provenienz in den westlichen Museen. Perspektivisch müssten entsprechende Inventarlisten bereitgestellt werden, um Repatriierungen und Restitutionen beschleunigen zu können (vgl. Kößler 2015, 290). Zum anderen begründen sich die Schwierigkeiten einer systematischen Rückgabe der Sammlungsbestände aber vor allem in der kolonialrassistischen Sammlungswut47, die eine eindeutige Feststellung der Provenienz verunmöglicht. Im Folgenden zeige ich, auf welche Weise die Repatriierung der Schädel zu Verknüpfungen mit der historischen ‚Rasseforschung‘ in den Medien führt. Für den deutschen Fall lässt sich erneut das Verfolgen unterschiedlicher Kontinuitätsstränge im Zusammenhang mit dem Holocaust nachvollziehen. Dies betrifft zum einen das Aufzeigen historischer Kontinuitäten, aus denen sich wiederum die Forderung für die Gegenwart ableitet, auch erinnerungspolitisch an die Aufarbeitung des Nationalsozialismus anzuknüpfen. Abschließend wird die Diversifizierung der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus nachgezeichnet. 9.4.2.1 „ Es geht um WiderstandskämpferInnen“: Zwischen nationaler Vereinnahmung in Namibia und Erzeugung von Handlungsmacht in Deutschland Wie schon zuvor herausgestellt, fällt das mediale Interesse an den Repatriierungen 2014 sehr viel geringer aus als 2011. Dabei werden jedoch erstmals die Divergenzen zwischen der namibischen Regierung und den verschiedenen aktivistischen Gruppen dargestellt (vgl. Meyer 06.03.2014, ND, 14; Müller, 07.03.2014, SZ, 13). Im Jahr 2011 traten die Konflikte zwischen den Communitys der OvaHerero

46  Die OvaHerero setzen sich schon seit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 für eine Anerkennung des Genozids und auch eine Repatriierung menschlicher Gebeine aus Deutschland ein. Pohamba nimmt in seiner Rede vom 5. Oktober 2011 auf dieses frühe Engagement Bezug, ins öffentliche Interesse in Namibia rückt die Forderung nach Repatriierungen allerdings erst ab 2006 (vgl. Kößler 2015, 283). 47 Der Begriff der „Sammelwut“ ist nicht nur ein gegenwärtiger, sondern auch ein zeitgenössischer Begriff, wie Anja Laukötter (2013, 27) in einem Beitrag zum Thema „Gefühle im Feld“ darlegt. In der Begriffswahl, so Laukötter, „ergänzen sich hier Emotionalität und Wissenschaftlichkeit komplementär bzw. sind Gefühle als produktive Kraft in der wissenschaftlichen Praxis gedacht“. Der ‚Sammelwut‘ sei demnach eine „emotionale Codierung“ eingeschrieben (Laukötter 2013, 41).

„Die vergessene Schuld“? 

 305

und Nama und der namibischen Regierung angesichts der gemeinsam hervorgebrachten Kritik am deutschen Verhalten zunächst in den Hintergrund. In der Medienberichterstattung wurden ab 2014 zunehmend auch die innernamibischen Konkurrenzen abgebildet. Eine wesentliche Friktion zeigte sich hinsichtlich der Frage, wie mit den repatriierten Gebeinen in Namibia verfahren werden soll. Die Rückgabe der Gebeine bedeutet für die OvaHerero und Nama die Möglichkeit einer würdevollen Bestattung. Ueriuka Tjikuua, der als Delegierter im Jahr 2011 nach Berlin reiste, unterstrich die Wichtigkeit, die Toten zu ehren, wenn er sagt, dass „der Weg zu Gott oder Heilung […] nur über die Ahnen [führt]. Wenn diese nicht ihre Ruhe finden, haben die Nachkommen ein ernsthaftes Problem“ (Beis, 30.09.2011b, taz, 3). Auf welche Weise restituierte Kulturgüter oder repatriierte Schädel weiterhin als Sammlungsgut in den staatlichen Museen aufzubewahren sind, wird zu einem anhaltenden Konflikt zwischen der namibischen Regierung und den betroffenen Communitys. So wurde beispielsweise 2011 entschieden, dass die Gebeine im Independence Memorial Museum aufbewahrt werden sollten. In seiner Rede zum Empfang der sterblichen Überreste auf dem Heroes Acre in Windhoek am 5.  Oktober 2011 kündigte der damalige namibische Präsident Hifikepunye Pohamba an, dass die human remains einen Beitrag leisten dabei würden, „to preserve our history for posterity and to remind future generations about the cruelty of war“ (Rede des namibischen Präsidenten Hifikepunye Pohamba, 05.10.2011, vgl. Förster 2013, 426–427). Dass die Vertreter:innen der OvaHerero und Nama hingegen nicht als legitime Repräsentant:innen anerkannt werden, befördert die innernamibischen Konflikte weiter, wie auch anhand der wiederkehrenden Auseinandersetzungen um die Besetzung der Delegationen sichtbar wird (vgl. Berg, 02.08.2017, SZ, 10). Bei der Repatriierung 2014 boykottierte ein Großteil der Vertreter:innen der OvaHerero und Nama die Gedenkveranstaltung in den Parlamentsgärten in Windhuk. In der deutschen Berichterstattung wird als Grund jedoch das Verhältnis zu Deutschland angeführt. Im ND hieß es, dass die OvaHerero und Nama „es leid [seien], immer wieder von der deutschen Regierung mit seichten Worten abgespeist zu werden“ (Ling, 11.03.2014, ND, 10). Kößler (2015, 309) macht in seiner Analyse allerdings zum einen den Alleingang der namibischen Regierung bei der Initiierung der Übergabe der Schädel mit der Charité für das Fernbleiben während der Zeremonie verantwortlich. Zum anderen verweigerten sich beide Gruppen außerdem der nationalen Vereinnahmung durch die Regierung, „that all namibians of all ethnic groups jointly had been part of anti-colonial resistance as well as victims of the genocide“ (Kößler 2015, 313). Denn, so die Haltung der OvaHerero und Nama, von Trothas „Vernichtungsbefehl“ richtete sich explizit gegen ihre Gemeinschaften und nicht gegen andere in Namibia lebende Gruppen. Dabei wird schon seit 2011 der Versuch unternommen, den repatriierten menschlichen

306 

 Die vergessenen Schädel?

Gebeinen eine identitätsstiftende Funktion zuzuschreiben. Namibias Präsident Pohamba stellt in seiner Rede im Jahr 2011 den Kolonialkrieg als antikolonialen „War of Resistance“ in eine Kontinuität mit dem „march towards Nationhood“. Entsprechend führt er aus: It is our duty to ensure, as far as possible, that the remains of all Namibians who lost their lives during the war of colonial resistance and the modern liberation struggle are repatriated to their Motherland. […] The return of these remains gives us an opportunity to pay deserving tribute to the heroic deeds of our fore-bearers. These are the heroes and heroines who made history for our nation. They carried the spirit of freedom and independence. (Rede des namibischen Präsidenten Hifikepunye Pohamba, 05.10.2011)

Der Genozid an den OvaHerero und Nama soll somit zum antikolonialen Gründungsmythos des modernen Namibia stilisiert werden (vgl. Förster 2013a, 425– 427; Kößler 2015, 313). Dabei ist eine solche Erzählung vom gleichzeitig antikolonialen und nationalen Widerstand insbesondere anhand der 2014 repatriierten Schädel nicht tragbar. Bei den aus der Freiburger Sammlung stammenden Schädeln ließ sich beispielsweise nur der ungefähre Nachweis erbringen, dass ihre Herkunft dem südwestlichen Afrika zugerechnet werden kann. Eine ethnische Zuordnung konnte dabei nicht getroffen werden, was die nationale Lesart der SWAPO-Regierung (South West Africa People’s Organisation) erschwert. Auf der anderen Seite können die repatriierten Schädel aber auch nicht als exemplarisch für die Leidensgeschichte der OvaHerero und Nama herangezogen werden. Zwar befinden sich in der Sammlung der Charité menschliche Gebeine der OvaHerero, Nama, Damara und Ovambo, allerdings können von den 20 Schädeln nur fünf dem Kolonialkrieg zugerechnet werden. Der früheste Schädel stammt aus dem Jahr 1898, andere erst von 1913. Deutlich werden hier jedoch die kolonialrassistischen Vorzeichen, unter denen diese menschlichen Gebeine nach Europa kamen. Kößler (2015, 314) spricht hier von einer „collecting mania“, bei der der Krieg eine weitere Möglichkeit bot, um Schädel für die europäischen Sammlungen zu akquirieren. Als koloniale Praktik bestand diese vor, während und nach dem Krieg. Aus diesem Grund sei es aber nicht möglich, die Repatriierung der Gebeine als Rückkehr der ‚Helden‘ zu inszenieren, die im antikolonialen Kampf ums Leben kamen. Die namibische Regierung nivelliert jedoch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen, indem alle Namibier:innen in einem vereinheitlichenden Opfernarrativ zusammengeführt werden. Interessant ist in dieser Hinsicht der Verweis auf die Rückgabe der ‚algerischen‘ Schädel und deren antikoloniale Vereinnahmung durch die Regierung. Auch in Algerien hat sich im Laufe der Zeit eine Lesart durchgesetzt, in der die algerischen ‚Helden‘ im Kampf gegen den französischen Kolonialismus ‚nach Hause‘ geholt worden sind.

„Die vergessene Schuld“? 

 307

Doch nicht nur die namibische Regierung nimmt sich des Heldennarratives an. In der deutschen Medienberichterstattung fällt für die Zeit nach der Ankündigung einer dritten Rückgabe von menschlichen Gebeinen aus den Sammlungen der Charité im Jahr 2017 auf, dass verschiedene aktivistische Stimmen zu Wort kommen, die die Gebeine als sterbliche Überreste von Widerstandskämpfer:innen gegen den Kolonialismus bezeichnen. Vor allem in der taz wird innerhalb weniger Wochen über die zumindest in Berlin bekannten Aktivist:innen Mnyaka Sururu Mboro, Mitgründer von Berlin Postkolonial  e.  V., und Israel Kaunatjike vom Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ berichtet. Mboro, der in Tansania aufgewachsen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die sterblichen Überreste von Mangi Meli „nach Hause zu bringen“ (Schleiermacher, 19.08.2017, taz, 44–45). Meli wurde 1900 von der deutschen Kolonialadministration für seinen Widerstand gegen die Kolonisierung des Landes, das heute zu Tansania gehört, gehängt. In einem Interview in der taz wird Mboro gefragt, warum er sich seit Jahrzehnten für die Repatriierung menschlicher Gebeine einsetzt, worauf er antwortet: „Es geht um unsere Vorfahren, zum Teil historisch bedeutsame Menschen, die Kriege gegen die deutschen Kolonisatoren angeführt haben: Es geht um WiderstandskämpferInnen“ (Wierth, 04.08.2017, taz, 23). Berlin Postkolonial erklärt dabei die Umbenennung von Straßennamen in der Hauptstadt zum Vereinsziel, um „auf den Widerstandskampf gegen die Kolonialmächte aufmerksam [zu] machen und an Menschen [zu] erinnern, die sich gegen rassistische und koloniale Strukturen behauptet haben“, wie es in einem Schwerpunkt der taz. am Wochenende aus dem Jahr 2017 heißt (Schleiermacher, 19.08.2017, taz, 44–45). Darin schreibt die Journalistin Uta Schleiermacher, dass die über 1000 Schädel, die in der Charité oder im Ethnologischen Museum einlagern, „vielfach von Widerstandskämpfer*innen [stammten], die für rassistische Forschungen nach Berlin gebracht worden waren“ (Schleiermacher, 19.08.2017, taz, 44–45). Anhand der medialen Darstellung lässt sich zum einen eine Diversifizierung der Thematik beobachten, in der auch weitere deutsche Kolonialismen wie beispielsweise der Maji-Maji-Aufstand im heutigen Tansania einen Platz finden. Zum anderen erfüllt die von den Aktivist:innen hervorgebrachte Rhetorik vom Widerstand allerdings einen anderen Zweck als für die algerische oder namibische Regierung. In der Widerständigkeit der Kolonialisierten drückt sich deren Handlungsmacht aus, mit der die dominante Konstruktion vereinheitlichender Opfernarrative gebrochen und ihnen in der Gegenwart eine weitere Bedeutung zugeschrieben wird (vgl. Faber-Jonker 2020, 56). Der Herero-Aktivist Kaunatjike wählt hingegen eine weitere Form der Perspektivverschiebung, um auf den Bestand an Schädeln aus kolonialen Kontexten in deutschen Sammlungen zu skandalisieren: Er zieht den Vergleich zum Nationalsozialismus und zum Holocaust.

308 

 Die vergessenen Schädel?

9.4.2.2 E  ine deutsche Besonderheit? Die Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus Die Verhandlung der Kontinuität von Windhuk nach Auschwitz lenkt schon im Kontext der Schädelrückgabe 2011 den Blick auf den wissenschaftlich beförderten Rassismus während des Kolonialismus – anders, als sich das für den französischen Fall beobachten ließ. Diskutiert werden beispielsweise die im ehemaligen „Deutsch Südwestafrika“ eingerichteten Konzentrationslager. Historische Arbeiten konnten zeigen, dass nach der Aufhebung von von Trothas „Vernichtungsbefehl“ die Überlebenden, zu denen auch Frauen und Kinder zählten, in Lagern interniert worden sind (vgl. Beis, 30.09.2011a, taz.de; Kreienbaum 2015, 2021; Zeller 2011 [2004]). Insbesondere Zimmerer (2011 [2004], 63) stellt in seinen Arbeiten direkte Bezüge zu den späteren Lagern des Nationalsozialismus her, indem er schreibt, dass „bereits Anfänge einer bürokratischen Form der Vernichtung im Lager“ zu erkennen seien, die „für den Holocaust als kennzeichnend“ zu betrachten sind. Die „Ermordung durch Vernachlässigung“ in den Lagern „Deutsch-Südwestafrikas“ ist demnach der Vorläufer des bürokratischen Massenmords des Nationalsozialismus (Zimmerer 2011 [2004], 63; vgl. Kap. 5.2). Die Erfahrungen in den kolonialen Konzentrationslagern beschrieben somit ein Testgelände, in dem kolonialrassistische Praktiken und der wissenschaftliche Rassismus eine Einheit eingehen konnten. In der FAZ werden bereits 2011 die Verbindungen zwischen dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus folgendermaßen hervorgehoben: „Der Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika habe die Ereignisse der vierziger Jahre im Dritten Reich vorweggenommen. Die Wissenschaft, auch die Medizin, habe am damals üblichen ‚wissenschaftlichen Rassismus‘ teilgehabt“ (Küpper, 01.10.2011, FAZ, 9). Als Beispiel wird auch der Arzt Eugen Fischer angeführt, der als Begründer der Rassentheorien des Nationalsozialismus schon in der damaligen deutschen Kolonie medizinische Experimente an Häftlingen durchführte und dabei die Überführung von Schädeln nach Deutschland zu rassenanthropologischen Untersuchungen anordnete (vgl. Neshitov, 27.09.2011, SZ, 11). Im Jahr 2014 wird schließlich mit der Rede des Vorstandsvorsitzenden des Universitätsklinikums Karl Max Einhäupl die Bedeutung der Wissenschaft für die kolonialanthropologische Sammlungspraxis zum vordergründigen Thema der Berichterstattung. Einhäuptl entschuldigt sich nicht nur für die historischen Verfehlungen seiner Disziplin. In verschiedenen Zeitungen wird er zudem mit dem Bekenntnis zitiert, dass „wir […] nicht darüber hinwegsehen [dürfen], dass hier seinerzeit im Namen der Wissenschaft die Gebote der Menschenwürde vielfach verletzt wurden“ (Meyer 06.03.2014, ND, 14). Dabei hebt Einhäupl hervor, dass die sterblichen Überreste dazu dienten, „die Ideologie des rassistischen Kolonialismus zu rechtfertigen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts alle Ebenen der deutschen Gesellschaft durchdrang“ (Müller, 07.03.2014, SZ, 13). Die kolonial-

„Die vergessene Schuld“? 

 309

rassistische Sammlungspraxis im Deutschen Kaiserreich wird wiederholt in der Berichterstattung thematisiert und als eine Mentalität beschrieben, die nicht nur die Phase des deutschen Kolonialismus, sondern auch spätere Zeiten prägte (vgl. „Charité gibt Schädel und Gebeine an Namibia zurück“, 06.03.2014, FAZ, 4; Müller, 07.03.2014, SZ, 13). Die rassentheoretischen Ideologien, die sowohl den Kolonialismus als auch den Nationalsozialismus kennzeichnen, begründen somit die wiederholte Verknüpfung der beiden Vergangenheiten in der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit. Bezugnahmen zum Nationalsozialismus werden aber nicht nur hergestellt, um auf die historischen Kontinuitäten zu verweisen, sondern vor allem, um erinnerungspolitische Verbindungen zur Einordnung des Gedenkens in der Gegenwart herzustellen (vgl. Kap. 8). Die Terminologie der „kolonialen Amnesie“, die vor allem von deutschen Intellektuellen und Wissenschaftler:innen verwendet wird,48 beschreibt nicht nur die Dethematisierung der kolonialen Vergangenheit, sondern auch das Verhältnis, in dem das Holocaust-Gedenken zur Aufarbeitung des Kolonialismus steht. In einem Zeit-Interview sagt Zimmerer: Es gibt gewissermaßen eine koloniale Amnesie: Deutschland war nur vergleichsweise kurz Kolonialmacht. Die Gebiete in Afrika gingen sehr früh verloren, die Verbrechen des Dritten Reiches haben die Erinnerungen daran überlagert. Nach 1945 scheint die Aufarbeitung des Holocaust alle Energie gebunden zu haben. Wer sich an den Kolonialismus überhaupt erinnerte, hat ihn oftmals verklärt. (Schadwinkel, 06.01.2017, Zeit online)

Dieser amnesische Zustand befördere folglich das Verschwinden des Kolonialismus aus dem öffentlichen Bewusstsein der Deutschen. Die Berichterstattung findet allerdings überwiegend andere Beschreibungen, um die Praktiken des Vergessens zu markieren oder die erinnerungspolitischen Verknüpfungen zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus herauszustellen. Bereits 2011 hieß es am Tag der Schädelübergabe in der taz: „Deutschland hat ein äußerst selektives historisches Gedächtnis. Hitler kennt jeder, aber wer weiß noch, dass das Deutsche Reich einst auf der ganzen Welt Kolonien hatte?“ (Johnson, 30.09.2011, taz, 12). Die „Kontinuitätsthese“ aufnehmend, die eine zunehmend prominente Rolle in

48  Vgl. beispielsweise den genannten Artikel von Rebekka Habermas (2019) oder auch den Artikel von Bénédicte Savoy, „Die Zukunft des Kulturbesitzes“, 12.01.2018, FAZ, 9. Die überwältigende Anzahl von Artikeln, in denen der Begriff im Untersuchungszeitraum 2000–2021 Verwendung findet (Stand: Februar 2021), stammen dabei aus der Feder von Jürgen Zimmerer. Eine Zunahme konnte insbesondere mit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ verzeichnet werden, weswegen sich künftig zeigen wird, auf welche Weise der Terminus an analytischem Wert gewinnt und sich diskursiv verstetigt (vgl. Eckert 2021, 249–250).

310 

 Die vergessenen Schädel?

der Medienberichterstattung spielt, spricht der Journalist Tim Neshitov in der SZ von einer „vergessenen Schuld“: Natürlich lässt die Verantwortung für den Holocaust der Nazis wenig Raum für weitere peinigende Gedenktraditionen. Andererseits könnte die Antwort auf die ohnmächtige Frage, wie Hitler möglich wurde, zum Teil in der kolonialen Vorgeschichte liegen. (Neshitov, 27.09.2011, SZ, 11)

In einem weiteren taz-Artikel beklagt die Journalistin Elena Beis, dass bei der Bewertung des Nationalsozialismus andere Maßstäbe gelten als in Bezug auf die Kolonialzeit. Zur Problematisierung dieses ungleichen Verhältnisses zitiert sie das namibische Delegationsmitglied Barbara Kahatjipara folgendermaßen: Wir kommen mit unserem Kulturminister, und eine Vizeministerin nimmt uns in Empfang? Für mich ist das eine Respektlosigkeit der deutschen Regierung an einem symbolisch so wichtigen Tag. Wir fragen uns, ob das, was wir hier tun, gewürdigt wird. Als im April 13 von den Nazis geklaute Bücher an die jüdische Gemeinde in Berlin zurückgegeben wurden, war der deutsche Kulturminister dabei. Warum werden 13 Bücher so gewürdigt, aber 20 Schädel nicht? (Beis, 30.09.2011b, taz, 3)

Die wahrgenommene ‚Respektlosigkeit‘ der deutschen Regierung gegenüber der Wichtigkeit des Aktes der Schädelrückgabe wird in ein direktes Verhältnis zur Erinnerung an den Holocaust gestellt. Die aufgeführten Zitate skandalisieren in ihrer Bezugnahme auf die Erinnerung an den Nationalsozialismus die bestehende Unkenntnis über die koloniale Vergangenheit und ordnen der Erinnerung an den Kolonialismus somit einen emotionalen Wert zu. Dies zeigt sich sowohl an der übereinstimmenden Bewertung der Zeremonie als einem diplomatischen „Eklat“ im Jahr 2011 als auch an den ausführlichen Darstellungen aktivistischer Haltungen ab 2014, womit die Medienlandschaft ihre Ablehnung gegenüber dem deutschen Umgang während der Schädelrückgabe zum Ausdruck bringt. Das Verhältnis zwischen der Erinnerung an den Holocaust und dem Kolonialismus ist dabei keineswegs als antagonistisch zu verstehen. Im Gegenteil, der Hinweis auf die Judenverfolgung wird vielmehr dazu benutzt, die postkolonialen Erinnerungspolitiken neu zu verhandeln. Die Bezugnahme auf den Holocaust im Kontext der Schädelübergabe trägt somit zu einer Überwindung der Entinnerung des deutschen Kolonialismus bei (vgl. Kap.  8). Mit der zunehmenden Relevanz, die die Aufarbeitung des Kolonialismus gesellschaftlich erfährt, nehmen zumindest im Kontext der Untersuchung des Gegenstands „Repatriierungen“ die Verweise zum Nationalsozialismus von 2011–2018 ab. Die Analyse zeigte schließlich, dass der Verweis auf den Holocaust dazu diente, die aktuelle Politik anzuprangern und somit das „Desinteresse“ (Neshitov, 27.09.2011, SZ, 11) am Kolonialismus zu über-

„Die vergessene Schuld“? 

 311

winden. In der medialen Sichtbarmachung der Mechanismen des Vergessens liegt der produktive Moment affektiven Erinnerns. 9.4.2.3 D  er „koloniale Unrechtskontext“ anthropologischer Sammlungen: Von der Dehumanisierung zur Rehumanisierung 2018 lässt sich in der deutschen Presse im Zusammenhang mit der Schädelrückgabe eine größere Diversifizierung in der Thematisierung der Provenienzforschung feststellen, als das noch 2011 der Fall gewesen ist. Die „Restitutionsdebatte“, die sich durch das französische Engagement seit 2017 intensiviert hat, erweitert die Frage der Repatriierungen auf andere koloniale Kontexte, entkoppelt sie auf der anderen Seite aber auch vom Kontext des Genozids and den OvaHerero und Nama und macht sie zu einem eigenständigen Thema. Repatriierungen von menschlichen Gebeinen indigener Gruppen nach Alaska sowie nach Neuseeland wird somit ein eigener Nachrichtenwert zugeschrieben – so auch in der französischen Medienlandschaft, die neben den Rückgaben nach Namibia auch weitere Restitutionen/Repatriierungen durch deutsche Museen zum Gegenstand ihrer Berichterstattung macht (vgl. „Colonialisme. Berlin va accélérer les Restitutions de restes humains et d’art“, 14.03.2019, lefigaro.fr; „Un musée berlinois rend des œuvres dérobées au XIXe siècle aux autochtones d’Alaska“, 17.05.2018, lefigaro. fr; Luyssen, 31.08.2018, Libération, 4). Die Diversifizierung wird auch anhand der Verschränkungen mit den Diskursen um das zu eröffnende Humboldt Forum deutlich, wodurch das Problem aufgeworfen wird, in welchen Zusammenhängen eine Repatriierung überhaupt denkbar ist. Im Gegensatz zu 2011 wird daher die Begrifflichkeit des „kolonialen Unrechtskontextes“ eingeführt, der zunächst identifiziert werden müsse, um eine Repatriierung rechtfertigen zu können. Der Leitfaden Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen (2021, 19) vom Deutschen Museumsbund e. V. spricht dann von einem „Unrechtskontext“, wenn die „Erwerbung und Zusammenstellung von Sammlungen menschlicher Überreste“ unter „Gewaltanwendung, Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen“ stattfand. Nur in dem Fall, dass die Erwerbung „in gegenseitigem Einverständnis“ erfolgte, kann gegebenenfalls von ihrer „Rechtmäßigkeit“ ausgegangen werden (Leitfaden 2021, 20). Dabei ist die Provenienzforschung zum bevorzugten Mittel avanciert, um die Erwerbungshintergründe der kolonialen Sammlungen zu klären. Als Folge wird nunmehr die „Abwägung zwischen einer möglichen Rückgabe und dem musealen Wert“ verhandelt, wie es im ND heißt (Denz, 06.02.2018, ND, 12). Mit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ und dem wachsenden Fokus auf die Klärung der Provenienzen wird gleichzeitig auch sehr viel allgemeiner die ‚Rechtmäßigkeit‘ anthropologischer Sammlungen verhandelt (vgl. Kap. 10). Folglich sei nunmehr die Identifizierung „eines historischen

312 

 Die vergessenen Schädel?

Unrechtskontexts“ Voraussetzung, um Rückgaben überhaupt „proaktiv“ anregen zu können, wie es etwa im Leitfaden des Deutschen Museumsbunds heißt (2021, 23). Der Direktor der SPK, Hermann Parzinger, unterstreicht im bereits zitierten ND-Artikel, dass nur die Klärung des Erwerbskontexts über die Unausweichlichkeit einer Repatriierung entscheiden könne (vgl. Denz, 06.02.2018, ND, 12). Allerdings birgt dieses Kriterium auch erhebliches Konfliktpotenzial für die Verhandlungen mit den Herkunftsgesellschaften, da es „für die Argumentation der Fordernden meist nicht relevant [ist], [o]b bei der Erwerbung ein Unrechtskontext nach unserem Sinne vorgelegen hat“, wie die Autor:innen des Leitfadens gleichzeitig feststellen (Leitfaden 2021, 78, Hervorhebung S. R.). Aufgrund der Auseinandersetzung um die Legitimität von Forschungsvorhaben an den anthropologischen Sammlungen entspann sich eine Diskussion um die Definition des „kolonialen Unrechtskontexts“. Aktivist:innen wie etwa Christian Kopp von Berlin Postkolonial erachtet es als „zynisch“, dass Fragen nach der Rechtmäßigkeit des Erwerbs im Zusammenhang mit menschlichen Gebeinen überhaupt gestellt werden, und Mboro beschreibt es als „skandalös, dass diese Forschung noch immer betrieben wird“ (Wierth, 04.08.2017, taz, 23). Dass der Umgang mit dem anthropologischen Sammlungsgut allerdings auch in der Wissenschaft umstritten ist, zeigt das Vorgehen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Der Dekan der Medizinischen Fakultät und Vorstandsmitglied des UKE äußerte in einem Interview mit der taz, dass die Gebeine „weder in einer wissenschaftlichen Sammlung noch in einem Museum korrekt aufgehoben“ seien (Eckert, 21.04.2017, taz, 24). Als Folge lehnt das UKE auch die Abbildung menschlicher Knochen ab. Ob menschliche Gebeine in der Medienberichterstattung abgebildet werden sollten, ist allerdings kein eigenständiger Diskursstrang. In manchen Zeitungsartikeln wird auf eine Bebilderung zurückgegriffen, die den szientistischen Blick auf die Knochen und Schädel als anonyme ‚Sammlungsobjekte‘ reproduziert. Auch der Aktivist Kaunatjike unterstreicht in einem Interview die weiterhin bestehende Auffassung, dass es bei den Gebeinen um wissenschaftliches ‚Sammlungsgut‘ handele. Er gibt zu bedenken, dass die Erforschung menschlicher Schädel zur Forschungstradition Deutschlands gehöre, was in der Konsequenz die Initiation von Rückgaben erschwere (vgl. Boek und Oliveira, 01.07.2017, taz, 54–55). Dabei müsse das Ziel sein, nach der pseudowissenschaftlichen Dehumanisierung der Gebeine eine Rehumanisierung zu erwirken, wie Zimmerer in der taz zitiert wird (vgl. Eckert, 21.04.2017, taz, 24). Dass solch eine Rehumanisierung jedoch aufgrund der kolonialrassistischen Prämissen der anthropologischen Forschung kaum zu realisieren ist, wurde schon bei der Übergabe im Jahr 2014 deutlich, als die Gebeine nur mit ungefährer Wahrscheinlichkeit der Region südwestliches Afrika zugeordnet werden konnten (vgl.

„Die vergessene Schuld“? 

 313

Faber-Jonker 2020, 56). Im Jahr vor der dritten Schädelübergabe zeigt die SZ unter diesem Aspekt die Insuffizienz der Provenienzforschung auf: Unerfüllt blieb auch der nachvollziehbare Wunsch der Herero und Nama nach der „Rehumanisierung“ ihrer Vorfahren. Sie hofften, die Überreste individuellen Verstorbenen zuordnen zu können, die sie aus mündlicher Überlieferung kennen, und diese in ihren früheren Dörfern zu bestatten. Doch weil die Rasseforscher kein Interesse an Individuen hatten, helfen selbst gründliche Recherchen oft nicht weiter. Schließlich nahm das Nationalmuseum in Windhoek die Schädel in Verwahrung. (Berg, 02.08.2017, SZ, 10)

Bei der Übergabe der insgesamt 27 menschlichen Gebeine im Jahr 2018 folgte keine weitreichende Debatte zu den Provenienzen der human remains. Stattdessen wurden diese den OvaHerero und Nama zugerechnet, „die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im heutigen Namibia von deutschen Kolonialtruppen ermordet wurden und deren Knochen zu sogenannten Forschungszwecken nach Berlin gebracht wurden“, wie es beispielhaft in der FR heißt (Bischoff, 28.08.2018, FR, 5). Als Folge werden die human remains eindeutig im kolonialen Gewaltkontext des Kolonialkriegs verortet und in einen Zusammenhang mit dem Genozid gestellt (vgl. Otto, 28.08.2018, ND, 6; „Bitte um Vergebung“, 30.08.2018, SZ, 6). Obwohl es die Provenienzforschung in keinem Fall vermochte, den menschlichen Gebeinen ihre Identität zurückzugeben (vgl. Förster 2013b), rückt ihre Bedeutung mit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ ab 2017 zunehmend auch auf Bundesebene in den Fokus. Schlussfolgernd sind in der diskursanalytischen Betrachtung der Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Namibia deutlich die Ambivalenzen im Verhältnis von Erinnern und Vergessen-Machen hervorgetreten. Auf der einen Seite wird der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus von staatlicher Seite zunehmend ein legitimer erinnerungspolitischer Platz zugewiesen. Im März 2019 wird beispielsweise ein Eckpunkteprogramm zum „Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ von der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturminister:innen der Länder und der kommunalen Spitzenverbände veröffentlicht, wobei menschlichen Überresten der „Vorrang bei der Aufarbeitung des Sammlungsguts“ eingeräumt wird (Eckpunkteprogramm 2019, 5, 7). Erklärtes Ziel ist es, eine zeitnahe Rückführung zu ermöglichen. Dabei vollzieht sich auch eine Perspektiverweiterung, bei der auch andere ehemalige deutsche Kolonien verstärkt ins Interesse der Öffentlichkeit geraten. Gleichzeitig wird der Genozid an den OvaHerero und Nama zunehmend als ein eigenständiges erinnerungspolitisches Thema verhandelt, das nicht mehr vordergründig unter entwicklungspolitischen Vorzeichen gerahmt wird.

314 

 Die vergessenen Schädel?

Auf der anderen Seite jedoch werden die Reparations- und Entschuldigungsforderungen der OvaHerero und Nama nicht adressiert, wodurch die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus auf den Bereich der Kulturpolitik festgelegt wird. Die Vermeidung, den Genozid zu benennen oder auf die Reparationsforderungen einzugehen, entkoppelt die Repatriierung im Jahr 2018 von ihrem historischen Kontext, sodass eine Entpolitisierung als affektives Entinnern dieses historischen Zusammenhangs vollzogen wird. In diesem Kontext fällt auf, dass in der Medienberichterstattung der Vergleich mit dem Gedenken an den Holocaust vor allem dann (mithilfe von Zitaten von Vertreter:innen der OvaHerero und Nama) bemüht wird, wenn es um die konkreten Forderungen nach Reparationen und der Formulierung einer Entschuldigung geht. Dabei hat die Analyse auch gezeigt, dass die Medien wiederholt die ausbleibende Anerkennung des Genozids sowie die fehlende Erwägung einer Wiedergutmachung zum Gegenstand ihrer Kritik machen.

9.5 F azit: Zwischen Erinnern und Vergessen – Ausblicke auf den Umgang mit menschlichen Gebeinen in europäischen Sammlungen Die Verhandlung über die Rückgaben menschlicher Gebeine aus kolonialen Kontexten hat vor allem durch die Verabschiedung des US-amerikanischen „Native American Grave Protection and Repatriation Act“ aus dem Jahr 1990 sowie den neuseeländischen und australischen nationalen Repatriierungsprogrammen zunehmend globale Bedeutung erlangt. Mittlerweile findet zudem eine stärkere internationale Vernetzung hinsichtlich eines systematischen Umgangs mit Repatriierungsgesuchen statt (vgl. Fründt 2013, 323). Die in diesem Kapitel diskutierten Rückführungen der menschlichen Gebeine aus deutschen und französischen Museumssammlungen wurden jedoch hauptsächlich als bilaterale Auseinandersetzung geführt, in denen sich vor allem entwicklungspolitische bzw. außen- und sicherheitspolitische Interessen manifestierten. Auslassungen, Leerstellen und Abwesenheiten sind dabei die emotionalen Diskurse, die eine mögliche Umdeutung der kolonialen Vergangenheit auf nationaler Ebene unterbinden. Im französischen Fall führt dies zu einer affektiven Entinnerung der kolonialen Machtausübung im 19. Jahrhundert und der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘. Im deutschen Fall hingegen wird die Forderung nach Reparationen im Kontext der Repatriierungen entinnert, um somit ein Schuldeingeständnis sowie die Verantwortungsübernahme für den Genozid zurückzuweisen. Der französische Fall zeichnet sich durch eine besonders geringe Anzahl an Publikationen in Bezug auf die ‚algerischen‘ Schädel für den gesamten Untersuchungszeitraum 2011–2020

Fazit: Zwischen Erinnern und Vergessen 

 315

aus. Dieser zunächst rein quantitative Befund ist vor allem deshalb erklärungsbedürftig, weil die Auseinandersetzungen mit dem Algerienkrieg (1954–1962) ansonsten stark mediatisiert sind. Die Analyse der Quellen konnte zeigen, dass das koloniale System nicht als Gewaltsystem thematisiert wird. Der Grund für die Existenz der gegenwärtigen Bestände an menschlichen Gebeinen in den französischen Sammlungen wird dabei nicht in Verbindung mit der praktizierten kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ gesetzt. Sie werden affektiv ‚außerhalb‘ der französischen Kolonialgeschichte und des entsprechenden Gewaltkontextes verortet, sodass letztlich der Bestand an human remains in den Sammlungen als ‚neutrale‘ Untersuchungsgegenstände gerechtfertigt werden kann. Der museale Anspruch der Wahrung des französischen Kulturerbes ermöglicht das Vergessen-Machen des Akquirierungskontextes der human remains. Anhand der Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel wird deutlich, dass sich die Thematisierung des französischen Kolonialismus einzig auf die die Phase der Entkolonisierung beschränkt, wobei der Phase der kolonialen Expansion keine affektive Bedeutung zugeschrieben wird. Daraus resultiert eine diskursiv hergestellte affektive Entinnerung, wodurch gewissermaßen das von Pascal Blanchard und Nicolas Bancel (2003, 135) beschriebene „trou de mémoire“ für die Zeit der frühen Kolonialisierung Algeriens in den 1840er Jahren aufrechterhalten wird. Im deutschen Fall hingegen spiegeln sich stärker die produktiven Momente der Aushandlung affektiver Er- und Entinnerung. Auf der einen Seite werden die menschlichen Gebeine der OvaHerero und Nama schon 2011 in Verbindung gesetzt mit der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘. Als Besonderheit der deutschen Aufarbeitung des Kolonialismus werden medial sowohl historische als auch erinnerungspolitische Kontinuitäten in Bezug auf den Holocaust hergestellt. Vor allem in der Berichterstattung im Jahr 2011 wird das Vergessen des Kolonialismus mit Verweis auf die Erinnerung an den Holocaust skandalisiert. Die Sichtbarmachung des Vergessens, was teilweise mit dem Begriff der „kolonialen Amnesie“ umschrieben wird, affiziert die praktizierte Entinnerung und ordnet somit dem Kolonialismus einen legitimen Platz im öffentlichen Gedenken zu. Hinweise auf diesen Wandel liefert die im Jahr 2018 abgehaltene Zeremonie zur Rückgabe der menschlichen Gebeine. Staatsministerin Münteferings offizielle Stellungnahme unterstreicht nicht nur die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit, gleichzeitig sollte auch ein ‚würdevollerer‘ Rahmen mit dem Abhalten des Gedenkgottesdienstes im Französischen Dom in Berlin gefunden werden. Indem allerdings die stärkere finanzielle Bezuschussung der Provenienzforschung in Deutschland hervorgehoben wird, werden Repatriierungen zu einem ausschließlich kulturpolitischen Problem der deutschen Museumslandschaft. Die Reparations- und Entschuldigungsforderungen der OvaHerero und Nama werden dabei weiterhin von offizieller Seite bewusst ausgeklammert.

316 

 Die vergessenen Schädel?

Schon 2011 hatte Pieper in ihrer Rede die Bedeutung des Kolonialismus für die bilateralen Beziehungen mit Namibia relativiert und Versöhnung unter Verweis auf eine zukünftige Intensivierung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gefordert. Die medialen Darstellungen lassen sich hier als Korrektive zur bundesrepublikanischen Haltung verstehen. Nicht nur, dass die Verweigerung der Bundesregierung, den Genozid anzuerkennen und Entschädigungen zu erwägen, auf offene Kritik stößt, die Presse verschafft den aktivistischen Positionen zudem eine hohe Sichtbarkeit. In der Medienberichterstattung werden anhand der emotionalen Diskurse der ‚Empörung‘ sowie der ‚Irritation‘ während der Repatriierung 2011 und 2018 aufgrund der ‚Respektlosigkeit‘ und des ‚unwürdigen Verhaltens‘ der Bundesregierung die Forderungen der OvaHerero und Nama legitimiert. Kritisiert wird dabei einmütig, dass die Bundesregierung nicht in direkten Verhandlungen mit den Vertreter:innen der betroffenen Communitys steht und dass den Rückgaben nicht das nötige Interesse entgegengebracht wird, weil alle drei Zeremonien die Repräsentation durch einen deutschen Kultus- oder Außenminister vermissen ließen. Der wiederkehrende Verweis auf die „vergessene Schuld“ trägt diskursiv dazu bei, das ‚Desinteresse‘ gegenüber dem Kolonialismus zu beenden und dem Vergessen ein Ende zu setzen. Bei der französischen Repatriierung fällt im Gegensatz zum deutschen Fall vor allem das Schweigen des Élysée-Palastes auf. In den wenigen Artikeln, die zum Anlasse der Rückgabe der ‚algerischen‘ Schädel im Jahr 2020 erschienen, wird nur eine einzige Stellungnahme seitens der Regierung zitiert. Auffallend ist auch, dass es im Gegensatz zu den Übergaben in Deutschland keinerlei Zeremonie und auch kein offizielles Zusammentreffen der Regierungschefs gibt. Weiterhin gibt es kein nennenswertes zivilgesellschaftliches Engagement, das sich des Themas annehmen würde. Die einzigen Forderungen nach einer Repatriierung entstehen in einem linksliberalen Intellektuellenmilieu, das medial durch seine gestellten Petitionen und eigens verfasste Artikelbeiträge auftritt. Durch das Fehlen eines breiten zivilgesellschaftlichen Engagements können auch keine alternativen Deutungsangebote für die Aufarbeitung der kolonialen Expansion in Algerien und des Algerienkriegs im Speziellen entworfen werden. Dominant sind hingegen weiterhin rechtskonservative Positionen, die vor allem in Algerien den antikolonialen Krieg als nationalen Befreiungskampf ausdeuten. In Frankreich hingegen steht der Algerienkrieg weiterhin für ein nationales ‚Trauma‘, das nicht im größeren Kontext des französischen oder europäischen Kolonialismus verortet werden kann. Daran lässt sich auch ermessen, warum die Schädelrückgabe außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen zwischen den beiden Ländern nachgeordnet wird. Der Fokus liegt folglich auf der zukünftigen Gestaltung der bilateralen Beziehungen und der Neuverhandlung eines möglichen Freundschaftsvertrags. Die Übereinkunft in erinnerungspolitischen Belangen ist die Voraussetzung für

Fazit: Zwischen Erinnern und Vergessen 

 317

die Beziehungsaufnahme zwischen beiden Ländern, weswegen die Rückgabe der ‚algerischen‘ Schädel als Initiation eines Versöhnungsprozesses steht, der nicht die jeweiligen nationalen Selbst- und Geschichtsverständnisse herausfordert. Wie wirkmächtig und konfliktbeladen die Praktiken der Entinnerung im französischen Fall sein können, spiegelt sich beispielsweise im weiterhin dominanten Beschweigen der algerischen Forderung nach der Restitution von Archiven (vgl. Kap. 10). Trotzdem resultiert aus der Repatriierung eine Transformation der von beiden Ländern geteilten „Politiken des Vergessens“. Die algerische Regierung erhofft sich mittlerweile weitere französische Zugeständnisse – wozu auch die Artikulation einer Entschuldigung gehören soll. Während die Repatriierungen vor allem Ausdruck der Transformationen der bilateralen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonialmächten und ihren Kolonien sind, hat sich mit den Debatten um die Restitution kultureller Artefakte ab 2018 eine Transnationalisierung der Thematik im europäischen Kontext vollzogen. Der von Sarr und Savoy publizierte Bericht hat grundsätzliche Debatten zu den europäischen Sammlungsbeständen in europäischen Museen angeregt, die den Kolonialismus als Ausbeutungs- und Gewaltsystem stärker in den Fokus des öffentlichen Interesses gerückt haben. Auf Deutschland und Frankreich wird im Umgang mit Restitutionen dabei oft exemplarisch Bezug genommen. Inwiefern der Ausbau der Provenienzforschung als scheinbares „Allheilmittel“ der Aufarbeitung, wie Zimmerer (19.02.2019, SZ, 12) schreibt, letztlich zu dessen Entpolitisierung beiträgt, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein.

10 E  ine Transnationalisierung emotionaler Diskurse? Die Auseinandersetzung mit Restitutionen von kolonialem Sammlungsgut Im November 2018 übergaben die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr ihren Bericht über die Restitution des afrikanischen Kulturerbes an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der diesen zuvor in Auftrag gegeben hatte. Darin forderten sie die vollständige Rückgabe kolonialer Objekte, die sich in den europäischen Sammlungen befinden – wobei nicht nur die Rückgabe eindeutig identifizierbarer Raubkunst erwogen werden soll, sondern auch derjenigen Objekte, deren Erwerbskontext nicht zweifelsfrei zurückzuverfolgen ist. Die Autor:innen erachten dabei die Kolonialzeit als ein auf Gewaltverhältnissen basierendes System, weswegen grundsätzlich von nicht gerechten Erwerbskontexten ausgegangen werden muss. Sarr und Savoy verknüpfen mit ihrem Bericht die Forderung einer „neuen Ethik der Beziehungen“, die das Verhältnis zwischen Süd und Nord grundlegend neu denkt. Da die Autor:innen auch die europäischen Sammlungen in den Blick nehmen, hat die Veröffentlichung des Berichts nicht nur in Frankreich zu einem breiten öffentlichen Interesse an den kolonialen Beständen geführt. Auch in anderen westeuropäischen Ländern, deren Museen Objekte aus den ehemaligen Kolonien in ihren Sammlungen verwahren, wie Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und auch Deutschland waren weitreichende mediale und politische Diskussionen die Folge (vgl. Sandkühler et  al. 2021). Aufgrund der internationalen Aufmerksamkeit, der dem Restitutionsbericht zuteilwürde, fasse ich ihn im vorliegenden Kapitel als transnationales Diskursereignis. Der transnationale Vergleich – dies hatte ich in meinen theoretischen Kapiteln gezeigt – setzt Objekte in Beziehung, die nicht in „einem realen Verflechtungsoder Kausalzusammenhang stehen“ müssen (Epple, 19.04.2021) – d. h., dass der Vergleich als Methode die Untersuchungsgegenstände erst in ein transnationales Verhältnis miteinander setzt, wodurch sich eine Konstruktionsleistung vollzieht. In der „Restitutionsdebatte“ lässt sich, mit der Historikerin Angelika Epple (2021) gesprochen, hingegen eine empirische „Relationierung“ feststellen, d.  h., dass die national geführten Debatten die staatlichen Grenzziehungen transzendieren und dabei konstitutiv für den Umgang mit Restitutionen auf europäischer, nationaler und auch regionaler Ebene sind. Wie ich in diesem Kapitel zeige, wird in der deutschen Medienberichterstattung nicht nur zu Macrons Politik Stellung bezogen, auch Deutschlands Kolonialvergangenheit wird zunehmend in der französischen Presse wahrgenommen und kommentiert. Dass dabei vor allem der deutsche und der französische Kontext in Relation zueinander gesetzt werden, https://doi.org/10.1515/9783111018683-010

Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse? 

 319

liegt vor allem an transnational wirkenden Akteur:innen wie der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die an der Technischen Universität Berlin eine Professur innehat. Dass sich die „Restitutionsdebatten“ transnational in Beziehung setzen, beeinflusst – so die Annahme – die Herstellung und Verbreitung emotionaler Diskurse. Die in den vorangegangenen Kapiteln entworfenen theoretischen Reflexionen zu Emotionalität und Transnationalisierung spezifiziere ich daher in Kapitel 10.1. Allerdings konzentriert sich der Restitutionsbericht als Auftragsarbeit – trotz einiger Verweise nach Berlin und London – ausschließlich auf das subsaharische afrikanische Sammlungsgut in den französischen Beständen. In einer Fußnote des Berichts klammern Sarr und Savoy (2018, 2) eine Beschäftigung mit den Restitutionsforderungen Algeriens explizit aus, da diese einer gesonderten Untersuchung bedürften. Zum Gegenstand dieser Arbeit, d. h. der erinnerungspolitischen Aufarbeitung der (De-)Kolonialisierung Algeriens sowie des Völkermords an den OvaHerero und Nama und somit den aus Namibia und Algerien an Deutschland bzw. Frankreich gerichteten Rückgabegesuchen, trifft der Bericht kaum Aussagen. Warum ihn also als transnationales Diskursereignis analysieren? Im Kontext der „Restitutionsdebatte“ vollzieht sich, was Stora in Bezug auf den Algerienkrieg vor bald 20 Jahren als „Beschleunigung der Erinnerungen“ (2004) bezeichnet hatte. Ab 2017 fließen zunehmend diverse Diskursstränge zusammen, dabei erhöhen sich jedoch nicht nur die transnationalen Bezugnahmen. Vielmehr vervielfältigen sich die erinnerungspolitischen Themensetzungen auch auf nationaler Ebene. In Frankreich erklärte der Präsidentschaftskandidat Macron im Frühjahr 2017, dass der Kolonialismus ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sei, wenige Monate später im November hielt er, nunmehr Präsident der Französischen Republik, die als „kulturrevolutionär“ aufgefasste Rede in Ouagadougou (Meister, 28.11.2018, Die WELT, 21), in der er ankündigte, die Voraussetzung für „temporäre oder dauerhafte Restitutionen“ zu schaffen (Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 28.11.2017). Im Dezember avisierte Macron zudem die Repatriierung der algerischen ‚Rebellenschädel‘ (vgl. Kap. 9). 2018 folgten die offizielle Entschuldigung für die während des Algerienkriegs verübte systematische Folter (vgl. Kap.  11) und schließlich Ende November die Überreichung des Restitutionsberichts. Wenngleich die kolonialen Bestände der Museen nicht erst seit der Veröffentlichung des Restitutionsberichts in Deutschland diskutiert werden, führte seine Veröffentlichung dennoch erstmals zu einer Stellungnahme von Vertreter:innen der Bundespolitik und zu deren Ankündigung, bundesweit geltende Regularien aufzustellen. Gleichzeitig kündigt die baden-württembergische Landesregierung im November die Restitution der Bibel und der Peitsche des Nama Kaptein Hendrik Witbooi (geb. um 1830) an, der 1905 im Kampf gegen die deutschen Kolonialtruppen ums Leben kam. Die letzte Repa-

320 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

triierung menschlicher Gebeine nach Namibia hatte zuvor im August 2018 stattgefunden; außerdem war weiterhin die Sammelklage der OvaHerero und Nama vor einem New Yorker Gericht anhängig, in der sie Entschädigungen für den von den „Schutztruppen“ verübten Völkermord forderten (vgl. Kap. 8). Als im März 2019 die Klage endgültig abgewiesen wurde, veröffentlichten Bund und Länder schließlich ein gemeinsames Eckpunktepapier, in dem sie ihre Bereitschaft zur Restitution kultureller Objekte und zur Intensivierung der Provenienzforschung erklärten. Für die vorliegende Analyse ist diese ‚Vervielfältigung‘ der Ereignisse eine Herausforderung, da die Anzahl an Publikationen, die entweder im Zusammenhang mit der Restitution kultureller Objekte stehen oder andere erinnerungspolitische Themen verhandeln, stark zunimmt. Um die transnationalen Effekte der in Frankreich und Deutschland geführten „Restitutionsdebatten“ nachzeichnen zu können, wurde ein Quellenkorpus zusammengestellt, der die Zeitungsartikel in beiden Ländern von der Veröffentlichung des Restitutionsberichts im November 2018 bis zur Verabschiedung des Eckpunktepapiers von Bund und Ländern im März 2019 auswertet. Dabei verfolge ich die Frage, inwiefern transnationale Bezugnahmen eine grenzüberschreitende Zirkulation emotionaler Diskurse ermöglicht haben, worin sich die länderspezifischen Auseinandersetzungen unterscheiden und auf welche Weise der transnationale Diskussionsrahmen konstitutiv für die jeweils nationalen Restitutionspolitiken ist (Kap. 10.2). In den Debatten um die Restitution kolonialen Sammlungsguts wird von einigen Akteur:innen das Problem aufgeworfen, dass diese als kulturpolitische Maßnahmen ein Mittel der Entpolitisierung seien und wichtigere Fragen nach Entschädigung und Entschuldigung verschleierten (vgl. Garsha 2020; Zimmerer, 19.02.2019, SZ, 12). Im Zwischenfazit in Kapitel 10.3 diskutiere ich daher die „Restitutionsdebatte“ vor dem Hintergrund der erinnerungspolitischen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheiten Frankreichs und Deutschlands. Obwohl die Mediendebatten vor allem von der geplanten Eröffnung des Humboldt Forums und von den Rückgabeforderungen der in Paris verwahrten Béhanzin-Statuen an Benin bestimmt sind, werde ich diese nur am Rande behandeln. Im Sinne des methodisch zur Anwendung kommenden transnationalen Konstruktionsprozesses konzentriere ich mich im zweiten Teil der Analyse auf den Beziehungszusammenhang zwischen den Debatten um den Restitutionsbericht und den Rückgabeforderungen, die aus Namibia und Algerien vorliegen. Auffallend ist hierbei, dass die algerische Rückgabeforderung sowie die Restitution nach Namibia trotz ihrer zeitlichen Synchronität kaum im Kontext der von Sarr und Savoy losgetretenen „Restitutionsdebatte“ verortet werden. In Kapitel 10.4 werde ich den sogenannten frankoalgerischen Archivstreitfall (contentieux archivistique algéro-français) erörtern, der seit dem Sommer 2020 erneut ausgetragen wurde, sowie die im Februar 2019

Transnationale Emotionen?  

 321

vollzogene Rückgabe der Witbooi-Peitsche und Bibel nach Namibia. Im Gegensatz zur französischen ‚Archivfrage‘, bei der Algeriens Rückgabeforderungen schlichtweg ignoriert werden, vollzieht sich in Deutschland aufgrund der diskursiven Überschneidungen zur transnational geführten „Restitutionsdebatte“ eine Neujustierung in der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. In Kapitel 10.5 schließe ich mit einer zusammenfassenden Betrachtung, inwiefern die „Restitutionsdebatte“ die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich und Deutschland vorangetrieben hat. Im folgenden Unterkapitel schärfe ich zunächst den Begriff der Transnationalität für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand. Instruktiv ist dabei vor allem Savoys neueste Publikation Afrikas Kampf um seine Kunst (2021), die eine historisierende Perspektive anhand der „Restitutionsdebatten“ der 1960er und 1970er Jahre entwirft. Savoys Erkenntnisse sind dabei konstitutiv für den gegenwärtigen Diskurs und bieten die Grundlagen, um Transnationalität mit den Kategorien der emotionalen Diskurse und Ordnungen zusammenzudenken und dahingehend die Frage zu verfolgen, inwiefern sich in der „Restitutionsdebatte“ emotionale Diskurse und Ordnungen identifizieren lassen.

10.1 T  ransnationale Emotionen? Deutsch-französische Verstrickungen in der „Restitutionsdebatte“ Die Recherche Savoys liefert vielleicht auch eine Antwort darauf, warum die Debatte so emotional geführt wird. Es sind alte Wunden, die aufreißen. Die Entdeckung, dass die berechtigten Anliegen, gewaltsam entwendetes oder durch asymmetrische Machtverhältnisse angeeignetes Kulturgut zurückzuerhalten, über Jahrzehnte mit Lügen, Schweigen, strategischer Entmutigung und Ignoranz beantwortet wurden, muss schmerzen. (Briegleb, 26.03.2021, SZ, 11)

Mit diesem Zitat beendet der Journalist Till Briegleb in der SZ seine Buchbesprechung des wenige Tage zuvor erschienenen Buchs Afrikas Kampf um seine Kunst (2021) von Bénédicte Savoy. Wenn Briegleb darauf zu sprechen kommt, dass Savoys Arbeit eine Antwort liefere, „warum die Debatte so emotional geführt wird“, ist dies als Kommentar auf die seit 2018 geführte „Restitutionsdebatte“ zu verstehen. Eine Debatte, die Savoy im Jahr 2017 mit ihrem Rücktritt aus dem Beratungsgremium des Humboldt Forums in Deutschland lostrat (vgl. Häntzschel, 20.07.2017, Süddeutsche.de) und die sich im folgenden Jahr mit der Übergabe des Restitutionsberichts an Macron, der in Autor:innenschaft mit dem Ökonomen Felwine Sarr entstand, internationalisierte. Dass die Debatte um Restitutionen von Museumsobjekten aus kolonialen Kontexten mit dem Begriff der Emotiona-

322 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

lität besetzt wird, erklärt sich Briegleb anhand der persistenten postkolonialen Machtverhältnisse. ‚Schmerzhaft‘ in der Gegenwart sei demnach die „Entdeckung“, dass die westlichen Museen die „berechtigten Anliegen“ auf Rückgaben mit „Lügen, Schweigen, strategischer Entmutigung und Ignoranz“ quittierten. Die der Debatte zugeschriebene Emotionalität begründet sich somit aus der historischen Kontinuität im Umgang mit den gegenüber Europa geltend gemachten Restitutionsforderungen. Das Aufzeigen dieser historischen Kontinuitäten ist das Anliegen von Savoys aktuellem Buch, dessen Recherchen jedoch schon 2018 mit dem Verfassen des Restitutionsberichts begannen. In ihrer Einleitung schreibt die Kunsthistorikerin: „Schon vor 40 Jahren diskutierte Europa über die Restitution kolonialer Museumsbestände an Afrika. Die Gespräche verliefen im Sand. […] Das ist die vielleicht wichtigste Lektion aus der Arbeit, die ich 2018 […] durchgeführt habe“ (Savoy 2021, 7). Als ich mit den Recherchen zu diesem Kapitel begann, zeigte sich, dass einige der im Buch vertretenen Argumente sowohl in Interviews als auch in von Savoy gehaltenen Vorträgen schon seit 2018 in den Medien thematisiert wurden. Aus diesem Grund, aber auch, weil Savoys Arbeit ein wichtiges Interpretationsrepertoire liefert, um die „Emotionalität“ der gegenwärtig in Europa geführten Debatte zu verstehen, werde ich im Folgenden die zentralen Erkenntnisse aus Afrikas Kampf um seine Kunst besprechen. Savoys Recherchen haben gezeigt, dass die „Restitutionsdebatte“ nicht erst durch Macrons Politik oder die seit 2015 geführten Auseinandersetzungen um das Humboldt Forum die politische Bühne Europas betrat. Stattdessen ist es der Kunsthistorikerin wichtig, aufzuzeigen, dass Restitutionsforderungen schon seit Beginn der formellen Dekolonisierung an die europäischen Museen und Staaten gerichtet wurden. Über die Zeitspanne von 1965–1985 leuchtet sie die Versuche der jungen afrikanischen Staaten aus, Rückgaben kultureller Objekte aus den Sammlungen Europas erstens einzuleiten und zweitens zu institutionalisieren. Schon am 23.  Juli 1969 forderte der algerische Informationsminister Mohamed D. Benyahia in seiner Eröffnungsrede im Rahmen des panafrikanischen Kulturfestivals: „L’indépendance politique et économique de l’Afrique et sa libération totale seraient des entreprises vaines et inconséquente sans le recouvrement de son patrimoine culturel, c’est à dire de son identité profonde“ (zit. bei Savoy, 11.03.2021, Vortrag am Collège de France). Benyahia machte deutlich, dass sich eine tatsächliche Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten nur realisieren ließe, wenn die Restitution des afrikanischen Kulturerbes vollzogen würde. Die Forderung nach Restitutionen verstand sich folglich als solidarisches Projekt aller afrikanischen Länder. Weitere zentrale Akteure, die Savoy ausmacht, waren außerdem der senegalesische Politiker Amadou-Mahtar M’Bow, der von 1974 bis 1987 Generaldirektor der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) war, sowie der nigerianische Archäologe Ekpo Eyo. Während

Transnationale Emotionen?  

 323

Eyo sich im Speziellen für die Restitution der in verschiedenen europäischen Museen ausgestellten Benin-Bronzen nach Nigeria einsetzte (vgl. Savoy 2021, 27–44), machte M’Bow das Thema Restitution zum grundlegenden Anliegen der UNESCO (vgl. Savoy 2021, 99). Anhand der genannten drei Akteure und deren institutioneller Einbindung wird die internationale Reichweite deutlich, mit der die Debatte schon in den 1970er und 1980er Jahren geführt wurde und die verschiedenen westeuropäischen Länder zwang, Stellung zu beziehen. Interessant ist dabei Savoys Befund, dass die französischen wie auch die westdeutschen Entscheidungsträger:innen zunächst ihre Bereitschaft zu umfänglichen Restitutionen erklärten. Eine institutionelle Verankerung erlangten die Diskussionen zusätzlich, als die UNESCO im September 1981 ein standardisiertes Restitutionsformular verabschiedete, mit dem die afrikanischen Länder ausgewählte Objekte von besonderer Bedeutung hätten zurückfordern können (vgl. Savoy 2021, 164). Allerdings kamen diese Formulare nie zur Anwendung. Dass die Debatten um die Restitution von Objekten kolonialer Provenienz „erfolgreich verdrängt“ (Savoy 2021, 7) und nicht Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses wurden, weist Savoy anhand eindeutig identifizierbarer Strategien nach. Zum Ersten ist es das Insistieren auf die Rechtmäßigkeit der europäischen Sammlungsbestände und darauf, dass diese auf legalem Weg erworben wurden. Damit verknüpfte sich der erfolgreiche Verzicht auf den Restitutionsbegriff, da dieser „diffamierend“ (Savoy 2021, 119) sei, weil er einen „juristisch unsauberen Erwerb“ (Savoy 2021, 121) impliziere. Stattdessen wurden Begriffe, wie „Transfer“ vorgeschlagen und die Forderung nach Rückgaben mit Dialogbereitschaft, Kooperationsprojekten und dem Angebot temporärer Leihgaben konterkariert (Savoy 2021, 196). Diese Einlassungen finden sich u.  a. in einem Geheimdokument der deutschen UNESCO-Kommission, das Savoy als eines der zentralen Dokumente identifizierte. Das Papier entstand am 6.  Oktober 1978 in der „Arbeitsgruppe ‚Rückgabe von Kulturgut‘“ (Savoy 2021, 119, 220) in Vorbereitung auf die vom 24. Oktober bis 28. November 1978 stattfindende Generalkonferenz (Savoy 2021, 119, 125). Zwar macht Savoy deutlich, dass das Dokument die Haltung der bundesrepublikanischen Museumslandschaft widerspiegele, dennoch enthalte es zentrale „Denkfiguren“, die auch die Debatten in Frankreich und Großbritannien bestimmten. Dies weist die Kunsthistorikerin nicht nur anhand eines 20-seitigen Positionspapiers aus dem französischen Kulturministerium nach, sondern auch anhand der erfolgreichen deutsch-französischen Bemühungen, den Restitutionsbegriff während der UNESCO-Generalkonferenz zu marginalisieren (vgl. Savoy 2021, 125). Weiterhin sieht Savoy in dem Geheimpapier die „Sackgassen“ angelegt, „in denen sich die Debatte heute, mehr als 40 Jahre später, noch befindet“ (Savoy 2021, 120). Allein dieser von Savoy mehr-

324 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

fach in ihrem Buch herausgestellte Befund macht ihre Arbeit zu einer wichtigen Referenz, um die gegenwärtigen Debatten einordnen und analysieren zu können. Savoy hat herausgearbeitet, dass das Evozieren oder Vermeiden von Emotionen offenkundig als politisches Instrumentarium in der historischen „Restitutionsdebatte“ thematisiert wird. Augenfällig an dem Geheimdokument der deutschen UNESCO-Kommission ist vor allem die direkte Ansprache einer zu vermeidenden „Emotionalisierung“ der Debatte. Als Begründung für die Ablehnung des Restitutionsbegriffs wird angeführt, dass dieser eine „moralische Verpflichtung“ zur Rückgabe von Objekten impliziere (zit. in: Savoy 2021, 122). Die Erzeugung „moralischen Drucks“ würde wiederum öffentliches Interesse generieren. In einem Unterpunkt, der mit dem Wort „Emotionalität“ überschrieben ist, heißt es, dass das Ziel der „Länder der Dritten Welt“, Objekte zurückzufordern, „ein weitgehend emotionaler Vorgang“ sei, „der nicht gesteuert werden kann“ (zit. in: Savoy 2021, 123). Einer Emotionalisierung der Debatte wohne demnach die Gefahr der Unvorhersehbarkeit inne, was dazu führe, dass den europäischen Mächten die Handlungsmacht entgleiten könne. Deutlich wird dies auch, wenn Museen und Kultureinrichtungen davor ‚warnen‘, Objektlisten zur Verfügung zu stellen, da diese „Begehrlichkeiten“ hervorrufen könnten, sollten die Sammlungen publik werden (zit. in: Savoy 2021, 122). Savoy begründet damit auch, warum es im deutschen Kontext vermieden wurde, eine Inventarisierung der Bestände voranzutreiben. Kenntlich wird hier die ‚Angst‘ vor einer emotionalen „internationalen Ansteckung“ (Frank 2012, 50), die zu einer Multiplizierung der Restitutionsanfragen führen könnte. Um eine ‚Emotionalisierung‘ der Debatte zu unterbinden, soll stattdessen deren ‚Versachlichung‘ vollzogen werden, indem mit der „Kälte der juristischen Texte“ geantwortet wird (Savoy, 11.03.2021, Vortrag am Collège de France, Übersetzung S.  R.). Wichtig war hierbei, die emotionale Verbindung zu kappen, die die Erinnerung an den Verlust mit den Rückgabeforderungen verknüpfte (vgl. Savoy, 11.03.2021, Vortrag am Collège de France). Dass die „Restitutionsdebatte“ somit als ein Ringen um deren emotionale Ausdeutung zu verstehen ist, zeigt sich in der Kontrastierung mit den Positionen von Restitutionsbefürworter:innen. In einem Sonderheft der UNESCO-Zeitschrift „Museum“ fragte der schon erwähnte Archäologe Ekpo Eyo im Jahr 1979: „Should the recipient countries continue to be so completely oblivious to the feeling of deprivation which is suffered by the loser countries?“ „Leidenschaftliche Ausbrüche“, so Eyo weiter in seinem Beitrag, seien daher als konsequente Reaktion auf die Enteignung zu verstehen (zit. in: Scott 2020, 142–143). Dieses von Eyo beschriebene „Gefühl des Entzugs“ fasst Savoy als „Phantomschmerzen, die außerhalb Europas mit dem Verlust kultureller Güter einhergehen“ (Savoy 2021, 196). Wie ich in den vorangegangenen theoretischen Kapiteln dieser Arbeit gezeigt habe, soll jedoch keinesfalls eine Gegensätzlichkeit zwischen Emotionalität

Transnationale Emotionen?  

 325

und Rationalität konstruiert werden, die Emotionalität im Globalen Süden und Rationalität im Westen verortet. Mit der hier deutlich gewordenen Bezugnahme auf affektive Gefühlszustände soll vielmehr untersucht werden, inwiefern diese sowohl in der medialen Berichterstattung als auch von den zu Wort kommenden Akteur:innen dezidiert als politisch-strategisches Instrument eingesetzt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass in der „Restitutionsdebatte“ besonders mit dem Evozieren und Zuschreiben von Emotionen Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Gruppen verhandelt werden. Somit richtet sich der analytische Fokus auf die diskursiven Verstetigungen emotionaler Zuschreibungen, mittels derer die beteiligten Akteur:innen versuchen, ihre Positionen durchzusetzen. Da emotionale Diskurse konstitutiv für erinnerungspolitische Aushandlungsprozesse sind, bestimmen sie, welche Vergangenheiten erinnert und welche ins Vergessen „gezwungen“ werden (Dimbath 2014, 96). Aus diesem Grund sind vor allem die von Savoy gezogenen Kontinuitätslinien für die Theoretisierung transnationaler Emotionen für die Analyse gegenwärtiger Erinnerungspolitiken relevant. Savoy begründet, dass die „mit der Zeit immer akuter“ werdende Restitutionsfrage anhand der „kollektiven Emotionen“ der Enteigneten und ihren nicht heilen wollenden ‚Wunden‘ (Savoy 2021, 196). Allerdings, so mein Einwand, kann damit nicht der gegenwärtige Bedeutungszuwachs der „Restitutionsdebatte“ für die westeuropäischen Gesellschaften erklärt werden. Schließlich hat Savoy auf der anderen Seite in ihrer Arbeit nachgewiesen, dass die Debatte bisher keinen Platz im europäischen Gedächtnis gefunden hat und lange Zeit seitens der westlichen Länder eine große Unwissenheit darüber bestand, „wie ihre prestigeträchtigen Museen aufgebaut wurden“ (Sarr und Savoy 2018, 11). Worin unterscheidet sich also die in Frankreich und Deutschland geführte gegenwärtige „Restitutionsdebatte“ von den in den vorangegangenen Kapiteln in eine transnationale Beziehung gesetzten Untersuchungsgegenständen (Kap.  7 – Anerkennung, Kap.  8 – Reparationen und Kap. 9 – Repatriierungen)? Auf welche Weise können die in der „Restitutionsdebatte“ hervorgebrachten emotionalen Diskurse als transnational verstanden werden? Der Historiker Robert Frank (2012, 66) argumentiert in seinem Text „Émotions mondiales, internationales et transnationales“, dass sich die Transnationalität emotionaler Diskurse vor allem durch soziale und kulturelle Austauschprozesse auszeichne. Im Gegensatz zu einer Internationalisierung oder Globalisierung, bei der sich Emotionen grenzüberschreitend im Raum ausbreiteten, verfügten transnationale Emotionen über die zusätzliche Eigenschaft, nationale Referenzrahmen in unterschiedlichen Intensitäten zu transzendieren (Frank 2012, 67). Transnationale Emotionen sind für Frank auf der sozialen und kulturellen Ebene angesiedelt, weswegen er ihnen das Potenzial zuschreibt, als eine „von unten“ kommende Bewegung Identifikationsprozesse mit den ‚Anderen‘ anzustoßen.

326 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Zentral sind dabei die Mechanismen des Transfers und der Wiederaneignung. Frank beendet seinen Artikel mit dem Befund, dass es einer Akkumulation transnationaler, affektiver Verbindungen bedürfe, um beispielsweise supranationale Strukturen auf Dauer zu stellen (vgl. Frank 2012, 66). Allerdings müssen Prozesse einer Transnationalisierung emotionaler Diskurse und Ordnungen nicht zwangsläufig in die Entstehung affektiver Solidargemeinschaften münden. Im transnationalen Austauschprozess können Emotionen und Affekte durchaus für ‚nationale‘ Belange umgedeutet und nutzbar gemacht werden. Erinnert sei hier an das in Kapitel 2 entwickelte Verständnis von Transnationalität, das nicht nur die Überwindung nationaler Grenzen und Bezugsgrößen in den Blick nimmt, sondern vielmehr die dynamisch-relationalen Transformationsprozesse abzubilden sucht. Ann Rigney und Chiara De Cesari (2014, 4, 7) haben darauf hingewiesen, dass sich mit der Bezugnahme auf globale Entwicklungen Erinnerungspraktiken auch ‚(re-)nationalisieren‘ können. Im Kontext der sich globalisierenden Erinnerungspolitiken muss folglich davon ausgegangen werden, dass emotionale Diskurse ‚nationale‘ Grenzziehungen ebenso verstetigen, wie sie auch zu deren Überwindung beitragen können. In diesem Kapitel wird davon ausgegangen, dass sich in der „Restitutionsdebatte“ eine emotionale Verstrickung der französischen und deutschen Auseinandersetzung vollzieht. Zwar internationalisierten sich die Debatten um mögliche Restitutionen von Objekten aus kolonialen Kontexten, sodass auch belgische, niederländische sowie britische Sammlungsbestände in den Fokus gerieten. Mit Blick auf die Debatten in Deutschland und Frankreich vermute ich jedoch eine Transnationalisierung in der Thematisierung von Restitutionen, bei der emotionale Diskurse die Landesgrenzen transzendieren und somit Einfluss nehmen auf die jeweiligen staatlichen Politiken. Begründen lässt sich dies u. a. mit Verweis auf die Person Bénédicte Savoys, die als transnationale Akteurin zum einen den Wissenstransfer zwischen Deutschland und Frankreich befördert, zum anderen aber auch erinnerungspolitisch in beiden Ländern medial auftritt. Macrons Vorstoß in der „Restitutionsdebatte“ wurde kaum als ausschließlich französische Angelegenheit thematisiert, sondern von Beginn an in seinen Auswirkungen für Europa und die Zukunft der europäischen Sammlungsbestände kolonialer Provenienz diskutiert. Dieses Kapitel fokussiert entsprechend auf die Untersuchung der argumentativen Verschiebungen, welche die gegenwärtige „Restitutionsdebatte“ von jener der 1970er und 1980er Jahre unterscheidet. Im Zentrum stehen dabei die emotionalen Strategien, deren Rolle in der Vermittlung legitimer bzw. illegitimer Ansprüche liegen, und schließlich, ob sich transnational wirkende emotionale Diskurse beschreiben lassen.

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 327

10.2 „ Macron handelt, Deutschland redet“: Der Restitutionsbericht von 2018 als transnationales Diskursereignis En France, la volonté politique est très forte depuis le discours d’Emmanuel Macron à Ouagadougou, alors que le débat public n’est pas extrêmement présent. Dans le cas allemand, par exemple, vous avez un débat public considérable. En revanche, il n’y a pas un grand mouvement politique sur cette question. Mais depuis quelques jours le mouvement initié par la France est en train de porter ses fruits hors de France. (Bénédicte Savoy am 21. November 2018 auf France Culture)

Schon wenige Tage vor der offiziellen Übergabe des Restitutionsberichts setzt Bénédicte Savoy den deutschen und französischen Umgang mit ihrem jeweiligen kolonialen Sammlungsgut in Beziehung. Während es in Frankreich an einer breiteren öffentlichen Debatte fehle, mangele es in Deutschland an politischer Initiative, um sich der Frage der Restitutionen zu stellen. Dass Savoy eine Asymmetrie hinsichtlich der öffentlichen Debattenkultur in beiden Ländern feststellt, zeigt sich in ihren Textbeiträgen u. a. an den Ausführungen zum zivilgesellschaftlichen Engagement in Deutschland. Auf französischer Seite scheint die Initiative einzig vom französischen Präsidenten auszugehen. In ihrer Beobachtung manifestiert sich damit die Gegensätzlichkeit zwischen dem zentralistisch regierten Frankreich, in dem der Präsident über weitreichende Kompetenzen verfügt, und dem föderalen Deutschland, in dem der Bund kaum Verfügungsgewalt im Kulturbereich hat (vgl. Ruß-Sattar 2021, 170–172). „Macron handelt, Deutschland redet“: Ließe sich auf diese Weise der Gegensatz zwischen deutscher und französischer Politik beschreiben, wie die SZ im November 2018 nach der Übergabe des Restitutionsberichts titelt? Am 23. November 2018 überreichen Savoy und Sarr den Restitutionsbericht, mit dem Macron die beiden Wissenschaftler:innen im März 2018 beauftragt hatte. Zwischen März und Juli 2018 führten Sarr und Savoy mehr als 150 Expert:innengespräche mit Aktivist:innen, Befürworter:innen von Restitutionen, Wissenschaftler:innen, politischen Verantwortlichen, Parlamentarier:innen, Sammler:innen, Kunsthändler:innen, Jurist:innen, Pädagog:innen sowie Museumsmitarbeiter:innen in Frankreich, Benin, Senegal, Mali und Kamerun (vgl. Sarr und Savoy 2018, 4). Zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nehmen die Autor:innen sowohl Macrons Einlassung, dass der Kolonialismus ein Menschheitsverbrechen sei, als auch eine vom Élysée-Palast nach der Ouagadougou-Rede versendete TwitterNachricht, in der es heißt: „Le patrimoine africain ne peut pas être prisonnier de musées européens“ (Sarr und Savoy 2018, 1). In Museumskreisen wird davon ausgegangen, dass sich mehr als 90  % des afrikanischen Kulturerbes in euro-

328 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

päischen und nordamerikanischen Museen befindet. Savoy und Sarr verfolgen mit dem Bericht das Bestreben, Restitutionen als eine Möglichkeit der „travail de mémoire“ und folglich als Reparation für die koloniale Gewalt und Ausbeutung zu verstehen, die die Grundlage eines künftigen, an ethischen Prämissen orientierten Beziehungsaufbaus bilden. „Temporäre[n] Restitutionen“, wie sie von Macron in Aussicht gestellt wurden, erteilen die beiden eine klare Absage, wenn sie schreiben, dass es sich dabei um ein „Oxymoron“ handele (Sarr und Savoy 2018, 24). Nur dauerhafte Rückgaben können das Ziel sein, weswegen auch der Vorschlag einer „Zirkulation“ der Objekte abgelehnt werde, da diese weder an den (post-)kolonialen Besitzverhältnissen rütteln würde noch eine Überarbeitung der rechtlichen Grundlagen zur Folge hätte. Restitutionen definieren Sarr und Savoy stattdessen als einen Prozess, der „bedeutet, dass man ein Gut seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgibt“ (Sarr und Savoy 2018, 25, Übersetzung S. R.). Damit implizieren die Autor:innen, dass ein Großteil der Objekte durch einen nicht rechtmäßigen Erwerb in den Besitz der Museen gelangt ist. Neben offensichtlich illegitimen Aneignungspraxen wie Diebstahl, Plünderungen und Raubzügen zählen Savoy und Sarr auch List und die erzwungene Einwilligung zu den unrechtmäßigen Erwerbskontexten. Restitutionen bedeuten folglich das Eingeständnis eines Fehlverhaltens, woraus die Autor:innen die wiedergutmachende Komponente von Rückgaben ableiten. Konkret bedeutet das von ihnen entworfene Verständnis, dass sich der Bestand der für eine Rückgabe in Betracht kommenden Objekte erweitert. Neben der Restitution von eindeutig identifizierbarer „Kriegsbeute“ (vgl. Sarr und Savoy 2018, 43–46) werden Rückgaben auch in den Fällen erwogen, wenn die Objekte im Rahmen „wissenschaftlicher Expeditionen“ (vgl. Sarr und Savoy 2018, 46–50) oder durch „Spenden“ (vgl. Sarr und Savoy 2018, 50–51) akquiriert worden sind. Zur Grundlage wird das Prinzip des „consentement“, d. h. es muss das beidseitige Einverständnis über den Besitzer:innenwechsel des Artefakts vorliegen. Im Sinne einer Beweislastumkehr müssen folglich alle Objekte zurückgegeben werden, bei denen dieses Einverständnis nicht nachgewiesen werden kann. Mit den asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen den Kolonialmächten und ihren Kolonien als Ausgangspunkt geht der Bericht grundsätzlich von einem unrechtmäßigen Enteignungskontext afrikanischer Artefakte aus, der umfassende Restitutionen begründet. Auf welche Weise die Inhalte des Berichts seit ihrer Veröffentlichung die nationalen Grenzen Frankreichs überschritten, werde im Folgenden anhand eines Artikels von Bénédicte Savoy illustrieren. Savoys Auftaktbeitrag zur „Restitutionsdebatte“ erschien zuerst in einer übersetzten und leicht gekürzten Version am 12. Januar 2018 in der FAZ unter dem Titel „Die Zukunft des Kulturbesitzes“ als Reaktion auf Macrons Rede in Ouagadougou (Savoy, 12.01.2018, FAZ, 9). Einen Tag später folgte in der Wochenendausgabe von

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 329

Le Monde die französische Originalversion mit dem Titel „Restitutions: ‚Il faut y aller dans la joie‘“ (Savoy 13.01.2018, Le Monde, 6). Ausführlich nimmt Savoy Bezug auf die von Macron in Aussicht gestellten Restitutionen, als er sagte: „Ich möchte, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des afrikanischen Erbes an Afrika geschaffen werden.“ Savoy spricht von einer „Revolution“ und dem Anbruch eines neuen „Zeitalters“, vor allem aber von einem „tektonischen Beben“, das ganz Europa ergriffen habe. Denn „die Geschichte der Afrikasammlungen ist eine gemeinsame europäische Geschichte, eine Familienangelegenheit, wenn man so will“ (Savoy, 12.01.2018, FAZ, 9). Die europäische Aneignung von Objekten kolonialer Provenienz verflechtet die jeweiligen Nationalstaaten historisch miteinander. Die Transnationalität der „Restitutionsdebatte“ spiegelt sich jedoch nicht nur im vom Savoy zum Ausdruck kommenden Geschichtsverständnis wider. Denn die Rede Macrons für sich genommen markiert die Debatte als eine transnationale, deren Auswirkungen sich auch in den anderen europäischen Ländern bemerkbar macht. Beispielsweise nahm auch das Berliner Bündnis „No Humboldt 21“ Bezug auf Macrons Rede, als es in einen Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel diese dazu aufforderte, „sich zur historischen Initiative [in Bezug auf die Rede in Ouagadougou, Anm. S.  R.] des französischen Präsidenten zu positionieren“ (Offener Brief „No Humboldt 21“, 18.12.2017). Dass ihr Artikel fast zeitgleich in der französischen und deutschen Presse erscheint, unterstreicht nicht nur die Wichtigkeit Savoys als transnationale Akteurin, sondern deutet insbesondere auf die deutsch-französischen Bezugnahmen und wie sich die jeweiligen nationalstaatlichen Politiken mit und in Abgrenzung vom jeweils anderen Land entwickeln. Savoy, die sich vordergründig für den französischen und den deutschen Kontext interessiert, hebt insbesondere die gemeinsam geteilten emotionalen Aspekte hervor. Savoy schreibt: „Restitution und Ansteckung, politische Vorsicht und Angst der Museen: wir gehören zu einer Generation, die nur schmerzhafte oder in zähen Kämpfen erstrittene Restitutionen kennt“ (Savoy, 12.01.2018, FAZ, 9). Auf der anderen Seite ist ihr Text von Optimismus getragen, der sie hoffen lässt, dass es „glückliche und einvernehmliche Restitutionen“ geben kann, die „mit Freude geschehen, einer verantwortungvollen, klugen und überlegten Freude, die diesem großen Projekt des 21. Jahrhunderts eine Seele verleiht“ (Savoy, 12.01.2018, FAZ, 9). Die folgende Analyse interessiert sich auf der einen Seite für die Bedeutung von „Emotionalität“ in den gegenwärtigen Debatten: Auf welche Weise wird „Emotionalität“ 40 Jahre nach den ersten international geführten Debatten verhandelt, um Restitutionen zu legitimieren oder zu delegitimieren (vgl. Savoy 2021, 123)? Auf der anderen Seite reflektiere ich die Auswirkungen auf den jeweiligen länderspezifischen Umgang mit den Sammlungsbeständen kolonialer Provenienz, die

330 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

sich im Prozess der transnationalen Relationierung der französischen und der deutschen „Restitutionsdebatten“ vollziehen. Zuerst konzentriere ich mich auf die länderspezifischen emotionalen Diskurse, die die Debatten in Deutschland und in Frankreich prägen, um anschließend im Vergleich der Frage nachzugehen, inwiefern sich anhand der „Restitutionsdebatte“ transnationale emotionale Diskurse und Ordnungen ableiten lassen.

10.2.1 In Frankreich: Die „Büchse der Pandora“ wird geöffnet Stein des Anstoßes für die gegenwärtig geführte „Restitutionsdebatte“ war im französischen Kontext die von Benin im Jahr 2016 erneuerte Forderung nach der Rückgabe der Herrschaftsinsignien des Königs Béhanzin. Benin war das erste afrikanische Land, das eine Herausgabe von Sammlungsgut aus den Beständen des Musée du quai Branly-Jacques Chirac in Paris forderte (vgl. Altwegg, 23.11.2018, FAZ, 11; Lecaplain, 25.03.2017, Libération, 22; Sarr und Savoy 2018, 17). Zwischen 1893 und 1895 sind der Thron des Béhanzin sowie 26 Statuen den Pariser Museen übertragen wurden, nachdem sie vom französischen General Alfred Amédée Dodds bei einer „Strafexpedition“ im Jahr 1892 als Kriegsbeute aus dem Palast d’Abomey entwendet wurden (vgl. Beaujean-Baltzer 2007; Sarr und Savoy 2018, 44–45). Béhanzin wurde bei der gewaltvollen Militärintervention festgenommen und starb 1906 im Exil in Algerien. Das im heutigen Benin liegende Königreich Dahomey verlor bei den Kampfhandlungen seine Unabhängigkeit und wurde Teil des westafrikanischen Kolonialreichs unter französischer Herrschaft (vgl. Dagen, 03.12.2018, Le Monde, 17). Die gegenüber Frankreich formulierten Rückgabeforderungen durch die beninische Regierung wurden bis zu Macrons Rede in Ouagadougou im Jahr 2017 mit Verweis auf den code du patrimoine, d. h. auf deren Status als unveräußerliches französisches Kulturerbe, zurückgewiesen (vgl. Kap.  9). Obwohl im Fall des ‚Béhanzin-Schatzes‘ der historische Gewaltkontext und folglich der unrechtmäßige Erwerb der Artefakte belegt sind, wurde von Regierungsseite an der Sicht festgehalten, dass die Objekte ‚freiwillig‘ an die französische Kolonialadministration übergeben wurden. Der damalige Außenminister Jean-Marc Ayrault erklärte, dass einer Rückgabe nicht entsprochen werden könne, die Statuen aber als Leihgaben in Benin gezeigt werden könnten. Dabei beruft sich Ayrault auf die gesetzlichen Vorgaben zum Erhalt des französischen Kulturerbes und den darin festgeschriebenen Prinzipien der inaliénabilité (Unveräußerlichkeit), der imprescriptibilité (Unantastbarkeit) und der insaisissabilité (Unpfändbarkeit), um die beninischen Forderungen zurückzuweisen (vgl. Art. L 451-5 im code du patrimoine; Moussaoui, 07.03.2018, L’Humanité, 18).

