Eliten und Fortschritt: Zur Geschichte der Lebensstile in Venezuela 1908-1958 9783964562319

Una investigación histórica sobre los cambios de la sociedad venezolana y de sus formas de vida. (En alemán).

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Eliten und Fortschritt: Zur Geschichte der Lebensstile in Venezuela 1908-1958
 9783964562319

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
Das Legat des 19. Jahrhunderts
Die Regierungsjahre von General Gómez 1908-1935
Lebensstile zwischen Tradition und Wandel
Das Jahrzehnt der Militärs 1948-1958
Der demokratische Aufbruch von 1958: Beginn einer neuen Ära?
Quellen und Literatur

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Gerdes Eliten und Fortschritt

Editionen der Iberoamericana Reihe m Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 40

Claudia Gerdes

Eliten und Fortschritt Zur Geschichte der Lebensstile in Venezuela 1908 - 1 9 5 8

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gerdes, Claudia: Eliten und Fortschritt : Zur Geschichte der Lebensstile in Venezuela 1908 -1958 / Claudia Gerdes. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1992 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsitze ; Bd. 40) ISBN 3-89354-840-8 NE: Editionen der Iberoamericana / 03

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhalt

Einleitung

Das Legat des 19. J a h r h u n d e r t s

Die R e g i e r u n g s j a h r e v o n G e n e r a l G ö m e z

1908-1935

Verheißungsvoller Auftakt - Die ersten Bohrtürme Diktator Gömez und seine Klientel Die Krise des Großgrundbesitzes: Dandies und Lebemänner Das Großbürgertum als Wegbereiter der Moderne Die Verschmelzung alter und neuer Eliten

Lebensstile zwischen Tradition u n d W a n d e l Überlieferte Werte als Faktoren der Innovation Fortschrittsglaube Auslandsorientierung Ethik

der

Verschwendung

Die Modernisierung der Alltagskultur Wohnen Sport Naturbild Theater

und Nachtleben

Ernährung Wechselnde Moden und stilistische Leitmotive

6

Das Jahrzehnt der Militärs 1 9 4 8 - 1 9 5 8

211

Eldorado Venezuela - Die Früchte des Booms

211

Nationale Harmonie unter autoritärer Herrschaft: Pérez Jiménez und seine Offiziere

217

Das Establishment zwischen Fortschrittlichkeit und feudaler Exklusivität

230

Neureiche Konkurrenz: Der Mythos des schnellen Geldes

243

Gemeinsame Leitbilder rivalisierender Eliten

252

Der demokratische Aufbruch von 1958: Beginn einer neuen Ära?

264

Quellen und Literatur

282

7

Vorbemerkung Ohne ein zweijähriges Stipendium der Universität Hamburg, einen Kostenzuschuß vom DAAD sowie ein Anschlußstipendium der von Dr. Dr. Dedo Hundertmark geleiteten Simón-Bolívar-Stiftung in Hamburg* wäre diese Untersuchung, die auf ausführlichen Feldstudien beruht, nicht realisierbar gewesen. Während meines zweijährigen Forschungsaufenthalts in Venezuela bin ich auf große Hilfsbereitschaft gestoßen. Insbesondere Dr. Nikita Harwich Vallenilla von der Universidad Católica Andrés Bello und Dr. Guillermo Morón, Direktor der Nationalakademie für Geschichte, gaben mir als sach- und ortskundige Historiker in ausführlichen Gesprächen viele interessante Anregungen. Hilfreiche Unterstützung bei den verschiedensten Problemen, mit denen mich mein Forschungsprojekt konfrontierte, erhielt ich immer wieder auch von Alfredo Boulton und Dr. Ildefonso Leal von der Fundación Boulton. Für ihre Aufgeschlossenheit bei der Betreuung dieser Arbeit, die im Juli 1991 vom Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg als Dissertation angenommen wurde, habe ich jedoch vor allem Herrn Prof. Dr. Horst Pietschmann und Frau Prof. Dr. Inge Buisson zu danken, die mir mit Rat und Tat stets engagiert zur Seite standen. Aber auch allen anderen, die zur Entstehung dieser Studie beigetragen haben, sei hiermit mein herzlichster Dank ausgesprochen.

*

Die Simön-Bolivar-Stiftung hat zudem mit einem Druckkostenzuschuß zu der vorliegenden Veröffentlichung beigetragen.

9

Einleitung

Zu Beginn dieses Jahrhunderts war der Rückstand Venezuelas im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern nicht zu übersehen. Die Agrarwirtschaft, die vor allem auf der Ausfuhr von Kaffee beruhte, befand sich in Stagnation, Infrastruktur und Industrie waren über ein rudimentäres Stadium nicht hinausgekommen. Caracas hatte sich seit den Tagen der spanischen Herrschaft kaum verändert, die „Stadt der roten Ziegeldächer" machte mit weniger als 100 0 0 0 Einwohnern um 1920 neben Millionenstädten wie Buenos Aires den Eindruck einer verschlafenen Kleinstadt. Gleichsam über Nacht jedoch sollte sich Venezuelas Eintritt in das moderne Zeitalter vollziehen: Nachdem an der Lagune von Maracaibo reichhaltige Erdöllager entdeckt worden waren, avancierte Venezuela schon 1928 zum größten Erdölexporteur der Welt und zum zweitgrößten Produzenten nach den Vereinigten Staaten. Dreißig Jahre später, als 1958 der letzte venezolanische Diktator fluchtartig das Land verlassen mußte, war Caracas zu einer modernen Weltstadt geworden und vielspurige Stadtautobahnen, futuristische Hochhausarchitektur, elegante Hotels und Geschäfte hatten Venezuela den Ruf eines modernen Eldorado eingetragen, das Einwanderer aus aller Welt anlockte. Der Wandel Venezuelas von einem auf Großgrundbesitz beruhenden Agrarexporteur zum modernen Erdölausfuhrland, dessen wachsende städtische Zentren dank der Deviseneinahmen zunehmend durch die Charakteristika der modernen Konsumgesellschaft geprägt wurden, mußte eine Vielzahl neuer Lebensgewohnheiten mit sich bringen. Einen „städtischeren", an ausländischen Vorbildern orientierten Lebensstil nahm nicht nur die wachsende Mittelschicht an, sondern auch die Zuwanderer aus dem Landesinneren, deren Behausungen Elendsgürtel um die Städte und vor allem um Caracas zu bilden begannen. Und war um die Jahrhundertwende der Lebensstil der venezolanischen Oberschicht noch deutlich von der kolonialen Tradition bestimmt, so stellten die schnellen Geschäfte einer Boomwirtschaft nun scheinbar unbegrenzte Mittel für den Import eines „neureichen" Lebensstils zur Verfügung, der sich an internationalem Standard maß. Hatten die wohlhabendsten Familien noch vor wenigen Jahrzehnten in den bescheidenen Häusern des alten Caracas den altvaterischen Prunk ihrer kolonialen Vorfahren gepflegt, so bewohnten sie jetzt moderne Villen in neuen Vororten, verbrachten die Wochenenden auf Motor- oder Segeljachten an der karibischen Küste, und während die Männer im Erwerb der neuesten, amerikanischen Straßenkreuzer

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miteinander wetteiferten, übertrumpften die Damen sich mit Exklusivmodellen von Dior oder Chanel und flogen zum Einkaufen nach Miami oder New York. Nicht alle Zeitgenossen mochten sich vom Rausch des plötzlichen Überflusses fortreißen lassen. „Dieser vergängliche Reichtum hat das venezolanische Leben in tiefgreifender, unberechenbarer Weise in Unordnung gebracht. (...) Alles ist zu Erdöl geworden. Und das Erdöl ist für uns alles geworden, außer bleibendem und sicherem Wohlstand. Es entstellt unser Wirtschaftsleben, unser politisches und unser gesellschaftliches Leben." So pessimistisch schätzte der Schriftsteller Arturo Uslar Pietri 1948 die Auswirkungen des Booms ein und prophezeite seinen sorglos eine scheinbar unerschöpfliche Prosperität auskostenden Landsleuten „Gewissensbisse in der Stunde der Not", die sich unweigerlich einstellen müsse, wenn das Erdöl versiegt sei.1 Wirklich hatte Venezuela seine erstaunliche Verwandlung fast ausschließlich der Tatsache zu verdanken, daß es im Überfluß einen Rohstoff besaß, den die sich industrialisierenden Nationen für das Funktionieren ihrer Maschinen in immer größeren Mengen benötigten. Als das Erdöl 1926 den Kaffee als wichtigstes Exportprodukt ersetzte, hatte das Land eine grundsätzliche Umorientierung vollzogen. 2 Die Wirtschaft blieb unverändert auf den Export orientiert, aber die Ölgewinnung hatte technisch-industriellen Charakter und machte eine moderne Infrastruktur erforderlich. Und während das schwarze Gold eine unerwartete Devisenflut in die Staatskasse strömen ließ, trat Venezuela in den immer mächtigeren Bannkreis seines großen, nördlichen Nachbarn: Nachdem anfangs mit der Royal Dutch Shell die britischen Interessen dominiert hatten, gewann in den zwanziger Jahren die nordamerikanische Standard Oil ein immer stärkeres Übergewicht.3 Venezuelas „Eintritt in das Industriezeitalter" und die zunehmende Präsenz der ausländischen Gesellschaften waren jedoch unmittelbar zunächst kaum spürbar, denn sie konzentrierten sich auf Enklaven im Landesinneren, vor allem im Bundesstaat Zulia am Maracaibo-See. Die kostspielige Ölgewinnung überschritt bei weitem die wirtschaftlichen und technischen Kapazitäten Venezuelas, so daß das einheimische Kapital am Aufbau der Erdölindustrie keinen Anteil hatte. Die Angestellten der ausländischen Gesellschaften schotteten sich gegenüber der einheimischen Bevölkerung ab, und in der Nähe der Bohrplätze bewohnten die „musiües" - wie man in Anlehnung an das französische Wort monsieur alle blonden Fremden in Venezuela nannte - umzäunte Camps mit eigenen Schulen, Krankenhäusern und Clubs. Die venezolanische Regierung hatte unterdessen nicht viel mehr zu tun, als Konzessionen zu erteilen und die entsprechenden royalties einzuziehen. Es heißt, 1

Uslar Pietri, Arturo, De una a otra Venezuela, Caracas 1 9 8 5 , S. 2 9 , 6 8

2

Rodriguez, Luis C i p r i a n o , G ó m e z y ei agro, in: P i n o Iturrieta, Elias et al., J u a n V i c e n t e G ó m e z y su època, Caracas 1 9 8 8 , S. 101

3

B e t a n c o u r t , R ó m u l o , Venezuela, politica y p e t r ó l e o , Caracas 1 9 8 6 , S. 4 3 - 6 2