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 331

Nach Macrons programmatischer Rede in Ouagadougou und vor allem nach der Beauftragung Savoys und Sarrs mit der Erstellung ihrer Expertise im März 2018 konnten die Forderungen Benins nicht mehr so leicht mit dem Verweis auf die Gesetzeslage abgetan werden. Aufgrund Macrons Vorstoß, Restitutionen in Aussicht zu stellen, wird dem Thema im Verlauf des Jahres 2018 wiederholt Raum in der Presse gegeben. Einige Tage vor der offiziellen Übergabe werden die Inhalte des Berichts den französischen Redaktionen zugespielt, sodass ein Großteil der Veröffentlichungen schon am 21. und 22. November in den Zeitungen zu finden ist. Bis Mitte Dezember 2018 bleibt die Frequenz der Berichterstattung bemerkenswert hoch, was auch daran liegt, dass Macron bei der Übergabe des Berichts die „Restitution sans tarder“ der 26  Objekte nach Benin ankündigt, womit er eine abweichende Haltung zur Vorgängerregierung unter François Hollande einnimmt. Im Unterschied zur deutschen Berichterstattung, die fast ausschließlich im Feuilleton geführt wird, wird in den französischen Zeitungen in allen Rubriken und auch mit verschiedenen Textsorten auf Savoys und Sarrs Bericht eingegangen. In der Kontroverse um mögliche Restitutionen wird erstens auf die Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes und die eindeutige Gesetzeslage rekurriert. Zweitens zeichnet sich die französische Debatte durch die Auseinandersetzung um den zugeschriebenen Universalismusanspruch der europäischen Sammlungen aus, mit dem der Verbleib von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Europa gerechtfertigt wird. Die Universalisierung der europäischen Sammlungen deckt sich mit den gleichzeitigen delegitimierenden Emotionalisierungsstrategien, mithilfe derer den Autor:innen des Restitutionsberichts ihre Expertise abgesprochen und ihre Forderungen als ideologisch diffamiert werden. Drittens fällt im Zuge der Veröffentlichung des Restitutionsberichts die strategische Benennung von „Emotionalität“ seitens der involvierten Akteur:innen auf. Das Erlangen emotionaler Deutungshoheit ist folglich wesentlich bei der erinnerungspolitischen Aushandlung von Legitimität bzw. Illegitimität von Restitutionen. 10.2.1.1 Die Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes Im französischen Kontext stellt insbesondere der code du patrimoine ein beträchtliches Hindernis für umfassende Rückgaben dar (vgl. Kap. 9). Die Prinzipien der inaliénabilité, der imprescriptibilité und der insaisissabilité gelten für die gesamten staatlichen Museumsbestände. Die einzige Möglichkeit, um Sammlungsgut zurückzugeben, muss mittels der Verabschiedung von Ausnahmegesetzen vollzogen werden, die den Kulturerbe-Status des zu restituierenden Objekts aufheben. Bisher wurde von den lois d’exception vor allem im Zuge der Repatriierungen der

332 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

menschlichen Gebeine von Sarah Baartman 2002, den Maori-Schädeln 2012, dem Chief Ataï 2014 sowie den ‚algerischen Rebellenschädeln‘ im Jahr 2020 Gebrauch gemacht (vgl. Moussaoui und Ruscio, 22.11.2018, L’Humanité, 14). Angesichts des Ausmaßes der sich in Europa befindlichen Artefakte stellt diese Art von juristischer Einzelfalllösung keine zukunftsfähige Option für Savoy und Sarr da, um umfängliche Restitutionen zu ermöglichen. Aus diesem Grund empfehlen sie in ihrem Restitutionsbericht eine Modifikation des code du patrimoine. Da bisher die juristischen Grundlagen fehlen, um Restitutionen von kolonialem Sammlungsgut zu systematisieren und diese vor allem auf Dauer zu stellen, schlagen Savoy und Sarr (2018, 73) zum einen die Ratifizierung des UNIDROITAbkommens von 1995 vor. Dieses sieht eine Beweislastumkehr vor, bei der im Falle von „biens culturels déplacés ou spoliés“ der rechtmäßige Erwerb durch die europäischen Museen erbracht werden muss (Savoy und Sarr 2018, 50). Im Jahr 2014 hat die Europäische Union diesen Mechanismus der UNIDROIT-Konvention übernommen, um die Restitution von Kulturgütern zu ermöglichen, die „verbotenerweise das Territorium eines Mitgliedstaats verlassen haben“ (Savoy und Sarr 2018, 72, Übersetzung S.  R.) – allerdings sind die nichteuropäischen Länder von dieser Direktive ausgenommen. Neben der Integration der Beweislastumkehr sieht Savoys und Sarrs Erweiterung des code du patrimoine außerdem die Verhandlung bilateraler Abkommen zwischen Frankreich und den jeweiligen afrikanischen Ländern vor. Die Autor:innen versuchen hier den Spagat, die Gesetzgebung des code du patrimoine aufzuweichen, ohne jedoch das grundlegende Prinzip der Unveräußerlichkeit der Sammlungen infrage zu stellen (vgl. Savoy und Sarr 2018, 66). Die Idee ist es, mithilfe der festgeschriebenen bilateralen Abkommen das bestehende Gesetz um einen Restitutionsmechanismus zu erweitern, der Rückgaben als „Ausnahmen“ rechtlich institutionalisiert und systematisiert (vgl. Savoy und Sarr 2018, 66). Grundlage für die Aushandlung der bilateralen Kooperationen soll die Erstellung umfassender Inventarlisten sein, die bisher noch nicht zentralisiert für die französischen Bestände afrikanischen Kulturerbes vorliegen. Dennoch können Savoy und Sarr dem französischen Präsidenten bereits präzise Restitutionsvorschläge unterbreiten, weil das Musée du quai Branly-Jacques Chirac die Dokumentation, Digitalisierung und zur Verfügungsstellung ihrer ca. 70 000 Objekte umfassenden afrikanischen Sammlung schon weitestgehend umgesetzt hat (vgl. Savoy und Sarr 2018, 91). In der französischen Berichterstattung wird der vorgeschlagenen Modifikation des Kulturerbe-Gesetzes allerdings mit Skepsis begegnet. Ein Großteil der Artikel diskutiert die von Sarr und Savoy gemachten Vorschläge selbst im Falle einer zustimmenden Haltung gegenüber Restitutionen kaum und verweist stattdessen auf die im code du patrimoine festgelegte Unveräußerlichkeit der französischen Sammlungen (vgl. Moussaoui und Ruscio, 22.11.2018, L’Humanité, 14).

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 333

In einem Le-Monde-Artikel, der am 22. November erschienen ist, wird besonders kritisch der von Sarr und Savoy geforderte Nachweis eines „beiderseitigen Einverständnis[ses]“ (consentement) kommentiert, mit dem die Legitimität der Objektaneignung belegt werden soll (Dagen, 22.11.2018, Le Monde, 16). Liegt dieser nicht vor, müsse eine Rückgabe erwogen werden – was eine Beweislastumkehr zur Folge hätte und die Museen in die Pflicht nähme, die Legitimität ihrer Sammlungen nachzuweisen. Aufgrund der mangelnden historischen Dokumentation über die jeweiligen Erwerbskontexte sei solch ein consentement schlichtweg nicht zu erbringen. Denn trotz der voranschreitenden digitalen Inventarisierung der französischen Bestände lassen sich auch jenseits des Rheins oftmals die Provenienzen der Objekte nicht mehr rekonstruieren, was u.  a. der kolonialen Sammlungspraxis geschuldet ist, die sich für solche Angaben nicht interessierte. Le Monde kommt daher zum Schluss: „C’est aller vite en besogne qu’espérer écarter ainsi des objections de droit“ (Dagen, 22.11.2018, Le Monde, 16). Mit der wiederholten medialen Bezugnahme auf die juristischen Rahmenbedingungen und die Notwendigkeit der Verabschiedung einer Sondergesetzgebung wird eine Ergänzung des code du patrimoine letztendlich als ein unmögliches Vorhaben konstruiert. Als Kontinuität der „Restitutionsdebatte“ der 1970er und 1980er Jahre kommt in der französischen Berichterstattung weiterhin eine ablehnende Haltung gegenüber dem Begriff der Restitution zum Ausdruck, da dieser einen unrechtmäßigen Erwerbskontext impliziere (vgl. Calvet und Lecaplain, 21.11.2018, Libération, 2). Dies zeigt sich auch darin, dass stattdessen die Idee befürwortet wird, die Objekte auszuleihen bzw. ‚zirkulieren‘ zu lassen und neue Kooperationen mit dem afrikanischen Kontinent anzustreben (vgl. Bommelaer und Biétry-Rivierre 7.12.2017, Le Figaro, 32; Jaigu, 07.12.2018, lefigaro.fr). Eine Adressierung der asymmetrischen Besitzverhältnisse erfolgt dabei jedoch kaum, außer in den Artikeln, in denen Sarr und Savoy selbst zu Wort kommen. In einem Interview mit Le Monde vermuten die beiden Autor:innen, dass der Westen – und nicht allein Frankreich – nicht daran erinnert werden will, dass die Objekte zu einem großen Teil auf nicht legitime Weise nach Europa gelangten und deswegen die ungleichen Besitzverhältnisse ausblenden (vgl. Sarr und Savoy, 03.12.2018, Le Monde, 22). Der Fokus auf den Schutz des europäischen Kulturerbes ignoriere die gewaltvollen Enteignungspraktiken, mit denen man den Herkunftsgesellschaften ihre kulturellen Objekte entwendet hat. Savoy und Sarr hinterfragen deswegen auch das europäische Festhalten an einem als universalistisch verstandenen Wertekanon, der sich in den europäischen Sammlungen ausdrücke: „[P]ar quelle ruse de l’esprit est-on amené à considérer que l’universel ne se jouerait que dans un entre-soi occidental?“ (Sarr und Savoy, 03.12.2018, Le Monde, 22).

334 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Deutlich wird an dieser Haltung die Reproduktion westlicher Historizität im Gegensatz zu einer angenommenen Geschichtslosigkeit des afrikanischen Kontinents, wie der damalige Präsident Nicolas Sarkozy in seiner vielfach kritisierten und kommentierten Rede in Dakar im Jahr 2007 behauptet hat (vgl. Gassama 2008). Als Konsequenz wird die Existenz eines schützenswerten Kulturerbes einzig im Westen verortet. Im Vorschlag, den afrikanischen Museen einige Stücke als Dauerleihgaben zu überlassen, sieht die Zeitung Libération „une façon de […] restreindre à un enjeu de diffusion du patrimoine, sans avoir à s’interroger publiquement sur la période coloniale et ses héritages“ (Didelot, 21.11.2018, Libération, 5). Dass eine Aufarbeitung des französischen Kolonialismus kaum Gegenstand der „Restitutionsdebatte“ ist, zeigt sich in den Medien außerdem in der Gegenüberstellung der als universalistisch verstandenen westeuropäischen Museen und den als Partikularinteressen dargestellten Rückgabeforderungen afrikanischer Länder. Als Verstetigungen emotionaler Diskurse wird Universalität zu einer legitimen Sichtweise rationalisiert und Rückgaben als illegitim ‚emotionalisiert‘. 10.2.1.2 Rationalisierter Universalismus vs. emotionalisierter Partikularismus Die Vereinigung eines rationalisierten Universalismus im Gegensatz zu einem emotionalisierten Partikularismus tritt deutlich in einem Interview hervor, das der Direktor des Musée du quai Branly-Jacques Chirac Stéphane Martin am 25.  November 2018 Le Figaro gibt. Darin erklärt er sich zwar aufgeschlossen gegenüber den Restitutionen nach Benin, kritisiert allerdings am Restitutionsbericht, dass dieser keine „kollektive Arbeit“ sei: [C]’est l’œuvre de deux personnalités engagées. C’est un document sur la perception, dans la jeunesse et l’intelligentsia africaines, d’une frustration née de la colonisation et de ses conséquences. C’est une mauvaise réponse à la question courageuse posée par le président de la République. Il fait des collections africaines conservées dans les musées occidentaux une sorte de totem de cette souffrance et met à l’écart leur dimension universelle. (Stéphane Martin, zit. in : Bommelaer und Biétry-Rivierre, 25.11.2018, lefigaro.fr)

Martin spricht den Wissenschaftler:innen Savoy und Sarr nicht nur ihren Expert:innenstatus ab, sondern delegitimiert die Forderungen nach der Rückgabe kolonialer Objekte zudem als Partikularinteressen. Indem die europäischen Museen als Orte ‚neutraler‘ Wissensvermittlung rationalisiert werden, entziehen sie sich ihrer Situiertheit in westlichen Wissensbeständen. Daraus leite sich der behauptete Universalismus ab, der in den Sammlungen der europäischen Museen zur Geltung komme und der den emotionalisierten Forderungen einiger „activistes mémoriells“ entgegengesetzt werden könne. Die Forderungen nach

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 335

Restitutionen lehnt er zudem mit dem Verweis darauf ab, dass sie einem partikularistischen Frustrationsempfinden junger Afrikaner:innen entspringen würden und die Sammlungen in den westlichen Museen somit zu einem „Totem des Leidens“ machten. Martins Position verwundert zunächst deshalb, weil Sarr und Savoy für die Erstellung der Inventarlisten, die die Ausgangsbasis ihrer Restitutionsempfehlungen sind, eng mit ihm zusammengearbeitet haben (vgl. Sarr und Savoy 2018, 4). Die genannten Vorwürfe werden allerdings auch in weiteren Artikeln aufgenommen. In Le Figaro vom 7. Dezember 2018 heißt es beispielsweise, dass die Autor:innen des Berichts keine Spezialist:innen für afrikanische Kunst seien und ausschließlich mit ihren „amis experts“ gesprochen hätten (Jaigu, 07.12.2018, lefigaro.fr). Insbesondere Kurator:innen und Kunsthändler:innen knüpfen an diese Einwände an und drücken somit ihre ablehnende Haltung gegenüber den Vorschlägen des Restitutionsberichts aus. Am 3. Dezember reagieren Savoy und Sarr in einem Beitrag in Le Monde auf die von Martin hervorgebrachten Einlassungen folgendermaßen: Nous trouvons par ailleurs problématique la facilité avec laquelle M. Martin se permet de nous manquer de respect. Les propos sur la „souffrance“ africaine adressés à celui d’entre nous qui est issu de l’ancien empire colonial français sont inacceptables. Il semble que, dès qu’il s’agit d’un Africain, on se croit naturellement autorisé à dépeindre sa démarche comme relevant du trauma ou de l’affect. On réactive la vieille lubie de la rationalité occidentale versus l’émotivité de l’Africain, où celle de la trace profonde des blessures psychiques qui lui auraient été infligées. (Sarr und Savoy, 03.12.2018, Le Monde, 22, Hervorhebung S. R.)

Sarr und Savoy sprechen die Zuschreibung von Emotionalität hier als eine Strategie an, um die im Bericht dargelegten Forderungen zu delegitimieren. Statt die Möglichkeit von Restitutionen als strukturelle Antwort auf die systematische Enteignung afrikanischer Objekte während des Kolonialismus zu verstehen, wird die Debatte stattdessen als individuelle Befindlichkeit abgetan und folglich entpolitisiert. Deutlich wird dies erneut in dem schon angesprochenen Le-Figaro-Artikel, in dem insbesondere Sarrs Forderung nach Rückgaben mit dem Argument in Zweifel gezogen wird, dass ihm als Muslim nichts an der Rückkehr dieser ‚animistischen‘ Objekte gelegen sein kann, „weiß man doch, dass der Islam unzählige Statuen und Masken zerstört hat, weil diese als gotteslästerlich galten“ (Jaigu, 07.12.2018, lefigaro.fr, Übersetzung S.  R.). Der Wirtschaftswissenschaftler wird hier auf seine Herkunft reduziert und als ‚afrikanisch‘ essenzialisiert. Auffallend an der französischen Debatte ist, dass die Restitutionsforderungen afrikanischer Länder wiederholt als egoistische Begehren abgetan werden, die die universalistischen Ansprüche der europäischen Museen verkennen würden. Entsprechend heißt es in dem schon zitierten Interview mit Martin:

336 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Cette question des Restitutions intervient dans un moment où une partie de la pensée occidentale et américaine se trouve dans une tentation de repli communautariste. Ces dernières années, les musées ont encouragé une forme de narcissisme et un art en miroir, ce que je déplore. Au point que certains visiteurs ne veulent que leur propre culture chez eux. Un tableau italien doit-il revenir en Italie? L’art africain ne peut-il être vu qu’en Afrique? Le monde ne sera pas meilleur si tout retourne sur son terroir. (Stéphane Martin, zit. in : Bommelaer und Biétry-Rivierre, 25.11.2018, lefigaro.fr)

Martin stellt die Museen als einen Ort des gelebten Kosmopolitismus dar, den er gefährdet sieht, sollten die Objekte nur in den jeweiligen Herkunftsgesellschaften gezeigt werden. Dabei verstehen sich die westlichen Museen als Hüter der Wissens- und Kulturgeschichte der gesamten Menschheit, die sich nationaler Vereinnahmungen verwehren müssen. Diese Dichotomie eines ‚Dritte Welt‘-Nationalismus gegenüber den höheren, als ‚universell‘ verstandenen westlichen Werten zieht sich als roter Faden von den Debatten der 1970er Jahre bis in die Gegenwart. Cynthia Scott (2020, 155) hat in ihrer Studie „Cultural Diplomacy and the Heritage of Empire“ gezeigt, dass schon in der Auseinandersetzung um die Restitution der Marmor-Reliefs, die vom griechischen Pantheon entfernt und 1816 an das Britische Museum verkauft wurden, der Gegensatz zwischen den nationalistisch-emotionalen Forderungen Griechenlands und den universalistischrationalen Werten europäischer Sammlungspraxis zementiert wird. Noch im Jahr 2002 unterzeichneten verschiedene Museen der nördlichen Hemisphäre, wozu auch die Staatlichen Museen zu Berlin und der Louvre in Paris gehörten, die „Declaration on the importance and value of universal museums“. Darin heißt es: „[W]e should acknowledge that museums serve not just the citizens of one nation but the people of every Nation“ („Declaration on the importance and value of universal museums“ 2002). Aus dieser Auffassung wird abgeleitet, dass alle Objekte Teil universeller Wissensproduktion sind, weswegen eine Verkleinerung der Sammlungen zum Nachteil aller gereichen würde. Wenn Martin von der „Versuchung des kommunitaristischen Rückzugs“ spricht, geht es jedoch nicht nur um die Wahrung des als universalistisch verstandenen Kulturerbes in europäischen Museen gegenüber einem emotionalen Nationalismus. Die Debatten um die Restitution kultureller Artefakte knüpfen vor allem im französischen Kontext nahtlos an die seit Jahren geführten Debatten zwischen konservativen und linksliberalen politischen Kräften an, bei denen ein universalistisch verstandener Republikanismus einem vermeintlich ‚identitätspolitisch‘ betriebenen Kommunitarismus entgegengesetzt wird. In Libération wird am 21. November 2018 ein Artikel zitiert, demnach Sarr und Savoy getrieben seien von einer „repentance qui ne dit pas son nom“ (Calvet und Lecaplain, 21.11.2018, Libération, 2). Die Verknüpfung von Nationalismus und Kommunita-

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 337

rismus wird besonders deutlich in diesem schon aus dem Jahr 2017 stammenden Artikel formuliert: Enfin, il serait bon de préciser que la constitution en Europe de collections muséales touchant à toutes les époques et à toutes les cultures participe de notre civilisation et de la construction d’une pensée incluant l’universalisme et l’humanisme s’opposant à ces attaques actuelles qui ne sont que l’émanation d’un nationalisme, d’un communautarisme et/ou d’un opportunisme néfaste. (Volper, 06.09.2017, lefigaro.fr)

Der belgische Konservator Julien Volper argumentiert in seinem Artikel „Défendons nos musées!“, dass die Rückgabe von während des Kolonialismus akquirierter Artefakte eine Renationalisierung bedeutet, die die europäische Kleinstaaterei früherer Jahrhunderte wiederbeleben würde. Dabei sehe er sich mit einer „Voreingenommenheit“ seitens der Befürworter:innen von Restitutionen konfrontiert, die „ihre Kraft aus der Schuldzuweisung [culpabilisation] ziehen, die jeder Europäer wegen seiner Geschichte haben muss, um nicht zu riskieren, als Rassist oder Reaktionärer abgestempelt zu werden“ (Volper, 06.09.2017, lefigaro.fr, Übersetzung S. R.). Die Bezugnahme auf die culpabilisation oder repentance, die als Gegensatz zum angeblichen Universalismus der europäischen Museen entworfen werden, werden ins Feld geführt, um sich gegen umfassende Restitutionen auszusprechen (vgl. Jaigu, 07.12.2018, lefigaro.fr). Doch auch die Befürworter:innen von Restitutionen kritisieren nicht nur die Strategien der Emotionalisierung, mittels derer ihre Positionen delegitimiert werden. Sie verstehen Emotionalität gleichzeitig als eine erinnerungspolitische Ressource, die die in den 1970er und 1980er Jahren etablierte Opposition zwischen westlicher Rationalität und subalterner Emotionalität erodieren lässt. Weiter oben habe ich schon einmal Ekpo Eyos Frage aus dem Jahr 1979 zitiert, ob der Westen „weiterhin kein Gespür für das Gefühl des Verlustes hat, unter dem die enteigneten Staaten leiden“ (Eyo 1979, zit. in: Scott 2020, 142–143). Allerdings kann diese Ignoranz im Jahr 2018 nicht mehr behauptet werden, da die Enteignung der afrikanischen Länder zum Thema gemacht und der Verlust ihres Kulturerbes als ‚schmerzvolle‘ Erfahrung markiert wird (vgl. Moussaoui und Ruscio, 22.11.2018, L’Humanité, 14). Die zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der affektiven Bedeutung der Objekte für die Herkunftsgesellschaften sowie die damit verknüpfte Forderung nach einer emotionalen Dekolonisierung reflektiert sich auch in den medialen Debatten, die teilweise das Verhältnis zwischen Emotionalität und Rationalität neu ausrichten. Allerdings konnte sich diese Position bis zum Juli 2019 nicht auf politischer Ebene durchsetzen. Der Élysée-Palast beteuerte zwar, an der Restitution der Béhanzin-Statuen festzuhalten, und brachte auch seine Aufgeschlossenheit gegenüber weiteren Rückgaben zum Ausdruck, gab aber dennoch keine Stellungnahme zum Restitu-

338 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

tionsbericht ab. Stattdessen wurde auf eine im Frühjahr 2019 stattfindende internationale Konferenz verwiesen. Nach einigen Verzögerungen findet die Tagung „Patrimoines africains: réussir ensemble notre nouvelle coopération culturelle“ schließlich am 4. Juli statt. Dort gibt der Kulturminister Franck Riester die weitere Richtung der französischen Restitutionspolitik bekannt: La France examinera avec la même attention les demandes qui lui seront présentées par d’autres pays africains. Au-delà, la nouvelle politique de coopération que nous devons construire ensemble ne peut se restreindre à la seule question des Restitutions. (Rede des französischen Kultusministers Franck Riester, 04.07.2019)

Ohne Restitutionen gänzlich abzulehnen, macht Riester deutlich, dass sich an dem bisherigen Vorgehen nichts ändern wird und umfassende Rückgaben, wie von Sarr und Savoy vorgeschlagen, nicht erwogen werden. Zur Bestätigung des Festhaltens an der Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes kündigt der Minister die Verabschiedung eines Gesetzes an, mit dem der Kulturerbe-Status der Béhanzin-Statuen aufgehoben werden soll. Mutmaßungen über eine mögliche juristische Systematisierung von Rückgabeanfragen wird damit ein Ende gesetzt. Im Juli 2020 legt die Regierung der Assemblée Nationale schließlich das angekündigte Gesetz vor (vgl. Projet de loi n°3221, 16.07.2020), über das im Oktober positiv entschieden und das final im Dezember 2020 angenommen wurde (vgl. LOI n°2020-1673, 24.12.2020). Am 9. November 2021 und fast vier Jahre, nachdem Macron ankündigte, „innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des afrikanischen Erbes an Afrika“ zu schaffen, wurde die 26 Objekte des trésor d’Abomey nach Benin restituiert („La France restitue solenellement 26  trésors pillés au Bénin“, 09.11.2021, lemonde. fr). Am 10. Januar 2022 stimmte der französische Senat für eine Gesetzesvorlage, die eine Überarbeitung des code du patrimoine vorsieht und die Restitution kultureller Objekte und Kunstwerke sowie die Repatriierung menschlicher Gebeine künftig erleichtern soll (vgl. „Proposition de loi relative à la circulation et retour des biens culturels appartenant aux collections publiques (PPL), 10.01.2022). Ein Gesetzesvorhaben, das von der französischen Regierung jedoch nicht verabschiedet wurde (Méheut, 29.11.2022, The New York Times (New York edition), 1). Vielmehr wurde ein weiterer Bericht beauftragt, den Jean-Luc Martinez, ehemaliger Direktor des Musée du Louvre, am 25.  April 2023 dem Kulturministerium überreichte (vgl. Rapport 25.04.2023). Mit dem Rapport Patrimoine partagé: universalité, Restitutions et circulation des œuvres d’art soll ein gesetzlicher Rahmen vorgeschlagen werden, um Restitutionen kultureller Objekte aus den französischen Sammlungen an die Herkunftsgemeinschaften zu ermöglichen (vgl. Bommelaer, 26.04.2023, lefigaro.fr).

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 339

10.2.2 I n Deutschland: Europas Erwachen aus dem „postkolonialen Dämmerschlaf“ Die Übergabe des von Sarr und Savoy verfassten Restitutionsberichts erfuhr eine große Aufmerksamkeit in Deutschland und wird dabei u.  a. als „revolutionär“ verhandelt (Woeller, 30.11.2018a, WELT online). Grund dafür ist, dass in den Jahren 2018 und 2019 unterschiedliche erinnerungspolitisch relevante Themen diskursiv miteinander verwoben wurden, aber auch verschiedene Diskursereignisse in kurzen Zeitabständen aufeinander folgten. Im Februar 2018 wurde im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD erstmalig festgelegt, dass neben der DDR und dem Nationalsozialismus außerdem die koloniale Vergangenheit Deutschlands angemessen aufgearbeitet und erinnert werden soll (vgl. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD „Ein neuer Aufbruch für Europa“, 12.03.2018, 154, insb. 167–170). Im August wurden zum dritten Mal menschliche Gebeine an Namibia übergeben (vgl. Kap. 9) und im März 2019 sollte über die weiterhin anhängige Reparationsklage der OvaHerero und Nama wegen des von den deutschen „Schutztruppen“ verübten Genozids vor einem Gericht in New York entschieden werden (vgl. Kap. 8). Mitte November und damit wenige Tage vor der Übergabe des Restitutionsberichts hatte das Linden-Museum in Stuttgart und das Land Baden-Württemberg zudem angekündigt, die Peitsche und Bibel des NamaKapteins Hendrik Witbooi aus ihren Sammlungsbeständen nach Namibia zu restituieren (vgl. Land Baden-Württemberg 13.11.2018). Vordergründig jedoch traf der Sarr-Savoy-Bericht auch deswegen einen Nerv in Deutschland, weil für das Jahr 2019 die Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin geplant war. Das Humboldt Forum, angedacht als wissenschaftliches Forum und „Zentrum der Erforschung außereuropäischer Kulturen“, sollte die Bestände des Ethnologischen Museums Berlin sowie des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen beherbergen. Erst die Planungen zum Humboldt Forum schafften den Rahmen für eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Kunst in den deutschen Sammlungen – wobei insbesondere die geplante Ausstellung der Benin-Bronzen49 zu Kontroversen führte (vgl. Opoku 2017a, 2017b).

49  Die Benin-Bronzen wurden während einer sogenannten „Strafexpedition“ im Jahr 1897 von der britischen Kolonialarmee aus dem Königspalast in Benin City geraubt, das im heutigen Nigeria liegt. Es wird geschätzt, dass mehr als 5000 Objekte in die europäischen Sammlungen gelangten, wobei deutsche Museen (u. a. in Berlin, Leipzig und Dresden) im europäischen Vergleich über die größten Bestände verfügen. Mit den Planungen für das Humboldt Forum in Berlin und später mit der Veröffentlichung des Sarr-Savoy-Berichts richtete sich das mediale Interesse vor allem auf die Bronzen, da deren unrechtmäßiger Erwerbskontext zweifelsfrei zu belegen ist. Sie stehen somit exemplarisch für die gegenwärtig geführten Debatten um koloniale Beutekunst

340 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Anhand der Auswertung der medialen Debatten seit der Veröffentlichung des Restitutionsberichts im November 2018 bis zur Veröffentlichung des „Eckpunktepapiers zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten“ zwischen Bund und Ländern im März 2019 habe ich drei diskursive Formationen rekonstruiert: Zum ersten dominiert eine positive Bezugnahme auf Macron und die französische Politik. Im Kontrast zur deutschen Restitutionspolitik wird Macron eine „Vorreiterrolle“ zugeschrieben, was in der Konsequenz dazu führt, dass auch die von Savoy und Sarr vorgeschlagene Beweislastumkehr positiv rezipiert und die Unrechtmäßigkeit der Erwerbskontexte zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht wird. Zweitens wird in Deutschland vor allem die geplante Förderung der Provenienzforschung sowie die zu erzielende Transparenz und Offenlegung der Sammlungen diskutiert. Zwar werden auch die fehlenden juristischen Rahmenbedingungen zum Thema gemacht, im Gegensatz zum französischen Fall leitet sich daraus jedoch eine moralische Verpflichtung zur Rückgabe kolonialer Sammlungsbestände ab. Neben dem „Ob“ wird in der deutschen Debatte sehr viel umfänglicher als in der französischen auch das „Wie“ von Restitutionen verhandelt. Aus diesem Grund wird im deutschen Kontext auch kaum die Universalität westlicher Museumssammlungen als Argument gegen Rückgaben hervorgebracht.50 Drittens wird die Realisierung von Rückgaben einerseits auf die Verabschiedung der Washingtoner Prinzipien von 1998 und die Restitution von NS-Raubkunst bezogen, andererseits werden die kolonialen Sammlungsbestände von der Rückgabepraxis der NS-Raubkunst abgegrenzt. Im Kontext der

(Raubkunst) in europäischen Museen und die Forderung nach deren Restitution. Grund dafür ist, dass Nigeria schon seit den 1970er Jahren Rückgabeforderungen an verschiedene Staaten richtet – zuletzt auch im Dezember 2020 an die deutsche Regierung. Nach Jahren des zivilgesellschaftlichen Drucks äußerte sich die Intendanz des Humboldt Forums im März/April 2021 erstmals zugunsten von Rückgaben (vgl. Bodenstein und Howald 2018, 532–533). Am 1.  Juli 2022 unterzeichneten der nigerianische Kulturminister Lai Mohammed, der Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten Zubairu Dada sowie Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock eine gemeinsame Politische Erklärung, mit der vereinbart wird, die Eigentumsrechte an den Benin-Bronzen an den Staat Nigeria zu übertragen, um somit deren Rückgabe an die nigerianische National Commission for Museums and Monuments (NCMM) in die Wege zu leiten (vgl. Gemeinsame Erklärung zwischen der Bundesrepublik und der Republic of Nigeria, 01.07.2022). 50  In der taz gibt Andreas Fanizadeh (17./18.11.2018, taz, 16) zu bedenken, dass „Savoys moralische[] Maximalforderung [vielleicht] auch aus anderen Gründen gar nicht so sinnvoll“ sei. Fanizadehs Artikel gehört zu den wenigen, die Rückgaben unter dem Aspekt einer Renationalisierung der Sammlungen besprechen. Anders als im französischen Kontext spielt die Frage nach dem Universalmuseum eine untergeordnete Rolle und findet nur ein weiteres Mal in einem Interview mit Horst Bredekamp Erwähnung.

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 341

Verabschiedung des Eckpunktepapiers im März 2019 wird erstmals eine Bewertung des Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ diskutiert, die jedoch mit Verweis auf die Einzigartigkeit des Holocaust verworfen wird. Dennoch wird in der deutschen „Restitutionsdebatte“ – und dies unterstreicht erneut die transformierende Bedeutung multidirektionaler Bezugnahmen (vgl. Rothberg 2009) – der gesamtgesellschaftliche Stellenwert der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus verhandelt. Im Folgenden stelle ich dar, auf welche Weise der Rekurs auf Macron und den Restitutionsbericht konstituierend für die deutsche Positionierung gegenüber Rückgaben kolonialer Objekte ist. 10.2.2.1 Macrons Vorreiterrolle Ein junger Präsident, noch keine 40 Jahre alt und popkulturell sozialisiert, sprach vor achthundert Studenten und nahm erstmals das Wort „Restitution“ in den Mund, das wegen seiner rechtlichen Implikationen in französischen Institutionen zweihundert Jahre lang nicht benutzt worden war. Die Einlassung habe nicht im Redemanuskript gestanden: „ein Donnerschlag!“ (Rossmann, 06.09.2019, FAZ, 13)

Der FAZ-Artikel zeigt, dass sich auch im September 2019 nichts an der Wahrnehmung der als „Pauken- und Befreiungsschlag“ (Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9) wahrgenommenen Rede geändert hat, die Macron in Ouagadougou im Jahr 2017 hielt. Ein „Donnerschlag“ sei die Rede auch deswegen, konstatiert Rossmann (06.09.2019, FAZ, 13), weil der französische Präsident den Begriff und die Möglichkeit der Restitution in eine politische Debatte einführte, die bisher die geforderten Rückgaben aus den ehemaligen Kolonien beständig zurückwies. Aus diesem Grund ist in der deutschen Presse auch die Rede vom Einläuten einer „Zeitenwende“ (Häntzschel, 22.11.2018, SZ, 13; Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9) und von einer ganz Europa ergreifenden „Kulturrevolution“ (Meister, 28.11.2018, Die WELT, 21), als im November 2018 der von Savoy und Sarr verfasste Restitutionsbericht an Macron überreicht wurde. Da der französische Präsident mit der Übergabe des Berichts zudem die Restitution von 26 Statuen aus der BéhanzinSammlung nach Benin ankündigt, trägt ihm dies eine Vorreiterrolle unter den westeuropäischen Staaten ein (vgl. Meister, 28.11.2018, Die WELT, 21). In der FAZ konstatiert Kolja Reichert (30.11.2018, FAZ, 30), dass „[e]in Beben durch die Depots der europäischen Museen“ gehe, welches „die Fundamente des europäischen Selbstbilds“ zum Wanken bringe. Weiter befindet Reichert (30.11.2018, FAZ, 30), dass Macron mit „seinem demonstrativen Aktionismus […] eine radikale Abkehr von der Politik früherer Regierungen [unternimmt] und […] einen moralischen Zugzwang [schafft], der andere Regierungen und Museen unter Druck setzt – und heillos überfordert“. Macrons „zupackende Haltung“ (Häntzschel, 17.12.2018,

342 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

SZ, 11) wird dabei als Gegensatz zum deutschen Umgang mit der Restitutionsfrage entworfen, die als abwartend und zurückhaltend konstruiert wird. Sarrs und Savoys „Befund und Macrons Handeln bringen die deutsche Kulturpolitik in Erklärungsnot“, heißt es etwa am 24. November in der SZ (Häntzschel, 24.11.2018, SZ, 17). Moniert wird dabei, dass es bisher noch keine offiziellen Stellungnahmen des Außenministeriums oder der Kanzlerin gab, obwohl das Thema „in Frankreich für so bedeutend gehalten wird, dass der Präsident persönlich darüber entscheidet“ (Häntzschel, 15.12.2018, SZ, 11). Im wiederholt angestrebten Vergleich mit Macrons Politik werden die ergriffenen Maßnahmen in Deutschland jedoch als nicht hinreichend bewertet. Mittels Symbolpolitik, wie dem Ausbau von Kooperationsvereinbarungen und der Artikulation von ‚Schuldbekenntnissen‘, würde sich letztlich vor der Verantwortung, umfängliche Restitutionen in die Wege zu leiten, ‚gedrückt‘ (vgl. Häntzschel, 24.11.2018, SZ, 17). Damit spiegelt sich in der Medienanalyse die von Savoy eingangs zitierte Feststellung, dass es der deutschen Seite an politischem Willen zu mangeln scheint. Auch in der französischen Presse fasst ein deutscher Korrespondent die Kulturpolitik beider Länder in der beschriebenen Gegensätzlichkeit zusammen. In Le Monde heißt es beispielsweise am 1. Dezember 2018 über Deutschlands Bezugnahme auf Macrons Politik: La prudence allemande face à l’audace française. Depuis l’élection d’Emmanuel Macron […] cette grille de lecture s’est imposée outre-Rhin, où l’activisme du président français est volontiers cité en exemple par ceux qui déplorent le manque de volontarisme de chancelière allemande. (Wieder, 01.12.2018, Le Monde, 6)

Auffallend an der positiven Bezugnahme auf die französische Initiative ist allerdings, dass Macrons Politik oft verkürzt mit den Inhalten des Restitutionsberichts gleichgesetzt wird. In der SZ heißt es beispielsweise, dass Macron es „ebenso zu sehen [scheint]“ wie Sarr und Savoy, dass Leihgaben und die ‚Zirkulation‘ der Objekte nichts an den Eigentumsverhältnissen ändere und deswegen abgelehnt werden müssen (Häntzschel, 24.11.2018, SZ, 17). Dass Macron selbst den Begriff der ‚Zirkulation‘ in die Debatte einführte, findet dabei ebenso wenig Erwähnung wie die französische Notwendigkeit, Sondergesetze zur Regelung einzelner Fälle zu verabschieden, um Restitutionen legal zu ermöglichen. Weiterhin kommen nur wenige Artikel auf die ausgesprochen negative Rezeption des Sarr-Savoy-Berichts in der französischen Presse zu sprechen, wie etwa der FAZ-Artikel mit dem Titel „Die Büchse der Pandora ist geöffnet“, der der schweizerischen Zeitung Le Temps entlehnt wurde (vgl. Altwegg, 26.11.2018, FAZ, 11; Altwegg, 04.12.2018, FAZ, 9). Diese Gegensätzlichkeit zwischen der Zuschreibung eines stärkeren politischen Willens in Frankreich einerseits und der fortgeschrittenen zivilgesellschaftlichen

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 343

und medialen Debattenkultur in Deutschland andererseits bestätigen sich in der Diskursanalyse. In der deutschen Presse wird in allen ausgewerteten Zeitungen die Notwendigkeit von Restitutionen anerkannt und zudem als eine ‚moralische Verpflichtung‘ markiert (vgl. Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9). Einwände gegen mögliche Restitutionen werden – abgesehen von den in Interviews getätigten Aussagen des Direktors des Tervuren-Museums Guido Gryseels sowie der Gründungsintendanten des Humboldt Forums Horst Bredekamp und Hermann Parzinger – nur indirekt wiedergegeben. Illustrieren lässt sich dies am emotionalen Topos der ‚Angst‘ vor den ‚leer gefegten‘ Museen (vgl. Woeller, 30.11.2018b, Die WELT, 21), der besonders heftige Reaktionen in der französischen Debatte auslöste. Der Emotionale Diskurs einer ‚Angst vor einer Entleerung der Museen‘ wird im französischen Kontext oft mit dem Argument verknüpft, dass die Sammlungen in afrikanischen Museen nicht hinreichend konserviert werden können (vgl. Calvet und Lecaplain, 21.11.2018, Libération, 2). Die Deutlichkeit, mit der diese Argumente hervorgebracht werden, veranlassen Sarr und Savoy zur mehrmalig wiederholten Stellungnahme in der französischen Presse, dass diese ‚Angst‘ „irreal“ sei (Moussaoui, 22.11.2018b, L’Humanité, 16). Die französische „Furcht“ spiegelt sich auch in der deutschen Berichterstattung wider (Woeller, 30.11.2018b, Die WELT, 21), wenn es etwa in Die WELT heißt, dass „ein Wind der Panik durch die französischen Museen“ fege (Meister, 28.11.2018, Die WELT, 21). In der deutschen Presse wird diesem Einwand jedoch die von Sarr und Savoy entworfene Auffassung entgegengesetzt, dass die Objekte „unwiderruflich ein Stück Europa und Afrika in sich“ trügen und folglich dem „europäischen Selbstbild“ nicht verlustig gehen können (Woeller, 30.11.2018b, Die WELT, 21). Ist die Rede von der ‚Angst‘ vor der Entleerung der Museen oder der ‚Furcht‘ vor einem transparenten Umgang mit den Sammlungsbeständen, werden diese Gefühlsregungen den Museumsdirektor:innen und Kurator:innen zugeschrieben. Die Feuilletonist:innen nehmen stattdessen positiv Bezug auf die von Sarr und Savoy entwickelten Argumente. In der SZ wird der koloniale Kunstraub, Savoy zustimmend, als ein „Akt der Dehumanisierung“ beschrieben (Häntzschel, 22.11.2018, SZ, 13), worin sich auch die ablehnende Bewertung des kolonialen Systems ausdrückt, wie sie in der französischen Berichterstattung kaum zu finden ist. In einer kritischen Auseinandersetzung mit den in der Gegenwart fortbestehenden asymmetrischen Machtgefügen werden außerdem die von Savoy und Sarr in die Debatte eingeführten Erwägungen diskutiert, eine Umdeutung des Objektverständnisses und der westlichen Ausstellungspraxis vorzunehmen. So titelt die taz am 26.  November 2018 in Rekurs auf Sarr und Savoy, dass die Objekte kolonialer Provenienz als „museale Subjekte“ (Gutmair, 26.11.2018, taz, 16) aufgefasst werden sollten, da diese in den jeweiligen Herkunftsgesellschaften

344 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

eine Bedeutung einnehmen, die über die museale Verwahrung hinausgehe. Die deutsche Debatte besticht dabei durch einen hohen intellektuellen Reflexionsgrad und wird im Gegensatz zu Frankreich vornehmlich im Feuilleton geführt. Deutlich wird dieser Befund beispielsweise an einem weiteren Artikel aus Die WELT, der den Restitutionsbericht als „politische Utopie“ und somit als Beginn eines Prozesses kultureller Hybridisierung auffasst (Woeller, 30.11.2018b, Die WELT, 21). Damit werden in der öffentlichen Debatte verstärkt Ideen postkolonialer Theoretiker:innen aufgegriffen, die zudem durch verschiedene Beiträge von Wissenschaftler:innen wie etwa die (Kunst-)Historiker:innen Bénédicte Savoy, Wiebke Ahrndt, und Jürgen Zimmerer, aber auch Anthropolog:innen wie etwa Larissa Förster Verbreitung erfahren. Mithilfe dieser überwiegend positiven Rezeption der französischen Restitutionsankündigungen und des Sarr-Savoy-Berichts stellt die deutsche Presse Macrons ‚Vorreiterrolle‘ im Umgang mit den kolonialen Museumsbeständen heraus. Gleichzeitig konstituiert sich in der Bezugnahme auf das Nachbarland eine bundesdeutsche Restitutionspolitik, die im März 2019 in der ersten Verabschiedung eines Eckpunktepapiers zwischen Bund und Ländern kumuliert. Zentral dafür sind zum einen die transnationale Zirkulation der Inhalte des Restitutionsberichts und zum anderen die Etablierung eines moralischen Diskurses, der Restitutionen als eine unumgängliche Notwenigkeit zur Wiedergutmachung historischen Leids konstruiert. 10.2.2.2 Ein moralisches Recht auf Restitution? Die Bedeutung des Restitutionsberichts als transnationales Diskursereignis zeigt sich an der prompten Reaktion der Kulturstaatsministerin des Bundes, Monika Grütters, und der Staatsministerin für internationale Kulturpolitik beim Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, die am 15. Dezember 2018 in einem Artikel in der FAZ Stellung zum Savoy-Sarr-Bericht beziehen. Entgegen der ausbleibenden Reaktion Macrons sprechen sich die Staatsministerinnen eindeutig für Rückgaben aus, wenn sie die Erwartung an die Museen formulieren, „sich offen der Frage einer Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten zu stellen“ (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Dabei treten die beiden Staatsministerinnen nicht nur fordernd gegenüber den Museen und Kultureinrichtungen auf, Rückgaben zu realisieren, sie setzen sich außerdem für eine größere Transparenz im Umgang mit den Sammlungen ein. Indem sie auf die Klärung der Provenienzen und die Rekonstruktion der „Objektbiografien“ als politisches Lösungsangebot setzen, schlagen sie aber auch eine andere politische Richtung als in den 1970er Jahren ein, als die deutschen Kulturschaffenden noch Bedenken hinsichtlich einer möglichen Erzeugung von „Begehrlichkeiten“ (Savoy 2021, 122)

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 345

hatten. Gleichzeitig versuchen Grütters und Müntefering den Spagat, die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus sowohl als kulturpolitisches als auch als breites gesellschaftliches Thema zu platzieren. Demnach müsse die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit „weiterreichen als die Diskussionen in den deutschen Feuilletons“, schließlich gehe es „um nicht weniger als darum, eine erinnerungs- und kulturpolitische Gedächtnislücke zu schließen“ (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Als Folge kündigen die Staatsministerinnen die Erarbeitung einer gemeinsamen Position zwischen Bund und Ländern an. Als Bund und Länder im März 2019 schließlich das „Eckpunktepapier“ veröffentlichen, ist Deutschland „das erste europäische Land, das sich auf allen staatlichen Ebenen dazu verpflichtet hat, seine Kolonialvergangenheit aufzuarbeiten“, wie die SZ konstatiert (Häntzschel, 15.03.2019c, SZ, 13). Der Restitutionsbericht hat dabei massiven Einfluss auf die deutsche Kulturpolitik genommen und zu richtungsweisenden Stellungnahmen geführt, was seine transnationale Bedeutung herausstellt. Die Etablierung eines moralischen Diskurses zeigt sich, wenn Grütters und Müntefering von den „enorme[n] historische[n], moralische[n] und politische[n] Herausforderungen“ schreiben, „mit denen uns die Erinnerung an die deutsche und europäische Kolonialgeschichte konfrontiert“ (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Restitutionen von kulturellen Objekten kolonialer Herkunft werden nicht nur in den Medien, sondern auch auf politischer und institutioneller Ebene als eine moralische Verpflichtung anerkannt. Eingangs habe ich anhand Savoys kunsthistorischer Untersuchung hervorgehoben, wie die international ausgetragene „Restitutionsdebatte“ der 1970er Jahre mithilfe juristischer Winkelzüge abgewehrt werden konnte. Die deutsche UNESCO-Kommission hat in einem vertraulichen Papier im Jahr 1978 ausgearbeitet, dass der Begriff der Restitution einen „juristisch unsauberen Erwerb“ impliziere, sodass am besten auf den Begriff verzichtet wird, um „keine moralische Verpflichtung […] erkennen“ zu lassen (zit. in: Savoy 2021, 122). In der gegenwärtigen Debatte können jedoch die Verantwortlichen für die europäischen Sammlungen, wie etwa der Intendant des Berliner Humboldt Forums Hermann Parzinger, nicht mehr mit Verweis auf die fehlenden juristischen Rahmenbedingungen bestehende Restitutionsforderungen abschmettern, sondern müssen stattdessen die „moralische Verantwortung“ zur Rückgabe anerkennen (Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9). Der Direktor des Brüsseler Tervuren-Museums Guido Gryseels kommt in einem Interview in der SZ explizit auf die diskursive Verschiebung zu sprechen: Bis vor zehn Jahren haben sich noch viele hinter den rechtlichen Problemen versteckt. Jetzt wird das moralische Recht auf Rückgabe anerkannt. Wenn mir vor fünf Jahren jemand gesagt hätte, dass nicht die Afrikaner die Legitimität ihrer Forderungen beweisen sollten,

346 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

sondern wir die Legitimität unserer Erwerbungen, hätte ich das für unsinnig gehalten. Jetzt sage ich, da ist vielleicht was dran. (Kirchner, 26.11.2018, Süddeutsche.de)

Anders als noch in den 1970er Jahren verstetigt sich der Begriff der Restitution medial, institutionell und politisch und wird gleichzeitig mit einem moralischen Handlungsbedarf verknüpft. Allerdings wird diese allgemein zustimmende Haltung gegenüber Restitutionen von den Museumsmacher:innen mit Verweis auf die zu realisierende Provenienzforschung konterkariert. Gryseels gibt im soeben zitierten Interview gleichzeitig zu verstehen, dass „[e]s […] nichts [bringt] zu sagen, alles solle zurück nach Afrika. Erst mal müssen wir wissen, wie es genau zu uns kam“ (Kirchner, 26.11.2018, Süddeutsche.de). Argumentiert wird beispielsweise in Die WELT, dass Provenienzforschung allein als „ethische Wiedergutmachung“ zu verstehen ist und dass eine „Reinwaschung“ von der kolonialen Schuld „auch durch die so generös proklamierte Rückgabe nicht möglich“ sei (Woeller, 23.11.2018, Die WELT, 21). Kritiker:innen sehen im Insistieren auf die ‚präzise‘ Erforschung der Provenienzen allerdings eine Strategie, um tatsächliche Rückgaben in die Zukunft auszulagern. Bei Savoy und Sarr heißt es beispielsweise, dass sich „die Institutionen hinter einem Diskurs der Provenienzforschung“ verstecken würden (Gutmair, 16.01.2019, taz, 15). Zimmerer unterstreicht die verzögernden Mechanismen bei der Konzentration auf die Provenienzforschung, da „bei Verweigerung einer umfassenden Diskussion […] die politische Entscheidung über die Restitution kolonialer Objekte auf die Zukunft“ verschoben werde (Zimmerer, 19.02.2019, SZ, 12). Doch auch Artikel, die nicht von wissenschaftlichen Expert:innen verfasst sind, monieren, dass die Provenienzforschung zum „Allheilmittel“ und der Begriff „Objektbiografie[]“ zum neuen „Lieblingswort“ der Deutschen avancierte, wie es in Die WELT heißt (Karich, 30.11.2018, Die WELT, 21). Dabei weisen auch Grütters und Müntefering in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass Provenienzforschung nicht als „Verzögerungstaktik“ herhalten darf, „insbesondere dann nicht, wenn eine Rückgabe gerechtfertigt erscheint“ (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Insgesamt werden die ergriffenen Maßnahmen als wenig zielgerichtet wahrgenommen und die angekündigte finanzielle Ausstattung der Museen für Provenienzforschung als Vorwand interpretiert, die Frage der Restitutionen in die Zukunft zu verschieben (vgl. Zimmerer, 19.02.2019, SZ, 12). Diese Gemengelage verweist auf die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die in der Anrufung einer moralischen Verpflichtung zu finden sind. Denn zum einen wird aus der „moralischen Verantwortung“ die Pflicht zur Restitution kolonialer Sammlungsbestände abgeleitet (vgl. Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9). Der moralische Diskurs eröffnet dabei einen neuen Möglichkeitsraum, in dem das Fehlen rechtlicher Anspruchsgrundlagen nicht mehr ausreicht, um Restitutionsforderungen

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 347

abzuwehren. Somit erodiert in der deutschen Debatte die von Savoy dargestellte Opposition zwischen westlicher Rationalität und subalterner Emotionalität, die sich in den 1970er und 1980er Jahren etablierte. Auf der anderen Seite bleibt die Anrufung einer moralischen Verpflichtung vage genug, um die Handlungsmacht über die Entscheidung von Restitutionen im Westen zu belassen. Statt beispielsweise Restitutionsgesetze zu schaffen, die systematische Rückgaben ermöglichen, kann die Erwägung von Rückgaben die moralische Erhöhung westlicher Institutionen befördern. In einem Artikel in der FAZ heißt es, dass sich „der Restituierende […] zwangsläufig zum Richter über Legitimitäten“ aufschwinge (Reichert, 30.11.2018, FAZ, 50), wodurch sich die bestehenden Ungleichverhältnisse zwischen Nord und Süd perpetuierten. Provenienzforschung, die keine Restitutionsabsicht verfolgt und auch die ehemals Kolonisierten nicht einbindet, mache die Aufarbeitung des Kolonialismus zu einer ausschließlich deutschen Angelegenheit, bei der vor allem die „Herkunftsgesellschaften sehr kurz“ kommen, wie die SZ schreibt (Häntzschel, 15.03.2019, SZ, 13). Ein Einwand, der auch in den Debatten um die Bewertung des Kolonialismus als Menschheitsverbrechen angebracht wird. Im Folgenden zeige ich, wie sich in der „Restitutionsdebatte“ die allgemeinere Frage nach der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit erneut mit dem Gedenken an den Holocaust verknüpft. 10.2.2.3 D  er Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“? Kontroversen um die Bezüge zur Restitution der NS-Raubkunst und um das Bund-Länder-Eckpunktepapier von 2019 Schon im Herbst 2018 schlägt die Staatsministerin Monika Grütters vor, dass Projekte zur Erforschung des Sammlungsguts kolonialer Provenienz als weiterer Aufgabenbereich in die Strukturen des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) eingebunden werden sollten. Bisher war diese Institution federführend für die Klärung der Provenienzen und die Restitution von NS-Raubkunst zuständig. Am 20. August 2018 kündigte das DZK an, einen neuen Fachbereich zur „Aufarbeitung der Provenienzen von Kulturgut aus kolonialen Kontexten“ aufzubauen, der zum Jahresbeginn 2019 seine Arbeit aufnehmen sollte (PM Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, 20.08.2018). Als der Restitutionsbericht im November übergeben wurde, fand gleichzeitig eine Fachtagung zur Bilanzierung der Washingtoner Prinzipien statt, bei denen es sich um eine international ausgehandelte, rechtlich nicht bindende Übereinkunft handelte, um während des Nationalsozialismus unrechtmäßig erworbene Kunstwerke zu identifizieren, die Vorkriegseigentümer:innen ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ für eine Rückgabe zu finden (Deutsches Zentrum Kulturgutverluste 2021b). Die

348 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Fachtagung bot den Rahmen, um zu diskutieren, inwiefern die bestehende Infrastruktur zur Restitution von NS-Raubgut zum Vorbild für die Rückgabe kolonialer Bestände gereichen kann. Hermann Parzinger, der mit einem Vortrag auf der Fachtagung vertreten war, knüpfte an die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Raubkunst an und regte am 29. November in der FAZ die Einrichtung einer Zentralstelle an, die künftig die Informationen zu den ethnologischen Sammlungen zusammentragen und am DZK eingerichtet werden könnte (vgl. Parzinger, 29.11.2018, FAZ, 9). Doch erst, als die Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Februar und März 2019 Anträge an die Bundesregierung zum Umgang mit den kolonialen Sammlungsbeständen in deutschen Museen richten, wird die Frage nach konkreten Maßnahmen auch medial breiter diskutiert. Während der Antrag der Grünen den Vorschlag aufnimmt, eine Zentralstelle am DZK einzurichten (vgl. Drucksache 19/7735, 13.02.2019), fordert die FDP in ihrem Antrag dezidiert „zusammen mit den Anspruchsberechtigten gemeinsame Lösungen auf Augenhöhe, analog zum Geiste der Washingtoner Erklärung, zu finden“ (Drucksache 19/8545, 19.03.2019, 2). Anders jedoch als bei NS-Raubkunst, deren unrechtmäßige Aneignung schon 1943 von den Alliierten anerkannt wurde, um die Wiederherstellung der vorherigen Besitzverhältnisse auch juristisch abzusichern, liegt solch ein Vertragswerk für die Restitution kolonialen Sammlungsguts nicht vor (vgl. Sarr und Savoy 2018, 65; Thielecke und Geißdorf 2021, 165). Exemplarisch zeigt sich dies auch an der in Pressetexten sowie wissenschaftlichen Beiträgen oft erwähnten UNESCO-Konvention von 1970, die eine Rückgabe von Kulturgut aus kolonialen Kontexten prinzipiell vorsieht. Allerdings wurde eine retroaktive Anwendung der in der Konvention getroffenen Vereinbarungen von den jeweiligen Nationalstaaten dezidiert abgelehnt (vgl. Scott 2020, 137). Die rechtlichen Vertragswerke auf nationaler und internationaler Ebene liefern somit – im Gegensatz zur NS-Raubkunst – keinerlei Anspruchsberechtigung, um das koloniale Erbe der Museen zurückzufordern (vgl. Kap. 9.1).51 Dennoch stellte

51  Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages begründet im Jahr 2018, dass sich Ansprüche zur Rückgabe kultureller Artefakte aus kolonialen Kontexten gemäß der Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes (KGSG) im Jahr 2016 nur ab dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des UNESCO-Kulturgüterabkommens ableiten lassen, d.  h. ab dem 26.  April 2007. Eine retroaktive Anwendung des KGSG, selbst wenn es sich nachweislich um koloniale Raubkunst handelt – wird somit ausgeschlossen (WD 10 – 3000 – 023/18 2018, 10). Ansonsten regelt das deutsche Recht im Bürgerlichen Gesetzgebung (BGB) die Verhandlung von Eigentumsfragen. Die Person, die den Anspruch stellt, ist dabei in der Beweispflicht nachzuweisen, früher im Besitz des Objekts gewesen zu sein. Insbesondere im Kontext kolonialen Sammlungsguts sind die Erwerbskontexte jedoch mannigfaltig und reichen von systematischen Plünderungen und Raubzügen bis zu erzwungenen Kaufeinwilligungen, Schenkungen und Ankäufen. Für einen Großteil der

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 349

der Bezugsrahmen „NS-Raubkunst“ das Vokabular bereit, mit dem die Presse koloniale Museumsbestände bedachte (vgl. Gißibl, 24.04.2017, FAZ, 15; Pofalla, 12.12.2018, Die WELT, 22). In Frankreich wie auch in Deutschland setzen sich daher die Verantwortlichen der Museen dafür ein, dass koloniales Sammlungsgut nicht pauschal als Raubgut klassifiziert wird. Parzinger gibt bereits im Januar 2018 in der FAZ zu verstehen, dass es „Populismus“ sei, „[d]ie Bestände völkerkundlicher Museen samt und sonders als Raubgut zu bezeichnen“ („Wem gehört die Kunst der Kolonialzeit“, 25.01.2018, FAZ, zit. in: Bodenstein und Howald 2018, 533). Die „Folge der Übertragung der Schablone der ‚Raubkunst‘ aus dem NS-Kontext auf das welthistorische Phänomen des Kolonialismus ist eine Verkümmerung der moralischen Phantasie“, heißt es in der FAZ als Reaktion auf den Restitutionsbericht, der somit eine simplifizierende Opfer-Täter-Dichotomie zementiere (Bahners, 22.01.2019, FAZ, 13). An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, eine Bewertung über die (Un-)Rechtmäßigkeit der Erwerbskontexte kolonialer Sammlungen vorzunehmen, da diese zu mannigfaltig sind und sich die Provenienzen zu einem großen Teil nicht zweifelsfrei klären lassen werden (vgl. Bodenstein und Howald 2018, 533–534). Zentraler scheint mir, dass die Erfahrung mit der Rückgabe von NS-Raubkunst den Boden für Restitutionen kolonialer Objekte bereitete und ein Repertoire an Praktiken zur Verfügung stellte, auf das zurückgegriffen werden kann. Savoy verweist auf diesen ‚Erfahrungsvorsprung‘ schon im Juni 2018 in einem Interview mit Le Figaro: La spoliation des Juifs et les appropriations durant la période coloniale n’ont rien à voir. Cependant, tout l’effort fait depuis la conférence de Washington, en 1998, pour restituer l’art volé pendant la Seconde Guerre mondiale a permis de préparer les esprits. (Bommelaer, 03.06.2018, lefigaro.fr)

Die Washingtoner Prinzipien als Wegbereiter für die Rückgabe kolonialer Objekte wurde von der deutschen Presse allerdings überwiegend deswegen kritisiert, weil die bisher etablierten Mechanismen als ineffizient gescholten werden. In der französischen Berichterstattung zeigt sich indes ein anderes Bild. Dort wird auf Grütters Vorschlag der Orientierung an der Aufarbeitung der NS-Raubkunst positiv Bezug genommen und Deutschlands Erfahrungen mit der Erforschung der „Objektbiografien“ als wegweisend herausgestellt. In Le Figaro heißt es im Mai 2018 :

in den europäischen Sammlungen konservierten Objekte lassen sich die Provenienzen jedoch nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Doch selbst wenn die Provenienz geklärt wäre und der unrechtmäßige Erwerb feststünde, definiert das BGB eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, sodass hinsichtlich der Rückgabe kolonialer Objekte keine Anspruchsgrundlage mehr gegeben ist (WD 10 – 3000 – 023/18 2018, 10).

350 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Le débat est plus avancé en Allemagne, sensibilisée à la question depuis les spoliations de l’ère nazie et elle-même pillée par l’Armée rouge. Plusieurs musées travaillent à identifier l’origine des milliers d’œuvres issues de l’époque coloniale, quand l’Allemagne avait notamment la main sur le Cameroun, le Togo ou la Tanzanie. La provenance des objets qui seront exposés au Humboldt Forum, le grand musée ethnologique qui doit ouvrir à Berlin, sera explicitée. L’étude de ces œuvres constitue une „tâche historique“, a estimé en septembre la ministre de la Culture allemande, Monika Grütters, en suggérant la création d’une structure dédiée, à l’instar du Centre allemand chargé de retrouver les propriétaires des biens pillés par les nazis. („Le Bénin réclame à la France la Restitution de trésors de son patrimoine“, 30.05.2018, lefigaro.fr)

Vor allem der Fokus auf die Provenienzforschung wird in diesem Auszug als ein wichtiger Grundstein für die Aufarbeitung der kolonialen Sammlungsbestände erachtetet. Während in den Debatten 2018 das Thema Provenienz noch keine Rolle in der französischen Berichterstattung spielt, gewinnt es mittlerweile auch in Frankreich zunehmend an Bedeutung. Am 29. April 2021 erscheint in Le Monde ein Artikel, in dem die Provenienzforschung als neue Priorität französischer Museen bezeichnet wird und in dem vor allem deutsch-französische Projekte Erwähnung finden (vgl. Azimi, 29.04.2021, lemonde.fr). Auch die Empfehlungen des im März 2019 erschienenen Eckpunktepapiers nehmen die Maßnahmen der Washingtoner Prinzipien zu ihrem Ausgangspunkt, wie der Historiker Jeremiah Garsha (2020, 58) in seinem Artikel „Expanding Vergangenheitsbewältigung?“ herausstellt. Als Maßnahmen wurden nunmehr festgelegt, dass in allen Bundesländern Inventarlisten, dokumentarische Aufzeichnungen sowie ein öffentlich zugängliches Zentralregister erstellt werden sollen (vgl. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste 2021b). Im Feuilleton werden die Eckpunkte teilweise scharf kritisiert. Von „Unschärfe“, „Unentschiedenheit“ und einem „Mangel an politischer Klarheit“ (Häntzschel, 12.02.2019, SZ, 9) ist dabei die Rede, und auch, dass „[d]er 200-seitige Bericht von Savoy und Sarr […] einen euphorisch zurück[lässt], das neunseitige deutsche Papier [jedoch] ernüchternd bis enervierend“ sei (Häntzschel, 15.03.2019, SZ, 13). Im ND heißt es, dass „die ‚Eckpunkte‘ weit hinter dem wissenschaftlichen Bericht an Macron zurück[bleiben], der 2018 eine Umkehr der Beweislast forderte“ (Wegener und Schäfer, 16.03.2019, ND, 17). Richtig ist zwar, dass die Eckpunkte keine juristischen Mechanismen zur Systematisierung von Restitutionen bereithalten – dies gilt allerdings auch für den Savoy-Sarr-Bericht. Und im Gegensatz zu Frankreichs anhaltendem „Schweigen“ (Häntzschel 13.03.2019, SZ, 15) gegenüber den von Sarr und Savoy entwickelten Empfehlungen, reagiert die deutsche Bundes- und Landespolitik mit der Zusage, künftig Restitutionen in die Wege zu leiten. Die deutschen Debatten weisen somit über die französischen hinaus, wenn sie im Rahmen der Erarbeitung der Eckpunkte die Frage diskutieren, ob die außereuropäischen Objekte „als mutmaß-

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 351

lich unrechtmäßig erworben zu klassifizieren“ sind (Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9). Folglich markiert Bahners in der FAZ die Debatten um die (Un-)Rechtmäßigkeit der Sammlungen als einen „Richtungsstreit“ (Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9), der sich auch auf die Bewertung des deutschen Kolonialismus ausweitet. In einem ersten Entwurf des Eckpunktepapiers stand zunächst der Satz: „Die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen erkennen an, dass der Kolonialismus ein ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ war“ (zit. in: Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9). Die FAZ vermutet auch hier den französischen Präsidenten als Vorbildgeber, der den Kolonialismus im Frühjahr 2017 als erster Staatspräsident als Menschheitsverbrechen bezeichnet hatte. Allerdings, so Bahners in der FAZ, könne Frankreich diese Einlassung – im Gegensatz zu Deutschland – als metaphorisches Zugeständnis aufbieten, um die ansonsten weiterhin paternalistische Beziehung zu den (ehemaligen) Kolonien umzudeuten (vgl. Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9). Im deutschen erinnerungspolitischen Kontext käme es jedoch einer Relativierung des Holocaust gleich. Weder die Beweislastumkehr noch das Eingeständnis, dass der Kolonialismus ein Menschheitsverbrechen war, fanden Eingang in die finale Fassung. Widerstand kam u.  a. vom Auswärtigen Amt. Dennoch behielten sich die linksregierten Bundesländer Berlin, Hamburg, Bremen, Thüringen und Brandenburg vor, dem Dokument eine Protokollerklärung beizufügen, in dem sie den Kolonialismus als ein auf „kulturelle[n] und biologischen[n] Ungleichwertigkeits[vorstellungen] basierendes System von Herrschafts-, Gewalt-, und Ausbeutungsverhältnissen“ bezeichneten (Bahners, 15.03.2019, FAZ, 11). Im Eckpunktepapier wird indes die Vergleichbarkeit zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus explizit zurückgewiesen: Die Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, die Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und die kommunalen Spitzenverbände verstehen die Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten als einen klar von der Aufarbeitung NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts zu trennenden Sachverhalt. Sie wird nicht zu einer Reduzierung der Bemühungen und Maßnahmen zur Aufarbeitung des NS-Unrechts führen. Der Holocaust ist präzedenzlos und unvergleichbar. (Eckpunktepapier, 13.03.2019, 2–3)

Hinsichtlich der Bestätigung des erinnerungspolitischen Konsenses, den Holocaust als „unvergleichbares“ Verbrechen aufzufassen, kristallisieren sich in der Analyse der Zeitungsartikel unterschiedliche Bewertungen heraus. Während in der SZ von einer „merkwürdige[n] Rivalität deutscher Unrechtsregime“ die Rede ist (Häntzschel, 15.03.2019, SZ, 13), hält Die WELT es hingegen für nicht „tragbar“, „das begangene Unrecht im Kolonialismus direkt mit dem Holocaust in Verbindung [zu] bringen“ (Karich, 13.03.2019, WELT online). Und auch die FAZ urteilt,

352 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

dass es „nötig“ war, „die Abstemplung der Kolonialherrschaft als Menschheitsverbrechen zu streichen“ (Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9). Auch wenn sich der „postkoloniale Lobbyismus“ (Bahners, 11.03.2019, FAZ, 9), wie es sprachlich abwertend in der FAZ heißt, auf politischer Ebene nicht durchzusetzen vermochte, zeigt sich in der Analyse der Medienberichterstattung recht eindeutig, dass die Aufarbeitung des Kolonialismus politisch und gesamtgesellschaftlich eine Bedeutungszuschreibung erfahren hat. Insbesondere die Entwicklungen zwischen November 2018 und März 2019 veranschaulichen, dass das föderale System der Bundesrepublik im Vergleich zum französischen Zentralismus das politisch flexiblere ist. Einzelne Bundesländer initiierten nicht nur erste Restitutionen, wie etwa Baden-Württemberg, das die Witbooi-Bibel und Peitsche aus dem Stuttgarter Linden-Museum an die Nama zurückgab, oder das Land Berlin, das im Sommer 2019 das Säulenkreuz von Cape Cross aus dem Deutschen Historischen Museum (DHM) restituierte (vgl. Häntzschel, 17.05.2019, SZ, 10). Zentral ist hier, dass Akteur:innen auf Landesebene mit ihrem Vorstoß, den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu klassifizieren, bundesweite Debatten angestoßen und dabei eine (Neu-)Bewertung der kolonialen Vergangenheit erwirkt haben. Folglich – darin war sich die Medienberichterstattung einig – sei bei der Verhandlung der Eckpunkte als „wichtigster Punkt auf der Tagesordnung […] die Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit“ zum Thema gemacht worden (Karich, 13.03.2019, WELT online, Hervorhebung S. R.). Schlussfolgernd konnte ich anhand der diskursanalytischen Rekonstruktion zeigen, dass sich die politischen sowie medialen Debatten an den etablierten Rückgabepraktiken von NS-Raubkunst orientieren, um daraus konkrete Maßnahmen für den Umgang mit den kolonialen Sammlungen abzuleiten. Der Rückgriff auf die Erfahrungen mit der im Nationalsozialismus enteigneten Kunst stellt folglich ein Repertoire an Praktiken bereit, auf das zurückgegriffen werden kann. In der französischen Presse wird dieser Bestand an Erfahrungen als ‚Vorsprung‘ gewertet, der die deutsche Politik auch zum Vorbild für die Provenienzforschung macht. Zum anderen wurde mit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers im März 2019 eine sehr viel grundsätzliche Debatte um die Bewertung der kolonialen Vergangenheit angestoßen, indem einige Bundesländer den Vorstoß wagten, den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ deklarieren zu lassen, der allerdings mit Verweis auf die Singularität des Holocaust zurückgewiesen wird.

„Macron handelt, Deutschland redet“ 

 353

10.2.3 Zwischenfazit: Wenn auf Worte (kaum) Taten folgen Die Situation beider Länder [Deutschland und Frankreich, Anm. S.  R.] ist vergleichbar. Natürlich gibt es in Frankreich den Sarr/Savoy-Bericht und die Rede von Präsident Emmanuel Macron in Ouagadougou. Deswegen sieht es so aus, als wäre Frankreich weiter […]. („Museen in Paris und Berlin wollen bei Kolonialkunst zusammenarbeiten“, 08.02.2019, monopol-magazin.de)

In ihrem gemeinsamen Interview vom 8.  Februar 2019 fassen der Präsident des Pariser Musée du quai Branly-Jacques Chirac, Stéphane Martin, und der Gründungsintendant des Humboldt Forum in Berlin, Hermann Parzinger, die wesentlichen Punkte zusammen, die die „Restitutionsdebatten“ in Deutschland und Frankreich Ende 2018/Anfang 2019 prägten. Die Museumsdirektoren stellen dabei sowohl die transnationale Bedeutung von Macrons Engagement in der „Restitutionsdebatte“ als auch den Savoy-Sarr-Bericht heraus. Parzingers Einlassung, es sähe so aus, als ob Frankreich in der „Restitutionsdebatte“ weiter sei, entspricht der positiven Bezugnahme auf Macrons Restitutionspolitik, die sich auch in der Analyse der deutschen Medienberichterstattung zeigte. Die umfassenden medialen Reaktionen auf den Restitutionsbericht veranlassten die Staatsministerinnen Grütters und Müntefering schon am 15. Dezember zur Veröffentlichung eines Artikels in der FAZ, in dem sie ihre Zustimmung gegenüber weitreichenden Restitutionen ausdrückten. Martin gibt im Interview mit Parzinger allerdings zu bedenken, dass der Restitutionsbericht juristisch nicht bindend ist und der Élysée bis zum Zeitpunkt des Interviews noch keine Stellungnahme veröffentlicht hatte. Tatsächlich wird die von Macron angekündigte Rückgabe des ‚Schatzes von Béhanzin‘ an Benin erst Mitte Oktober 2020 vom französischen Parlament durch die Verabschiedung eines Sondergesetzes legitimiert. Letztendlich weist das Interview auf die Ambivalenzen hin, die in der differenten Medienrezeption in Deutschland und Frankreich deutlich geworden sind. Die Bedeutung des code du patrimoine wird nicht nur von Martin angesprochen, auch die französische Presse greift die Unveräußerlichkeit der französischen Sammlungen wiederholt auf. Als Folge wird eine umfassende Restitutionspolitik, wie sie von Savoy und Sarr vorgeschlagen wurde, abgelehnt. Ihr Vorschlag eines Restitutionsgesetzes wird dabei in der Medienberichterstattung kaum diskutiert. Neben dem Anbringen rechtlicher Gründe wird die allgemein ablehnende Haltung gegenüber Restitutionen außerdem anhand der als universell verstandenen französischen Sammlungen begründet. Im Gegensatz zur deutschen Berichterstattung überwiegen in der französischen Presse zudem die Darstellung einer „inquiétude des conservateurs, [et] l’agacement des marchands“ (Dagen, 22.11.2018, Le Monde, 16). Die deutsche Debatte, wenngleich ausschließlich im Feuilleton geführt, zeichnet sich hingegen durch eine allgemeine Zustimmung

354 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

gegenüber Restitutionen aus. Die Bezugnahmen auf das vorbildliche Frankreich und den „zupackenden“ Präsidenten – die sich allerdings im Laufe des Jahres 2019 relativieren – dienen einer kritischen Evaluierung der deutschen Kulturpolitik. In der intellektuell geführten Feuilleton-Debatte werden die Argumente Savoys und Sarrs positiv rezipiert und Emotionen, wie ‚Ärger‘ und ‚Angst‘ nur indirekt und relativierend wiedergegeben. Im Gegensatz zu Frankreich etabliert sich außerdem ein emotionaler Diskurs der „moralischen Verantwortung“, mit dem gefordert wird, Restitutionen auch ohne legale Handhabe umzusetzen. Die weiterhin an der Politik geäußerte Kritik wie die fehlende Stellungnahme der Bundesregierung, die „Unschärfe“ sowie die ‚kopflose‘ Implementierung verschiedener Maßnahmen und der Fokus auf die Provenienzforschung muss allerdings vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Regierungssysteme in Deutschland und Frankreich reflektiert werden. Neben dem Fokus auf die Provenienzforschung, die als spezifisch deutsche Debatte auch in den französischen Medien thematisiert wird, beschreibt der deutsche Föderalismus einen weiteren zentralen Unterschied, der die „Restitutionsdebatte“ prägt. Im direkten Vergleich der ergriffenen politischen Maßnahmen zeichnet sich das föderale System durch seinen größeren Handlungsspielraum aus. Deutlich wird dies nicht nur an den Debatten um die Bewertung des Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sondern auch an den von den Landesregierungen initiierten Restitutionen im Februar und Mai 2019. Gleichzeitig wird die Debatte in Deutschland durch die Vielstimmigkeit der unterschiedlichen institutionellen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen bestimmt. Der Zusammenschluss „No Humboldt21!“ taucht nicht nur wiederholt in der deutschen Berichterstattung auf, sondern wird auch in der französischen Presse erwähnt. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen tauchen in der französischen Auseinandersetzung hingegen kaum auf. Stattdessen werden Sarr und Savoy mittels emotionaler Zuschreibungen zu Aktivist:innen ‚degradiert‘, um ihnen ihren Expert:innenstatus und damit ihre Seriosität abzusprechen. Auf der anderen Seite unterstreicht die Ankündigung Parzingers und Martins, künftig die deutsch-französische Zusammenarbeit intensivieren zu wollen, die transnationale Dimension der angestoßenen „Restitutionsdebatte“ (vgl. „Kunst und Kolonialismus: Beratungen mit Franzosen“, 09./10.02.2019, FR, 35; „Museen in Paris und Berlin wollen Zusammenarbeit bei Restitution“, 08.02.2019, nd-aktuell.de). Beispielsweise wurde für das Frühjahr 2019 eine internationale Konferenz angekündigt, um die Auswirkungen des Berichts auf die europäische Museumspraxis zu diskutieren. Gleichzeitig hat die Diskursanalyse gezeigt, dass sich die Debatten sowohl in Frankreich als auch in Deutschland auf nur wenige ausgewählte Beispiele beschränken – in Frankreich sind dies maßgeblich die von Benin zurückgeforderten Béhazin-Regalia und in Deutschland steht vor allem

Zusammenführende Diskussion 

 355

das Humboldt Forum und die darin geplante Ausstellung der Benin-Bronzen im Fokus. Die transnationale Strahlkraft der Debatte scheint sich zu verlieren, sobald es um andere Rückgabeforderungen geht. Im Juli 2019 hat es nach Macrons Restitutionsankündigung in Ouagadougou sein Kulturminister Franck Riester übernommen, eine (juristische) Systematisierung umfassender Restitutionen auszuschließen. Und auch in Deutschland stellt sich die „Restitutionsdebatte“ als kulturpolitischer Verantwortungsbereich dar, in dem sich vornehmlich Grütters und Müntefering zu Wort melden (vgl. Häntzschel, 12.02.2019, SZ, 9). Lassen sich folglich die in diesem Kapitel dargestellten Befunde als ausschließlich kulturpolitische Symbolpolitik zusammenfassen?

10.3 Z  usammenführende Diskussion: Kulturpolitik als Entpolitisierung? Der Historiker Jeremiah J. Garsha (2020, 47) wirft in seinem Artikel „Expanding Vergangenheitsbewältigung?“ für den deutschen Kontext die These auf, dass Restitutionen (und auch Repatriierungen) als gegenwärtiger Ausdruck der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ von den politisch und legal komplexeren Anliegen der Zahlung von Reparationen losgelöst seien. Jürgen Zimmerer fragte hingegen schon im Oktober 2018 in der SZ als Reaktion auf das Schweigen der Bundesregierung zur Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus, „[o]b der Wille zur kolonialen Aufarbeitung, zur Dekolonisierung überhaupt in den Zentralen der Machtpolitik angekommen ist“ (Zimmerer, 23.10.2018, SZ, 2). Im FAZ-Interview mit Horst Bredekamp im Januar 2019, in dem es vor allem um die geplante Eröffnung des Humboldt Forums geht, präzisiert der Historiker: Ich teile Herr Bredekamps Bedenken, dass die Konzentration auf Kunstobjekte von einer breiteren politischen Diskussion ablenkt. Manche scheinen zu denken, auf dem Feld der Kunst kann man das machen, was man in der Realpolitik nicht macht, vielleicht weil es weniger ökonomisch und politisch wichtig gedacht wird. Dagegen wehre ich mich. […]. Man kann das nicht nur auf museale Objekte beschränken. (Kilb und Trinks, 03.01.2019, FAZ, 11)

Zwei Punkte sprechen zunächst für Zimmerers Beobachtung: Zum einen wird die deutsche Diskussion über die Restitution von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten vornehmlich im Feuilleton geführt. Auf der anderen Seite wird die „Restitutionsdebatte“ hauptsächlich im Kontext der Sammlungsbestände des Humboldt Forums diskutiert – obwohl die Restitution der Witbooi-Bibel und Peitsche fast zeitgleich mit der Veröffentlichung des Restitutionsberichts in die Wege geleitet wurde. Gleiches gilt auch für den französischen Kontext, in dem sich die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Sammlungsgut fast ausschließ-

356 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

lich auf den ‚Béhanzin-Schatz‘ konzentriert und Fragen nach einer allgemeinen Bewertung des Kolonialismus keine Rolle spielen. Dieses Verständnis einer entpolitisierenden Kulturpolitik möchte ich jedoch in Rekurs auf Cynthia Scotts Buch Cultural Diplomacy and the Heritage of Empire: Negotiating Post-colonial Returns (2020) relativieren. Scott hat herausgearbeitet, auf welche Weise kulturelle Kooperationen zu einem festen Bestandteil entwicklungspolitischer Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen westeuropäischen Kolonialmächten und ihren Kolonien wurden. Kulturpolitik bietet eine Möglichkeit, den Einfluss in den ehemaligen Kolonien und die weiterhin bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten (vgl. Scott 2020, 11–12). Illustrieren möchte ich dies am Diskurs der Objektzirkulation und des Ausbaus der partnerschaftlichen Beziehungen mit den afrikanischen Ländern, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland debattenprägend sind. Der Restitutionsbericht führt in seinem Titel die Aufforderung zur Etablierung eines neuen relationalen Beziehungsgefüges zwischen Europa und Afrika, was als Konsequenz eine Positionierung der Medienlandschaft nach sich zieht. Während die deutsche Presse die Vorstellungen Sarrs und Savoys teilt, dass die Idee eines europäischen Kulturerbes und die Norm der Verwahrung von Objekten in Museen hinterfragt werden sollte (vgl. Woeller, 30.11.2018b, Die WELT, 21), wenden die Kulturstaatsministerinnen Grütters und Müntefering das neue Beziehungsgefüge allerdings zu einem Ausbau internationaler Kooperationen und der Entwicklung eines „Dialog[s] mit unseren afrikanischen Partnern auf Augenhöhe“ (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Das Goethe-Institut, welches im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit operiert, wird dabei als zentraler Geldgeber und Initiator gemeinsamer Projekte benannt. Der Aufruf zum Dialog und die Kooperation zwischen europäischen und afrikanischen Museen erzeugt dabei die Fiktion gleichen Mitspracherechts über die Zukunft der Sammlungen und verschleiert die bestehenden Machtverhältnisse. Denn Kulturpolitik wird eindeutig auch als ein Instrument der Machtstabilisation auf dem afrikanischen Kontinent benannt. Dabei wird beispielsweise angemerkt, dass China mit der Errichtung von Museen in Afrika die politische Einflusssphäre ausweitet und dem von europäischer Seite etwas entgegengesetzt werden müsse (vgl. „Museen in Paris und Berlin wollen bei Kolonialkunst zusammenarbeiten“, 08.02.2019, monopol-magazin.de; Kilb und Trinks, 03.01.2019, FAZ, 11). Im deutschen Kontext zeigt sich somit besonders eindringlich, dass die Rede vom ‚Dialog auf Augenhöhe‘ dem entspricht, was Ernesto Laclau (2002, 69–70) als leeren Signifikanten beschreibt. Je nach Kontext, in dem die Dialogund Kooperationswilligkeit beschworen wird, wird ein Spektrum unterschiedlicher Bedeutungszuschreibungen möglich. Auf der einen Seite kündigt sich der „Dialog“ als kulturpolitisches Instrument für die Weiterführung einer entwick-

Zusammenführende Diskussion 

 357

lungspolitischen Kooperation an, das zudem generöse Dauerleihgaben aus den europäischen Sammlungen für die afrikanischen Museen in Aussicht stellt. In der kritischen Kommentierung hingegen wird „Dialog“ in Anführungszeichen verwendet, um ihn als rhetorische Figur zu markieren, die weder eine konsequente Restitutionspolitik noch eine Klärung der Eigentumsverhältnisse ermöglicht (vgl. Häntzschel, 12.02.2019, SZ, 9). ‚Tatsächliche‘ Dialogfähigkeit wird als Gegenentwurf mit der Forderung nach mehr Transparenz über die Sammlungsbestände verknüpft. Ausgegangen wird dabei von der Prämisse, dass nur die weltweit garantierte Zugänglichkeit zu den Beständen umfängliche Restitutionen ermöglichen kann (vgl. Häntzschel, 15.12.2018, SZ, 11). Gefolgt wird die Feststellung der Wichtigkeit eines gemeinsamen ‚Dialogs‘ zumeist von der Absichtserklärung, Dauerleihgaben oder die „Zirkulation“ von Objekten in Aussicht zu stellen. Auch Grütters und Müntefering greifen die von ihnen als „recht jung[]“ deklarierte „Idee[] über die Zirkulation von Objekten“ auf, die scheinbar von Macron in den Diskurs eingeführt wurde (Grütters und Müntefering, 15.12.2018, FAZ, 11). Dabei ist die Idee nicht so jung, wie Grütters und Müntefering in ihrem Beitrag andeuten. Gleichsam unterstreicht die Begriffsübernahme den transnationalen Ideentransfer zwischen beiden Ländern. Savoy hat in ihrer historischen Arbeit über die „Restitutionsdebatte“ der 1970er und 1980er Jahre dargelegt, dass es der politischen Strategie europäischer Behörden und Museumsverwaltungen entsprach, den Unrechtmäßigkeit implizierenden und folglich „diffamierenden“ Begriff der „Restitution“ zu vermeiden und stattdessen Alternativen, wie „Transfer“ anzubieten (Savoy 2021, 119, 121). Diese alternativen Begriffe prägen auch weiterhin die Debatten um die Rückgabe von Objekten kolonialer Herkunft. Am 4. Juli 2019 reagiert der französische Kultusminister Franck Riester auf der internationalen Tagung „Patrimoines africains: réussir ensemble notre nouvelle coopération culturelle“ auf den im November übergebenen Restitutionsbericht, indem er die künftige Ausgestaltung der kulturellen Beziehungen zum afrikanischen Kontinent beschreibt. Statt allerdings die Restitution kultureller Objekte kolonialer Provenienz zu systematisieren, wie von Savoy und Sarr vorgeschlagen, sagte Riester, dass „die neue Kooperationspolitik, die wir gemeinsam aufbauen müssen, […] sich nicht auf die einzige Frage nach Restitutionen beschränken“ könne (Rede des französischen Kultusministers Franck Riester, 04.07.2019, Übersetzung S. R.). Wie bereits erwähnt, wird somit eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen ausgeschlossen. Die FAZ titelte darauf „Restitution adé: Leihgabe statt Rückgabe“ (10.07.2019, FAZ, 9), um die von Frankreich kommunizierte Haltung während der Konferenz zu kommentieren. Riester hält außerdem an den Begriffen der Zirkulation und der Kooperation fest, wie folgendes Zitat zeigt:

358 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Je souhaite donc que nos institutions muséales intensifient leurs échanges avec leurs homologues d’Afrique. Qu’ils partagent leurs chefs-d’œuvre, qu’ils les prêtent, qu’ils les déposent, qu’ils les fassent circuler car aucun artiste n’a jamais voulu que ses créations soient le monopole d’un temps et d’un espace uniques. (Rede des französischen Kultusministers Franck Riester, 04.07.2019, Hervorhebung S. R.)