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daß General Juan Vicente Gómez, unter dessen Präsidentschaft die Ölindustrie ihren Einzug in Venezuela hielt, den ausländischen Gesellschaften sogar die Ausarbeitung der Erdölgesetze überließ: „Sie kennen sich mit dem Öl aus. (...) Machen Sie die Gesetze. Wir sind Anfänger auf diesem Gebiet." 4 Waren die Venezolaner selbst am Aufbau der neuen Industrie praktisch nicht beteiligt, so hatte andererseits die durch die Devisenflut wachsende Kaufkraft angesichts des rudimentären Entwicklungsstandes der inländischen Industrie eine entsprechende Erhöhung der Importe zur Folge. Es entstand eine Boomwirtschaft, die auf der Ausfuhr eines Rohstoffes und der Einfuhr von Konsumgütern beruhte und dem Land jene „Prosperität ohne Produktivität" bescherte, die für derartige Wirtschaftstypen charakteristisch ist. Während sich eine Ausgabeneuphorie einstellte, die in den fünfziger Jahren aus Caracas eine weltweites Aufsehen erregende moderne Metropole machen sollte, schienen die Stimmen jener Kritiker ungehört zu verhallen, die auf die Notwendigkeit hinwiesen, das Erdöl „auszusäen", 5 das heißt in eine langfristige Verbesserung der nationalen Produktionsstruktur zu investieren. Fiktiven Charakter besaß aus der Sicht der Mahner nicht nur eine vom Import abhängige Prosperität - auch die politische Rückschrittlichkeit schien das moderne Antlitz Lügen zu strafen, das Venezuela sich mit den Einnahmen aus dem Erdöl zugelegt hatte. Begannen die sozialen Gegensätze zwischen einer privilegierten Minderheit und einer von der Konjunktur weitgehend ausgeschlossenen Mehrheit immer krasser ins Auge zu fallen, war die politische Landschaft nach wie vor von autoritären Regierungen bestimmt. Nachdem von 1908 bis 1935 Diktator Gómez das Land mit eiserner Hand geführt hatte und seine Nachfolger, die Generäle Eleazar López Contreras (1936-1941) und Isaías Medina Angarita (1941-1945), eine zaghafte Demokratisierung eingeleitet hatten, sollte erst die 1945 gewaltsam zur Macht gelangte Volkspartei Acción Democrática 1948 zum ersten Mal allgemeine und direkte Wahlen veranstalten. Das „demokratische Experiment" wurde wenige Monate später durch einen Militärputsch beendet und nach wechselnden Militärjuntas übernahm 1952 Oberst Pérez Jiménez die Alleinherrschaft. Eine breite Volksfront vermochte 1958 den Diktator zu stürzen, der sich durch Korruption und die gewaltsame Unterdrückung der politischen Opposition bei fast allen Bevölkerungsschichten unbeliebt gemacht hatte. Bis 1958 der Sieg der Demokratie eine neue Epoche der venezolanischen Geschichte einzuläuten schien, galt die Modernisierung Venezuelas zumindest jenen als trügerische Kulisse, die einen sich gegenseitig ergänzenden Industrialisierungs4

Vgl. Betancourt, a.a.O., S. 64

5

Die berühmt gewordene Forderung „sembrar el petróleo" hatte Arturo Uslar Pietri schon 1936 aufgestellt. Vgl. Werz, Nikolaus, Parteien, Staat und Entwicklung in Venezuela, München 1983, S. 76

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und Demokratisierungsprozeß als unerläßliche Grundlage einer soliden Entwicklung betrachteten. 6 So warf man der erst seit den vierziger Jahren zu einiger Bedeutung gelangten Industrie vor, aus der Herstellung schnellebiger „Luxusgüter" raschen Profit schlagen zu wollen, anstatt mit Artikeln des Grundbedarfs die bedrohliche Abhängigkeit von Importen zu vermindern. Gleichzeitig kritisierte man, daß sich die Zentralisierung und Bürokratisierung der politischen Macht unter dem Vorzeichen der Vetternwirtschaft und der Korruption vollzogen habe. 7 Gegenstand der Besorgnis waren nicht zuletzt aber auch die kulturellen Verzerrungen, die der Boom angeblich hervorgebracht hatte. Das Eindringen der „Kultur des Erdöls", so hieß es, habe zu einer blinden Nachahmung fremder Lebensstile geführt und die Venezolaner in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. 8 Trotz der „kosmetischen", äußerlichen Neuerungen, die die Einkünfte aus dem Erdöl möglich gemacht hatten, bestanden jene grundlegenden Faktoren des Rückstands fort, die bereits im vorigen Jahrhundert den nach der Unabhängigkeit von Spanien erwarteten Aufschwung hatten ausbleiben lassen: die Willkür autoritärer Alleinherrscher und eine nach außen orientierte, wenig leistungsfähige Wirtschaft. Wenn kritische Zeitgenossen zudem beklagten, der Ölboom habe zur Zersetzung der Werte und Traditionen geführt, die das kulturelle Selbstverständnis der Venezolaner ausmachten, so war auch dieses Problem keineswegs neu: Seit den ersten Tagen ihrer Unabhängigkeit hatte die Republik um die Ausbildung einer nationalen Identität zu ringen gehabt. Um den Ursprung der Probleme zu erhellen, denen Venezuela gegenüberstand, als das Erdöl ihm zu einem unverhofften Reichtum verhalf, sei zunächst ein Blick auf die Vergangenheit geworfen. Erst 1777 war das Land, das zuvor zum Teil von Santo Domingo, zum Teil von Bogotá aus verwaltet wurde, zum Generalkapitanat der Vereinigten Provinzen von Venezuela geeint worden. Während in Neuspanien und Peru die Ausbeutung wertvoller Edelmetalle lockte, hatte das spanische Mutterland lange Zeit wenig Interesse für seine venezolanischen Kolonien gezeigt, und die Auswanderung in die dünn von Indianern bevölkerten venezolanischen Provinzen vollzog sich nur langsam. Einen gewissen Wohlstand sollte erst der Anbau von Kakao seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schaffen. Eine spanische Handelsgesellschaft monopolisierte die Ausfuhr, aber die kreolischen „Kakao-Barone" stellten bald eine einheimische Agrarelite dar, die in den städtischen Zentren mit der spanischen Verwaltungsbürokratie zusammenarbeitete. 9 6

Lepsius, M . Rainer, Soziologische T h e o r e m e über die Sozialstruktur d e r „ M o d e r n e " u n d die „ M o d e r n i s i e r u n g " , in: Koselleck, R e i n h a r t (Hg.), S t u d i e n z u m Beginn der m o d e r n e n W e l t , Stuttgart 1977, S. 13

7 8 9

Rangel, D o m i n g o Alberto, Venezuela, país o c u p a d o , La Paz/Bolivia 1955, S. 111 ff., 2 2 5 ff. Briceño-Iragorry, Mario, Tradición, n a c i o n a l i d a d y a m e r i c a n i d a d , S a n t i a g o de Chile 1955, S. 77 1728 h a t t e die „ C o m p a ñ í a G u i p u z c o a n a " v o n der s p a n i s c h e n K r o n e d a s M o n o p o l ü b e r d e n v e n e z o l a n i s c h e n A u ß e n h a n d e l z u g e s p r o c h e n b e k o m m e n : vgl. Hussey, R o l a n d Denis,

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Diese kreolische Oberschicht, deren zunehmendes Selbstbewußtsein sie 1810 zum Träger der Befreiungsbewegung gegen Spanien gemacht hatte, verlor in den Freiheitskriegen viele ihrer hervorragendsten Vertreter und einen großen Teil ihres Reichtums. Frei von der spanischen Vormundschaft, mußte sie die Macht mit neuen Gruppen teilen: Ruhmreiche Unabhängigkeitskämpfer aus den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten waren für ihre militärischen Taten mit Großgrundbesitz belohnt worden, und mit Waffengewalt und der Hilfe ihrer regionalen Gefolgschaft wußten sie ihre Machtansprüche auch weiterhin durchzusetzen. 1 0 Im Laufe des 19. Jahrhunderts sollten sich Caudillos aus den verschiedenen Regionen des Landesinneren immer wieder der in Caracas zentralisierten Regierungsgewalt bemächtigen. Oft blieb der städtischen Elite wohl oder übel nichts anderes übrig, als sich mit dem neuen Führer und dessen Klientel, die ihm aus der Provinz zu folgen pflegte, zu arrangieren - wobei die Stabilität, die die Autorität eines starken Caudillo versprach, in der durch politische und wirtschaftliche Krisen geschwächten jungen Republik durchaus nicht immer unwillkommen war. Während der endlich von den kolonialen Einschränkungen befreite Handel im 19. Jahrhundert allmählich einen Aufschwung erlebte, erwiesen sich die an den feudalen Traditionen ihrer kolonialen Vorfahren festhaltenden Großgrundbesitzer als unfähig, ihre Haciendas zu modernisieren. Seit dem 18. Jahrhundert bei der Kirche verschuldet, 1 1 gerieten sie nach dem Freiheitskrieg in die Schuld der Kaufleute, die nun als Darlehensgeber fungierten und die wirtschaftliche Gruppe darstellten, die auf lange Sicht die bedeutendste Kapitalakkumulation zu verzeichnen hatte. Nach einer Reihe von Caudillos aus dem Landesinneren gelangte 1871 mit General Antonio Guzmán Blanco ein Vertreter dieser außenorientierten, hauptstädtischen Handelsbourgeoisie an die Macht, die sich in Abkehr von der „rückschrittlichen" kolonialen Vergangenheit Venezuelas ganz dem Vorbild der modernen europäischen Nationen verschrieb. Fortschrittseifer und eine schrankenlose Bewunderung für alles Französische sollten die Leitmotive der - mit einigen Unterbrechungen - bis 1888 währenden Regierungszeit von Guzmán Blanco werden. Der Präsident suchte nicht nur mit aufwendigen städtebaulichen Reformen aus dem engen kolonialen Caracas ein „lateinamerikanisches Paris" zu

La Compañía de Caracas, 1 7 2 8 - 1 7 8 4 , Caracas 1962. Zur Sozialstruktur Venezuelas zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Brito Figueroa, Federico, Historia económica y social de Venezuela. Una estructura para su estudio, Caracas 1987, Bd. IV, S. 1218 ff. 10 11

Rodríguez Gallad, Irene, Venezuela entre el ascenso y la caída de la Restauración Liberal, Caracas 1980, S. 2 7 - 2 8 Carrera Damas, Germán, Una nación llamada Venezuela. Proceso sociohistórico 1 8 1 0 - 1 9 7 4 , Caracas 1983, S. 43

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machen. Unter der Herrschaft von Guzmán trat Venezuela, auf dessen mehr als unzulänglichen Verkehrswegen bisher die Maultiere die uneingeschränkte Vormacht besessen hatten, mit dem Bau von Straßen und Eisenbahnen auch in das „Zeitalter des Rades" ein. 12 Gleichzeitig wurden Telefon, Telegraphie und Elektrizität eingeführt. Aber trotz der durch den guzmancismo erzielten infrastrukturellen und auch administrativen Fortschritte, vollzog sich weder wirtschaftlich noch politisch ein grundlegender Strukturwandel, und bald galt General Guzmán, der sich in den wichtigsten venezolanischen Städten pompöse Denkmäler errichten ließ, als ebenso korrupt wie despotisch. 13 Hatte der von ihm vertretene Liberalismus sich in der politischen Praxis damit in sein Gegenteil verkehrt, so war die durch Guzmán repräsentierte neue Bourgeoisie zwar begierig, europäischen Lebensstandard und europäische Lebensart zu erlangen, aber sie hatte kein Interesse an der Entwicklung neuer Wirtschaftsmodelle gezeigt, sondern stützte sich nach wie vor auf die Ausfuhr von Agrarprodukten. Als gegen Ende des Jahrhunderts eine weltweite Überproduktion von Kaffee die Preise sinken ließ, offenbarten sich in dem Bild des „zunehmenden Verfalls", das die venezolanische Wirtschaft abgab, die unheilvollen Konsequenzen der Monokultur. 14 Gleichzeitig erreichten die politischen Wirren einen Höhepunkt in dem letzten Bürgerkrieg, der in Venezuela ausgefochten wurde und der zwischen 1901 und 1903 mehr als 20 000 Opfer forderte. 15 Von ausländischem Kapital unterstützt, wandten sich Vertreter der hauptstädtischen Bourgeoisie, aber auch rebellische Caudillos aus dem Landesinneren gegen die Herrschaft eines „Emporkömmlings, der überraschend durch die Hintertür gekommen war" 1 6 , nämlich gegen das jüngst etablierte Regime von Cipriano Castro, der 1899 aus dem Andenstaat Táchira aufgebrochen war, um in Caracas die Macht zu erobern, und den andinos zu einer jahrzehntelangen politischen Vorherrschaft verhalf - bis 1958 stammten bis auf eine Ausnahme alle venezolanischen Präsidenten aus der Andenregion. Mit dem Sieg über die Aufständischen versetzte Castro eben dem regionalen caudillismo einen empfindlichen Schlag, aus dem er 1899 selbst hervorgegangen war, und ohne es zu wissen, bereitete er mit der fortschreitenden Zentralisierung der Macht einem Nachfolger den Weg, der die autoritäre Alleinherrschaft eines klassischen lateinamerikanischen Señor Presidente verkörpern sollte. Als Castro 1908 von seinem ehemaligen Waffenbruder und Vizepräsidenten Juan Vicente 12