Der Ausbau von Kooperationen sowie die Zirkulation bzw. Leihgabe von Objekten – dies wurde in beiden Fällen deutlich – wird somit der definitiven Rückgabe von Kulturgut der Vorzug gegeben. Savoy macht darauf aufmerksam, dass das „Re“ in Restitutionen auf eine zeitliche Dimension verweist, die die gegenwärtigen afrikanischen Bestände in den europäischen Museen mit ihrem kolonialen Ursprung in der Geschichte verknüpft. Indem der Begriff der „Zirkulation“ favorisiert wird, gehe diese temporale und folglich historische Dimension verloren (vgl. Savoy 2021, 196). Als Folge ziele die kulturpolitische Neugestaltung der Beziehungen zu Afrika weniger auf eine kritische Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Allerdings wird die Restitutionsfrage in Frankreich von Beginn an sehr viel offenkundiger als Ausdruck einer cultural diplomacy (Scott 2020) verhandelt als in Deutschland. Schon seine Ansprache im Jahr 2017 in Burkina Faso, als Macron das erste Mal von Restitutionen sprach, erfolgte unter dem Vorzeichen, neue Beziehungen zum afrikanischen Kontinent aufbauen zu wollen. Dabei ginge es vor allem darum, urteilt die FAZ, dass Macron „mit der neokolonialistischen Politik von Chiracs ‚Franceafrique‘ […] aufräumen“ wolle (Altwegg, 26.11.2018, FAZ, 11). Anders gewendet bedeutet dies aber auch, dass Macron eine andere Politik in Afrika verfolgen muss, möchte die Französische Republik weiterhin ihre Einflusssphären absichern. Die Rede von einer ‚Kooperation auf Augenhöhe‘ und der ‚Zirkulation‘ eines ‚geteilten Kulturerbes‘ ist somit Ausdruck einer Kulturpolitik, die auf den weiterhin bestehenden paternalistischen Beziehungskonstellationen und Machtasymmetrien fußt. Dennoch gelang es nicht, den Begriff der Restitution aus den öffentlichen Debatten 2018 zu tilgen, weswegen Rückgaben kultureller Objekte als Möglichkeit symbolischer Wiedergutmachung diskutiert wurden. Sarr und Savoy geben dabei in ihren Interviews zu verstehen, dass Restitutionen den initialen Verlust der Objekte nicht wettmachen können, dennoch aber am Beginn einer Erinnerungsarbeit stehen, bei der es darum geht, „de réparer, de refonder la relation avec l’Afrique“ (Moussaoui, 22.11.2018, L’Humanité, 16). Konkreter heißt es in einem anderen Artikel in L’Humanité: „Restituer, ce n’est pas seulement déplacer des objets: c’est réparer ce qui fut abîmé par la colonisation“ (Moussaoui und Ruscio, 22.11.2018, L’Humanité, 14). Eine Haltung, die auch in Le Monde zum Ausdruck kommt: „[M]ais la Restitution peut aussi faire office de réparation symbolique du carnage accompli“ (Dagen, 22.11.2018, Le Monde, 16). Doch auch in der deutschen Presse werden Restitutionen als „minimalste Ent-

Eine „koloniale Amnesie“?  

 359

schädigung für kolonial begangene Verbrechen“ angesehen (Vesper, 27.11.2018, ND, 14). Der Museologe Jean-Gabriel Leturcq (2008) hat darauf verwiesen, dass Kulturgüter zu „Bedeutungsträgern“ im Aushandeln des Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Zukunft werden. Spezifizierend möchte ich hinzufügen, dass sie zu affektiven Bedeutungsträgern werden, die den Verlust symbolisieren und somit den „Akt“ beschreiben, „durch den ein Unrecht der Vergangenheit begangen wurde“ (Leturcq 2008, Absatz  31, Übersetzung S.  R.). Restitutionen vermögen somit die Vergangenheit symbolisch wiedergutzumachen. Schon 2017 sagt Savoy in einem Interview: „Le moment est venue d’écouter ces douleurs, même s’il faut toujours se demander qui réclame, à quel moment et avec quelles intentions politiques“ (Lemaître, 19.08.2017, Le Monde, 2). Der ‚Schmerz der Anderen‘ über den Verlust ihres Kulturerbes hat sich als Perspektiverweiterung ebenso in die medialen Debatten eingeschrieben wie die Forderung nach Restitutionen als ‚moralische Verpflichtung‘ und als (symbolische) Wiedergutmachung kolonialer Verbrechen. Somit gerät die noch in den 1980er Jahren etablierte emotionale Ordnung der ‚Versachlichung‘ und Entemotionalisierung, mittels derer Restitutionsforderungen zurückgewiesen wurden, ab 2017 ins Wanken. Allerdings – auch dies wurde in der Diskursanalyse sichtbar – wurden nur einige ausgewählte Objekte zu emotionalen Bedeutungsträgern der „Restitutionsdebatte“ (vgl. Leturcq 2008). Deren Restitution dient der symbolischen Wiedergutmachung, ohne dass dies den Status quo der Besitzstände europäischer Museen gefährden würde. Und dennoch werden mithilfe dieser emotionalen Bedeutungsträger die historischen Selbstverständnisse und die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit (neu) verhandelt. Dass Kulturpolitik dabei Ausdruck von Machtpolitik ist, zeigt insbesondere der Blick auf die (binationalen) Beziehungsgeflechte zwischen der ehemaligen Metropole und ihrer Kolonie. Im folgenden Unterkapitel analysiere ich die franko-algerische ‚Streitsache‘ über den Verbleib der kolonialen Archive sowie die Rückgaben der Witbooi-Bibel und Peitsche im Februar 2019 vor dem Hintergrund der gegenwärtigen „Restitutionsdebatte“ und ihrer Rolle in der Aufarbeitung des Algerienkriegs bzw. des Völkermords an den OvaHerero und Nama.

10.4 E  ine „koloniale Amnesie“? Die „Restitutionsdebatte“ im Lichte der Rückgabeforderungen aus Algerien und Namibia Die bisherigen Darstellungen der seit November 2018 geführten Debatte über die Rückgabe von Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten streiften bisher nur am Rande die an Frankreich bzw. Deutschland gerichteten Restitutions- und Repatriierungsforderungen, die aus Algerien und Namibia vorliegen. Zum einen

360 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

überschneiden sich die allgemeinere Diskussion um die Rückgabe kolonialen Sammlungsguts mit den aus Algerien und Namibia gestellten Forderungen, zum anderen lassen sich die jeweiligen Restitutionsgesuche auf eine Zeit vor der Übergabe des Savoy-Sarr-Berichts im November 2018 zurückzuverfolgen. Vor allem Algerien fordert bereits seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1962 die Herausgabe verschiedener Objekte, die die algerische Regierung als Teil ihres kulturellen Erbes auffasst. Medial werden in der französischen Presse neben den sogenannten „archives de souveraineté“ auch die Rückgabeforderung der Kanone „Baba Mezroug“ besprochen, die, nachdem sie von der französischen Kolonialarmee im Jahr 1882 aus Algier entwendet wurde, im französischen Brest eine erinnerungspolitische Neubestimmung erfuhr (vgl. Zerrouky, 24.11.2011, l’humanité. fr). Im Jahr 2003 war das Siegel des Dey d’Alger, das 1830 in den Besitz der französischen Kolonialtruppen gelangte, vom damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac an Algerien zurückgegeben worden (vgl. Leturcq 2008, Absatz 30). Zuletzt hatten die algerische und französische Regierung erfolgreich über die im Juli 2020 durchgeführte Repatriierung menschlicher Gebeine verhandelt (vgl. Kap. 9). Im Gegensatz zu den beschriebenen Restitutionen und Repatriierungen ist eine Rückgabe der Archivbestände, wie von der algerischen Regierung erneut im Dezember 2017 eingefordert, keine Option für Frankreich. Der baden-württembergischen Landesregierung wiederum lagen seit 2013 Anfragen aus Namibia vor, die die Rückgabe der in Nama verfassten Bibel sowie der Peitsche des als Nationalhelden gefeierten Hendrik Witbooi verlangten. Ende Februar 2019 und somit in unmittelbarer zeitlicher Abfolge zur Übergabe des Restitutionsberichts und zur Veröffentlichung des Eckpunktepapiers initiierte die baden-württembergische Landesregierung die Übergabe der beiden Gegenstände an den namibischen Staat. Zimmerer prägte in den letzten Jahren und insbesondere seit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ den Begriff der „kolonialen Amnesie“ (09.08.2017, FAZ, 11; 23.10.2018, SZ, 2; 19.02.2019, SZ, 12). Zwar tauche die Bezeichnung schon seit 2004 in einigen Debattenbeiträgen auf, um ein allgemeines Desinteresse am deutschen Kolonialismus abzubilden, welches seit dem Ende des formalen deutschen Kolonialismus als Kontinuität bis in die Gegenwart fortwirke. Mit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ ab 2017 hat sich vor allem in Zimmerers Artikeln der Fokus der Begriffsverwendung verschoben. Zum einen bezeichnet „koloniale Amnesie“ die fehlende Auseinandersetzung der Leitungsgremien des Humboldt Forums mit seinem kolonialen Erbe. Zum anderen wird damit problematisiert, dass der gegenwärtige Fokus auf die Rückgabe kolonialer Sammlungsbestände von der Aufarbeitung des OvaHerero- und Nama-Genozids ablenke. In einem Großteil der Texte, die im Zusammenhang mit Restitutionen erscheinen, kommt Zimmerer auf die fehlende Anerkennung des Genozids und die Verweigerung von Repa-

Eine „koloniale Amnesie“?  

 361

rationszahlung und die seit 2015 fehlende Einigung zu sprechen. Dabei dient der Hinweis auf die amnesischen Zustände weniger einer analytischen Beschreibung als vielmehr als politisches Instrument, um in die Debatte zu intervenieren. In französischen Kontext taucht die Bezugnahme auf die Amnesie sehr viel weniger auf und wird insbesondere von Sarr und Savoy (2018) als Geschichte des Verlusts und Vergessens erzählt. Im Restitutionsbericht heißt es, dass „der Bauch der kolonialen Maschine“ geöffnet werden müsse, um „die doppelt ausgelöschte Erinnerung der Europäer und Afrikaner“ zutage zu fördern. Erstere würden dabei ignorieren, wie ihre kolonialen Sammlungen entstanden sind, und Zweitere müssten erst wieder einen Zugang zu einer „unterbrochenen“ Erinnerung finden (Savoy und Sarr 2018, 11). Savoy und Sarr kommen daher wiederholt auf einen ‚Schmerz‘ zu sprechen, der sich allerdings nicht nur im reellen Verlust der Objekte ausdrückt, sondern auch über das Vergessen-Machen durch die westlichen Institutionen (vgl. Interview in Lemaître, 19.08.2017, Le Monde, 2; Eyo 1979, 18). Einzig in Savoys Text, der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich erschienen ist, ist die Rede von der „kolonialen Amnesie“ in Bezug auf die deutschen Debatten um das Humboldt Forum (vgl. Savoy 13.01.2018, Le Monde, 6). Wie lässt es sich vor diesem Hintergrund bewerten, dass die Restitutionen der Witbooi-Bibel und Peitsche sowie Algeriens Forderung, die „archives de souveraineté“ zurückzuerlangen, kaum in der transnationalen „Restitutionsdebatte“ thematisiert werden? Im Folgenden werden die algerischen und namibischen Restitutionsforderungen gegenüber Frankreich und Deutschland vor dem Hintergrund der Transnationalisierung der „Restitutionsdebatte“ beleuchtet: Inwiefern werden Verbindungen zwischen den Themen hergestellt? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede können in den jeweiligen Fällen festgestellt werden und welche emotionalen Diskurse prägen die Auseinandersetzungen? Lassen sich Schlüsse daraus ziehen, warum diese Debatten vornehmlich binational geführt werden?

10.4.1 Frankreich: Die kolonialen Archive als unveräußerliches Kulturgut 10.4.1.1 L e contentieux archivistique algéro-français – Die Archive als franko-algerischer Streitfall Die „Archivfrage“ (Sarr und Savoy 2018, 35) wird in der wissenschaftlichen wie medialen Textproduktion zumeist als franko-algerische ‚Streitsache‘ (contentieux) beschrieben (vgl. Shepard 2017; Soufi 2014). Die systematische Beschäftigung mit den algerischen Rückforderungen der Archive aus dem Algerienkrieg verdeutlichen allerdings, dass diese weitestgehend losgelöst von der von Sarr und Savoy initiierten Debatte um die Restitution kultureller Objekte und Kunstwerke geführt wird. Die Erklärung dieser Separierung liefern die beiden

362 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Autor:innen selbst in einer Fußnote, wenn sie schreiben, dass der algerische Fall im Vergleich zum subsaharischen Afrika spezielle Aneignungskontexte und folglich abweichende gesetzliche Rahmenbedingungen aufweise. Als Konsequenz klammern sie die Beschäftigung mit Algerien aus ihren Betrachtungen aus (vgl. Sarr und Savoy 2018, 2). Trotzdem tauchen im Bericht einige Querverweise zum algerischen Fall auf – vor allem deswegen, weil es seit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 verschiedene Rückgaben gegeben hat. Beispielsweise sprechen Savoy und Sarr von den ca. 300 Gemälden, die die französische Kolonialarmee nach der Unterzeichnung der Évian-Verträge im März 1962 und vor der Unabhängigkeit Algeriens im Sommer 1962 aus dem Musée des Beaux-Arts d’Alger entwendet hatte. Erst sieben Jahre später und nach „harten Verhandlungen“, wie es im Bericht heißt, wurden die Kunstwerke restituiert (Sarr und Savoy 2018, 15). Weiterhin geht der Bericht an verschiedenen Stellen auf die im Jahr 2018 noch ausstehende gesetzliche Deklassierung der ‚algerischen‘ Schädel als französisches Kulturerbe ein (vgl. Sarr und Savoy 2018, 62, 87), die Sarr und Savoy als Präzedenzfälle zur Begründung eines zu schaffenden Restitutionsgesetzes anführen. Aus diesem Grund gehen die Autor:innen auch auf Algeriens Vorreiterrolle im Engagement für die Restitution der kolonialen Archive ein, schließlich fallen die Archivbestände, ebenso wie menschliche Gebeine und kulturelle Artefakte in den nationalen Sammlungen, unter den code du patrimoine, was sie zu unveräußerlichem französischen Kulturgut machen. Sarr und Savoy (2018, 35) unterstreichen dabei, dass das Fehlen der Archive für die ehemaligen Kolonien den „missing link“ darstelle, der die Herstellung und Etablierung eines kollektiven Gedächtnisses verhindere. Archive als politische Institutionen prägen dabei nicht nur die Herstellung und Verbreitung anerkannter historischer Narrative, insbesondere die kolonialen Archive definierten nach der Dekolonisierung das Verständnis nationaler Souveränität – sowohl in der ehemaligen Kolonie als auch in der ‚Metropole‘. Der Historiker Todd Shepard schreibt in seinem Text „Making Sovereignty and Affirming Modernity in the Archives of Decolonization“ (2017, 23): „[T]hey [the archives, Anm. S. R.] help constitute a state insofar as their workings offer proof that it is an emanation of its people, a nation-state, and thus modern.“ Mit dem Ende des französischen Kolonialismus musste folglich nicht nur der neu entstandene Staat Algerien seine Souveränität behaupten, sondern auch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. Schon vor Ablauf des Kriegs engagierte sich die algerische Befreiungsbewegung für die Einrichtung eines Archivs, das „die Existenz eines souveränen algerischen Staates für die Zeit vor der französischen Eroberung“ belegen sollte (Shepard 2017, 29–30, Übersetzung S. R.). Der ‚Streit‘ über den Verbleib der Archive wird somit zu einer Auseinandersetzung über die

Eine „koloniale Amnesie“?  

 363

historische Deutungshoheit (vgl. Shepard 2017, 30–31). Frankreich betrachtete hingegen diejenigen algerischen Archive, in denen sich Frankreichs Staatsgewalt ausdrücke, als französisches Eigentum, wodurch sich das Verständnis der nationalen Archive erweiterte. Dabei oblag den französischen Archivar:innen die Entscheidungsmacht, welche Dokumente von Bedeutung für die nationale Geschichte in die ‚Metropole‘ verbracht werden sollten (vgl. Shepard 2017, 29). Die in der Algérie française produzierten Archive wurden schließlich in zwei Gruppen eingeteilt: in die archives de souveraineté und die archives de gestion (vgl. Stora 2021, 62). Während Erstere zu großen Teilen nach Frankreich in die Archives nationales d’outre-mer (ANOM) in Aix-en-Provence überführt wurden (Sarr und Savoy 2018, 35), wurden Letztere den unabhängigen Staaten zum Aufbau ihrer Verwaltungsstrukturen überlassen, wozu beispielsweise die Archive der Steuerbehörden, der Katasterämter, der Handelskammern, des Landwirtschaftsministeriums sowie Unterlagen der Krankenhäuser, Schulen und Universitäten gehörten. Die archives de souveraineté hingegen schließen alle Dokumente ein, die von der französischen Administration verfasst worden sind (Präfekt:innen, Gouverneur:innen, Verwaltungsangestellte, Einheiten der Polizei etc.) und somit ‚politischer Natur‘ sind. Sie umfassen außenpolitische, militärische, sicherheitspolitische und rechtliche Angelegenheiten, beinhalten aber auch die Unterlagen zur kolonialen Landnahme in Algerien (vgl. Stora 2021, 63). In seinem im Januar 2021 an Macron überreichten Bericht Les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie resümiert Stora sowohl die Entstehungszusammenhänge der kolonialen Archive als auch die verschiedenen Restitutionen nach Algerien, die bereits seit 1967 stattfanden. Beispielsweise hatte Frankreich mit der Unabhängigkeit Algeriens u. a. die sogenannten „osmanischen“ Archive mitgenommen, die vor 1830 entstanden waren. In unterschiedlichen Wellen wurden diese Bestände in den Jahren 1975, 1981 und zuletzt 2001 zurückgegeben. Zwischen 1981 und 1985 wurden außerdem fälschlicherweise mitgenommene archives de gestion nach Algerien restituiert (vgl. Stora 2021, 64). Weitere Restitutionen fanden 2007 und 2008 statt, als zuerst Kopien der bis 1962 entstandenen Fernsehaufzeichnungen an die algerischen Archive übergeben wurden. Im gleichen Jahr folgte auch die Herausgabe von geografischen Karten, die die Minenfelder anzeigen, die in den Grenzregionen zu Marokko angelegt wurden, um die Grenzübertritte der algerischen Befreiungsarmee nach Tunesien oder Marokko zu unterbinden. Von den elf Millionen Minen konnten bis heute nur acht Millionen entschärft werden, was noch nach der Unabhängigkeit Algeriens zu zahlreichen Opfern durch Minenexplosionen führte (vgl. Stora 2021, 53). 2008 folgte zuletzt die Aushändigung von Kopien der Radio- und Rundfunkbeiträge, die in den Beständen des Institut national de l’audiovisuel (INA) verwahrt werden.

364 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Doch bis zum heutigen Tage bleibt für die algerische Regierung die Verwahrung der archives de souveraineté in Frankreich das strittigste Thema. Die Brisanz der franko-algerischen ‚Archivfrage‘ als „eine der verfahrensten in der Welt“, wie Shepard (2017, 28) einen Direktor der algerischen Nationalarchive zitiert, wurde erstmals im Jahr 1981 zu einem Thema öffentlichen Interesses. Statt Restitutionen zu erwägen oder gemeinsame Lösungen zu finden, bekräftigte die französische Seite stattdessen, dass die Archive zum französischen Kulturerbe gehörten und Ausdruck der französischen Souveränität seien (vgl. Shepard 2017, 28). 1983 reagierte die Vienna Convention on the Succession of States in Respect of State Property, Archives, and Debts auf die durch die Dekolonisierung ausgelösten Transformationsprozesse und legte u.  a. in Artikel  28 fest: „[A]rchives having belonged to the territory to which the succession of States relates and having become State archives of the predecessor State during the period of dependence shall pass to the newly independent State“ (Vienna Convention 1983, Art. 28 (a), 10). Allerdings hat die französische Regierung die Vienna Convention bis zum heutigen Tag nicht ratifiziert. Algerische Restitutionsforderungen werden wiederholt mit den sich ankündigenden Jahrestagen an den französischen Staat gerichtet; so beispielsweise 2011, als der Streit um die Verwahrung der kolonialen Archive vor allem in der algerischen Presse hochkochte (vgl. Shepard 2017, 26). Mit der Ankündigung, dass Stora im Juli 2020 einen Erinnerungskulturellen Bericht über die Aufarbeitung des Algerienkriegs verfassen würde, ist der sogenannte contentieux archivistique algéro-français (vgl. Soufi 2014) allerdings auch in der französischen Presse wieder zu einem Thema öffentlichen Interesses geworden. Bewegung in der ‚Archivfrage‘ hatte es schon im Dezember 2017 gegeben, als Macron bei seinem ersten Staatsbesuch als französischer Präsident in Algier die Rückgabe der als Kriegstrophäen nach Frankreich gelangten Schädel ankündigte, dabei aber auch in Aussicht stellte, einige Hundert Archivdokumente über die Verschwundenen (Disparus) des Algerienkriegs der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (vgl. „La France prête à remettre à l’Algérie des archives sur la période coloniale“, 07.12.2017, lematindalgerie.com; Clarini, 16.12.2017, Le Monde, 5; Stora 2021, 147). Von einer Rückgabe der Archive war dabei allerdings nicht die Rede. Macron wiederholte seine Zusage, den Zugang zu den Archiven zur Erforschung der Disparus zu erleichtern, als er am 13. September 2018 im Namen der Französischen Republik Verantwortung für die Folter und Ermordung des kommunistischen Mathematikers Maurice Audin übernahm (vgl. „Macron demande pardon à la veuve de Maurice Audin“ 13.09.2018, lefigaro.fr, vgl. Kap. 11). In seiner Regierungserklärung präzisierte Macron, dass die Anerkennung des als „arrestationdétention“ benannten Systems einer weiteren historischen Aufarbeitung bedürfe und folglich eine Öffnung der Archive voraussetze (vgl. Erklärung Macrons zum Tod von Maurice Audin, 13.09.2018). Dafür versprach er: „Une dérogation géné-

Eine „koloniale Amnesie“?  

 365

rale, dont les contours seront précisés par arrêtés ministériels après identification des sources disponibles, ouvrira à la libre consultation tous les fonds d’archives de l’Etat qui concernent ce sujet.“ Anhand Macrons Zusage, eine „allgemeine Sonderreglung“ zu finden, wird indes deutlich, dass sich die ‚Archivfrage‘ nicht ausschließlich auf die algerische Restitutionsforderung beschränken lässt. Denn eine uneingeschränkte Einsichtnahme der kolonialen Archive ist in Frankreich auch mehr als 50  Jahre nach dem Ende des Algerienkriegs noch nicht uneingeschränkt möglich. Der französische code du patrimoine sieht in seiner Ergänzung aus dem Jahr 2008 eine Schutzfristenregelung von 50 bzw. in Ausnahmefällen von 75 Jahren für Archive vor, die der militärischen Geheimhaltung unterliegen (vgl. FranceArchives, Loi sur les archives, 24.09.2009). Gleichzeitig beinhaltet das Gesetz auch die Kategorie der „archives incommunicables“, deren Einsicht ausgeschlossen ist, sollte den Dokumenten ein sicherheitspolitisches Gefährdungspotenzial für die Französische Republik zugeschrieben werden (dazu gehören beispielsweise alle Unterlagen im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen; vgl. Interview mit Raphaëlle Branche in: Clarini, 16.12.2017, Le Monde, 5). Bevor im Jahr 2012 die Schutzfristen der algerischen Archive, die der militärischen Geheimhaltung unterlagen, endeten, wurde 2011 die Instruction générale interministérielle 1300 (IGI 1300) verabschiedet (vgl. Analyse der Association des archivistes français (AAF) et  al. 2020, hypothèses.org). Die IGI 1300 hat zum Gegenstand, die militärische Geheimniswahrung unter dem Stichwort der Gefahrenabwehr auch nach Ablauf der Sperrfristen sicherzustellen. Alle Unterlagen mit der Kennzeichnung „confidentiel défense“ oder „secret défense“ müssen demnach von einer zuständigen Behörde vor der Freigabe erst deklassiert werden (vgl. Flandrin, 20.02.2021, Le Monde, 24). Als Konsequenz werden die im code du patrimoine getroffenen Sperrfristregelungen und der damit garantierte Zugang zu den Archiven ausgehebelt (vgl. Analyse der Association des archivistes français (AAF) et al. 2020, hypothèses.org). Allerdings sahen sich französische Wissenschaftler:innen erst mit Jahresbeginn 2020 gravierenden Einschränkungen aufgrund der IGI 1300 ausgesetzt. Das nun zur Anwendung kommende Verfahren der Deklassierung der als „secret-défense“ gekennzeichneten Archive verursachte eine massive Beschränkung des Zugangs zu den Archiven von 1940 bis 1970. Eine Überarbeitung der IGI 1300 vom Dezember 2020 erweiterte den Anwendungszeitraum sogar bis 1934, wodurch die ministeriale Anweisung zusätzlich verschärft wurde (vgl. Analyse der Association des archivistes français (AAF) et al. 2020, hypothèses. org).52 Im Frühjahr 2020 wandten sich Historiker:innen erstmals an die Öffent-

52  Schon seit den 1990er Jahren hatte es Archivöffnungen gegeben (vgl. Stora 2021, 22), wo-

366 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

lichkeit und forderten, dass ihnen der im code du patrimoine zugesicherte Zugang zu den Archiven ermöglicht werden soll (vgl. Collectif d’historiens, 14.02.2020, Le Monde, 23). Die ‚Archivfrage‘, d. h. der Zugang zu den Kolonialarchiven, ist folglich nicht nur ein franko-algerisches, sondern vor allem auch ein französisches Streitthema. Für die Zusammenstellung des Materialkorpus wurden Artikel seit 1990 erhoben, der Schwerpunkt der Auswertung liegt allerdings im Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des Restitutionsberichts im November 2018 und Übergabe des Stora-Reports an Macron im Januar 2021. 10.4.1.2 „ Les archives, ‚un patrimoine commun‘“ – Die Kolonialarchive als gemeinsam geteiltes Kulturerbe? Anders, als es die Auseinandersetzung mit einer ‚Streitsache‘ vermuten ließe, nimmt sich die französische Medienberichterstattung über die algerischen Rückgabeforderungen ihres archivalischen Kulturerbes seit den 1990er Jahren zunächst zurückhaltend aus. Zwar erscheinen seit den 2000er Jahren vereinzelte Beiträge, die sich den Restitutionsgesuchen Algeriens zuwenden. 2008 wird beispielsweise über die Vertragsabschlüsse zwischen französischen und algerischen Institutionen zur Rückgabe audiovisueller Archive berichtet (vgl. „Algérie: l’Ina restitue ses archives radios“, 07.10.2008, lefigaro.fr) oder über die Forderung der Herausgabe der in Brest ausgestellten algerischen Kanone „Baba Mezroug“ (vgl. Zerrouky, 24.11.2011, l’humanité.fr). Zudem entstehen Artikel, in denen Historiker:innen das Zustandekommen der kolonialen Archive in Frankreich erläutern – eine Thematisierung der algerischen Restitutionsforderungen wird damit allerdings nicht verbunden. Stora geht in seinem Artikel von 2008 beispielsweise nicht über die Feststellung hinaus, dass Algier die kolonialen Archive schon seit der Unabhängigkeit Algeriens zurückfordert und dass bisher keine Lösung gefunden werden konnte (vgl. Stora, 07.03.2008, Libération, 36). 2017 kommentiert die Historikerin Raphaëlle Branche in einem Interview mit Le Monde den Vorschlag einer Duplizierung der Archive, um diese der algerischen Seite zur Verfügung zu stellen. Allerdings erachtet sie dieses Unterfangen wegen der hohen Kosten und der weiterhin noch zu realisierenden Inventarisierung der Bestände als kaum realisierbar (vgl. Clarini, 16.12.2017, Le Monde, 5). Im Anschluss konzentriert sich das Interview auf den Zugang französischer Wissenschaftler:innen zu den Archiven und auf eine Bewertung der Gesetzeserweiterung des code du patrimoine

durch die historische Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich massiv vorangetrieben wurde. Die langen Schutzfristen – Deutschland hat im Vergleich Schutzfristen von 30  Jahren festgelegt – haben über lange Zeit eine historische Aufarbeitung des Algerienkriegs erschwert.

Eine „koloniale Amnesie“?  

 367

von 2008. Aufgrund der langen Sperrfristen, der Archivgesetzgebung und den zusätzlich verabschiedeten ministerialen Anweisungen wird der Zugang zu den kolonialen Archiven als prioritär französisches Anliegen behandelt. Eine Klärung der ‚Archivfrage‘ besteht somit im uneingeschränkten Zugang französischer und auch algerischer Wissenschaftler:innen zu den historischen Dokumenten, um die ‚Wahrheitsfindung‘ über den Algerienkrieg zu befördern, ‚die Wunden zu heilen‘ und zur Versöhnung beizutragen. Erst im Jahr 2020 stießen die kolonialen Archive in den französischen Medien wieder auf größeres Interesse – allerdings nicht als Reaktion auf die von Abdelmadjid Chikhi, dem Direktor der Archives Nationales d’Algérie, geäußerte Restitutionsforderung im Rahmen der Schädel-Repatriierung am 5. Juli. Chikhi nutzte den Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit, um die Rückgabeforderung „de toutes les archives nationales détenues par la France et se rapportant à plusieurs périodes de notre histoire“ zu erneuern (zit. in: Stora 2021, 62). Allerdings spielten die kolonialen Archive im Kontext der Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel weder für die französische Medienlandschaft noch für die Regierung eine Rolle. Als jedoch Ende Juli 2020 bekannt gegeben wurde, dass Stora einen Bericht über die Erinnerungskulturellen Fragen in Bezug auf den Algerienkrieg erstellen würde, fanden auch die Archive Eingang in die Berichterstattung. Ein Le-MondeArtikel vom 31. Juli 2020 kommt darauf zu sprechen, dass die Forderungen nach einer Rückgabe der Originalarchive als einer von vielen strittigen Punkten der franko-algerischen Erinnerungspolitik gilt. Der Le-Monde-Journalist reagiert jedoch mit Skepsis auf die algerischen Restitutionsforderungen aufgrund der herrschenden Intransparenz in den algerischen Archiven (vgl. Bobin, 31.07.2020, Le Monde, 2). Stattdessen befördert die französische Presse die Idee eines gemeinsam „geteilten Kulturerbes“, die auch von algerischen Historiker:innen unterstützt wird. Der algerische Historiker Fouad Soufi, der in mehreren Quellen zu Wort kommt, spricht in einem Interview in Le Monde von einem „héritage à partager entre héritiers“ (Bobin, 10.08.2020, lemonde.fr). Im Falle von Restitutionen könne demnach von Fall zu Fall entschieden werden, was an Algerien übergeben wird und was in Frankreich verbleibt. Die Digitalisierung der Bestände sowie das Bereitstellen von Kopien gehören für Fouad zu den Möglichkeiten der Pflege des gemeinsamen Erbes. Er folgert: „La plus belle leçon qu’on pourrait donner au monde […] d’admettre que ces archives sont à la France et à l’Algérie“ (Bobin, 10.08.2020, lemonde.fr). Mit dem Konzept des geteilten Erbes (shared heritage) kann allerdings auch die Frage hinsichtlich der Klärung des Eigentums an den kolonialen Archiven umgangen werden (vgl. Youssefi 2017, 48). Am 21. Dezember 2020 und somit nur wenige Tage, nachdem die IGI 1300 eine weitere Verschärfung erfuhr, erneuerte Chikhi seine bereits im Sommer geäußerte Forderung nach einer Rückgabe aller Originalarchive:

368 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

L’Algérie réclame la totalité de ses archives, dont une grande partie se trouve en France, qui a toujours avancé de faux prétextes, comme par exemple la déclassification de nombre d’archives pourtant réunies depuis plusieurs décennies. („L’Algérie exige de la France ‚la totalité‘ des archives de la période coloniale“, 23.12.2020, La Croix, 8)

In dem genannten Zitat bezeichnet Chikhi die eingeführten Verfahren zur Deklassierung der Archive als einen „Vorwand“ und folglich als französische Strategie, die bestehenden Besitzverhältnisse intakt zu lassen. In einem Interview, das er Le Monde am 28. Dezember gibt, präzisiert er mit Verweis auf die Vienna Convention von 1983, dass die Archive dem Land gehören sollten, in dem sie produziert wurden. Eine Digitalisierung oder die Übermittlung von Kopien hält er deswegen für nicht zulässig und fordert daher dezidiert die Übertragung der Eigentumsrechte der archives de souveraineté an Algerien (vgl. Bobin, 28.12.2020, lemonde. fr). Der Zugriff auf die kolonialen Archive stellt für den Direktor der algerischen Archive den Schlüssel zur Perpetuierung algerischer Staatssouveränität dar, der die Existenz eines algerischen Staates für die Zeit vor 1830 belegen soll und der gleichzeitig den revolutionären Befreiungskampf des FLN rechtfertigt (vgl. Shepard 2017, 30). Die französische Regierung argumentiert wiederum, dass die geforderten Archive mit der Souveränität Frankreichs in Algerien verbunden seien. Ausgehend von der Durchsetzung und Behauptung souveräner Staatlichkeit, wie Shepard (2017, 31–32) anhand der Entstehungsprozesse der kolonialen Archive dargelegt hat, begründet Frankreich folglich deren unveräußerlichen Charakter. Die algerischen Archive gelten somit als öffentliches Eigentum des Staates, weswegen deren Restitution ausgeschlossen ist. Gleichzeitig – und dies zeigt sich besonders in den Debatten um die IGI 1300 – wird der Zugang zu den Archiven unter dem Aspekt einer sicherheitspolitischen Gefährdungslage behandelt. In einem weiteren Le-Monde-Artikel, der im Januar 2021 im Kontext der Veröffentlichung des Stora-Berichts erschien, werden die Bedenken französischer Militärs erwähnt, wonach eine Archiveinsicht weitere Kriegsverbrechen zutage fördern könnte. Der franko-algerische Konflikt um die Archive sowie die innerfranzösischen Auseinandersetzungen werden von den Journalist:innen Bobin und Bordenave folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Le contentieux englobe deux litiges de nature différente – diplomatique et scientifique –, qui se croisent sans se recouper. Le premier, qui touche à la propriété des archives, n’a cessé de s’inviter dans la relation bilatérale avec une Algérie réclamant la „Restitution“ de documents qu’elle estime siens. Le second, qui renvoie à l’accessibilité de ces archives, nourrit des tensions récurrentes entre chaque Etat et les historiens, entravés dans leurs recherches par de pesants impératifs de confidentialité. (Bobin und Bordenave, 22.01.2021, Le Monde, 6)

In der Verhandlung der Eigentumsrechte und des Zugangs zu den Archiven zeigt sich die machtpolitische Dimension in der Herstellung historischer Narrative,

Eine „koloniale Amnesie“?  

 369

weswegen der französische Staat weiterhin den Zugriff zu kontrollieren sucht. Offizielle Stellungnahme des Élysée-Palastes beziehen sich ausschließlich auf die angekündigte Öffnung der Archive, die von Macron seit 2018 zugesagt worden sind, und auch in der Medienberichterstattung werden die algerischen Restitutionsforderungen zwar thematisiert, allerdings nicht als politische Option in Betracht gezogen. Vielmehr wird eine Rückgabe kolonialer Archive mit dem wiederkehrenden und zumeist in Nebensätze ausgelagerten Verweis auf deren Status als unveräußerliches Kulturgut ausgeschlossen (vgl. „Algérie réclame à la France ‚la totalité de ses archives“, 22.12.2020, lefigaro.fr). Nur ein einziges Mal evoziert der Le-Monde-Artikel vom 22. Januar 2021 die parlamentarischen Möglichkeiten zur Aufhebung des Kulturgutstatus unter Bezugnahme auf die initiierten Rückgaben maorischer Schädel (2010) und der beninischen Statuen (2020) (vgl. Bobin und Bordenave, 22.01.2021, Le Monde, 6). Frankreichs Zurückhaltung, ähnliche Schritte für eine Rückgabe der kolonialen Archive einzuleiten, wird mit Verweis auf die fehlende wissenschaftliche Freiheit in Algerien und die fragwürdige Rolle Chikhis gerechtfertigt. Hervorgehoben wird beispielsweise, dass er als „NichtHistoriker“ nicht über die nötige Kompetenz für die Erfüllung seiner Aufgabe verfügen würde (Touaibia, 20.01.2021, L’Humanité, 13). Zudem wird er wiederholt als konservativer „gardien du temple“ des offiziellen Geschichtsnarrativs der FLN dargestellt, wobei vor allem von algerischen Historiker:innen moniert wird, dass er keine historische, sondern eine politische Mission erfülle. In einem Interview vom November 2020, das im März 2021 in Le Monde zitiert wird, gab Chikhi zu verstehen: „[L]e directeur des archives a le devoir de respecter la tranquillité publique et d’éviter que [la communication de dossiers] ait un aspect négatif sur l’évolution de la société“ (Bobin, 31.03.2021, Le Monde, 4). Kritisiert wird, dass Chikhi die Deutungshoheit über die Geschichte für sich beansprucht und damit auch algerisches Recht verletze. Letztlich werden die algerischen Restitutionsforderungen in der französischen Presse in Bezugnahme auf den Direktor der algerischen Nationalarchive desavouiert und als illegitim verworfen, ohne dass dies explizit zum Thema gemacht werden müsste. Doch auch im Stora-Bericht und seiner medialen Rezeption spielen die algerischen Restitutionsforderungen oft nur eine untergeordnete Rolle. Stora kommt in seiner Ausarbeitung zwar auf die Möglichkeit von Restitutionen zu sprechen, nennt aber keine konkreten Bestände, die dafür infrage kämen.53 Den algerischen Historiker Fouad Soufi zitierend, favorisiert auch Stora (2021, 66) indirekt das Konzept des „geteilten Erbes“, wodurch er eine etwaige Übertragung der archivischen Eigentumsrechte an Alge-

53  Mit Ausnahme von zehn Kartons, die zu den osmanischen Archivbeständen gehören und erst 2018 im ANOM wieder aufgefunden wurden (vgl. Stora 2021, 135).

370 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

rien nicht zum dezidierten Gegenstand seiner erinnerungspolitischen Vorschläge macht. Als explizit genannte Restitutionsvorhaben kommen für Stora allenfalls die Kanone „Baba Mezroug“ und das Schwert des Abdelkader zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit Algerien 2022 infrage (vgl. Stora 2021, 91, 96). Aufgrund des restriktiven Zugriffs auf die Archivbestände sowohl in Frankreich als auch in Algerien wird die ‚Archivfrage‘ im Frühjahr 2021 vor allem unter dem Aspekt der Zugangsermöglichung diskutiert. Auf französischer Seite wird beispielsweise hervorgehoben, dass entgegen Macrons Versprechungen, den Zugang zu den Akten der Disparus zu erleichtern, dieser seit 2018 sogar erschwert worden sei (vgl. Bobin und Bordenave, 22.01.2021, Le Monde, 6). Im algerischen Kontext hat der Stora-Bericht, statt Forderungen nach einer Restitution der Archive zu verstärken, die Kritik an Chikhi erhöht. In Le Monde macht der algerische Historiker Amar Mohand-Amer auf den Widerspruch aufmerksam, dass auf der einen Seite Archive von Frankreich gefordert werden, auf der anderen Seite die historische Arbeit in Algerien und der Zugang zu bestehenden Archiven massiv eingeschränkt wurde. Die Veröffentlichung des Stora-Berichts habe demnach, so Mohand-Amer, vor allem das „Selbstwertgefühl der algerischen Historiker“ gesteigert, sodass neun von ihnen am 25. März 2021 einen offenen Brief an Tebboune verfassten (Bobin, 31.03.2021, Le Monde, 4). Mit den Debatten um die IGI 1300 kristallisieren sich im französischen Kontext „deux référentiels en conflit“ heraus, wie es in Kreisen des Élysée-Palasts heißt. Diese Konfliktlinien beschreiben allerdings den Gegensatz zwischen dem im code du patrimoine verbrieften Zugangsrecht für französische Historiker:innen und der im code pénal ausgewiesenen Wahrung der Geheimhaltung (secret-défense). Als Macron am 9. März 2021 bekannt gibt, dass der Zugang zu den Archiven erleichtert werden soll, ist folglich keine Rede von Restitutionen nach Algerien (vgl. Bobin, 09.03.2021, lemonde.fr). Wie von Bobin und Bordenave am 22.  Januar 2021 in Le Monde hervorgehoben, überkreuzen sich die Debatten um die Zugänglichkeit der Archive in Frankreich und Algerien mit der Forderung nach der Restitution zwar inhaltlich, werden in der Medienanalyse aber kaum in einen diskursiven Zusammenhang miteinander gestellt. Der Stora-Bericht stellt nur insofern ein diskursives Bindeglied dar, als dass er einen Rahmen liefert, um die algerischen Restitutionsforderungen in der Berichterstattung zu erwähnen – letztlich allerdings zu verwerfen. Mit den Debatten um die IGI 1300, die losgelöst von den algerischen Forderungen geführt werden, sowie dem Stora-Bericht fokussiert sich die ‚Archivfrage‘ sowohl in Frankreich als auch in Algerien vor allem auf die Öffnung und die Zugänglichkeit der Archive über den Algerienkrieg. Diese Diskussionen verfolgen aber kaum die Idee eines Teilens der Archive als ‚gemeinsames Kulturerbe‘, sondern werden stattdessen in den jeweils nationalstaatlichen Rahmen adressiert. Dass algerische Wissenschaftler:innen durch restriktive Visavergaben einen weiterhin

Eine „koloniale Amnesie“?  

 371

erschwerten Zugang zu den französischen Archiven haben, findet nur als Randnotiz in einigen wenigen Artikeln Erwähnung. Während die französische Presse keine Verbindungen zwischen den algerischen Rückgabeforderungen archivalischer Bestände und der zeitgleich geführten „Restitutionsdebatte“ herstellte, zeigt sich in der Rekonstruktion der deutschen Berichterstattung, auf welche Weise der Restitutionsbericht zum Katalysator der Rückgabe der Witbooi-Bibel und Peitsche im Februar 2019 wurden.

10.4.2 Deutschland: Die Restitution der Witbooi-Bibel und Peitsche 2019 Ende Februar 2019 fand „bundesweit eine der ersten bedeutenden Restitution von afrikanischen Kulturgütern der Kolonialzeit“ statt, wie die FR in einem ihrer Artikel kommentiert („‚Witbooi-Bibel‘ reist zurück nach Namibia“, 23.02.2019, FR, 34). Die Rede ist von der Peitsche und der Bibel des Nama-Kapteins Hendrik Witbooi (um 1830–1905), die 1902 als Schenkung in die Sammlung des Stuttgarter Linden-Museums gelangten. Beide Gegenstände wurden während eines Überfalls im Jahr 1893 in Hornkranz, dem Hauptsitz Witboois, von den deutschen Kolonialtruppen geraubt und gelangten zwischen 1895 und 1898 in die Hände des Hofrats und „kommissarischen Intendanten für die Schutztruppe“, Paul Wassmannsdorf, der sie später der Sammlung des „Württembergischen Vereins für Handelsgeographie“ übergab (vgl. Land Baden-Württemberg 13.11.2018). Der Nama-Anführer Witbooi, der in Namibia als Nationalheld verehrt wird, ging nach anfänglichem Widerstand eine strategische Kooperation mit den deutschen „Schutztruppen“ ein, die er jedoch nach der Veranlassung des „Vernichtungsbefehls“ von Lothar von Trotha gegen die OvaHerero aufkündigte (vgl. „Bibel und Peitsche“, 12.12.2018, FR, 32). 1905 kam er bei einem Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft ums Leben (vgl. Garsha 2020, 59). Allerdings handelt es sich hierbei nicht um die erste Restitution kultureller Objekte nach Namibia – schon 1996 hatte der Bremer Bürgermeister Henning Scherf die Briefbücher Witboois an die namibische Regierung übergeben (vgl. Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 16/5739, 13.02.2019, 3). Dieses Mal fällt die Rückgabe allerdings „mitten in der Restitutionsdebatte“, wie die taz in einem Artikel bemerkt (Stieber, 16.12.2018, taz.de). Der baden-württembergischen Landesregierung lagen bereits seit 2013 Restitutionsforderungen vor, die allerdings im Jahr 2015 noch „mit der Begründung abgelehnt [wurden], dass die Besitzverhältnisse nicht geklärt seien“ („Konflikt um Herero-Bibel“, 14./15.11.2015, ND, 16). Gleichzeitig erhob das Linden-Museum den Anspruch, die Bibel für Forschungszwecke zu benötigen. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass die 2017 angestoßene „Restitutionsdebatte“ die Initiierung der Rückgabe beschleunigt hat. Am 13.  November 2018 gab der

372 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

baden-württembergische Ministerrat schließlich die Rückgabe der beiden Objekte nach Namibia bekannt (vgl. Land Baden-Württemberg, 13.11.2018). Auf der einen Seite steht die von Baden-Württembergs Landesregierung eingeleitete Restitution exemplarisch für die föderalen Strukturen Deutschlands, bei denen es im Ermessen der einzelnen Länder liegt, ob und auf welche Weise Rückgabegesuchen nachgegangen bzw. stattgegeben wird. Bis zum Zeitpunkt der Ankündigung im November 2018 hatte es noch keine einheitlichen Regelungen auf Bundesebene zum Umgang mit Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten gegeben. Die Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Bündnis 90/Die Grünen) kündigte entsprechend die „Vorreiterrolle“ an, die Baden-Württemberg in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus einnehmen möchte („Bibelrückgabe“, 14.11.2018, FAZ, 9). Widerstand kam allerdings von der CDU, die darauf drängte, die Vorgaben des Bundes abzuwarten (vgl. Stieber, 16.12.2018, taz.de). Der Rückgabeprozess aus dem Linden-Museum findet zeitlich synchron zur Ankündigung einer Kulturministerkonferenz statt, die im März 2019 das Eckpunktepapier „zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten“ auf den Weg bringt. Im Anschluss an die Rückgabe sagt die baden-württembergische CDULandtagsabgeordnete Nicole Razavi, dass es „bei der Aufarbeitung der Kolonialzeit kein Wettlauf mit dem Bund oder mit anderen Bundesländern geben“ dürfe („Kritik nach Rückgabe von Bibel und Peitsche an Namibia“, 20.03.2019, WELT online). Allerdings brachte die Bund-Länder-Vereinbarung keine verbindlichen Reglungen hervor und ist eher als allgemeine Absichtserklärung zu verstehen, die die Entscheidungskompetenz über Rückgaben kolonialer Sammlungsbestände weiterhin bei den Ländern belässt. Dieser Ermessensspielraum ermöglicht es zum einen, Restitutionen im Gegensatz zum zentralistisch regierten Frankreich und seinem eng abgesteckten legislativen Korsett schneller in die Wege zu leiten. Auf der anderen Seite lässt der Föderalismus jedoch eine Systematisierung bei der Initiierung von Rückgaben vermissen. Der eingangs erwähnte FR-Zeitungsartikel spricht nicht nur von der bundesweiten Bedeutung der Rückgabe von Bibel und Peitsche. Gleichzeitig handele es sich auch um ein „Paradebeispiel für die Schwierigkeiten von Restitutionen“ („‚Witbooi-Bibel‘ reist zurück nach Namibia“, 23.02.2019, FR, 34). Denn mit der Rückgabe kam die Frage auf, an wen die Objekte überhaupt restituiert werden sollten/könnten, da sich mit der Rückgabe aus dem Linden-Museum unterschiedlich gelagerte Eigentumsansprüche verbanden. Im Fall von Bibel und Peitsche traten auf der einen Seite Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Vertreter:innen der Nama auf, auf der anderen Seite aber auch mit der namibischen Regierung (vgl. „Staat und Völker“, 31.01.2019, SZ, 13). Im Februar 2019 versuchte die Nama Traditional Leader Association (NTLA), beim Verfassungsgericht Baden-Württemberg einen Antrag durchzubekommen, der eine Rückgabe an den

Eine „koloniale Amnesie“?  

 373

namibischen Staat verhindern würde (vgl. „Nama-Vertretung kritisiert Rückgabe von Bibel und Peitsche“, 18.02.2019, WELT online). Der Protest einiger NamaGruppierungen wird in der deutschen Presse ab Ende Januar 2019 thematisiert, u.  a. wird eine Pressemitteilung von Gaob PSM Kooper zitiert, in der es heißt, der Staat habe nicht „das Recht über Symbole und historische Objekte aus dem Erbe der Nama-Völker zu verfügen“. Der Antrag vor dem Verfassungsgericht wird allerdings aus formalen Gründen abgelehnt, da die Richter:innen befanden, die Streitigkeit müsse innerhalb Namibias geklärt werden (vgl. „Rückgabe an namibische Regierung“, 22.02.2019, SZ, 13; „Streit um koloniales Erbe“, 28.02.2019, SZ, 30). Die Landesregierung und auch das Linden-Museum verweisen außerdem darauf, dass die Verhandlungen mit der namibischen Regierung über die Rückführung der Gegenstände in Abstimmung mit der Familie Witboois erfolgte, die einer Restitution zustimmte (vgl. „Nama-Vertretung kritisiert Rückgabe von Bibel und Peitsche“, 18.02.2019, WELT online). Vergleichbar mit der Repatriierung der menschlichen Gebeine nach Namibia, die in den Jahren 2011, 2014 und zuletzt 2018 stattfanden, versuchte die namibische Regierung auch die kulturellen Artefakte für die Erzählung einer namibischen Befreiungsgeschichte nutzbar zu machen (vgl. Kap. 9.4). Letztlich konnte ein Kompromiss gefunden werden, bei dem Bibel und Peitsche nur so lange im Nationalmuseum verwahrt würden, bis in Gibeon, der Heimatstadt Hendrik Witboois, ein Museum errichtet würde (vgl. „Streit um koloniales Erbe“, 28.02.2018, SZ, 30). Wenngleich die Berichterstattung über die Restitution oft nur sehr knapp ausfällt, begleitet die überregionale Presse den gesamten Prozess der Rückgabe, d. h. von November 2018, als das Land Baden-Württemberg die Rückgabe ankündigte, über den darauffolgenden Widerstand der NTLA bis hin zur Übergabe im Februar 2019. Obwohl die Rückgabe Ländersache war, wurde ihr somit eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben. Bei der Übergabezeremonie waren von deutscher Seite Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sowie die Leiterin des Linden-Museums Inès de Castro anwesend. Von namibischer Seite nahmen Namibias Staatschef Hage Geingob und Gründungspräsident Sam Nujoma sowie die Kultusministerin Katrina Hanse-Himarwa und der Vizepräsident Nangolo Mbumba teil. Berichtet wurde, dass 3000 Menschen der Zeremonie beiwohnten (vgl. „Baden-Württemberg gibt Kulturgüter an Namibia zurück“, 28.02.2019, WELT online) und dass die Stimmung bei „Blitzlicht, Gesänge[n], Gebete[n]“ „bewegend“ gewesen sei (Fanizadeh, 09.03.2019, taz, 12–13). Im Gegensatz zur Repatriierung der menschlichen Gebeine im August 2018 berichten diesmal alle Zeitungen über die in Namibia ausgerichtete Übergabezeremonie. Die taz hatte eigens einen Journalisten beauftragt, der von der Landesregierung Baden-Württemberg finanziert wurde, um über die Zeremonie in Namibia zu berichten (vgl. Fanizadeh, 09.03.2019, taz, 12–13). Das Stuttgarter

374 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

Vorgehen wird dabei als vorbildlich dargestellt, wenn etwa die Rede von der „sorgfältig vorbereiteten Namibia-Initiative“ oder vom Bewusstsein um den kulturellen Wert von Bibel und Peitsche für die Nama ist. Denn bevor die Objekte zur vorübergehenden Verwahrung an das namibische Nationalarchiv übergeben wurden, wurden sie zunächst in Gibeon, der Hauptstadt der Witbooi, präsentiert (vgl. Fanizadeh, 09.03.2019, taz, 12–13). Im Gegensatz zu allen Übergaben von human remains, die bis 2018 stattgefunden haben, stößt die baden-württembergische Rückgabe von Bibel und Peitsche auf keine mediale Kritik. Allerdings wird deren Restitution, abgesehen von erwähntem taz-Artikel (vgl. Stieber, 16.12.2018, taz.de), kaum mit der durch den Savoy-Sarr-Bericht ausgelösten „Restitutionsdebatte“ in Verbindung gebracht. Wie lässt sich diese scheinbare diskursive Trennung der Debatten erklären, und beschreibt dieser Befund eine „koloniale Amnesie“ (Zimmerer, 09.08.2017, FAZ, 11; 23.10.2018, SZ, 2; 19.02.2019, SZ, 12; Garsha 2019), bei der die Thematisierung der Rückgabe kolonialer Sammlungsbestände zu einer Dethematisierung des Genozids an den OvaHerero und Nama führt? Die Analyse der Zeitungsartikel im Zusammenhang mit dem Savoy-SarrBericht bzw. der geplanten Eröffnung des Humboldt Forums im Zeitraum November 2018 bis März 2019 bestätigt nicht, dass der Aufarbeitung des Genozids kein Platz in der „Restitutionsdebatte“ zugewiesen würde. Richtig ist allerdings, dass dem Völkermord an sich keine zentrale Stelle eingeräumt wird. In ihrem FAZ-Artikel vom 15.  Dezember 2018, in dem Grütters und Müntefering (15.12.2018, FAZ, 11) das erste Mal öffentlich Stellung zum Restitutionsbericht beziehen, kommen sie sowohl auf die Rückgabepläne von Peitsche und Bibel als auch auf die Repatriierung menschlicher Gebeine im August 2018 zu sprechen. Die Staatsministerinnen werden dabei allerdings ihrem selbst definierten Ziel nicht gerecht, die gesamtgesellschaftliche erinnerungspolitische Aufarbeitung des Kolonialismus mit der Restitutionsfrage zu verknüpfen, da sie eine klare Benennung des Genozids aussparen (vgl. Häntzschel, 17.12.2018, SZ, 11). Dabei kommen selbst Sarr und Savoy (2018, 1) auf der ersten Seite ihres Berichts auf den Völkermord zu sprechen, um die Ausmaße der Gewalt des europäischen Kolonialismus aufzuzeigen und hervorzuheben, dass sich in diesem Kontext kultureller Objekte und Kunstwerke bemächtigt wurde. Auch in der FAZ wird die „Restitutionsdebatte“ sehr viel umfänglicher mit einer allgemeinen Bewertung des deutschen Kolonialismus und insbesondere mit dem Genozid an den OvaHerero und Nama verknüpft. Am 9. Dezember trägt die Zeitung auf mehreren Seiten Fragen und Antworten zum Thema Restitutionen zusammen, wobei das Restitutionsvorhaben an die Familie Witbooi jedoch eine untergeordnete Rolle einnimmt. Unter Frage  18 findet der Genozid folgendermaßen Erwähnung:

Eine „koloniale Amnesie“?  

 375

Dienten die deutschen Sammlungen nicht allein der Aufklärung? – Das sagt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, der das Konzept des Humboldt Forums mitentwickelte. Er widersprach Macron und verwies auf die angebliche deutsche Sonderrolle als späte Kolonialmacht – ohne die Vernichtungskriege gegen die Herero, Nama und Maji-Maji zu erwähnen; oder die deutschen Entdecker, die seit dem 18. Jahrhundert an kolonialen Expeditionen teilnahmen, und die deutschen Museumsdirektoren, die sich schon voran auf Beute aus Benin freuten. Aber zurzeit fühlen sich ja vielen eingeladen, sich eine idyllische, widerspruchsfreie, von Außenperspektiven bereinigte deutsche Vergangenheit zu erträumen. (Reichert, 09.12.2018, FAZ, 42, Hervorhebung S. R.)

Das ND befindet sogar, dass die Aufarbeitung des Völkermords „nun einen neuen Schub durch [d]en französischen Vorstoß erhalten dürfte[]“ (Vesper, 27.11.2018, ND, 14). Vereinzelte Artikel kommen dabei auch auf die Forderungen der OvaHerero und Nama nach einer Entschuldigung oder auch auf das in New York anhängige Klagevorhaben zu sprechen. Die Klage wurde dabei als Grund angeführt, warum man im Eckpunktepapier den Kolonialismus lieber nicht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnen wollte, könnten doch sonst Reparationszahlungen die Folge sein (vgl. Häntzschel, 15.03.2019,SZ, 13). Allerdings herrscht in der Presse auch Uneinigkeit darüber, inwiefern die „Restitutionsdebatte“ mit der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen verbunden werden sollte. Im ND erscheint am 19. Januar 2019 ein von Henning Melber, Thomas Fues und Johanna Ridderbeekx verfasster Kommentar, in dem die Autor:innen schreiben: Verknüpft man koloniale Raubkunst mit der allgemeinen Geschichte der Opfer des Kolonialismus – im deutschen Kontext vor allem mit dem Völkermord an den Herero und Nama –, bringt man die Themen in eine Aufmerksamkeitskonkurrenz und wird letztlich beiden nicht gerecht. Es könnte so (erinnerungs-)politisch bei der Kultur abgeladen werden, was die große Politik nicht lösen will oder kann, etwa den zähen Streit um den ersten deutschen Genozid. (Melber/Fues/Ridderbeekx, 19.01.2019, ND, 19)

Jürgen Zimmerer hingegen ist derjenige, der am eindringlichsten die Verknüpfung der „Restitutionsdebatte“ mit der allgemeinen Aufarbeitung des kolonialen Erbes forciert. In seinem Artikel „Die größte Identitätsdebatte unserer Zeit“ vom 19.  Februar 2019 stellt er eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Wiederaufbau des Stadtschlosses, dass das Humboldt Forum beherbergen soll, und den preußischen Regent:innen her, die die kolonialen Expansionen beförderten und den Völkermord im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ verantworteten: Die Diskussion um „koloniale Raubkunst“ ist Teil eines breiteren Diskurses über koloniales Erbe und koloniale Amnesie. Hier ist vor allem der Streit über den Umgang mit dem Genozid an den Herero und Nama zu nennen. Die gefährliche Schlagseite, die das Humboldt Forum bekommen hat, ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich der Diskurs über Raubkunst

376 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

mit dem über den ersten deutschen Völkermord verband, architektonisch symbolisiert durch das wiederaufgebaute Stadtschloss. (Zimmerer, 19.02.2019, SZ, 12).

Zimmerer wird neben Savoy als debattenprägend in der Medienberichterstattung rezipiert, wobei seine Argumente sich auch in der französischen Berichterstattung übe r Deutschland niederschlagen. Schon 2016 schreibt etwa Le Monde: „Régulièrement, l’historien Jürgen Zimmerer rappelle à ses compatriotes qu’entre 1904 et 1908, l’Allemagne a commis un génocide en Namibie contre les Hereros et les Namas, et qu’elle y a construit ses premiers camps de concentration“ (Lemaître, 11.06.2016, Le Monde, 6). Auf den von deutschen Kolonialtruppen verübten Völkermord weist die französische Berichterstattung allerdings auch im Kontext der „Restitutionsdebatte“ hin. Am 1. Dezember 2018 veröffentlicht Le Monde einen Artikel zu deren deutscher Rezeption. Der Berlin-Korrespondent geht dabei, wie schon Savoy vor ihm, auf die Initiative „Not Humboldt 21!“ ein, aus deren Manifest er zitiert: En Allemagne et à l’étranger, les descendants des peuples colonisés sont d’autant plus choqués que l’endroit choisi n’est autre que la résidence reconstruite des empereurs de Brandebourg et de Prusse, qui furent les principaux responsables de l’esclavage de milliers d’Africains mains que de génocides et camps de concentration dans les anciennes colonies allemandes. (Wieder, 01.12.2018, Le Monde, 6)

Der Journalist kommt zudem auf die breite öffentliche Debatte rund um das Humboldt Forum zu sprechen, in der zum einen zivilgesellschaftliche Akteur:innen besonders präsent sind und die zum anderen nur aufgrund des gewachsenen Interesses an Deutschlands kolonialer Vergangenheit denkbar war. Die hier genannten Beispiele illustrieren somit, dass die „Restitutionsdebatte“ seit ihrem Beginn auch mit der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit verknüpft war. Dass der kolonialen Vergangenheit ein Platz im öffentlichen Gedenken zugedacht wird, zeigt sich auch anhand des gestiegenen parlamentarischen Interesses an dem Thema. Von drei Anfragen an die Bundesregierung im Jahr 2018 stieg die Anzahl der Kleinen und Großen Anfragen im Jahr 2019 auf insgesamt sieben. Außerdem reichten alle Oppositionsfraktionen des Bundestages Anträge zum Umgang mit dem kolonialen Sammlungsgut bzw. zur Aufarbeitung des Kolonialismus ein. Primär konzentrierten sich die Anfragen zwar auf die Fragen der Restitution von Objekten aus kolonialen Kontexten und der Repatriierung menschlicher Gebeine. Dennoch wird in den Texten immer auch der Stellenwert – der zugewiesene Platz – des Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur adressiert. Im Antrag „zur kulturpolitischen Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes“ (Drucksache 19/7735, 13.02.2019, 2) von Bündnis 90/Die Grünen schreiben die Politiker:innen:

Eine „koloniale Amnesie“?  

 377

Die aktuelle Debatte zeigt: Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft und der damit verbundenen Verbrechen muss systematisch angegangen werden und bedarf der Einbeziehung unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ebenen. […] Dringend notwendig sind vielmehr eine grundlegende Erweiterung der deutschen Erinnerungskultur und ihrer Narrative sowie die Einbettung in den europäischen bzw. globalen Kontext der Kolonialisierung und des Imperialismus.

Unter Punkt  1 und Punkt  2 werden die Gründung und finanzielle Ausstattung einer zentralen Erinnerungsstätte gefordert, bevor die Punkte 3 bis 11 vor allem den Umgang mit kolonialem Sammlungsgut zum Gegenstand haben. Der letzte Punkt adressiert wiederum die anzustrebende Umbenennung von Straßen. Während Die LINKE dezidiert Entschädigungen für den Völkermord in ihrem Antrag vom 3. April 2019 fordert (vgl. Drucksache 19/8961, 03.04.2019), fordert die FDP am 19. März 2019 eine Erweiterung der schulischen Curricula. In ihrem Antrag nimmt die Partei folgendermaßen Stellung zum Kolonialismus: „Der gewünschte Mentalitätswandel im Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit beschränkt sich aber nicht ausschließlich auf deutsche Museen, sondern vielmehr auf unsere gesamte Gesellschaft“ (Drucksache 19/8545, 19.03.2019, 2). Am 3. April 2019 fand zudem eine öffentliche Anhörung zu den Anträgen der Grünen und der FDP statt, bei der u. a. Bénédicte Savoy, Hermann Parzinger, Guido Gryseels und auch die Historikerin Rebekka Habermas zu Wort kamen (vgl. Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages, Öffentliche Anhörung, 4. April 2019). Zwischen Januar und März 2019 werden die Anträge auch wiederholt zum Thema der Medienberichterstattung. Aufsehen in der Presse erregt dabei vor allem im Dezember 2019 ein Antrag der AfD, in dem die Fraktion eine „kulturpolitisch differenziert[e]“ Aufarbeitung des Kolonialismus forderte. Darin hieß es, dass in der deutschen Erinnerungskultur „die gewinnbringenden Seiten der deutschen Kolonialzeit zum Tragen kommen“ sollen (Drucksache 19/15784, 11.12.2019, 2). Dabei stellt sich die AfD nicht nur den Reparationsforderungen der OvaHerero und Nama entgegen, sondern leugnet schlichtweg den Völkermord, indem unter Punkt 2 festgestellt wird: „Von einem systematisch oder vorsätzlich herbeigeführten Völkermord oder gar einer Kontinuität zwischen diesen Grausamkeiten und den Verbrechen der NS-Zeit kann indes keine Rede sein“ (Drucksache 19/15784, 11.12.2019, 1). Am 29.  Juli 2020 folgte die Veröffentlichung der Beschlussempfehlung des Bundestages zu den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen, der FDP, Die LINKE und AfD. Auch wenn keiner der Anträge angenommen wird, verdeutlicht die Zunahme an eingereichten Anträgen aller Oppositionsfraktionen, dass die Aufarbeitung des Kolonialismus zu einem Thema gesamtgesellschaftlicher Relevanz geworden ist. Im Mai 2021 kündigt der deutsche Außenminister Heiko Maas schließlich das Ende des Dialogprozesses an, bei dem die deutsche und die namibische Regierung seit 2015 über die Bedingungen der deutschen Anerken-

378 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

nung des Völkermords verhandelt haben. Neben der Verabschiedung eines „Versöhnungsabkommens“ stellte Maas auch eine offizielle deutsche Entschuldigung in Aussicht (vgl. Rede des deutschen Außenministers Heiko Maas, 28.05.2021). Die (Un-)Möglichkeit einer offiziellen Entschuldigung für die Verbrechen des Kolonialismus ist Gegenstand des abschließenden Kapitels dieser Arbeit.

10.5 Fazit: Eine „Rückkehr des Verdrängten“? [L]es demandes [de retour] […] ont été ignorées avec beaucoup d’arrogance par les institutions concernées, en France et en Europe. Nous assistons au retour du refoulé, avec une force bien plus grande, comme un boomerang. (Bénédicte Savoy in: Moussaoui, 15.07.2020, L’Humanité, 18)

Zwei Jahre nach der Übergabe des Restitutionsberichts gibt Bénédicte Savoy in einem Interview zusammen mit Felwine Sarr gegenüber der Zeitung L’Humanité zu verstehen, dass die Rückgabeforderungen afrikanischer Länder mittlerweile nicht mehr ignoriert werden können (vgl. Moussaoui, 15.07.2020, L’Humanité, 18). Ziel dieses Kapitels war es, den diskursiven Wandel nachzuzeichnen, der sich mit der Veröffentlichung des Restitutionsberichts im November 2018 in der Medienberichterstattung in Deutschland und Frankreich vollzogen hat. Die „Rückkehr des Verdrängten“, von der Savoy spricht, wurde deswegen möglich, weil sich die emotionalen Diskurse wandelten, mit denen zuvor in den 1970er und 1980er Jahren eine ‚Versachlichung‘ der „Restitutionsdebatte“ erreicht wurde und somit Restitutionsforderungen aus dem Globalen Süden delegitimiert werden konnten. Westliche Rationalität wurde dabei in Opposition zu den emotionalisierten Nationalismen der ehemals Kolonialisierten gestellt. Dieser emotionale Diskurs der Rationalität, mit dem die Universalität der Museumsbestände und folglich der Verbleib der kolonialen Objekte in den westlichen Museen gerechtfertigt wurde, wandelte sich mit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“. In den Jahren zuvor galt als in Deutschland noch als unbedenklich, die Benin-Bronzen im Humboldt Forum auszustellen, obwohl deren unrechtmäßiger Erwerbskontext bekannt war (vgl. Opoku 2017a). In Frankreich wiederum konnte die Forderung Benins auf eine Rückgabe der Béhanzin-Statuen mit dem Verweis auf die Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes unkommentiert zurückgewiesen werden (vgl. Moussaoui, 07.03.2018, L’Humanité, 18). In Deutschland ist der Druck auf die Verantwortlichen des Humboldt Forums mittlerweile so stark geworden, dass der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im März 2021 bekannt gab, eine Restitution der Benin-Bronzen nach Nigeria ins Auge zu fassen (vgl. „Stiftungsrat sieht Rückgaben von Benin-Bronzen als ‚Option‘“, 24.03.2021, Zeit

Fazit: Eine „Rückkehr des Verdrängten“? 

 379

online). Im Oktober 2021 wurde das Rückgabevorhaben bestätigt (vgl. Häntzschel, 15.10.2021, Süddeutsche.de), erste Eigentumsübertragungen der sogenannten Benin-Bronzen an den nigerianischen Staat folgten dann im Juli 2022 (vgl. Schmitt, 01.07.2022, tagesschau.de). Frankreich wiederum hatte das erste Mal mit der Gesetzesverabschiedung im Oktober 2020 kulturellen Objekten den Kulturerbe-Status entzogen, um sie restituieren zu können (vgl. Caramel, 17.12.2020, lemonde.fr). Am 9. November 2021 wurden die 26 Béhanzin-Statuen schließlich in einer feierlichen Zeremonie an den Staat Benin zurückgegeben (vgl. „La France restitue solennellement 26 trésors pillés au Bénin“, 09.11.2021, lemonde.fr). Ob allerdings eine Modifikation der Gesetzeslage folgen wird, um Restitutionen in Zukunft zu erleichtern, werden die nächsten Monate und Jahre zeigen. Mit dem diskursiven Wandel hat auch das bisher wirksame Argument des Verweises auf die fehlenden Rechtsmittel an Wirkungsmacht verloren. Rückgaben kolonialer Sammlungsbestände werden stattdessen zunehmend unter den Vorzeichen einer moralischen Verpflichtung diskutiert. Savoy sprach in ihrer historischen Analyse über die „Kälte der juristischen Texte“ (Savoy, 11.03.2021, Vortrag am Collège de France, Übersetzung S. R.), mittels derer emotional zur ‚Versachlichung‘ der „Restitutionsdebatte“ beigetragen werden sollte. Die nunmehr in den Medien artikulierte Verpflichtung zum moralischen Handeln hebelt die legalistischen Argumente aus und eröffnet einen neuen Ermessensspielraum, der das Finden neuer Lösungen ermöglicht. Dennoch zeigte sich in der Analyse der französischen Mediendebatte, dass sich das Verständnis des französischen Universalmuseums als persistent erwiesen hat. Gleichzeitig rangen die Befürworter:innen und Gegner:innen von Restitutionen um das Erlangen emotionaler Deutungshoheit, um die Rückgabeforderungen afrikanischer Länder zu legitimieren bzw. delegitimieren. Eine Strategie der Anhänger:innen westlich-rationaler Universalität war es, die Inhalte des Restitutionsberichts zu desavouieren, indem sie die Positionen Sarrs und Savoys emotionalisierten und ihnen somit die Expertise absprachen. Auf der anderen Seite jedoch erlangten die Sichtweisen der Enteigneten einen legitimen Platz im Diskurs, indem deren ‚Schmerz‘ über den Verlust der Objekte sowie die ‚Freude‘ und das ‚Glück‘ über deren Anblick als legitime Gründe für Rückgabeforderungen debattiert wurden. Trotz der beschriebenen diskursiven Veränderung hat es bis heute nur vereinzelte Restitutionen gegeben. Die Analyse der transnationalen Relationierung deutscher und französischer Restitutionspolitik hat dabei gezeigt, dass die anfänglich konstruierte Vorbildfunktion Macrons vor allem zu politischem Handeln in Deutschland führte. Wenngleich das 2019 veröffentlichte Eckpunktepapier keine Systematik für die Rückgabe von kolonialem Sammlungsgut entwickelt hat, so stellt es dennoch künftige Restitutionen in Aussicht. Die föderalen Strukturen haben dabei die Debatten in Deutschland dynamisiert und sowohl

380 

 Eine Transnationalisierung emotionaler Diskurse?

zu einer Auseinandersetzung mit der Beweislastumkehr als auch mit der Bewertung des Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geführt. Im Gegensatz zu Frankreich wurde im deutschen Kontext auf die Erfahrungen mit der Restitution von NS-Raubgut zurückgegriffen und dabei die Anwendung der Washingtoner Prinzipien für koloniale Sammlungen diskutiert. In Frankreich hingegen werden keine Aussagen über den künftigen Umgang mit den französischen Sammlungen getroffen. Stattdessen wird im Juli 2020 die Aussicht auf die Initiierung umfänglicher Rückgaben abgelehnt und eine Novellierung des code du patrimoine ausgeschlossen. Folglich wird die „Restitutionsdebatte“ in Frankreich vor allem kulturpolitisch geführt, wobei die französische Regierung versucht, ihre Rolle gleichberechtigter Partner umzudeuten, um ihre Einflusssphäre im frankophonen Afrika abzusichern. Deutlich wird dies auch am Festhalten am Konzept der Zirkulation und der Leihgabe von Objekten. Doch auch in Deutschland verknüpfen sich entwicklungspolitisches Interesse und Restitutionen zu einer spezifischen Kulturpolitik, bei der die Fragen nach historischer Aufarbeitung oder nach Zahlungen von Reparationen ausgespart werden. Denn die Restitution kultureller Artefakte steht auch für eine Wiederherstellung rechtmäßiger Besitzverhältnisse, weswegen sie gleichbedeutend für ein Schuldeingeständnis stehen kann. Der Museologe Jean-Gabriel Leturcq (2008, Absatz 36) hebt dabei hervor, dass sich die Restitution von Kulturgütern in einen Prozess der Neudefinition des Geschichtsverständnisses einschreibt, was der Grund dafür sein kann, dass sich die meisten algerischen Rückgabeforderungen durch eine relative Erfolglosigkeit auszeichnen. Denn, so Leturcq (2008, Absatz 36) weiter: „Les pièces de musée deviennent objets de transaction mémorielle: en définissant les causes du déplacement des objets, les demandes font resurgir les séquelles d’un passé ou des actes de violence qui appellent Restitution et réparation“. Frankreich ist jedoch wenig daran gelegen, dass die koloniale Gewalt des Algerienkriegs zum Vorschein kommt und eine Rückgabe der Archive die Forderung nach Entschädigungen befeuern könnte. In Deutschland hingegen existiert seit 2016 die Zusage, eine offizielle Entschuldigung an Namibia zu richten. Die Rückgabe der Witbooi-Bibel und Peitsche könnten entsprechend als erinnerungspolitische „Transaktionsobjekte“ verstanden werden, um das „begangene Unrecht [symbolisch] zu reparieren“ (Leturcq 2008, Absatz 30, Übersetzung S.  R.). Dennoch: Wenn Restitutionen als Eingeständnis eines Fehlverhaltens gedeutet werden können, müssen dann aus ihr nicht auch Entschuldigungen resultieren? Weder Frankreich noch Deutschland haben sich bisher für die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen entschuldigt – obwohl sowohl Algerien als auch Namibia dies fordern. Im folgenden Kapitel geht es um die (Un-)Möglichkeit, sich für die koloniale Vergangenheit zu entschuldigen.

11 D  er Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Über die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen 11.1 Entschuldigungen als „missglückende Rituale“? Im Lichte der historischen und moralischen Verantwortung Deutschlands werden wir Namibia und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten. (Außenminister Heiko Maas (SPD), Pressemitteilung Auswärtiges Amt, 28. Mai 2021) On sait que depuis plusieurs années les autorités algériennes réclament des „excuses“ à propos de la période de la colonisation. Dans la lignée des discours présidentiels français précédents, ce geste symbolique peut être accompli par un nouveau discours. Mais est-ce que cela sera suffisant? N’est-il pas nécessaire d’emprunter d’autres chemins, de mettre en œuvre une autre méthode pour parvenir à la „réconciliation des mémoires“? (Benjamin Stora, Bericht über Erinnerungsfragen und den Algerienkrieg 2021, 77, Hervorhebung im Original)

Im Frühjahr 2021 wurden die Debatten um die Bedeutung politischer Entschuldigungen sowohl in der deutschen als auch in der französischen Erinnerungspolitik zum Kristallisationspunkt der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten. Zuerst überreichte Benjamin Stora am 20. Januar seinen „Bericht über die Erinnerungen hinsichtlich der Kolonisierung und des Algerienkriegs“ (Übersetzung S.  R.) an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Kurze Zeit später reagierte vor allem die algerische Regierung kritisch auf Storas Zurückhaltung gegenüber der Formulierung einer offiziellen Entschuldigung für die Kolonialisierung Algeriens. Im Mai folgte in Deutschland die Ankündigung, dass die mehr als fünf Jahre andauernden Verhandlungen mit der namibischen Regierung über eine offizielle Anerkennung des Genozids an den OvaHerero und Nama zu einem Abschluss gelangen könnten. Dabei wurde in Aussicht gestellt, dass der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier noch bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2021 eine offizielle Entschuldigung im namibischen Parlament aussprechen werde. Wird im französischen Kontext die (Un-)Möglichkeit einer offiziellen Entschuldigung verhandelt, geht es bei der deutschen Entschuldigung um die Aushandlung der Bedingungen, zu denen diese sowohl von der namibischen Regierung als auch von den Vertreter:innen der OvaHerero und Nama anerkannt werden kann. Im Fokus der Kritik steht seitens der namibischen sowie der deutschen Zivilgesellschaft vor allem die bundesrepublikanische Weigerung, ihre Entschuldigung an die Zahlung von Reparationen für den Genozid zu binden. Diese längst noch https://doi.org/10.1515/9783111018683-011

382 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

nicht abgeebbten Auseinandersetzungen in beiden Ländern unterstreichen, dass nicht nur das ‚angemessene‘ Erinnern zweier partikularer historischer Ereignisse debattiert wird. Denn eine Neujustierung der erinnerungspolitischen Selbstverständnisse bedeutet gleichzeitig das gesellschaftliche Ringen um eine mögliche Umverteilung materieller und immaterieller Ressourcen. Als ein recht junges Instrument in den Internationalen Beziehungen eröffneten Entschuldigungsforderungen den vormals Kolonialisierten und deren Nachkommen neue Handlungsmöglichkeiten, um eine Neubewertung kolonialer Gewalt gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten zu fordern (vgl. Gibney 2008; Lefranc 2002; Leroux et al. 2005; Lind 2010; MacLachlan 2010; Stock 2014; Yeğenoğlu 2017). Dabei etablierte sich nach dem Ende des Kalten Kriegs eine ‚Sprache der Versöhnung‘, die, auf moralischen Registern basierend, die Aufarbeitung vergangener Verbrechen zur Norm machte (vgl. Daase 2010, 20). Die Formulierung einer Entschuldigung setzt zunächst jedoch das Eingeständnis voraus, in der Vergangenheit ein Unrecht begangen zu haben und für dieses Verantwortung zu übernehmen. Wie in Kapitel 7 herausgearbeitet, ist die ‚Sprache der Versöhnung‘54 in postkolonialen Erinnerungspolitiken durch ungleiche Machtverhältnisse geprägt. Im Ringen um die Anerkennbarkeit des ‚Leids der Anderen‘ zeigte sich dabei eine Differenz zwischen der Anerkennung historischen Unrechts und der Verkennung der Anderen. Diese Machtdisparitäten bestehen in den Aushandlungen von Entschuldigungen fort, weil sie in besonderem Maße mit der Aushandlung symbolischer und/oder materieller Entschädigungen verknüpft sind, wie Barkan (2002) in seiner Studie herausgearbeitet hat. Die Verbindung der Anerkennung historischer Schuld mit der Möglichkeit symbolischer oder materieller Kompensation hat der Entschuldigung als Mechanismus der Vergangenheitsaufarbeitung daher auch wiederholt Kritik eingebracht (vgl. Barkan 2002, 365). Der Politikwissenschaftler Christopher Daase (2010) beginnt seinen Artikel mit den durchaus ambivalenten Bewertungen dieser „neuen Praktik“ (Barkan 2002, 19–20), die vor allem in der Dekade um

54  Tatsächlich untersucht diese Arbeit weniger die diskursive Formation des Begriffs der „Versöhnung“, der bisher im französischen Kontext eine größere Rolle spielt und in der deutschen Debatte erst mit der Ankündigung des „Versöhnungsabkommens“ im Jahr 2021 an Bedeutung gewinnt. Dennoch möchte ich an dieser Stelle auf die terminologischen Unterschiede der deutschen „Versöhnung“ im Gegensatz zur französischen „réconciliation“ hinweisen: Während sich der deutsche Begriff vom christlichen Konzept der „Sühne“ ableitet und folglich einen „Büßenden“ und „Verzeihenden“ voraussetzt, beschreibt der französische Begriff stärker eine Annäherung zwischen den ehemaligen Kriegsparteien und somit das Erreichen einer Übereinkunft (vgl. Defrance, 22.06.2020). Inwiefern sich asymmetrische Machtverhältnisse in der postkolonialen Aufforderung zur „Versöhnung“ einschreiben, muss indes noch eingehender untersucht werden.