Carrera Damas, a.a.O., S. 1 2 7

13

Díaz S á n c h e z , R a m ó n , G u z m á n . Elipse de u n a a m b i c i ó n de poder, Caracas 1 9 5 0 , S. 5 7 4

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Harwich Vallenilla, Nikita, El m o d e l o e c o n ó m i c o del Liberalismo Amarillo. Historia de un fracaso 1 8 8 8 - 1 9 0 8 , i n : F u n d a c i ó n J o h n B o u l t o n (ed.), Política y e c o n o m í a e n V e n e z u e l a 1 8 1 0 - 1 9 7 6 , Caracas 1 9 7 6 , S. 2 0 6

15

Ebd., S. 2 3 5

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Interview m i t J o s é A n t o n i o G i a c o p i n i Zárraga v o m 5. 9. 1 9 8 8

IS

Gömez die Macht entrissen wurde, hatte ein Diktator die Macht ergriffen, der nachdem er als Befreier von der Willkürherrschaft Castros gefeiert worden war bald selbst berüchtigt für die immer drastischeren Mittel wurde, mit denen er eine wachsende Opposition bekämpfte. Als in den folgenden Jahrzehnten die Erdölindustrie nach Venezuela vorzudringen begann, war wirtschaftlich zwar die als Voraussetzung für eine Modernisierung angestrebte Einbindung in den Weltmarkt gelungen, aber die ökonomische Lage war nach wie vor durch die Dauerkrise eines zur Modernisierung unfähigen Latifundismus bestimmt. Was die politische Ordnung betraf, so trat Präsident Gömez mit einer bahnbrechenden Zentralisierung und Bürokratisierung der Macht und mit einem aktiven Ausbau der Infrastruktur als Modernisierer auf, aber die Selbstverständlichkeit, mit der der Diktator einen verwaltungstechnisch modernisierten Machtapparat zugunsten seines Clans und seiner persönlichen Favoriten auszunutzen wußte, deutete ganz auf das klientelistische System persönlicher Bindungen hin, das den caudiUismo des 19. Jahrhunderts getragen hatte. Und während die Oberschicht von Caracas sich darin gefiel, inmitten eines noch deutlich von der kolonialen Tradition Venezuelas bestimmten Ambiente einen am Vorbild der modernen, europäischen Metropolen orientierten Lebensstil zu pflegen, konnte sich bis zu seinem Tod 1935 ein Caudillo an der Macht halten, der mit seiner Vorliebe für rustikale Vergnügungen die ganze Rückschrittlichkeit des „unzivilisierten" Landesinneren zu verkörpern schien. Die Modernisierung Venezuelas verlief demnach alles andere als geradlinig. In Wirtschaft, Politik und Kultur standen moderne und traditionelle Elemente unverknüpft nebeneinander - oder waren eine Verbindung eingegangen, die in eine ganz andere Richtung zu deuten schien, als die von den industrialisierten Nationen scheinbar vorgegebene Entwicklungslogik. Tatsächlich ist vor allem die Soziologie in jüngeren Untersuchungen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse und der Widerstände, auf die sie in einem traditionellen Umfeld stoßen können, auf die Vielfalt der möglichen Entwicklungswege und -ergebnisse aufmerksam geworden. In Abkehr von den eindimensionalen Modernisierungstheorien der Vergangenheit stellte man fest, daß viele Länder der Welt keineswegs den europäischen Weg in die Moderne einschlugen, sondern daß der Wandel eigenen Regeln folgte, die sich „durch die Traditionen dieser Gesellschaften" erklären ließen. 17 Auf eine „relative Autonomie" des soziokulturellen Bereichs schien dabei die Tatsache hinzuweisen, daß der Modernisierungsprozeß einer durch überlieferte Werte und Verhaltensmuster geprägten „kulturellen Siebung" unterlag. Während in „Entwicklungsregionen" häufig etwa eine große Bereitschaft zur „Übernahme und Nutzung moderner Arbeits-, Verkehrs- und Unterhaltungsmittel" zu beobachten 17

Elsenstadt, Samuel N„ Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt/M. 1979, S. 133

16

war, blieben andere Bereiche des Lebensalltags - wie Verwandschafts- und Familienorganisation, Einstellung zu Arbeit und Lebenssinn, etc. - von diesem Wandel „weitgehend unberührt". 1 8 So vermögen Traditionen offenbar trotz wirtschaftlicher und politischer Neuerungen ihre Wirksamkeit zu bewahren und diesen gar ihren Stempel aufzusetzen. In der Tat ist der Gedanke nicht neu, daß im Bereich von gesellschaftlicher Alltäglichkeit die Tradition eine eigene Logik entfalten kann, die sich dem herkömmlichen, durch die westlichen Industrienationen scheinbar vorgegebenen Modernisierungsmodell von wirtschaftlicher Produktivität, bürokratischer Effizienz und gesellschaftlicher Demokratisierung widersetzt. Bereits Max Weber hatte es sich in seinen Studien zur Entstehung des Kapitalismus zur Aufgabe gemacht, die über Jahrhunderte entwickelten Verhaltensvoraussetzungen zu untersuchen, aus denen sich der vielschichtige europäisch-neuzeitliche Modernisierungsprozeß hergeleitet hatte. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand „der spezifisch geartete Rationalismus' der okzidentalen Kultur", der diese Entwicklung ermöglicht hatte. 1 9 In Zusammenhang mit der Frage, warum ein derartiger Rationalisierungsprozeß in anderen Ländern nicht stattgefunden habe, hatte Weber darauf hingewiesen, daß „der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig [ist]. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände." 20 Wenn die geschichtlichen Untersuchungen des scheinbar unregelmässig, „irrational" verlaufenden venezolanischen Modernisierungsprozesses sich bisher vor allem dessen ökonomischen und politischen Dimensionen gewidmet haben, muß sich der Blick des Historikers demnach stärker auf die kulturelle Entwicklung, auf den Bereich des Alltagsverhaltens und den diesem zugrundeliegenden Werten und Konventionen richten. Nur wenn betrachtet wird, in welcher Weise sich Modernisierung in diesem Bereich vollzog, kann man zu vollständigeren Erkenntnissen bezüglich der Voraussetzungen und Ergebnisse des Wandels gelangen und die Besonderheiten des venezolanischen Weges herausarbeiten. Gleichzeitig muß die in der sozialgeschichtlichen Analyse zur Gewohnheit gewordene „Dichotomisierung von ,Traditionalität/Modernität'" in Frage gestellt werden, die sich scheinbar gegenseitig ausschließende Modelle in formelhafter Vereinfachung