Entschuldigungen als „missglückende Rituale“? 

 383

die Jahrtausendwende zu einer extensiven Forschungstätigkeit im Feld der transitional justice geführt hat (vgl. Schwelling 2014). Für die einen sind Entschuldigungen als Ausdruck eines weltweiten Interesses an „politischer Versöhnung“ zu verstehen. Für die anderen sind sie „abortive rituals“ (Trouillot 2000), die nicht nur für ihre „oberflächliche Moralisierung“ kritisiert werden, sondern außerdem die Möglichkeit zu einem gesellschaftlichen Wandel versagten (vgl. Daase 2010, 19–20; Trouillot 2000, 185). Auch Barkan (2002, 365) wirft die Frage auf, ob Entschuldigungen nicht maßgeblich dazu dienten, sich von ‚historischer Schuld‘ freizusprechen – vor allem dann, wenn die von den marginalisierten Erinnerungsträger:innen gestellten Forderungen nach Entschädigungen und Wiedergutmachungen verworfen werden. Während mittlerweile diverse symbolische Entschuldigungen ausgesprochen worden sind, waren die Erfolgsaussichten in den Fällen postkolonialer Forderungen nach materiellen und/oder immateriellen Reparationen bisher verschwindend gering. Erinnert sei u. a. an die wiederkehrende Diskussion um die Zahlung von Reparationen an die Nachfahren der Betroffenen des US-amerikanischen Versklavungshandels (vgl. Kap.  10 in: Barkan 2002). Dennoch ist ihre Bedeutung für die Aufarbeitung (post-)kolonialer Gewaltverhältnisse nicht zu unterschätzen, wie verschiedene Entschuldigungen und Verantwortungsbekenntnisse des Jahres 2021 nahelegen. Im Mai hatte sich zuerst der mexikanische Präsident bei den Maya für deren koloniale Unterdrückung und andauernde Diskriminierung entschuldigt (vgl. „Mexiko bittet MayaUreinwohner um Entschuldigung“, 04.05.2021, faz.net). Im gleichen Monat gestand Macron die politische Verantwortung Frankreichs am Genozid in Ruanda ein, der von April bis Mitte Juli 1994 ca. 800 000 bis 1 000 000 Menschen das Leben kostete (vgl. Delage, 27.05.2021, libération.fr). Dabei verweigerte er jedoch die Formulierung einer offiziellen Entschuldigung. Was macht das Ringen um Entschuldigungen zu einem wichtigen erinnerungspolitischen Mechanismus in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten? Offizielle Entschuldigungen gelten nicht nur als Mittel der ‚Vergangenheitsbewältigung‘, indem sie allgemein akzeptierte historische ‚Wahrheiten‘ etablieren. Gleichzeitig können Entschuldigung den Grundstein für die zukünftige Beziehung zwischen den sich Entschuldigenden und den Adressat:innen legen. Denn mit der Entschuldigung verknüpft sich das Versprechen, in Zukunft anders zu handeln. Während Reparationszahlungen, Kriegsverbrechertribunale oder Wahrheitskommissionen zur Versöhnung postkonfliktärer Gesellschaften umgesetzt werden, lassen sich politische Entschuldigungen als eine vornehmlich westliche Praktik beschreiben (vgl. Howard-Hassmann und Gibney 2008, 1), um Vergangenheiten zu adressieren, die nicht mehr justiziabel sind – was für einen Großteil der kolonialen Verbrechen zutrifft. Daase (2010, 24), der Entschuldigungen als Beitrag zur Versöhnung von Gesellschaften in den Blick nimmt, definiert

384 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

diese als „recognition of a past violation or harm in conjunction with the admission of responsibility and the plea for forgiveness“. In seinem Artikel benennt er außerdem vier Bedingungen für den ‚Erfolg‘ von Entschuldigungen: (1) die Autorität der Person, die die Entschuldigung ausspricht, (2) die Glaubwürdigkeit, die ihr dabei zugeschrieben wird, (3) das Maß an Bedauern, das zum Ausdruck kommt, sowie (4) die wahrgenommene Notwendigkeit für die Formulierung einer Entschuldigung aufseiten der sich Entschuldigenden (vgl. Daase 2010, 26). In dieser Lesart steht allerdings weniger die Anerkennung der ‚Anderen‘ im Zentrum des Entschuldigungsaktes als vielmehr die Anerkennung eigener ‚moralischer Kollektivschuld‘. Begründen lässt sich dies damit, dass der Ausgangspunkt für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Entschuldigungen als politischem Instrument die von Karl Jaspers (2019 [1946]) bereits im Jahr 1946 entwickelten Schuldkategorien sind. Seine Beschreibung krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld thematisiert die Frage nach dem Eingeständnis von Schuld in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Während sich für Jaspers der moralisch Schuldige nur vor sich selbst verantworten könne, leiten spätere Arbeiten aus der ‚moralischen Schuld‘ jedoch ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft ab (vgl. Daase 2010, 21–22; Schwan 2001 [1997]). Assmann (2014 [2006]) und Dubiel (1994) unterstreichen wiederum, dass sich eine kollektive Verantwortungsübernahme erst mit dem Generationenwandel vollziehen kann, gerade weil die nachgeborenen Generationen keine individuelle Schuld mehr trugen, sich aber qua ‚Nation‘ oder Familie der „Tätergeneration verwandt fühlen“ (Dubiel 1994, 889). Die konkrete Trauer über den eigenen Verlust wandele sich somit in eine „moralische Trauer“, die als Gewissheit über den „unwiederbringlichen Verlust“ zum Eingeständnis von Schuld „(im Sinne von Versprechen, Verpflichtung, Gewissen) […] auf eine nicht wiedergutzumachende ‚Schuld‘ (im Sinne von Verbrechen) antwortet und sie über die Grenzen des nationalen Kollektivs erhebt“ (Assmann 2014 [2006], 111). Das Eingeständnis von Schuld und die daraus abgeleitete Formulierung von Entschuldigungen ist allerdings grundlegend in einer christlich-westlichen Tradition verankert (vgl. Yeğenoğlu 2017, 22). Den religiösen Ursprung von Begriffen wie Geständnis, Versöhnung, Reue, Erlösung, die zu dem gerinnen, was in dieser Arbeit wiederholt als ‚Sprache der Versöhnung‘ beschrieben wurde, hat insbesondere Jacques Derrida hat in seinem Buch On Cosmopolitanism and Forgiveness (2001) kritisiert. Folglich basieren Entschuldigungspraktiken auf dem Prinzip der Reziprozität, die Vergebung zum Ziel hat und letztlich in den Dienst der Herstellung nationaler Einheit, Versöhnung und Heilung gestellt werden (vgl. Yeğenoğlu 2017, 23). Die Kulturwissenschaftlerin Meyda Yeğenoğlu (2017, 18) folgert daher auch, dass Entschuldigungen kaum „nationalistische, kolonialistische oder eurozentrische“ Denkgerüste unterminieren können.

Entschuldigungen als „missglückende Rituale“? 

 385

Auch Sara Ahmed (2004, 113) hat auf die Konditionalität von Entschuldigungen verwiesen, wonach es ein Unterschied ist, ob sich für die begangene Tat entschuldigt wird oder für die ‚Verletzung‘, die bei den ‚Anderen‘ verursacht wurde. Neben der Frage nach der Rolle ‚moralischer Kollektivschuld‘, die als Voraussetzung für die Formulierung politischer Entschuldigungen gilt, ist zudem der Ausdruck „kollektiver Reue“ erklärungsbedürftig (Daase 2010, 25). Das Entstehen der „Ära der Entschuldigungen“ (Gibney 2008) basiert auf der Annahme, dass sich die Angehörigen einer Gruppe „qua Zugehörigkeit“ mitverantwortlich fühlen für begangene Verbrechen in der Vergangenheit (vgl. Daase 2010, 22–23; Dubiel 1994, 889). Für den Historiker Michel-Rolph Trouillot (2000, 175) basieren kollektive Entschuldigungen daher auf der Konstruktion einer „räumlich-zeitlichen Kontinuität“, in der die historischen und die gegenwärtigen Akteur:innen als identische Subjekte konstituiert werden. In diesem Prozess wird die Historizität der Vergangenheit zugunsten ihrer Konservierung für die Gegenwart aufgegeben (vgl. Trouillot 2000, 181). Als Folge werden die Täter der Vergangenheit zu den „reumütigen Entschuldigenden“ in der Gegenwart (Trouillot 2000, 175), woraus sich die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für historisches Unrecht ableitet (vgl. Trouillot 2000, 176; Dubiel 1994). Ebenso wie Daase (2010, 25) unterstreicht Trouillot (2000, 177) den Zusammenhang zwischen der Praktik kollektiver staatlicher Entschuldigungen und der medialen, wissenschaftlichen und politischen Bezugnahme auf affektive Register und vor allem dem Ausdruck „kollektives Bedauern“. Diskursiv habe sich so die Annahme etabliert, dass Staaten zwar weniger eines kollektiven Gefühlsausdrucks fähig seien, der:die Einzelne aber über eine „geteilte individuelle Schuld“ seine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft bestätige (Trouillot 2000, 177–178, 184). Dabei gelangt Trouillot (2000, 184, Übersetzung S. R.) zu der Erkenntnis, dass die „Betonung geteilter Gefühle des Bedauerns die Reproduktion weltweiter Ungleichheitsstrukturen verschleiern“ würde. Statt jedoch diesen Befund zum Ausgangspunkt zu nehmen, um Entschuldigungspraktiken grundlegend abzulehnen, folge ich Ahmed in ihrem Zugang, eben jene affektiven Zustände für die Erzeugung und Aufrechterhaltung ungleicher Machtverhältnisse offenzulegen. Wie die meiste Literatur, die sich mit dem Phänomen politischer Entschuldigungen auseinandersetzt, fasst auch Ahmed (2004) Entschuldigungen als Sprechakte auf. Die Sprechakttheorie, die vor allem auf den Arbeiten des Philosophen J. L. Austin (1975 [1962]) basiert, geht davon aus, dass sich im Moment des Sprechens erst die Handlung des Entschuldigens vollzieht, d.  h. Entschuldigungen sind gleichzeitig auch „performative Äußerungen“ (Ahmed 2004, 114, Übersetzung S. R.). Damit solche Äußerungen gelingen, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Anders jedoch als bei Daase (2010), der sich ausschließlich auf die Seite der sich Entschuldigenden konzentrierte, unterstreicht Ahmed (2004,

386 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

114), dass auch die Adressat:innen mit der Autorität ausgestattet sein müssen, um die Entschuldigung annehmen zu können (vgl. recognizability in: Butler 2017 [2005]). Als weitere Bedingung muss zudem eine Übereinkunft zwischen den ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘ über die historischen Ereignisse getroffenen werden, für die sich entschuldigt werden soll (vgl. Barkan 2002, 366). Somit bestätigt die sich entschuldigende Seite zwar ihre Willfährigkeit, historisches Unrecht aufzuarbeiten, orientiert sich dabei aber gleichsam an den etablierten ‚Kollektividealen“ von Moralität (vgl. Barkan 2002, 389). Ahmed (2004, 109) zeigt in ihrer Arbeit, wie sich die ‚Nation‘ durch das Eingeständnis historischer Schuld ihrer moralischen Ideale versichern und diese als selbstreferenzielle ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in ‚Stolz‘ auf den Umgang mit historischem Unrecht wandeln kann. Wesentlich hierbei ist die diskursive Konstitution affektiver Zustände, weswegen die sprachliche Anzeige einer Emotion nicht mit dem Empfinden derselben gleichgesetzt werden kann (vgl. Ahmed 2004, 116; Kap. 4). Entschuldigungen als performative Praktiken sind zum einen Ausdruck der moralischen Kollektivideale, können zum anderen aber auch die moralischen Register neu justieren. Sie eröffnen folglich einen Möglichkeitsraum, weitere Schritte zur Aufarbeitung der Vergangenheit zu ergreifen oder ergreifen zu müssen. Weil jedoch nicht abzuschätzen ist, ob weitere Forderungen nach Reparationen und Restitutionen aus der Äußerung einer Entschuldigung resultieren können, werden entschuldigende Worte entweder verwehrt oder nur „unvollständig“ geäußert (Ahmed 2004, 117; vgl. auch Denti 2016). Aus diesem Grund sollten sie auch nicht als „befriedigende[s] Endresultat“ aufgefasst werden, sondern als „Teil eines Verhandlungsprozesses“ (Barkan 2002, 25). Trouillot (2000, 183) lehnt kollektive Entschuldigungen auch deswegen ab, weil diese auf einem ahistorischen Verständnis von Gerechtigkeit beruhten und somit keine Lösung für die Forderung nach Reparationen für koloniale Gewalt anbieten können. Entgegen dem normativen Verständnis, mittels Entschuldigungen Versöhnung und Gerechtigkeit zu erzielen, geht es mir in der Analyse allerdings um die diskursiven Bedingungen, die die (Un-)Möglichkeit einer Entschuldigung konstituieren. Kann eine Verständigung über eine gemeinsam geteilte historische Erzählung erzielt werden (vgl. Barkan 2002, 366)? Welche moralischen Register werden bedient bzw. zurückgewiesen? Welche Adressat:innen werden ‚anerkennbar‘ für das Empfangen einer Entschuldigung (vgl. Kap. 7)? Die Bedeutung affektiver Register für die Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen steht somit unmittelbar im Zentrum der Analyse. Die Aufmerksamkeit richtet sich somit auf die Frage, ob politische Entschuldigungen vordergründig die moralischen Kollektivideale der ‚Nation‘ adressieren und als Folge die ‚Täter‘-Gesellschaften mit sich selbst versöhnen, oder ob die Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ sowie eine Neuverteilung politischer und ökonomischer Ressourcen verhandelt wird.

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 387

Für die empirische Untersuchung setze ich die Entschuldigung Macrons für die Ermordung des Kommunisten Maurice Audin im Jahr 2018 mit der Verweigerung einer französischen Entschuldigung für den Algerienkrieg im Jahr 2021 miteinander in Beziehung. Dafür konzentriere ich mich auf die Berichterstattung im September 2018, als Macron seine Erklärung offiziell bekannt gab und Audins Witwe persönlich aufsuchte. Weiterhin habe ich Zeitungsartikel im Zeitraum von Januar bis März 2021 in das Materialkorpus aufgenommen, d. h. von der Bekanntgabe des Stora-Berichts bis zur offiziellen Anerkennung Macrons, dass auch der algerische Anwalt Ali Boumendjel im Jahr 1957 den französischen Folterpraktiken zum Opfer fiel. Im deutschen Kontext analysiere ich die Medienberichte, die im Zusammenhang mit der Ankündigung des deutsch-namibischen „Versöhnungsabkommens“ zwischen Mai und August 2021 erschienen sind. In Kapitel 11.2 erarbeite ich die Unterschiede, die 2018 dazu führten, dass die präsidiale Entschuldigung für die Ermordung Audins bei dessen Witwe auf gesellschaftliche Akzeptanz stieß, während im Jahr 2021 der vorherrschende emotionale Diskurs der repentance eine Entschuldigung gegenüber Algerien als unmögliche erinnerungspolitische Praktik konstruiert. In Kapitel 11.3 gehe ich zuerst auf die im Jahr 2004 geäußerte Entschuldigung der damaligen Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ein, um im Anschluss die kontrovers geführten Debatten um das „Versöhnungsabkommen“ zu rekonstruieren. Während die Bundesregierung eine ‚moralische Verantwortungsübernahme‘ weiterhin mit entwicklungspolitischen Investitionen gleichsetzt, beginnt sich medial die Forderung nach einer uneingeschränkten Anerkennung des Völkermords durchzusetzen, die insbesondere die Zahlung von Entschädigungen einschließt. In Kapitel 11.4 zeichne ich nach, inwiefern die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten medial zunehmend als Thema von europäischer Bedeutung wahrgenommen wird, bevor ich abschließend in Kapitel 11.5 die Grenzen der staatlichen Entschuldigungspolitik aufzeige.

11.2 „ C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens zwischen Anerkennung und Verkennung 11.2.1 „ Un geste historique“ – Macrons Entschuldigung für die Ermordung des Kommunisten Maurice Audin im Jahr 2018 Am 14.  September 2018 besuchte Emmanuel Macron die Witwe Josette Audin in ihrem Wohnhaus im Pariser Vorort Bagnolet, um ihr einen offiziellen Brief zu überreichen, in dem er sich für den Mord an ihrem Ehemann Maurice Audin entschuldigte (vgl. „Macron demande pardon à la veuve de Maurice Audin“, 13.09.2018, lefigaro.fr). Der Mathematiker und Kommunist Maurice Audin war am

388 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

11.  Juni 1957 während der „Schlacht um Algier“ von französischen Fallschirmjägern in seinem algerischen Haus in Anwesenheit seiner Frau und Kinder festgenommen worden. Seither fehlt jede Spur von ihm. Audin steht exemplarisch für Tausende Disparus („Verschwundene“), deren Spuren sich im Algerienkrieg verlieren. Aufgrund der weiterhin eingeschränkten Archivzugänge sowie der unklaren Aktenlage ist das massenhafte ‚Verschwindenlassen‘ der französischen, vor allem aber der algerischen Oppositionellen bis heute noch nicht aufgearbeitet (vgl. Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 13.09.2018). Zur „historischen Geste“ wird Macrons Entschuldigung aber vor allem deshalb, weil Audins Tod nicht als singulärer Ausnahmefall behandelt wurde, sondern die systematische Anwendung der Folter während des Algerienkriegs Anerkennung fand. Audin geriet als Mitglied der verbotenen Parti communiste algérien (PCA), die den Unabhängigkeitskampf der FLN unterstützte, ins Visier der Behörden (vgl. Pervillé, 14.09.2018, lefigaro.fr). Nach seinem Verschwinden lautete die offizielle Version bis 2014, dass Audin während eines Gefangentransports fliehen konnte. Auf welche Weise und wann Audin genau ums Leben kam und wo seine sterblichen Überreste verblieben sind, konnte bis heute nicht geklärt werden (vgl. Sévillia, 14.09.2018, Le Figaro, 2). Dass ausgerechnet Maurice Audin zum Symbol der Aufarbeitung der Folter während des Algerienkriegs wurde, erklärt sich insbesondere mit dem erinnerungspolitischen Engagement seiner Frau Josette und der Unterstützung, die sie durch die kommunistische Partei Frankreichs erfuhr. Schon kurz nach seinem Verschwinden reichte sie gegen die französischen Behörden eine Klage wegen Totschlags ein (vgl. Gauron, 13.09.2018, lefigaro.fr). Nachdem zuerst nur zögerlich den Anschuldigungen nachgegangen wurde, folgte mit der Unterzeichnung der ersten Amnestieverträge im Jahr 1962 die endgültige Einstellung des Verfahrens. Deutlich wird daran allerdings auch, dass schon den Zeitgenoss:innen die Anwendung von Folterpraktiken durch die französische Armee bekannt war. Nicht nur die Tagespresse berichtete darüber, besondere Verbreitung erlangte das Wissen vor allem mit der Veröffentlichung des im Jahr 1958 erschienenen Berichts La Question. Der kommunistische Journalist Henri Alleg, der während der „Schlacht um Algier“ im Jahr 1957 ebenfalls von französischen Fallschirmjägern festgenommen wurde, hatte den Bericht im Gefängnis verfasst und darin die angewandten Folterpraktiken während seiner Internierung beschrieben. Er war eine der letzten Personen, die Audin noch lebend im Gefängnis antraf (vgl. Alleg 2008 [1958], 12–13). In der Medienberichterstattung im Jahr 2018 wurde u. a. diskutiert, ob es sich bei Audins Festnahme möglicherweise um eine Verwechslung mit Alleg gehandelt haben könnte (vgl. Sévillia, 14.09.2018, Le Figaro, 2). Obwohl der Vertrieb des Buches in Frankreich im Frühjahr 1958 verboten wurde, wurde es illegal weiter vertrieben (vgl. Monciaud 2014, 32). Durch das Comité Audin, das sich kurz nach seinem Verschwinden gründete und zu dem

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 389

ab 1958 der später renommierte Historiker Pierre Vidal-Naquet gehörte, bündelte sich vor allem in Frankreich das öffentliche Interesse auf den Fall Audin (vgl. Thenault und Branche 2000, 63). Vidal-Naquet publizierte während seiner akademischen Laufbahn mehrere historische Werke zum Einsatz der Folter, wozu auch das 1958 erschienene Buch L’Affaire Audin gehörte. Wenngleich das Comité als Zusammenschluss nur bis 1963 Bestand hatte, forderten die meisten seiner Mitglieder auch in den folgenden Jahrzehnten die Aufarbeitung der im Algerienkrieg begangenen Verbrechen ein – so auch im Jahr 2000, als die Auseinandersetzung mit der Folter während des Algerienkriegs das erste Mal zu weitreichenden Debatten in der französischen Gesellschaft führte. 11.2.1.1 Rückschau auf die Folterdebatte der Jahre 2000–2002 In den Jahren 2000/2001 gehörten vier Mitglieder des damaligen Comité Audin zu den Unterzeichner:innen des Appel des douze, unter ihnen auch Vidal-Naquet, die am 31. Oktober 2000 in L’Humanité eine Verurteilung der Folter während des Algerienkriegs und eine offizielle Entschuldigung der französischen Regierung forderten (vgl. Cole 2005, 140). Diesen Forderungen vorausgegangen war ein Interview mit der ehemaligen FLN-Aktivistin Louisette Ighilahriz, die im Juni 2000 in Le Monde von der mehrmonatigen Folter und den wiederholten Vergewaltigungen in Gefangenschaft der 10.  Fallschirmjägerdivision unter General Jacques Massu berichtete (vgl. Renken 2006, 139). Dass die Debatte eine derartige Reichweite erzielte, wurde zum einen durch die offizielle Anerkennung des Algerienkriegs im Jahr zuvor begünstigt (vgl. Kap. 7), zum anderen aber auch durch die Reaktionen der Generäle Jacques Massu und Paul Aussaresses, die im November 2000 in Interviews für Le Monde die Anwendung der Folter als legitimes Instrument im Algerienkrieg darstellten (vgl. Renken 2006, 139). Massu verlieh Ighilahriz Schilderungen vor allem deswegen Glaubwürdigkeit, weil er eingestand, dass „im Fall Louisette Ighilahriz die Dinge wirklich sehr weit gegangen zu sein scheinen“ (zit. in: Renken 2006, 139). Aussaresses hingegen rechtfertigte die Anwendung der Folter als die Ordnung aufrechterhaltende Maßnahme (vgl. Renken 2006, 139). Im Dezember 2000 erschien zudem die erste französische Doktorarbeit über die Bedeutung der Folter in den Kriegsjahren. Für den Historiker Joshua Cole (2005, 129–130) liegt im zufälligen zeitlichen Zusammentreffen der Veröffentlichungen der persönlichen und von Emotionen getragenen Erzählung Ighilahriz und der Dissertation der Historikerin Raphaëlle Branche die gesellschaftliche Sprengkraft, mit der die Folterdebatte in Frankreich geführt werden konnte. Auf der anderen Seite rückte erstmals eine algerische und vor allem auch eine weibliche Perspektive ins Zentrum des Interesses. Nicht nur die Folterpraktiken, die der französischen Öffentlichkeit durch Allegs Schilderungen und den Fall Audin weitestgehend bekannt waren,

390 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

gerieten in den Fokus, sondern vor allem die systematischen Vergewaltigungen durch die französische Armee (vgl. Durmelat 2005, 145). Besondere Brisanz entfaltete die Debatte schließlich auch deswegen, weil die verschiedenen Zeugenaussagen juristische Folgen nach sich zogen – allerdings nicht aufgrund der begangenen Verbrechen. Aussaresses veröffentlichte im Mai 2000 das Buch Services Spéciaux, in dem er seine Erfahrungen im Algerienkrieg schilderte und keinen Hehl aus den von ihm begangenen Straftaten machte. Er beschrieb u. a. seine Mittäterschaft an der Ermordung des FLN-Politikers Larbi Ben M’Hidi und des Anwalts Ali Boumendjel, die zu diesem Zeitpunkt von offizieller Seite als Selbstmorde deklariert wurden (vgl. Renken 2006, 141, 444). Die französische Regierung sowie die Militärführung, die sich in den bisherigen Debatten weitestgehend bedeckt hielten, wurden nun zu einer Stellungnahme gezwungen. Der damalige Premierminister Lionel Jospin sowie der französische Präsident Jacques Chirac verurteilten zwar öffentlich die Anwendung der Folter, bemühten sich jedoch nicht um eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse. Stattdessen wurde Aussaresses als altersschwacher Verwirrter dargestellt, der den Ruf der französischen Armee beschmutze. Auf Geheiß Chiracs wurde Aussaresses die Mitgliedschaft in der Légion d’Honneur entzogen, und zusätzlich wurde er aus der Reserve der Armee entlassen (vgl. Renken 2006, 142). Wenngleich die ‚Folterdebatte‘ das „Ende des Tabus vom Algerienkrieg“ markiert (Renken 2006, 139), zeigen sich an ihr dennoch die Grenzen der damaligen Aufarbeitung. Denn im französischen Kontext gab es nie eine gerichtliche Strafverfolgung der während des Algerienkriegs begangenen Verbrechen, die Assmann für „eine unabdingbare Voraussetzung“ hält (Assmann 2014 [2006], 78). Schließlich seien, so die Literaturwissenschaftlerin, vor allem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dazu bestimmt […], ins Gedächtnis der Menschheit einzugehen“ (Assmann 2014 [2006], 78). In der medial ausgetragenen ‚Folterdebatte‘ standen sich zwar Täter und Opfer gegenüber, eine juristische Aufarbeitung war aber aufgrund der verabschiedeten Amnestiegesetze nicht möglich. Der Versuch, Aussaresses Taten als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor Gericht zu bringen, scheiterte am Ausschluss einer retroaktiven Anwendung der Gesetze – schließlich hatte der Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erst am 1. März 1994 den Weg in die französische Gesetzgebung gefunden (vgl. Kap.  8). Folglich konnte gegen den General nur ein Verfahren wegen „Beihilfe zur Verherrlichung von Kriegsverbrechen“ angestrengt werden. Konkret bedeutete dies, dass Aussaresses nicht für die begangenen Taten verurteilt wurde, sondern dafür, dass er über diese geschrieben hatte (vgl. Renken 2006, 448). Bei den anderen Verfahren, die in diese Zeit fallen, ging es vordergründig um die Verhandlung von Verleumdungsklagen. In den meisten Fällen wurden dabei die ehemaligen Offiziere zu Entschädigungszahlungen verklagt, wie etwa der General Maurice Schmitt, der in einer Fernsehsendung Ighilahriz der Verbreitung von Lügen bezichtigte. Dass sich die ehemaligen

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 391

Militärs vor Gericht nicht mehr mit den von ihnen angestrengten Unterlassungsklagen durchsetzen konnten, mit denen sie eine öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Rolle während des Algerienkriegs zu unterbinden suchten, wertet der Politikwissenschaftler Frank Renken (2006, 447) als „Verschiebung der historischideologischen Koordinaten in der Gesellschaft“. Gleichwohl folgte aus der mehr als zwei Jahre währenden Debatte keinerlei politische Konsequenz, und erst Macrons Anerkennung im Jahr 2018 machte das Praktizieren der Folter zum Bestandteil offizieller französischer Geschichtsschreibung. In der erinnerungspolitischen Auseinandersetzung wurde dabei die Frage aufgeworfen, warum ausgerechnet die Folter als zentraler Referenzpunkt der erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Algerienkriegs entworfen wurde. Cole (2005, 128) versucht sich mit folgender Antwort: „The tacit consensus holds that all of the most controversial questions about what France’s colonial past means for contemporary French society […] refer ultimately back to a primal scene established by acts of torture during the war years.“ Dabei ist es für Cole als Antwort nicht ausreichend, den Grund für die gesellschaftliche Bedeutung der ‚Folterdebatte‘ darin zu verorten, sie als „absolut Böses“ und als „fundamentales moralisches Dilemma“ aufzufassen (zit. nach: MacMaster 2002 in: Cole 2005, 128). Worin liegt ihre Integrationskraft, die schließlich im Jahr 2018, als ‚versöhnende Geste‘ interpretiert, die Aufarbeitung des Algerienkriegs beförderte? 11.2.1.2 D  ie „historische Geste“ Macrons als Äquivalent zur Verantwortungsübernahme? Schon in den Jahren 2000/2001 setzte ein Wandel ein, der zunehmend die Verbrechen des Algerienkriegs in den Fokus rückte (vgl. Renken 2006, 442), was maßgeblich mit dem Generationswechsel und dem damit im Zusammenhang stehenden Bedeutungsverlust der Veteranenverbände begründet wurde. Die apologetische Haltung, mit der im Jahr 2000 einige ebenso hochrangige wie hochbetagte Militärs auf die Interviews in Le Monde reagierten, findet 2018 keinen Platz mehr in der Berichterstattung (vgl. Saint Sauveur, 14.09.2018, Aujourd’hui en France, 4). Gleichsam muss die 2018 vollzogene Anerkennung der Folter jedoch im Kontext vorangegangener erinnerungspolitischer Initiativen verstanden werden. Bereits 2013 hatte der damalige Präsident François Hollande die Öffnung der Archive im Zusammenhang mit der affaire Audin angewiesen, um im Juni 2014 in einem Kommuniqué bekannt zu geben: „Les documents et les témoignages dont nous disposons aujourd’hui sont suffisamment nombreux et concordants pour infirmer la thèse de l’évasion qui avait été avancée à l’époque. M. Audin ne s’est pas évadé. Il est mort durant la détention“ (Bretton und Albertini, 14.09.2018, Libération, 12). Dem historischen Eingeständnis über Audins Verschwinden war allerdings keine

392 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

offizielle Anerkennung der Folter gefolgt. Erst am 13. September 2018 erkannte Macron deren systematische Anwendung mit folgenden Worten an: [S]a disparition [de Audin, Anm. S. R.] a été rendu possible par un système dont les gouvernements successifs ont permis le développement: le système appelé „arrestation-détention“ à l’époque même, qui autorise les forces de l’ordre à arrêter, détenir et interroger tout „suspect“ dans l’objectif d’une lutte efficace contre l’adversaire. (Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 13.09.2018)

Konkret kommt Macron in der Erklärung auf das 1956 verabschiedete Gesetz zu sprechen, das die Polizei und Armee mit sogenannten pouvoirs spéciaux (Sonderbefugnisse) im Kampf gegen den FLN und seine Unterstützer:innen ausstattete (vgl. Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 13.09.2018). Dieses legalisierte die Anwendung der Folter zwar nicht, machte sie aber zu einem legitimen Mittel zur ‚Aufrechterhaltung der Ordnung‘ ohne strafrechtliche Konsequenzen. Auffallend ist dahingehend auch, dass Macron weder Armee noch Polizei als verantwortliche Akteur:innen benennt. Als Ergebnis der engen Abstimmung des Élysée-Palasts mit dem Ministère des Armées ist in der Erklärung die Rede von der Tat „einiger“ („sa mort est, en dernier ressort, le fait de quelques-uns“). Schließlich ehrt Macron vor allem diejenigen, die sich der Anwendung der Folter widersetzten. Das Zentrale an Macrons Erklärung ist daher, dass er die Schaffung eines „rechtlich etablierten Systems“ anerkannte („un système légalement institué“), „dass das Verschwindenlassen von Personen befördert und die Folter zu politischen Zwecken erlaubte“ (Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 13.09.2018, Übersetzung S. R.). Audins Ermordung würdigt er in der Erklärung (13.09.2018) folgendermaßen: Le président de la République, Emmanuel Macron, […] reconnaît, au nom de la République française, que Maurice Audin a été torturé puis exécuté ou torturé à mort par des militaires qui l’avaient arrêté à son domicile.

In der Erklärung Macrons tauchen allerdings weder die Verantwortungsübernahme für Audins Tod noch entschuldigende Worte für seine Ermordung auf. Die in den Medien thematisierte Entschuldigung formuliert Macron einzig gegenüber Josette Audin. Bei seinem Besuch in deren Wohnung würdigt er zuerst ihren jahrzehntelangen Einsatz für die Aufarbeitung des Todes ihres Mannes. Als sich die Witwe für die Übergabe der Erklärung bedanken will, entgegnet Macron: „C’est à moi, au nom de la République, de vous demander pardon, donc vous ne me dites rien. On restaure un peu de ce qui devait être fait“ („Macron demande pardon à la veuve de Maurice Audin“, 13.09.2018, lefigaro.fr; Vergnol, 14.09.2018a, L’Humanité, 4). Auch wenn Macron seine Entschuldigung im Namen der Französischen Republik formu-

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 393

liert, bleibt es dennoch eine durch Privatheit gekennzeichnete Entschuldigung. Nicht nur der Ort – Audins Privatwohnung – gibt der Entschuldigung einen inoffiziellen Rahmen, sondern auch, dass Macron zunächst auf Audins Dank reagiert und die Entschuldigung im Kontext der Würdigung ihres jahrelangen Engagements ausspricht, individualisieren seine Äußerung. Im Gegensatz zur Anerkennung der Folter gilt die ausschließlich mündlich vorgetragene Entschuldigung nicht den Tausenden Disparus des Algerienkriegs, sondern allein der Witwe Audins. Sie kann folglich in ihrer Wertigkeit nicht mit der schriftlichen Anerkennung der Anwendung der Folter gleichgesetzt werden, die als offizielles Dokument auf den Seiten des Élysée abgerufen werden kann. Das Auseinanderfallen von Anerkennung und Verantwortungsübernahme wird durch einen Kommentar des LREM-Abgeordneten Cédric Villani bestätigt, der Macron bei seinem Besuch nach Bagnolet begleitete. Dieser gab im Interview zu verstehen, dass die staatliche Verantwortung zwar nicht verbal anerkannt wurde, der „Sinn doch aber da“ sei (Berdah, 14.09.2018, Le Figaro, 2). Allerdings wird in der Medienberichterstattung nicht zwischen der offiziellen Erklärung und dem durch Privatheit gekennzeichneten Besuch bei der Witwe unterschieden. Als Folge wird die offizielle Anerkennung des Präsidenten und die Entschuldigung gegenüber der Witwe zur Verantwortungsübernahme der Französischen Republik ausgeweitet – und dies, obwohl der Élysée-Palast eine Verantwortungsübernahme dezidiert ausschloss. 11.2.1.3 „ Car c’est par la vérité seule que la réconciliation est possible“: Anerkennung im „Namen der Werte der französischen Nation“ Zur „historischen Geste“ wird Macrons Anerkennung vor allem durch die wiederkehrende Bezugnahme auf Jaques Chiracs Rede aus dem Jahr 1995, als dieser offiziell die Verantwortung Frankreichs für die Deportationen von Jüd:innen während des Vichy-Regimes übernahm. In Le Monde heißt es zwar, dass die Audin-Affäre nie die gleiche symbolische Bedeutung hatte wie die Massenverhaftungen der Jüd:innen und deren Festsetzung im Vélodrome d’Hiver im Jahr 1942 (vgl. Fressoz, 14.09.2018, Le Monde, 9). Trotzdem hätte die „bleierne Decke“ des Schweigens, die über die französischen Folterpraktiken gelegt wurde, „die Ressentiments genährt und eine Integration der Bevölkerungen aus den ehemaligen Kolonien verhindert“ (Fressoz, 14.09.2018, Le Monde, 9, Übersetzung S. R.). Indem die Bedeutung der Rede für die französische Aufarbeitung der Shoah hervorgehoben wird, wird Macrons Anerkennung bereits im Moment des Geschehens zum historischen Akt erklärt und mit Chiracs erinnerungspolitischem Handeln gleichgesetzt (vgl. Pietralunga, 14.09.2018, Le Monde, 7). Zentral ist hierbei das Verhältnis von Kontinuität und Bruch im Kontext des multidirektionalen Bezugsystems zwischen der Erinnerung an die Shoah und

394 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

dem Algerienkrieg. Die Historikerin Raphaëlle Branche gibt in Le Figaro zu bedenken, dass Chirac „von einem anderen System sprach und nicht von der Republik“. Den historischen Bruch zwischen Vichy und der Fünften Französischen Republik beschreibt sie folgendermaßen: Emmanuel Macron parle de la République, celle dans laquelle nous fonctionnons. „C’est toute la question de la façon dont on se situe face à un héritage. Cela signifie qu’un régime peur parler de lui-même et revenir sur ses errements“. (Le Cain, 14.09.2018, lefigaro.fr)

Mit dem Akt der Anerkennung, so Branche, akzeptiere Frankreich seine ‚historische Schuld‘. Für Barkan (2002, 366) beschreibt das Eingeständnis, in der Vergangenheit Verbrechen begangen zu haben, die Voraussetzung für den Erfolg politisch motivierter Entschuldigungen. Wesentlich ist also, dass die vergangenen Verbrechen als Teil der nationalen Geschichtsschreibung aufgefasst werden. Macrons Anerkennung vollzieht somit die Einschreibung der Folter als historisches Unrecht in die Gegenwart der Französischen Republik. Denn die Republik ist, wie Branche unterstreicht, zur Zeit des Algerienkriegs dieselbe wie diejenige, die nun zu ihrer Schuld stehen muss. Dabei erzeugt die Historikerin allerdings eine Diskontinuität zwischen der Fünften Republik und dem Vichy-Regime, um die erinnerungspolitische Besonderheit der Anerkennung der Folter aufzuzeigen. Das Vichy-Regime, das Chirac in seiner Rede in die Kontinuität der Französischen Republiken gestellt hat, wird durch Branche erneut ‚außerhalb‘ dieser verortet. Was außerdem in der Medienberichterstattung nicht reflektiert wird, ist, dass Chiracs Vel’d’Hiv-Rede eine Reihe juristischer Verfahren vorausging, mit denen die Shoah zumindest in Ansätzen eine strafrechtliche Aufarbeitung erfuhr. Die Amnestiegesetze hingegen, die mit dem Ende des Algerienkriegs beschlossen wurden, werden weder in der politischen noch in der medialen Diskussion einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann (2014 [2006], 105) beschreibt Amnestien als Form „verordneten Vergessens“, die durch die Prinzipien der ‚Gnade‘ und ‚Schonung‘ zur Aufarbeitung der Vergangenheiten zwischen zwei Kriegsparteien beitragen können. Dieser Mechanismus wirke allerdings nur bei symmetrischen Gewaltverhältnissen (vgl. Assmann 2014 [2006], 106–107), weswegen asymmetrische Gewaltverhältnisse nach einem gemeinsamen Erinnern verlangten. Insbesondere, wenn eine rechtliche Aufarbeitung ausgeschlossen ist, so Assmann, müsse „[d]ie Gabe an die Opfer […] die Wahrheit“ sein (Assmann 2014 [2006], 108). Die Wahrheit als „Gabe“, wie Assmann schreibt, belässt jedoch die historische Deutungshoheit bei denjenigen, die die Verbrechen begangen haben. Als Folge werden Anerkennung und Aufarbeitung als Akt freiwilliger Generosität betrieben. Auf der anderen Seite wird eine juristische Aufarbeitung kolonialer Gewaltverbrechen zur Herstel-

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 395

lung sozialer Gerechtigkeit gar nicht erst erwogen. Macron etwa hebt nach seiner Erklärung zur Ermordung Audins hervor, dass die Amnestie weiterhin Bestand haben werde, weswegen Soldat:innen und zivile Beteiligte aufgerufen seien, persönliche Dokumente an die Nationalarchive zu übergeben (vgl. „Macron ouvre en partie les archives de la guerre d’Algérie“, 13.09.2018, lefigaro.fr). Branche wiederum, die im Interview auf die bestehenden Amnestiegesetze zu sprechen kommt, erklärt nicht die ausbleibende Strafverfolgung zum Problem, sondern die darauffolgende Dethematisierung des Algerienkriegs. Entsprechend würde Macron mit diesem Akt der Anerkennung „auf das zurückkommen, was zur damaligen Zeit [die Amnestie] gerechtfertigt habe: die Notwendigkeit zu vergessen“ (Rousseau, 14.09.2018, Le Monde, 20). Die Unmöglichkeit einer juristischen Aufarbeitung des Algerienkriegs kommt auch in der Reaktion der Historikerin Sylvie Thénault (14.09.2018, Le Monde, 20) zum Ausdruck, für die sich die Frage der Aufarbeitung der Folter vor allem als eine individuelle Gewissensfrage stellt. Als Mechanismus wird in der Medienberichterstattung dem Vergessen die Etablierung der ‚historischen Wahrheit‘ entgegengesetzt. Konsens besteht darin, dass es höchste Zeit war, die Folterpraktiken als vom Staat legitimierte Methoden der Kriegsführung anzuerkennen. Wenn Vidal-Naquet in einem Interview im Jahr 2000 in Le Monde noch von einem „gigantischen Verlangen nach der Wahrheit“ spricht (zit. in: Renken 2006, 448), titeln die Zeitungen 2018 nun mit dem „victoire historique de la vérité“ („Victoire historique de la vérité“, 13.09.2018, lefigaro.fr). Dabei ist die ‚Wahrheitssuche‘ vor allem ein Mittel zur Vereinheitlichung des offiziellen récit national, mit dem die konfliktären Geschichtsversionen eingehegt werden sollen, wie folgender Kommentar in Aujourd’hui en France zeigt: „Ces mots-là sonnent juste. Ils ouvrent la voie à un travail de vérité historique, pas à une nouvelle polémique idéologique“ („Les mots justes“, 14.09.2018, Aujourd’hui en France, 2). Der Diskurs über die ‚historische Wahrheit‘ wird somit zu einem Mittel der Bewahrung staatlicher Deutungshoheit über die Geschichte, ohne dass daraus juristische Konsequenzen abgeleitet würden. Der Jurist Denis Salas bringt dies in einem Kommentar in den Cahiers de la Justice folgendermaßen auf den Punkt: Dans le cas Audin, […] le discours de la reconnaissance se tourne avant tout vers la vérité historique. Sa portée mémorielle du point de vue des victimes est faible. L’État retrouve une part de son intégrité morale mais il n’est pas certain que les proches du disparu soient au fond d’eux-mêmes satisfaits. Ni son corps, ni les auteurs du crime ne seront recherchés. La part singulière de la vérité est absente de cette démarche. La mémoire vive est invitée à se fondre dans un récit national réaménagé. Manière de restaurer la vérité historique mais aussi de frapper de forclusion la demande de justice. (Salas 2018, 592, Hervorhebung S. R.).

Die Integrationskraft des Diskurses über die Herstellung ‚historischer Wahrheit‘, der als Topos die Medienberichterstattung bestimmt, liegt somit darin, die ‚mora-

396 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

lische Integrität‘ der Nation wiederherstellen zu können, ohne dass die Frage juristischer Gerechtigkeit überhaupt gestellt werden müsste. Darüber hinaus wird Audin außerdem zu einer geeigneten Integrationsfigur für die Etablierung „offizieller Wahrheit“ (Bretton und Albertini, 14.09.2018, Libération, 12), da er nicht als ‚typisches Folteropfer‘ der Kriegsjahre zu begreifen ist. Als Algerienfranzose gibt er vor allem deswegen den ‚Verschwundenen‘ des Algerienkriegs ein Gesicht, weil sein Schicksal als ein französisches begriffen wird. In einem Zeitungsartikel, den der Historiker Guy Pervillé für Le Figaro verfasst hat, zitiert er Vidal-Naquet, der schon 1989 die Ambivalenzen in der Wahl Audins als Symbolfigur der Aufarbeitung des Algerienkriegs offenlegte: „Maurice Audin était un Européen, communiste, universitaire, et jeune, ce qui lui attirait la sympathie et la solidarité d’une grande partie de l’intelligentsia française de gauche“ (Pervillé, 14.09.2018, lefigaro.fr). Folglich ist es auch kein Zufall, dass die Regierung den Vortag der Fête de l’Humanité zur Übergabe der Déclaration wählt, denn die Anerkennung von Audins Ermordung gilt als Erfolg linker Aufarbeitung des Algerienkriegs (vgl. Vergnol, 14.09.2018b, L’Humanité, 5). Die Zeitung L’Humanité sticht in ihrer Berichterstattung besonders hervor – sie druckt nicht nur die präsidiale Erklärung in Gänze ab, sondern stellt darüber hinaus in verschiedenen Artikeln ihr Engagement für die Aufklärung von Audins Verschwinden heraus und spricht dabei wie kaum eine andere Zeitung von der Emotionalität, mit der die Anerkennung Macrons angenommen wurde. Audin wird in den Darstellungen zur Symbolfigur der Aufarbeitung der Folter, um schließlich auch Licht auf die Geschichten der anderen Verschwundenen zu lenken (vgl. Moussaoui, 14.09.2018, L’Humanité, 10). Dabei war Audin keinesfalls repräsentativ für die Opfer der französischen Militärrepression (vgl. Pervillé, 14.09.2018, lefigaro.fr). Nicht nur aufgrund seines jungen Alters oder des Umstands, dass er Frau und Kinder zurückgelassen hat, eignet sich Audin für die Konstruktion des unschuldigen Kriegsopfers, sondern auch, weil er keine zentrale Rolle im Widerstand gegen die französische Kolonialregierung gespielt hat. Pervillé (14.09.2018, lefigaro.fr) unterstreicht daher in seinem Beitrag für Le Figaro, dass die Bedingungen der Anerkennung im Falle der algerischen ‚Verschwundenen‘ sehr viel komplizierter sind, da sich diese aufgrund ihres Widerstands, zu dem auch ‚terroristische‘ Bombenanschläge gehörten, nicht für die Konstruktion simplifizierender Opfernarrative eigenen. Denn weiterhin besteht die Lesart darin, dass im französischen Kontext von Terrorismus gesprochen wird, während die algerische Seite ihr Vorgehen als notwendiges Mittel im Befreiungskampf begreift. Die ca. 3000 größtenteils anonymen Algerier:innen, die während der „Schlacht von Algier“ ‚verschwanden‘ (vgl. Vergnol, 14.09.2018b, L’Humanité, 5), sind somit nicht anerkennbar und folglich auch nicht erinnerbar. Daher relativiert Benjamin Stora die Vereinnahmung Audins als ‚französisches Opfer‘, indem er ihn im Interview mit L’Humanité explizit als Algerier bezeichnet, um die Aufmerk-

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 397

samkeit auf die algerischen ‚Verschwundenen‘ zu lenken (vgl. Vergnol, 14.09.2018b, L’Humanité, 5). Die Unterscheidung zwischen ‚algerischen‘ und ‚französischen‘ Folteropfern tritt nochmals deutlich im März 2021 hervor, als Macron die Ermordung des Juristen Ali Boumendjel durch die französische Armee anerkennt und dies hauptsächlich als versöhnende Geste gegenüber Algerien ausgelegt wird (vgl. „Poursuivre sur la voie de la vérité“, 05.03.2021, Le Monde, 27). Somit beschreibt die Anerkennung von Audins Tod und vor allem auch die gegenüber Josette Audin formulierte Entschuldigung einen erinnerungspolitischen Akt, der sich vor allem an die französische ‚Nation‘ richtet. Deutlich wird dies an folgender Aussage der Historikerin Sylvie Thénault: [L]a reconnaissance libère la société française du conflit qui l’a animée, en interne. […] [L] a reconnaissance des responsabilités de l’Etat dans la disparition de Maurice Audin fait un choix au nom des valeurs qui sont celles de la nation française depuis la Révolution et qui figurent en tête de la Constitution, au frontispice des bâtiments officiels. (Thénault, 14.09.2018, Le Monde, 20, Hervorhebung S. R.).

Die ‚Audin-Affäre‘ bietet somit einen Anknüpfungspunkt, um die französische Schuld an der Verübung von Kriegsverbrechen als nationales Geschichtsbild akzeptieren zu können – gerade, weil sie die Möglichkeit zur Sichtbarmachung der französischen Opfer bietet. Die Anerkennung des Falles Audin ist deswegen ‚erfolgreich‘, weil sie innenpolitisch als ‚versöhnende Geste‘ wirkt und außenpolitisch etwaige Erinnerungskonflikte mit Algerien vermeidet. Gerade, weil die Anerkennung der Folter im Rahmen der franko-algerischen Beziehungen bisher wenig kontrovers war, versteht sich Macrons Erklärung als Geste Richtung Algiers. In den Jahren 2000–2002 ging es bei der Akzeptanz der Anwendung von Foltermethoden während des Kriegs vor allem um eine innenpolitische Auseinandersetzung über die historische Deutungshoheit. Die algerische Seite mischte sich damals wie heute kaum in die französische ‚Folterdebatte‘ ein, was zum Teil damit zusammenhing, dass auch dem algerischen Militär vorgeworfen wird, während des Algerienkriegs und insbesondere während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren gefoltert zu haben (vgl. Cole 2005, 136). Dennoch richtet sich Macrons Erklärung dezidiert an den algerischen Staat, wenn etwa als Ziel der Anerkennung eine Wiederbelebung der franko-algerischen Beziehungen ausgegeben wird. Macron formuliert in der Déclaration einen „neuen Willen zur Versöhnung der Erinnerungen und des algerischen und französischen Volkes“ (Erklärung Macron, 13.09.2018, Übersetzung S. R.). In dem Buch Wege der Anerkennung (2006, 144) wendet sich der Philosoph Paul Ricœur sprachphilosophisch den verschiedenen begrifflichen Spielarten der reconnaissance zu. Im Akt der Anerkennung würden folglich das „Sicherinnern- und Versprechenkönnen“ miteinander verknüpft. Wenn es also in der Erklärung Macrons heißt:

398 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

„Aussi le travail de mémoire ne s’achève-t-il pas avec cette déclaration“, dann kündigt sich damit ein Versprechen an, künftig weitere erinnerungspolitische Maßnahmen in Aussicht zu stellen. Macron verspricht daher, dass der Anerkennung eine Öffnung der Archive folgen muss, um die „historische Arbeit über alle französischen, algerischen, sowie militärischen und zivilen Verschwundenen des Algerienkriegs“ zu befördern (Erklärung Macron, 13.09.2018, Übersetzung S. R.). Die Besonderheit des Diskurses der ‚historischen Wahrheit‘ erklärt sich auch damit, dass Teile der Archive erst im Jahr 2001 der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht worden sind (vgl. L’Un, 17.03.2021). Im Gegensatz zur Aufarbeitung des Genozids an den OvaHerero und Nama in Deutschland sind die ‚historischen Fakten‘ über den Algerienkrieg noch immer nicht etabliert. Als Stora im Jahr 2021 seinen Erinnerungsbericht übergibt, steht auch der Archivzugang wieder im Fokus des öffentlichen Interesses. Denn seit Macrons Ankündigung im Jahr 2018, die Archive zu öffnen, haben sich die Bedingungen der historischen Erforschung des Algerienkriegs durch die Anwendung der IGI 1300 sogar noch erschwert (vgl. Kap.  10). Folglich unterstreicht auch Ricœur (2006, 144), dass sich aus den Prozessen der Anerkennung zwar ein „Versprechenkönnen“ ableitet, sich gleichzeitig aber auch die Möglichkeit der Negation auftut – in Form des „Wortbruchs“. Der Akt der Anerkennung kolonialer Gewalt verstetigt sich zur reziproken Tauschbeziehung zwischen Frankreich und Algerien, indem das französische „Versprechenkönnen“, den Archivzugang auch für algerische Wissenschaftler:innen zu erleichtern, schon im Dezember 2018 an die Bedingung geknüpft wird, den Harkis eine Rückkehr nach Algerien zu erleichtern (vgl. Kap.  8 bezüglich der Forderungen der Harkis). Insbesondere in der konservativen Presse Frankreichs wird die Forderung nach ‚Reziprozität‘ explizit gemacht, wenn auf eine Aufarbeitung der algerischen Verbrechen gegenüber den französischen Siedler:innen bestanden wird. Ansonsten sei die Anerkennung von Audins Ermordung einzig ein Akt französischer repentance. Die Bedeutung des emotionalen Diskurses der repentance sowie die Bedeutung anerkennender Gesten als reziproke Tauschbeziehungen bestimmen auch die Medienberichterstattung über den Stora-Bericht von Januar bis März 2021. Auf welche Weise diese diskursiven Verstetigungen eine Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialexpansion verunmöglichen, ist im Folgenden Gegenstand der Untersuchung.

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 399

11.2.2 „ Ni excuse, ni repentance“ – Keine Entschuldigung für den Kolonialismus Am 20.  Januar 2021 überreichte der Historiker Benjamin Stora den Rapport sur les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie. Macron hatte den Bericht Ende Juli 2020 in Auftrag gegeben, kurz nachdem die Restitution erster menschlicher Gebeine an den algerischen Staat erfolgt war. Als erinnerungspolitische Aufgabe formulierte der französische Präsident im lettre de mission eine „neue Bereitschaft zur Versöhnung des französischen und des algerischen Volkes miteinander“ (zit. in: Stora 2021, 2, 89, Übersetzung S. R.). Schon Anfang 2020 hatte Macron die Aufarbeitung des Algerienkriegs zur zentralen Herausforderung der französischen Gesellschaft erklärt. Von besonderer symbolischer Wirkung war vor allem, dass er den internationalen Gedenktag der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz am 27.  Januar wählte, um in einem Interview auf dem Weg zu einer israelischen Gedenkveranstaltung in Yad Vashem zu sagen: „Le défi mémoriel de la guerre d’Algérie a à peu près le même statut que la Shoah pour Chirac en 1995“ (Smolar, 27.01.2020, Le Monde, 11). Macron machte somit die Aufarbeitung des Algerienkriegs zum „enjeu mémoriel emblématique“ seiner Präsidentschaft (König, 21.01.2021, L’Humanité, 7). Der mehr als 150 Seiten umfassende Bericht liefert zum einen eine Übersicht der erinnerungspolitischen Entwicklungen in Frankreich und Algerien seit dem Ende des Algerienkriegs, zum anderen schlägt er konkrete Maßnahmen vor, die zu einer „Befriedung der Erinnerungen“ (apaisement) beitragen sollen. Der Maßnahmenkatalog, der die „schrecklichen Erinnerungskonkurrenzen“ überwinden soll (Stora 2021, 93, Übersetzung S. R.), weist sowohl auf die französische Innenpolitik als auch auf die außenpolitischen Beziehungen mit Algerien. Es sind diese beiden Ebenen und die divergenten Forderungen der Erinnerungsaktivist:innen, die über mehrere Monate die französische Berichterstattung prägen und die Übergabe des Berichts zu einem erinnerungspolitischen Diskursereignis machen. Allein bis Ende Januar erscheinen an zehn Tagen mehr als 30 Artikel in der überregionalen Tagespresse, die sich mit den Inhalten des Berichts auseinandersetzen. Ab Mitte Februar werden verstärkt die ausbleibenden Reaktionen seitens der französischen und der algerischen Regierung diskutiert, wobei insbesondere die negative mediale und zivilgesellschaftliche Rezeption des Berichts in Algerien im Zentrum steht. Als Anfang März eine Maßnahme des Berichts umgesetzt wurde – die Anerkennung der Ermordung des Anwalts Ali Boumendjel durch französische Fallschirmjäger im Jahr 1957 –, schnellt die Berichterstattung erneut in die Höhe. Stora unternimmt in seiner Ausarbeitung den Versuch, auf die Forderungen der verschiedenen Erinnerungsgruppen in Frankreich – etwa den Veteranen und Offizieren sowie den Harkis und pieds-noirs –, aber auch der algerischen Seite ein-

400 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

zugehen. Die divergenten erinnerungspolitischen Interessen lassen sich anhand der verschiedenen politischen Ausrichtungen der jeweiligen Zeitungen nachvollziehen. Während konservative Medien wie Le Figaro jede Form von entschuldigender Geste gegenüber Algerien ablehnen und darüber hinaus kolonialapologetische und relativierende Positionen vertreten, fordern linke Medien wie L’Humanité oder Libération die Anerkennung des unterdrückerischen Charakters des französischen Kolonialismus. Obgleich der Bericht sich maßgeblich an die französische Gesellschaft richtet, muss die französische Aufarbeitung des Algerienkriegs immer auch im bilateralen Verhältnis zu Algerien gedacht werden. Vor diesem Hintergrund müssen auch die politischen Entwicklungen in Algerien Beachtung finden, da die nationalistische Führungselite durch die seit 2019 bestehende Demokratiebewegung Hirak massiv unter Druck geraten ist (vgl. Leggewie 2021). Dass die politischen Eliten Algeriens die Deutungshoheit über den ‚nationalen Befreiungskampf‘ wahren wollen, ist folglich ein wiederkehrendes Thema in der französischen Berichterstattung. In Frankreich wird der Bericht Storas sowohl im Kontext der Massendemonstrationen gegen Polizeigewalt, den weltweiten Black-Lives-MatterBewegungen als auch vor dem Hintergrund des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Évian-Verträge sowie den Präsidentschaftswahlen 2022 verortet. Storas Bericht (2021) versucht dabei sowohl eine ‚Versöhnung‘ der widerstreitenden französischen Positionen als auch eine Entspannung und Intensivierung der diplomatischen Beziehungen mit Algerien anzuregen. Die Zusammenstellung seines Maßnahmenkatalogs lässt sich dabei in drei Themenkomplexe unterteilen. Zum einen macht er Vorschläge zur Institutionalisierung des Gedenkens des Algerienkriegs in Frankreich, wie Straßenumbenennungen, die Etablierung des 19. März als offiziellen Gedenktag oder die Umwandlung von vier französischen Lagern, in denen Algerier:innen seit 1957 interniert waren, in Erinnerungsorte (vgl. Stora 2021, 95–100). Weiterhin sieht sein Bericht die Überführung der sterblichen Überreste der Frauenrechtlerin und antikolonialen Aktivistin Gisèle Halimi ins Panthéon vor (vgl. Stora 2021, 100), was in der Folge besonders kontrovers von Vertreter:innen der Harkis diskutiert wird (vgl. Collectif, 28.01.2021, Le Figaro, 16). Ein zweiter Schwerpunkt richtet sich auf mögliche erinnerungspolitische Maßnahmen zwischen Frankreich und Algerien, wie z. B. die Aufarbeitung nuklearer Testversuche in der Sahara und die Entschädigung der Betroffenen, die Archivfreigabe zur Erforschung der Disparus (vgl. Stora 2021, 148) oder die Instandhaltung europäischer und jüdischer Friedhöfe in Algerien (vgl. Stora 2021, 97–98). Ein weiterer wichtiger Punkt ist Storas Vorschlag, die Ermordung des Juristen Ali Boumendjel während der sogenannten „Schlacht von Algier“ durch die französische Armee offiziell anzuerkennen (vgl. Stora 2021, 96). Auf die gleiche Weise, wie er mit der Empfehlung zur Anerkennung eines ‚algerischen‘ Folteropfers an die Erklärung Macrons aus dem Jahr 2018 anknüpft, versteht sich

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 401

auch sein Vorschlag zur Digitalisierung der Archivbestände (vgl. Stora 2021, 122) als eine Fortführung der Auseinandersetzungen um den Verbleib der kolonialen Archive. Dabei folgt er zwar nicht Algeriens Forderungen nach einer Rückgabe der sogenannten archives de souverainété (vgl. Kap. 10), versucht jedoch mit dem Vorschlag eines „héritage à partager“ (Stora 2021, 66) die umstrittene Frage nach den rechtmäßigen Besitzansprüchen zu umgehen. Nur hinsichtlich der Kanone „Baba Merzoug“ sowie des Schwerts des Emirs Abdel Kader (vgl. Stora 2021, 91, 96) empfiehlt Stora die Restitution. Als dritten und letzten Punkt macht Stora zukunftsorientierte Vorschläge wie den Ausbau universitärer und museumspädagogischer Kooperationsprojekte sowie die Bildung franko-algerischer Historiker:innenkommissionen. Voraussetzung dafür ist zudem die Erleichterung der Visavergabe für algerische Staatsbürger:innen (vgl. Stora 2021, 97–98). Mit seinem Maßnahmenkatalog verfolgt Stora das Ziel der Etablierung einer „juste mémoire“, die die Gesamtheit des Kolonialismus betrachtet, „ohne dabei zu glauben, dass man zu einem eindeutigen Urteil gelangen kann“ (Stora 2021, 92, Übersetzung S.  R.). Denn aufgrund der stark divergierenden Geschichtsbilder zwischen Frankreich und Algerien hält Stora es für undenkbar, jemals eine „histoire commune“ zu entwerfen. Dass er die koloniale Ausbeutung Algeriens als asymmetrisches Machtverhältnis darstellt und außerdem offen kritisiert, dass die französische Kolonialexpansion bisher nie infrage gestellt wurde (Stora 2021, 12), wird vor allem von den konservativen Anhänger:innen der Nostalgérie (Ruscio, 17.03.2021, L’Un) als Akt der ‚Reue‘ ausgelegt. Auf der anderen Seite wird seine zurückhaltende Positionierung gegenüber entschuldigenden Gesten zum Kristallisationspunkt algerischer, aber auch französischer Kritik an dem Bericht.55 Diese widerstreitenden Positionen einbeziehend, richtet sich mein Interesse vor allem auf die Verhandlung der (Un-)Möglichkeit der Formulierung einer Entschuldigung gegenüber Algerien. Im Folgenden zeige ich, auf welche Weise der emotionale Diskurs der repentance eine Aufarbeitung des Algerienkriegs im Kontext der kolonialen Gewaltgeschichte Frankreichs verhindert.

55  Im Jahr 2022 veröffentlicht Stora (2022, 168) einen reflektierenden Bericht über die Rezeption seines Berichts in der französischen und algerischen Öffentlichkeit. Im Zentrum seiner Stellungnahme steht insbesondere die Verteidigung seiner Perspektive als Historiker, der mit den Mitteln der Wissenschaft zu den Ergebnissen des Berichts kam. In Zeitungsartikeln kritisiert er darüber hinaus, dass seine Vorschläge ‚versöhnender‘ Maßnahmen gegenüber verschiedenen Erinnerungsakteur:innen nur selektiv umgesetzt worden seien (vgl. Bobin 17.03.2022, Le Monde, 12). Stora (2022, 178–180) endet seinen in Outre-Mers erschienenen Artikel mit einer Übersicht der bisher umgesetzten und angestoßenen erinnerungspolitischen Maßnahmen.

402 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

11.2.2.1 D  ie Etablierung ‚historischer Wahrheit‘ – eine ‚Versachlichung‘ der Versöhnung? Am Tag der Übergabe des Berichts an Macron wird aus dem Berater:innenkreis des Präsidenten die Losung „ni excuse, ni repentance“ ausgegeben (Goubert, 21.01.2021, La Croix, 1). Gleichzeitig wird Stora als „präsidialer Berater“ bezeichnet, wodurch sein Bericht fortan mit der Haltung des Élysée-Palastes gleichgesetzt und der Diskurs der ‚Reue‘ ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird (vgl. Goubert, 21.01.2021, La Croix, 1). Retrospektiv urteilt Le Monde im März 2021, dass diese Kommentierung aus Regierungskreisen „ungeschickt“ gewesen sei („France-Algérie: poursuivre sur la voie de la vérité“, 05.03.2021, Le Monde, 27). Doch schon am Tag nach der Veröffentlichung heißt es in den meisten Presseartikeln unwidersprochen: „[I]l n’est pas question de présenter des excuses […]. La repentance est vanité, la reconnaissance est vérité. Et la vérité, ce sont les actes“ (Berdah, 21.01.2021, Le Figaro, 10). Die Gleichsetzung von excuse = repentance im Gegensatz zu reconnaissance = vérité setzt den diskursiven Rahmen, in dem die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen diskutiert wird. Dabei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass Stora diesen Rahmen in seinem Bericht selbst setzt. Dafür entwirft er die Anerkennung des Kolonialismus als Gegensatz zu einer ausschließlich als symbolisch verstandenen Formulierung von Entschuldigungen, wie in folgendem Zitat deutlich wird: Je ne sais pas si un nouveau discours d’excuses officielles suffira à apaiser les mémoires blessées, de combler le fossé mémoriel qui existe entre les deux pays. À mes yeux, il importe surtout de poursuivre la connaissance de ce que fut le système colonial, sa réalité quotidienne et ses visées idéologiques, les résistances algériennes et françaises à ce système de domination. C’est un travail de longue haleine que nous devons mener ensemble des deux côtés de la Méditerranée. (Stora im Interview mit Naoufel El Mili in Le Soir d’Algérie, zit. im Bericht 2021, 82)

Zur Erläuterung seines Standpunkts geht der Historiker auf die Entschuldigungen Japans gegenüber China und Korea ein und argumentiert, dass diese es nicht vermochten, „die verletzten Erinnerungen zu beruhigen, das Wissen zu erweitern oder die Stereotype und den Rassismus in den Gesellschaften zurückzudrängen“ (Stora 2021, 79, Übersetzung S.  R.). Stora stellt somit den „leidenschaftlichen Vergangenheitsrepräsentationen“ die „Suche nach der historischen Wahrheit“ gegenüber (Stora 2021, 21, Übersetzung S. R.). Entschuldigungen seien demnach als ein „discours de ‚repentance‘“ zu verstehen. Zwar setzt er den Begriff in Anführungszeichen, dennoch subsumiert er Entschuldigungen unter dem emotionalen Diskurs der ‚Reue‘, die die gesellschaftlichen Gräben vertiefen würde (vgl. Stora 2021, 93). Stora kommt daher zu dem Schluss:

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 403

Plutôt que de „repentance“, la France devrait donc reconnaitre les discriminations et exactions dont ont été victimes les populations algériennes: mettre en avant des faits précis. Car les excès d’une culture de repentance, ou les visions lénifiantes d’une histoire prisonnière des lobbys mémoriels, ne contribuent pas à apaiser la relation à notre passé. (Stora 2021, 94)

Um zu einer „besänftigten Beziehung zu unserer Vergangenheit“ zu gelangen, schlägt der Historiker als franko-algerische Erinnerungsinitiative die Etablierung einer Kommission „Mémoires et Vérité“ vor (Stora 2021, 95). Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wurden seit den 1980er Jahren zuerst in Chile und später mit dem Ende der Apartheid in Südafrika eingesetzt, um den Übergang von Postkonfliktgesellschaften zu demokratischen Systemen zu gestalten (vgl. Schwelling 2014; Stora 2021, 78–79). Im Fokus dieser Kommissionen stand die (historische) Aufarbeitung begangener Verbrechen, indem diese zur Sprache gebracht werden und den Täter:innen weitestgehende Straffreiheit zugesagt wird (vgl. Bevernage 2008, 154; Krüger 2014, 350–352; Krüger und Scheuzger 2016). Stora macht in seinem Bericht entsprechend deutlich, dass nur die Etablierung historischer Fakten zu einer Versöhnung beitragen kann, während der Ausdruck von repentance diese gefährde. Der emotionale Diskurs der repentance nimmt folglich eine dominante Rolle in der medialen Strukturierung der Debatten um Anerkennung und Entschuldigung in der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Frankreichs im Allgemeinen und des Algerienkriegs im Speziellen ein. In der Berichterstattung fällt die wiederholte Gleichsetzung von Storas Zurückhaltung gegenüber einer französischen Entschuldigung mit den ablehnenden Stellungnahmen aus französischen Regierungskreisen auf (vgl. Bobin, 19.02.2021b, Le Monde, 3). In verschiedenen Artikeln wird beispielsweise auf eine frühere Äußerung Macrons aus dem Jahr 2020 gegenüber der Tageszeitung L’Opinion Bezug genommen. Dort sagte er, dass er seine 2017 getroffene Bewertung des Kolonialismus als Menschheitsverbrechen zwar nicht bereue, daraus aber keine entschuldigenden Worte oder eine Form von repentance abzuleiten seien (vgl. Berdah, 21.01.2021, Le Figaro, 10; König, 21.01.2021, L’Humanité, 7). Die Bezugnahme auf den emotionalen Diskurs der repentance bestimmt die innerfranzösische Debatte seit der Veröffentlichung des Buchs Pour en finir avec la repentance coloniale von Daniel Lefeuvre (2006) und wurde mit der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys zu einem Mittel der politischen Rechten, eine kritische Aufarbeitung des Kolonialismus zu unterbinden. Im Interview mit Le Monde sagt Stora beispielsweise, dass es sich bei der „Entschuldigungsfrage um eine politische Falle, eine instrumentelle Formulierung der extremen Rechten“ handele (Bobin, 19.02.2021a, Le Monde, 3). Allerdings wäre es zu verkürzend, die Benennung von repentance nur als Stichwort rechter Politik zu verstehen. Vielmehr strukturiert der emotionale Diskurs der ‚Reue‘ die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich. Dabei werden in der Medienberichterstattung Entschuldigungen und

404 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

repentance zu einer Einheit verknüpft, die Entschuldigungen als eine unmögliche Praktik erinnerungspolitischer Versöhnung konstruieren. Der diskursiven Einheit von Entschuldigungen als Akt der ‚Reue‘ werden die Begriffe ‚Anerkennung‘ und ‚historische Wahrheit‘ entgegengesetzt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die ‚schmerzhaften Erinnerungen‘ des Algerienkriegs nach einer „Versachlichung“ (dépassionnement) verlangten. Denn nur auf diesem Wege ließe sich eine ‚Befriedung‘ (apaisement) der widerstreitenden Erinnerungen umsetzen. In den ausgewerteten Zeitungsartikeln tauchen immer wieder ähnliche Formulierungen auf, wie „regarder l’histoire en face“, die „reconnaître la vérité des faits“ und „avancer vers l’apaisement et la réconciliation“ („Emmanuel Macron reconnaît que le militant Ali Boumendjel a été ‚torturé et assassiné‘ par l’armée française“, 02.03.2021, lefigaro.fr). Uneinigkeit besteht allerdings dahingehend, welche ‚historische Wahrheit‘ ans Licht gebracht werden soll und ob der Schwerpunkt auf der „franko-französischen“ oder der franko-algerischen Aufarbeitung liegen soll. Ein Le-Monde-Artikel, der die Entspannungspolitik zwischen Algerien und Frankreich zum Gegenstand hat, fokussiert dabei allerdings nicht nur auf den Algerienkrieg, sondern nimmt den französischen Kolonialismus seit seinen Anfängen in den 1830er Jahren in den Blick: Macron affiche sa volonté de dépassionner et débloquer ce dossier brûlant et tenter, par ce biais, d’apaiser des relations bilatérales volatiles depuis des décennies entre les deux pays, intimement liés par l’Histoire, de la conquête et la colonisation de 1830 à la Guerre d’indépendance. („Macron reçoit les propositions Stora pour une réconciliation mémorielle“, 20.01.2021, lefigaro.fr)

Die den Diskurs bestimmenden Historiker:innen wie Benjamin Stora, Sylvie Thénault, Pascal Blanchard oder Gilles Manceron dehnen ihr Verständnis der Etablierung ‚historischer Wahrheit‘ auf die Verurteilung des kolonialen Systems aus. Thénault fragt beispielsweise in Le Monde: Au XXIe siècle, comment défendre encore la légitimité d’une conquête territoriale suivie d’un peuplement exogène, d’une dépossession foncière officiellement organisée, de l’instauration d’un ordre social intrinsèquement inégal et de sa préservation par la violence? (Thénault, 06.02.2021, Le Monde, 28).

In ihrem Text bezieht sich die Historikerin zwar auf den algerischen Kontext, formuliert ihre Frage aber derart allgemein, dass darunter eine Neubewertung des gesamten französischen Kolonialprojekts zu verstehen ist. Und auch die Historikerin Marie Verdier (22.01.2021, 4) schreibt sehr deutlich in La Croix: „Je ne suis pas de ceux, en tant qu’historien et citoyen, qui réclament repentance ou excuses. Mais il faudrait aujourd’hui que l’État français reconnaisse l’abjection

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 405

de la colonisation“. Und in der linken Tageszeitung L’Humanité scheibt Gilles Manceron: „[I]l est indécent d’entendre en 2021 des opinions publiques et politiques alimentant la grandeur coloniale de la France. Il ne s’agit pas pour autant de s’excuser ou de faire repentance mais d’assumer les violences du passé colonial“ (Manceron, 17.02.2021, L’Humanité, 12). Wenngleich alle diese Beispiele eine kritische Lesart des französischen Kolonialismus anbieten, illustrieren sie gleichzeitig aber auch die Überzeugung, dass Entschuldigungen als Ausdruck eines ‚Aktes der Reue‘ vermieden werden sollten. In einem Interview mit der Zeitung Aujourd’hui en France antwortet Stora auf die Frage, ob es einen Ausdruck von ‚Reue‘ braucht: „Il y a déjà eu plusieurs discours importants, dans une méconnaissance stupéfiante. Pour ce qui concerne les excuses, il suffirait de lire les discours de chefs d’Etats, Sarkozy, Chirac, Hollande … Maintenant, il faut passer à la pratique“ (Alimi und Vernet, 21.01.2021, Aujourd’hui en France, 8–9, Hervorhebung S.  R.). Stora lehnt Entschuldigungen deshalb ab, weil sie für ihn eine ausschließlich rhetorische Symbolpolitik beschreiben, aus der sich keine erinnerungspolitischen Folgen ableiten ließen. Dabei können die von Stora genannten präsidialen Reden nicht als politische Entschuldigungen aufgefasst werden, da sie eine ganz wesentliche Anforderung nicht erfüllen: das Eingeständnis von Schuld. Die gesellschaftliche Einigung darüber, in der Vergangenheit Verbrechen begangen zu haben, ist die Voraussetzung, um das Formulieren einer Entschuldigung als moralisches Kollektivideal anzuerkennen. Das Insistieren auf die Anerkennung von Schuld soll nicht als normative Fürsprache für eine französische Entschuldigung gegenüber Algerien verstanden werden. Vielmehr geht es im Konstruktionsprozess historischer Schuld um die Einigung auf ein gemeinsam geteiltes Geschichtsverständnis – innerhalb der französischen Gesellschaft und auch mit Algerien. Die von Stora konstatierte méconnaissance verdeutlicht somit, dass bisher noch keine ‚historische Wahrheit‘ konstruiert werden konnte, die die verschiedenen erinnerungspolitischen Akteur:innen in die ‚nationale‘ Geschichtserzählung zu integrieren vermochte. Somit weist die Verstetigung, politische Entschuldigungen als Ausdruck von ‚Reue‘ zu verstehen, auf eine anhaltende Verkennung des französischen Kolonialismus als Ausbeutungsverhältnis. Der rekonstruierte emotionale Diskurs der ‚Reue‘ reguliert folglich, was als ‚historische Wahrheit‘ überhaupt anerkennbar ist. Dass eine juristische Aufarbeitung ausgeschlossen und der Archivzugang weiterhin beschränkt ist, erschwert allerdings die Etablierung historischer Fakten, die als anerkannte ‚Wahrheiten‘ zu einer ‚Versachlichung‘ der Aufarbeitung des Algerienkriegs beitragen könnten. Im Gegensatz dazu stehen insbesondere auch die Darstellungen der Erinnerungen an den Algerienkrieg als ‚schmerzvoll‘, wodurch dieser als gegenwärtiges Trauma diskursiv reproduziert wird.

406 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

11.2.2.2 Der Algerienkrieg als französisches Trauma Stora folgt in seinem Bericht einer psychologisierenden Sprache, die er seit dem Erscheinen seines Buches Le gangrène et l’oubli (1998 [1991]) verfolgt und bei der sich das gesellschaftliche ‚Leiden‘ an der Vergangenheit durch die Ausbildung von Krankheitssymptomen in der Gegenwart ausdrückt. Demnach unterdrücke das staatlich verordnete Vergessen die schmerzhaften Erfahrungen des Kriegs, die sich in der Gegenwart immer wieder Bahn brächen. Stora gelangt daher in seinem Bericht zu folgender Einschätzung, die am 22.  Januar 2021 auch in Le Monde abgedruckt wurde (Stora, 22.01.2021, Le Monde, 8): Des années 1960 aux années 1980, il fallait en France „oublier“ l’Algérie, effacer le traumatisme de l’exil pour des centaines de milliers de pieds-noirs; dépasser les sentiments de honte ou de culpabilité pour certains soldats, d’une guerre ou ils étaient entrés, et sortis, en aveugle; sortir du sentiment d’abandon ou de trahison pour ceux qui avaient cru en l’Algérie française. (Stora 2021, 11)

Die ‚vergessenen‘ Erinnerungen an den Algerienkrieg prägten aber nicht nur die Kriegsgenerationen, sondern übertrugen sich auf die folgenden Generationen, sodass die „traumatischen Aspekte“ des Algerienkriegs weiterhin die Gegenwart heimsuchten (Stora 2021, 41). Der in Yale ansässige Soziologe Jeffrey Alexander (2005, 1) hat mit seiner Beschreibung des Cultural Trauma ein sozialkonstruktivistisches Konzept der Herstellung gesellschaftlicher Traumata entworfen, demgemäß kein Ereignis als solches traumatisch sei. Vielmehr bedarf es der kollektiven Verständigung darüber, dass ein spezifisches historisches Ereignis negative und somit „unauslöschliche“ Auswirkungen auf eine Gesellschaft hat, um es als „kulturelles Trauma“ zu klassifizieren. Im Rekurs auf Alexanders sozialkonstruktivistische Betrachtung kultureller Traumabildung kann im französischen Kontext nachvollzogen werden, wie dem Algerienkrieg die Bedeutung eines ‚nationalen Traumas‘ zugeschrieben wird. Allein in Storas Bericht taucht der Trauma-Begriff 14-mal auf; in der Medienberichterstattung ist die Rede von den „passions douloureuses“ zwischen Paris und Algier (Verdier 21.01.2021, La Croix, 7), den „schmerzhaften Erinnerungen“ („Macron reçoît les propositions Stora pour une réconciliation mémorielle“ 20.01.2021, lefigaro.fr, Übersetzung S.  R.) oder auch, dass es „gefährlich sei, die Geschichte zu verschweigen, vor allem dann, wenn sie schmerzhaft ist“ (Tabard, 21.01.2021, Le Figaro, 11, Übersetzung S.  R.). Für den Soziologen Didier Fassin setzt die Herstellung kultureller Traumata das Zusammenwirken von psychologisierender Rhetorik und moralischer Urteilsbildung bezüglich der vergangenen Verbrechen voraus (vgl. Staudt 2015, 152). Was Fassin als „moralisches Urteil“ fasst, beschreibt, was ich als Affizierung kolonialer Vergangenheiten mittels emotionaler Diskurse beschrieben habe (vgl. Kap.  4). Die (Re-)Mediatisierung ‚schmerzvoller‘ Vergangenheitsrepräsentation

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 407

(re-)aktualisiert folglich die traumatische Bedeutungszuschreibung des Algerienkriegs für die Gegenwart. Dass sich die koloniale Vergangenheit auch in der staatlichen Erinnerungspolitik diskursiv als ‚Trauma‘ verstetigt hat, wird auch in einer Rede deutlich, die Macron am 2. Oktober 2020 in Mureaux56 hält und die in den ausgewerteten Zeitungsartikeln zwischen Januar und März 2021 häufig zitiert wird. Darin sagt er: [N]ous sommes un pays qui a un passé colonial et qui a des traumatismes qu’il n’a toujours pas réglé avec des faits qui sont fondateurs dans notre psyché collective, dans notre projet, dans notre manière de nous voir. La guerre d’Algérie en fait partie et au fond tout ce, toute cette période de notre histoire est revue comme à rebours, parce que nous n’avons jamais déplié les choses nous-mêmes. (Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 02.10.2020, Hervorhebung S. R.)

Der Politikwissenschaftler Paul Morin (17.03.2021, L’Un) bemerkt im Interview für das Magazin L’Un, dass die Verwendung psychologischer Begriffe im Kontext der Aufarbeitung des Algerienkriegs von den sozialen Dynamiken in der Herstellung kollektiver Erinnerungen ablenken würde. Allerdings werden im Rekurs auf den Trauma-Begriff nicht nur die gegenwärtigen Erinnerungspraktiken konstituiert. Folglich besteht die Ablenkung vielmehr darin, dass ausschließlich in der Aufarbeitung der Vergangenheit die Lösung für die politischen Konflikte der Gegenwart gesehen werde. Macron begründet in seiner Rede, dass die Traumatisierung der „kollektiven Psyche“ aus der kolonialen Vergangenheit hergeleitet werden könne. Weil diese Geschichte nicht verarbeitet wurde, werde immer wieder auf sie Bezug genommen, sodass sie zu einem wesentlichen identitären Bezugspunkt vor allem für die Bürger:innen mit Migrationshintergrund würde (issu de l’immigration). Als Konsequenz sieht Macron die universalistischen Grundsätze

56  Macron hält seine Rede zu einer Zeit, als die Debatten um den sogenannten „Islamo-Gauchisme“ zunehmend medial geführt werden. Der Begriff, der schon 2002 von Historiker PierreAndré Taguieff in die Debatte eingeführt wurde, zielt auf die Diffamierung linken, antirassistischen und dekolonialen Engagements durch die politische Rechte. Seit 2020 verwenden auch Politiker:innen der Regierung Macron diesen Neologismus verstärkt, um linke Strömungen als ideologisch und gesellschaftszersetzend zu stigmatisieren. Frankreichs Hochschulministerin Frédérique Vidal sorgte zuletzt im Februar 2021 für einen Eklat, als sie eine Untersuchungskommission ankündigte, um den Einfluss der „Islamo-Gauchisten“ an den französischen Universitäten zu untersuchen und herauszufinden, „was in den Bereich des Aktivismus und der Gesinnung gehört“ (Balmer 27.02.2021, taz.de). Was Taguieff zuerst als eine diskursive Verknüpfung linker Politik mit dem Islamismus zu beschreiben suchte, hat sich in der neueren Debatte vor allem zu einer Ablehnung post- und dekolonialer Perspektiven gewandelt (vgl. Bancel und Blanchard 06.10.2020).

408 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

der Französischen Republik durch einen identitätspolitischen Kommunitarismus gefährdet, wie er im folgenden Teil der Rede deutlich macht: Et donc nous voyons des enfants de la République, parfois d’ailleurs, enfants ou petitsenfants de citoyens aujourd’hui issus de l’immigration et venus du Maghreb, de l’Afrique subsaharienne, revisiter leur identité par un discours post-colonial ou anti-colonial. Nous voyons des enfants dans la République qui n’ont jamais connu la colonisation, dont les parents sont sur notre sol et les grands-parents depuis longtemps, mais qui tombent dans le piège, là aussi méthodique de certains autres qui utilisent ce discours, cette forme de haine de soi que la République devrait nourrir contre elle-même, mais aussi de tabous que nous avons nous-mêmes entretenu et faisant miroiter leurs origines avec notre histoire, nourrissent aussi ce séparatisme. (Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 02.10.2020, Hervorhebung S. R.)