18

K e i m a n n , Horst, Die Vitalität „ a u t o c h t h o n e r " Kulturmuster. Zum V e r h ä l t n i s v o n Traditionalität u n d M o d e r n e , in: Kölner Zeitschrift für Soziologie u n d S o z i a l p s y c h o l o g i e , S o n d e r h e f t 2 7 / 1 8 6 : Kultur u n d Gesellschaft, S. 3 6 9

19

W e b e r , Max, Die p r o t e s t a n t i s c h e Ethik. Eine A u f s a t z s a m m l u n g , hg. v. J o h a n n e s W i n c k e l m a n n , G ü t e r s l o h 1 9 8 4 , Bd. I, S. 2 0

20

Ebd., S. 2 0 - 2 1

17

einander gegenüberstellt und den Blick auf die Vielfalt der möglichen Verbindungen verschließt, die moderne und traditionelle Elemente miteinander eingehen können. Es kann nicht länger allein darum gehen aufzuzeigen, wo eine „Modernisierung" nach dem Vorbild fortgeschrittener Gesellschaften nicht gelungen ist, vielmehr muß danach gefragt werden, was statt dessen geschah. 2 1 Die Venezolaner selbst hatten den kulturellen Faktor bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes keineswegs ausgespart. Kulturelle und psychische Gründe für den Rückstand ihres Landes hatten bereits die venezolanischen Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts gesucht, jedoch eine deutliche Neigung bewiesen, Tradition und Mentalität vor allem als Hindernisse für eine Modernisierung nach europäischem Vorbild zu sehen. Später haben die Dependenztheorien die „Kultur des Erdöls" zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse gemacht, dabei aber den soziokulturellen Wandel allzu einseitig als negatives Ergebnis der ökonomischen und politischen Abhängigkeit von den Industrienationen bewertet. 2 2 Hatte in der Vergangenheit das Übergewicht ausländischer Vorbilder den Blick auf die einheimische Realität getrübt, tendierte man nun dazu, die Modernisierung Lateinamerikas als kulturelle Überfremdung und als fortschreitenden Identitätsverlust zu begreifen. Die kulturelle Umorientierung, die Venezuela im 20. Jahrhundert vollzog, weist jedoch Unterschiede und Parallelen zwischen Zentrum und Peripherie auf, die sich mit der These vom Kulturimperialismus

nicht

hinreichend erklären lassen. In Venezuela und - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen 2 3 - insgesamt in Lateinamerika stehen noch weitestgehend Studien aus, die es sich zum Ziel gemacht hätten, die Eigentümlichkeiten der lateinamerikanischen Kultur der Moderne herauszuarbeiten. Auch die europäische Sozialgeschichte ist erst in jüngerer Zeit bei einer umfassenderen Betrachtung des europäischen Modernisierungsprozesses in die Sphäre der Alltäglichkeiten vorgestoßen. In Anlehnung an die Theorien Max Webers hat man etwa die Entstehung der modernen Freizeitkultur mit ihrer Trennung von Arbeitszeit und Freizeit im Rahmen der Wechselbeziehungen von wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Rationalisierung untersucht. 2 4 In ihren Arbeiten zur Entwicklung der modernen Konsumgesellschaft haben sich auch nordamerikanische Historiker mit Alltags- und Freizeitgeschichte beschäftigt. In den Vordergrund des historischen Interesses rückten somit bisher wenig beachtete Aspekte wie Sport, Tourismus, Wohn- und Eßkultur, Nachtleben oder Mode, an denen man einzelne Aspekte des Modernisierungsprozesses - wie gesellschaftliche 21

Reimann, a.a.O., S. 3 5 9 ff.

22

Quintero, Rodolfo, Antropología del petróleo, México 1972, S. 5

23 24

Zum Beispiel Romero, José Luis, Latinoamérica: Las ciudades y las ideas, Buenos Aires 1976 Huck, Gerhard (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur In Deutschland, Wuppertal 1980, S. 12 ff.

18

Demokratisierung oder die sich wandelnde Einstellung zu Leistung und Konsum zu verfolgen suchte. 25 Auf der Suche nach einer erkenntnisleitenden Begrifflichkeit, die es erlaubt, über den relativ eng umgrenzten Bereich hinauszuschauen, den Begriffe wie Freizeit oder auch Alltagskultur abstecken, schien der Vielschichtigkeit der Problemstellung das von den Soziologen bereitgestellte Konzept des Lebensstils am ehesten gerecht zu werden. Man hat Stil definiert als „eine Formung von Handlungen (oder deren Resultate), die für einen Handelnden, eine Gruppe von Handelnden oder eine ganze Kultur typisch sind und sich in verschiedenen Sphären des Daseins als identifizierbar manifestieren, ohne daß diese Formen eindeutig »technisch' bedingt sind." 2 6 So richtet die Frage nach dem Stil die Aufmerksamkeit auf die „stilistischen" Übereinstimmungen zwischen den verschiedensten Bereichen des Alltagslebens und auf die Mechanismen, die in der Entwicklung so verschiedener Bereiche wie W o h n e n , Sport, Mode oder Eßkultur Parallelen hervorzubringen vermögen. Gleichzeitig können Verbindungen zwischen kulturellem, politischem und wirtschaftlichem Handeln hergestellt und von einer erweiterten Perspektive aus bisher vernachlässigte Zusammenhänge zwischen privaten und öffentlichen Handlungsräumen erhellt werden. Der Lebensstilbegriff erlaubt zudem die detaillierte Betrachtung einer durch tiefgreifende Widersprüche gespaltenen Gesellschaft. In der Regel hat die soziologische Analyse die Determinierung durch den sozioökonomischen Status dafür verantwortlich gemacht, daß ein Lebensstil für eine Gruppe von Handelnden typisch ist, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß nur eine schichten- bzw. gruppenspezifische Betrachtungsweise die Eigenarten der venezolanischen Entwicklung zu erfassen vermag: Immer wieder haben die Kritiker der „verzerrten" Modernisierung Venezuelas auf die Diskrepanzen hingewiesen, die zwischen Oberund Unterschicht, zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung tiefe kulturelle Brüche entstehen ließen. Die Notwendigkeit, hinsichtlich des sich wandelnden Lebensstils zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu unterscheiden, bedingt, daß die vorliegende Untersuchung sich auf jene privilegierte Schicht konzentriert, der die Fehlentwicklungen in der venezolanischen Modernisierung nur allzu oft zum Vorwurf gemacht wurden. 2 7 In den Mittelpunkt des Interesses wurde jene Elite gerückt, die über Wirtschaft und Politik entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung ausübte und von der Spitze der Gesellschaftspyramide aus 25

Ercnberg, Lewis A., Steppin' Out. New Y o r k Nightlife a n d t h e T r a n s f o r m a t i o n of A m e r i c a n Culture, 1 8 9 0 - 1 9 3 0 , W e s t p o r t / C o n n . 1 9 8 1 ; Riess, S t e v e n A., T o u c h i n g Base. Professional Baseball a n d A m e r i c a n Culture In t h e Progressive Era, W e s t p o r t / C o n n . 1 9 8 1

26

H a h n , Alois, S o z i o l o g i s c h e Relevanzen des Stilbegriffs, i n : G u m b r e c h t , Hans Ulrich u n d Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Stil. G e s c h i c h t e n u n d F u n k t i o n e n eines k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s k u r s e l e m e n t s , F r a n k f u r t / M . 1 9 8 6 , S. 6 0 4

27

Vgl. etwa Rangel, D o m i n g o Alberto, La oligarquía del dinero, V a l e n c i a / V e n e z u e l a

1979

19

gleichzeitig Verhaltensmodelle und Wertmaßstäbe für ein sich

wandelndes

Alltagsleben lieferte. Wie im Rückblick auf die venezolanische Geschichte deutlich wird, stellt sich die Oberschicht nun ihrerseits keineswegs als eine geschlossene Einheit dar. Schon Max Weber hatte darauf hingewiesen, daß sich die Stellung im sozialen Feld nicht allein durch das wirtschaftliche Kapital im engeren Sinn bestimmt, sondern ebenso durch die „positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung", der Stellung innerhalb der durch das Sozialprestige bestimmten Rangordnung. 2 8 Zu berücksichtigen ist zudem die ständige Bewegung, in der sich das soziale Feld befindet, also die Tatsache, ob eine durch ihre wirtschaftliche Stellung und ihr Sozialprestige charakterisierte Statusgruppe gegenüber anderen im Auf- oder Abstieg begriffen ist. 2 9 Auf diese Weise können die elitären Gruppen genauer gekennzeichnet werden, die sich im Verlauf des beobachteten Wandlungsprozesses gegenüberstanden und dessen Dynamik wesentlich bestimmten. Für die lange Regierungszeit von General Juan Vicente Gómez, der 1908 gewaltsam die Macht an sich gerissen hatte und bis 1935 eine autoritäre Herrschaft ausübte, lassen sich drei Gruppen unterscheiden: jene, die aufgrund ihres unmittelbaren Kontakts zum Diktator politische und wirtschaftliche Macht errungen hatte und die ihren Zusammenhalt weitgehend auf die althergebrachten Klientelbeziehungen des Caudillismus gründete; die traditionelle Elite, die sich nach wie vor auf ihre Abstammung von der Kolonialaristokratie berief und deren Existenz in der Hauptsache auf den Renten aus einem in der Dauerkrise befindlichen Großgrundbesitz beruhte; schließlich die Handels- und Finanzbourgeoisie von Caracas und anderen städtischen Zentren, die sich zu einem nicht geringen Anteil aus nichthispanischen Neueinwanderern des 19. Jahrhunderts zusammensetzte. Für die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts wiederum ergibt sich eine Konstellation, in der sich die neue Militäroligarchie um den Diktator Pérez Jiménez, die etablierte, städtische Bourgeoisie sowie Aufsteiger aus der Mittelschicht und Neueinwanderer gegenüberstehen, die in der Boomsituation zu raschem Reichtum gelangt waren. Es versteht sich von selbst, daß die Konflikte zwischen diesen Gruppen nicht rein ökonomischer Natur waren. Sahen sich in den ersten Dekaden des Jahrhunderts die traditionellen Hacendadofamilien gezwungen, die politische und wirtschaftliche Macht weitgehend an die Gómez-Clique abzutreten, so verfügten sie gegenüber den im Gefolge des Caudillo zur Macht gelangten „Parvenüs" über ein Sozialprestige, das sie mit feudalen Gepflogenheiten zu erhalten suchten. Das Konzept 28 29

Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1976, Bd. I, S. 179 Ebd., Bd. II, S. 5 3 1 ; Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987, S. 1 9 0 - 9 1 , 5 3 8 - 3 9