Beachtenswert ist, dass Macron die Erfahrungen migrantisierter Menschen und deren Forderungen gegenüber der Französischen Republik ausschließlich in Bezugnahme auf die koloniale Vergangenheit erklärt. Auch Stora (2021) folgt der Argumentationslinie eines voranschreitenden Separatismus in der französischen Gesellschaft. Unter der Überschrift „la ‚communautarisation‘ des mémoires“ nimmt er in seinem Bericht die antirassistischen Bewegungen der 1980er Jahre zum Ausgangspunkt für die Feststellung, dass sich aufgrund des Fehlens einer staatlich-vereinheitlichenden Sichtweise auf den Kolonialismus und die Phase der Dekolonialisierung kommunitaristische Gruppengedächtnisse ausbildeten. Die um Anerkennung kämpfenden Akteur:innen würden ihre Forderungen auf „ursprüngliche Identitätskonstruktionen“ (identités ancestrale) zurückführen (Stora 2021, 12). Nur das Ergreifen versöhnender Maßnahmen könne von der „mémoire communautarisée“ zu einer „mémoire commune“ führen, wobei er das Schreiben einer „histoire commune“ gleichfalls als unmögliches Unterfangen ausschließt: „Il est impossible de trouver une seule date, unanime, car le drame est que chaque groupe se considère comme l’unique dépositaire de la blessure de l’histoire“ (Alimi und Vernet, 21.01.2021, Aujourd’hui en France, 8–9). Stora schlägt daher vor, „präzise historische Daten“ zu etablieren („Réconcilier les mémoires“, 21.01.2021, Le Monde, 31), die das erinnerungspolitische Spektrum Frankreichs abbilden. In Libération wird Storas Vorschlag folgendermaßen beschrieben: „Une démarche qui consiste à regarder l’histoire en face, de façon à construire une mémoire de l’intégration républicaine dans laquelle chacun puisse se reconnaître“ (Boiteau, 21.01.2021, Libération, 12–13). Rassismus, der bei Macron gar nicht und bei Stora ungenügend als strukturelles Phänomen der Gegenwart adressiert wird, leitet sich in dieser Lesart direkt aus der kolonialen Erfahrung ab. Als Konsequenz lassen sich die Probleme der Gegenwart nur beheben, indem eine ‚Befriedung‘ der Erinnerungen erzielt wird. Diese ‚Befrie-

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 409

dung‘ zielt jedoch vordergründig gegen einen als emotional konstruierten zivilgesellschaftlichen Erinnerungsaktivismus, der als Ausdruck einer gefährlichen und spalterischen Identitätspolitik verstanden und zum Grund für die andauernden guerres de mémoires erklärt wird. Die Historikerin Sylvie Thénault gehört dabei zu den wenigen, die in ihren journalistischen Beiträgen diese Herleitung gegenwärtiger Missstände aus der Vergangenheit infrage stellt. Denn der Rassismus, der „noch immer wirksam ist“, muss mit anderen Mitteln bekämpft werden als mit „einer symbolischen Aufarbeitung der Vergangenheit“ (Thénault, 06.02.2021, Le Monde, 28, Übersetzung S. R.). Sie schließt ihren Text damit, dass sie das „psychologisierende Vorgehen“ im Stora-Bericht für eine „gefährliche Depolitisierung“ hält (Thénault, 06.02.2021, Le Monde, 28, Übersetzung S.  R.). Dem Algerienkrieg wird in der Berichterstattung ein affektiver Platz im kollektiven Erinnern zugeschrieben, indem er als eine ‚traumatische‘ und somit ‚schmerzvolle‘ Erfahrung konstruiert wird, die den Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Konflikte der Gegenwart beschreibt. Diese fortwirkenden emotionalen Diskurse verstetigen den Algerienkrieg als „schmerzhafte Wunde“ im französischen Nationalkörper, die nur ‚geheilt‘ werden kann, indem die koloniale Vergangenheit aufgearbeitet wird (vgl. Boiteau, 21.01.2021, Libération, 12–13). Problematisch ist dabei nicht nur der Anspruch, eine Versöhnung mit sich selbst zu bewirken und, dem republikanischen Ideal folgend, alle Französ:innen in einer einheitlichen „mémoire commune“ zu vereinen. Mit Thénault gesprochen stellt sich der erinnerungspolitische Rückgriff auf die koloniale Vergangenheit und dessen Affizierung als eine Strategie dar, die gegenwärtige Diskriminierungen und Ungleichheiten zu einem Residuum der Vergangenheit erklärt und den sogenannten lobbies de mémoire die Verantwortung für die Spaltung der Gesellschaft zuschreibt. Morin erklärt vor diesem Hintergrund, warum Macron nach der Mobilisierung gegen Polizeigewalt im Jahr 2020 einen Bericht zur Aufarbeitung des Algerienkriegs in Auftrag gab, anstatt Reformen vorzuschlagen (Morin, 17.03.2021, le un). Letztendlich trägt die Reproduktion des Algerienkriegs als Trauma ebenso wie die diskursive Verstetigung der repentance als strukturierende emotionale Ordnung dazu bei, die ‚Leidenschaften‘, die mit dem Krieg verbunden werden, zu produzieren, statt zu deren Beruhigung (apaisement) und ‚Versachlichung‘ beizutragen (vgl. Morin 2020). Dabei deutet die erst im Jahr 2022 veröffentlichte Studie Les jeunes et la guerre d’Algérie des Politikwissenschaftlers Morin darauf hin, dass insbesondere die junge Generation eine erinnerungspolitische Demokratisierung in Bezug auf den Algerienkrieg fordert. Diese solle weniger die erinnerungspolitischen Konfliktlinien unterschiedlicher Erinnerungsgruppen in den Fokus rücken und stattdessen die Pluralität kollektiver Erinnerungen anerkennen. Die für die Untersuchung befragten 3000 Französ:innen im Alter von 18–25 Jahren forderten zudem,

410 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

dass sich die erinnerungspolitischen Maßnahmen weniger an die jeweiligen Akteur:innen des Kriegs richteten und normative Bewertungen der Kolonisierung aufgegeben würden (vgl. Morin 2022, 399). Dass die Konstruktion des Algerienkriegs als Trauma jedoch weiterhin die französische Politik sowie die medialen Repräsentationen dominiert, tritt auch in der Thematisierung der bilateralen Verhältnisse zwischen Algerien und Frankreich zutage. 11.2.2.3 „ Il n’y a pas de réciprocité [du] gouvernement algérien“ – Entschuldigungen als Austauschbeziehungen? Nach der Übergabe des Berichts rechnete die französische Presse mit einer offiziellen Stellungnahme von der algerischen Regierung, die jedoch zunächst auf sich warten ließ (vgl. Hamdi, 21.01.2021, Libération, 12–13; Matarese, 20.01.2021, lefigaro.fr). Das Ausbleiben einer staatlichen Reaktion auf den Bericht Storas wird vor allem damit erklärt, dass der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands in einem deutschen Krankenhaus versorgt wurde (vgl. Bobin und Smolar, 21.01.2021, Le Monde, 12). Gleichzeitig forderte die französische Presse algerische Stellungnahmen ein (vgl. Matarese, 20.01.2021, lefigaro.fr), die ab Februar zunehmend medial abgebildet wurden (vgl. Bobin, 19.02.2021b, Le Monde, 3). Da ich mich ausschließlich auf die französische Berichterstattung konzentriere, sind weniger die algerischen Reaktionen von Interesse als vielmehr der diskursive Rahmen, in dem die zitierten Quellen im Kontext französischer Erinnerungspolitik gelesen werden. Aus diesem Grund geht es mir nicht um eine Bewertung der ‚Angemessenheit‘ der abgebildeten algerischen Kritik, sondern um deren Darstellung in der französischen Presse, weil sich daraus Rückschlüsse auf die erinnerungspolitischen Aushandlungsprozesse in Frankreich ziehen lassen. Die Analyse zeigt dabei, dass in den Debatten um den Stora-Bericht ein Diskurs der ‚Reziprozität‘ entworfen wird, um erinnerungspolitische Zugeständnisse gegenüber Algerien auszuschließen. Als die algerische Regierung Mitte Februar 2021 offiziell Stellung zum Bericht bezieht, fallen die in der französischen Presse wiedergegebenen Reaktionen überwiegend negativ aus. Am 17. Februar lässt der algerische Regierungssprecher Amar Belhimer bekannt geben, dass die von Stora vorgeschlagenen Maßnahmen „hinter den Erwartungen zurückblieben, da die Opfer mit den Henkern gleichgesetzt würden“ (Albert, 08.03.2021, lefigaro.fr; Bobin, 19.02.2021b, Le Monde, 3, Übersetzung S.  R.). Nun beginnt die französische Presse verstärkt über die ablehnende Haltung der algerischen Zivilbevölkerung gegenüber Storas Vorschlägen zu berichten (vgl. Bobin, 19.02.2021a, 19.02.2021b, Le Monde, 3). Stora wird dabei eine den Kolonialismus verherrlichende Perspektive unterstellt, die

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 411

in der Relativierung der von der französischen Armee begangenen Verbrechen münde. Als Hauptkonfliktpunkt wird jedoch Storas Zurückhaltung gegenüber der Formulierung einer offiziellen französischen Entschuldigung dargestellt. Aufgrund der wachsenden Anfeindungen, derer Stora seit der Veröffentlichung des Berichts seitens der algerischen Presse ausgesetzt ist, sieht er sich am 7. Februar zu einer Stellungnahme im algerischen Fernsehen verpflichtet (vgl. „Benjamin Stora se défend d’être contre des ‚excuses‘“, 07.02.2021, lefigaro.fr). Die algerische Erinnerungspolitik, wie sie in der französischen Presse entworfen wird, verknüpft Anerkennung und Wahrheitssuche zu der Forderung, den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu qualifizieren. Dabei nehmen die in den französischen Zeitungen dargestellten algerischen Positionen wiederholt Bezug auf Macrons Einlassung aus dem Jahr 2017, als dieser den Kolonialismus als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete (vgl. Bobin und Faye, 21.01.2021, Le Monde, 12; Matarese, 20.01.2021, lefigaro.fr). Dass Macron gezwungen war, seine Äußerung wenig später zu relativieren, wird jedoch mit der Wiedergabe der algerischen Positionierungen nicht benannt. Als Folge wird wiederholt auf die algerische Forderung eingegangen, dass sich Frankreich offiziell für die Kolonialisierung entschuldigen sollte. Die algerischen Entschuldigungsforderungen werden in der französischen Medienberichterstattung allerdings mit Verweis auf eine fehlende ‚Reziprozität‘ abgelehnt. Schon am Tag nach der Übergabe des Stora-Berichts werden in Le Monde Regierungsvertreter:innen mit der Aussage zitiert, dass es „unnütz sei, sich auf die potenziellen Fehler [Frankreichs] zu stürzen“, was folgendermaßen begründet wird: „Il n’y a pas de réciprocité […]. Le gouvernement algérien est encore dans une logique offensive plus que de réconciliation“ (Bobin und Faye, 21.01.2021, Le Monde, 12). Eine Anerkennung kolonialer Verbrechen und eine Verurteilung des kolonialen Systems müssen folglich deswegen abgelehnt werden, weil Algerien noch nicht zu versöhnenden Schritten mit Frankreich bereit sei. Als Reaktion auf die Stellungnahme der algerischen Regierung und die anhaltende Kritik an Storas Ausarbeitung gibt Macron am 3.  März 2021 die offizielle Anerkennung der Ermordung des algerischen Juristen Ali Boumendjel durch die französische Armee bekannt. Dieser Akt der Anerkennung ist auch von französischer Seite die erste offizielle Reaktion auf den Bericht (vgl. Berdah, 14.09.2018, Le Figaro, 2). Macron lädt dafür Boumendjels Enkelkinder in den Élysée-Palast ein, wobei er allerdings keine offizielle Entschuldigung für die Ermordung ihres Großvaters ausspricht (vgl. „Emmanuel Macron reconnaît que le militant Ali Boumendjel a été ‚torturé et assassiné‘ par l’armée française“, 02.03.2021, lefigaro.fr). Auf der einen Seite wird die offizielle Stellungnahme zur Ermordung Boumendjels als ebenso „wichtige Etappe“ beschrieben wie die Anerkennung der Folter im Jahr 2018 („Poursuivre sur la voie de la vérité“, 05.03.2021, Le Monde, 27). Auf

412 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

der anderen Seite verstärkt sich mit der Anerkennung Boumendjels die Forderung nach ‚Reziprozität‘ in der konservativen Presse Frankreichs, die sich mit dem emotionalen Diskurs der repentance zu einer Abwehrstrategie gegenüber einer Anerkennung kolonialen Unrechts zusammenfügt. Am 8. März schreibt der Essayist Gilles-William Goldnadel in Le Figaro: La reconnaissance de la responsabilité française dans les exactions commises par la France en Algérie sans aucun esprit de réciprocité pour les crimes commis par le FLN porte la marque d’une repentance honteuse qui n’a pas le courage de s’avouer ainsi. Cette repentance injustifiée est fondée sur un masochisme intellectuel insoupçonné. (Goldnadel, 08.03.2021, lefigaro.fr, Hervorhebung S. R.)

In Bezug auf die algerischen Beziehungen wird der emotionale Diskurs der ‚Reue‘ um die Forderung nach ‚Reziprozität‘ ergänzt, um somit die Übernahme von Verantwortung oder entschuldigende Gesten gegenüber der ehemaligen Kolonie abzuwehren. In dieser Logik entspricht die Anerkennung der Ermordung Boumendjels für Goldnadel folglich einer „repentance unilatérale“ (Goldnadel, 08.03.2021, lefigaro.fr). Die Kulturwissenschaftlerin Meyda Yeğenoğlu spricht unter Rückgriff auf Derridas Überlegungen in On Cosmopolitanism and Forgiveness (2001) von der „Tyrannei der Logik der Reziprozität“, die in den Dienst der Herstellung „nationaler Einheit, Versöhnung, Heilung etc.“ gestellt wird (Yeğenoğlu 2017, 22, Übersetzung S. R.). Der diskursiven Strategie der Verkopplung von ‚Reziprozität‘ und ‚Reue‘ liegt der Befund zugrunde, dass die Globalisierung von Entschuldigungspraktiken in einer christlichen Tradition stehen und folglich auf der Logik ökonomischer Austauschbeziehungen basieren würden. Entschuldigungen in der gegenwärtig praktizierten Form, so Yeğenoğlu (2017, 23), etablierten folglich eine Konditionalität, bei der die ehemaligen Kolonialmächte weiterhin in einer dominanten Verhandlungssituation bleiben. Demnach wäre eine Entschuldigung nur unter der Voraussetzung denkbar, dass auch die algerische Seite ihre ‚Schuld‘ für die Verbrechen eingesteht, die sie während des Algerienkriegs begangenen hat. Wiederholte Erwähnung in der Presse u. a. finden die Massaker an Europäer:innen in Oran 1962, die Bombenattentate des FLN sowie die algerische Haltung gegenüber den Harki, die weiterhin als „Verräter“ am Freiheitskampf betrachtet werden (vgl. Bernard, 08.02.2021, Le Monde, 31). Storas Bericht (2021) eröffnet dabei den diskursiven Raum für die Möglichkeit ambivalenter Ausdeutungen der Vergangenheit, nicht nur, indem er auch die an Europäer:innen begangenen Verbrechen herausstellt und gleichzeitig Vorschläge für eine gemeinsame algerisch-französische Aufarbeitung macht, sondern auch durch das Aufzeigen der Gegensätzlichkeit des algerischen und französischen Erinnerns. Dem „trop de mémoire“ in Frankreich stellt er ein algerisches „trop de l’histoire“ gegenüber. Demnach ist die vereinheitlichende algerische Geschichts-

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 413

schreibung durch eine Überbewertung des Befreiungskampfes gekennzeichnet, der gleichzeitig zum Gründungsmythos des heutigen Nationalstaats gemacht wurde (vgl. Stora 2021, 11). Die Ambiguität, die der Bericht hinsichtlich der Adressat:innen erzeugt, wird auch in späteren Interviews mit Stora deutlich. Etwa, wenn er erklärt, dass er sich zuerst auf die franko-algerischen Beziehungen konzentriert habe und ihm später von Macron die Weisung gegeben wurde, die Aufarbeitung des Algerienkriegs als französische Angelegenheit zu behandeln (vgl. Alimi und Vernet, 21.01.2021, Aujourd’hui en France, 8–9). An anderer Stelle erwägt er, ob er der algerischen Erinnerungspolitik vielleicht zu viel Raum gegeben habe (vgl. Bobin, 19.02.2021a, Le Monde, 3), als es ihm darum ging, „die Effekte des Unabhängigkeitskriegs auf die Herstellung unterschiedlicher Erinnerungsgruppen in Frankeich zu messen“ („Benjamin Stora se défend d’être contre des ‚excuses‘“, 07.02.2021, lefigaro.fr, Übersetzung S.  R.). Dabei lässt sich auch anhand Macrons lettre de mission nicht mit Eindeutigkeit bestimmen, ob Storas Bericht ausschließlich die innerfranzösischen Angelegenheiten oder auch die franko-algerischen Beziehungen zum Gegenstand haben sollte. Diese Uneindeutigkeit der Adressierung schreibt sich in der französischen Berichterstattung fort, die den Bericht Storas mal als Möglichkeit zur franko-algerischen ‚Versöhnung‘ (vgl. Boiteau, 21.01.2021, Libération, 12–13), mal als Antwort auf die „franko-französischen“ Auseinandersetzungen ausdeutet (vgl. „Les Algériens ‚ne renonceront jamais‘ à leur mémoire selon le président Tebboune“, 02.03.2021, lefigaro.fr). Letztendlich verweist die Unklarheit über die Adressat:innen des Berichts auf die unterschiedlichen ‚historischen Wahrheiten‘, die sich im franko-algerischen Ringen um die Bewertung des Kolonialismus gegenüberstehen. Dabei zeigt sich in der Analyse der Zeitungsartikel, dass beide Länder kaum einen gemeinsamen Umgang gefunden haben, um sich ihrer geteilten Kolonialgeschichte zuzuwenden. Grundlegender Vorwurf in der französischen Berichterstattung ist vor allem, dass die algerische Regierung den Rückbezug auf die Vergangenheit instrumentalisiere und sich als alleiniges ‚Kriegsopfer‘ stilisiere, um politische Interessen durchzusetzen. Beispielsweise schreibt Le Monde am 21. Januar: [L]e régime algérien, qui se pense comme une victime de l’histoire coloniale en attente de réparation, se contentera de recevoir une offre mémorielle de Paris, laquelle sera validée ou rejetée. Source de complexité supplémentaire, l’histoire sert souvent devariable d’ajustement dans une relation globale où se marchandent soutien politique au régime, contrats commerciaux et intérêts stratégiques régionaux. (Bobin und Smolar, 21.01.2021, Le Monde, 12)

Und in einem anderen Artikel heißt es:

414 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Pour le régime algérien, toujours dominé par les militaires, la culpabilité coloniale et les conflits mémoriels alimentent une rente toujours utile et l’un des rares leviers à sa disposition dans ses relations avec Paris. („Réconcilier les mémoires“, 21.01.2021, Le Monde, 31)

Algeriens Inszenierung als ‚Opfer‘ des Unabhängigkeitskriegs wird folglich als Grund für die Verhinderung gemeinsamer Versöhnungsinitiativen angeführt. Die aus dem Opferstatus abgeleitete Forderung nach einer Entschuldigung wird folglich als eine „forme de repentance“ erachtet, die vor dem Hintergrund eines geopolitischen Kräftemessens von französischer Seite verweigert werden muss (vgl. Boiteau, 20.01.2021, Libération, 17). Weiterhin wird die unveränderliche Haltung der nationalistischen Elite Algeriens als Hindernis der franko-algerischen Beziehungen angeführt. Allerdings sind es fast ausnahmslos die Zeitungen Le Monde und Le Figaro, die die algerische Instrumentalisierung der Geschichte sowie die Forderung nach einer Anerkennung der vom FLN begangenen Verbrechen gegenüber Europäer:innen thematisieren. Le Figaro bietet darüber hinaus auch denjenigen Stimmen eine Plattform, die offensiv die Errungenschaften (bienfaits) des Kolonialismus verteidigen und die französischen Kolonialverbrechen relativieren. Dabei wird auch wiederholt Storas historische Expertise angezweifelt und ihm eine politische Agenda unterstellt. Problematisch sei beispielsweise, dass Stora den Kolonialismus als Analyseraster seines Berichts anwende und somit von einer grundlegenden Asymmetrie zwischen Kolonisierten und Kolonisierer:innen ausginge (vgl. Sévillia, 20.01.2021, lefigaro.fr). Die kolonialapologetischen Tendenzen in Le Figaro konkretisieren sich zudem darin, dass die Ermordung Boumendjels durch die französische Armee in Zweifel gezogen werden kann, ohne dass dies zu Reaktionen in anderen Zeitungen führen würde. Im Gegensatz dazu stehen die Darstellungen der Zeitungen Libération und L’Humanité, die auf der einen Seite problematisieren, dass Boumendjel anders als Audin als vor allem ‚algerisches‘ Opfer begriffen wird. Auf der anderen Seite weisen sie wiederholt darauf hin, dass die angekündigte Öffnung der Archive zur Erforschung der Disparus weiterhin aussteht. Die erinnerungspolitische Ausdeutung der kolonialen Vergangenheit in Algerien vollzieht sich in Frankreich in Relation zur algerischen Erinnerungspolitik. Anhand des Diskurses der ‚Reziprozität‘ zeigt sich, dass nicht nur die algerische Geschichtsversion, sondern darüber hinaus die Anerkennung des französischen Kolonialismus als Unrechtssystem zurückgewiesen wird. Trotz des erinnerungspolitischen Stellenwerts, den Macron dem Algerienkrieg zuerkennt, konnte bisher kein gesellschaftlicher Konsens über die Bewertung des kolonialen Systems in Frankreich erzielt werden, was gleichsam Voraussetzung für die Umsetzung erfolgreicher Maßnahmen einer innen- wie außenpolitischen ‚Versöhnung‘ wäre. Die medialen Auseinandersetzungen, aber auch Macrons

„C’est une vraie barbarie“ – Die Kolonisierung Algeriens 

 415

Zugeständnis der Anerkennung der Ermordung Boumendjels verdeutlichen, auf welche Weise sich die nationale Erinnerungspolitik Frankreichs in Bezug auf die ehemalige Kolonie Algerien konstituiert. Le Monde fordert im März 2021, sich von der Logik der Reziprozität zu trennen. Nach der Anerkennung der Ermordung Boumendjels heißt es: „Il est important, pourtant, de garder ce cap, même en l’absence de réciprocité algérienne, et sans se laisser distraire par les intérêts divergents des forces politiques françaises“ („Poursuivre sur la voie de la vérité“, 05.03.2021, Le Monde, 27). Es wird sich in der Zukunft zeigen, ob solch ‚bedingungslose‘ Schritte zur historischen Aufarbeitung des Algerienkriegs denkbar sind und schließlich zur Anerkennung des Kolonialismus als Unrechtssystem führen, ohne dass dies an Konzessionen der algerischen Seite geknüpft wird (vgl. Yeğenoğlu 2017, 23–24). Morin hebt in diesem Kontext die Wichtigkeit von franko-algerischen Kooperationsprojekten hervor, die beispielsweise durch die Einrichtung von Lehrstühlen und Museen realisiert werden könnten. Dies verlange allerdings auch eine eindeutige Verurteilung der kolonialen Vergangenheit Frankreichs (vgl. Morin, 17.03.2021, L’Un). Der diachrone Vergleich der Jahre 2018 und 2021 verdeutlichte, dass die Aufarbeitung des Algerienkriegs sowohl als innerfranzösische als auch frankoalgerische Auseinandersetzung geführt wird. Die Etablierung der ‚historischen Wahrheit‘ über die Folter während des Algerienkriegs durch die Anerkennung der Ermordung Audins und die Entschuldigung gegenüber seiner Witwe bestätigten letztlich die moralische Integrität der französischen ‚Nation‘. Indem Audin zum ‚französischen‘ Opfer gemacht wird, werden vordergründig die „Werte der französischen Nation“ adressiert. Als 2021 die französische Regierung mit Boumendjel ein ‚algerisches‘ Folteropfer anerkennt, dabei jedoch auf eine Entschuldigung verzichtet, geraten die franko-algerischen Beziehungen und die algerische Forderung, den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anzuerkennen, in den Fokus. Die Analyse hat gezeigt, dass politische Entschuldigungen vor allem im Prisma des emotionalen Diskurses der ‚Reue‘ gedeutet und folglich als unmögliches politisches Instrument verworfen werden. Stattdessen wird der Algerienkrieg innenpolitisch als Traumatisierung konstruiert, wodurch eine fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit zum Grund der gegenwärtigen sozialen wie politischen Spannungen gemacht wird. Außenpolitisch jedoch wird die Aufarbeitung des Algerienkriegs an die Bedingung der ‚Reziprozität‘ geknüpft, d.  h. erst, wenn die algerische Regierung die ‚eigene Schuld‘ an den begangenen Verbrechen des Kolonialkriegs eingesteht, wird auch Frankreich zu diesem Schritt bereit sein. Die aufgezeigten Ambivalenzen in der Bewertung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich begründen somit die Unmöglichkeit, sich für die kolonialen Verbrechen gegenüber Algerien zu entschuldigen. In Deutschland steht wiederum seit 2016 fest,

416 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

dass es eine Entschuldigung für den Völkermord an den OvaHerero und Nama geben wird – konfliktär sind in diesem Fall allerdings die Bedingungen, zu denen eine Entschuldigung akzeptiert werden kann.

11.3 E  ntschuldigung ohne Entschädigung? Das erinnerungspolitische Ringen um die Bedingungen der Anerkennung des Völkermords 11.3.1 „ In the words of the Lord’s Prayer […], I ask you to forgive“ – Die „halbe Entschuldigung“ des Jahres 2004 Das Jahr 2004 markierte einen Wendepunkt in der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Im Vorfeld des 100. Jahrestags des Kriegsbeginns im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ intensivierten sich nicht nur die geschichtswissenschaftlichen Forschungstätigkeiten, auch die deutsche Zivilgesellschaft mobilisierte sich zunehmend, um diverse Gedenkformate umzusetzen (vgl. Robel 2013, 265). Der Deutsche Bundestag bekannte sich mit der Annahme eines Antrags von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Juni 2004 erstmals zu seiner „besonderen historischen und moralischen Verantwortung gegenüber Namibia“ (Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 15/3329, 16.06.2004; vgl. Robel 2013, 260). Als besonderes Diskursereignis galt allerdings die von Heidemarie Wieczorek-Zeul am 14. August in Ohamakari gehaltene Rede, die sie anlässlich des Gedenkens an die „Schlacht am Waterberg“ vom 11./12.  August 1904 hielt. In den folgenden Jahren wurden ihre entschuldigenden Worte gegenüber den anwesenden Repräsentant:innen der OvaHerero in der deutschen Presse wiederholt als Ausgangspunkt einer beginnenden postkolonialen Vergangenheitsaufarbeitung gewertet (vgl. Jamfa 2008, 209; Kößler 2015). Da WieczorekZeuls Rede und ihre (mediale) Rezeption schon mehrmals Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Arbeiten war (vgl. de Wolff 2018, 2021, 254–276; Jamfa 2008; Jones 2014; Kößler 2008, 2015; Kößler und Melber 2017, 2018a; Melber und Böhlke-Itzen 2005; Robel 2013), werde ich an dieser Stelle anhand der Sekundärliteratur nachzeichnen, was die Rede der Bundesministerin zu einer unvollständigen Entschuldigung macht. Der Soziologe Reinhart Kößler spricht in seinem Buch „Negotiating the Past“ (2015) von einer „halben Entschuldigung“, die gegenüber den OvaHerero und Nama geäußert wurde. Die entscheidenden und wiederholt zitierten Worte aus ihrer Rede sind die folgenden:

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 417

Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen „Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld. Ohne bewusste Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es keine Versöhnung geben. (Rede der Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, 14.08.2004)

Kößler (2015, 259) hebt in seiner Analyse vor allem den „persönlichen Mut“ der Ministerin hervor, sich für die kolonialen Verbrechen Deutschlands entschuldigt zu haben – schließlich wendete sie sich mit ihren Worten gegen den bundesdeutschen erinnerungspolitischen Konsens der damaligen Zeit. Aus diesem Grund erfuhr ihre Rede allerdings auch keine offizielle Anerkennung und fand stattdessen als „halbe Entschuldigung“ Eingang in die deutsch-namibische Erinnerungspolitik (vgl. Kößler 2015, 257–261). In späteren Interviews hob die einstige Ministerin hervor, dass der Inhalt ihrer Rede weder mit dem Auswärtigen Amt noch dem Bundespräsidialamt abgestimmt gewesen war und dass sie gar befürchtete, ihren Posten aufgeben zu müssen (vgl. Wieczorek-Zeul, 07.07.2015, FR, 10). Dass ihre Entschuldigung als allenfalls persönliche Äußerung gewertet wurde, wird auch an ihrer Wortwahl deutlich, mit der sie die Aussage ihres entschuldigenden Sprechaktes relativierte. Statt im Namen des deutschen Volkes ihre ‚Bitte um Vergebung‘ an die Anwesenden Namibier:innen zu richten und somit als einen Akt kollektiver Verantwortungsübernahme erinnerungspolitische Konsequenzen in Aussicht zu stellen, formulierte Wieczorek-Zeul ihre Entschuldigung in der ersten Person Singular und unter Bezugnahme auf einen christlichen Referenzrahmen. Die Entschuldigung „im Sinne des gemeinsamen ‚Vater unser‘“ in Verbindung mit der Formulierung, dass „[d]ie damaligen Gräueltaten [das] waren […], was heute als Völkermord bezeichnet würde“, stellt eine Entschuldigung eher in Aussicht, als dass die Worte als entschuldigende Äußerung gewertet werden könnten (vgl. Jamfa 2008, 209–211). Anknüpfend an Ahmeds (2004, 117) bereits ausgeführte Analysen von Entschuldigungen als performativen Sprechakten wählt auch Wieczorek-Zeul „words that do less“. Dass ihre Worte auch von den Anwesenden als uneindeutig interpretiert wurden, zeigt der Umstand, dass im Anschluss an die in Otjiherero verlesene Rede Stimmen im Podium laut wurden, die fragten, wo denn nun die Entschuldigung bliebe (vgl. Kößler 2015, 254). Kößler hebt in seiner Analyse der Ohamakari-Rede außerdem hervor, dass Wieczorek-Zeul die historische Täterschaft an der Person von Trothas festmacht und diesem den Sozialdemokraten August Bebel als Kolonialkritiker gegenüberstellt. Indem sie den Völkermord als „persönliches Fehlverhalten“ eines einzelnen historischen Akteurs markiert, wird das Kaiserreich allerdings aus seiner Verantwortung entlassen. Auch die gegenwärtige Verantwortungsübernahme durch die Bundesrepublik Deutschland für die kolonialen Verbrechen wird durch diese individualisierende Bezugnahme relativiert (vgl. Kößler 2015, 259–260). Allerdings war sich

418 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Wieczorek-Zeul im Klaren darüber, dass sie im Widerspruch zu den politischen Leitlinien agierte. Denn nur ein Jahr zuvor hatte Außenminister Joschka Fischer erklärt, dass er keine „entschädigungsrelevanten Äußerungen“ vornehmen werde (Kößler 2015, 260). Von der Opposition wurde ihre Rede als „kostspieliger, emotionaler Gefühlsausbruch“ abgekanzelt, und auch Fischer deklarierte die Äußerungen als „persönliche Meinung“ der Ministerin (Kößler 2015, 260). Doch nicht nur der Sprechakt allein machte Wieczorek-Zeuls Entschuldigung zu einer „unvollständigen“. Kößler erinnert in seiner Analyse der Rede daran, dass die Akzeptanz einer politischen Entschuldigung nicht unerheblich vom Status des:r Sprecher:in abhängt. Als Entwicklungsministerin war Wieczorek-Zeul zwar Kabinettsmitglied der aktuellen Regierung, eine Entschuldigung durch den Kanzler, den Bundespräsidenten oder auch den Bundestagspräsidenten hätte jedoch größeres Gewicht gehabt (vgl. Kößler 2015, 258). Wieczorek-Zeuls Entschuldigung kann daher nicht als offizielle Stellungnahme der Bundesregierung angesehen werden. Dennoch vollzieht sich mit der Rede der Entwicklungsministerin ein diskursiver Wandel, der den afrikanischen Kontinent und vor allem die ehemaligen deutschen Kolonien zu einer neuen außenpolitischen Interessensphäre bundesdeutscher Politik werden lässt (vgl. Jamfa 2008, 205). Einige Monate nach ihrer Entschuldigung geriet Wieczorek-Zeul in ihrer Rolle als Entwicklungsministerin in die Kritik, weil sie ohne vorherige Absprache mit der namibischen Seite eine „Versöhnungsinitiative“ ankündigte, die Entwicklungshilfeprogramme für Namibia von rund 20 Millionen Euro über die nächsten zehn Jahre vorsah (vgl. Kößler 2015, 262–263). Wie schon in Kapitel 7 und 8 herausgearbeitet, bedeutete die entwicklungspolitische Stoßrichtung gleichzeitig eine klare Zurückweisung gegenüber den von unterschiedlichen namibischen Akteur:innen geforderten Reparationszahlungen. Eine politische Entschuldigung für vergangene Verbrechen muss allerdings eine Form von Wiedergutmachung enthalten, die für die zustande gekommenen Schäden und Verluste symbolisch oder materiell entschädigt – auch, wenn dabei außer Frage steht, dass Völkermorde mit finanziellen Mitteln nicht wiedergutzumachen sind (vgl. Barkan 2002, 366). In der Forschungsliteratur besteht allerdings dahingehend Konsens, dass die Art und Weise der Kompensation im Dialog mit den Opfern bzw. Nachfahren verhandelt werden muss, um Entschuldigungen zu einem wirksamen Instrument erinnerungspolitischer Wiedergutmachung zu machen. Wieczorek-Zeuls entwicklungspolitischer Vorstoß gerät daher zum deutschen Alleingang, bei dem weder die Vertreter:innen der OvaHerero und Nama noch die namibische Regierung gehört werden (vgl. Kößler 2015, 261–264). Trotz des grundlegenden erinnerungspolitischen Wandels, den WieczorekZeuls Rede in Deutschland angestoßen hat, hat sich gleichzeitig die diskursive Rahmung verstärkt, die bundespolitische Aufarbeitung des Kolonialismus als

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 419

entwicklungspolitische Maßnahme auszudeuten. Die Diskursanalyse der Anerkennung des Genozids in den Jahren 2015/2016 in Kapitel  7 hat dabei gezeigt, dass der Begriff „Völkermord“ aufgrund des zivilgesellschaftlichen wie außenpolitischen Drucks zwar zur politischen Sprachregelung erklärt wurde. Das Bekenntnis zur moralischen Verantwortungsübernahme wurde dabei allerdings als entwicklungspolitische Investitionen Deutschlands in Namibia interpretiert, um die Entstehung eines „entschädigungsrelevanten“ Präzedenzfalls zu vermeiden. Das Verständnis moralischer und historischer Verantwortung als eine auf die Zukunft gerichtete Entwicklungszusammenarbeit klammerte nicht nur die historische Aufarbeitung der Phase deutscher Kolonialexpansion aus, sondern legitimierte außerdem die Zurückweisung der Reparationsforderungen der OvaHerero und Nama. Im Fokus des folgenden Unterkapitels steht daher die Frage, ob sich im Jahr 2021 die Voraussetzungen für eine deutsche Entschuldigung seit Wieczorek-Zeuls Rede geändert und auf welche Weise sich die emotionalen Diskurse verschoben haben.

11.3.2 E  in Ende der Verhandlungen? Die Ankündigung eines „Versöhnungsabkommens“ im Jahr 2021 Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit erlangte in den letzten Jahren eine politische Brisanz, die – so viel steht zu vermuten – die deutsche Erinnerungskultur nachhaltig transformieren wird. Insbesondere die Gleichzeitigkeit, mit der seit Ende 2018 die international geführte „Restitutionsdebatte“, die sich in Deutschland am Bau und Eröffnung des Berliner Humboldt Forums entzündete (vgl. Kap. 10), und die Aufarbeitung des Genozids an den OvaHerero und Nama geführt werden, hat den Fokus umfassender auf das von Deutschland begangene ‚koloniale Unrecht‘ gelenkt. Der Historiker Andreas Eckert (2021, 248) schreibt in seinem Beitrag „Die ‚Wiederentdeckung‘ des deutschen Kolonialismus“, dass wir eine „Neujustierung der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur“ erleben, „die sich vom Holocaust zur Globalisierung bewegt“. Dass das Holocaust-Gedenken als Ausdruck deutschen Selbstverständnisses allerdings weiterhin die Aufarbeitung und Sichtbarkeit des ‚Leids der Anderen‘ strukturiert, zeigte sich auf besondere Weise an der „Causa Mbembe“ im Jahr 2020. Dem kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe wurde Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust vorgeworfen, sodass der Antisemitismusbeauftragte der damaligen Bundesregierung, Felix Klein, schließlich seine Ausladung als Eröffnungsredner des Kunstfestivals Ruhrtriennale empfahl (vgl. Deutsch, 23.03.2020; Eckert 2020, 530, 2021, 248). Klein vertrat dabei die Ansicht, dass die Deutschen allein die Deutungshoheit über die nationalsozialistische Vergangenheit für sich

420 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

beanspruchen könnten (vgl. Mbembe, 13.05.2020, taz.de). Diese zunächst konfliktäre Gegenüberstellung der Erinnerung an den Holocaust gegenüber der Aufarbeitung des Kolonialismus erfuhr einen weiteren Höhepunkt im Frühjahr 2021, als der Text „Der deutsche Katechismus“ (2021) des australischen Historikers Dirk Moses im Schweizer Online-Magazin „Geschichte der Gegenwart“ einen veritablen „Historikerstreit 2.0“ auslöste (Moltke 2021). Wie schon im ersten Historikerstreit ging und geht es in den Debatten um die Vergleichbarkeit des Holocaust und die Auseinandersetzung um den Singularitätsanspruch nationalsozialistischer Gewalt. Neu an den gegenwärtigen Debatten über die Ausrichtung bundesrepublikanischen Erinnerns ist allerdings der Fokus auf die Verhandlung der Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus. Erst wenige Monate zuvor war Michael Rothbergs schon 2009 erschienenes Buch Multidirectional Memory, als Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung (2021) in deutscher Übersetzung erschienen, was als vorbereitend für den vordergründig in Wissenschaftskreisen ausgetragenen „Historikerstreit“ verstanden werden kann. Gleichzeitig vervielfachten sich die im Bundestag gestellten Anfragen und Anträge, die die Aufarbeitung des Kolonialismus zum Gegenstand machten. Neben Anfragen zur Restitution von Objekten aus kolonialen Kontexten im Allgemeinen und den „Benin-Bronzen“ im Speziellen sowie der Repatriierung menschlicher Gebeine aus deutschen ethnologischen Sammlungen ging es aber auch um allgemeine Forderungen nach der „kulturpolitischen Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes“ (Antrag B90/Die Grünen, Drucksache 19/7735, 13.02.2019). Am 19. November 2020 debattierte der Bundestag die Anträge der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen „Koloniales Unrecht anerkennen, aufarbeiten und der eigenen Verantwortung international gerecht werden“ (Drucksache 19/24381, 17.11.2020) sowie den Antrag der AfD-Fraktion „Restitution von Sammlungsgut aus kolonialem Kontext stoppen“ (Drucksache 19/19914, 12.06.2020). Die LINKE forderte in ihrem Antrag eine „umfassende Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und [der] kolonialrassistischen Nachwirkungen“ (Drucksache 19/20546, 30.06.2020) und die FDP „einen kritischen und ausgewogenen Umgang mit der Kolonialgeschichte“ im Rahmenlehrplan der Schulen (Drucksache 19/8545, 19.03.2019). Abgesehen von der AfD hat dabei keine der Parteien die Kolonialherrschaft gerechtfertigt oder die begangenen Verbrechen relativiert. Die FDP bezeichnete Deutschland als „führende Kolonial[macht] des 19. und frühen 20.  Jahrhunderts“ (Drucksache 19/8545, 19.03.2019) und die Grünen forderten neben dem besonderen Platz, den der Genozid an den OvaHerero und Nama im deutschen Gedächtnis einnehmen soll, eine Perspektiverweiterung auf den deutschen Kolonialismus in anderen afrikanischen Ländern sowie in Ozeanien und in China (vgl. Drucksache 19/24381, 17.11.2020, 2). Vor dem Hintergrund dieser

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 421

Entwicklungen müssen auch die noch nicht abgeschlossenen Diskussionen um die Ankündigung der Unterzeichnung des „Versöhnungsabkommens“ zwischen Namibia und Deutschland im Mai 2021 verortet werden. Am 15. Mai 2021 gab der namibische Sonderbeauftragte Dr. Zedekia Ngavirue bekannt, dass sich die deutsche und die namibische Regierung auf ein „Versöhnungsabkommen“ einigen konnten. Doch erst am 17.  Mai berichtet die deutsche Presse unter Berufung auf den Deutschlandfunk über die Einigung. Der deutsche Sonderbeauftragte Ruprecht Polenz (CDU), der seitens der deutschen Regierung der Verhandlungsführer war, wollte das Ende der Verhandlungen weder bestätigen noch dementieren und berief sich dafür auf die zwischen den Parteien vereinbarte Verschwiegenheit. Am 28. Mai folgte dann die offizielle Stellungnahme des deutschen Außenministers Heiko Maas: Bis zum Ende der Legislaturperiode soll eine offizielle Entschuldigung durch den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im namibischen Parlament ausgesprochen werden und die Unterzeichnung des „Versöhnungsabkommens“ abgeschlossen sein. Zuvor soll das Abkommen den beiden Parlamenten zur Abstimmung vorgelegt werden. In der Medienberichterstattung wurde sich zuerst auf die Pressemitteilung von Heiko Maas, auf ergänzende Kommentare des Sonderbeauftragten Polenz sowie auf kritische Reaktionen von Vertreter:innen der OvaHerero und Nama bezogen. Doch auch bis zur Bundestagswahl im Herbst 2021 war das Abkommen noch nicht öffentlich gemacht worden, was auch auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist, die Namibia besonders stark getroffen hat. Ende Juni gab u. a. die taz bekannt, dass sowohl der namibische Verhandlungsführer Zed Ngavirue als auch der Paramount Chief Vekuii Rukoro an den Folgen einer Covid-Erkrankung verstorben seien (vgl. Johnson, 29.06.2021, taz, 10; Rühle, 04.08.2021, SZ, 13). Doch nicht nur aufgrund des globalen Pandemiegeschehens ist weiterhin mit einer Verzögerung der Unterzeichnung des Abkommens zu rechnen. Sogleich mit der Ankündigung des Verhandlungsabschlusses kritisierten Vertreter:innen der OvaHerero und Nama sowohl den Dialogprozess als auch die Ergebnisse der „Gemeinsamen Erklärung“ zwischen Deutschland und Namibia (vgl. „Namibias Opposition ist erzürnt“, 10.06.2021, FR, 9). Mit Maas offizieller Erklärung Ende Mai und der Vorlage des Abkommens im namibischen Parlament Anfang Juni äußerten sich zunehmend auch die Oppositionsparteien kritisch gegenüber dem Verhandlungsergebnis und forderten Nachverhandlungen (vgl. „Namibias Opposition ist erzürnt“, 10.06.2021, FR, 9). Aus genannten Gründen war die Unterzeichnung des Abkommens bis zur Bundestagswahl im September 2021 schon in den Monaten zuvor als unwahrscheinlich erachtet worden. Die anschließende Regierungsbildung in Deutschland sowie die noch ausstehende Abstimmung im namibischen Parlament verzögerten den Prozess zusätzlich. Für das vorliegende Kapitel habe ich die Presseberichterstattung zwischen dem 17. Mai 2021 und dem 30. Juni 2021 ausgewertet, da mit den ersten Reaktionen im namibischen Parlament

422 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Anfang Juni die deutsche Berichterstattung vorerst abebbte. Da nicht abzusehen ist, ob und wann mit einer Entschuldigung Deutschlands im namibischen Parlament zu rechnen sein wird, müssen die Erkenntnisse der folgenden Diskursanalyse daher unter dem Vorbehalt ihrer Unabgeschlossenheit betrachtet werden. Im Gegensatz zur französischen Ablehnung einer Entschuldigung für den Algerienkrieg wurde in Deutschland seit 2016 ein politischer Konsens darüber erzielt, dass es gegenüber Namibia eine Entschuldigung geben wird. Entsprechend lassen sich im ausgewählten Analysezeitraum diskursive Kontinuitätslinien der Debatten der Jahre 2015/2016 feststellen, die 2021 eine Zuspitzung erfahren. Die Rekonstruktion der Debatten wird zeigen, dass die Bedingungen für eine wirksame Entschuldigung weiterhin nicht erfüllt sind. Demnach mangele es (1) am Eingeständnis der Schuld, weil die Bundesregierung eine völkerrechtliche Anerkennung des Genozids verweigere; (2) an der Einwilligung, Reparationen zu zahlen und (3) an der Verkennung der zentralen OvaHerero- und Nama-Verbände als legitime Adressat:innen einer Entschuldigung. Die Unmöglichkeit einer deutschen Entschuldigung für den an den OvaHerero und Nama begangenen Völkermord erklärt sich folglich anhand der nicht erfüllten Bedingungen, die deren ‚Erfolg‘ begründen würden. 11.3.2.1 D  er Genozid als „juristisches Problem“? – Das ambivalente Verhältnis zwischen Recht und Moral Die Ankündigung, dass der Verhandlungsprozess zwischen Deutschland und Namibia nach mehr als fünf Jahren zu einem Abschluss kommt, wird in der Presse zunächst begrüßt – insbesondere in den Artikeln, die die deutsche Erinnerungspolitik mit der Aufarbeitung des Kolonialismus in anderen westeuropäischen Ländern in Beziehung setzen. Entsprechend wird von einigen Journalist:innen herausgestellt, dass Deutschland das erste europäische Land überhaupt wäre, dass eine gemeinsame Erklärung mit einer ehemaligen Kolonie beschließt, sollte es zu einer Annahme des Abkommens durch die beiden Parlamente kommen. In der SZ wird beispielsweise Jürgen Zimmerer mit dem Kommentar zitiert, dass sich „[z]um ersten Mal […] eine frühere europäische Kolonialmacht zu einem Verbrechen dieser Größenordnung bekannt [hat] und […] bereit [ist], Geld zu zahlen“ (Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Schnell überwiegt allerdings die Kritik an den Inhalten und insbesondere an der Verhandlungsführung, was vor allem den Reaktionen der OvaHerero und Nama-Verbände geschuldet ist, die sich schon am 15. Mai 2021 erstmals zum geplanten Verhandlungsabschluss äußern. Die kritische Kommentierung erreicht einen Höhepunkt mit der Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes vom 28. Mai 2021, in der der Abschluss der Verhandlungen offiziell bekannt gegeben und die zentralen Ergebnisse mitgeteilt werden. Die Berichterstattung zitiert dabei wiederholt folgende Auszüge aus Maas Stellungnahme:

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 423

Ich bin froh und dankbar, dass es gelungen ist, mit Namibia eine Einigung über einen gemeinsamen Umgang mit dem dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu erzielen […]. Unser Ziel war und ist, einen gemeinsamen Weg zu echter Versöhnung im Angedenken der Opfer zu finden. Dazu gehört, dass wir die Ereignisse der deutschen Kolonialzeit im heutigen Namibia und insbesondere die Gräueltaten in der Zeit von 1904 bis 1908 ohne Schonung und Beschönigung benennen. Wir werden diese Ereignisse jetzt auch offiziell als das bezeichnen, was sie aus heutiger Perspektive waren: ein Völkermord. Im Lichte der historischen und moralischen Verantwortung Deutschlands werden wir Namibia und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten. Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde, wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen. […] Rechtliche Ansprüche auf Entschädigung lassen sich daraus nicht ableiten. […] Einen Schlussstrich unter der Vergangenheit kann es nicht geben. Die Anerkennung der Schuld und unsere Bitte um Entschuldigung ist aber ein wichtiger Schritt, um die Verbrechen aufzuarbeiten und gemeinsam die Zukunft zu gestalten. (Pressemitteilung Auswärtiges Amt, 28.05.2021, Hervorhebung S. R.)

Aus der „Gemeinsamen Erklärung“, die jedoch der Öffentlichkeit gegenüber nicht bekannt gegeben wurde, zitierte die SZ am 1.  Juni den „entscheidenden Satz“, den die deutsche und die namibische Regierung gemeinsam erarbeitet hatten: „Die Bundesregierung erkennt an, dass die in Phasen des Kolonialkriegs verübten abscheulichen Gräueltaten in Ereignissen gipfelten, die aus heutiger Perspektive als Völkermord bezeichnet würden“ (Brössler, 01.06.2021, Süddeutsche.de). Außerdem „akzeptiere“ Deutschland „eine moralische, historische und politische Verpflichtung, sich für diesen Völkermord zu entschuldigen und in der Folge die für eine Versöhnung und für den Wiederaufbau erforderlichen Mittel bereitzustellen“. Sowohl Maas Pressemitteilung als auch die Auszüge aus der „Gemeinsamen Erklärung“, die der SZ vorliegen (vgl. Brössler, 01.06.2021, Süddeutsche. de), bestätigen die Haltung der Bundesregierung, dass aus der Anerkennung des Völkermords keine völkerrechtlichen Konsequenzen abzuleiten seien, da der Straftatbestand „Völkermord“ erst mit der Verabschiedung der UN-Völkermordkonvention im Jahr 1948 internationale Gültigkeit erlangte. Im ND wird auf eine Pressemitteilung des Vereins Berlin Postkolonial Bezug genommen, in der „die anhaltende Nichtanerkennung des Genozids im völkerrechtlichen Sinne“ kritisiert wird („Deutschland erkennt seine Verbrechen in Namibia an – irgendwie“, 28.05.2021, nd-aktuell.de). Mit der vom Auswärtigen Amt getroffenen Präzisie-

424 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

rung einer Anerkennung „aus heutiger Perspektive“ „falle die Bundesregierung ‚noch hinter die Position‘ der damaligen Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im Jahr 2004 zurück“, heißt es weiter („Deutschland erkennt seine Verbrechen in Namibia an – irgendwie“, 28.05.2021, nd-aktuell.de). Die Forderung nach einer völkerrechtlichen Anerkennung war bisher nicht in dieser Deutlichkeit von Aktivist:innen vorgetragen worden. In der gemeinsamen Pressemitteilung des Paramount Chiefs Vekuii Rukoro (OTA) und des Nama-Vertreters Gaob Johannes Isaack (NTLA) vom 16. Mai heißt es: Germany still has NO intention to recognize that what Von [sic!] Trotha did constitutes genocide in terms of international law, therefore, Germany did not commit a crime against humanity and has no intention to apologize for ANY crime of GENOCIDE – especially not to the descendants of the Victim Communities! (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ und Joint Press Statement von Paramount Chief Advocate Vekuii Rukoro (OTA) und Gaob Johannes Isaack (NTLA), 17.05.2021)

Grund für diese Bezugnahme auf das Völkerrecht ist „die fortdauernde Verweigerung von Reparationsleistungen durch die Bundesrepublik Deutschland“, wie in der deutschen Presseerklärung des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!“ ausgeführt wird (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 17.05.2021). Diese Stellungnahme deutet auf einen diskursiven Wandel, der die Forderung nach Reparationen zum zentralen Gegenstand der medialen Auseinandersetzung macht. Noch 2015/2016 war kaum Wert gelegt worden auf eine definitorische Abgrenzung der Begrifflichkeiten – auch in den Pressemitteilungen des Bündnisses war wahlweise von Entschädigung, Wiedergutmachung oder Reparationen die Rede (vgl. Kap. 7). Mit dem Zugeständnis der Bundesregierung, den Völkermord anzuerkennen und sich dafür zu entschuldigen, konkretisierte diese allerdings auch, dass die entwicklungspolitischen Projekte insbesondere den „betroffenen Gruppen“ zugutekommen sollten. Die Spezifizierung der Begriffswahl durch die OvaHereround Nama-Verbände wie der OTA oder der NTLA lässt sich mit deren Ablehnung gegenüber entwicklungspolitischen Maßnahmen als Mittel zur Aufarbeitung der Vergangenheit verstehen. Denn die Forderung ist auch 2021 noch die gleiche: Wiedergutmachung muss gegenüber den Nachfahren der betroffenen Gruppen geleistet werden. Nur mit einer völkerrechtlichen Anerkennung des Genozids könne demnach der „Pflicht zur Wiedergutmachung“ nachgekommen werden, wie es in der taz am 29. Mai heißt (Johnson, 29./30.05.2021, taz, 7). Aufgrund der Reaktionen der OvaHerero und Nama nimmt der Reparationsbegriff auch in der Medienberichterstattung 2021 eine dominante Stellung ein. Wenngleich die analysierten Artikel in der Tendenz Reparationen als Möglichkeit der Wiedergutmachung für koloniale Verbrechen für unwahrscheinlich halten, eröffnet die Diskussion darüber dennoch einen Diskursraum, in dem sie intelligi-

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 425

bel werden. In der SZ heißt es in einem Kommentar, dass man „[d]en Genozid in Namibia […] viele Jahrzehnte als ein juristisches Problem behandelt [hat], nicht als ein auch menschlich-moralisches. Es sollte bloß kein Präzedenzfall geschaffen werden für das Leid anderer Völker“ (Dörries, 28.05.2021b, Süddeutsche.de). Der Journalist Bernd Dörries verweist dabei auf den ambivalenten Zusammenhang zwischen den voneinander getrennt konstruierten Diskursräumen des „Rechts“ und der „Moral“. Die rechtlichen Rahmenbedingungen wurden dabei zumeist als ahistorisch und somit als nicht verhandelbar rationalisiert. Insbesondere die Analyse der von den OvaHerero und Nama angestrengten Klageversuche in Kapitel  8 zeigte, auf welche Weise die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in den Jahren 2001–2003 unterbunden wurde, weil mit dem Insistieren auf die fehlenden völkerrechtlichen Mechanismen der Genozid als „juristisches Problem“ konstruiert wurde. Mit der erneuten Klageeinreichung im Jahr 2017 ließ sich eine diskursive Verschiebung feststellen, bei der es – ohne dies jedoch juristisch zu begründen – zur ‚moralischen Pflicht‘ erklärt wurde, Entschädigungen für den Völkermord zu zahlen. Zurückzuführen ist dieser Wandel darauf, dass die Benennung des Völkermords in den Jahren 2015/2016 als politische Konsequenz nach sich zog, den Völkermord aufarbeiten zu müssen (vgl. Kap. 7). Mit der Verschiebung der moralischen Register änderte sich auch das moralische Kollektivideal neu, was als Folge eine Neubewertung der rechtlichen Rahmenbedingungen nach sich ziehen konnte. Zwar weigert sich die Bundesregierung weiterhin, den Forderungen der OvaHerero und Nama nach Reparationen nachzukommen, in der Berichterstattung im Jahr 2021 werden jedoch zunehmend die juristischen Normen als veränderbar diskutiert. Konkret bedeutet dies, dass vielen Kommentator:innen des „Versöhnungsabkommens“ eine ausschließlich moralisch begründete und folglich freiwillige Verpflichtung zur materiellen Entschädigung nicht mehr als ausreichend erscheint. Dennoch bleibt die Frage nach einem Rechtsanspruch auf Entschädigung in der Medienberichterstattung umstritten. 11.3.2.2 „Billige Entschuldigung“ – kein Anspruch auf Reparationen Obwohl die Forderung nach einer völkerrechtlichen Anerkennung des Völkermords unterschiedliche Reaktionen in der Presse auslöst, unterstützt ein Großteil der analysierten Artikel die Forderungen der OvaHerero und Nama nach Entschädigungszahlungen. In der FR heißt es beispielsweise, dass „von direkter Entschädigung der Herero und Nama […] erneut keine Rede“ ist und dass „Berlins zögerliche Schritte zur Wiedergutmachung […] nicht nur in Windhuk argwöhnisch beäugt“ werden (Dieterich, 29.05.2021, FR, 13). Die Begründung der Regierung ist dabei die gleiche wie zuvor in den Anerkennungsdebatten 2015/2016: Auf die Begriffe „Reparation“ und „Entschädigung“ werde deswegen verzichtet, so

426 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

die FAZ, weil die Schaffung eines Präzedenzfalls verhindert werden soll, „auf den andere Länder sich Deutschland gegenüber berufen könnten“ (Bröll und Haupt, 29.05.2021, FAZ, 2). Erneut werden dabei auch Bezüge zu den Forderungen Italiens und Griechenlands gegenüber der Bundesregierung hergestellt (vgl. Rühle, 04.08.2021, SZ, 13). Die FR schreibt, dass „[d]ie nun vereinbarte Milliardenzahlung […] lediglich als politisch-moralische Verpflichtung“ zu verstehen sei (Huesmann, 29.05.2021, FR, 7, Hervorhebung S. R.). Die SZ wiederum konstatiert, dass „es der deutsche Staat [bis heute] nicht geschafft [hat], sich für die Verbrechen angemessen zu entschuldigen und die Menschen zu entschädigen“ („Aktuelles Lexikon ‚Deutsch-Südwestafrika‘“, 18.05.2021, SZ, 4) und der bereits zitierte FRArtikel befindet, dass „auch bei ihrem überfälligen Schuldanerkenntnis […] die Bundesregierung peinlich genau darauf geachtet [hat], die Frage nach Entschädigung für die fast vollständige Auslöschung der Volksgruppen auszuklammern“ (Huesmann, 29.05.2021, FR, 7). Diese Ausschnitte legen nahe, dass die ausschließlich moralisch begründete entwicklungspolitische „Geste der Anerkennung“ als nicht ausreichend empfunden wird. Dieser Wandel wird selbst in Beiträgen deutlich, die den Begriff „Reparation“ anhand historischer Erklärungen ablehnen, wie etwa in diesem Kommentar in Die WELT: Sicher ist: Reparationen wären kontraproduktiv, wie sie es immer waren – sowohl nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 wie nach dem Ersten Weltkrieg. Denn Reparationen dienen niemals nur dem Schadenersatz, sondern haben immer einen zusätzlich demütigenden Charakter, der die Zukunft belastet. Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik nach 1945 darauf bestanden, wo möglich individuelle Schäden durch deutsche Besetzung und Verbrechen im Zweiten Weltkrieg mit Geld zu lindern (ungeschehen kann man sie nicht machen), aber eben keine Reparationen zu zahlen. Vergangenheit kann nur aufgearbeitet werden, idealerweise gemeinsam und einvernehmlich, um in eine bessere Zukunft zu kommen. Zahlungen in diesem Sinne sind begrüßenswert, im Gegensatz zu Reparationen. (Kellerhoff, 28.05.2021, WELT online)

Trotz der Ablehnung des Reparationsbegriffs hält der Journalist Sven Felix Kellerhof materielle Entschädigungen dennoch für geboten, um die gemeinsame Vergangenheit aufzuarbeiten. Kellerhof macht, wie auch andere Journalist:innen, darauf aufmerksam, dass auch die Opfer des Zweiten Weltkriegs nie einen Rechtsanspruch auf Entschädigung geltend machen konnten. Wenn die OvaHerero und Nama an verschiedenen Stellen Bezug nehmen auf die bundesdeutsche Entschädigungspolitik gegenüber dem Staat Israel und jüdischen Organisationen, geht es ihnen jedoch vordergründig um die Sichtbarmachung der strukturellen Ungleichbehandlung. Der Gründer des „OvaHerero/Mbanderu and Nama Genocide Institute“ Jephta Nguherimo betont in einem Kommentar in der taz: „Wir bedauern die selektive ‚moralische und historische Verantwortung‘, die die Deut-

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 427

schen den Opfern ihrer Völkermorde je nach Rasse und Ethnizität zukommen lassen“ (Nguherimo, 31.05.2021, taz, 12). Es geht folglich nicht nur um direkte Entschädigungszahlungen an die Nachfahren, wenn statt eines „Versöhnungs-“ ein „Reparationsabkommen“ gefordert wird, sondern auch um die Definitionsmacht, die Bedingungen der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit selbst festlegen zu können. Denn ein Eingeständnis zur Zahlung von Reparationen würde die Deutungshoheit über die konkrete Höhe der namibischen Regierung oder den Nachfahren der OvaHerero und Nama überlassen (vgl. Selz, 22.05.2021, nd-aktuell.de). Mit dem Ausklammern rechtlicher Ansprüche auf Entschädigungen und der Zusicherung von Entwicklungshilfezahlungen als „politisch-moralische Verpflichtung“, die auf Freiwilligkeit basiert, verbleibt die Handlungsmacht jedoch auf deutscher Seite, wie in der SZ kritisch angemerkt wird: Nun ist nirgends im Völkerrecht festgelegt, dass eine Regierung, die die Worte „Das war Völkermord“ über die Lippen bringt, sofort Reparationen zahlen müsste. Ein nicht existenter Anspruch auf Reparationen wird dadurch nicht plötzlich existent. Aber selbst wenn dem so wäre – dann wäre das Argument der deutschen Regierung nicht besser, sondern sogar noch befremdlicher. Es würde ja bedeuten, dass Deutschland bewusst Fakten bestreitet, um sich einer Regel des Rechts zu entziehen. (Steinke, 30.05.2021, Süddeutsche.de)

In diesem Sinne verbindet sich für Steinke mit der völkerrechtlich begründeten Zurückweisung von Reparationen durch die Bundesregierung ein viel zentraleres Problem, nämlich; dass es überhaupt Verhandlungen zwischen Deutschland und Namibia über die Deutung der kolonialen Vergangenheit gab. Er leitet seinen Artikel mit folgenden Fragen ein: „Eine ‚Verhandlung‘, ob man historische Fakten akzeptiert? Das heißt: Man stellt Bedingungen. Man stellt Forderungen. Wie kommt man bloß, zumal als Rechtsnachfolger der Täter, auf so eine anmaßende Idee?“ (Steinke, 30.05.2021, Süddeutsche.de). Aus diesem Grund hält Steinke es auch für „absurd“, dass die deutsche Regierung die Strategie verfolgt, eine Anerkennung nach der Genozid-Konvention zu verhindern. Deutlich wird hieran, dass sich zu Teilen die von Trouillot (2000) beschriebene identitäre Gleichsetzung der historischen Täter mit den gegenwärtigen bundesrepublikanischen Akteur:innen diskursiv vollzogen hat. Verschiedene Artikel kritisieren, dass die Bundesregierung ihre „Täterposition“ nicht anerkennen würde (vgl. Kößler und Melber 2017, 118). In der SZ wird beispielsweise der Namibier Tommy Veundja Tjaronda mit der Aussage zitiert, dass „wir einen Täter [haben], der absolut keinen Versuch der Versöhnung unternommen hat und sich weigert, für seine Verbrechen zu bezahlen. Und derselbe Täter dirigiert und fordert weiterhin, wie seine Strafe für die von ihm begangenen Verbrechen aussehen soll“ (Plank, 14.06.2021, jetzt. de (SZ-Beilage)). Als Folge dieser identitären Gleichsetzung wird in der Medienberichterstattung wiederholt Bezug genommen auf die Voraussetzungen einer

428 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

„tiefgehenden Entschuldigung“, wie sie u.  a. bei Kößler und Melber (2017, 119) zusammengefasst werden. In dem taz-Artikel „Entschuldigung genügt nicht“ schreibt Nguherimo, dass „[e]ine wirksame Entschuldigung […] vier Ansprüchen genügen“ müsse: Erstens: Der Täter muss das begangene Verbrechen vollumfänglich anerkennen. Zweitens: Er muss erklären, warum und wie sein Verhalten den Opfern Schaden zugefügt hat. Um Vertrauen zu schaffen und eine Versöhnung zu ermöglichen, muss er garantieren, dass es keine Wiederholung der Verbrechen geben wird. Drittens: Es muss einen ehrlichen Ausdruck von Reue geben. Und viertens: Es muss eine Wiedergutmachung gezahlt werden. Eine Entschuldigung ohne Entschädigung ist aus Sicht der Opfer bedeutungslos, denn es geht bei Reparationen darum, die Würde der Opfer wiederherzustellen. (Nguherimo, 31.05.2021, taz, 12)

Dass die Aufarbeitung kolonialer Verbrechen sowohl das Eingeständnis historischer Schuld und die Formulierung einer offiziellen Entschuldigung als auch eine Art Kompensation (nicht zwingend Reparation) erfordere, hat sich in der deutschen Berichterstattung diskursiv zur Mehrheitsmeinung rationalisiert. In der FAZ wird die entsprechende Losung ausgegeben: „Wer um Verzeihung bittet, ist in der Bringschuld. Er muss erstens seine Schuld anerkennen und zweitens erklären, was daraus folgt“ (Bröll und Haupt, 29.05.2021, FAZ, 2). Und in der SZ kommt Bernd Dörries (28.05.2021b, Süddeutsche.de) zu dem Schluss, dass „sich Deutschland auch dafür entschuldigen [müsste], dass es sich nun so spät entschuldigen wird“. Indem die Formulierung einer offiziellen Entschuldigung für den Völkermord zur moralischen Norm geworden ist, werden auch die ungleichen Voraussetzungen des deutsch-namibischen Dialogs in einer Eindeutigkeit benannt, wie es 2015/2016 noch nicht denkbar war. Mit der Sichtbarmachung der Machtdisparität eröffnet sich allerdings auch ein Diskursraum, indem die Voraussetzungen postkolonialer Relationalität neu verhandelt werden können. Abschließend rekonstruiere ich, inwiefern sich die Bedingungen der Anerkennbarkeit der ‚Anderen‘ seit 2015/2016 verändert haben. 11.3.2.3 „ Wir wissen überhaupt nicht, was verhandelt und vereinbart wurde“ – Versöhnung ohne Beteiligung? Schon in der Pressemitteilung des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!“ vom 17. Mai 2021 heißt es, dass sich Deutschland die „ökonomische Notlage Namibias“ zunutze machte: Aufgrund ungleicher Ausgangsbedingen könne die namibische Regierung die Forderungen nach „Reparationsleistungen durch Deutschland nicht durchsetzen“ (PM Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“, 17.05.2021). Bereits im Jahr 2006 hatte das namibische Parlament einen Antrag des Paramount Chiefs der OvaHerero, Kuaima Riruakos, angenommen, mit dem fortan offiziell

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 429

die Anerkennung des Genozids und die Zahlung von Reparationen gefordert wurde (vgl. Kößler 2016, 268). Da weiterhin keine Entschädigungen im „Versöhnungsabkommen“ vorgesehen sind, ist für den Herero-Aktivisten Israel Kaunatjike klar, dass „[s]o wie jetzt […] Versöhnung nicht erreicht werden [kann]. Die namibische Regierung hängt am Tropf der deutschen Entwicklungsgelder, und Deutschland nutzt das neokolonialistisch aus, um sein Abkommen durchzudrücken“ (Ling, 05.06.2021, ND, 4). Allerdings werden kritische Perspektiven auf das „Versöhnungsabkommen“ nicht ausschließlich durch bekannte Aktivist:innen, wie Israel Kaunatjike, Vekuii Rukoro oder Esther Muinjangue medial vermittelt, sondern auch durch Namibier:innen, die nicht den Gruppen der Betroffenen zuzurechnen sind. Im Gegensatz zur Berichterstattung aus dem Jahr 2016, bei der deutsche Afrika-Korrespondent:innen verschiedentlich deutschstämmigen Namibier:innen ein Podium boten, sind es nun hauptsächlich Namibier:innen, die ihre Solidarität mit dem Engagement der OvaHerero und Nama ausdrücken. Im Online-Magazin jetzt, das von der Gruppe der SZ herausgegeben wird, kommen unterschiedliche Stimmen mit ihrer Kritik am deutsch-namibischen Dialogprozess zu Wort. Dabei wird u.  a. die Aktivistin Hildegard Titus zitiert, die die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia als „bevormundend“ beschreibt (Plank, 14.06.2021, jetzt.de (SZ-Beilage)). Dass namibischen Stimmen mehr Sichtbarkeit verschafft wird, deutet auf eine Perspektiverweiterung in der Bewertung des deutsch-namibischen Dialogprozesses hin. Die Mehrheit der Artikel vermittelt es als nachvollziehbare Selbstverständlichkeit, dass sowohl die Bedingungen als auch das Ergebnis der Verhandlungen seitens der betroffenen Gruppen abgelehnt werden (vgl. Leserbrief „Was für eine Versöhnung!“, 30.06.2021, FR, 14). Die Solidarität gegenüber den Forderungen der OvaHerero und Nama wird zudem gesteigert, weil erstmals auch namibische Abgeordnete und vor allem Beteiligte der Verhandlungsrunden durch ihre ablehnende Haltung gegenüber den Ergebnissen des Dialogprozesses auffallen und in der deutschen Presse zitiert werden. Schon im Mai hatte es für Überraschung gesorgt, als der „Rat der Häuptlinge“, der an den Verhandlungen beteiligt war, beklagte, zu spät konsultiert worden zu sein. Vielfach werden die Aussagen ihrer Pressemitteilung in den ausgewerteten Artikeln zitiert: Das Angebot von 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre hinweg sei „eine schockierende Offenbarung“, „inakzeptabel“ und ein „Affront gegen unsere Existenz“ („Lautes Nein aus Namibia“, 01.06.2021, FR, 7). Anfang Juni äußern auch die Oppositionsparteien ihre Kritik, als das Abkommen dem namibischen Parlament zur Besprechung vorgelegt wird. In der FR wird beispielsweise der Abgeordnete Josef Kauandenge von der OvaHerero-Partei National Unity Democratic Organisation of Namibia (Nudo) zitiert, der ankündigte, dass seine Partei das „Versöhnungsabkommen“ nicht unterzeichnen werde: „Das Abkommen kann von der deutschen und der namibischen Regierung unter-

430 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

zeichnet werden, doch die große Mehrheit der Nama und Herero wird es mit der Verachtung zurückweisen, die es verdient“ („Namibias Opposition ist erzürnt“, 10.06.2021, FR, 9). Weitere Abgeordnete haben angekündigt, den Raum verlassen zu wollen, wenn Steinmeier seine Entschuldigung präsentiert. Zimmerer kommentierte dies im Interview mit der Passauer Neuen Presse, das in der SZ zitiert wurde, das wäre „dann der Super-GAU und [würde] einen großen Reputationsverlust auslösen“ („Schockierende Offenbarung“, 01.06.2021, SZ, 6). Die Kritik der OvaHerero und Nama, der deutschen Zivilgesellschaft sowie der namibischen Opposition erfährt eine starke Sichtbarkeit und somit auch Legitimität in der Medienberichterstattung 2021. 2015/2016 wurde wiederholt auf die angeblich fehlende Repräsentativität der beteiligten Gruppen hingewiesen und somit deren Ausschluss aus den Verhandlungen gerechtfertigt. 2021 hingegen werden vor allem die von der namibischen Regierung ernannten Vertreter:innen als nicht repräsentativ beschrieben (vgl. Bröll, 06.06.2021, FAZ, 4; Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Außerdem fehlen die noch 2015/2016 stark verbreiteten Andeutungen, dass die OvaHerero und Nama ihr ‚Leid‘ instrumentalisieren würden, um finanzielle Zuwendungen von Deutschland zu erhalten (vgl. Dörries, 28.05.2021a, SZ, 4). Stattdessen werden stärker die sozioökonomischen Hintergründe des gegenwärtigen Namibia in den Blick genommen, um daran zu verdeutlichen, welche Wirkmächtigkeit die Vergangenheit nach wie vor für die namibische Gesellschaft hat. Die Wissensvermittlung über den namibischen Kontext in der deutschen Presse geht somit über die historische Faktenwiedergabe des Kriegsgeschehens hinaus. Beispielsweise wird mehrfach darauf hingewiesen, dass neben den OvaHerero und Nama auch die Damara und San von der Genozidären Kriegsführung der deutschen „Schutztruppen“ betroffen waren. Außerdem wird die Bedeutung des Reparationsbegriffs aus der Perspektive der OvaHerero und Nama erklärt, wodurch ein Interpretationskontext hergestellt wird, der eurozentrischem Wissen entgegenläuft. In der FAZ werden unter Bezugnahme auf die Historikerin Freya Grünhagen, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Windhuk arbeitet, die „kulturellen und spirituellen Faktoren“ für die Bedeutung von Reparationszahlungen herausgestellt. Zwar wird hier eine westliche Perspektive als autoritativ anerkannt, dennoch beschreibt das Zulassen von „Spiritualität“ als Begründungszusammenhang ein Novum in der deutschen Berichterstattung (Bröll, 06.06.2021, FAZ, 4). In der Medienberichterstattung dominiert die Kritik an der deutschen Dominanz im Dialogprozess mit Namibia, die vor allem als Ausdruck postkolonialer Machtasymmetrien markiert wird. Dabei steht nicht nur in der Kritik, dass die Inhalte von der deutschen Seite diktiert werden, sondern auch, dass der Zeitplan zur Terminierung der Verhandlungen vorgegeben wird. Wie bereits im Jahr 2016 wollte die Bundesregierung die Verhandlungen noch vor Ablauf der Legislatur-

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 431

periode zu einem Abschluss bringen. Als Reaktion auf die massive namibische Kritik an der einseitigen Verhandlungsführung befindet die SZ, dass sich Versöhnung nicht gegen den Willen jener Menschen erreichen lässt, die man um Verzeihung bitten will. Dass nun offenbar zahlreiche Nachfahren der Opfer verärgert sind, ist kein gutes Zeichen, und es rückt eine geplante Reise des Bundespräsidenten nach Windhuk in weite Ferne. (Perras, 08.06.2021, SZ, 8)

Tatsächlich haben Außenminister Maas und Bundespräsident Steinmeier ihre Absichten, noch vor Ende der Legislaturperiode nach Namibia zu reisen, um eine Entschuldigung auszusprechen, auf unbestimmte Zeit verschoben (vgl. Melber 2021). Der unvorhergesehene öffentliche Druck, der auch von den namibischen Oppositionsparteien ausgeübt wird, hat die Verhandlungsposition der OvaHerero und Nama verändert. Doch auch die neue Koalition aus SPD, Grünen und FDP versucht die Definitionsmacht über die Interpretation der „historischen Fakten“ aufrechtzuerhalten, indem sowohl die völkerrechtliche Anerkennung abgewehrt wird als auch Entschädigungszahlungen an die Nachfahren der Betroffenen verweigert werden. Bisher konnte auch die neue Bundesregierung noch kein Datum zur Unterzeichnung des „Versöhnungsabkommens“ bestimmen. Im Januar 2023 reichte die Opposition um Bernardus Swartbooi eine Klage gegen die Regierung in Namibia ein, um eine Unterzeichnung des „Versöhnungsabkommens“ zwischen Deutschland und Namibia zu verhindern. Konkret geht es darum, eine Beteiligung der OvaHerero und Nama an den Verhandlungen sowie die Zahlung von Entschädigungen zu erwirken (vgl. Pelz 20.01.2023, dw.com). Die Einreichung der Klage hat bisher jedoch nicht dazu geführt, dass die Bundesregierung Entschädigungen oder eine gemeinsame Verhandlungsführung mit Vertreter:innen der OvaHerero und Nama erwägen würde (vgl. Pelz 21.03.2023, dw.com). Zuletzt haben am 24. April 2023 Sonderberichterstatter:innen der UN einen rechtlich nicht verbindlichen Bericht veröffentlicht, in dem sie die Bundesregierung für ihre bisherige Verhandlungsführung kritisieren (vgl. Bröll 26.04.2023, faz.net). Mit Verweis auf einen Verstoß gegen die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker aus dem Jahr 2007 fordern die Berichterstatter:innen eine direkte Beteiligung der betroffenen Gruppen sowie Entschädigungen (vgl. Theurer 2023). Die Entwicklungen der letzten Monate verdeutlichen dabei umso mehr, dass eine Entschuldigung als performativer Sprechakt zu scheitern droht, sollten die namibische und deutsche Regierung die Bedingungen der Vertragsaushandlung nicht grundlegend ändern.

432 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

11.3.3 Zwischenfazit zum deutsch-französischen Vergleich In den Kapiteln 11.2 und 11.3 wurde nach den Bedingungen gefragt, unter denen politische Entschuldigungen für begangene Kolonialverbrechen als Mittel der ‚Versöhnung‘ und zur Aufarbeitung der Vergangenheit erachtet werden, die ich diskursanalytisch anhand der deutschen und französischen Medienberichterstattung rekonstruiert habe. Dabei habe ich gezeigt, dass die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama eine diskursive Einheit eingeht mit der Formulierung einer Entschuldigung und der Zahlung von Entschädigungen. Folglich ist eine Anerkennung des Völkermords ohne eine Entschuldigung und entsprechende materielle Kompensationen für den erlittenen Schaden nicht denkbar. Schon seit dem ersten Entschuldigungsversuch der Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Jahr 2004 sind die Voraussetzungen für solch eine Entschuldigung als erfolgreicher Sprechakt und folglich als Beitrag zur deutsch-namibischen ‚Versöhnung‘ klar definiert. Grundlegend für den Erfolg einer Entschuldigung als illokutionärer Akt ist die Anerkennung des Völkermords und somit das Eingeständnis von Schuld aufseiten der als Nachfahren der ‚Täter‘ konstruierten Gruppe. Auf der anderen Seite setzt der Entschuldigungsakt außerdem die Anerkennung der als ‚Opfer‘ konstruierten Gruppe voraus, sodass diesen gegenüber die Verpflichtung zur Wiedergutmachung ausgesprochen werden kann. Der performative Charakter der Entschuldigung besteht im deutschen Fall in der Handlungsaufforderung, zu einer Verteilungsgerechtigkeit beizutragen, die vor allem die sozio-ökonomische Situation der OvaHerero und Nama verbessert. Die Analyse der Medienberichterstattung im Kontext der Ankündigung des „Versöhnungsabkommens“ im Jahr 2021 verdeutlichte, dass die Forderung der OvaHerero und Nama, als legitime Verhandlungspartner:innen der Bundesregierung auftreten zu können, verbreitete Akzeptanz fand. Dabei bleibt die Begriffsverwendung „Reparation“ jedoch weiterhin umstritten. Gleichwohl spricht sich die nationale Tagespresse seit 2015 einhellig für die Anerkennung der von der deutschen „Schutztruppe“ begangenen Verbrechen als Völkermord aus. Dass die deutsche Bundesregierung wichtige Interessenvertretungen der OvaHerero und Nama nicht in den Dialogprozess einbezog, die Zahlung von Entschädigungen an die betroffenen Gruppen verweigert und stattdessen entwicklungspolitische Projekte fördern will, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns der geplanten politischen Entschuldigung des Bundespräsidenten vor dem namibischen Parlament. Insbesondere die deutsche Zurückweisung wiedergutmachender Maßnahmen gegenüber den OvaHerero und Nama wird von deutschen und namibischen Aktivist:innen als eine Verkennung des Völkermords gedeutet, was 2021 den diskursiven Wandel beförderte, eine explizit völkerrechtliche Anerkennung des Völkermords zu fordern.

Entschuldigung ohne Entschädigung?  

 433

In der französischen Aufarbeitung des Algerienkriegs bzw. der Kolonisierung Algeriens wird eine Entschuldigung als Mittel der ‚Versöhnung‘ grundlegend abgelehnt. Dabei verknüpft nicht nur die politische Rechte den Entschuldigungsakt mit dem emotionalen Diskurs der repentance, auch die politische Linke, zu der etwa der Historiker Benjamin Stora gezählt wird, legen dar, dass Entschuldigungen nicht als geeignetes Mittel zur „Befriedung“ der Erinnerungen zu erachten sind. Als grundlegender Unterschied zur deutschen Aufarbeitung zeigt sich im französischen Fall, dass man sich bisher weder zwischen Algerien und Frankreich noch innerhalb Frankreichs auf eine gemeinsame historische Erzählung einigen konnte. Dabei ist der Entwurf einer gemeinsamen Geschichtsversion ebenso Voraussetzung für die Formulierung von Entschuldigungen wie die Anerkennung historischer Schuld und die Übernahme von Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit (vgl. Barkan 2002, 366; Daase 2010, 27–28). Die diskursanalytische Rekonstruktion der französischen Medienberichterstattung hat jedoch gezeigt, dass dies in Bezug auf die Kolonialisierung Algeriens nur zu Teilen möglich ist. Zwar wurde die Anerkennung der Ermordung des Kommunisten Maurice Audin und Macrons Entschuldigung gegenüber Audins Witwe im Jahr 2018 begrüßt und als „historische Geste“ gewertet. Allerdings richtete sich dieser erinnerungspolitische Akt vor allem an die französische Gesellschaft und klammerte die frankoalgerischen Beziehungen aus. Unterschieden werden muss ebenfalls zwischen der offiziellen Anerkennung der Folter und der im privaten Kontext geäußerten Entschuldigung gegenüber Josette Audin, die nicht Bestandteil des offiziellen Briefes an die Witwe war. Auf der anderen Seite führte die Anerkennung der Folteranwendung des Algerienkriegs nicht zu dessen oder der Verurteilung der französischen Kolonialexpansion. Vielmehr folgt auf die Veröffentlichung des Stora-Berichts im Januar 2021 der Ausschluss entschuldigender Worte für die französische mission civilisatrice, was sich in der vom Élysée-Palast ausgegebenen Losung „ni excuse, ni repentance“ ausdrückt (Bobin, 22.01.2021, Le Monde (Afrique), 1–3). Anders als im deutschen Fall, wo in der Medienberichterstattung mit Einhelligkeit der Kolonialismus als Unrechtssystem gewertet wird, spiegelt sich in der französischen Presselandschaft das gesellschaftliche Ringen um die Bewertung der kolonialen Vergangenheit. Dennoch rückt ab 2018 und nochmal stärker im Jahr 2021 zunehmend der Kolonialismus in seiner Globalität in den Fokus– was beispielsweise an der Repatriierung der sogenannten ‚Rebellenschädel‘ im Jahr 2020 deutlich wird oder an den weltweiten Black-Lives-Matter-Demonstrationen, die die gegenwärtigen Diskriminierungen rassifizierter Menschen zunehmend im Kontext kolonialrassistischer Kontinuitäten verorten. Der mediale Wandel der Bewertung des Kolonialismus, seine Verortung im europäischen Kontext sowie die Frage, ob die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit als transnationale europäische Aufgabe verstanden wird, bilden den Abschluss des Kapitels.

434 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

11.4 „ Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen“ (Dieterich, 29.05.2021) – Eine Transnationalisierung der Aufarbeitung des Kolonialismus? Am 8. Juni 2021 stellt der Journalist Arne Perras unter der Überschrift „Europas dunkle Seite“ in einem Artikel der SZ fest, dass die „Aufarbeitung kolonialer Gewalt lange verdrängt“ wurde, mittlerweile aber „offener debattiert“ werde (Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Bebildert ist der halbseitige Artikel mit zwei Fotos, wobei eins aus dem Krieg gegen die OvaHerero und Nama stammt, das andere aus dem Algerienkrieg. Beschrieben sind die Bilder folgendermaßen: „Ein deutscher Soldat bewacht Gefangene während des Kriegs gegen Herero und Nama. Das Foto wurde zwischen 1904 und 1908 gemacht (oben). Das untere Bild zeigt Festnahmen algerischer Verdächtiger durch die französische Kolonialmacht 1956“ (Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Bildsprachlich werden die kolonialen Dominanzverhältnisse dabei transnational miteinander in Beziehung gesetzt, wodurch die koloniale Vergangenheit auch textlich als Bezugssystem zu den benachteiligenden Strukturen in der Gegenwart entworfen wird. Der Autor leitet daraus die Aufarbeitung des Kolonialismus als europäische Herausforderung ab, die nicht auf nationalstaatliche Grenzen beschränkt werden kann. Auslöser der Thematisierung ist jedoch nicht ausschließlich die wachsende Kritik an den bestehenden rassistischen Strukturen, sondern auch die zunehmende Sichtbarkeit der Nachfahren der Opfer, die die Aufarbeitung kolonialer Verbrechen einforderten. Einleitend mit Großbritanniens anhaltender „Verklärung“ seines vergangenen Kolonialreichs, die beispielhaft für die ‚verdrängte‘ Aufarbeitung verschiedener ehemaliger europäischer Kolonialmächte angeführt wird, leitet der Artikel dann zur „internationalen Aufmerksamkeit“ über, die das deutsche „Versöhnungsabkommen“ auf sich zog. Der Journalist verweist zum einen zwar auf die Einzigartigkeit des Abkommens zwischen der ehemaligen Kolonie und der Kolonialmacht, zum anderen wird aber auch auf die Prekarität der Verhandlungsvoraussetzungen und Möglichkeiten eines Scheiterns verwiesen. Die transnationale Besonderheit ergibt sich für Perras allerdings nicht nur aufgrund der „Signalwirkung“ auf die anderen ehemaligen deutschen Kolonien, Forderungen gegenüber der Bundesrepublik geltend zu machen. Gleichzeitig wird die angewandte Gewalt gegen die OvaHerero und Nama oder im Maji-Maji-Krieg in „Deutsch-Ostafrika“ nicht als deutsches „Alleinstellungsmerkmal“ gekennzeichnet, sondern unter Bezugnahme auf Jürgen Zimmerer als „strukturelle rassistische Gewalt“ markiert (Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Im Weiteren wird somit auf die exzessive Gewalt im Kongo eingegangen, der sich im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold  II

„Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen“ 

 435

befand, auf den Mau-Mau-Aufstand im heutigen Kenia und die 2012 erfolgreich geltend gemachten Entschädigungen gegenüber London sowie auf das „Erbe des Algerienkriegs“ als „sensibles Thema“ in Frankreich. Abschließend wird die Frage nach Reparationen für den Versklavungshandel am Beispiel der in den USA geführten Debatten aufgeworfen, wobei Perras vermutet, es sei „die Angst vor weitreichenden finanziellen Forderungen, die Europas Willen zur Aufarbeitung des Kolonialismus bremst“ – womit insbesondere die Zurückweisung entschuldigender Worte oder im Falle Frankreichs die Ablehnung eines „Bekenntnis[ses] zur Reue“ benannt werden (Perras, 08.06.2021, SZ, 8). Die „Angst“, koloniale Verbrechen finanziell wiedergutmachen zu müssen, bestimme demnach das erinnerungspolitische Handeln der ehemaligen europäischen Kolonialmächte. Fokussiert wird dabei allerdings nicht auf ein erinnerungspolitisches Konkurrenzverhältnis zwischen den besprochenen Ländern, sondern auf die ethische Frage nach dem Erzielen „globaler Gerechtigkeit“, um den gegenwärtigen Auswirkungen kolonialer Strukturen etwas entgegenzusetzen. Warum bildsprachlich jedoch eine transnationale Verflechtung des deutschen und des französischen Kolonialismus vorgenommen wird, lässt der Artikel offen. Allerdings ist im Hinblick auf andere Zeitungsartikel, die die Aufarbeitung des Genozids an den OvaHerero und Nama besprechen, zu vermuten, dass Frankreich (neben Belgien) eine wichtige Bezugsgröße postkolonialen Erinnerns in Deutschland ist. Schon in den ersten Anerkennungsdebatten in den Jahren 2015/2016 wird der Kolonialismus in der deutschen Berichterstattung immer wieder auch als „europäisches Projekt“ besprochen, das auf Rassismus basierte (Bommarius, 28.02.2015, FR, 11). Ähnlich wie auch in Perras Artikel, wird das Beschweigen der kolonialen Vergangenheit dabei zur gemeinsamen Bezugsgröße, wenn die Journalist:innen die kolonialen Verbrechen Großbritanniens, Frankreichs oder Belgiens zum Thema machen. Im Jahr 2015 reflektiert der Journalist Christian Bommarius in der FR beispielsweise die Bedeutung des europäischen Kolonialismus angesichts der Flüchtlingsbewegungen. In seinem Artikel „Macht die Türen auf“ stellt er fest: In keiner einzigen ehemaligen Kolonialmacht ist die Ausplünderung Afrikas Teil der kollektiven Erinnerung. Und auch hier will Deutschland nicht beiseitestehen: Wie in Brüssel, Paris, London und Rom ist in Berlin die Kolonialzeit als historische Tatsache so intensiv verdrängt, dass heute nur noch ein paar Straßennamen an Täter und Tatorte erinnern (selbstverständlich nie an die Opfer). (Bommarius, 17.06.2015, FR, 11) Die Medienberichterstattung im Jahr 2021 deutet an, dass die ‚Phase des Beschweigens‘ der kolonialen Vergangenheit in den meisten ehemaligen Kolonialreichen nun zu einem Ende gekommen zu sein scheint. Im Mai 2021 befindet die SZ:

436 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Nicht nur Deutschland, eine ganze Reihe westlicher Staaten sind derzeit bemüht, dem lauter werdenden Ruf nach Reparationen für koloniales Unrecht zu widerstehen. Frankreich wehrt sich – wenn auch weniger hart als früher – gegen Reparationsforderungen wegen der Gräuel in Algerien. (Steinke, 30.05.2021, Süddeutsche.de)

Dabei spielt die Erwägung von Reparationszahlungen für die Schäden des Algerienkriegs weder im Stora-Bericht noch in der französischen Medienberichterstattung eine Rolle. Die fehlende Genauigkeit in der Darstellung der erinnerungspolitischen Debatten in Frankreich deutet darauf, dass es im Wesentlichen darum geht, den allgemeinen Wandel des europäischen Erinnerns herauszustellen. In einem Artikel in der FR, der die deutschen Versöhnungsbestrebungen in ein transnationales europäisches Verhältnis setzt, wird erneut unter Bezugnahme auf die französische Erinnerungspolitik konstatiert, dass „[d]as Ende des arroganten Gedächtnisverlusts der ehemaligen Kolonialnationen“ eingeläutet sei (Dieterich, 29.05.2021, FR, 13). Bezug genommen wird dabei allerdings nicht auf die Aufarbeitung des Algerienkriegs oder den Stora-Bericht aus dem Januar, sondern auf Macrons Verantwortungsübernahme für den Genozid, der 1994 in Ruanda stattfand. Erst zum Schluss des Artikels werden der Mau-Mau-Aufstand in Kenia und auch die „schweren Menschenrechtsvergehen“ während des Algerienkriegs benannt, deren Aufarbeitung durch das „Berliner Mea Culpa“ befördert werden könne. Der FR-Journalist folgert, „[d]ie europäische Reuewelle wird hoffentlich weiter gehen. Und zwar keineswegs gratis“ (Dieterich, 29.05.2021, FR, 13). In der französischen Berichterstattung zwischen Januar und März 2021 gibt es hingegen kaum Verweise auf ein europäisches Erinnern oder auf die Aufarbeitung des Kolonialismus in Deutschland oder der anderen ehemaligen Kolonialmächte. Die französische postkoloniale Erinnerungspolitik wird ausschließlich im Kontext des ehemaligen französischen Kolonialreichs und im Verhältnis zu den früheren Kolonien begriffen. Besonders deutlich wird dies in der Berichterstattung über den Stora-Bericht und der Darstellung der algerischen Reaktionen. Eine grundlegende Perspektiverweiterung in der Medienberichterstattung zeigt sich indes darin, dass die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Algerien nicht mehr ausschließlich auf die Kriegsgeschehnisse zwischen 1954 und 1962 reduziert wird (vgl. Stora 2021). Stattdessen wird die koloniale Expansion Frankreichs zunehmend in ihrer Globalität und in ihrer Relationalität zu anderen französischen Kolonien erfasst (vgl. Verdier 21.01.2021, La Croix, 7). Damit deutet sich in der französischen Presse ein globalgeschichtlicher und auch postkolonialer Wandel an, der die Frage nach einer Neubewertung des französischen Kolonialismus aufwirft. Hinweise für solch einen Wandel liefert die französische Berichterstattung hinsichtlich des geplanten deutschen „Versöhnungsabkommens“ mit Namibia. Auffallend ist dabei jedoch, dass ausschließlich Bezug genommen wird auf Macrons Verantwortungseingeständnis für den Völkermord an den Tutsi

„Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen“ 

 437

in Ruanda. Dass der Präsident im Mai 2021 Verantwortung für die Rolle Frankreichs während des Genozids übernimmt (vgl. Delage, 27.05.2021, libération.fr), resultiert aus der Veröffentlichung der Duclert-Kommission wenige Monate zuvor (26.03.2021, 972). In ihrem mehr als 1000-seitigen Bericht, in dem erstmals die französischen Archive im Zeitraum 1990–1994 bezüglich des Versagens Frankreichs, den Völkermord zu verhindern, herangezogen wurden, stellten die Historiker:innen „des responsabilités lourdes et accablantes“ fest. In den wenigen französischen Zeitungsartikeln, die das deutsche Versöhnungsabkommen mit Namibia in einen Zusammenhang mit Macrons Verantwortungsübernahme in Kigali stellen, steht insbesondere die Frage der Gebotenheit politischer Entschuldigungen im Fokus. Am 2. Juni 2021 schreibt der Philosoph Gaspard Koenig in einem Kommentar für die Tageszeitung Les Echos, es sei richtig gewesen, dass Macron die Verantwortung für den Genozid in Ruanda anerkannte, ohne sich dafür zu entschuldigen. Denn, so befand der Autor, „un etat ne s’excuse pas“, da eine Entschuldigung nur dann „aufrichtig“ sei könne, wenn sie auch zwischen den beteiligten Personen ausgesprochen werde. Als Beispiel fügt Koenig hier Deutschland an, unterschlägt dabei allerdings, dass im deutschen Fall stärker die Entschuldigung im Vordergrund steht und nicht „die Pflicht, die Schäden des Handelns wiedergutzumachen“. Die Verantwortungsübernahme, aus der konkrete Handlungen folgen, wiegt somit mehr als „abstrakte“ und moralisch begründete Entschuldigungsäußerung (Koenig, 02.06.2021, Les Echos, 11, Übersetzung S.  R.). Achille Mbembe, der im Interview mit Le Monde einer ähnlichen Argumentation wie Koenig folgt, kommt somit explizit auf die Grenzen der Entschuldigungspolitik zu sprechen. Für ihn zählt vor allem die Etablierung „historischer Wahrheit“, da aus ihr „Verantwortung, Gerechtigkeit und Reparation“ resultierten (Kane, 15.06.2021, Le Monde, 31, Übersetzung S. R.). In diesem Sinne sei Macron in der „Anerkennung der Verantwortung“ des Genozids an den Tutsi auch am weitesten gegangen. Gegenüber dem geplanten „Versöhnungsabkommen“ äußert Mbembe hingegen scharfe Kritik wegen der deutschen Verweigerung, Reparationen zu zahlen. Dabei argumentiert Mbembe, dass in Deutschland weiterhin die Haltung dominieren würde, es habe sich bei der Kolonisierung um eine „zivilisatorische Mission“ gehandelt, weswegen der Westen sich nicht zum Ausgleich von Schulden verpflichtet sehe; vielmehr begründe sich die Ablehnung gegenüber Reparationen anhand des „grenzenlosen moralischen Privilegs“ (Kane, 15.06.2021, Le Monde, 31, Übersetzung S.  R.), das Deutschland aus der Aufarbeitung des Holocaust und des etablierten Singularitätsanspruchs ableite. Mbembe folgert: „On utilise l’Holocauste pour se prévaloir d’une arrogance et d’une supériorité éthique qui justifient ce que l’on pourrait appeler le racisme des mémoires“ (Kane, 15.06.2021, Le Monde, 31). In einem anderen Artikel, der am 7.  Juni in

438 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Les Echos erschien, nimmt der Berater Dominique Moïsi Bezug auf den wenige Tage zuvor erschienenen Artikel von Koenig, indem er Deutschlands „exercice de repentance“ zur Voraussetzung des „europäischen Projekts“ und des „deutschen Wunders“ erklärt, denn mit der Anerkennung des Völkermords in Namibia und der geplanten Entschuldigung „wächst Deutschland in den Augen Afrikas und der Welt“ (Moïsi, 07.06.2021, Les Echos, 10, Übersetzung S.  R.). Allerdings könne man deswegen nicht in reduktionistischer Weise eine „moralische Klarheit“ Deutschlands einer „ethischen Blindheit“ Frankreichs gegenüberstellen, schließlich „könne man nicht die ‚französischen Fehler‘ in Ruanda mit den Genozidären Verbrechen des Deutschen Kaiserreichs in Afrika vergleichen“ (Moïsi, 07.06.2021, Les Echos, 10, Übersetzung S.  R.). Die Bezugnahme der französischen Presse auf Macrons Verantwortungseingeständnis für den Völkermord in Ruanda im Zusammenhang mit dem „Versöhnungsabkommen“ begründet sich vor allem mit der Gemeinsamkeit des Straftatbestands „Völkermord“ – wobei, wie der Artikel von Moïsi zeigt, gleichzeitig die Unvergleichbarkeit betont wird. In diesem Sinne fällt in der französischen Berichterstattung die Darstellung des Völkermords im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ als Ausdruck eines deutschen Sonderwegs auf. In Libération wird Zimmerer mit der Aussage zitiert, dass „der afrikanische Genozid ein Vorläufer von Auschwitz“ sei (Roland, 29.05.2021, Libération, 8–9, Übersetzung S.  R.), und in Le Figaro wird die Kontinuität und Einzigartigkeit deutscher Gewaltgeschichte zusätzlich durch historisch verkürzende Darstellungen und die direkte Bezugnahme auf Adolf Hitler verstärkt: Exécutions sommaires, épuisement par le travail dans des camps mais aussi déportation dans le désert … Des méthodes génocidaires que les nazis reprendront. Dès 1920, dans les premiers textes fondateurs du parti NSDAP, Adolf Hitler vante l’action de la politique coloniale de Bismarck et de Guillaume II. (Philippot, 29.05.2021, Le Figaro, 11)

Unter dieser Prämisse wird ersichtlich, warum eine Verknüpfung des deutschen „Versöhnungsabkommens“ mit der Aufarbeitung des Kolonialismus in Algerien nicht zulässig ist. Nur in der deutschen Presse wird in einem Kommentar in Bezug auf die Veröffentlichung des Stora-Berichts auf die „offenkundigen“ Kontinuitäten „zwischen NS- und Kolonialverbrechen […] in Frankreich“ hingewiesen (Johnson, 15.03.2021, taz, 12). In der französischen Berichterstattung ist das Interview mit Mbembe meiner Kenntnis nach die einzige Quelle für den Untersuchungszeitraum dieses Kapitels, in der sowohl das deutsche „Versöhnungsabkommen“ als auch die französische Weigerung, sich bei der algerischen Regierung zu entschuldigen, besprochen werden. Verknüpfungen zwischen den beiden Fällen stellt Mbembe allerdings nicht her und führt als Begründung

„Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen“ 

 439

für den Verzicht auf eine Entschuldigung die „franko-französischen“ und die franko-algerischen Unstimmigkeiten hinsichtlich der Bewertung des Algerienkriegs an (vgl. Kane, 15.06.2021, Le Monde, 31). Im Fokus des Interviews stehen im Anschluss verstärkt die diplomatischen Beziehungen Frankreichs mit Afrika und die von Macron beförderte Umstrukturierung der Françafrique, in der erinnerungspolitische Verhandlungen eine zunehmende Bedeutung als diplomatisches Instrument erfahren (vgl. Kane, 15.06.2021, Le Monde, 31). Schließlich sollten die medialen Darstellungen über die erinnerungspolitischen Aktivitäten bezüglich ihrer meinungsprägenden Reichweite jedoch nicht überschätzt werden. Zwar werden die erinnerungspolitischen Geschehnisse des jeweils anderen Landes überwiegend als tagesaktuelle Meldungen abgebildet (wobei das ND am ausführlichsten berichtet), Bezüge zwischen den jeweiligen erinnerungspolitischen Ereignissen im eigenen Land und den Entwicklungen des anderen Landes werden allerdings kaum hergestellt. In der französischen Berichterstattung werden aus dem deutschen erinnerungspolitischen Vorgehen keine Rückschlüsse auf die Aufarbeitung des Algerienkriegs gezogen. Doch auch in der deutschen Berichterstattung gibt es nur einen einzigen Artikel, der im März 2021 in der taz erschien und aus der Anerkennung der Ermordung Boumendjels „Lehren für Deutschland“ abzuleiten sucht. Bezug genommen wird auf Storas Vorschlag zur Einrichtung der Kommission „Mémoires et Vérité“, die vom taz-Journalisten fälschlicherweise zu einem Vertrag umgedeutet wurde. Zwei Monate vor der deutschen Ankündigung des „Versöhnungsabkommens“ schreibt Johnson, dass ein „deutscher Wahrheitsvertrag mit Namibia“ dafür sorgen könne, dass die „koloniale Aufarbeitung in Deutschland kein Feuilletonstreit über Museen bleibt, sondern sich den Tätern und ihren Nachfolgern und Nachahmern zuwendet, und damit die Sichtweise der ehemaligen Objekte kolonialer Vernichtung besser wahrgenommen und respektiert wird“ (Johnson, 15.03.2021, taz, 12). Als Gemeinsamkeit hat sich sowohl in der deutschen als auch in der französischen Berichterstattung die Perspektive durchgesetzt, dass auf nationalstaatlicher Ebene „endlich“ mit der Aufarbeitung des Kolonialismus begonnen wurde. Demnach wurde die „totale Amnesie“ in Deutschland überwunden (Roland, 29.05.2021, Libération, 8–9) und auch das ‚Schweigen‘ über den Algerienkrieg gebrochen. Insbesondere in der deutschen Presse werden der Kolonialismus und seine Aufarbeitung zunehmend in einem europäischen Kontext verortet, wobei Bezüge zu anderen europäischen Ländern und insbesondere zur französischen Erinnerungspolitik herstellt werden. Die Aufarbeitung des Algerienkriegs in Frankreich gestaltet sich in der französischen Presselandschaft hingegen weiterhin als ein franko-französischer bzw. franko-algerischer Themenkomplex, der kaum auf europäische oder deutsche postkoloniale Erinnerungspolitiken Bezug

440 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

nimmt. Während im französischen Fall die Ablehnung gegenüber einer als moralisch verstandenen Entschuldigung für koloniale Verbrechen überwiegt, besteht dennoch in beiden Ländern Einigkeit, dass aus der Anerkennung kolonialer Vergangenheiten politisches Handeln folgen muss.

11.5 Fazit: Die Grenzen der Entschuldigungspolitik Die internationale Praktik der Formulierung politischer Entschuldigungen hat eine ‚Sprache der Versöhnung‘ zur rhetorischen Norm gemacht, um historische Verbrechen aufzuarbeiten. Trotzdem wäre es irreführend, das Erzielen von ‚Versöhnung‘ und ‚Vergebung‘ zum Maßstab für den Erfolg entschuldigender Gesten zu erklären (vgl. Daase 2010, 27) – zumal diese christlichen Konzepte, wie Yeğenoğlu (2017, 23) im Anschluss an Derrida gezeigt hat, der „Logik der Reziprozität“ folgen. Folglich zeichnet sich vor allem in postkolonialen Erinnerungspolitiken die ‚Sprache der Versöhnung‘ durch ungleiche Machtverhältnisse aus, da das Ringen um historische Deutungshoheit auch immer mit symbolischer und materieller Ressourcenverteilung verbunden ist. Auf der anderen Seite verschleiert die Versöhnungsrhetorik, die auf affektiven sprachlichen Registern beruht, die immanenten Machtdisparitäten (vgl. Trouillot 2000). Ziel des Kapitels war es daher, nach den Bedingungen zu fragen, die die (Un-)Möglichkeit politischer Entschuldigungen für koloniale Verbrechen begründen. Dabei bin ich davon ausgegangen, dass Entschuldigungen moralische Kollektivideale zugrunde liegen, die wiederum auf der diskursiven Konstitution emotionaler Diskurse basieren. In der Konstitution der affektiven Zustände liegt im deutsch-französischen Vergleich der signifikanteste Unterschied. Im deutschen Fall ist vor allem die Anerkennung des kolonialen Genozids sowie das Eingeständnis ‚historischer Schuld‘ zentral für den postkolonialen Aufarbeitungsprozess. Zwar versucht die Bundesregierung auch im Jahr 2021, die Entschuldigung gegenüber Namibia nur unter der Bedingung zuzugestehen, diese als entwicklungspolitische Maßnahme und nicht als Entschädigung für den begangenen Völkermord aufzufassen. Dennoch werden die Aufarbeitung der ‚Schuld‘ und die Verantwortungsübernahme für den Völkermord als moralisches Kollektivideal anerkannt. In der Medienberichterstattung werden jedoch die Bedingungen einer ‚vollständigen‘ Entschuldigung (vgl. Daase 2010; Kößler und Melber 2017, 119), d. h. die Anerkennung der historischen Ereignisse sowie der OvaHerero und Nama als Nachfahren und deren Forderung nach Entschädigungen, akzeptiert. Deutlich wird hieran, dass Entschuldigungen als performative Praktiken selbst im Prozess der Aushandlung einen Möglichkeitsraum zur Umdeutung der Vergangenheit eröffnen. Zwar adressiert die Entschuldigung ein

Fazit: Die Grenzen der Entschuldigungspolitik 

 441

vergangenes Verbrechen, gleichzeitig eröffnet sie aber auch Handlungsperspektiven für die Zukunft. Da die Entschuldigung als Sprechakt die Voraussetzung erfüllen muss, sowohl die Sender:innen als auch Empfänger:innen mit Autorität auszustatten, kann sie nur ‚erfolgreich‘ sein, wenn ein Einvernehmen über die historische Erzählung besteht. Im Aushandlungsprozess einer gemeinsam geteilten ‚historischen Wahrheit‘ wird nicht nur die Beziehung zwischen den gesellschaftlich konstruierten ‚Opfer‘- und ‚Täter‘-Gruppen transformiert. Darüber hinaus würde mit der Formulierung der Entschuldigung das entworfene Geschichtsbild offizielle Akzeptanz finden, wodurch sich auch das historische Selbstbild der sich Entschuldigenden wandeln und die koloniale Vergangenheit in das nationale Geschichtsverständnis Deutschlands affektiv eingeschrieben würde. Eine Einigung über die gemeinsame Erzählung des Algerienkriegs ist in Frankreich allerdings weder innenpolitisch noch im Rahmen der franko-algerischen Beziehungen denkbar. Politische Entschuldigungen als Mittel erinnerungspolitischer Aufarbeitung sind folglich ebenso wenig denkbar. Die komplizierten Beziehungen zu Algerien wie auch die innerfranzösischen Spannungen verhindern die Schaffung von Bedingungen, unter denen eine Entschuldigung realisierbar wäre. Dazu würde beispielsweise das von Algerien geforderte ‚Schuldeingeständnis‘ oder die Etablierung einer eindeutigen ‚Täter‘-/‘Opfer‘-Dichotomie gehören. Dass eine historisch simplifizierende Aufteilung in ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ zurückgewiesen wird, wird besonders deutlich am Diskurs der ‚Reziprozität‘, der sich in den rechtskonservativen Medien wie Le Figaro verstetigte und ein Eingeständnis ‚algerischer Schuld‘ fordert. Anders als im Kontext der Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit könnte der Algerienkrieg mit den vorhandenen Rechtsmitteln strafrechtlich aufgearbeitet werden, würden die Amnestiegesetze dies nicht verhindern. Reparationen für algerische Kriegsverluste spielen daher keine Rolle in der franko-algerischen Aufarbeitung der gewaltvollen Dekolonialisierung Algeriens – Ausnahme hierbei sind die französischen Nuklearversuche in der Sahara, die allerdings nach Beendigung des Algerienkriegs stattgefunden haben. Im Ringen um die ‚historische Wahrheit‘, die auch in Frankreich weiterhin umstritten ist, wird jedoch nicht nur die algerische Sicht auf die Geschichte zurückgewiesen, sondern zudem eine Bewertung des französischen Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ausgeschlossen. Stattdessen zeigte die Analyse, dass mit dem Ziel, ‚historische Wahrheit‘ zu etablieren, eine ‚Versachlichung‘ der Betrachtung des Algerienkriegs erreicht werden soll. Während des Völkermords an den OvaHerero und Nama zuerst ein affektiver Platz im kollektiven Erinnern verschafft werden musste, wird das „Zuviel“ an Emotionalität im französischen Fall als Gefahr für den Zusammenhalt der Republik erachtet. Die Rede einer ‚Befriedung der Erinnerungen‘ adressiert dabei einen als

442 

 Der Kolonialismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

emotional konstruierten zivilgesellschaftlichen Erinnerungsaktivismus. Dieser wird zum Ausdruck einer gefährlichen und spalterischen Identitätspolitik und zum Grund für die andauernden guerres de mémoires. Den in der Gegenwart fortbestehenden rassifizierenden Ungleichstrukturen wird folglich die politische Relevanz abgesprochen, indem sie zum Ausdruck einer nicht verarbeiteten Vergangenheit reduziert werden. Die ‚Befriedung‘ (apaisement) der Erinnerungen entspricht einer staatlichen Vereinheitlichungsstrategie, um dem Erinnerungsaktivismus die politische Handlungsmacht zu entziehen und durch die Ausdeutung ‚historischer Wahrheit‘ die Transformation ‚emotionaler‘ Erinnerungen in ‚rationale‘ Geschichtsschreibung zu vollziehen. Diese angestrebte ‚Versachlichung‘ der Debatten um den Algerienkrieg verschleiert jedoch das Ringen um die erinnerungspolitische Deutungsmacht. Denn indem der Algerienkrieg in der Berichterstattung als eine ‚traumatische‘ und somit ‚schmerzvolle‘ Erfahrung konstruiert wird, werden die gesellschaftlichen Konflikte der Gegenwart affektiv mit der historischen Kriegserfahrung verknüpft. Der emotionale Diskurs des ‚Traumas‘ verstetigt den Algerienkrieg als ‚schmerzhafte Wunde‘ im französischen Nationalkörper, die nur ‚geheilt‘ werden kann, indem die koloniale Vergangenheit aufgearbeitet wird. Die Reproduktion des Algerienkriegs als ‚Trauma‘ verhindert dabei ebenso seine ‚Versachlichung‘ wie die anhaltende Bezugnahme auf die repentance als strukturierende emotionale Ordnung. Gleichzeitig dient der ‚Reue‘-Diskurs der Interessendurchsetzung rechtskonservativer Kräfte und unterbindet eine Neubewertung der französischen Kolonialvergangenheit. Dennoch zeigt sich auch in der französischen Berichterstattung, dass die Thematisierung von Entschuldigungen einen Diskursraum eröffnet, in dem historische Sagbarkeiten und Sichtbarmachungen verhandelt werden. So dehnt sich die Perspektive nicht nur auf die französische Kolonialisierung seit dem 19. Jahrhundert aus, auch wird zunehmend eine Debatte über die dem Kolonialsystem immanenten Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse angestoßen. Entschuldigungen sind – dies möchte ich zum Abschluss nochmals unterstreichen – weder als erstrebenswerter Abschluss des Aufarbeitungsprozesses historischer Verbrechen zu verstehen noch kann mit ihnen als erinnerungspolitisches Instrument garantiert werden, zu einer Überwindung eurozentrischer, nationalistischer oder kolonialistischer Vorstellungswelten beizutragen (vgl. Yeğenoğlu 2017, 18). Ihre Wichtigkeit als international zur Anwendung kommende Praktik zeichnet sie jedoch als moralisches Kollektivideal aus, dem Genüge getan werden muss. Während es den Nationalstaaten, wie Ahmed (2004) gezeigt hat, vor allem darum geht, ihre moralische Integrität nach innen und außen aufrechtzuerhalten, eröffnen die Verhandlungen über Entschuldigungen – selbst, wenn sie zurückgewiesen werden – einen Diskursraum, in dem ‚historische Wahrheiten‘ einer Neubewertung unterzogen werden. Die Aufarbeitung der kolonialen

Fazit: Die Grenzen der Entschuldigungspolitik 

 443

Vergangenheit – und dies gilt sowohl für Deutschland als auch für Frankreich – ist zu einer moralischen Obligation geworden, die politische Antworten erfordert. Insbesondere die „Restitutionsdebatte“ hat dabei zu einer Transnationalisierung beitragen und die Beschäftigung mit der postkolonialen Gegenwart zu einem europäischen Thema anwachsen lassen. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Macrons (inzwischen relativierte) Bewertung des Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf gesamtgesellschaftliche Akzeptanz stoßen wird. Dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der ethnologischen Sammlungen im Humboldt Forum in Berlin alle Deutschen in die Verantwortung nimmt, sich mit dem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen (vgl. Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, 22.09.2021), lässt indes vermuten, dass „die europäische Reuewelle“ (Dieterich, 29.05.2021, FR, 13) tatsächlich erst begonnen hat.

12 Schlussbetrachtungen Im September 2021 schaltete sich der Philosoph Jürgen Habermas (2021) in die Debatten um den sogenannten „Historikerstreit  2.0.“ ein, bei dem der Stellenwert des deutschen Holocaust-Gedenkens im Verhältnis zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit diskutiert wird. In seinem kurzen Beitrag im Philosophie Magazin grenzt Habermas die gegenwärtigen Auseinandersetzungen allerdings vom Historikerstreit der 1980er Jahre ab und spricht von einer erinnerungspolitischen „Verschiebung der Gewichte“. Die Integration der Kolonialgeschichte sei demnach eine „wichtige Erweiterung“ deutscher Erinnerungskultur (Habermas 2021, 10–11). Auf welche Weise sich die erinnerungspolitischen Gewichte verschoben haben, habe ich in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass die Notwendigkeit, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich als konstituierend für die Selbstverständnisse postkolonialer Gesellschaften erachtet wird. Der Bedeutungsgewinn der Kolonialgeschichte für die gegenwärtigen Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands habe ich mithilfe einer diachronen und transnationalen Vergleichsperspektive untersucht. Dabei lag der Fokus auf der Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg in Frankreich und dem Genozid an den OvaHerero und Nama in Deutschland, da diese Kolonialvergangenheiten seit dem Ende der 1990er Jahren am sichtbarsten auf politischer, gesellschaftlicher sowie kultureller Ebene verhandelt werden. Der diachrone Vergleich im Zeitraum von 1999 bis 2021 bildete dabei den Bedeutungswandel in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten und den Stellenwert postkolonialer Perspektiven ab. Die Konzeption der Arbeit als transnationaler Vergleich zielte zum einen auf die Abbildung globaler Entwicklungen wie die Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust ab. Zum anderen standen länderübergreifende sowie multidirektionale Bezugnahmen auf andere historische Narrative im Zentrum des Interesses. In der Untersuchung ging ich von der These aus, dass koloniale Vergangenheiten affiziert werden müssen, um Bedeutung in der Gegenwart zu erlangen. Die diskursive Herstellung von Emotionen und Affekten erachtete ich dabei als konstituierend für die Ausdeutung und Vermittlung anerkannter Vergangenheitsrepräsentationen. In den jeweiligen empirischen Kapiteln habe ich daher die Frage verfolgt, welche Emotionen auf welche Weise in postkolonialen Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich hergestellt werden. Dabei zielte die Analyse auf die Frage, wie emotionale Diskurse (Il-)Legitimität für koloniales ‚Leid‘ herstellen und wie emotionale Ordnungen die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen strukturieren und regulieren. Darauf aufbauend konzentrierte ich mich außerdem auf die emotionalen ‚Verstrickungen‘ französischer und deutscher postkolonialer Erinnerungspolitiken, um die Frage https://doi.org/10.1515/9783111018683-012

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 445

zu beantworten, ob sich Transnationalisierungstendenzen in der Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten beschreiben lassen oder ob transnationale Bezüge vor allem dem Entwurf nationaler Geschichtsschreibungen dienen. Diese Arbeit abschließend, bündele ich die zentralen Ergebnisse der empirischen Kapitel in Form einer vergleichenden Schlussbetrachtung, um die Untersuchung postkolonialer Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich zusammenzuführen. Bevor ich mit der vergleichenden Schlussbetrachtung diese Arbeit abschließe, rufe ich im Folgenden nochmals die Prämissen des transnationalen Forschungsdesigns in Erinnerung.

12.1 Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? Die postkolonialen Erinnerungspolitiken Deutschlands und Frankreichs miteinander in Beziehung zu setzen, leitete ich im Wesentlichen anhand zweier Spezifika ab. Erstens verbindet die beiden Länder eine umstrittene und verspätet einsetzende Auseinandersetzung mit den während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen (vgl. Dubiel 1999; Rousso 1990 [1987]). Dennoch entwickelte sich, wenngleich mit einiger zeitlicher Verschiebung, in beiden Ländern das Holocaust- bzw. Shoah-Gedenken zur dominanten Erinnerungstradition. Multidirektionale Bezugnahmen und entsprechende Hybridisierungen zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Erinnerung wurden daher für beide Landeskontexte angenommen (vgl. Levy und Sznaider 2001; Rothberg 2013, 2009). Zweitens erachtete ich den transnationalen Wissensaustausch als instruktiv für die verflechtende Betrachtung des französischen und deutschen Kontexts (vgl. Halbwachs 1985 [1925]; Nora 1984a). Als übergeordnete Annahme, die die Entwicklung meines Forschungsdesigns bestimmte, bin ich der Prämisse gefolgt, dass sich die Erinnerung bzw. Entinnerung kolonialer Vergangenheiten durch Prozesse der Affizierung vollzieht. Zur Untersuchung dieser Annahme rekonstruierte ich in fünf empirischen Kapiteln die emotionalen Diskurse, um mit deren Hilfe emotionale Ordnungen beschreiben zu können, die die Erinnerung und Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten in Deutschland und Frankreich strukturieren und regulieren. Die in dieser Arbeit zur Anwendung gekommene Diskursanalyse wurde als rekursiver Rekonstruktionsprozess umgesetzt, d. h., dass ich ausgehend von der Forschungsliteratur den zu untersuchenden Gegenstandsbereich und somit die Auswahl der Quellen eingegrenzt habe. Folgende fünf Untersuchungsgegenstände habe ich transnational vergleichend miteinander in Beziehung gesetzt: (1) die Verhandlung offizieller Anerkennung des Algerienkriegs in Frankreich und des Genozids an den OvaHerero und Nama in Deutschland, (2) die Forderungen nach Reparationen und

446 

 Schlussbetrachtungen

juristischer Aufarbeitung kolonialer Verbrechen anhand postkolonialer Reparationsklagen, (3) die Repatriierungen menschlicher Gebeine aus den genannten kolonialen Kontexten, (4) die namibischen und algerischen Restitutionsforderungen sowie (5) Entschuldigungen als (un-)mögliche Instrumente erinnerungspolitischer Aufarbeitung. Bei der diskursanalytischen Herangehensweise in dieser Arbeit handelte es sich sowohl um ein rekonstruktives wie dekonstruktives Verfahren. Konkret bedeutete dies, dass rekonstruktiv die jeweiligen Regelmäßigkeiten im Material aufgedeckt wurden, um somit die emotionalen Diskurse und deren Ordnungsstrukturen nachvollziehen zu können. Der dekonstruktive Charakter zielte wiederum auf die diskursiven Mechanismen der Wissensproduktion, mithilfe derer ‚historische Wahrheiten‘ hergestellt und zu nicht hinterfragbaren Selbstevidenzen gerinnen. Während in der zeitlichen Verlaufsperspektive die Veränderung bzw. Verstetigung emotionaler Diskurse und Ordnungen sichtbar gemacht werden konnten, ermöglichte der synchrone Vergleich, die unterschiedlichen Mechanismen der Affizierung postkolonialer Erinnerungspolitiken in Deutschland und Frankreich aufzuzeigen. Die Vergleichsperspektive ermöglichte es mir, die Bedeutung emotionaler Diskurse als transnationale Referenzgröße freizulegen und zu untersuchen, inwiefern sie die postkolonialen Erinnerungspolitiken strukturieren. In den empirischen Kapiteln traten entsprechend deutlich die Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche hervor, was die empirischen Befunde dieser Arbeit als Momentaufnahme des derzeitigen diskursiven Wandels ausweist. Indem ich mich auf die Transnationalität emotionaler Diskurse und Ordnungen fokussiere, werde ich die zentralen Ergebnisse der fünf empirischen Kapitel anhand folgender Schlussbetrachtungen bündeln: (1) die emotional ordnende Funktion des globalen Holocaust-Gedenkens, (2) die diskursive Herstellung moralischer Kollektivideale, (3) die Wiedergabe der disparaten Affizierung von Er- und Entinnerungspraktiken in Deutschland und Frankreich und (4) die Darstellung der transnationalisierenden Tendenzen postkolonialer Vergangenheitsaufarbeitung.

12.1.1 Die emotional ordnende Funktion des globalen Holocaust-Gedenkens Ausgangspunkt des transnationalen Vergleichs war die Annahme, dass der Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Holocaust bzw. die Shoah im Speziellen die moralischen Standards für die Bezugnahmen auf die Vergangenheiten definieren (vgl. Aschheim 2016; Kansteiner 2014; Levy und Sznaider 2001; Miles 2004; Sznaider und Baer 2016). Transnationalisierungstendenzen wurden mit der zunehmenden Sichtbarkeit kolonialer Vergangenheiten, die sich seit den 1990er Jahren einstellten, in Wissenschaftskreisen vor allem durch die Verbrei-

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 447

tung einer „transkulturellen Empathie“ vermutet (Craps und Rothberg 2011, 518). Die Erinnerungen an Sklaverei und Kolonialismus sollten dabei als transnationale Bezugspunkte die Entstehung einer solidarischen Weltgemeinschaft befördern (vgl. Craps und Rothberg 2011, 518). Abgeleitet wurde diese Perspektive aus den global zunehmenden Forderungen nach Anerkennung, Aufarbeitung, der Zahlung von Entschädigungen und der Artikulation von Entschuldigungen (vgl. Barkan 2002). Inwiefern beförderten oder behinderten die durch das HolocaustGedenken etablierten moralischen Standards die Erinnerungsmobilisierung als transnationales Phänomen in Bezug auf die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten? Zweifelsfrei lässt sich eine emotional ordnende Funktion des globalen Holocaust-Gedenkens in Frankreich und Deutschland ausmachen. Zum einen bestätigt sich die schon im Jahr 2001 von Levy und Sznaider (2001, 222) getroffene Aussage, dass der Holocaust „als einzigartiges Ereignis vergleichbar“ ist. Das globalisierte, dominante Holocaust-Gedenken gibt eine Erinnerungsrhetorik vor, die die Aufarbeitung ‚anderer‘ Verbrechen strukturiert (vgl. Aschheim 2016; Miles 2010). Die Gleichzeitigkeit von Universalismus und Einzigartigkeit verdeutlicht dabei, dass marginalisierte Erinnerungsträger:innen rhetorisch auf das Erinnerungsvokabular der nationalsozialistischen Massengewalt zurückgreifen müssen, um ihr ‚Leid‘ im diskursiven Feld des Sagbaren zu verorten. In Anlehnung an die Wissenschaftlerinnen Chiara De Cesari und Ann Rigney (2014) ging ich von einem Transnationalitätsverständnis aus, das die Zirkulations- und vor allem Transformationsprozesse von Vergangenheitsrepräsentationen zwischen der lokalen, der nationalen und der globalen Ebene in den Blick nimmt. Transnational wirkende Erinnerungsstandards können dabei für nationalstaatliche Erinnerungspolitiken nutzbar gemacht und somit entsprechend ‚nationalisiert‘ werden (vgl. De Cesari und Rigney 2014, 7). Der deutsch-französische Vergleich ermöglichte es, die nationale Spezifizität des Holocaust-Gedenkens in ihrem entsprechenden multidirektionalen Bezugnahmen herauszuarbeiten. In den französischen Debatten wurde die Referenz zur Aufarbeitung der Shoah vorwiegend als rhetorischer Marker verwendet, um anzuzeigen, dass den erinnerungspolitischen Standards Genüge getan wird. Die offizielle Anerkennung der Ermordung Maurice Audins durch französische Fallschirmjäger im Jahr 2018 sowie die präsidiale Initiative zur Erstellung des Berichts über die Aufarbeitung des Algerienkriegs und dessen Veröffentlichung im Frühjahr 2021 wurden wiederholt mit Jacques Chiracs Rede aus dem Jahr 1995 in Beziehung gesetzt, als dieser die französische collaboration während des Nationalsozialismus anerkannte und das Vichy-Regime somit als integralen Bestandteil der französischen Nationalgeschichte auffasste. Indem die Medien wiederholt Bezug zu Chiracs Rede herstellen, wird eine Kontinuität zwischen Macrons und Chiracs erinnerungspoliti-

448 

 Schlussbetrachtungen

schem Handeln hergestellt. Als Folge wird der Aufarbeitung des Algerienkriegs eine gleichwertige Bedeutung wie dem Gedenken an die Shoah eingeräumt. Einen Höhepunkt fand die Zuschreibung gleichwertiger erinnerungspolitischer Gedenkrelevanz, als Macron auf dem Flug nach Israel anlässlich der Feierlichkeiten zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2020 in einem Interview sagte, dass für ihn die Aufarbeitung des Algerienkriegs die gleiche Bedeutung zukomme wie damals für Chirac die Aufarbeitung der Shoah (vgl. Smolar, 27.01.2020, Le Monde, 11). Mit dem Verweis auf das Gedenken an die Shoah wird die Gedenk- und vor allem Aufarbeitungsrelevanz hinsichtlich des Algerienkriegs bestätigt und Macrons Vorgehen in eine Linie erfolgreicher Aufarbeitung eingeordnet. Die erinnerungspolitische Aufarbeitung des Vichy-Regimes wurde in den Debatten um den Algerienkrieg allerdings nicht reflektiert und bietet somit vor allem einen Referenzpunkt positiver Selbstversicherung. In Deutschland hingegen wird das Holocaust-Gedenken als emotional einzigartig konstruiert, sodass es auf allen Ebenen die Diskurse zur Thematisierung der kolonialen Vergangenheit strukturiert. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die die nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland einnehmen, wird der Völkermord an den OvaHerero und Nama fast ausschließlich in Referenz zu diesen diskutiert. Dabei liefert das Holocaust-Gedenken den sprachlichen Deutungsrahmen, in dem der Genozid an den OvaHerero und Nama erst intelligibel werden kann. In Kapitel 7 und 11 habe ich gezeigt, dass die Anerkennung des kolonialen Völkermords als eine Auseinandersetzung um die Legitimität der Verwendung des Genozid-Begriffs verhandelt wird, der in Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Verbrechen definiert wurde. Bis heute folgt die Bundesregierung der Argumentation, dass der Begriff nicht im völkerrechtlichen Sinn verwendet werden kann, weil dieser erst 1948 und somit erst nach den historischen Ereignissen im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ Eingang ins Völkerrecht fand. Die Annahme einer offiziellen Entschuldigung durch die Bundesregierung machen die Vertreter:innen der OvaHerero und Nama allerdings von einer völkerrechtlichen Anerkennung des Völkermords abhängig, da für sie damit auch der Anspruch auf Reparationszahlungen verbunden ist (vgl. Kap. 8 und 11). Insbesondere die Forderungen nach materiellen Entschädigungen unterstreichen hierbei, dass die Anerkennung kolonialer Gewalt nicht nur symbolisch verhandelt wird. Im Ringen um die erfolgreiche Herstellung historischer sowie erinnerungspolitischer Kontinuität zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Verbrechen sind vor allem Fragen der materiellen Umverteilung zentral. Die Bezugnahme auf den Holocaust beschreibt somit nicht nur eine emotionale Rhetorik. Die Konstruktion emotionaler Einzigartigkeit verunmöglicht nicht nur ein gleichberechtigtes Erinnern der kolonialen und nationalsozialistischen Vergangenheit, sie verunmöglicht außerdem die Anwendung juristischer Instru-

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 449

mente zur Aufarbeitung des Kolonialismus. Am Beispiel der Klagevorhaben der ehemaligen algerischen Hilfssoldaten, den Harkis, und der OvaHerero habe ich in Kapitel 8 das postkoloniale Dilemma beschrieben, das einer juristischen Aufarbeitung kolonialer Gewalt im Wege steht. Dieses Dilemma verweist dabei auf die widersprüchliche Konzeption des Völkerrechts, das auf der einen Seite als universalisierte Rechtsnorm konzipiert ist, auf der anderen Seite allerdings die „kolonialisierten Subjekte“ von einer juristischen Aufarbeitung kolonialer Verbrechen ausschließt (vgl. Dhawan 2010; Eicker 2009; Kämmerer 2010). Der Holocaust wird hierbei als einzigartiges „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bestätigt (Moses 2012, 230), womit eine juristische Aufarbeitung kolonialer Gewalt verhindert und Moralität und Jurisdiktion als voneinander getrennte Logiken der Aufarbeitung konstruiert werden. Um marginalisierte Verbrechen im Rahmen universeller Gerechtigkeitsverständnisse verorten zu können (vgl. Savelsberg und King 2007), müssen allerdings die Standards der etablierten Erinnerungsrhetorik adressiert und folglich Bezüge zum einzigartigen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – zum Holocaust – hergestellt werden. In ihrem Klagevorhaben aus dem Jahr 2001 haben sowohl die OvaHerero als auch die Harkis ihr Klagevorhaben damit begründet, die Anerkennung kolonialer Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erwirken zu wollen. Die OvaHerero haben dabei insbesondere die historischen Kontinuitäten zwischen kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt in den Fokus gerückt, um daraus erinnerungspolitische Kontinuitäten zur bundesrepublikanischen Wiedergutmachungspolitik gegenüber den im Nationalsozialismus verfolgten Jüd:innen herzustellen. Die von den OvaHerero vermittelte Kontinuität von „Windhuk nach Auschwitz“ (Zimmerer 2007), die die Massenverbrechen an der jüdischen Bevölkerung als „europäischen Holocaust“ zu provinzialisieren sucht, wird in der deutschen Presse als Impertinenz dargestellt, was die geforderten Reparationen als moralisch verwerflich diskreditiert. Das Klagevorhaben der Harkis gegen den französischen Staat im Jahr 2001 ist indes ein wenig anders gelagert. Historisch könnten die an den Harkis verübten Massaker nach Unterzeichnung der ÉlyséeVerträge zwar als Kriegsverbrechen betrachtet werden, nicht jedoch als Völkermord. Um jedoch erinnerungspolitische Sichtbarkeit zu erlangen, konstruiert der Initiator der Klage Boussad Azni die Massaker an den Harkis als „Genozid“. Das Klagevorhaben unterstreicht somit in doppelter Hinsicht die emotional strukturierende Funktion der Holocaust-Erinnerung: Zum einen erzeugte die rhetorische Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Verbrechen Sichtbarkeit für die erinnerungspolitischen Anliegen der Harkis. Zum anderen wurde ersichtlich, dass die Bezugnahmen auf den Holocaust nicht nur im Kontext rhetorisch vermittelter Aufmerksamkeitsökonomien betrachtet werden können. 1994 verabschiedete das französische Parlament ein Gesetz, das eine retroaktive Strafverfolgung

450 

 Schlussbetrachtungen

von Verbrechen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen worden sind, ausschloss – ausgenommen davon waren die während des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Im Falle des Algerienkriegs sorgten darüber hinaus die seit 1962 verabschiedeten Amnestiegesetze dafür, dass während des Kolonialismus begangene Verbrechen nicht mit juristischen Instrumenten der Strafverfolgung aufgearbeitet werden können. Bis 2003/2004 scheiterten endgültig alle von den Harkis angestrengten Klagevorhaben, und auch die Klage der OvaHerero wird 2003 abschließend zurückgewiesen. Für Deutschland sowie für Frankreich gilt bis heute, dass die als universalistisch verstandene juristische Definition des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ retroaktiv einzig auf die Verhandlung nationalsozialistischer Verbrechen angewandt werden kann. Das „postkoloniale Dilemma“ einer unterschiedlichen Rechtsbewertung kolonialer und nationalsozialistischer Gewalt schreibt sich somit bis in die Gegenwart fort. Trotz geringer Aussichten, Entschädigungen auf dem juristischen Weg zu erwirken, stellt der Gerichtsaal einen wichtigen erinnerungspolitischen Raum dar, der es postkolonialen Erinnerungsaktivist:innen ermöglicht, ihre Entschädigungsforderungen artikulieren zu können und ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen (vgl. Savelsberg und King 2007). Dabei erzeugt der Rückgriff auf juristische Instrumente einen diskursiven Kontext, in dem die moralisch etablierten Kollektivideale herausgefordert werden. Während die von den OvaHerero betriebene Parallelisierung mit dem Holocaust 2001–2003 noch als unmoralisch zurückgewiesen wurde, trat im diachronen Vergleich die Dynamik der multidirektionalen Bezugnahmen zutage, bei der sich sowohl das Gedenken an den Holocaust als auch an den Genozid transformierten. Damit liegt vor allem im Widerspruch zwischen Universalismus und Einzigartigkeitsansprüchen begründet, auf welche Weise sich das Holocaust-Gedenken als emotionale Ordnung verstetigt hat und die Aufarbeitung und Erinnerung an den Kolonialismus strukturiert. Die Erinnerung an den Holocaust beschreibt demnach zwar weiterhin die dominante Gedenktradition, eröffnet aber gleichzeitig einen Raum für die Aufarbeitung des Kolonialismus. Mittlerweile wird die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama vor dem Hintergrund erfolgreicher deutscher Erinnerungspolitik bilanziert. Inwiefern sich die moralischen Kollektivideale wandelten, zeigte sich auch daran, dass eine verfehlte Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit den ‚Erfolg‘ deutscher Erinnerungspolitik kompromittieren würde. Die Gleichsetzung der Massaker an den Harkis mit einer am Holocaust ausgerichteten Genozid-Rhetorik sowie die Darstellung der südfranzösischen Internierungslager als nationalsozialistische Konzentrationslager werden in der französischen Medienberichterstattung kaum kontrovers diskutiert. Als das Klagevorhaben aus dem Jahr 2001 schließlich scheitert, verzichteten die Harki-Ver-

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 451

bände in den kommenden Jahren auf die Referenz zum nationalsozialistischen Genozid. Dennoch hat die Klage einen Diskursraum eröffnet, in dem die Harkis ihre Forderungen nach Entschädigungen artikulieren konnten. Während die emotionale Bezugnahme auf eine durch das Holocaust-Gedenken vorgegebene Rhetorik scheitert, setzt sich stattdessen der emotionale Diskurs des abandon durch. Frankreich habe demnach die Harkis nach Kriegsende im Stich gelassen, woraus diese die Forderung nach Entschädigungen und Verantwortungsübernahme ableiten. Schon 2001 wird ihnen im Rahmen des Journée nationale d’hommage aux Harkis durch Jacques Chirac ein legitimer Platz in der französischen Nationalgeschichtsschreibung zugewiesen. Anerkannt als ‚Opfer‘ bzw. als sich für die ‚Nation‘ aufopfernde Soldaten werden sie erfolgreich in die französische „Schicksalsgemeinschaft“ eingeschrieben. Entschädigungszahlungen sah die Französische Republik allerdings weiterhin nicht vor. Der diachrone Vergleich mit dem Jahr 2018, als der Rapport Aux Harkis, la France reconnaissante vom Verteidigungsministerium herausgeben wurde, arbeitete die erfolgreiche Verknüpfung des Diskurses des abandons mit Entschädigungsforderungen heraus. Gegenwärtiges Ziel der Harkis ist es, die französische Regierung zur Verabschiedung eines Reparationsgesetzes zu bewegen. Zum Journée nationale im September 2021 sicherte Macron den Harki-Verbänden schließlich eine solche Gesetzesinitiative zu (vgl. Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, 20. September 2021). Obwohl die Referenz zum Holocaust oder zur Erinnerung an das Vichy-Regime im Aktivismus der Harkis stark an Bedeutung verlor, blieb der Holocaust ein wichtiger erinnerungspolitischer Bezugsrahmen, um die anvisierten Maßnahmen zur Anerkennung und Entschädigung der Harkis zu evaluieren. Schließlich zeigte sich für beide Fälle, dass die Erinnerung an den Holocaust als emotionale Ordnung die Verwendung bestimmter sprachlicher Marker strukturiert und gleichsam das Verhältnis von kolonialer zu nationalsozialistischer Gewalt definiert. Der Bedeutungsgewinn der Erinnerung an den Kolonialismus gegenüber dem etablierten Gedenken an den Holocaust verweist auf den Wandel der moralischen Kollektivideale in der Auseinandersetzung mit den kolonialen Vergangenheiten.

12.1.2 Diskursive Herstellung moralischer Kollektivideale Die Aufarbeitung marginalisierter Vergangenheiten wird nicht nur in der Empirie mit Moralitätsvorstellungen in Verbindung gesetzt, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur. Ziel der Arbeit war es daher, dem Befund einer „ethischen Wende“ (Assmann 2014 [2006], 76), die auf dem Entstehen einer „moralischen Rhetorik“ beruht (Barkan 2002, 9), auf den Grund zu gehen. Damit die Aufarbeitung

452 

 Schlussbetrachtungen

des Kolonialismus als moralische Verpflichtung Akzeptanz findet, muss diesem „Gedenkrelevanz“ (Robel 2013, 74) in der Gegenwart zugeschrieben werden. Da dem Begriff der Moral ein normativ als ‚richtig‘ verstandenes Erinnerungshandeln zugrunde liegt, interessierte ich mich insbesondere für die Ambivalenzen in der Bezugnahme auf moralische Kollektivideale. Kollektivideale definieren zwar bestimmte moralische Standards, denen Gesellschaften genügen müssen, allerdings folgt die Verständigung über diese Standards kontextspezifischen Aushandlungsprozessen (vgl. Durkheim 1973 [1922], 164–165; Isambert 2013). In Kapitel 7 habe ich die rhetorischen Bezugnahmen auf ein moralisch verantwortliches Erinnerungshandeln im Kontext der offiziellen Anerkennung des Algerienkriegs in Frankreich und des Völkermords an den OvaHerero und Nama in Deutschland analysiert. In beiden Fällen äußerte sich die Bezugnahme auf ein moralisch begründetes Erinnerungshandeln als nationalstaatliche Selbstvergewisserung, ohne dass eine Anerkennung des ‚Leids der Anderen‘ realisiert worden wäre. Die Anerkennung des Algerienkriegs im Jahr 1999 wird vom französischen Parlament einzig als eine Praxis des Benennens vollzogen, aus der keine erinnerungspolitischen Folgen abzuleiten sind. Dadurch, dass Moralität kontextbezogen auf unterschiedliche Weise affiziert wird, lassen sich für die deutschen und französischen Anerkennungsdebatten unterschiedliche emotionale Diskurse beschreiben. In der französischen Parlamentsdebatte bezog sich Moral einzig auf das ‚mutige‘ Handeln der Abgeordneten, endlich den notwendigen Schritt der offiziellen Benennung gegangen zu sein. Finanzielle Entschädigungen oder eine Erhöhung der Renten für die Veteranen wurden nicht vorgesehen. Andere Betroffenengruppen, wie etwa die pieds-noirs oder die Harkis, wurden in den Debatten nicht bedacht. Im Zentrum stand somit das Kriegsleid der französischen ‚Nation‘, wodurch als Konsequenz die grundlegende Legitimität des Kriegs nicht infrage gestellt wurde. Überdies sollte mit der Fokussierung auf eine ausschließlich französische Perspektive auf den Krieg vermieden werden, dass sich die Anerkennung des Kriegs auf die Beziehungen zu Algerien auswirkt. Als im Jahr 2015 die Bundesregierung erklärt, den Begriff „Völkermord“ als politische Sprachregelung anzuerkennen, wird die Benennung des Völkermords mit dem Bekenntnis zu einer ‚moralischen Verantwortungsübernahme‘ verbunden. Die ‚moralische und historische Verantwortungsübernahme‘ zielt hierbei auf eine in die Zukunft gerichtete Entwicklungszusammenarbeit, bei der eine historische Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus ebenso ausgeblendet wird wie die Forderungen nach Entschädigungen, die die OvaHerero und Nama an die Bundesregierung richten. Dass in den Debatten seit 1989 wiederholt eine Kontinuität „moralischer Verantwortungsübernahme“ für Namibia konstruiert wird (vgl. Drucksache 11/4205, 15.03.1989), erzeugt auf der einen Seite den Eindruck einer konsistenten Aufarbeitungspolitik hinsichtlich des Genozids. Auf der anderen

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 453

Seite kann daraus eine positive Bewertung des Erinnerungshandelns abgeleitet werden, bei der die jahrelang währende Dethematisierung der deutschen Kolonialvergangenheit in der Bundespolitik ausgeblendet wird. In der Benennungspraxis des Algerienkriegs und des Völkermords an den OvaHerero und Nama ließ sich demnach eine Differenz zwischen der Anerkennung der historischen Ereignisse und einer anhaltenden Verkennung der Opfer kolonialer Gewalt und deren Nachfahren beschreiben. Auf der einen Seite begrenzt die Bezugnahme auf die moralisch gebotene Aufarbeitung kolonialer Gewalt die erinnerungspolitischen Instrumente, da die moralische Aufarbeitung von der rechtlichen Aufarbeitung unterschieden wird. Der Verweis auf das moralisch gebotene erinnerungspolitische Handeln wird hier zur rhetorischen Figur, mit der eine grundlegende Aufarbeitung und eine Neubewertung der Auswirkungen des Kolonialismus in der Gegenwart abgewehrt wird. Dabei wird zum einen das Ideal einer gebotenen Aufarbeitung bedient, zum anderen sollen die Kosten der historischen Aufarbeitung möglichst geringgehalten werden. Denn eine moralische Aufarbeitung versteht sich vordergründig als eine freiwillige Selbstverpflichtung, bei der die ehemaligen Kolonialmächte weiterhin die Bedingungen des Erinnerns definieren. Auf der anderen Seite verschiebt die Anerkennung kolonialer Vergangenheiten und insbesondere die Adressierung ihrer Benennung als moralische Notwendigkeit die diskursiven Regelsysteme. Die Benennung des Algerienkriegs und des Völkermords an den OvaHerero und Nama eröffnet somit einen Möglichkeitsraum, in dem neue Forderungen hervorgebracht werden und sich weiterführende Vergangenheitsdeutungen artikulieren können. Insbesondere im deutschen Fall wurde im diachronen Verlauf ersichtlich, dass in der deutschen Presse die Forderung der OvaHerero und Nama nach Anerkennung zunehmend mit der Formulierung einer offiziellen Entschuldigung und der Zahlungen von Entschädigung in Verbindung gesetzt wird. Diskursiv haben sich entsprechend die moralischen Kollektivideale verschoben, sodass eine Anerkennung des Völkermords ohne die Formulierung einer Entschuldigung und der Erwägung von Entschädigungen als nicht mehr ausreichend erachtet wird. Im Gegensatz zur deutschen erinnerungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den OvaHerero und Nama nahm der rhetorische Hinweis auf ein moralisches Gebot zur Aufarbeitung des Algerienkriegs nach der Parlamentsdebatte 1999 eine untergeordnete Rolle ein. Dies verdeutlicht, dass die Analyse der Emotionssemantik nicht ausreichend war, um die Verschiebung der moralischen Kollektivideale nachzuvollziehen. Denn das erinnerungspolitische Ringen um die diskursive Ausdeutung von Moralität und den jeweiligen normgeleiteten Erinnerungsstandards folgt machtpolitischen Interessen, bei denen die Bezugnahme auf den Moralbegriff strategisch erfolgen oder vermieden werden kann. Nationalstaatliches Erinnerungshandeln zielt dabei auf die Wahrung der

454 

 Schlussbetrachtungen

moralischen Integrität nach innen und außen. Allerdings liegt im Ringen um Deutungshoheit das Potenzial begründet, neue Diskursräume zu öffnen, in denen historisch-dominante ‚Wahrheiten‘ einer Neubewertung unterzogen werden. Hinsichtlich der Aufarbeitung des Algerienkriegs verstetigte sich in Frankreich als Kollektivideal die Notwendigkeit der Etablierung ‚historischer Wahrheit‘. Dabei ist das Schreiben der ‚wahren‘ Geschichte des Algerienkriegs von emotionalen Diskursen geprägt, die die koloniale Wissensvermittlung als eine affektive ausweisen. Hierarchisierende Wissensordnungen entstehen, weil das affektiv wirkende Wissen über die kolonialen Vergangenheiten die Prozesse des Erinnerns und Vergessens bestimmen. Gesellschaftlich relevantes Wissen ist entsprechend an Gefühlswelten angebunden, in denen emotionale Diskurse eine spezifische Steuerungs- und Ordnungsfunktion erfüllen (vgl. Stoler 2002, 12). Diesen Mechanismus erinnerungspolitischer Aufarbeitung kolonialer Vergangenheiten habe ich in dieser Arbeit als Prozesse der affektiven Er- und Entinnerung gefasst.

12.1.3 ‚ Historische Wahrheit‘ vs. ‚koloniale Amnesie‘: Affizierte Er- und Entinnerungspraktiken Ausgehend von den Erkenntnissen der Emotionssoziologie und der historischen Emotionsforschung habe ich in dieser Arbeit versucht, die oft dichotome Gegenüberstellung von Emotionalität und Rationalität aufzulösen. Ziel war es, aufzuzeigen, auf welche Weise emotionale Diskurse die Etablierung postkolonialer Erinnerungspraktiken legitimieren oder delegitimieren. Emotionale Diskurse rationalisieren das gesellschaftlich anerkannte Wissen über die kolonialen Vergangenheiten und regulieren somit im Prozess einer affektiven Er- oder Entinnerung, welchen Vergangenheiten Erinnerungsrelevanz zugeschrieben wird (vgl. Robel 2013, 74). In Kapitel 9 habe ich am Beispiel der Repatriierung der ‚algerischen‘ Schädel zeigen können, wie diese affektiv entinnert werden, indem ihr Bestand in den musealen Sammlungen Frankreichs nicht im historischen Kontext der französischen Kolonialgeschichte und ihres entsprechenden Gewaltkontextes verortet werden. Mithilfe des von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann (2002, 618) vorgeschlagenen „überkreuzenden“ Vorgehens habe ich die Repatriierung ihres ‚ursprünglichen‘ Kontexts innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg enthoben und analytisch mit den Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Namibia ‚verflochten‘ (vgl. Friedman 2015, 70–71). Auf diese Weise konnte ich herausarbeiten, dass der Kolonialisierung Algeriens im 19. Jahrhundert sowie Frankreichs Beitrag zur kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘, die die europäische Kolonialexpansion beförderte, wenig mediale Beachtung zukam. Obwohl die historische Phase der kolonialen Expansion wissenschaftlich

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 455

erarbeitet ist, hat das vorhandene Wissen eine geringe Relevanz für die kollektive Wahrnehmung des französischen Kolonialismus. Folglich wird Frankreichs Kolonialgeschichte weiterhin als positiv besetzte ‚zivilisatorische Mission‘ in Übersee gepflegt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Unmöglichkeit einer französischen Entschuldigung für begangene Kolonialverbrechen, wie ich in Kapitel 11 als Reaktionen auf den Rapport sur les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie von Benjamin Stora (2021) rekonstruiert habe. Mithilfe der diskursanalytischen Methode konnte ich zeigen, auf welche Weise die französische Debatte durch den emotionalen Diskurs der repentance strukturiert ist. ‚Reue‘ und Entschuldigungen werden dabei zu einem Sinnzusammenhang verknüpft, der einer ‚sachlichen‘ Aufarbeitung des Algerienkriegs im Wege steht. Demgegenüber solle ‚Versöhnung‘ als Anerkennung historischer Verbrechen und folglich als Etablierung ‚historischer Wahrheit‘ realisiert werden, da nur auf diesem Wege die ‚schmerzhaften‘ Erinnerungen ‚befriedet‘ werden können. Im Widerspruch zu diesen diskursiven Rahmungen steht jedoch, dass der Algerienkrieg weiterhin als ‚historisches Trauma‘ perpetuiert wird, dessen affektive Leiderfahrung sich in den Nationalkörper einschreibt. In der Ausdeutung ‚historischer Wahrheit‘ ist außerdem zentral, dass die Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg nicht nur als franko-französische Debatte, sondern vor allem als eine franko-algerische geführt wird. Der emotionale Diskurs der repentance richtet sich machtpolitisch gegen jedwede Zugeständnisse, die gegenüber der ehemaligen Kolonie gemacht werden könnten. Deutlich wurde dies auch an der französischen Forderung nach réciprocité, sodass das Eingeständnis französischer ‚Schuld‘ an die Bedingung einer Aufarbeitung der algerischen Verbrechen geknüpft wird. Die emotionalen Diskurse der repentance und der ‚Reziprozität‘ dienen der Französischen Republik zum einen der Absicherung historischer Deutungshoheit gegenüber Algerien, um deren erinnerungspolitische Forderungen zurückzuweisen und Algerien als wirtschaftliches Einflussgebiet zu wahren. Zum anderen zielt die Etablierung ‚historischer Wahrheit‘ auf die Herstellung sozialer Kohäsion nach innen, indem die konstruierte Emotionalität des Erinnerns zur Gefahr für den sozialen Zusammenhalt der ‚Nation‘ wird. Die dichotome Gegenüberstellung von emotionalen Erinnerungen und rationaler Geschichtsschreibung marginalisiert dabei vor allem die erinnerungspolitischen Aktivitäten antirassistischer Initiativen. Die Widersprüchlichkeit zwischen emotionaler Anrufung von ‚Reue‘ und ‚Schmerz‘ bei gleichzeitiger Forderung nach ‚Versachlichung‘ beschrieben hier ein Zusammenspiel, in dem die Fortführung eines kohärenten récit national im Fokus steht. Die Ambivalenzen zwischen affektiver Er- und Entinnerung behinderten zudem eine kritische Aufarbeitung des Algerienkriegs und eine Neubewertung des französischen Kolonialismus in seiner Gesamtheit. Letztlich weisen die Ergebnisse der Diskursanalyse auf eine

456 

 Schlussbetrachtungen

Kontinuität, die die Kohärenz der französischen ‚Nation‘ in Abgrenzung von den ‚Anderen‘ zu bewahren sucht. Dass die frühe Kolonialexpansion mittlerweile thematisiert und Debatten um den Kolonialismus als Menschheitsverbrechen angestoßen wurden, deutet allerdings auf diskursive Verschiebungen, die Ausdruck des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses im Ringen um die Bewertung des französischen Kolonialismus sind. Im Kontext der erinnerungspolitischen Aufarbeitung des Völkermords an den OvaHerero und Nama lassen sich abweichende Mechanismen im Verhältnis zwischen affektiver Er- und Entinnerung ausmachen. Während in Frankreich ein „Zuviel“ an Erinnerungen diagnostiziert und der als emotional konstruierte zivilgesellschaftliche Erinnerungsaktivismus als Bedrohung des Zusammenhalts der Französischen Republik erachtet wird, fiel im deutschen Kontext die Benennung des Vergessen-Machens der kolonialen Vergangenheit auf. Die postkoloniale Gegenwart wird folglich mit dem Zustand einer „kolonialen Amnesie“ beschrieben, dessen rhetorische Feststellung vor allem in der wissenschaftlichen Literatur vorherrscht (vgl. Habermas 2019; Kößler und Melber 2018). Aufgrund der historischen Voraussetzungen wird die lange Ignoranz gegenüber den deutschen Kolonialverbrechen vor allem mit der Dominanz des Holocaust-Gedenkens begründet (vgl. Kap.  8). Allerdings ist es die diskursive Benennung des Vergessen-Machens, die als produktiver Moment einen Sagbarkeitsraum eröffnete, um die Erinnerung an den Genozid zu transformieren. Insbesondere in Kapitel 9 habe ich nachgewiesen, dass in der Auseinandersetzung um die Repatriierung menschlicher Gebeine sowohl historische wie erinnerungspolitische Kontinuitäten zum Holocaust hergestellt wurden. Fast ausnahmslos wurden die Repatriierungen menschlicher Gebeine nach Namibia in der Medienberichterstattung seit 2011 mit der kolonialanthropologischen ‚Rasseforschung‘ in Beziehung gesetzt und als Vorläufer der nationalsozialistischen Eugenik diskutiert. Im diachronen Verlauf zeigte sich dabei deutlich, auf welche Weise dem Genozid an den OvaHerero und Nama ein affektiver Platz in der öffentlichen Wahrnehmung zugesichert wurde. Medial setzt sich die von den Nachfahren der Opfergruppen geforderte Verknüpfung von Anerkennung, Reparation und Entschuldigung durch. In Anlehnung an die ‚erfolgreiche‘ Aufarbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen müsse die Aufarbeitung des Kolonialismus ähnlichen Maßstäben folgen, da Deutschland sonst Gefahr liefe, den eigenen erinnerungspolitischen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Die Verschiebung der moralischen Kollektivideale zeigt sich zum einen darin, dass das im Mai 2021 angekündigte „Versöhnungsabkommen“ bisher nicht unterzeichnet wurde, und zum anderen darin, dass seit Januar 2023 eine weitere Klage der OvaHerero gegen die namibische Regierung anhängig ist, mit der eine Neuverhandlung des Abkommens erwirkt werden soll. Auf welche Weise der wachsende zivilgesellschaftliche sowie mediale Druck auf die Bundesregierung zu weiteren erinnerungspolitischen Zugeständnissen führen wird, wird die Zukunft zeigen.

Transnationale Erinnerungen, verstrickte Emotionen? 

 457

Zusammenfassend lässt sich seit dem Beginn der „Restitutionsdebatte“ 2017/2018 sowohl für die französische als auch für die deutsche Medienberichterstattung ein allgemeiner Bedeutungszuwachs der Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit feststellen. In Frankreich wird die Initiierung erinnerungspolitischer Aktivitäten vor allem mit der Person Macrons verknüpft, der die Etablierung ‚historischer Wahrheit‘ zur Chefsache seiner Präsidentschaft erklärt hat. In Deutschland oszillieren die medialen Darstellungen zwischen einem weiterhin bestehenden Desinteresse am Kolonialismus und einem Ende des „Gedächtnisverlusts“ (Dieterich, 29.05.2021, FR, 13). Wesentlich ist dabei, dass die deutsche Berichterstattung den deutschen Kolonialismus stärker im europäischen Kontext verortet und zu den erinnerungspolitischen Entwicklungen in anderen Ländern in Beziehung setzt. Zudem ist die deutsche Berichterstattung durch eine thematische Erweiterung in der Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit gekennzeichnet. Neben dem Völkermord an den OvaHerero und Nama werden zunehmend weitere Kolonialverbrechen des Deutschen Reichs zum Gegenstand gemacht, wie etwa die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands von 1905 bis 1907 im ehemaligen „Deutsch-Ostafrika“. In Frankreich, auf der anderen Seite, wird die französische postkoloniale Erinnerungspolitik weiterhin im Kontext des ehemaligen französischen Kolonialreichs und im Verhältnis zu den früheren Kolonien begriffen. Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Algerien beschränkt sich wiederum nicht mehr ausschließlich auf die Kriegsgeschehnisse zwischen 1954 und 1962. Die koloniale Expansion Frankreichs wird stattdessen zunehmend in ihrer Globalität und in ihrer Relationalität zu anderen französischen Kolonien erfasst. In beiden Ländern haben globalgeschichtliche und postkoloniale Perspektiven eine mediale und gesellschaftliche Sichtbarkeit erreicht, durch die diskursive Sagbarkeitsräume entstanden sind, die eine Neubewertung der kolonialen Vergangenheiten ermöglichen können. Dass sich diese Neubewertung in Relation zu den Selbstverständnissen der jeweiligen ‚Nation‘ realisiert, habe ich in den Kapiteln dieser Arbeit herausgearbeitet.

 ie „Restitutionsdebatte“ als Schritt zu einer Transnationalisierung 12.1.4 D postkolonialer Aufarbeitung? Die seit 2017/2018 geführte „Restitutionsdebatte“ war für diese Arbeit von besonderer transnationaler Bedeutung, da sie die nationalstaatlichen Grenzen Deutschlands und Frankreichs überschritt und folglich eine empirische Relationierung bewirkte. Schließlich haben die Diskussionen über die Rückführung kolonialer Sammlungsbestände zu einer Verflechtung der deutschen und französischen Auseinandersetzungen beigetragen und somit der kolonialen Vergangenheit auch

458 

 Schlussbetrachtungen

im europäischen Kontext zu mehr Sichtbarkeit verholfen. Zum Abschluss werde ich daher die postkolonialen Erinnerungspolitiken Deutschlands und Frankreichs vor dem Hintergrund der europaweit geführten „Restitutionsdebatte“ im Wechselspiel nationaler Selbstvergewisserung und transnationaler Tendenzen beleuchten. Die Diskursanalyse hat gezeigt, dass das jeweilige nationalstaatliche Erinnerungshandeln weiterhin die Debatten um die Restitution kolonialer Objekte bestimmt. Allerdings resultierten aus ihr wie bei keinem anderen in dieser Arbeit behandelten Gegenstand direkte politische Konsequenzen für den deutschen Umgang mit Sammlungsgütern. Dabei hatte sich Macrons Rede in Ouagadougou im Jahr 2017 sowie der Restitutionsbericht (vgl. Sarr und Savoy 2018) ausschließlich auf den französischen Kontext bezogen. In Kapitel 10 habe ich rekonstruiert, wie der Restitutionsbericht und vor allem auch Macrons erinnerungspolitisches Handeln als Vorbild eines progressiven Umgangs mit den kolonialen Sammlungsbeständen in Deutschland konstruiert wird. Transnational agierende Akteur:innen wie die in Berlin lehrende Verfasserin des Restitutionsberichts, Bénédicte Savoy, oder der medial in Frankreich und Deutschland präsente Politikwissenschaftler Achille Mbembe erhöhen mit ihren Beiträgen die Relevanz der Auseinandersetzung. Drei Monate nach der Veröffentlichung des Berichts wurden die WitbooiBibel und Peitsche nach Namibia restituiert, obwohl Rückgabeforderungen dem Land Baden-Württemberg schon seit 2013 vorlagen. Im März 2019 folgt die Verpflichtungserklärung von Bund und Ländern, die im sogenannten „Eckpunktepapier“ verabschiedet wird. Im direkten Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich wurden bisher mehr Objekte aus den deutschen Sammlungen restituiert als aus den französischen. Zum einen liegt dies an einer weniger restriktiven und konsistenten Gesetzgebung in Deutschland, während die französische die Unveräußerlichkeit des französischen Kulturerbes sichert. Zudem erwies sich auch der deutsche Föderalismus als dynamischer in der Reaktion auf Rückgabegesuche, die aus vormals kolonialisierten Ländern an die Institutionen gerichtet worden sind. Gleichzeitig zeugt die Einrichtung des Förderbereichs „Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ am Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) von einer politischen Willensbekundung, die sich für Frankreich bisher nicht behaupten ließ (vgl. Deutsches Zentrum Kulturgutverluste 2021a). Wiederholt stellten die Erfahrungen im Umgang mit der Restitution von während des Nationalsozialismus enteigneter Kunst ein Repertoire an Praktiken bereit, auf die im Zuge der Ausgestaltung kolonialer Provenienzforschung zurückgegriffen werden konnte. Schließlich zeigte sich auch in der „Restitutionsdebatte“ das renationalisierende Potenzial transnationaler Bezugnahmen. Zudem konnten affektive Gefühlszustände aufgedeckt werden, die als transnationale emotionale Diskurse die deutschen und französischen Debatten bestimm-

Grenzen der Arbeit und Forschungsperspektiven 

 459

ten. Denn mit der Veröffentlichung des Restitutionsberichts ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der es unmöglich macht, die Rückgabeforderungen afrikanischer Länder weiterhin zu ignorieren. Savoy hat für die „Restitutionsdebatte“ der 1970er und 1980er Jahre nachgewiesen, dass eine emotionale ‚Versachlichung‘ erreicht werden konnte, mit der Rückgabeforderungen aus dem Globalen Süden delegitimiert wurden. ‚Westliche Rationalität‘ wurde dabei in Opposition zu einem ‚emotionalisierten Nationalismus‘ der ehemals Kolonialisierten gestellt. Dieser emotionale Diskurs, der die Universalität der westlichen Museumsbestände behauptete, um deren Verbleib in den europäischen Museen zu rechtfertigen, transformierte sich grundlegend mit der „Restitutionsdebatte“. Und dennoch wirken die emotionalen Diskurse als transnationale Gefühlszustände in den französischen und deutschen Debatten fort. Neben der weiterhin behaupteten eurozentrischen Universalität des westlichen Museums speist sich der affektive Zustand vor allem aus der ‚Angst‘ vor dem Verlust des europäischen Kulturerbes. Um dies zu verhindern, werden rational-legalistische Argumente ins Feld geführt, um die als emotional konstruierten Rückgabeforderungen zu diskreditieren. Das Erlangen emotionaler Deutungshoheit zeigt sich hier als eine Ressource in der Herstellung von Legitimität bzw. Illegitimität der Rückforderungen afrikanischer Länder. Im Gegensatz jedoch zu den Debatten der 1970er und 1980er Jahre artikulierte sich in den Medien die moralische Verpflichtung, koloniales Sammlungsgut zurückzugeben – wobei die Klärung des ‚rechtmäßigen‘ Erwerbs nicht mehr zwingend handlungsbestimmende Prämisse ist. Legalistische Argumente werden somit zunehmend ausgehebelt und ein neuer Ermessensspielraum eröffnet, in dem neue Erinnerungspraktiken zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit möglich werden. Dieser Befund spiegelt sich insbesondere in der Medienberichterstattung wider, die in beiden Ländern zu dem Schluss kommt, dass die ‚Phase des Beschweigens‘ der kolonialen Vergangenheit in Europa zu einem Ende gekommen ist. Trotz aller Unterschiedlichkeit in den deutschen und französischen postkolonialen Erinnerungspolitiken besteht Einigkeit darin, dass aus der Anerkennung der kolonialen Vergangenheiten auch politisches Handeln folgen muss.

12.2 Grenzen der Arbeit und Forschungsperspektiven In der vorliegenden Arbeit wurde mit Transnationalität die Zirkulation von Vergangenheitsrepräsentationen und Erinnerungspraktiken verstanden, die grenzüberschreitend affektives Wissen über den Kolonialismus verbreiten und erinnerungspolitische Standards und Normen vermittelten (vgl. De Cesari und Rigney 2014). Dabei habe ich hervorgehoben, dass der transnationale Diskursraum gleichzeitig als Interaktionsraum zwischen dem Globalen, dem Nationalen und

460 

 Schlussbetrachtungen

dem Lokalen verstanden werden muss. Abschließend möchte ich drei Forschungsperspektiven anregen, die sich aus den Ergebnissen dieser Arbeit ergeben und die gleichzeitig auch die Begrenzung des hier entwickelten Forschungszuschnitts verdeutlichen. Erstens schlage ich vor, neben der globalen und der nationalen Ebene die lokale Ebene stärker in den Blick zu nehmen. Zweitens könnte die Forschungsperspektive in Richtung Rezeptionsforschung und methodisch als teilnehmende Beobachtung ausgedehnt werden, um Museen als Produktionsorte dominanter Geschichtserzählungen zu betrachten. Drittens birgt insbesondere die Analyse audiovisueller Quellen einen zentralen Zugang, um die Affizierung postkolonialer Erinnerungspolitiken nachvollziehen zu können. In der Analyse deutscher Erinnerungspolitik hat sich hinsichtlich der ab 2018 aufkommenden „Restitutionsdebatte“ die Wichtigkeit einer lokalen Perspektive bestätigt, da die Bundespolitik nur begrenzte Interventionsmöglichkeiten in die Kulturpolitiken der jeweiligen Bundesländer hat. Entsprechend waren es oft einzelne Forschungsinstitute oder Museen, die die Initiative zur Restitution von kolonialen Artefakten (z. B. die Witbooi-Peitsche und Bibel aus dem LindenMuseum Stuttgart) bzw. der Repatriierung menschlicher Gebeine vorangetrieben haben (z.  B. Humain Remains-Projekt der Charité Berlin). Aus diesem Grund bieten die vielen lokalen Decolonize-Initiativen einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Forschungsvorhaben, um zivilgesellschaftliches Erinnerungsengagement zu analysieren. Exemplarisch sind hier vor allem die Initiativen verschiedener Berliner Akteur:innen zu nennen, deren Engagement zur Erarbeitung eines gesamtstädtischen Konzepts zum Umgang mit der kolonialen Vergangenheit der Stadt Berlin führte („Dekoloniale – Erinnerungskultur in der Stadt, dekoloniale.de, 22.10.2021). „Decolonize Berlin“ war nicht nur Vorbild für die Entstehung weiterer postkolonialer Projekte in Deutschland, zentrale Akteur:innen des Berliner Zusammenschlusses prägten auch die bundesdeutschen Debatten zu Aufarbeitung des Kolonialismus, wie etwa Berlin Postkolonial e. V. oder das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Und auch in Frankreich wurde aufgrund lokaler Initiativen wie etwa durch postkoloniale Erweiterungen der Dauerausstellung des Museums in Bordeaux ab 2009 Aufmerksamkeit für die koloniale Vergangenheit erzeugt (vgl. Mémoire de l’esclavage et de la traite négrière 2021). Vor allem mit den globalen antirassistischen Protesten seit Mai 2020 ist auch in Frankreich eine neue Sensibilität für die städtischen Spuren der französischen Kolonialexpansion entstanden (vgl. „À travers la statue vandalisée de Colbert, la France s’interroge sur son passé esclavagiste“, 25.06.2020, courrierinternational. com), die als Ausdruck einer möglichen Transnationalisierung des Erinnerungsaktivismus untersucht werden kann. Eine stärkere Beleuchtung lokaler Initiativen führt außerdem zur Bedeutung von Museumsausstellungen in der Vermittlung affektiven Wissens über den Kolo-

Grenzen der Arbeit und Forschungsperspektiven 

 461

nialismus. Zwar habe ich den Ausstellungskatalog Le premier génocide du XXième siècle des Mémorial de la Shoah in meine Analyse einbezogen und außerdem die Bedeutung der ersten bundesweit wahrgenommenen Ausstellung über den deutschen Kolonialismus des Deutschen Historischen Museums (DHM) hervorgehoben. In meiner diskursanalytischen Betrachtung habe ich mich allerdings vordergründig auf die mediale Rezeption der beiden Ausstellungen konzentriert. Dabei ist das Museum eine machtvolle Institution, in der Vergangenheitsversionen entworfen und einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Als oftmals staatlich finanzierte Einrichtungen müssen die dort entwickelten Erinnerungsnarrative als offizielle Lesarten der Geschichte betrachtet werden. Ihnen kommt somit eine Erziehungs- und Bildungsfunktion zu, die der Zivilisierung der Moral und des Verhaltens dienen (vgl. Rose 2012, 229). Das Museum bildet einen Erfahrungsraum, in dem die Repräsentationen der Vergangenheit mit gegenwärtiger Bedeutung versehen werden, wodurch sie den dominant gewordenen historischen Narrativen Anerkennung verschaffen (vgl. Chakrabarty 2007, 81). Um die Affizierung der historischen Erzählungen analysieren zu können, ist nicht nur eine Auswertung der Ausstellungskataloge bedeutsam, sondern auch eine Betrachtung der Auswahl und Anordnung der Exponate sowie die Reaktion der Besucher:innen. In diesem Sinn könnte die Bedeutung emotionaler Diskurse und Ordnungen für die Frage nach der Zuweisung eines legitimen Platzes der kolonialen Vergangenheit stärker mit ethnografischen Forschungsmethoden (z.  B. durch teilnehmende Beobachtung), der Rezeptionsforschung oder Oral-HistoryMethoden verknüpft werden. Zuletzt möchte ich als dritte denkbare Erweiterung der Forschungsperspektive die Analyse audiovisueller Materialien anregen. Denn nicht nur Texte, sondern auch Bilder produzieren gesellschaftliche Vorstellungen sozialer Wirklichkeit, die als visuelle Materialien ebenso diskursiv hergestellt und verstetigt werden (vgl. Rose 2012, 188–192). Aufgrund ihrer massenmedialen Verbreitung transportieren Fernsehdokumentationen sowie Spielfilme Vorstellungen ‚historischer Wahrheit‘ in der Gegenwart. Ihr audiovisueller Charakter auf der anderen Seite eröffnet einen weiteren Blickwinkel auf die unterschiedlichen Medialitäten in der Affizierung kolonialer Vergangenheitsrepräsentationen. In den methodischen Ausführungen hatte ich beispielsweise die Bedeutung des Senders arte als transnationales Medium hervorgehoben, um die Zirkulation und Vermittlung kolonialer Vergangenheitsrepräsentationen untersuchen zu können. Emotionen und Affekte sind keine Marginalien in den postkolonialen Aushandlungsprozessen anerkannter Vergangenheitsverständnisse. Vielmehr erfahren koloniale Vergangenheiten erst dann Bedeutung in der Gegenwart, wenn sie für diese affiziert wurden. Emotionale Diskurse strukturieren die Bedingungen, unter denen moralische Kollektivideale hergestellt werden und aus denen sich die

462 

 Schlussbetrachtungen

Verpflichtung zur Aufarbeitung ableitet. Durch das Prisma postkolonialer Denktraditionen auf deutsche und französische Erinnerungspolitiken zu blicken, eröffnete einen Möglichkeitsraum, um den westlichen Umgang mit dem Kolonialismus zu provinzialisieren. So wurden nicht nur die Momente affizierter Entinnerung der kolonialen Vergangenheiten sichtbar gemacht. Vor allem im transnationalen Vergleich wurde die erinnerungspolitische Chronologie einer voranschreitenden Aufarbeitung gebrochen, indem die postkolonialen Erinnerungspolitiken Deutschlands und Frankreichs ihres ‚Ursprungskontexts‘ enthoben wurden und in ihren Verstrickungen neue Perspektiven auf die Untersuchungsgegenstände zuließen. Gleichzeitig bietet der Vergleich die Gelegenheit, globale Erinnerungsphänomene im Wechselspiel mit dem nationalstaatlichen Erinnerungshandeln betrachten zu können. Als eine „nicht-lineare [emotionale, Anm. S. R.] Genealogie“ ließe sich mit Stoler (2002, 160) die Gleichzeitigkeit beschreiben, mit der sich zum einen Transnationalisierungsprozesse vollzogen haben und zum anderen koloniale Vergangenheiten als vordergründig ‚nationale‘ Geschichten geschrieben wurden. Die Bedeutung von Emotionen als Ausdruck von Machtverhältnissen offenbart sich nicht nur in den Prozessen zur Herstellung legitimen Wissens über die Vergangenheit bzw. in der Zuschreibung von Erinnerungsrelevanz. Emotionen zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, trägt schließlich auch zu einer Provinzialisierung der Grundlagen westlicher Wissensproduktion bei, indem beispielsweise ein ‚rational‘ begründeter Universalismusanspruch infrage gestellt wird. Die Prozesse der Affizierung kolonialer Vergangenheiten als Ausdruck bestehender Machtverhältnisse zu verstehen, macht es folglich möglich, Europa zu provinzialisieren und in der postkolonialen Gegenwart zu situieren.

Literaturverzeichnis Zeitungsartikel Acacio, Pereira. „Guerre d’Algerie: la memoire entre justice et archives“. Le Monde (5. Februar 1999). Albert, Jean-Marc. „Affaire Boumendjel: ‚Emmanuel Macron n’en fera jamais assez aux yeux du pouvoir algérien‘“. lefigaro.fr (8. März 2021). Alimi, Jannick, und Henri Vernet. „‚Réconcilier la France avec son histoire‘: Entretien avec Benjamin Stora“. Aujourd’hui en France (21. Januar 2021): 8–9. Altwegg, Jürg. „Ein Totem des afrikanischen Leidens?“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (4. Dezember 2018): 9. Altwegg, Jürg. „Die Büchse der Pandora ist geöffnet“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (26. November 2018): 11. Altwegg, Jürg. „Kontinent ohne Kultur“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (23. November 2018): 11. Arab, Hamid. „Les autorités algériennes indifférentes au sort des restes mortuaires de nos résistants“. lematindalgerie.com (2. Juli 2020 [7. Juli 2011]). Arroudj, Adam. „L’Algérie récupère les crânes de ses combattants gardés au Musée de l’homme“. Le Figaro (3. Juli 2020): 10. Aude, Lancelin. „Guerre d’Algérie: la fin d’un non-lieu“. L’Express (24. Juni 1999): 30. Aust, Stefan, und Detlev Konnerth. „Keine Wiedergutmachung? Dann müssen wir das selbst ausgleichen“. WELT online (12. März 2018). Azimi, Roxana. „Trois lois-cadres sur les Restitutions seront soumises au vote du Parlement en 2023“. Le Monde (17. Januar 2023): 20. Azimi, Roxana. „Comment chercheurs et musées enquêtent sur l’origine des objets pillés en Afrique“. lemonde.fr (29. April 2021). Bacqué, Raphaëlle, Nathalie Ianetta und Stéphane Paoli. „François Bayrou : ‚Ce n’est pas au président de changer les programmes scolaires‘“. lemonde.fr (13. Mai 2008). Bacque, Raphaelle. „La guerre d’Algérie n’est plus une ‚guerre sans nom‘“. Le Monde (11. Juni 1999): 40. Bahners, Patrick. „Forschung muss sein: Zum Kolonialismus erklären sich die Minister sachlich“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. März 2019): 11. Bahners, Patrick. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit?“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (11. März 2019): 9. Bahners, Patrick. „Sie glauben an ihre Sendung“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (22. Januar 2019): 13. Balmer, Rudolf. „Debatte über ‚Islamo-Gauchismo‘ in Frankreich: Der Feind steht in der Uni“. taz.de (27. Februar 2021). Barotte, Nicolas. „Le génocide oublié des Hereros“. Le Figaro (07. Dezember 2016): 16. Bart, Virginia. „En mémoire des Hereros et des Namas“. Le Monde (27. März 2015): 6. Bat, Jean-Pierre. „Le génocide des Herero et des Nama au Mémorial de la Shoah“. libération.fr (26. Februar 2017). Beis, Elena. „‚Immer noch eine offene Wunde‘: Interview mit Joachim Zeller“. taz.de (30. September 2011a). Beis, Elena. „Kein Wort der Anerkennung“. taz (30. September 2011b.): 3. Berdah, Arthur. „Macron relance le débat mémoriel“. Le Figaro (14. September 2018): 2. https://doi.org/10.1515/9783111018683-013

464 

 Literaturverzeichnis

Berdah, Arthur. „Macron veut réconcilier sans céder à la repentance“. Le Figaro (21. Januar 2021): 10. Berg, Anna Lea. „Schädelstätten“. Süddeutsche Zeitung (02. August 2017): 10. Berger, Sebastian. „Der Preis der Schuld: Afrikanische Staaten fordern von den einstigen Kolonialmächten Entschädigung für die Sklaverei“. Süddeutsche Zeitung (29. August 2001): 10. Bernard, Philippe. „‚Le principal responsable, c’est le FLN, qui a les a trompés et les a massacrés‘“. Le Monde (25. September 2001): 22. Bernard, Philippe. „La communauté harkie demande à la justice de reconnaître son drame de 1962“. Le Monde (9. Juni 2001): 9. Bernard, Philippe. „Le guet-apens de la ‚repentance‘“. Le Monde (8. Februar 2021): 31. Bersali, Asma. „Restitution des crânes de résistants: Forte Émotion“. elwatan.com (5. Juli 2020). Bischoff, Katrin. „Herero und Nama erhalten Gebeine“. Frankfurter Rundschau 74 (28. August 2018): 5. Bittdorf, Susanne. „Fischer verspricht Namibia Hilfe: Außenminister bekennt sich zur Kolonialgeschichte, lehnt aber Entschuldigung Ab“. Süddeutsche Zeitung (30. Oktober 2003): 7. Bittdorf, Susanne. „Die Herero hoffen auf deutsche Milliarden: Minderheitsvolk in Namibia rechnet spätestens Anfang April mit Prozessauftakt in USA“. Süddeutsche Zeitung (24. Januar 2003): 9. Bobin, Frédéric, und Mustapha Kessous. „Le ‚demi-pas‘ mémoriel de Macron sur le massacre du 17 octobre 1961“. lemonde.fr (18. Oktober 2021). Bobin, Frédéric, und Olivier Faye. „France-Algérie: des pistes pour une réconciliation“. Le Monde (21. Januar 2021): 12. Bobin, Frédéric, und Piotr Smolar. „La mémoire, pièce du puzzle diplomatique entre Paris et Alger“. Le Monde (21. Januar 2021): 12. Bobin, Frédéric, und Yves Bordenave. „La double bataille des archives“. Le Monde (22. Januar 2021): 6. Bobin, Frédéric. „Le kaléidoscope mémoriel d’Emmanuel Macron“. Le Monde (17. März 2022): 12. Bobin, Frédéric. „En ‚facilitant‘ l’accès aux archives de la guerre d’Algérie, Macron poursuit sa politique des ‚petits pas‘ sur la réconciliation mémorielle“. lemonde.fr (9. März 2021). Bobin, Frédéric. „En Algérie, une fronde pour l’accès aux archives“. Le Monde (31. März 2021): 4. Bobin, Frédéric. „‚Les Algériens veulent connaître la vérité sur leur propre histoire‘: Entretien avec Benjamin Stora“. Le Monde (19. Februar 2021a): 3. Bobin, Frédéric. „Pour Alger, le rapport Stora est ‚en deçà des attentes‘“. Le Monde (19. Februar 2021b): 3. Bobin, Frédéric. „En finir avec la guerre des mémoires“. Le Monde (Afrique) (22. Januar 2021): 1–3. Bobin, Frédéric. „‚L’Algérie réclame la Restitution intégrale des archives originales ramenées en France après 1962‘“. lemonde.fr (28. Dezember 2020). Bobin, Frédéric. „France-Algérie : ‚Les archives coloniales relèvent d’un patrimoine commun‘“. lemonde.fr (10. August 2020). Bobin, Frédéric. „Entre Paris et Alger, l’espoir d’un ‚apaisement‘ des mémoires“. Le Monde (31. Juli 2020): 2.

Zeitungsartikel 

 465

Boek, Julia, und David Oliveira. „‚Als Herero habe ich gelernt, immer gerade zu laufen‘“. taz (1. Juli 2017): 54–55. Boiteau, Victor. „France-Algérie : la ‚nécessaire réconciliation‘“. Libération (20. Januar 2021): 17. Boiteau, Victor. „Entre France et Algérie, l’espoir d’une mémoire apaisée“. Libération (21. Januar 2021): 12–13. Bommarius, Christian. „Kolonialismus und Doppelmoral“. Frankfurter Rundschau (8. Juli 2015): 11. Bommarius, Christian. „Macht die Türen auf“. Frankfurter Rundschau (17. Juni 2015): 11. Bommarius, Christian. „Geleugnete Genozide“. Frankfurter Rundschau (14. April 2015): 13. Bommarius, Christian. „Ach, Afrika“. Frankfurter Rundschau (28. Februar 2015): 11. Bommelaer, Claire, und Eric Biétry-Rivierre. „Œuvres d’art africaines: ‚Il y a d’autres voies que celle de la Restitution‘“. lefigaro.fr (25. November 2018). Bommelaer, Claire, und Eric Biétry-Rivierre. „Des Restitutions en guise de réparation“. Le Figaro (7. Dezember 2017): 32. Bommelaer, Claire. „Le rapport Martinez sur la Restitution d’œuvres d’art africaines veut ‚sortir de la repentance‘“. lefigaro.fr (26. April 2023). Bommelaer, Claire. „Restitutions d’œuvres africaines: ‚Il n’est pas question de vider les grands musées‘: Entretien avec Bénédicte Savoy“. lefigaro.fr (3. Juni 2018). Bonnefous, Bastien, und Charlotte Bozonnet. „En Algérie, Macron veut ‚tourner la page du passé‘“. Le Monde (8. Dezember 2017): 6. Bretton, Laure, und Dominique Albertini. „Mort de Maurice Audin: Macron reconnaît la ‚torture‘“. Libération (14. September 2018): 12. Briegleb, Till. „Triumph der gezielten Lügen“. Süddeutsche Zeitung (26. März 2021): 11. Bröll, Claudia. „UN-Berichterstatter fordern Reparationen von Deutschland“. faz.net (26. April 2023). Bröll, Claudia. „Sie sind nicht zufrieden“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. Juni 2021): 4. Bröll, Claudia, und Friederike Haupt. „Kein Schlussstrich, sondern ein Beginn“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (29. Mai 2021): 2. Brössler, Daniel. „‚Sie wurden erschossen, erhängt, verbrannt‘: Kolonialismus-Erklärung“. Süddeutsche.de (1. Juni 2021). Buchter, Heike. „‚Nicht länger ohne uns!‘“. Die Zeit (11. Januar 2018): 19. Calvet, Catherine, und Guillaume Lecaplain. „Vers une remise en Etats des oeuvres africaines“. Libération (21. November 2018): 2. Caramel, Laurence. „Le trésor de Béhanzin et le sabre d’Oumar Tall appartiennent de nouveau aux Africains“. lemonde.fr (17. Dezember 2020). Chambon, Eric. „Des Harkis déposent une plainte pour crimes contre l’humanité“. Le Monde (31. August 2001): 7. Chatain, Jean. „‚Tout Herero aperçu à l’intérieur des frontières allemandes sera abattu‘“. l’humanité.fr (23. Oktober 2015). Clarini, Julie. „Quels choix politiques pour les archives françaises?: Trois questions à Raphaëlle Branche, professeure d’histoire contemporaine“. Le Monde (16. Dezember 2017): 5. Cohen, Jean. „Appel aux réfugiés“. Le Monde (8. Juni 1962). Collectif d’historiens. „‚Nous dénonçons une restriction sans précédent de l’accès aux archives contemporaines de la nation“. Le Monde (14. Februar 2020): 23. Collectif. „Nous, filles et femmes de Harkis, récusons le rapport Stora sur la guerre d’Algérie: Tribune“. Le Figaro (28. Januar 2021): 16.

466 

 Literaturverzeichnis

Collectif. „Les têtes des résistants algériens n‘ont rien à faire au Musée de l’homme“. Le Monde (11. Juni 2016): 26. Dagen, Philippe. „Restitutions au Bénin: des œuvres à valeur historique“. Le Monde (3. Dezember 2018): 17. Dagen, Philippe. „Art africain: La France coloniale au rapport“. Le Monde (22. November 2018): 16. Das Gupta, Oliver, und Paul Munzinger. „Wie Deutschland langsam seine Kolonialgeschichte aufarbeitet“. Süddeutsche.de (9. Juli 2015). Delage, Juliette. „Au Rwanda, Emmanuel Macron reconnaît la responsabilité française“. libération.fr (27. Mai 2021). Denz, Christina. „Debatten um Schädelsammlungen: Verein ‚Berlin Postkolonial‘ fordert die Rückgabe von eingelagerten Gebeinen“. Neues Deutschland 73 (6. Februar 2018): 12. Didelot, Nelly. „Arts africains spolié: même débat à Berlin, Londres et Bruxelles“. Libération (21. November 2018): 5. Dieterich, Johannes. „Neue Ära“. Frankfurter Rundschau (29. Mai 2021): 13. Djorkaeff, Angelica, und Camille Martineau. „L’Allemagne prévoit des excuses pour un ‚génocide‘ en Namibie“. lefigaro.fr (21. Juli 2016). Dörries, Bernd. „Ein weiter Weg: Kommentar“. Süddeutsche Zeitung (28. Mai 2021a): 4. Dörries, Bernd. „Eingeständnis eines Verbrechens: Meinung“. Süddeutsche.de (28. Mai 2021b). Eckert, Lena. „Herero-Schädel im Medizinmuseum“. taz (21. April 2017): 26. Eveleens, Ilona. „Unter Ausschluss der Betroffenen“. taz (14. Juli 2016): 2. Ewald, Kerstin. „Keine Reparationen an Herero“. nd-aktuell.de (17. Februar 2016). Fabius, Laurant. „Trente-sept ans après les accords d’Evian; Il y a bien eu une guerre d’Algérie“. lefigaro.fr (11. Juni 1999). Fanizadeh, Andreas. „Restitution als Chance“. taz (9. März 2019): 12–13. Fanizadeh, Andreas. „Von Gebeinen und Leichen im Keller“. taz (17./18. November 2018): 16. Fauth, Lea. „Womit haben wir das verdient?“. Neues Deutschland (30. August 2018): 7. Flandrin, Antoine. „Guerre de tranchées sur l’accès aux archives“. Le Monde (20. Februar 2021): 24. Flandrin, Antoine. „Herero et Nama, premier génocide du XXe siècle“. lemonde.fr (25. November 2016). Fressoz, Françoise. „Le président et le poison de la guerre d’Algérie“. Le Monde (14. September 2018): 9. Gauron, Roland. „Maurice Audin: le flou subsiste sur les circonstances de sa mort“. lefigaro.fr (13. September 2018). Gißibl, Bernard. „Raubkunst: Die nächste Debatte“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (24. April 2017): 15. Goldnadel, Gilles William. „‚La repentance unilatérale de la France relève d’un dangereux masochisme‘“. lefigaro.fr (08. März 2021). Gombeaud, Adrien. „Hereros, la mémoire d’un peuple massacré“. lefigaro.fr (9. Juni 2017). Goubert, Guillaume. „Mémoires et vérités“. La Croix (21. Januar 2021): 1. Grosjean, Blandine. „Paroles de députés, ex-troufions marqués ‚à vie‘. Les anciens d’Algérie sont souvent gênés d’en parler. La proposition de loi les libère“. Libération (10. Juni 1999): 20–21. Grosjean, Blandine. „La France reconnaît qu’elle a fait la ‚guerre‘ en Algérie“. Libération (10. Juni 1999): 20–21.

Zeitungsartikel 

 467

Grütters, Monika, und Michelle Müntefering. „Eine Lücke in unserem Gedächtnis“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. Dezember 2018): 11. Gutmair, Ulrich. „Zirkulation oder Rückgabe?“. taz (16. Januar 2019): 15. Gutmair, Ulrich. „Museale Subjekte“. taz (26. November 2018): 16. Hackenbruch, Felix. „‚Das konstituiert Völkermord‘“. taz.de (14. Juli 2016). Hamdi, Rania. „Pour Alger, une réconciliation sous conditions“. Libération (21. Januar 2021): 12–13. Hamoumou, Mohand. „La France face aux Harkis : après la reconnaissance, la réparation?“. le figaro.fr (25. September 2018). Häntzschel, Jörg. „Ein mutiger Schritt“. Süddeutsche.de (15. Oktober 2021). Häntzschel, Jörg. „Simulierte Aufarbeitung“. Süddeutsche Zeitung (17. Mai 2019): 10. Häntzschel, Jörg. „Konkurrenz des Unrechts: Deutschland verpflichtet sich als erstes europäisches Land zur Rückgabe kolonialer Raubkunst“. Süddeutsche Zeitung (15. März 2019): 13. Häntzschel, Jörg. „Begründete Zweifel“. Süddeutsche Zeitung (13. März 2019): 15. Häntzschel, Jörg. „Gebremst engagiert“. Süddeutsche Zeitung (12. Februar 2019): 9. Häntzschel, Jörg. „Markanter Schritt: Die Bundesregierung positioniert sich zur globalen Debatte um die Restitution kolonialer Raubkunst“. Süddeutsche Zeitung (17. Dezember 2018): 11. Häntzschel, Jörg. „Die Vertröstungen der Wissenschaft“. Süddeutsche Zeitung (15. Dezember 2018): 11. Häntzschel, Jörg. „Macron handelt, Deutschland redet“. Süddeutsche Zeitung (24. November 2018): 17. Häntzschel, Jörg. „Gebt alles zurück!: Im Streit um die koloniale Raubkunst leitet Frankreich eine Zeitenwende ein“. Süddeutsche Zeitung (22. November 2018): 13.Häntzschel, Jörg. „‚Das Humboldt Forum ist wie Tschernobyl‘: Interview mit Bénédicte Savoy“. Süddeutsche. de (20. Juli 2017). Hassoux, Didier. „‚Faut-il reconnaître la guerre d’Algérie?‘ – ‚Oui, c’est ce que nous avons vécu sur le terrain‘: Entretien avec Wladyslas Marek, président de la Fédération Nationale des anciens combattants d’Algérie (FNACA)“. La Croix (10. Juni 1999): 3. Heinemann, Patrick. „Die Grenzen des Rechts“. faz.net (31. Dezember 2019). Henry, Michel. „Les fils de Harkis s’interrogent. La seconde génération réagit au dépôt de la plainte“. Libération (30. August 2001a): 4. Henry, Michel. „‚Leur histoire n‘a pas été dite‘“. Libération (30. August 2001b): 3. Hershkovitch, Corinne. „‚La Restitution annoncée de 26 objets au Bénin s’inscrit dans un processus de revendication aussi exemplaire que nécessaire‘“. lemonde.fr (28. November 2018). Hintze, Rolf-Henning. „Eklat bei Schädelübergabe: Staatsministerin brüskiert namibische Delegation“. Neues Deutschland 66 (4. Oktober 2011): 6. Hintze, Rolf-Henning. „Mahner für die Wiedergutmachung“. Neues Deutschland 69: 10. Hofstein, Cyril. 21.09.2018. „Boaza Gasmi, pour l’honneur des Harkis“. lefigaro.fr (17. Juni 2014). Huesmann, Felix. „Namibia hätte lieber Reparationen“. Frankfurter Rundschau (29. Mai 2021): 7. Ihrig, Stefan. „Reconnaître le génocide des Arméniens ne suffira pas“. Le Monde (9. Juni 2016): 22.

468 

 Literaturverzeichnis

Jaigu, Charles. „Faut-il rendre les oeuvres d’art à nos anciennes colonies?“. lefigaro.fr (7. Dezember 2018). Johnson, Dominic. „Covid-19 rafft Namibias Herero-Führer dahin: Aufreger“. taz (29. Juni 2021): 10. Johnson, Dominic. „‚Erster Schritt‘ stößt auf Kritik“. taz (29./30. Mai 2021): 7. Johnson, Dominic. „Die Mörder sind unter uns: Meinung“. taz (15. März 2021): 12. Johnson, Dominic. „Das Ende der Geduld“. taz (9. Juli 2015): 4. Johnson, Dominic. „Keine Anerkennung: Über die Rückgabe von Herero-Gebeinen“. taz (30. September 2011): 12. Johnson, Dominic, und Elena Beis. „Bis auf die Knochen blamiert“. taz (1. Oktober 2011): 7. Juompan-Yakam, Clarisse. „Sexe, race et colonies! Les crimes tabous de la colonisation“. JeuneAfrique.com (5. November 2018). Kane, Coumba. „‚Les relations entre l’Afrique et la France arrivent à la fin d’un cycle‘: Entretien avec Achille Mbembe“. Le Monde (15. Juni 2021): 31. Käppner, Joachim. „Deutschlands erster Völkermord“. Süddeutsche Zeitung (5. Juli 2016): 4. Karich, Swantje. „Auch in Deutschland ist bei der Aufarbeitung ein großer Sprung möglich: Meinung“. WELT online (13. März 2019). Karich, Swantje. „Deutschland bleibt sich treu: Kommentar“. Die WELT (30. November 2018): 21. Kellerhoff, Sven Felix. „‚Der Rassenkampf ist nur durch Vernichtung abzuschließen‘“. WELT online (28. Mai 2021). Kellerhoff, Sven Felix. „Massaker ist noch ein harmloses Wort“. WELT online (14. Oktober 2016). Kessous, Mustapha, Élise Vincent und Madjid Zerrouky. „Paris-Alger: la diplomatie de la discorde“. Le Monde (23. Oktober 2021): 2. Kessous, Mustapha. „Le dialogue inédit entre Emmanuel Macron et les ‚petits-enfants‘ de la guerre d’Algérie“. lemonde.fr (2. Oktober 2021). Kessous, Mustapha. „Macron demande pardon aux Harkis“. Le Monde (22. September 2021): 12. Kessous, Mustapha, und Madjid Zerrouky. „Imbroglio autour de crânes restitués“. Le Monde (22. Oktober 2022): 3. Kilb, Andreas, und Stefan Trinks. „War Humboldt Kolonialist?“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. Januar 2019): 11. Kimmerle, Elisabeth. „Rückgabe von Gebeinen aus Kolonialzeit: Die Schuldfrage“. taz.de (28. August 2018). Kimmerle, Elisabeth. „‚Die Restitution ist erst der Anfang‘“. taz.de (29. August 2018). Kirchner, Thomas. „‚Es bringt nichts, zu sagen, alles solle zurück nach Afrika‘“. Süddeutsche.de (26. November 2018). Koenig, Gaspard. „Un Etat ne s’excuse pas“. Les Echos (2. Juni 2021): 11. König, Benjamin. „Emmanuel Macron entend sortir du déni et construire une mémoire“. L’Humanité (21. Januar 2021): 7. Kößler, Reinhart, und Henning Melber. „Vom Völkermord zur Versöhnung“. Neues Deutschland 71 (18./19. Juni 2016): 25. Küpper, Mechthild. „Eine Geste des Bedauerns“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (1. Oktober 2011): 9. Lammert, Norbert. „Deutsche ohne Gnade“. Die Zeit (9. Juli 2015): 16. Le Cain, Blandine. „Que peut changer l’ouverture des archives sur les disparus de la guerre d’Algérie?“. lefigaro.fr (14. September 2018).

Zeitungsartikel 

 469

Lecaplain, Guillaume. „Entre la France et le Bénin, le spectre des sceptres royaux pillés“. Libération (25. März 2017): 22. Leimbach, Alina. „Herero: New Yorker Richterin urteilt über deutschen Völkermord“. WELT online (25. Januar 2018). Lemaître, Frédéric. „Musées mutiques“. Le Monde (19. August 2017): 2. Lemaître, Frédéric. „Berlin reconnaît le génocide des Herero“. Le Monde (17. Juli 2015): 5. Lemaître, Frédéric. „Une place en Afrique“. Le Monde (11. Juni 2016): 6. Lemaître, Frédéric. „Berlin à la reconquête de l’Afrique“. lemonde.fr (10. Juni 2016). Lepidi, Pierre. „Le gouvernement français veut inciter les maires à donner aux rues des noms de soldats africains“. lemonde.fr (30. Juni 2020). Ling, Martin. „‚Deutschlands Diktat ist nicht akzeptabel‘: Interview mit Israel Kaunatjike“. Neues Deutschland (5. Juni 2021): 4. Ling, Martin. „Völkermord verlangt nach Entschädigung: Standpunkt“. Neues Deutschland 71 (14. Juli 2016): 1. Ling, Martin. „Rückgabe ohne Entschuldigung: Kommentar“. Neues Deutschland 69 (11. März 2014): 10. Luyssen, Johanna. „Entre l’Allemagne et la Namibie, un génocide jamais repenti“. Libération (31. August 2018): 4. Manceron, Gilles. „France-Algérie: quel travail de reconnaissance et de vérité? Histoire et mémoire de la colonisation“. L’Humanité (17. Februar 2021): 12. Masseguin, Léa. „Algérie: l’origine douteuse des crânes restitués par la France“. Libération (19. Oktober 2022): 17. Matarese, Mélanie. „L’Algérie rappelle ses exigences sur la question mémorielle“. lefigaro.fr. (20. Januar 2021). Mbembe, Achille. „‚Gigantische Diffamierungskampagne‘“. taz.de (13. Mai 2020). Meister, Martina. „Der Krieg existiert(e) nicht. Erstmals offiziell: Frankreich spricht jetzt von der ‚guerre d’Algerie‘“. Frankfurter Rundschau (3. Juli 1999): 2. Meister, Martina. „Die französische Kulturrevolution beginnt“. Die WELT (28. November 2018): 21. Melber, Henning, Thomas Fues und Johanna Ridderbeekx. „Reflexionen im Stadtschloss: Ein Pro und Kontra über einen Gedenkort im Humboldt Forum“. Neues Deutschland (19. Januar 2019): 19. Memarnia, Susanne. „Streit um koloniales Erbe in Berlin: Namibier pochen auf Entschädigung“. taz.de (9. Juli 2018). Meyer, Robert D. „Anerkennung bleibt verwehrt“. Neues Deutschland 69 (6. März 2014): 14. Moïsi, Dominique. „Rwanda : la France trouve enfin les mots justes“. Les Echos (7. Juni 2021) : 10. Morin, Hervé. „Quels avenirs pour les restes humains?“. Le Monde (14. Oktober 2015): 4. Moussaoui, Rosa. „‚La mémoire est une trace sensible du passé dans le présent‘: Entretien avec Felwine Sarr et Bénédicte Savoy“. L’Humanité (15. Juli 2020): 18. Moussaoui, Rosa. „‚Restituer, c’est entrer dans une nouvelle relation‘“. L’Humanité (22. November 2018): 16. Moussaoui, Rosa. „Un long combat d’Humanité pour Maurice Audin“. L’Humanité (14. September 2018): 10. Moussaoui, Rosa. „Vers la Restitution des trésors pillés lors de la conquête coloniale“. L’Humanité (7. März 2018): 18. Moussaoui, Rosa. „Les crânes de l’amnésie“. l’humanité.fr (8. Juni 2016).

470 

 Literaturverzeichnis

Moussaoui, Rosa, und Lola Ruscio. „Tourner la page de la spoliation“. L’Humanité (22. November 2018): 14. Müller, Lothar. „Die Last der weißen Kartons“. Süddeutsche Zeitung (7. März 2014): 13. Müller, Reinhard. „Amerikanisches Recht“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (25. Februar 2003): 1. Müller, Reinhard. „Lex Deutschland“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (10. September 2001): 1. Munzinger, Paul, und Oliver Das Gupta. „Bundesregierung räumt deutschen Völkermord an Herero und Nama ein“. Süddeutsche.de (13. Juli 2016). Munzinger, Paul. „‚Dieser Schritt ist unvermeidlich‘: Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul“. Süddeutsche.de (2. Mai 2015). Munzinger, Paul. „Der andere Völkermord“. Süddeutsche Zeitung (28. April 2015): 6. Neshitov, Tim. „Die vergessene Schuld“. Süddeutsche Zeitung (27. September 2011): 11. Nguherimo, Jephta. „Entschuldigung genügt nicht: Debatte“. taz (31. Mai 2021): 12. Nickel, Samuela. „‚Nicht über uns ohne uns!‘“. Neues Deutschland 71 (17. Oktober 2016): 12. Nowak, Peter. „Die Täter zum Gespräch zwingen“. Neues Deutschland 71 (21./22. Mai 2016): 5. o. V. „La France restitue solennellement 26 trésors pillés au Bénin“. lemonde.fr (9. November 2021). o. V. „L’Algérie rappelle son ambassadeur à Paris et interdit son espace aérien aux avions militaires français“. lemonde.fr (2. Oktober 2021). o. V. „Namibias Opposition ist erzürnt“. Frankfurter Rundschau (10. Juni 2021): 9. o. V. „Lautes Nein aus Namibia“. Frankfurter Rundschau (1. Juni 2021a): 7. o. V. „‚Schockierende Offenbarung‘“. Süddeutsche Zeitung (1. Juni 2021b): 6. o. V. „Deutschland erkennt seine Verbrechen in Namibia an – irgendwie“. nd-aktuell.de (28. Mai 2021). o. V. „Deutsch-Südwestafrika: Aktuelles Lexikon“. Süddeutsche Zeitung (18. Mai 2021): 4. o. V. „Mexiko bittet Maya-Ureinwohner um Entschuldigung“. faz.net (4. Mai 2021). o. V. „Stiftungsrat sieht Rückgaben von Benin-Bronzen als ‚Option‘“. Zeit online (24. März 2021). o. V. „France-Algérie, poursuivre sur la voie de la vérité“. Le Monde (5. März 2021): 27. o. V. „Emmanuel Macron reconnaît que le militant Ali Boumendjel a été ‚torturé et assassiné‘ par l’armée française“. lefigaro.fr (2. März 2021a). o. V. „Les Algériens ‚ne renonceront jamais‘ à leur mémoire selon le président Tebboune“. lefigaro.fr (2. März 2021b). o. V. „Benjamin Stora se défend d’être contre des ‚excuses‘“. lefigaro.fr (7. Februar 2021). o. V. „France-Algérie: réconcilier les mémoires“. Le Monde (21. Januar 2021): 31. o. V. „Macron reçoit les propositions Stora pour une réconciliation mémorielle“. lefigaro.fr (20. Januar 2021). o. V. „L’Algérie exige de la France ‚la totalité‘ des archives de la période coloniale“. La Croix (23. Dezember 2020): 8. o. V. „L’Algérie réclame à la France ‚la Totalité de ses archives‘“. lefigaro.fr (22. Dezember 2020). o. V. „Les restes de 24 combattants enterrés à Alger“. La Croix (6. Juli 2020): 9. o. V. „Ce dossier ne doit pas être otage de considérations politiques“. elwatan.com (5. Juli 2020a). o. V. „L’Algérie attend des excuses de la France pour son passé colonial“. lefigaro.fr (5. Juli 2020b). o. V. „L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anti-coloniaux“. lefigaro.fr (5. Juli 2020c). o. V. „L’Algérie enterre ses premiers ‚martyrs‘ anticoloniaux, veut des excuses“. la-croix.com (5. Juli 2020d).

Zeitungsartikel 

 471

o. V. „Accueil solennel des restes des premiers combattants anticoloniaux“. lefigaro.fr (3. Juli 2020). o. V. „Restitution adé: Leihgabe statt Rückgabe: Kurswechsel in Frankreich“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (10. Juli 2019): 9. o. V. „Kritik nach Rückgabe von Bibel und Peitsche an Namibia“. WELT online (20. März 2019). o. V. „Colonialisme: Berlin va accélérer les Restitutions de restes humains et d’art“. lefigaro.fr (14. März 2019). o. V. „Gericht weist Klage indigener Gruppen gegen Deutschland ab“. faz.net (7.März 2019a). o. V. „US-Gericht weist Klage zu Kolonialverbrechen ab“. Süddeutsche.de (7. März 2019b). o. V. „Baden-Württemberg gibt Kulturgüter an Namibia zurück“. WELT online (28. Februar 2019a). o. V. „Streit um koloniales Erbe“. Süddeutsche Zeitung (28. Februar 2019b): 30. o. V. „‚Witbooi-Bibel‘ reist zurück nach Namibia“. Frankfurter Rundschau (23. Februar 2019): 34. o. V. „Rückgabe an namibische Regierung“. Süddeutsche Zeitung (22. Februar 2019): 13. o. V. „Nama-Vertretung kritisiert Rückgabe von Bibel und Peitsche“. WELT online (18. Februar 2019). o. V. „Kunst und Kolonialismus: Beratungen mit Franzosen“. Frankfurter Rundschau 75 (09./10. Februar 2019): 35. o. V. „Museen in Paris und Berlin wollen Zusammenarbeit bei Restitution“. nd-aktuell.de (8. Februar 2019a). o. V. „Staat und Völker: Vertreter der Nama protestieren gegen Restitution an Namibia“. Süddeutsche Zeitung (31. Januar 2019): 13. o. V. „Bibel und Peitsche“. Frankfurter Rundschau (12. Dezember 2018): 32. o. V. „Bibelrückgabe“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (14. November 2018): 9. o. V. „Guerre d’Algérie: Macron fait un geste envers les Harkis“. lesechos.fr (21. September 2018). o. V. „Les mots justes“. Aujourd’hui en France (14. September 2018): 2. o. V. „Audin: ‚Victoire historique de la vérité‘“. lefigaro.fr (13. September 2018a). o. V. „Macron demande pardon à la veuve de Maurice Audin“. lefigaro.fr (13. September 2018b). o. V. „Macron ouvre en partie les archives de la guerre d’Algérie“. lefigaro.fr (13. September 2018c). o. V. „Le Bénin réclame à la France la Restitution de trésors de son patrimoine“. lefigaro.fr (30. Mai 2018). o. V. „Un musée berlinois rend des œuvres dérobées au XIXe siècle aux autochtones d’Alaska“. lefigaro.fr (17. Mai 2018). o. V. „Deutscher Völkermord an Herero: New Yorker Gericht vertagt sich“. taz.de (26. Januar 2018). o. V. „La France prête à remettre à l’Algérie des archives portant sur la période coloniale“. lematindalgerie.com (7. Dezember 2017). o. V. „Macron prêt à rendre les crânes d’insurgés algériens du Musée de l’Homme“. lefigaro.fr (6. Dezember 2017). o. V. „Des crânes algériens attendent une sépulture“. La Croix (5. August 2016): 6. o. V. „Opfervertreter in Namibia fordern Geld von Berlin“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (4. Juli 2016): 1. o. V. „Erdoğan fordert, Deutschland solle Rechenschaft über Holocaust ablegen“. Süddeutsche. de (6. Juni 2016). o. V. „Konflikt um Herero-Bibel“. Neues Deutschland 70 (14./15. November 2015): 16.

472 

 Literaturverzeichnis

o. V. „Herero starten neue Genozid-Debatte“. Frankfurter Rundschau (29. April 2015): 7. o. V. „Davutoğlu: Papst schürt Islamophobie“. Süddeutsche.de (12. April 2015). o. V. „Les associations de Harkis divisées sur la portée d’une réparation“. La Croix (25. September 2014): 7. o. V. „Charité gibt Schädel und Gebeine an Namibia zurück“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. März 2014): 4. o. V. „Les restes mortuaires de chefs insurrectionnels algériens retrouvés dans un musée à Paris“. elwatan.com (7. Mai 2011). o. V. „Musées, arrière-boutiques et horreurs“. Libération (29. Januar 2011): 10. o. V. „l’Ina restitue ses archives radios“. lefigaro.fr (7. Oktober 2008). o. V. „Schuld ja – Entschädigung nein: Außenminister Fischer besucht frühere deutsche Kolonie / Berlin lehnt Entschädigung für Herero-Volk ab“. Frankfurter Rundschau (29. Oktober 2003): 7. o. V. „Amerikas Justiz richtet gern über Auslandsfirmen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (19. März 2003): 23. o. V. „Herero-Häuptling verklagt zwei deutsche Unternehmen“. WELT online (8. September 2001). o. V. „Südafrikanischer Kompromißvorschlag stößt in Durban auf Ablehnung“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (7. September 2001): 2. o. V. „Herero klagen auf Entschädigung wegen Völkermord“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. September 2001): 1. o. V. „Späte Entschleierung: Nach 40 Jahren: Frankreich gesteht den Algerienkrieg“. Frankfurter Rundschau (15. Juni 1999): 11. o. V. „NS-Entschädigungsgelder können fließen“. taz (23. Mai 2001): 1. o. V. „Les Harkis et la mémoire“. Le Monde (8. Februar 2001): 17. o. V. „Herero-Häuptling fordert von Deutschland Entschädigung“. WELT online (3. September 2001). o. V. „La ‚guerre d’Algérie‘ officiellement nommée“. Libération (6. Oktober 1999): 18. o. V. „Mémoires d’Algérie“. Le Monde (12. Juni 1999). o. V. „Worthülse“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (09. März 1998): 16. Oberlé, Thierry. „Macron à Alger pour une première visite présidentielle“. Le Figaro (5. Dezember 2017): 12. Oer, Eva. „Deutscher Völkermord in Namibia: Keine Chance auf Entschädigung“. taz (11. März 2019). Otto, Stefan. „Warten auf Entschuldigung“. Neues Deutschland (28. August 2018): 6. Parzinger, Hermann. „Zeitenwende oder Ablasshandel?“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (29. November 2018): 9. Perras, Arne. „Europas dunkle Seite“. Süddeutsche Zeitung (08. Juni 2021): 8. Perras, Arne. „Vernichtender Feldzug: Kaiserliche Truppen in Deutsch-Südwest gingen erbarmungslos gegen die Herero vor“. Süddeutsche Zeitung (29. August 2001): 10. Pervillé, Guy. „Que ‚l’affaire Audin‘ ne fasse pas oublier la ‚bataille d’Alger’!“. lefigaro.fr (14. September 2018). Pfaff, Isabel. „Ungeliebtes Erbe“. Süddeutsche Zeitung (22. Oktober 2016): 13. Philippot, David. „L’Allemagne admet avoir commis un génocide en Namibie“. Le Figaro (29. Mai 2021): 11. Pietralunga, Cédric. „Torture en Algérie, le geste historique de Macron“. Le Monde (14. September 2018): 7.

Zeitungsartikel 

 473

Plank, Lisa. „‚Es geht um Dinge, die tiefer gehen als das, was man mit Geld wiederherstellen kann‘“. jetzt.de (SZ-Beilage) (14. Juni 2021). Pofalla, Boris. „Unsere Raubkunst“. Die WELT (12. Dezember 2018): 22. Putsch, Christian. „Namibischer Stamm beklagt Rassismus“. WELT online (08. Juni 2016). Rabaté, Emile. „La colonie génocidaire“. Libération (15. Januar 2015): 7. Reichert, Kolja. „Muss das weg?“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (9. Dezember 2018): 42. Reichert, Kolja. „Koloniale Beute“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (30. November 2018): 50. Rietzschel, Antonie. „Entschädigung für Herero und Nama – eine moralische Frage“. Süddeutsche.de (7. Januar 2017). Roger, Patrick. „Colonisation : les propos inédits de Macron font polémique“. lemonde.fr (16. Februar 2017). Roland, Stéphane. „En Allemagne, ‚on a vécu une amnésie totale‘“. Libération (29. Mai 2021): 8–9. Rossmann, Andreas. „Scham und Stolz“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (6. September 2019): 13. Rothberg, Michael, und Jürgen Zimmerer. „Enttabuisiert den Vergleich!“. Die Zeit (31. März 2021): 59. Rousseau, Christine. „Raphaëlle Branche: ‚Il ne sera plus possible de nier le caractère systématique de la torture en Algérie‘“. Le Monde (14. September 2018): 20. Royer, Solenn De. „Le camp de Bias, un ‚mouroir‘ des Harkis?“. La Croix (30. August 2001): 8. Rühle, Alex. „‚Es bleibt eine offene Wunde‘: Interview mit Henning Melber“. Süddeutsche Zeitung (4. August 2021): 13. Saint Sauveur, Charles de. „Les non-dits d’une guerre sale“. Aujourd’hui en France (14. September 2018): 4. Sardier, Thibaut. „‚La Restitution de dépouilles à l’Algérie s‘inscrit dans une accélération du travail mémoriel‘“. Libération (10. Juli 2020): 20. Sarr, Felwine, und Bénédicte Savoy. „Restituer pour changer la relation à l’autre“. Le Monde (3. Dezember 2018): 22. Sattar, Madjid. „Nicht erst auf Druck Erdoğans“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (14. Juni 2016): 2. Savoy, Bénédicte. „Restitutions ‚Il faut y aller dans la joie‘“. Le Monde (13. Januar 2018): 6. Savoy, Bénédicte. „Die Zukunft des Kulturbesitzes“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (12. Januar 2018): 9. Schadwinkel, Alina. „Völkermord an den Herero: ‚Wer sich an den Kolonialismus erinnerte, hat ihn verklärt‘“. Zeit online (6. Januar 2017). Scheen, Thomas. „Der Preis des Völkermords“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (8. Juli 2016): 32. Scheen, Thomas. „Deutschlands Angst vor der Entschädigung“. faz.net (3. Juli 2016). Schleiermacher, Uta. „‚Es ist unsere gemeinsame Geschichte‘“. taz (19. August 2017): 44–45. Schlüter, Jan-Philippe, und Christiane Habermalz. „Verbrechen an den Hereros und den Namas – Ringen um die Anerkennung der deutschen Schuld“. http://www.deutschlandfunkkultur. de/verbrechen-an-den-hereros-und-den-Namas-ringen-um-die.976.de.html?dram:article_ id=406540, 20.12.2017 (08.12.2020). Schmitt, Alfred. „Rückgabe von Benin-Bronzen: ‚Wir heilen damit eine Wunde‘“. tagesschau.de. (1. Juli 2022). Schrörs, Tobias. „Kommt es wieder zum Eklat?“. faz.net (24. August 2018). Schulze, Tobias. „Keine normalen Umstände mehr“. taz 11069 (14. Juli 2016): 12.

474 

 Literaturverzeichnis

Selz, Christian. „Billige Entschuldigung. Vom deutsch-namibischen ‚Aussöhnungsabkommen‘ haben die Nachfahren der Völkermord-Opfer nichts“. nd-aktuell.de (22. Mai 2021). Senouci, Brahim. „Les actes et le verbe, une clé pour la redécouverte de l’Autre: Lettre ouverte“. l’humanité.fr (16. Juni 2017). Sévillia, Jean. „Rapport sur la colonisation et la guerre d’Algérie: Benjamin Stora, un historien entre deux rives“. lefigaro.fr (20. Januar 2021). Sévillia, Jean. „Maurice Audin, victime emblématique d’une tragédie collective“. Le Figaro (14. September 2018): 2. Smolar, Piotr. „Le président face aux plaies de la mémoire“. Le Monde (27. Januar 2020): 11. Steinke, Ronen. „Nicht aufrichtig“. Süddeutsche.de (30. Mai 2021). Stieber, Benno. „Lieber mühsam als radikal“. taz.de (16. Dezember 2018). Stora, Benjamin. „‚Il faut aller vers plus de vérités‘: Morceaux choisis parmi les 80 pages du rapport“. Le Monde (22. Januar 2021): 8. Stora, Benjamin. „Algérie: la mémoire restituée“. Libération (7. März 2008): 36. Tabard, Guillaume. „Apaiser le passé pour restaurer l’unité nationale“. Le Figaro (21. Januar 2021): 11. Tamazount, Charles. „Les Harkis en appellent à la justice“. Libération (29. August 2001): 5. Ternisien, Xavier. „Quand Bayrou retirait Césaire des programmes de français“. lemonde.fr. (10. Mai 2008). Tews, Thomas. „Was für eine Versöhnung!: Leserbrief“. Frankfurter Rundschau (30. Juni 2021): 14. Thénault, Sylvie. „Parler de ‚réconciliation franco-algérienne n’a pas de sens‘“. Le Monde (6. Februar 2021): 28. Thénault, Sylvie. „‚La reconnaissance des responsabilités de l’Etat, enfin!‘“. Le Monde (14. September 2018): 20. Théveniaud, Pauline, und Henri Vernet. „Macron saura-t-il apaiser les Harkis?“. Aujourd’hui en France (25. September 2018): 5. Touaibia, Nadjib. „Reconnaître la vérité des crimes coloniaux“. L’Humanité (20. Januar 2021): 13. van Riel, Aert. „Ein Genozid wird unterschlagen“. Neues Deutschland 71 (3. Juni 2016): 6. Vates, Daniela, und Steven Geyer. „Namibia-Resolution soll bald kommen“. Frankfurter Rundschau (14. Juni 2016): 6. Verdier, Marie. „Parmi les crânes restitués à l’Algérie, tous n’étaient pas des héros“. La Croix (19. Oktober 2022): 8. Verdier, Marie. „Si ces mesures voient le jour, on aura fait un grand pas“. La Croix (22. Januar 2021): 4. Verdier, Marie. „Mémoires de la guerre d’Algérie, plutôt des actes que des excuses“. La Croix (21. Januar 2021): 7. Vergnol, Maud. „‚C’est à moi, au nom de la République, de vous demander pardon‘“. L’Humanité (14. September 2018a): 4. Vergnol, Maud. „‚Cette reconnaissance de l’État va délivrer des poids qui pèsent sur les coeurs et les consciences‘: Entretien avec Benjamin Stora“. L’Humanité (14. September 2018b): 5. Vesper, Karlen. „Gewiss, es ist ein weites Feld, indes…“. Neues Deutschland (27. November 2018): 14. Volper, Julien. „Défendons nos musées!“. lefigaro.fr (6. September 2017). von Bullion, Constanze. „Entschuldigung für Herero-Massaker“. Süddeutsche Zeitung (14. Juli 2016): 5.

Drucksachen 

 475

Waberi, Abdourahman. „Lumière sur l’histoire du colonialisme allemand, une première à Berlin“. lemonde.fr (31. Januar 2017). Wallrodt, Ines. „Kommentar: Kolonialstil“. Neues Deutschland 66 (1./02. Oktober 2011): 6. Wegener, Ulrike, und Velten Schäfer. „Wir kümmern uns im Selbstgespräch“. Neues Deutschland (16. März 2019): 17. Wieczorek-Zeul, Heidemarie. „Deutschland muss sich entschuldigen“. Frankfurter Rundschau (7. Juli 2015): 10. Wieder, Thomas. „Héritage colonial: Paris bouscule Berlin“. Le Monde (1. Dezember 2018): 6. Wierth, Alke. „‚Das waren WiderstandskämpferInnen‘“. taz (4. August 2017): 23. Willms, Johannes. „Geschichte und Staatsräson“. Süddeutsche Zeitung (17. August 1999): 13. Woeller, Marcus. „Die revolutionäre Botschaft des Raubkunstberichts“. WELT online (30. November 2018a). Woeller, Marcus. „Resozialisiert, ohne Bewährungshelfer“. Die WELT (30. November 2018b): 21. Woeller, Marcus. „‚Alles zurück‘ ist keine Lösung“. Die WELT (23. November 2018): 21. Zeller, Joachim. „Weltreich für Würdige: Neu aufgelegt: Das Blaubuch des deutschen Kolonialismus“. Süddeutsche Zeitung (28. Juli 2003): 14. Zerrouky, Madjid. „La France remet à l’Algérie vingt-quatre crânes de résistants décapités au XIXe siècle et entreposés à Paris“. lemonde.fr (3. Juli 2020). Zerrouky, Madjid. „Alger exige la Restitution d’un canon saisi en 1882“. l’humanité.fr (24. November 2011). Zick, Tobias. „Schrei aus der Wüste: Buch Zwei“. Süddeutsche Zeitung (22./23. Oktober 2016): 11–12. Zimmerer, Jürgen. „Die größte Identitätsdebatte unserer Zeit“. Süddeutsche Zeitung (19. Februar 2019): 12. Zimmerer, Jürgen. „Viel Rauch, wenig Feuer“. Süddeutsche Zeitung (23. Oktober 2018): 2. Zimmerer, Jürgen. „Klage der Herero gegen Deutschland: Völkermord? Nicht zuständig“. taz (24. Januar 2018): 3. Zimmerer, Jürgen. „Kolonialismus ist kein Spiel“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (9. August 2017): 11. Zimmerer, Jürgen. „Mit aller Macht die Augen verschließen“. taz (9. Juli 2015): 4. Zimmerer, Jürgen. „Opfer einer beispiellosen Propagandaschlacht: Dokument mit wechselvoller Geschichte“. Frankfurter Rundschau (18. November 2003): 21.

Drucksachen Code du patrimoine (Articles L1 à L770-4). https://www.legifrance.gouv.fr/codes/id/ LEGISCTA000006108728. Légifrance.fr (2. Januar 2021). „Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“. Bundesgesetzblatt, 9. August 1954. 729–739. LOI n° 2020-1673 du 24 décembre 2020 relative à la Restitution de biens culturels à la République du Bénin et à la République du Sénégal (1): LOI n° 2020-1673. https://www. legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000042738023. Journal officiel de la République Française (6. März 2023). Antrag der Fraktion AfD. Restitution von Sammlungsgut aus kolonialem Kontext stoppen. Drucksache 19/19914, 12. Juni 2020.

476 

 Literaturverzeichnis

Antrag der Fraktion AfD. Die deutsche Kolonialzeit kulturpolitisch differenziert aufarbeiten. Drucksache 19/15784, 11. Dezember 2019. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Koloniales Unrecht anerkennen, aufarbeiten und der eigenen Verantwortung international gerecht werden. Drucksache 19/24381, 17. November 2020. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Zur kulturpolitischen Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes. Drucksache 19/7735, 13. Februar 2019. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und unserer historischen Verantwortung gerecht werden. Drucksache 18/5385, 1. Juli 2015. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Aufarbeitung und Austausch fördern. Drucksache 18/4687, 22. April 2015. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Angebot an die namibische Nationalversammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage. Drucksache 16/9708, 23. Juni 2008. Antrag der Fraktion Die LINKE. Umfassende Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und kolonial-rassistischer Nachwirkungen gegenüber Black, Indigenous, People of Color. Drucksache 19/20546, 30. Juni 2020. Antrag der Fraktion Die LINKE. Koloniales Unrecht in Deutschland umfassend aufarbeiten Nachkommen einbeziehen. Drucksache 19/8961, 3. April 2019. Antrag der Fraktion Die LINKE. Versöhnung mit Namibia – gedenken an und Entschuldigung für den Völkermord in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Drucksache 18/5407, 1. Juli 2015. Antrag der Fraktion Die LINKE. 100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/1916 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen. Drucksache 18/4335, 18. März 2015. Antrag der Fraktion Die LINKE. Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Drucksache 16/4649, 9. März 2007. Antrag der Fraktion FDP. Kulturpolitische Aufarbeitung des Sammlungsgutes aus kolonialen Kontexten. Drucksache 19/8545, 19. März 2019. Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD. Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren. Drucksache 18/4684, 21. April 2015. Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90 / Die Grünen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia stärken und unserer historischen Verantwortung gerecht werden. Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/ Die Grünen. Drucksache 18/5385, 20. März 2012. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Besuch von Vertreterinnen und Vertretern der Herero und Nama in Berlin. Drucksache 17/7749, 15. November 2011. Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Zum Gedenken an die Opfer des Kolonialkrieges im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Drucksache 15/3329, 16. Juni 2004. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die LINKE. Sachstand der Verhandlungen zum Versöhnungsprozess mit Namibia und zur Aufarbeitung des Völkermordes an den Herero und Nama. Drucksache 18/9152, 11. Juli 2016. Assemblée Nationale. Question de Mme Fadila Khattabi au Ministère Europe et affaires étrangères sur la problématique du rapatriement en Algérie des crânes algérien. http://

Drucksachen 

 477

questions.assemblee-nationale.fr/questions/detail/15/QE/10652. Question°10652 du 17.07.2018 et réponse du 28.08.2018 (26. November 2021). Assemblée Nationale. „Compte rendu intégral. 1e Séance du jeudi 10 juin 1999“. Journal Officielle de la République Française 55 (1999): 5710–5735. Auswärtiger Ausschuss. Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss). Drucksache 11/4205, 15. März 1989. Bundesregierung. Regierungspressekonferenz vom 6. Januar 2017. https://www. bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressekonferenzen/regierungspressekonferenzvom-6-januar-2017-843494. 6. Januar 2017 (2. Dezember 2021). Bundesregierung. Regierungspressekonferenz vom 13. Juni. https://www.bundesregierung.de/ breg-de/aktuelles/pressekonferenzen/regierungspressekonferenz-vom-13-juni-847560. 13. Juni 2016 (25. November 2021). Bundesregierung. Regierungspressekonferenz vom 10. Juli. https://www.bundesregierung.de/ breg-de/aktuelles/pressekonferenzen/regierungspressekonferenz-vom-10-juli-847582. 10. Juli 2015 (24. November 2021). CDU/CSU und SPD. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 19. Legislaturperiode, https://library.fes.de/pdf-files/bibliothek/downl/koalitionsvertrag_2018.pdf. Berlin: 2018 (6. März 2023). Commission de recherche sur les archives françaises relatives au Rwanda et au génocide des Tutsi. La France, le Rwanda et le génocide des Tutsi (1990–1994). Rapport remis au Président de la République le 26 mars 2021. https://medias.vie-publique.fr/data_Storage_ s3/rapport/pdf/279186_1.pdf. 2021 (6. März 2023). Conseil constitutionnel. Commentaire. Décision n° 2015-512 QPC du 8 janvier 2016 https:// www.conseil-constitutionnel.fr/sites/default/files/as/root/bank_mm/decisions/ 2015512qpc/2015512qpc_ccc.pdf. 8. Januar 2016 (15. Oktober 2020). Deutscher Bundestag. Stenografischer Bericht 173. Sitzung. Plenarprotokoll 18/173, 2. Juni 2016. Deutscher Bundestag. 29.07.2020. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss). Drucksache 19/21345: 1–11. Deutscher Bundestag. Ausschuss für Kultur und Medien. Wortprotokoll der 26. Sitzung, Öffentliche Anhörung, Protokoll-Nr. 19/26: 1–8. Landtag von Baden-Württemberg. Restitution von Bibel und Peitsche aus dem Hause Witbooi. Kleine Anfrage. Drucksache 16/5739, 13. Februar 2019. Premier ministre, Ministre de l’Europe et des affaires étrangères, Ministre de la culture. Projet de loi relatif à la Restitution de biens culturels à la République du Bénin et à la République du Sénégal. https://www.assemblee-nationale.fr/dyn/15/dossiers/Restitution_biens_ culturels_Benin_Senegal. 16. Juli 2020 (6. März 2023). République Française. LOI n° 2010-501 du 18 mai 2010 visant à autoriser la Restitution par la France des têtes maories à la Nouvelle-Zélande et relative à la gestion des collections et relative à la gestion des collections. https://www.legifrance.gouv.fr/loda/id/ JORFTEXT000022227321. 18. Mai 2010 (6. März 2023). République française. Proposition de loi relative à la Restitution des restes humains appartenant aux collections publiques. https ://www.vie-publique.fr/loi/289831proposition-de-loi-Restitution-des-restes-humains-collections-publiques#:~:text=La%20 Restitution%20des%20restes%20humains%20n’est%20possible%20 qu’%C3%A0,de%20doute%20sur%20celle%2Dci. 13. Juni 2023 (20. Juni 2023).

478 

 Literaturverzeichnis

Sénat. Proposition de loi relative à la circulation et retour des biens culturels appartenant aux collections publiques (PPL), Première lecture au Sénat. https://www.senat.fr/leg/ ppl21-041.html. Session ordinaire de 2021–2022 N°41, 12. Oktober 2022a (6. März 2023). The Federal Republic of Germany, The Federal Republic of Nigeria. Joint Declaration on the Return of Benin Bronzes and Bilateral Museum Cooperation. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/2059172/ 6d587c95c56499eaa385ba6d35bb720b/2022-07-01-joint-declaration-benin-bronzesdata.pdf?download=1. 1. Juli 2022 (03. Oktober 2022). United Nations. Vienna Convention on Succession of States in respect of State Property, Archives and Debts, 1983. https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/ conventions/3_3_1983.pdf. 8. April 1983 (8. Dezember 2021). United Nations. United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples. https://www. un.org/development/desa/indigenouspeoples/wp-content/uploads/sites/19/2018/11/ UNDRIP_E_web.pdf. 13. September 2007 (26. November 2020). Vereinte Nationen. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. https://www. un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 1998 (6. März 2023). Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag. Voraussetzungen für die Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte nach dem Alien Torts Claim Act: Schadensersatzklagen der Herero und Nama. Sachstand (WD 2–3000–021/16), 2. März 2017. Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag. 4. Mai 2018. Ausarbeitung (WD 10–3000– 023/18). Rückführung von Kulturgütern aus Kolonialgebieten Rechtsgrundlagen für Ansprüche auf Restitution: 1–10. Wissenschaftliche Dienste/Deutscher Bundestag. Gerichtliche und außergerichtliche Möglichkeiten der Aufarbeitung kolonialen und rassistisch motivierten Unrechts, Sachstand (WD 2–3000–016/18), 8. März 2018.

Reden Chirac, Jacques. Discours du Président de la République, sur la place des Harkis dans la nation française, leur rôle pendant la guerre d’Algérie et la reconnaissance de la France à leur égard., 25.09.2001, Paris. Fredericks, David. Address of Chief Fredericks at Handover of Skulls, 30.09.2011, Charité Berlin. Hollande, François. Déclaration de M. François Hollande, Président de la République, sur les Harkis., 25.9.2016, Paris. Hollande, François. Déclaration du Président de la République sur la guerre d’Algérie, 19.03.2012, Paris. Macron, Emmanuel. Déclaration du président de la République sur le 60ème anniversaire des accords d’Évian et la guerre d’Algérie, 19.03.2022, Paris. Macron, Emmanuel. Déclaration du président de la république, sur les Harkis, 20.09.2021, Paris. Macron, Emmanuel. La République en actes : discours du Président de la République sur le thème de la lutte contre les séparatismes, 02.10.2020, Les Mureaux. Macron, Emmanuel. Déclaration du Président de la République sur la mort de Maurice Audin, 13.09.2018, Paris. Macron, Emmanuel. Discours du Président de la République à l’université Ouaga I, professeur Joseph Ki-Zerbo, à Ouagadougou, 28.11.2017.

Pressemitteilungen 

 479

Müntefering, Michelle. Rede anlässlich der Rückgabe sterblicher Überreste an Namibia, 29.08.2018, Berlin. Pieper, Cornelia. Ansprache anlässlich der Feierstunde zur Übergabe von Schädeln namibischen Ursprungs in der Charité, 30.09.2011, Charité Berlin. Pohamba, Hifikepunye. Statement by the President of the Republic of Namibia on the Occasion of Receiving Human Remains (Mortal Remains) of Namibia Origin Repatriated From Germany, 05.10.2011, Windhoek. Riester, Franck. Discours du ministre de la Culture, prononcé à l’occasion du forum ‚Patrimoines africains: réussir ensemble notre nouvelle coopération‘, 04.07.2019, Paris. Sarkozy, Nicolas. Déclaration du Président de la République sur les relations francoalgériennes et sur l’entente entre le judaïsme, le christianisme et l’islam, à Constantine, 05.12.2007. Steinmeier, Frank-Walter. Ausstellungseröffnung im Humboldt Forum in Berlin. Rede des Bundespräsidenten, 22.09.2021, Berlin. Wieczorek-Zeul, Heidemarie. Rede von Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei den Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Herero-Aufstände, 14.08.2004, Okakarara, Namibia.

Pressemitteilungen Bob Kandetu. Nama and OvaHerero Leaders Put German Government on Terms, 17.05.2016. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Völkermord an den Herero und Nama: Bundesregierung gefährdet Versöhnungsprozess, 18.07.2016. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Bundestag muss Völkermord an Herero und Nama anerkennen!, 01.06.2016. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Schluss mit den Geheimverhandlungen zum Genozid in Namibia, 16.03.2016. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Anerkennung des Völkermords: Eine offizielle Entschuldigung bei und Verhandlungen mit den OvaHerero und Nama müssen folgen!, 10.07.2015. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Anerkennung des Völkermords in Namibia: Eine offizielle Entschuldigung und direkte Verhandlungen mit den OvaHerero und Nama müssen folgen, 09.07.2015. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Völkermord kein Thema: Bundespräsidialamt verweigert Empfang von Herero- und Nama-Delegierten in Berlin, 06.07.2015. Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. 100 Jahre nach dem Ende von ‚Deutsch-Südwestafrika‘: Anerkennung des Völkermords an den OvaHerero und Nama in Sicht, 15.06.2015. Die Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, die Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder, kommunale Spitzenverbände. 13.03.2019. Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten. https://www.kulturgutverluste.de/ Content/02_Aktuelles/DE/Pressemitteilungen/2019/2019-03-13_PM_BKM_Kulturministerkonferenz_Eckpunkte.pdf;jsessionid=7C79C13B91CFB85E6545E4B9B035BEE0. m1?__blob=publicationFile&v=2%3E (25. Februar 2021). Land Baden-Württemberg. Land gibt ‚Witbooi-Bibel‘ und Peitsche an Namibia zurück, 13.11.2018. Maas, Heiko. Außenminister Maas zum Abschluss der Verhandlungen mit Namibia, 28.05.2021.

480 

 Literaturverzeichnis

OvaHerero Paramount Chief Vekuii Rukoro und Gaob Johannes Isaack. Genozid an den Hereros und Nama: Deutschlands ‚Versöhnungsabkommen‘ mit Namibia trägt nicht zur Versöhnung mit den Opfern bei, 17.05.2021. Présidence de la République. Communiqué de presse sur la constitution d’une commission mixte d’historiens français et algériens pour travailler sur l’histoire de l’Algérie contemporaine, https://www.vie-publique.fr/discours/289134-presidence-de-larepublique-19042023-france-algerie, 19. April 2023 (03. Mai 2023).

Weitere Quellen AfricaMuseum. Temporary Exhibition Human Zoo. https://expohumanzoo.africamuseum.be/en. 2021 (10. November 2021). Association des archivistes français (AAF), Association des historiens contemporanéistes de l’enseignement supérieur et de la recherche (AHCESR), Association Josette et Maurice Audin. IGI 1300 – Une analyse de fond. https://ahcesr.hypotheses.org/2124, 4. Dezember 2020 (27. April 2021). Bancel, Nicolas, und Pascal Blanchard. „La fabrique du dénigrement – sur le postcolonial (1/3)“. AOC media (2020). Belkadi, Ali Farid. „Le Muséum de Paris ou la barbarie au nom des Lumières“. https://www. founoune.com/index.php/ali-farid-belkadi-museum-de-paris-barbarie-nom-lumieres/. 3. Dezember 2017 (5. März 2023). Belkadi, Ali Farid. Pétition. Journée National Chérif Mohamed Lamjad Ben Abdelmalek, dit Boubaghla. https://www.change.org/p/requ%C3%AAte-adress%C3%A9e-auxautorit%C3%A9s-alg%C3%A9riennes-alg%C3%A9rie-journ%C3%A9e-nationalech%C3%A9rif-mohamed-lamjad-ben-abdelmalek-dit-boubaghla. 2018 (23. Oktober 2019). Belkadi, Ali Farid. Restes mortuaires de résistants algériens au Muséum de Paris. Pétition. https://www.petitionenligne.com/signatures.php?tunnus=restes_mortuaires_de_ resistants_algeriens_au_museum_de_paris&page_number=2&num_rows=10. 27. Mai 2011 (23. Oktober 2019). Blanchard, Pascal. Le premier génocide du XXe siècle. Herero et Nama dans le Sud-Ouest africain allemand (1904-1908). https://www.achac.com/blogs/150. 2016 (11. Mai 2023). Bouteflika, Abdelaziz. Discours du président algérien Abdelaziz Bouteflika devant l’Assemblée Nationale en 2000: Institut National de l’Audiovisuel. https://enseignants.lumni.fr/ fiche-media/00000001885/discours-du-president-algerien-abdelaziz-bouteflika-devant-lassemblee-nationale-en-2000.html#transcription. 14. Juni 2000 (27. Oktober 2020). Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Genocide against the OvaHerero and Nama. https:// genocide-namibia.net/genocide-against-the-OvaHerero-and-Nama/#page-content. 2021 (16. Dezember 2021). Dekoloniale – Erinnerungskultur in der Stadt. https://www.dekoloniale.de/de. 2021 (22. Oktober 2021). Deutsch, Lorenz. Offener Brief an Intendantin der Ruhrtriennale. https://www.lorenz-deutsch. de/antisemitismus-keine-buehne-bieten/2234/. 23. März 2020 (22. Juni 2021). Deutscher Bundestag. Gedenken an Völkermord an den Armeniern. Zusammenfassung der Parlamentsdebatte. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw17_de_ armenier-369868. 24. April 2015 (28. Juli 2021).

Weitere Quellen 

 481

Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Meldungen – Deutsches Zentrum Kulturgutverluste baut zusätzlichen Schwerpunkt zu Kulturgut aus kolonialen Kontexten auf. https://www. kulturgutverluste.de/Content/02_Aktuelles/DE/Meldungen/2018/August/Kulturgut-auskolonialem-Kontext.html. 20.August 2018 (5. März 2023). Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Förderbereich „Kulturgüter kolonialer Kontexte“. https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Forschungsfoerderung/ Projektfoerderung-Bereich-Kulturgut-aus-kolonialem-Kontext/Index.html;jsessionid=B59A888E5DFBEC5EB40340506BB2CF6E.m1. 2021 (15. Dezember 2021). Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden (Washington Principles), 3.12.1998. https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/ Washingtoner-Prinzipien/Index.html. 2021 (02. April 2021). Dumain, Audrey, und Fiona Moghaddam. Restitutions d’œuvres d’art : un projet de loi présenté en Conseil des ministres. https://www.franceculture.fr/droit-justice/Restitutionsdoeuvres-dart-un-rapport-suggere-un-accord-entre-la-france-et-des-pays. 15. Juli 2020 (17.05.2021). Escudié, Jean-Noël. Culture – Le retour du crâne d’Ataï en Nouvelle-Calédonie relance la question de l’inaliénabilité des fonds des musées. https://www.banquedesterritoires.fr/ le-retour-du-crane-datai-en-nouvelle-caledonie-relance-la-question-de-linalienabilite-desfonds-des, 3. September 2014 (23. Oktober 2019). Fassin, Didier. „Are ‚woke’ Academics a Threat to the French Republic? Ask Macron’s Ministers“. The Guardian (12. März 2021). Habermalz, Christiane. Geraubte Gebeine aus Namibia. Ärger im Vorfeld der Rückgabe-Zeremonie. https://www.deutschlandfunk.de/geraubte-gebeine-ausnamibia-aerger-im-vorfeld-der.862.de.html?dram:article_id=426332. 23. August 2018 (22. Dezember 2020). Habermalz, Christiane. Übergabe von Herero-Gebeinen. Meilenstein im Prozess der Aufarbeitung deutscher kolonialer Schuld. https://www.deutschlandfunk.de/uebergabevon-herero-gebeinen-meilenstein-im-prozess-der.691.de.html?dram:article_id=426716. 29. August 2018 (22. Dezember 2020). HPRC. The Herero People’s Reparation Corporation v. Deutsche Bank, Terex Corporation & Woermann Linie. http://www.baerfilm.de/PDF/prozess%20klageschrift.pdf. September 2001 (20. November 2020). ICOM Deutschland e. V. Mission–Vision–Geschichte. https://icom-deutschland.de/de/icomdeutschland/mission-vision-geschichte.html. 2021 (25. November 2021). Imani, Sarah, und Karina Theurer. Völkermord und (post-)koloniale Verantwortlichkeit: Das deutsch-namibische ‚Versöhnungsabkommen‘ in Recht und Zeit. https://www.goethe.de/ prj/lat/de/spu/22326696.html. 2021 (18. November 2021). Jöbstl, Birgit. Luschan Sammlung – Stiftung Preußischer Kulturbesitz. http://www. preussischer-kulturbesitz.de/newsroom/dossiers-und-nachrichten/dossiers/dossierProvenienzforschung/luschan-sammlung.html, 18. August 2017 (24. Februar 2021). Kopp, Christian, und Mnyaka Sururu Mboro. Offener Brief zur Rückgabe von afrikanischen Kulturobjekten und menschlichen Gebeinen. https://www.no-humboldt21.de/offenerbrief-zur-rueckgabe-von-afrikanischen-kulturobjekten-und-menschlichen-gebeinen/. 18. Dezember 2017 (6. Dezember 2021). Land Baden-Württemberg. Baden-Württemberg bringt Witbooi-Bibel und Peitsche zurück nach Namibia. https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/

482 

 Literaturverzeichnis

pid/baden-wuerttemberg-bringt-Witbooi-Bibel-und-peitsche-zurueck-nach-namibia-1/. 22. Februar 2019 (4. November 2021). Méheut, Constant. „Secrecy Shrouds 18,000 Skulls In a Paris Museum’s Basement“. The New York Times (New York edition) (29. November 2022): 1. Méheut, Constant. „France’s Return of the Skulls of 24 Algerian ‚Resistance Fighters‘“. The New York Times (New York edition) (18. Oktober 2022): 4. Mémoire de l’esclavage et de la traite négrière. Salles du Musée d’Aquitaine, Bordeaux. https:// www.memoire-esclavage-bordeaux.fr/parcours-memoriel/musee-daquitaine. 2021 (16. Dezember 2021). Mémorial de la Shoa. Le premier génocide du XXe siècle : Herero et Nama dans le Sud-Ouest africain allemand. L’exposition. http://genocide-herero-Nama.memorialdelashoah.org/. 9. Januar 2017 (30. August 2021). Mémorial de la Shoah. Question à Leonor Faber-Jonker, commissaire scientifique de l’exposition, question à Sophie Nagiscarde, commissaire générale de l’exposition. http:// genocide-herero-Nama.memorialdelashoah.org/ressources.html (1. Dezember 2017). Mémorial de la Shoah. Le génocide des Herero et Nama. http://www.memorialdelashoah. org/archives-et-documentation/genocides-xx-siecle/genocide-herero-Nama.html (16. November 2017). Ministère des Armées. ‚Aux Harkis, la France reconnaissante‘. De nouvelles avancées en matière de reconnaissance, de réparation et de solidarité pour les Harkis et leurs enfants, Journée nationale d’hommage aux Harkis. Dossier de presse, 25. September 2018. Noce, Vincent. „France’s long-awaited Restitution policy is finally here“. The Art Newspaper. https://www.theartnewspaper.com/2023/04/26/france-long-awaited-Restitution-policyis-finally-here, 26. April 2023 (5. Mai 2023). o. V. „Emmanuel Macron en Algérie: ‚Nous sommes prêts pour bâtir un nouveau pacte d’avenir‘“. https://www.france24.com/fr/afrique/20220826-alg%C3%A9rie-emmanuelmacron-poursuit-sa-visite-avec-la-relance-du-partenariat-paris-alger-en-vue, 26. August 2022 (09. Oktober 2022). o. V. Museen in Paris und Berlin wollen bei Kolonialkunst zusammenarbeiten. https://www. monopol-magazin.de/museen-paris-und-berlin-wollen-bei-kolonialkunst-zusammenarbeiten, 8. Februar 2019b (05. Mai 2021). o. V. 25.06.2020. „À travers la statue vandalisée de Colbert, la France s’interroge sur son passé esclavagiste“. courrierinternational.com. o. V. 01.12.2019. „Algérie-France: les démarches de récupération des archives suspendues“. OBS-Algérie. Pelz, Daniel. „Herero und Nama klagen gegen Völkermord-Abkommen mit Deutschland“. https://www.dw.com/de/deutschland-namibia-kolonialismus-v%C3%B6lkermord-hereroNama-abkommen-klage/a-64466627, 20. Januar 2023 (03. Mai 2023). Pelz, Daniel. „Deutschland hält an Völkermord-Abkommen mit Namibia fest“. https://www. dw.com/de/deutschland-h%C3%A4lt-an-v%C3%B6lkermord-abkommen-mit-namibiafest/a-65065597, 21. März 2023 (02. Mai 2023). Pelz, Daniel. „‚Namibia hat Präzedenzcharakter‘. Interview mit Jürgen Zimmerer“. https:// www.dw.com/de/deutscher-kolonialforscher-namibia-hat-pr%C3%A4zedenzcharakter/a-39911019, 31. Juli 2017 (25. November 2020). Perelman, Marc. L’Entretien: le président algérien Tebboune croit à un ‚apaisement‘ de la situation avec la France. https://www.france24.com/fr/afrique/20200704-exclusif-

Expertisen 

 483

le-pr%C3%A9sident-alg%C3%A9rien-tebboune-croit-%C3%A0-un-apaisement-de-lasituation-avec-la-france. 4. Juli 2020 (5. März 2023). République Française. Loi sur les archives: Tableau comparatif des délais de communication des archives publiques (délais en vigueur et projet de loi). https://francearchives.fr/fr/ actualite/44101. 24. September 2009 (3. Januar 2021). Rukoro, Vekuii, David Frederick, The Association of the OvaHerero Genocide in the USA und Barnabas Veraa Katuuo. Class Action Complaint v. Federal Republic of Germany. http:// genocide-namibia.net/wp-content/uploads/2017/01/Class-Action-Complaint.pdf, 2017 (8. Dezember 2020). Savoy, Bénédicte. Reconnexions patrimoniales. Présence africaine dans les musées d’Europe. https://www.college-de-france.fr/agenda/cours/presence-africaine-dans-les-museeseurope/reconnexions-patrimoniales. Vortrag am Collège de France vom 11. März 2021 (5. März 2023). Sénat. Le Sénat adopte un cadre pour le retour des biens culturels dans leur pays d’origine. https://www.senat.fr/presse/cp20220110a.html. 10. Januar 2022 (5. März 2023). Senouci, Brahim. Pétition. Restitution des têtes des résistants algériens, détenues par le Musée de l’Homme. https://www.change.org/p/Restitution-des-t%C3%AAtes-desr%C3%A9sistants-alg%C3%A9riens-d%C3%A9tenues-par-le-mus%C3%A9e-de-l-homme (25. November 2021). Statista. Ranking der auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland im 3. Quartal 2021. Zugriff über die Universitätsbibliothek der JLU, 2021a (28. November 2021). United Nations. Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängende Intoleranz – Erklärung. https://www.un.org/depts/ german/conf/ac189-12.pdf. Durban, 2001 (5. März 2023). The Art Institute of Chicago, Bavarian State Museum, Munich (Alte Pinakothek, Neue Pinakothek), State Museums, Berlin, Cleveland Museum of Art, J. Paul Getty Museum, Los Angeles [u. a]. Declaration on the importance and value of universal museums. https:// www.hermitagemuseum.org/wps/portal/hermitage/news/news-item/news/1999_2013/ hm11_1_93/?lng, 2002 (24. März 2021). Theurer, Katharina. „Germany Has to Grant Reparations for Colonial Crimes: UN Special Rapporteurs Get Involved Right on Time“. Völkerrechtsblog, https://voelkerrechtsblog.org/ de/germany-has-to-grant-reparations-for-colonial-crimes/ (02. Mai 2023).

Expertisen Ceaux, Dominique, und Simon Chassard. Rapport: Aux Harkis, la patrie reconnaissante. https:// medias.vie-publique.fr/data_Storage_s3/rapport/pdf/184000475.pdf. Paris, 2018 (5. März 2023). Fontanieu, Guillaume. „Le statut juridique des restes humains au sein des collections muséales: entre enjeux de mémoire et de conservation“. Rapport d’information au nom de la délégation sénatoriale à l’outre-mer sur la Rencontre Histoires Mémoires Croisées ‚Chapitres oubliés de l’Histoire de la France‘ du 14 novembre 2013, http://www.senat.fr/ rap/r13-149/r13-1491.pdf. 2013. 39–46 (5. März 2023). International Council of Museums (ICOM) (Hg.). ICOM Code of Ethics for Museums. https:// icom.museum/wp-content/uploads/2018/07/ICOM-code-En-web.pdf. Paris, 2017 [2004] (5. März 2023).

484 

 Literaturverzeichnis

Internationaler Museumsrat (ICOM) (Hg.). Ethische Richtlinien für Museen von ICOM. https:// www.provinz.bz.it/kunst-kultur/museen/downloads/ICOM_Ethische_Richtlinien_fuer_ Museen.pdf. 2010 (5. März 2023). Martinez, Jean-Luc. Rapport Patrimoine partagé: universalité, Restitutions et circulation des œuvres d’art. https://www.culture.gouv.fr/fr/Espace-documentation/Rapports/ Remise-du-rapport-Patrimoine-partage-universalite-Restitutions-et-circulation-desaeuvres-d-art-de-Jean-Luc-Martinez. Paris, 2023 (5. Mai 2023). Sarr, Felwine, und Bénédicte Savoy. Rapport sur la Restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationnelle. https://medias.vie-publique.fr/data_Storage_s3/ rapport/pdf/194000291.pdf. Paris, 2018 (5. März 2023). Stora, Benjamin. Rapport sur les questions mémorielles portant sur la colonisation et la guerre d’Algérie. https://medias.vie-publique.fr/data_Storage_s3/rapport/pdf/278186.pdf. Paris, 2021 (5. März 2023).

Forschungsliteratur Abécassis, Frédéric, und Gilbert Meynier (Hg.). Pour une histoire franco-algérienne. En finir avec les pressions officielles et les lobbies de mémoire. Paris: Découverte, 2008. Abu-Lughod, Lila, und Catherine Lutz. „Introduction: Emotion, discourse, and the politics of everyday life“. Language and the politics of emotion, Hg. Catherine Lutz und Lila Abu-Lughod. Cambridge/New York/Paris: Cambridge University Press, 1990. 1–23. Achille, Etienne, Charles Forsdick und Lydie Moudileno (Hg.). Postcolonial Realms of Memory. Sites and Symbols in Modern France. Liverpool: Liverpool University Press, 2020. AfricAvenir e. V. (Hg.). No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt Forum. Berlin: AfricAvenir International, 2017. Ageron, Charles-Robert. „Le ‚drame des Harkis‘: mémoire ou histoire?“. Vingtième Siècle. Revue d’histoire 68 (2000): 3–16. Ageron, Charles-Robert. „L’exposition coloniale de 1931: Mythe républicain ou mythe impérial?“. Tome I: La République, Hg. Charles-Robert Ageron und Pierre Nora. Paris: Gallimard, 1984. 561-591. Ahmed, Sara. The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004. Albrecht, Monika. „Introduction: Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present“. Postcolonialism Cross-Examined. Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial. Hg. Monika Albrecht. Abingdon, Oxon/New York, NY: Routledge, 2020. 1–47. Albrecht, Monika. „(Post)Colonial Amnesia? German Debates on Colonialism and Decolonization in the Post-War Era“. German colonialism and national Identity, Hg. Michael Perraudin und Jürgen Zimmerer. New York, NY: Routledge, 2014. 187–196. Alexander, Jeffrey C. „Toward a Theory of Cultural Trauma“. Cultural Trauma and Collective Identity, Hg. Jeffrey C. Alexander, Ron Eyerman, Bernard Giesen, Neil J. Smelser und Sztompka Piotr. Berkeley [u. a.]: Univ. of California Press, 2005. 1–30. Alleg, Henri. La question. Paris: Éd. de minuit, 2008 [1958]. Anderson, Benedict R. Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York: Verso, 2016 [1983]. Anderson, Benedict R. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/Main/New York: Campus-Verl., 2005 [1983].

Forschungsliteratur 

 485

Andrieu, Claire, Marie-Claire Lavabre und Danielle Tartakowsky. Politiques du passé. Usages politiques du passé dans la France contemporaine. Aix-en-Provence: Publ. de l’Université de Provence, 2006. Angermüller, Johannes, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana und Alexander Ziem (Hg.). 2014. Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen. Bielefeld: transcript. Appiah, Kwame Anthony. „Comprendre les réparations“. Cahiers d’études africaines 44 (2004): 25–40. Arzel, Lancelot, und Daniel Foliard. „Tristes trophées. Objets et restes humains dans les conquêtes coloniales (XIXe-début XXe siècle)“. Tristes trophées. Objets et restes humains dans les conquêtes coloniales (XIXe-début XXe siècle). Hg. Lancelot Arzel und Daniel Foliard. Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2020. 9–31. Aschheim, Steven E. „The (Ambigious) Political Economy of Empathy“. Empathy and Its Limits, Hg. Aleida Assmann und Ines Detmers. London: Palgrave Macmillan UK, 2016. 21–37. Assmann, Aleida. Formen des Vergessens. Göttingen: Wallstein-Verlag, 2016. Assmann, Aleida. 2015. Impact and Resonance. Towards a Theory of Emotions in Cultural Memory: Plenary Lecture at Södertörn University May 18, 2011, 2015, Huddinge. Assmann, Aleida. Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck, 2014 [2006]. Assmann, Aleida, und Sebastian Conrad. „Introduction“. Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories. Aleida Assmann und Sebastian Conrad. Houndsmills, Basingstoke, UK/New York, NY: Palgrave Macmillan, 2010. 1–16. Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck, 2009. Assmann, Aleida. „Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften“. Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Hg. Lutz Musner und Gotthart Wunberg. Wien: WUV-Univ.Verl., 2002. 27–45. Assmann, Jan. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck, 2005 [1992]. Assmann, Jan. „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. Kultur und Gedächtnis, Hg. Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. 9–19. Aussaresses, Paul. Services spéciaux. Algérie 1955–1957. Paris: Perrin, 2013 [2001]. Austin, John L. How to do Things with Words. The William James Lectures Delivered at Harvard University in 1955. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press, 1975 [1962]. Azni, Boussad. Harkis, crime d’État. Généalogie d’un Abandon. Paris: Ramsay, 2002. Bacholle-Bošković, Michèle. „Quelles commémorations pour les cinquante ans de la guerre d’Algérie?“. French Cultural Studies 25 (2014): 233–245. Bancel, Nicolas, Pascal Blanchard, Dominic Thomas und Alexis Pernsteiner (Hg.). The Colonial Legacy in France. Fracture, Rupture, and Apartheid. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2017. Bancel, Nicolas, Pascal Blanchard und Dominic Thomas. „Introduction: A Decade of Postcolonial Crisis: Fracture, Rupture, and Apartheid (2005–2015)“. The Colonial Legacy in France. Fracture, Rupture, and Apartheid, Hg. Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Dominic Thomas und Alexis Pernsteiner. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2017. 1–39. Bancel, Nicolas, Pascal Blanchard und Françoise Vergès (Hg.): La République coloniale. Essai sur une utopie. Paris: Michel, 2003.

486 

 Literaturverzeichnis

Bancel, Nicolas, und Pascal Blanchard. „Mémoire coloniale: résistances à l’émergence d’un débat“. Culture post-coloniale. 1961–2006; traces et mémoires coloniales en France, Hg. Pascal Blanchard und Nicolas Bancel. Paris: Ed. Autrement, 2011. 22–41. Bargetz, Brigitte, und Birgit Sauer. „Politik, Emotionen und die Transformation des Politischen: Eine feministisch-machtkritische Perspektive“. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 39 (2010): 141–155. Barkan, Elazar. Völker klagen an. Eine neue Internationale Moral. Düsseldorf: Patmos, 2002. Barkan, Elazar. The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2001. Baruch, Marc Olivier. „Emmanuel Macron et l’histoire (de France)“. https://www.politika.io/fr/ notice/emmanuel-macron-lhistoire-france. Passés futurs 4 (2018) (05. März 2023). Baussant, Michèle, Marina Chauliac, Sarah Gensburger und Nancy Venel (Hg.). Les terrains de la mémoire. Approches croisées à l’échelle locale. Nanterre: Presses universitaires de Paris Nanterre, 2018. Baussant, Michèle. „Ni mémoire, ni oubli: La France à l’épreuve de son histoire coloniale. L’exemple des Pieds-noirs et des Harkis“. Du vrai au juste. La mémoire l’histoire et l’oubli. Hg. Michèle Baussant. Saint-Nicolas, Quebec: Presses de L’Université Laval, 2006. Bayart, Jean-François. Les études postcoloniales. Un carnaval académique. Paris: Éd. Karthala, 2010. Beaujean-Baltzer, Gaëlle. „Du trophée à l’œuvre : parcours de cinq artefacts du royaume d’Abomey“. Gradhiva (2007): 70–85. Bedorf, Thomas. Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010. Beichelt, Timm. „Herrschaftskultur. Symbolisierung von Politik am Beispiel der bundesdeutschen Außenpolitik“. Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Hg. Birgit Schwelling. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004. 151–172. Benjamin, Walter. „Über den Begriff der Geschichte“. Gesammelte Schriften Erster Band, Teil I– III, Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978. 691–704. Bertrand, Romain. „La mise en cause(s) du ‚fait colonial‘: Retour sur une controverse publique“. Politique Africaine 2.102 (2006). 28–49. Bevernage, Berber. „Time, Presence, And Historical Injustice“. History and Theory 47 (2008): 149–167. Bhabha, Homi K. Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg, 2000 [1994]. Bhabha, Homi K. „The Third Space“. Identity. Community, Culture, Difference, Hg. Jonathan Rutherford. London: Lawrence & Wishart, 1990. 207–221. Bhambra, Gurminder K., Dalia Gebrial und Kerem Nişancıoğlu. „Introduction: Decolonising the University?“. Decolonising the University. Hg. Gurminder K. Bhambra, Dalia Gebrial und Kerem Nişancıoğlu. London/Berlin: Pluto Press; Knowledge Unlatched, 2018. 1–15. Bisht, Pawas. „The Politics of Cosmopolitan Memory“. Media, Culture & Society 35 (2013): 13–20. Blanchard, Pascal, Nicolas Bancel, Sandrine Lemaire und Benjamin Stora. Décolonisations françaises. La chute d’un empire. Paris: Éditions de la Martinière, 2020. Blanchard, Pascal, Nicolas Bancel, Gilles Boetsch, Christelle Taraud und Dominic Richard David Thomas (Hg.). Sexe, race et colonies. La domination des corps du XVe siècle à nos jours. Paris: Éditions La Découverte, 2018.

Forschungsliteratur 

 487

Blanchard, Pascal, Nicolas Bancel, Sandrine Lemaire und Dominic Thomas. „Introduction: The Creation of a Colonial Culture in France, from the Colonial Era to the ‚Memory Wars‘“. Colonial Culture in France Since the Revolution, Hg. Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire, Nicolas Bancel, Dominic Richard David Thomas und Alexis Pernsteiner. Bloomington: Indiana University Press, 2013. 1–48. Blanchard, Pascal, und Isabelle Veyrat-Masson (Hg.). Les guerres de mémoires. La France et son histoire : enjeux politiques, controverses historiques, stratégies médiatiques. Paris: La Découverte, 2008. Blanchard, Pascal. Le premier génocide du XXe siècle. Herero et Nama dans le Sud-Ouest africain allemand (1904–1908). https://www.achac.com/blogs/150, 2016 (11. Juli 2018). Bocher, Charles. „Le siège de Zaatcha: Souvenirs de l’expédition dans les Ziban en 1849“. Revue des Deux Mondes (1829-1971) 10 (1851): 70–100. Bodenstein, Felicity, und Christine Howald. „Weltkunst unter Verdacht: Raubkunst, ihre Geschichte und Erinneurngskultur in deutschen Museen“. Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit. Hg. Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller. Berlin: Metropol, 2018. 532–546. Böhlke-Itzen, Janntje. „Die bundesdeutsche Diskussion und die Reparationsfrage – ein ganz normaler Kolonialkrieg?“. Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart, Hg. Henning Melber und Janntje Böhlke-Itzen. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2005. 103–120. Borggräfe, Henning. Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um ‚vergessene Opfer‘ zur Selbstaussöhnung der Deutschen. Göttingen: Wallstein, 2014. Borutta, Manuel, und Jan C. Jansen. „Comparing Vertriebene and Pieds-noirs: Introduction“. Vertriebene and Pieds-noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives. Hg. Manuel Borutta und Jan C. Jansen. London: Palgrave Macmillan UK, 2016. 1–31. Bose, Friedrich von. Das Humboldt Forum: Eine Ethnografie seiner Planung. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2016. Bourdieu, Pierre. Méditations pascaliennes. Paris: Seuil, 2003 [1997]. Branche, Raphaëlle. La guerre d’Algérie: une histoire apaisée? Paris: Éd. du Seuil, 2005. Branche, Raphaëlle. La torture et l’armée pendant la Guerre d’Algérie. 1954-1962. Paris: Gallimard, 2001. Brehl, Medardus. Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. Zugl.: Bochum, Univ., Phil. Fak., Diss., 2005/2006. München: Fink, 2007. Brooks, Ann. Genealogies of Emotions Intimacies, and Desire: Theories of Changes in Emotional Regimes from Medieval Society to Late Modernity. London: Taylor and Francis, 2016. Brunet, Jean-Paul. Charonne. Lumières sur une tragédie. Paris: Flammarion, 2003. Bürger, Christiane. Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD. Bielefeld: transcript, 2017. Burke, Peter. Varieties of cultural history. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press, 1997. Butler, Judith. Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017 [2005]. Castro Varela, María do Mar und Nikita Dhawan. Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript, 2015. Césaire, Aimé. Über den Kolonialismus. Berlin: Alexander Verlag, 2021 [1955]. Césaire, Aimé. Discours sur le colonialisme. Paris: Présence Africaine, 2004 [1955]. Césaire, Aimé. Discourse on colonialism. New York: Monthly Review Press, 2000 [1955].

488 

 Literaturverzeichnis

Chakrabarty, Dipesh. Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt, M./New York, NY: Campus-Verl., 2010 [2000]. Chakrabarty, Dipesh. Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 2008 [2000]. Chakrabarty, Dipesh. „History and the Politics of Recognition“. Manifestos for History, Hg. Keith Jenkins, Sue Morgan und Alun Munslow, 2007. 77–87. Cheyette, Bryan. „AHR Roundtable: Postcolonialism and the Study of Anti-Semitism“. The American Historical Review 123 (2018): 1234–1245. Cock, Laurence de (Hg.). Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France. Dictionnaire critique. Marseille: Agone, 2008. Cole, Joshua. „Intimate Acts and Unspeakable Relations: Remembering Torture and the Algerian War of Independence“. Memory, Empire, and Postcolonialism. Legacies of French Colonialism, Hg. Alec Hargreaves. Lanham: Lexington Books, 2005. 125–141. Cole, Joshua. „Remembering the Battle of Paris: 17 October 1961 in French and Algerian Memory“. French Politics, Culture & Society 21 (2003): 21–50. Conan, Éric, und Henry Rousso. Vichy, un passé qui ne passe pas. Paris: Fayard, 1994. Connerton, Paul. „Seven types of forgetting“. Memory Studies 1 (2008): 59–71. Conrad, Sebastian. „Rückkehr des Verdrängten? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland 1919–2019“. APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, Deutsche Kolonialgeschichte (2019): 28–33. Conrad, Sebastian. Deutsche Kolonialgeschichte. München: Beck, 2008. Conrad, Sebastian, und Shalini Randeria. Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2002. Cooper, Frederick, und Ann Laura Stoler. „Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda“. Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Hg. Frederick Cooper und Ann Laura Stoler. Berkeley: University of California Press, 1997. 1–58. Corbin, Alain, Jean-Jacques Courtine und Georges Vigarello (Hg.). Histoire des Émotions, vol. 3. De la fin du XIXe siècle à nos jours. Paris: Seuil, 2016-2017. Cornelißen, Christoph. „Was heißt Erinnerungkultur? Begriff – Methoden – Perspektiven“. GWU 10 (2003): 548–563. Cornu, Marie. „Les restes humains ‚patrimonialisés‘ et la loi“. Technè (2016): 8–13. Crapanzano, Vincent. „De la colère à l’indignation“. Anthropologie et Sociétés 32 (2008): 121–138. Craps, Stef, und Michael Rothberg. „Introduction: Transcultural Negotiations of Holocaust Memory“. Criticism 53 (2011): 517–521. Curran, Vivian Grosswald. „Politicizing the Crime Against Humanity: The French Example“. Notre Dame Law Review 78 (2003): 677–710. Daase, Christopher. „Addressing Painful Memories: Apologies as a New Practice in International Relations“. Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories, Hg. Aleida Assmann und Sebastian Conrad. Houndsmills, Basingstoke, UK/New York, NY: Palgrave Macmillan, 2010. 19–31. De Cesari, Chiara, und Ann Rigney. „Introduction“. Transnational Memory. Circulation, Articulation, Scales. Hg. Chiara De Cesari und Ann Rigney. Berlin: De Gruyter, 2014. 1–25. De Cock, Laurence. „L’Achac et la transmission du passé colonial: stratégies entrepreneuriales et culturalisation de la question immigrée dans la mémoire nationale“. Cultures & conflits (2017): 105–121.

Forschungsliteratur 

 489

de Wolff, Kaya. Post-/koloniale Erinnerungsdiskurse in der Medienkultur. Der Genozid an den OvaHerero und Nama in der deutschsprachigen Presse von 2001 bis 2016. Bielefeld: transcript Verlag, 2021. de Wolff, Kaya. „Postkoloniale Erinnerungskonflikte in den Medien“. Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Hg. Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller. Berlin: Metropol, 2018. 408–432. de Wolff, Kaya. „The Politics of Cosmopolitan Memory from a Postcolonial Perspective: A Case Study on the Interplay of Holocaust Memory and the Herero’s Ongoing Struggle for Recognition and Restorative Justice“. Entangled Memories. Remembering the Holocaust in a Global Age, Hg. Marius Henderson und Julia Lange. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017. 387–427. Defrance, Corine. Punir, réparer, réconcilier. https://ehne.fr/fr/node/12450, 22.06.2020 (27. September 2022). Deluermoz, Quentin, Emmanuel Fureix, Hervé Mazurel und M’hamed Oualdi. „Écrire l’histoire des Émotions : de l’objet à la catégorie d’analyse“. Revue d’histoire du XIXe siècle (2013): 155–189. Denti, Davide. „Sorry for Srebrenica?: Public Apologies and Genocide in the Western Balkans“. Disputed memory. Emotions and memory politics in Central, Eastern and South-Eastern Europe, Hg. Tea Sindbæk Andersen und Barbara Törnquist-Plewa. Berlin/Boston: De Gruyter, 2016. 65–91. Derrida, Jacques. On Cosmopolitanism and Forgiveness. London: Routledge, 2001. Deslaurier, Christine, und Aurélie Roger. „Mémoires grises. Pratiques politiques du passé colonial entre Europe et Afrique“. Politique Africaine 2.102 (2006). 5–27. Deutsches Historisches Museum. Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Darmstadt/Berlin: Theiss; Stiftung Deutsches Historisches Museum, 2017. Dhawan, Nikita. „Justifying Colonialism / Decolonising Justice: The (Im)possibility of Undoing the Discontinuity Between Recht (Law) and Gerechtigkeit (Justice)“. The Division of the Earth. Tableaux on the Legal Synopses of the Berlin Africa Conference, Hg. Dierk Schmidt, Lotte Arndt, Clemens Krümmel, Hemma Schmutz, Diethelm Stoller und Ulf Wuggenig. Köln: König, 2010. 99-101. Diaz-Bone, Rainer. „Die interpretative Analytik als methodologische Position“. Foucault. Diskursanalyse der Politik: Eine Einführung, Hg. Brigitte Kerchner und Silke Schneider. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 68–84. Digeser, Peter E. „La politique et le pardon (im)possible“. La repentance. Le retour du pardon dans l’espace public, Hg. Gilbert Larochelle und Jean-François de Raymond. Paris: Cerf, 2014. 177–198. Dimbath, Oliver. Oblivionismus. Vergessen und Vergesslichkeit in der modernen Wissenschaft. Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft, 2014. Dinter, Sonja. Die Macht der historischen Handlung. Sklaverei und Emanzipation in der britischen und französischen Erinnerungskultur seit Ende der 1990er Jahre. Bielefeld: Transcipt Verlag, 2018. Dosse, François. „Travail et devoir de mémoire chez Paul Ricœur“. Inflexions N° 25 (2014): 61. Dubiel, Helmut. Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. München: C. Hanser, 1999. Dubiel, Helmut. „Über moralische Souveränität, Erinnerung und Nation“. Merkur 48 (1994): 884–897.

490 

 Literaturverzeichnis

Durkheim, Émile. Die Regeln der soziologischen Methode. Darmstadt und Neuwied: Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2014 [1895]. Durkheim, Émile. Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903. Neuwied am Rhein, Darmstadt: Luchterhand, 1973 [1922]. Durmelat, Sylvie. „Revisting Ghosts: Louisette Ighilahriz and the Remembering of Torture“. Memory, Empire, and Postcolonialism. Legacies of French Colonialism, Hg. Alec Hargreaves. Lanham: Lexington Books, 2005. 142–159. Eckert, Andreas. „Die ‚Wiederentdeckung‘ des deutschen Kolonialismus“. Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, Hg. Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer. Köln: Böhlau, 2021. 245–259. Eckert, Andreas. „Postkoloniale Zeitgeschichte? Essay“. Zeithistorische Forschung/Studies in Contemporary History (2020): 530–543. Eckert, Andreas. „Namibia–ein deutscher Sonderweg? Anmerkungen zur internationalen Diskussion“. Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, Hg. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller. Berlin: Weltbild [Ch. Links], 2011 [2004]. 226–236. Eder, Jacob S. Holocaust-Angst. Die Bundesrepublik, die USA und die Erinnerung an den Judenmord seit den siebziger Jahren. Göttingen: Wallstein Verlag, 2020. Edkins, Jenny. Trauma and the Memory of Politics. Cambridge, UK/New York: Cambridge University Press, 2003. Edwards, M. Kathryn. „Traître au colonialisme? The Georges Boudarel Affair and the Memory of the Indochina War“. French Colonial History (2010): 193–210. Egger, Stephan (Hg.). Maurice Halbwachs – Aspekte des Werks. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2003. Eicker, Steffen. Der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht. Die völkerrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland für das Vorgehen des Deutschen Reiches gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904 und ihre Durchsetzung vor einem nationalen Gericht. Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 2008. Frankfurt am Main: Lang, 2009. Einaudi, Jean-Luc. La bataille de Paris. 17 octobre 1961. Paris: Éd. du Seuil, 1991. Eitler, Pascal, und Monique Scheer. „Emotionsgeschichte als Körpergeschichte: Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert“. Geschichte und Gesellschaft 35 (2009): 282–313. Eldridge, Claire. From Empire to Exile. History and Memory Within the Pied-Noir and Harki Communities 1962–2012. Manchester: Manchester University Press, 2016. Epple, Angelika. Reflektieren statt Moralisieren–Ein Kommentar zum Beitrag ‚Enttabuisiert den Vergleich‘ von Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer. https://vergleichen.hypotheses. org/author/aepple, 19.04.2021 (17. Mai 2021). Erll, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: J. B. Metzler, 2017. Erll, Astrid. „Travelling Memory“. Parallax 17 (2011a): 4–18. Erll, Astrid. Memory in Culture. Houndmills, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2011b. Erll, Astrid. „Remembering across Time, Space, and Cultures: Premediation, Remediation and the ‚Indian Mutiny‘“. Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory, Hg. Astrid Erll und Ann Rigney. Berlin: De Gruyter, 2009. 109–138. Erll, Astrid. „Cultural Memory Studies: An Introduction“. Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook, Hg. Astrid Erll, Ansgar Nünning und Sara B. Young. Berlin/New York: De Gruyter, 2008. 1–15.

Forschungsliteratur 

 491

Erll, Astrid. „Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff“. Medien des kollektiven Gedächtnisses. Historizität–Konstruktivität–Kulturspezifität, Hg. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Boston: De Gruyter, 2004. 3–23. Espagne, Michel. „Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle“. Genèses (1994): 112–121. Espagne, Michel. Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIII. et XIX. siècle). Paris: Ed. Recherche sur les Civilisations, 1988. Eyo, Ekpo. „Nigeria“. Museum–Revue trimestrielle publiée par l’UNESCO 31 (1979): 18–21. Faber-Jonker, Leonor. „Anthropological Specimens or War Trophies? The Practice of Collecting and Studying Human Remains of Victims of the Herero and Nama Genocide in German South West Africa, 1904–1908“. Tristes trophées. Objets et restes humains dans les conquêtes coloniales (XIXe-début XXe siècle), Hg. Lancelot Arzel und Daniel Foliard. Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2020. 33–56. Faber-Jonker, Leonor. Le premier génocide du XXe siècle. Herero et Nama dans le Sud-Ouest africain allemand, 1904-1908. Paris: Éditions du Mémorial de la Shoah, 2017. Fanon, Frantz. L’ an V de la révolution algérienne. Paris: La Découverte, Poche, 2011 [1959]. Fanon, Frantz. Black Skin, White Masks. London: Pluto-Press, 2008 [1952]. Fanon, Frantz. Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981 [1961]. Feindt, Gregor, Félix Krawatzek, Daniela Mehler, Friedemann Pestel und Rieke Trimcev. „Entangled Memory: Toward A Third Wave In Memory Studies“. History and Theory 53 (2014): 24–44. Feustel, Robert, Reiner Keller, Dominik Schrage, Juliette Wedl und Daniel Wrana. „Zur method(olog)ischen Systematisierung der sozialwissenschaftlichen Diskursfoschung“. Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Hg. Johannes Angermüller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana und Alexander Ziem. Bielefeld: transcript, 2014. 482–506. Fischer, Henning, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter (Hg.). Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2012. Fontanieu, Guillaume. „La question juridique des restes humains sous l’angle de la dignité de la personne“. Les Annales de droit (2014): 197–227. Förster, Larissa. „Plea for a More Systematic, Comparative, International and Long-Term Approach to Restitution, Provenance Research and the Historiography of Collections“. Museumskunde Band 81 (2016): 49–54. Förster, Larissa. „‚You are giving us the skull – where is the flesh?‘ Die Rückkehr der namibischen Human Remains“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013a. 419–446. Förster, Larissa. ‚These Skulls Are Not Enough‘. The Repatriation of Namibian Human Remains From Berlin to Windhoek in 2011. http://www.darkmatter101.org/site/2013/11/18/ these-skulls-are-not-enough-the-repatriation-of-namibian-human-remains-from-berlin-towindhoek-in-2011/, 2013b (21. Dezember 2020). Förster, Larissa. Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken. Frankfurt, M. [u. a.]: Campus-Verl., 2010. Foucault, Michel. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch, 2017 [1977].

492 

 Literaturverzeichnis

Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015 [1969]. Foucault, Michel. Society Must Be Defended. Lectures at the Collège de France, 1975–76. London: Allen Lane The Penguin Press, 2003. Foucault, Michel. Language, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press, 1977. François, Etienne, Hannes Siegrist und Jakob Vogel. „Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen“. Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich: 19. und 20. Jh., Hg. Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995. 13–35. Frank, Robert. „Émotions mondiales, internationales et transnationales, 1822-1932“. Monde(s) (2012): 47–70. Fraser, Nancy. „Reframing Justice in a Globalizing World“. New Left Review (2005): 69–88. Fraser, Nancy, und Axel Honneth (Hg.). Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Frei, Norbert. Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München: C. H. Beck, 2012 [1996]. Freimüller, Tobias. „Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und ‚Vergangenheitsbewältigung‘“. http://docupedia.de/zg/freimueller_mitscherlich_ unfaehigkeit_v1_de_2011. Docupedia-Zeitgeschichte, 30.05.2011 (05. März 2023). Freudenreich, Johannes. Entschädigung zu welchem Preis? Reparationsprogramme und Transitional Justice. Zugl.: Potsdam, Univ., Diplomarbeit, 2009. Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, 2010. Frevert, Ute. Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München: Beck, 2013. Friedman, Stanford Susan. „Warum nicht vergleichen?“. Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Hg. Jan-Otmar Hesse, Frank Becker, Angelika Epple, Walter Erhart, Thomas Hippler, Barbara Korte, Kirsten Kramer, Helmut Peitsch, Werner Plumpe, Daniel Speich Chassé, Kerstin Stüssel und Thomas Welskopp. Frankfurt am Main: Campus Frankfurt/New York, 2015. 63–83. Fründt, Sarah. „Alle anders, alle gleich? Internationale Repatriierungsbewegungen“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013. 323–338. Gagné, Natacha. „Affirmation et décolonisation: la cérémonie de rapatriement par la France des toi moko à la Nouvelle-Zélande en perspective“. Journal de la société des océanistes (2012): 5–24. Gammerl, Benno, und Bettina Hitzer. „Wohin mit den Gefühlen?: Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften“. Berliner Debatte Initial 24 (2013): 31–40. Gammerl, Benno. „Emotional Styles – Concepts and Challenges“. Rethinking History 16 (2012): 161–175. Garapon, Antoine. Peut-on réparer l’histoire? Colonisation, esclavage, Shoah. Paris: Jacob, 2008. Garsha, Jeremiah J. „Expanding Vergangenheitsbewältigung? German Repatriation of Colonial Artefacts and Human Remains“. Journal of Genocide Research 22 (2020): 46–61. Gassama, Makhily (Hg.). L’Afrique répond à Sarkozy. Contre le discours de Dakar. Paris: Éd. Philippe Rey, 2008.

Forschungsliteratur 

 493

Gassert, Philipp. Transnationale Geschichte, Version 2.0. https://docupedia.de/images/9/9b/ Transnationale_Geschichte_Version_2.0_Philipp_Gassert.pdf, 29.10.2012 (28. Oktober 2021). Gensburger, Sarah, und Sandrine Lefranc. À quoi servent les politiques de mémoire? Paris: Sciences Po, 2017. Gensburger, Sarah. Les Justes de France. Politiques publiques de la mémoire. Paris: Presses de Sciences Po, 2010. Gerwarth, Robert, und Stephan Malinowski. „Hannah Arendt’s Ghosts: Reflections on the Disputable Path from Windhoek to Auschwitz“. Central European History 42 (2009): 279. Gerwarth, Robert, und Stephan Malinowski. „Der Holocaust als ‚kolonialer Genozid’? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg“. Geschichte und Gesellschaft (2007): 439–466. Gewald, Jan-Bart. „Imperial Germany and the Herero of Southern Africa: Genocide and the Quest of Recompense“. Genocide, War Crimes, and the West. History and Complicity, Hg. Adam Jones. London/New York: Palgrave Macmillan, 2004. 59–77. Gibney, Mark (Hg.). The Age of Apology. Facing Up to the Past. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008. Giesen, Bernhard. „Das Tätertrauma der Deutschen. Eine Einleitung“. Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs. Giesen, Bernhard. Konstanz: UVK-Verl.-Ges, 2004. 11–53. Goldmann, Matthias. „‚Ich bin Ihr Freund und Kapitän‘. Die deutsch-namibische Entschädigungsfrage im Spiegel intertemporaler und interkultureller Völkerrechtskonzepte“. MPIL Research Paper Series No. 2020–29 (2020). Goschler, Constantin. „Vom asymmetrischen Tauschhandel zur humanitären Geste: Die moralische Ökonomie des Auszahlungsprogramms der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung, Zukunft‘“. Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung?, Hg. Constantin Goschler, José Brunner, Krzysztof Ruchniewicz und Philipp Ther. Göttingen: Wallstein, 2012. 15–46. Goschler, Constantin. Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen: Wallstein, 2005. Göttsche, Dirk. „Introduction: Memory and Postcolonialism“. Memory and Postcolonial Studies. Synergies and New Directions. Hg. Dirk Göttsche. Oxford: Peter Lang Ltd, International Academic Publishers, 2019. 1–41. Gould, Deborah B. Moving Politics. Emotion and Act Up’s Fight Against AIDS. Chicago: University of Chicago Press, 2009. Gounin, Yves. Lecture de ‚Les études postcoloniales. Un carnaval académique‘ de Jean-François Bayart. https://www.cairn.info/revue-politique-etrangere-2010-4-page-912.htm, 2010 (5. März 2023). Granger, Christophe. „L’expression des Émotions et la société“. Vingtième Siècle. Revue d’histoire 123 (2014): 39–48. Grosse, Pascal. „From Colonialism to National Socialism to Postcolonialism: Hannah Arendt’s Origins of Totalitarianism“. Postcolonial Studies 9 (2006): 35–52. Grosse, Pascal. „What does German Colonialism Have to Do with National Socialism?: A Conceptual Framework“. Germany’s Colonial Pasts, Hg. Eric Ames und Sander L. Gilman. Lincoln: Univ. of Nebraska Press, 2005. 115–134. Grusin, Richard A. Premediation: Affect and Mediality After 9/11. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010.

494 

 Literaturverzeichnis

Ha, Kien Nghi. „Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft“. Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Hg. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt. Münster: Unrast, 2005. 105–117. Ha, Kien Nghi. „Die fragile Erinnerung des Entinnerten“. APuZ–Aus Politik und Zeitgeschichte, Kolonialismus 62.44–45 (2012): 50–54. Habermas, Jürgen. „Der neue Historikerstreit: Perspektive“. Philosophie Magazin (2021): 10–11. Habermas, Rebekka. „Restitutionsdebatten, koloniale Aphasie und die Frage, was Europa ausmacht“. APuZ–Aus Politik und Zeitgeschichte, Deutsche Kolonialgeschichte 69.40–42 (2019): 17–22. Halbwachs, Maurice. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985 [1925]. Halbwachs, Maurice. The Collective Memory. New York: Harper & Row, 1980 [1950]. Halbwachs, Maurice. „L’expression des Émotions et la société“. Classes sociales et morphologie (1972 [1947]): 164–173. Hall, Stuart. „Wann war ‚der Postkolonialismus‘?: Denken an der Grenze“. Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Hg. Elisabeth Bronfen und Anne Emmert. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1997. 219–246. Hall, Stuart. „The West and the Rest: Discourse and Power“. Formations of Modernity: Understanding Modern Societies an Introduction Book 1, Hg. Bram Gieben und Stuart Hall. Cambridge: Polity Press, 1992. 275–320. Hammerstein, Katrin. „Eine Fernsehserie schreibt Geschichte: Reaktionen auf die Ausstrahlung von ‚Holocaust‘ vor 40 Jahren“. https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/284090/ eine-fernsehserie-schreibt-geschichte/. Bpb: Deutschland Archiv, 2019 (05. März 2023). Hamoumou, Mohamed und Dominique Schnapper. Et ils sont devenus Harkis. Paris: Fayard, 2001 [1993]. Häussler, Matthias. Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in ‚DeutschSüdwestafrika‘. Dissertation, 2018. Hayden, Patrick, und Kate Schick. „Recognition and the International: Meanings, Limits, Manifestations“. Recognition and Global Politics. Critical Encounters Between State and World. Hg. Patrick Hayden und Kate Schick. Manchester, England: Manchester University Press, 2016. 1–24. Hicks, Dan. The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution. London: Pluto Press, 2020. Hitzer, Bettina. Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. Forschungsbericht. http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001.pdf, 2011 (15. Januar 2016). Hobsbawm, Eric, und Terence Ranger. The Invention of Tradition. New York: Cambridge University Press, 2012 [1983]. Högerle, Erin, und Jarula Wegner. Conference Report on ‚Provincializing European Memory‘ from 23 to 25 September 2015. https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte6232?title=provincializing-european-memory&recno=5&q=&sort=&fq=&total=6012, 2015 (27. Mai 2020). Honneth, Axel. Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2016 [1994]. House, Jim, und Neil MacMaster. Paris 1961. Algerians, state terror and memory. Oxford: Oxford University Press, 2009.

Forschungsliteratur 

 495

Howard-Hassmann, Rhoda E., und Mark Gibney. „Introduction: Apologies and the West“. The Age of Apology. Facing Up to the Past, Hg. Mark Gibney. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008. 1–9. Hüser, Dietmar. „Das Gestern im Heute: Zum Wandel französischer Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“. Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Hg. Adolf Kimmel. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss, 2005a. 45–62. Hüser, Dietmar. „Staat – Zivilgesellschaft – Populärkultur: Zum Wandel des Gedenkens an den Algerienkrieg in Frankreich“. Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Hg. Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken. Frankfurt am Main/ New York: Campus, 2005b. 95–111. Hutchison, Emma. „Trauma and the Politics of Emotions: Constituting Identity, Security and Community after the Bali Bombing“. International Relations 24 (2010): 65–86. Hutton, Patrick H. „From ‚History as an Art of Memory‘“. The Collective Memory Reader, Hg. Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy. New York: Oxford University Press, 2011. 411–415. Hutton, Patrick H. History as an Art of Memory. Burlington, Vt./Hanover: University of Vermont; University Press of New England, 1993. Huyssen, Andreas. Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia. Hoboken: Taylor and Francis, 2012 [1995]. Huyssen, Andreas. Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford, Calif.: Stanford University Press, 2003. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg. Einführungsband. Verhandlungsniederschriften 14. November 1945 – 30. November 1945. Köln: Reichenbach, 1994 [1947]. Ireland, Susan. „Rivesaltes“. Postcolonial Realms of Memory. Sites and Symbols in Modern France, Hg. Etienne Achille, Charles Forsdick und Lydie Moudileno. Liverpool: Liverpool University Press, 2020. 227–235. Isambert, François-A. „Durkheim: Eine Moralwissenschaft für eine laizistische Moral“. Trivium (2013). Jamfa, Leonard. „Germany Faces Colonial History in Namibia: A Very Ambiguous ‚I Am Sorry‘“. The Age of Apology. Facing Up to the Past, Hg. Mark Gibney. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008. 202–215. Jansen, Jan C. „Memory Lobbying and the Shaping of ‚Colonial Memories‘ in France since the 1990s: The Local, the National, and the International“. Vertriebene and Pieds-noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives, Hg. Manuel Borutta und Jan C. Jansen. London: Palgrave Macmillan UK, 2016a. 252–271. Jansen, Jan C. Algerien und Frankreich: Vom Kolonial- zum Erinnerungskrieg? http://www.bpb. de/apuz/232425/algerien-und-frankreich-vom-kolonial-zum-erinnerungskrieg, 2016b (03. Januar 2022). Jansen, Jan C. „Politics of Remembrance, Colonialism and the Algerian War of Independence in France“. A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, Hg. Małgorzata Pakier, Bo Stråth und Stanisław Tyszka. New York/Oxford: Berghahn Books, 2012. 275–293. Jaspers, Karl. Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München: Piper, 2019 [1946]. Jelen, Brigitte. „17 Octobre 1961 – 17 Octobre 2001: Une commémoration ambiguë“. French Politics, Culture & Society 20 (2002): 30–43.

496 

 Literaturverzeichnis

Jesse, Eckhard. „Vergangenheitsbewältigung“. Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Hg. Uwe Andersen und Wichard Woyke. Heidelberg: Springer VS, 2013. Jesse, Eckhard. Vergangenheitsbewältigung. Berlin: Duncker & Humblot, 1997. Jones, Kathryn. „Vergangenheitsbewäligung à la française: Post-Colonial Memories of the Herero Genocide and 17 October 1961“. German Colonialism and National Identity, Hg. Michael Perraudin und Jürgen Zimmerer. New York, NY: Routledge, 2014. Kalter, Christoph, und Martin Rempe. „La République décolonisée“. Geschichte und Gesellschaft 37 (2011): 157–197. Kalter, Christoph. Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich. Frankfurt am Main [u. a.]: Campus-Verl., 2011. Kämmerer, Jörn Axel. „The Persecution of the Herero from the Perspective of Public International Law“. The Division of the Earth. Tableaux on the Legal Synopses of the Berlin Africa Conference, Hg. Dierk Schmidt, Lotte Arndt, Clemens Krümmel, Hemma Schmutz, Diethelm Stoller und Ulf Wuggenig. Köln: König, 2010. 85–90. Kansteiner, Wulf. „On the Moral Profile of Public History: German Television, Nazi Perpetrators, and the Evolution of Holocaust Memory“. Nazi Ideology and Ethics, Hg. Wolfgang Bialas und Lothar Fritze. Newcastle upon Tyne [United Kingdom]: Cambridge Scholars Publishing, 2014. 439–462. Kansteiner, Wulf. „Genealogy of a Category Mistake: A Critical Intellectual History of the Cultural Trauma Metaphor“. Rethinking History 8 (2004): 193–221. Kansteiner, Wulf. „Finding Meaning in Memory: A Methodological Critique of Collective Memory Studies“. History and Theory 41 (2002): 179–197. Kaplan, E. Ann. Trauma Culture. The Politics of Terror & Loss in Media and Literature. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 2007 [2005]. Kerchner, Brigitte. „Vielfalt, Komplexität oder Intersektionalität? Zum Einsatz der Diskurstheorie in der neueren Geschlechterforschung“. gender-politik-online (2011): 1–26. Kerchner, Brigitte. „Diskursanalyse in der Politikwissenschaft. Ein Forschungsüberblick“. Foucault. Diskursanalyse der Politik: eine Einführung, Hg. Brigitte Kerchner und Silke Schneider. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 33–67. Kerchner, Brigitte, und Silke Schneider. „‚Endlich Ordnung in der Werkzeugkiste‘. Zum Potenzial der Foucaultschen Diskursanalyse für die Politikwissenschaft – Einleitung“. Foucault. Diskursanalyse der Politik: eine Einführung. Hg. Brigitte Kerchner und Silke Schneider. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 9–30. Kerner, Ina. Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius, 2017 [2012]. Khemache, Katia. Harkis, un passé qui ne passe pas. Morlaàs: Cairn éditions, 2018. Klävers, Steffen. Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2019. Kleinman, Arthur, Veena Das und Margaret M. Lock. „Introduction“. Social Suffering. Hg. Arthur Kleinman, Veena Das und Margaret M. Lock. Berkeley: Univ. of California Press, 2010. ix–xxvii. Kleinman, Arthur. „‚Everything That Really Matters‘: Social Suffering, Subjectivity, and the Remaking of Human Experience in a Disordering World“. The Harvard Theological Review 90 (1997): 315–335. Kleres, Jochen. „Emotions and Narrative Analysis: A Methodological Approach“. Journal for the Theory of Social Behaviour 41 (2010): 182–202.

Forschungsliteratur 

 497

Kohser-Spohn, Christiane, und Frank Renken (Hg.). Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2005. Koposov, Nikolay E. Memory Laws, Memory Wars. The Politics of the Past in Europe and Russia. Cambridge, United Kingdom/New York, NY, USA: Cambridge University Press, 2017. Koschut, Simon, Todd H. Hall, Reinhard Wolf, Ty Solomon, Emma Hutchison und Roland Bleiker. „Discourse and Emotions in International Relations“. International Studies Review 19 (2017): 481–508. Koselleck, Reinhart. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017 [1979]. Kößler, Reinhart, und Henning Melber. „Koloniale Amnesie: Zum Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit“. Standpunkte (2018a): 1–4. Kößler, Reinhart, und Henning Melber. „Völkermord – Anerkennung ohne Entschuldigung und Entschädigung?: Verwicklungen in verwobener Geschichte“. Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Hg. Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller. Berlin: Metropol, 2018b. 223–242. Kößler, Reinhart, und Henning Melber. Völkermord – und was dann? Die Politik deutschnamibischer Vergangenheitsbewältigung. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2017. Kößler, Reinhart. „Postcolonial Asymmetry: Coping With the Consequences of Genocide Between Namibia and Germany“. Postcolonialism Cross-Examined. Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present, Hg. Monika Albrecht. Abingdon, Oxon/New York, NY: Routledge, 2020. 117–134. Kößler, Reinhart. Negotiating the past. Namibia and Germany. Münster, Westf: Westfälisches Dampfboot, 2015. Kößler, Reinhart. „Facing Postcolonial Entanglement and the Challenge of Responsibility: Actor Constellations Between Germany and Namibia“. Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Hg. Birgit Schwelling. Bielefeld: transcript, 2014. 277–312. Kößler, Reinhart. „Entangled History and Politics: Negotiating the Past Between Namibia and Germany“. Journal of Contemporary African Studies 26 (2008): 313–339. Kößler, Reinhart. „La fin d’une amnésie? L’Allemagne et son passé colonial depuis 2004“. Politique africaine 102 (2006): 50–66. Kreienbaum, Jonas. „Zur Debatte um mögliche Wege Von Windhuk nach Auschwitz“. APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte, Geschichte und Erinnerung 71.40–41 (2021): 14–19. Kreienbaum, Jonas. ‚Ein trauriges Fiasko‘. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908. Hamburg: Hamburger Ed., HIS Verl-Ges, 2015. Kreutzer, Leo. „Deutsche Heimat und afrikanische Wahlheimat in Hans Grimms Roman Volk ohne Raum: Zur Dekolonisierung eines ‚Kolonialismus ohne Kolonien‘“. Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Hg. Steffi Hobuß und Ulrich Lölke. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007. 79–93. Krüger, Anne K., und Stephan Scheuzger. „Die globale Verbreitung von Wahrheitskommissionen als Instrument der Transitional Justice“. Handbuch Transitional Justice, Hg. Anja Mihr, Gert Pickel und Susanne Pickel. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2016. 127–148. Krüger, Anne K. „From Truth to Reconciliation: The Global Diffusion of Truth Commissions“. Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Hg. Birgit Schwelling. Bielefeld: transcript, 2014. 339–367. Krüger, Gesine. „Das goldene Zeitalter der Viehzüchter: Namibia im 19. Jahrhundert“. Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und

498 

 Literaturverzeichnis

seine Folgen, Hg. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller. Berlin: Weltbild [Ch. Links], 2011 [2004]. 13–25. Kuckartz, Udo, und Stefan Rädiker. Analyzing Qualitative Data with MAXQDA. Text, Audio, and Video. Cham: Springer International Publishing, 2019. Kundrus, Birthe. „Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen: Überlegungen zur ‚Kolonialisierung‘ des Nationalsozialismus“. WerkstattGeschichte 43 (2006): 45–62. Kundrus, Birthe. „Von Windhoek nach Nürnberg?: Koloniale ‚Mischehenverbote‘ und die nationalsozialistische Rassengesetzgebung“. Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Kundrus, Birthe. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2003. 110–131. La Geouffre Pradelle, Géraud de. „Le sort des Harkis et la notion juridique de ‚crime contre l’humanité‘“. Les Temps Modernes n° 666 (2011): 237–247. Laclau, Ernesto. Emanzipation und Differenz. Wien [u. a.]: Turia + Kant, 2002. Laiß, Anna. „‚Verräter‘ oder ‚Opfer‘: Die Diskussion über algerische Hilfssoldaten an der Seite des kolonialen Frankreich“. iz3w (Mai/Juni 2013): 10–13. Landsberg, Alison. Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia University Press, 2004. Landsberg, Alison. „Prosthetic Memory: The Ethics and Politics of Memory in an Age of Mass Culture“. Memory and Popular Film, Hg. Paul Grainge. Manchester: Manchester University Press, 2003. 144–161. Landwehr, Achim. Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2009. Langenohl, Andreas. Erinnerung und Modernisierung. Die öffentliche Rekonstruktion politischer Kollektivität am Beispiel des Neuen Russland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000. Laukötter, Anja. „Gefühle im Feld – Die ‚Sammelwut‘ der Anthropologen in Bezug auf Körperteile und das Konzept der ‚Rasse‘ um die Jahrhundertwende“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013. 24–44. Lauré Al-Samarai, Nicola. „Inspirited Topography: Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur und Wissenstraditionen“. Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Hg. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt. Münster: Unrast, 2005. 118–134. Le Cour Grandmaison, Olivier. „Sur la réhabilitation du passé colonial de la France“. La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Hg. Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire. Paris: La Découverte, 2006. 126–132. Lebourg, Nicolas. „Le camp de Rivesaltes : bilan et perspectives d’un lieu d’ostracisme (1939–2007)“. Annales du Midi : revue archéologique, historique et philologique de la France méridionale 123 (2011): 409–424. Ledoux, Sébastien. Le devoir de mémoire. Une formule et son histoire. Paris: CNRS Éditions, 2016. Ledoux, Sébastien. „‚Devoir de mémoire‘: The Post-Colonial Path of a Post-National Memory in France“. National Identities 15 (2013): 239–256. Lee, Christopher J. Frantz Fanon. Toward a Revolutionary Humanism. Athens, Ohio: Ohio University Press, 2015. Lefeuvre, Daniel. Pour en finir avec la repentance coloniale. Paris: Le Grand livre du mois, 2006. Lefranc, Sandrine. Politiques du pardon. Paris: Presses universitaires de France, 2002.

Forschungsliteratur 

 499

Leggewie, Claus. Aufstand in Algerien. Die zweite Auferstehung des Ali la Pointe. https:// geschichtedergegenwart.ch/aufstand-in-algerien-die-zweite-auferstehung-des-ali-lapointe/. 2021 (12. Dezember 2021). Leggewie, Claus. „A Tour of the Battleground: The Seven Circles of Pan-European Memory“. Social Research 75 (2008): 217–234. Leroux, Georges, Micheline Labelle und Rachad Antonius (Hg.). Le devoir de mémoire et les politiques du pardon. Sainte-Foy: Presses de l’Université du Québec, 2005. Leturcq, Jean-Gabriel. „La question des Restitutions d’œuvres d’art: différentiels maghrébins“. L’Année du Maghreb (2008): 79–97. Levy, Daniel, und Natan Sznaider. Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001. Lind, Jennifer M. Sorry States. Apologies in International Politics. Ithaca: Cornell University Press, 2010. Lorenz, Chris. „Blurred Lines – History, Memory and the Experience of Time“. International Journal for History, Culture and Modernity 2 (2014): 43–63. Lünenborg, Margreth und Saskia Sell. „Politischer Journalismus als Forschungsfeld: Theoretische Verortung und empirische Zugänge“. Politischer Journalismus im Fokus der Journalistik, (Hg.) Margreth Lünenborg/Saskia Sell. Wiesbaden: Springer VS 2018. 3–31. MacLachlan, Alice. „The State of Sorry? Official Apologies and Their Absence“. Journal of Human Rights 9 (2010): 373–385. MacMaster, Neil. „The Torture Controversy (1998–2002): Towards a ‚New History‘ of the Algerian War?“. Modern & Contemporary France 10 (2002): 449–459. Macron, Emmanuel. Révolution. C’est notre combat pour la France. Paris: XO Éditions, 2016. Maier, Charles S. „Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era“. The American Historical Review 105 (2000): 807–831. Marcel, Jean-Christophe, und Laurent Mucchielli. „Eine Grundlage des ‚lien social‘: Das kollektive Gedächtnis nach Maurice Halbwachs“. Maurice Halbwachs – Aspekte des Werks, Hg. Stephan Egger. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2003. 191–225. Massumi, Brian. Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation. Durham, NC: Duke Univ. Press, 2002. Mbembe, Achille. Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika. Wien/Berlin: Verlag Turia + Kant, 2016 [2000]. McQueen, Paddy. Recognition, Social and Political. https://iep.utm.edu/recog_sp/#SH3a. 2021 (31. August 2021). Melber, Henning. Koloniale Asymmetrien der Gegenwart. Zum deutsch-namibischen ‚Versöhnungsabkommen‘. https://geschichtedergegenwart.ch/koloniale-asymmetriender-gegenwart-zum-deutsch-namibischen-versoehnungsabkommen/. 2021 (09. August 2021). Melber, Henning, und Janntje Böhlke-Itzen (Hg.). Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2005. Messerschmidt, Astrid. „Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft – vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus“. Peripherie 28 (2008): 42–60. Michel, Johann. Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France. Paris: Presses Univ. de France, 2010. Mignolo, Walter D. „Delinking: The Rhetoric of Modernity, the Logic of Coloniality and the Grammar of De-Coloniality“. Cultural Studies 21 (2007): 449–514.

500 

 Literaturverzeichnis

Miles, William F. S. „Third World views of the Holocaust“. Journal of Genocide Research 6 (2004): 371–393. Miller, Jeannette E. „A Camp for Foreigners and ‚Aliens‘: The Harkis’ Exile at the Rivesaltes Camp (1962–1964)“. French Politics, Culture & Society 31 (2013): 21–44. Mitscherlich, Alexander, und Margarete Mitscherlich. Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper, 2012 [1967]. Molden, Berthold. „Resistant Pasts Versus Mnemonic Hegemony: On the Power Relations of Collective Memory“. Memory Studies 9 (2016): 125–142. Moltke, Johannes von. The Catechism Debate. http://newfascismsyllabus.com/opinions/ polemics-and-provocations/. 2021 (22. Juni 2021). Monciaud, Didier. „Les Éditions de Minuit et la guerre d’Algérie: publications et rééditions“. Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique (2014): 225–231. Morin, Paul Max. Les jeunes et la guerre d’Algérie. Paris: Puf, 2022. Morin, Paul Max. „‚L’important c’est de respecter l’autre et son histoire‘“. Le un 338 (2021). Morin, Paul Max. „Cultural Insecurities and the Desire for Separation: Political Articulations of the Memory of the Algerian War in France“. Modern Languages Open 1 (2020). Moses, A. Dirk. The German Catechism. https://geschichtedergegenwart.ch/the-germancatechism/. 2021 (22. Juni 2021). Moses, A. Dirk. „Genocide and the Terror of History“. Parallax 17 (2011a): 90–108. Moses, A. Dirk. „Revisiting a Founding Assumption of Genocide Studies“. Genocide Studies and Prevention: An International Journal 6 (2011b): 287–300. Moses, Dirk. Moses The Canadian Museum for Human Rights: The ‚Uniqueness of the Holocaust‘ and the Question of Genocide“. Journal of Genocide Research 14 (2012): 215–238. Moses, Dirk. „Empire, Colony, Genocide: Keywords and the Philosophy of History“. Empire, colony, genocide. Conquest, occupation, and subaltern resistance in world history. Hg. Dirk Moses. New York, NY: Berghahn Books, 2010. 3–54. Mouralis, Guillaume. „Le procès Papon“. Terrain (2002): 55–68. Müller, Jan-Werner. „Introduction: The Power of Memory, the Memory of Power and the Power Over Memory“. Memory and Power in Post-War Europe: Studies in the Presence of the Past. Hg. Jan-Werner Müller. Cambridge: Cambridge University Press, 2002. 1–35. Neiman, Susan. Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil. New York: Picador, 2020. Nielsen, Philipp. „Politik und Emotionen aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft“. Emotionen und Politik. Begründungen, Konzeptionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung, Hg. Karl-Rudolf Korte. Baden-Baden: Nomos, 2015. 25–48. Niezen, Ronald. „Speaking for the dead: the memorial politics of genocide in Namibia and Germany“. International Journal of Heritage Studies 24 (2018): 547–567. Noiriel, Gérard. Les gilets jaunes, l’antisémitisme et „la démocratie du public“. https://noiriel. wordpress.com/. 2019 (30. November 2021). Nora, Pierre. „Entre mémoire et histoire: La problématique des lieux“. Tome I: La République, Hg. Charles-Robert Ageron und Pierre Nora. Paris: Gallimard, 1984a. XVII–XLII. Nora, Pierre (Hg.). Les Lieux de Mémoire. Les Frances, vol. 2. Paris: Gallimard, 1984b. Odier-Contreras Garduño, Diana Itza. Collective Reparations. Dissertation: Intersentia, 2018. Oeser, Alexandra. When Will We Talk About Hitler? German Students and the Nazi Past. New York, NY: s. n., 2019.

Forschungsliteratur 

 501

Olick, Jeffrey K., Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy (Hg.). The Collective Memory Reader. New York: Oxford University Press, 2011. Olick, Jeffrey K. The Politics of Regret. On Collective Memory and Historical Responsibility. New York: Routledge, 2007. Olick, Jeffrey K. „Collective Memory: The Two Cultures“. Sociological Theory 17 (1999): 333–348. Opoku, Kwame. „Haben die Deutschen noch nie, weder ausdrücklich noch indirekt, von Nigerias Forderungen nach Rückgabe der geraubten Artefakte gehört?“. No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt Forum, Hg. AfricAvenir e. V. Berlin: AfricAvenir International, 2017a. 110–139. Opoku, Kwame. Humboldt Forum And Selective Amnesia: Research Instead Of Restitution Of African Artefacts. https://www.modernghana.com/news/824314/Humboldt Forum-andselective-amnesia-research-instead-of-re.html. Modern Ghana, 2017b (5. März 2023). Pagenstecher, Cord. Der lange Weg zur Entschädigung. http://www.bpb.de/geschichte/ nationalsozialismus/ns-zwangsarbeit/227273/der-lange-weg-zur-entschaedigung, 2016 (17. August 2020). Paulmann, Johannes. „Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20.Jahrhunderts“. Historische Zeitschrift 267 (1998): 649–685. Pernau, Margrit. Transnationale Geschichte. Göttingen/Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht; UTB GmbH, 2011. Perraudin, Michael, und Jürgen Zimmerer (Hg.). German Colonialism and National Identity. New York, NY: Routledge, 2014. Pervillé, Guy. Histoire iconoclaste de la guerre d’Algérie et de sa mémoire. Paris: Vendémiaire, 2018. Pervillé, Guy. „Les raisons de l’echec du traité franco-algérien“. L’Algérie dépassionnée. Au-delà du tumulte des mémoires, Hg. Éric Savarèse, Raphaëlle Branche und Valérie EsclangonMorin. Paris: Syllepse, 2008. 117–135. Pervillé, Guy. „Die Geschichtswissenschaft und die späte Erforschung des Algerienkriegs: Von einem konfliktbeladenen Gedenken zur historiographischen Versöhnung?“. Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Hg. Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2005. 66–74. Peyroulou, Jean-Pierre, Ouanassa Siari Tengour und Sylvie Thénault. „1830–1880 : la conquête coloniale et la résistance des Algériens“. Histoire de l’Algérie à la période coloniale, 1830–1962, Hg. Abderrahmane Bouchène und Jean-Pierre Peyroulou. Paris: Éd. La Découverte, 2014. 17–44. Popular Memory Group. „From ‚Popular memory: Theory, Politics, Methods‘“. The Collective Memory Reader, Hg. Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy. New York: Oxford University Press, 2011. 254–260. Praët, Michel von, Claire Chastanier, Samuel Cordier und Ewa Maczek. Les restes humains dans les collections publiques. Vademecum. Dijon: Office de coopération et d’information musée, 2018. Prinz, Claudia. „Vor und nach Paxton. Der Paradigmenwechsel in der Deutung des VichyRegimes“. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History Online Ausgabe 4 (2007). Radhakrishnan, Rajagopalan. „Warum vergleichen?“. Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Hg. Jan-Otmar Hesse, Frank Becker, Angelika Epple, Walter Erhart, Thomas Hippler, Barbara Korte, Kirsten Kramer, Helmut Peitsch, Werner Plumpe, Daniel Speich

502 

 Literaturverzeichnis

Chassé, Kerstin Stüssel und Thomas Welskopp. Frankfurt am Main: Campus Frankfurt/New York, 2015. 35–61. Reddy, William M. The Navigation of Feeling. Framework for a History of Emotions. Cambridge: Cambridge University Press, 2001. Reddy, William M. „Against Constructionism: The Historical Ethnography of Emotions“. Current Anthropology 38 (1997): 327–351. Renken, Frank. Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt. Göttingen: V & R Unipress, 2006. Renken, Frank. „Kleine Geschichte des Algerienkrieges“. Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Hg. Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken. Frankfurt am Main/New York: Campus, 2005. 25–50. Renken, Frank. „Der Kampf um den 19. März: Zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das Totengedenken der Algerienkriegsveteranen in Frankreich“. https://www.zeitenblicke. de/2004/01/renken/Renken.pdf. Zeitenblicke 3.1, 2004 (5. März 2023). Rey-Goldzeiguer, Annie. Aux origines de la guerre d’Algérie 1940–1945. De Mers-el-Kébir aux massacres du Nord-Constantinois. Paris: La Découverte, 2006. Rheinisches JournalistInnenbüro (Hg.). Unsere Opfer zählen nicht. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2014. Ricœur, Paul. Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006. Ricœur, Paul. La mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris: Éditions du Seuil, 2000. Ritter, Claudia. „Passion und Politik. Zur Rationalität von Emotionen in Prozessen politischer Identitätsbildung“. Masse – Macht – Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen, Hg. Ansgar Klein und Frank Nullmeier. Opladen [u. a.]: Westdt. Verl, 1999. 219–237. Ritter, Sabine. „‚Présenter les organes génitaux‘: Sarah Baartman und die Konstruktion der Hottentottenvenus“. Entfremdete Körper. Rassismus als Leichenschändung, Hg. Wulf D. Hund. Bielefeld: transcript Verlag, 2009. 117–164. Robel, Yvonne. Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe. Zugl.: Bremen, Univ., Diss., 2012. München: Fink, 2013. Robine, Jérémy. „Les ‚indigènes de la République‘: Nation et question postcoloniale“. Hérodote 120 (2006): 118. Rose, Gillian. Visual Methodologies. An Introduction to Researching With Visual Materials. Los Angeles [i. e. Thousand Oaks, Calif.]: SAGE Publications, 2012. Rothberg, Michael. Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Berlin: Metropol Verlag, 2021. Rothberg, Michael. „Remembering Back: Cultural Memory, Colonial Legacies, and Postcolonial Studies“. The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Hg. Graham Huggan. Oxford: Oxford University Press, 2013. 359–379. Rothberg, Michael. Multidirectional memory. Remembering the Holocaust in the age of decolonization. Stanford, California: Stanford University Press, 2009. Rousso, Henry. Face au passé. Essais sur la mémoire contemporaine. Paris: Belin, 2016. Rousso, Henry. „Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich.: Überlegungen zum PaponProzess“. Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, Hg. Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis. München: C. H. Beck, 2000. 141–163. Rousso, Henry. Le Syndrome de Vichy de 1944 à nos jours. Paris: Éditions du Seuil, 1990 [1987]. Ruscio, Alain. „La Nostalgérie existe, nous ne cessons de la rencontrer“. Le un 338 (2021).

Forschungsliteratur 

 503

Ruß-Sattar, Sabine. „Die V. Republik: Politisches System und Institutionen“. Länderbericht Frankreich, Hg. Corine Defrance und Ulrich Pfeil. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2021. 167–183. Said, Edward W. Orientalismus. Frankfurt am Main: Fischer, 2014 [1978]. Said, Edward W. Culture and Imperialism. New York: Knopf, 1994. Salas, Denis. „Retour sur l’affaire Audin“. Les Cahiers de la Justice N° 4 (2018): 591. Sarkin, Jeremy. Colonial Genocide and Reparations Claims in the 21. Century. The Socio-Legal Context of Claims Under International Law by the Herero Against Germany for Genocide in Namibia, 1904–1908. Westport, Conn.: Praeger Security International, 2009. Sarkin, Jeremy. „The Coming of Age of Claims for Reparations for Human Rights Abuses Committed in the South“. International Journal on Human Rights 1 (2004): 66–125. Savoy, Bénédicte. Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München: C. H. Beck, 2021. Schaller, Dominik J. „Kolonialkrieg, Völkermord und Zwangsarbeit in ‚Deutsch-Südwestafrika‘“. Enteignet – vertrieben – ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Hg. Dominik J. Schaller, Rupen Boyadjian, Vivianne Berg und Hanno Scholtz. Zürich: Chronos Verlag, 2004. 147–232. Scheer, Monique. „Are Emotions a Kind of Practise? (And Is That What Makes Them Have A History?) A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion“. History and Theory (2012): 193–220. Schilling, Britta. Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation. Oxford/ New York, NY: Oxford University Press, 2014. Schneider, Christoph. „Der ‚Fall Papon‘ in der deutschen Presse“. Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Hg. Bernhard Giesen. Konstanz: UVK-Verl.-Ges, 2004. 269–294. Schudson, Michael. „From ‚The Past in the Present versus the Present in the Past‘ [1989]“. The Collective Memory Reader, Hg. Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy. New York: Oxford University Press, 2011. 287–290. Schulte-Varendorff, Uwe. „‚Schutztruppe‘“. Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Hg. Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller. Erfurt: Sutton Verlag, 2007. 386–390. Schwan, Gesine. Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., 2001 [1997]. Schwelling, Birgit. „Transnational Civil Society’s Contribution to Reconciliation: An Introduction“. Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century. Hg. Birgit Schwelling. Bielefeld: transcript, 2014. 7–21. Scott, Cynthia. Cultural Diplomacy and the Heritage of Empire. Negotiating Post-Colonial Returns. London/New York, NY: Routledge/Taylor & Francis Group, 2020. Session, Jennifer. „Horace Vernet’s Tête Arabe: The Artist as Colonial Collector“. Tristes trophées. Objets et restes humains dans les conquêtes coloniales (XIXe-début XXe siècle), Hg. Lancelot Arzel und Daniel Foliard. Rennes: Presses universitaires de Rennes, 2020. 155–176. Shepard, Todd. „Making Sovereignty and Affirming Modernity in the Archives of Decolonisation: The Algeria-France ‚Dispute‘ between the Post-Decolonisation French and Algerian Republics, 1962–2015“. Displaced Archives, Hg. James Lowry. New York: Routledge, 2017. 21–40.

504 

 Literaturverzeichnis

Shepard, Todd. The Invention of Decolonization. The Algerian War and the Remaking of France. Ithaca, NY: Cornell University Press, 2006. Sibeud, Emmanuelle, und Isabelle Merle. „Histoire en marge ou histoire en marche? La colonisation entre repentance et patrimonialisation“. Concurrence des passés, Hg. Maryline Crivello, Patrick Garcia und Nicolas Offenstadt. Aix-en-Provence: Presses universitaires de Provence, 2006. 245–255. Sindbæk Andersen, Tea, und Barbara Törnquist-Plewa (Hg.). Disputed memory. Emotions and memory politics in Central, Eastern and South-Eastern Europe. Berlin/Boston: De Gruyter, 2016. Smouts, Marie-Claude (Hg.). La situation postcoloniale. Les ‚postcolonial studies‘ dans le débat français. Paris: Sciences Po Presses, 2007. Soufi, Fouad. „Les archives algériennes en 1962: héritage et spoliation“. Insaniyat – Revue algérienne d’anthropologie et de sciences sociales (2014): 211–237. Spivak, Gayatri Chakravorty. Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant, 2011 [1988]. Statista. Ranking der auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen in Frankreich im Jahr 2020. Zugriff über die Universitätsbibliothek der JLU, 2021b (23. November 2021). Staudt, Kirsten. Strategien des Gehörtwerdens. Der Völkermord an den Armeniern als Politikum; ein deutsch-französischer Vergleich. Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 2014. Bielefeld: transcript, 2015. Stegemann, Wolfgang. „Die Metaphorik des Opfers“. Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Hg. Bernd Janowski und Michael Welker. Frankfurt am Main, 2000. 191–216. Stock, Robert. „Apologizing for Colonial Violence: The Documentary Film Regresso a Wiriyamu, Transitional Justice, and Portuguese-Mozambican Decolonisation“. Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Hg. Birgit Schwelling. Bielefeld: transcript, 2014. 239–276. Stodulka, Thomas. „Orders of Feeling“. Affective Societies. Key Concepts, Hg. Jan Slaby und Christian von Scheve. London/New York: Routledge Taylor & Francis Group, 2019. 310–318. Stoecker, Holger, und Barbara Teßmann. „Namibische Gebeine in Berlin – Methoden und Recherchewege der Provenienzforschung“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013. 199–223. Stoecker, Holger. „Human remains als historische Quellen zur namibisch-deutschen Geschichte: Ergebnisse und Erfahrungen aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt“. Sources and Methods for African History and Culture. Essays in Honour of Adam Jones, Hg. Geert Castryck, Silke Strickrodt, Katja Werthmann und Adam Jones. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2016. 469–492. Stoler, Ann Laura, und Carole McGranahan. „Introduction: Refiguring Imperial Terrains“. Imperial Formations, Hg. Ann Laura Stoler, Carole McGranahan und Peter Perdue. Santa Fe, New Mexico/Oxford: School for Advanced Research Press; James Currey, 2007. 3–42. Stoler, Ann Laura, und Karen Strassler. „Castings for the Colonial: Memory Work in ‚New Order‘ Java“. Comparative Studies in Society and History 42 (2000): 4–48. Stoler, Ann Laura. „Colonial Aphasia: Race and Disabled Histories in France“. Public Culture 23 (2011): 121–156. Stoler, Ann Laura. Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2009.

Forschungsliteratur 

 505

Stoler, Ann Laura. Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule. Berkeley: University of California Press, 2002. Stoler, Ann Laura. Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham: Duke University Press, 1995. Stora, Benjamin. „Quelques réflexions sur mon rapport remis en janvier 2021 au Président de la République“. Outre-Mers N° 414–415 (2022): 165–180. Stora, Benjamin. „When A (War) Memory Hides Another (Colonial) Memory“. The Colonial Legacy in France. Fracture, Rupture, and Apartheid, Hg. Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Dominic Thomas und Alexis Pernsteiner. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2017. 53–60. Stora, Benjamin. Les mémoires dangereuses. Paris: Albin Michel, 2016. Stora, Benjamin. „La guerre d’Algérie: La mémoire, par le cinéma“. Les guerres de mémoires. La France et son histoire: enjeux politiques, controverses historiques, stratégies médiatiques, Hg. Pascal Blanchard und Isabelle Veyrat-Masson. Paris: La Découverte, 2008. 262–272. Stora, Benjamin. „Quand une mémoire (de guerre) peut en cacher une autre (coloniale)“. La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Hg. Pascal Blanchard, Nicolas Bancel und Sandrine Lemaire. Paris: La Découverte, 2006. 59–67. Stora, Benjamin. „1999–2003, guerre d’Algérie, les accélérations de la mémoire“. La guerre d’Algérie. 1954–2004, la fin de l’amnésie, Hg. Benjamin Stora, Mohammed Harbi und Linda Amiri. Paris: Laffont, 2004. 501–514. Stora, Benjamin. La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie. Paris: La Découverte, 1998 [1991]. Sznaider, Natan, und Alejandro Baer. The Memory and Forgetting in the Post-Holocaust Era. The Ethics of Never Again. Basingstoke: Taylor & Francis Ltd, 2016. Sznaider, Natan. „Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung: Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert“. APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016): 10–15. Sznaider, Natan. „Suffering as a Universal Frame for Understanding Memory Politics“. Clashes in European Memory. The Case of Communist Repression and the Holocaust, Hg. Muriel Blaive, Christian Gerbel und Thomas Lindenberger. Innsbruck: Studienverlag, 2011. 239–254. Sznaider, Natan. „Holocausterinnerung und Terror im globalen Zeitalter“. APuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte 52–53 (2001): 23–28. Taylor, Charles, Amy Gutmann und Jürgen Habermas. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017 [1994]. Thenault, Sylvie, und Raphaëlle Branche. „Le secret sur la torture pendant la guerre d’Algérie“. Matériaux pour l’histoire de notre temps 58 (2000): 57–63. Thénault, Sylvie. Algérie: des ‚événements› à la guerre. Idées reçues sur la guerre d’indépendance algérienne. Paris: Le Cavalier Bleu, 2012. Thielecke, Carola, und Michael Geißdorf. „Rechtliche Grundlagen für den Umgang der Museen und Sammlungen mit menschlichen Überresten“. Leitfaden. Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen, Hg. Deutscher Museumsbund e. V. Berlin, 2021. 106–120. Todorov, Tzvetan. Les abus de la mémoire. Paris: Arléa, 2015 [1995]. Trouillot, Michel-Rolph. „Abortive Rituals: Historical Apologies in the Global Era“. Interventions 2 (2000): 171–186. Uhl, Heidemarie. „Warum Gesellschaften sich erinnern“. Informationen zur Politischen Bildung (2010): 5–14.

506 

 Literaturverzeichnis

Ulloa, Marie-Pierre. „Memory and Continuity: The Resistance, the Algerian War, and the Jeanson Network“. Memory, Empire, and Postcolonialism. Legacies of French Colonialism, Hg. Alec Hargreaves. Lanham: Lexington Books, 2005. 112–124. Vatter, Christoph. „Mediensystem im Wandel: Nationale Spezifika und Transnationale Herausforderungen“. Länderbericht Frankreich, Hg. Corine Defrance und Ulrich Pfeil. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2021. 440–452. Vidal-Naquet, Pierre. L’affaire Audin. Paris: Éd. de minuit, 2009 [1958]. Vuckovic, Nadja. „Qui demande des réparations et pour quels crimes?“. Le livre noir du colonialisme. XVIe-XXIe siècle, de l’extermination à la repentance, Hg. Marc Ferro. Paris: Robert Laffont, 2004. 1023–1056. Wedl, Juliette, und Daniel Wrana. „Einleitung: Grundlagen der Forschungspraxis“. Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Hg. Johannes Angermüller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana und Alexander Ziem. Bielefeld: transcript, 2014. 479–481. Wegmann, Heiko. „Die Freiburger Alexander-Ecker-Sammlung, koloniales Schädelsammeln und der aktuelle Rückgabeprozess nach Namibia“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013. 392–418. Weinke, Annette. „Die Bundesrepublik Deutschland – ein Fall von Transitional Justice avant la lettre?“. Handbuch Transitional Justice, Hg. Anja Mihr, Gert Pickel und Susanne Pickel. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2016. 1–26. Werbner, Richard P. (Hg.). Memory and the Postcolony. African Anthropology and the Critique of Power. London/New York: Zed Books, 1998. Werner, Michael, und Bénédicte Zimmermann. „Beyond Comparison: Histoire croisée and the Challenge of Reflexivity“. History and Theory 45 (2006): 30–50. Werner, Michael, und Bénédicte Zimmermann. „Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“. Geschichte und Gesellschaft 28 (2002): 607–636. Wesche, Anne. „Im Zweifelsfall als Einzelfall – Überblick zu vorhandenen Empfehlungen für den Umgang mit menschlichen Überresten vor dem Hintergrund zunehmend gestellter Rückgabeforderungen“. Sammeln, erforschen, zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Hg. Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann. Berlin: Ch. Links Verlag, 2013. 339–352. Wiener, Martin J. „The Idea of ‚Colonial Legacy‘ and the Historiography of Empire“. Journal of The Historical Society 13 (2013): 1–32. Wieviorka, Olivier. La mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres, de la Libération à nos jours. Paris: Éd. du Seuil, 2010. Wolfrum, Edgar. „Geschichtspolitik und deutsche Frage“. Geschichte und Gesellschaft: Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft (1998): 382–411. Wollrad, Eske. Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein/Taunus: Helmer, 2005. Wrana, Daniel. „Zur Relationierung von Theorien, Methoden und Gegenständen“. Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Hg. Johannes Angermüller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana und Alexander Ziem. Bielefeld: transcript, 2014. 617–627.

Forschungsliteratur 

 507

Yeğenoğlu, Meyda. „Memory, Apology and Mourning“. European Cosmopolitanism. Colonial Histories and Postcolonial Societies, Hg. Gurminder K. Bhambra und John Narayan. London/New York: Routledge, 2017. 17–30. Youssefi, Lilia. „Zwischen Erinnerung und Entinnerung: Zur Verhandlung von Kolonialismus im Humboldt Forum“. No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt Forum, Hg. AfricAvenir e. V. Berlin: AfricAvenir International, 2017. 42–61. Zeller, Joachim. „‚Ombepara i koza – Die Kälte tötet mich‘: Zur Geschichte des Konzentrationslagers in Swakopmund (1904–1908)“. Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Hg. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller. Berlin: Weltbild [Ch. Links], 2011 [2004]. 64–79. Ziai, Aram (Hg.). Postkoloniale Politikwissenschaft. Bielefeld: transcript, 2016. Ziai, Aram. Zwischen Global Governance und Post-Development. Entwicklungspolitik aus diskursanalytischer Perspektive. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2006. Zimmerer, Jürgen. Deutschland-Namibia: Wahrheit – Erinnerung – Versöhnung. Überlegungen zum Gedenken an den Völkermord von 1904–1908. https://www.kolonialismus. uni-hamburg.de/der-erste-Genozid-des-20-jahrhunderts-wahrheit-erinnerungversoehnung-ueberlegungen-zum-gedenken-an-den-voelkermord-von-1904-1908/, 2016 (30. November 2021). Zimmerer, Jürgen. „Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte“. Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Hg. Jürgen Zimmerer. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2013. 9–37. Zimmerer, Jürgen. „Der koloniale Musterstaat? Rassentrennung, Arbeitszwang und totale Kontrolle in Deutsch-Südwestafrika“. Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Hg. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller. Berlin: Weltbild [Ch. Links], 2011 [2004a]. 26–41. Zimmerer, Jürgen. „Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika: Der erste deutsche Genozid“. Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Hg. Jürgen Zimmerer und Joachim Zeller. Berlin: Weltbild [Ch. Links], 2011 [2004b]. 45–63. Zimmerer, Jürgen. Von Windhuk nach Auschwitz. Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Münster/Hamburg [u. a.]: Lit, 2007.

Sach- und Personenregister 1–9 17. Oktober 1961 107–108, 113, 114–115 A abandon 117, 128, 211, 223, 225, 229–232, 242–243, 245–254, 264–265, 406, 451 Algérie française 12, 104, 106–107, 111, 117, 173–174, 245, 363, 406 Algerienkrieg 106–110 Alien Torts Claim Act (ATCA) 255 Affekt 69, 74, 76 – affektives Wissen 8, 79–80, 460 Alleg, Henri 107, 388, 390 Amnestiegesetze 12, 109, 111, 115–116, 140, 215, 224, 264, 390, 394–395, 441, 450 Anerkennung 160–166 antiscience 151 archives de souveraineté 142, 360–361, 363–364, 368 archives de gestion 363 Audin, Maurice 107, 117, 126, 144, 171, 364, 387–389, 391–393, 395–397, 414–415, 433 Aussaresses, Paul 116, 389–390 B „Béhanzin-Statuen“ 320, 337–338, 378–379 Benin-Bronzen 142, 323, 339–340, 355, 378–379, 420 „Beschleunigung der Erinnerungen“ 88, 104, 117, 319 Beweislastumkehr 328, 332–333, 340, 351, 380 Bhabha, Homi 8, 46, 49, 53–57, 65 Bley, Helmut 100 Boumendjel, Ali 127, 143, 387, 390, 397, 399–400, 404, 411, 414–415 C Césaire, Aimé 1–2, 48–52, 66, 97, 106, 237, 275 Chakrabarty, Dipesh 4, 7, 28, 35, 43, 59–62, 66, 149, 212–213, 220, 237, 259, 461

https://doi.org/10.1515/9783111018683-014

Charité Human Remains Project 267 choc en retour 49–50, 106 code du patrimoine 143, 271–272, 279, 283, 330–333, 338, 353, 362, 365–366, 370, 380 contentieux archivistique algérofrançais 142, 320, 361, 364 counter-memories 34, 57–58 communautarisme 123, 352 Cultural Diplomacy 294, 336, 356, 358 D Dahomey 142, 330 Dekolonisierung 47–48, 109, 118–119, 322, 337, 355, 362, 364, 420 Dekolonialität 407–408, 441, 460 De- und Rekontextualisierung 45–47, 85, 170, 178, 227 „Deutsch-Südwestafrika“ 92–97 devoir (travail) de mémoire 131, 176, 398 Diachronität 14, 19, 77, 80, 133–136, 140, 152–154, 178, 212, 264, 415, 444, 450, 453 Dialog 41, 73, 157, 199, 246, 271, 275, 371–372 Diskurs 80–82, 86–87, 152–155, 157 Drechsler, Horst 100 Durkheim, Émile 72–73, 138, 452 E Eckpunktepapier 142, 320, 345, 347, 351, 372, 375, 379, 458 embodiment 76 Emotion 29, 31, 76, 78–80, 120, 386 émotion 30–31, 38, 74 emotionaler Diskurs 69, 74, 76–77, 80–82, 86–87 emotionale Ordnung 78–82 Emotionalität 4, 8–9, 24, 67, 77, 79, 120, 193, 226, 291, 304, 319, 321–322, 324–325, 329, 331, 335, 337, 347, 396, 442, 454–455

510 

 Sach- und Personenregister

Entinnern 51, 67, 141, 241, 303, 314–315, 454 – affektives 20, 79–80, 92–93, 303, 314, 317, 328, 460, 477 Entschuldigung 381–384, 386–387 Entwicklungszusammenarbeit 38, 138, 194–196, 198–199, 208, 297, 356, 419, 453 Erinnern 1, 4–5, 18, 28, 34, 43, 48, 52–53, 58–60, 64, 68, 84, 124, 154, 177, 207, 261, 275, 286, 313, 382, 394, 409, 436, 442, 448 Erinnerungsaktivismus 11, 130, 211, 442, 456 Erinnerungskultur 1, 6, 85, 202, 213, 376–377, 419, 444, 460 Erinnerungskulturenforschung 6, 22, 24, 47, 53, 56, 74, 84 Erinnerungspolitik 5–6, 21, 24, 35–36, 38, 51, 77, 89, 109, 111–112, 135, 146 – postkolonial 23–24, 29, 33, 38–40, 44, 49, 51, 53, 56, 67, 78, 80–82, 131–132, 153, 159 Erinnerungsrelevanz 5, 20, 72, 454, 462 Évian-Verträge 12, 105, 109, 115, 117, 128, 145, 174, 362, 400 F Fanon, Frantz 48, 52, 66, 163–165 Foucault, Michel 55, 57–59, 80–81, 86, 151–153, 155–156 G Gedächtnis (memory, mémoire) 27–35, 37, 42, 47–48, 53–54, 57–58, 63–64, 66, 70, 84–85, 110–111, 114, 121–123, 131–132, 145 – kollektives 31, 52–53 – kulturelles 26 Gegenstände des Fühlens 82 „Genozid-These“ 100–101, 221 Geschichtswissenschaft 32–33, 74–75, 97–99, 102, 121, 13 geteiltes Kulturerbe 366 Globalisierung 10, 35–38, 56, 58, 69, 90, 325, 412, 419, 444 Gouvernementalität 86

H Halbwachs, Maurice 5, 8, 29–31, 53, 81, 239, 276–277, 445 Harkis 12, 19, 108–109, 112, 115–117, 119, 128–129, 139–140, 148, 177, 210–215, 217–218, 220–232, 242–254, 263–265, 398–400, 449–452 histoire croisée 4, 15, 133–134 historisches Unrecht 136, 161, 253, 263, 385–386, 394 „historische Wahrheit“ 152, 178, 395–396, 398, 402, 404–405, 415, 437, 441–442, 454–455, 457, 461 Historikerstreit 1, 3, 104, 145, 420, 444 Historisierung 52, 135, 213 Holocaust 1–4, 10, 13, 15, 19, 22–23, 36–39, 42, 47, 51–52, 57–58, 68–69, 71–72, 89–93, 98, 113, 124, 129–130, 139, 444–451, 456 Holocaust-Gedächtnis 2, 23, 42, 57, 266 H/holocaust Parallelism 37, 211 human remains 141, 148, 267–271, 273–274, 281, 283, 288–291, 295, 303, 305, 313, 315 Humboldt Forum 103, 311, 322, 339, 350, 353, 355, 361, 375–376, 378, 443 Hybridität 8, 43, 53, 55–57, 67 I Ighilahriz, Louisette 116–117, 389, 391 induktive Pragmatik 134, 137, 154 Intertemporalität 219, 255 J Jaspers, Karl 384 Journée nationale d’hommage aux Harkis 117, 140, 212, 229–231, 242, 246, 248, 264, 451 K kollektive Identität 26–29 Kollektivideal 72–73, 166–168, 177, 182, 199, 405, 425, 443, 454 „Kollektivschuld“ 384–385 „koloniale Amnesie“ 43, 53, 65, 99, 110, 274–276, 309, 315, 360–361, 374–375, 454, 456 koloniale Aphasie 275–276

Sach- und Personenregister  koloniales Erbe 45, 63, 127, 348, 360, 373, 375, 443 koloniale Raubkunst 273, 318, 348, 375 Kontinuitätsthese 92, 96, 98, 104, 206, 255, 310 Konzentrationslager 95–96, 114, 157, 175, 205–206, 226, 236, 308, 451 Kulturgutschutzgesetz (KGSG) 273, 348 L „Leid der Anderen“ 38, 70, 161–162, 178, 262 Lemkin, Raphael 92, 97 Lieux de Mémoire 25, 29, 31, 35, 42, 85 lobby des mémoires 121, 403, 409 M Maherero, Samuel 94 Mbembe, Achille 8, 45–46, 55, 59, 61–62, 64–66, 419, 437–439, 458 Medien 16, 83–84, 87, 122 Memory Boom 23 methodologischer Nationalismus 27, 41, 136 Metropole 12, 90, 107, 125, 133, 223, 359, 362–363 Moral 39, 69–70, 73, 138, 167, 199, 238, 241, 422, 425, 452, 461 – internationale 39, 69, 138 Multidirektionalität 2, 49–50, 53, 58 N Nama 11–14, 178–198 „Nation“ 24–28, 35, 40 Native American Grave Protection and Repatriation Act 274, 314 NS-Raubkunst 340, 347–349, 352 O „Opfer“ 39, 70, 124, 128, 148, 160–161, 164, 193, 196–197, 204, 231, 253, 264, 414, 432, 441, 451 OvaHerero 11–14, 92–96 P Papon, Maurice 108, 113–115, 173, 175–176, 200, 217

 511

pieds-noirs 12, 106, 108–111, 119, 129, 132, 134, 173, 177, 214, 222, 244–245, 253, 399, 406, 452 postkolonialer Erinnerungsort 6, 24–26, 35, 59, 85, 115, 246 postkoloniales Dilemma 139–140, 212, 219–220, 225, 241, 259, 264, 266, 449–450 Postkolonialität 7, 43–45 Prämediation 84–85 Provenienzforschung 189, 268, 303, 311, 313, 316–317, 320, 340, 346–347, 350, 352, 354, 459 Provinzialisierung 4, 7, 28, 43–44, 47, 49, 58–59, 66–67, 96, 462 R „Rasseforschung“ 20, 105, 140–141, 267–269, 277, 280–281, 285, 287–288, 295, 304, 314–315, 455–456 Rationalität 8–9, 24, 67, 73, 79, 193, 325, 337, 347, 378, 454, 459 Reflexivität 15, 151–152 Rehumanisierung 311, 313 Reparationen 130–131, 238, 264–265, 424–429, 435, 437–438, 441, 445, 449 Repatriierung 134, 267–269 repentance 3, 120, 127, 131, 143, 286, 336–337, 387, 398–399, 401–405, 409, 412, 414, 433, 438, 442, 455 Restitution 269, 380 – Restitutionsbericht 318–320, 327, 332, 334, 337, 341, 344–345, 347, 349 – Restitutionsdebatte 141–143, 318–322, 324–326, 328–330 Retroaktivität 113, 139, 215, 240–241, 263–264, 266, 348, 450 S „Schlacht von Algier“ 107, 117, 143, 396, 400 „Schlacht am Waterberg“ 13, 94–95, 178, 416 „Schlacht von Zaatcha“ 19, 105, 126, 141, 267, 269, 280–281 „Schuld“ 70–71, 382–386 Shark Island 95, 256

512 

 Sach- und Personenregister

Shoah 10, 90–91, 112–114, 116, 130–131, 139, 203–204 Sondergesandte 102–103, 191, 259 Sprechakt 385, 417–418, 432, 441 Stora, Benjamin 88–89, 111–112 – Stora-Bericht 142, 369–370, 398, 409–410, 436 Synchronität 135, 320 T „Täter“ 37, 161, 164, 166, 194, 386, 432, 441 transkulturelle Empathie 38, 41, 447 Transitional Justice 383 Transnationalismus 35–36, 51, 458–459 Trauma 105, 109, 132, 157, 200–201, 316, 405–407, 409–410, 442, 455 U UN-Deklaration der Rechte indigener Völker 255, 431 UN-Genozid-Konvention 183 UNESCO-Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut 273 Universalismus 263, 334, 337, 447, 450 Unrechtskontext 311–312 V Verantwortung 62, 72, 130, 138, 381–383, 385 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 97, 115–116 Verflechtung(sgeschichte) 23, 40, 49, 66, 89, 129, 133–136, 435, 458 „Vergangenheitsbewältigung“ 103, 144, 210, 214, 275, 278, 311, 365, 370, 399, 402 Vergessen-Machen 19–20, 42–43, 51, 53, 131, 141, 268, 270, 274, 286, 313, 315, 456

Vergleich 59 – transnational 14–15, 20, 22, 24, 29, 35–36, 40, 42–43, 48, 51, 77, 89–90, 142–143, 301, 319, 321, 325–326, 434, 445, 447 Verkennung 5, 19, 21, 138, 144, 163, 183, 188, 193–194, 208–209, 382, 405, 422, 433, 453 „Vernichtungsbefehl“ 188, 306, 308 „Versachlichung“ 324, 359, 378–379, 402, 404–405, 409, 442, 459 Versöhnung 382–384, 440 – Sprache der 73, 382, 384, 440 Versöhnungsabkommen 144, 387, 421, 429–430, 434, 437–439 Verstrickung 22, 55, 121, 129, 133, 152, 326 Vichy 112–115 „Von Windhuk nach Auschwitz“ 92, 96, 206, 255, 308 Völkermord (Genozid) 178–191 W „Wiedergutmachung“ 131, 185, 187–188, 197–198, 211, 242, 248, 259–260, 265, 314, 344, 346, 358–359, 418, 424–426, 428, 432 Witbooi, Hendrik 94, 319, 321, 339, 360, 371–372, 374, 460 Witbooi-Bibel und Peitsche 20, 103, 142, 352, 355, 359, 361, 371, 380, 458 Z Zeit 44–48, 60–65, 67–68, 136 – historisch 62–64, 156 – juristisch 62–63, 65, 67, 156, 241 Zirkulation 77–78, 86, 94, 100, 132, 142, 154–155, 159, 320, 328, 342, 344, 357–358, 380, 460, 462