20

von Lebensstil, das der französische Soziologe Bourdieu entwickelt hat, betrachtet in diesem Sinne Lebensstile als Ausdruck gesellschaftlicher Klassifizierungskämpfe: Soziale Aufsteiger etwa ringen um ein Prestige, das ihnen etablierte Gruppen zu verwehren suchen. Dabei kann eine Statusgruppe nicht nur ausdrücklich Anspruch auf die Exklusivität ihres Lebensstils erheben, indem sie zum Beispiel Außenstehenden die Mitgliedschaft in einem exklusiven Klub versagt. In einem umfassenderen Sinn versteht Bourdieu die Alltagspraxis von Mode, Wohnen oder sportlichen Betätigungen als symbolisches System, über das bewußt und unbewußt Klassifizierungskämpfe, Kämpfe um Anerkennung und Prestige ausgetragen werden.30 In Hinblick auf die venezolanische Elite vermag eine derartige Sichtweise nicht nur Aufschluß darüber zu gewähren, auf welche Weise Konflikte zwischen den Gruppen im Alltagsleben verarbeitet wurden. Die Betrachtung des Lebensstils soll zudem kulturelle Übereinstimmungen zwischen konkurrierenden Fraktionen der Oberschicht ans Licht bringen, die einer auf „vordergründige" politischwirtschaftliche Differenzen ausgerichteten Geschichtsschreibung verborgen geblieben sind. Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit einer gruppenspezifischen Analyse erweist sich die Bourdieusche These vom Lebensstil als Ausdruck gesellschaftlicher Positionskämpfe jedoch als unzureichend, um die tiefgreifenden sozialen und kulturellen Veränderungen zu erfassen, die Venezuela in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr. Indem die Öldevisen den Venezolanern und vor allem der Oberschicht den Zugang zu allen Errungenschaften des technischen Fortschritts eröffneten, erfuhren die objektiven Lebensbedingungen einen einschneidenden Wandel, der nicht nur technologischer Natur war. Denn die aus dem Ausland importierten Konsumgüter waren ihrerseits Ausdruck eines spezifischen Lebensstils - so konnotierte beispielsweise der in den fünfziger Jahren mit Einrichtungsgegenständen, Mode oder Autos importierte flßes style Funktionalität, Komfort, Kosmopolitismus usw. Die Venezolaner wurden also mit für sie neuartigen Werten und Wahrnehmungsweisen konfrontiert, deren Verarbeitung sich mit der These von der Imitation ausländischer Vorbilder nicht ausschöpfen läßt. Eine andere Dimension des Lebensstilbegriffs kann helfen, die Mechanismen zu bestimmen, denen in der Auseinandersetzung mit einer veränderten Umwelt der Wandel des Lebensstils der Elite, aber auch der anderer Bevölkerungsgruppen unterworfen war. In einem Aufsatz von 1976 unterscheiden die nordamerikanischen Soziologen Zablocki und Kanter zwei Kategorien von Lebenstilen: jene, die sich auf die sozioökonomische Schichtung zurückführen lassen, und jene, die als spontaner Versuch zu bewerten sind, innerhalb einer Gruppe Konsens bezüglich

30

Bourdieu, Pierre, Zur Soziologie der s y m b o l i s c h e n F o r m e n , F r a n k f u r t / M . 1 9 7 4 , S. 6 0

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ihrer Wertmaßstäbe herzustellen. 31 Indem neue Elemente kollektiv angenommen, abgewandelt oder abgelehnt werden, kann demnach die „stark identifizierende Wirkung von Stilen" 32 der Identitätssicherung einer Gruppe von Handelnden bei der Verarbeitung von Neuerungen dienen und auf diese Weise dazu beitragen, ein in einer veränderten Umwelt aus dem Gleichgewicht geratenes kulturelles System neu auszubalancieren. Vor diesem Hintergrund sind bewußte Reaktionen auf das Eindringen fremder Lebensstilelemente zu sehen - wie jene Woge des „kulturellen Nationalismus", die in den zwanziger Jahren ganz Lateinamerika erfaßte und sich etwa in der venezolanischen Architektur in der Abkehr vom europäischen Klassizismus und dem Rückgriff auf koloniale Bauweisen niederschlug. 33 Von besonderem Interesse sind jedoch auch die Verarbeitungsprozesse, die mit einer bewußten „Stilisierung" nicht zu erklären sind. Baut nämlich ein nordamerikanischer Architekt 1928 den Country Club von Caracas in dem durch kalifornische Kolonialbauten inspirierten Mission Style, kann man offenbar nicht von einer zielgerichteten Annahme oder Ablehnung fremder Kulturmuster ausgehen. 34 Am Wandel des Architekturgeschmacks lassen sich so die komplexen Kräfte beobachten, die bei der kulturellen Neuorientierung der Oberschicht wirksam wurden. Die vorliegende Untersuchung hat sich also im wesentlichen zwei Aufgaben gestellt: Während aus einer umfassenderen Perspektive einerseits der Wandel zu betrachten ist, den die Elite bis 1958 in einzelnen Bereichen des Alltagslebens vollzog, muß andererseits überprüft werden, welche Positionen einzelne Gruppen innerhalb dieses Kulturwandels bezogen. Der Begriff des Lebensstils kann dieser doppelten Fragestellung gerecht werden, indem er einerseits im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Statuskämpfen zu sehen ist, andererseits als Instrument und Ergebnis der Verarbeitung von veränderten Lebensbedingungen verstanden werden kann. Tiefgreifende Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Elite kennzeichnen die Jahre der Gomez-Regierung zwischen 1908 und 1935, die im ersten Teil der Arbeit im Mittelpunkt stehen sollen. Ähnlich wie es so häufig im 19. Jahrhundert der Fall war, stand die hauptstädtische Oberschicht einem gewaltsam zur Macht gelangten Caudillo-Präsidenten gegenüber, dem zudem das Erdöl bald unerschöpfliche Möglichkeiten bieten sollte, sich und seine Klientel zu bereichern. In der venezolanischen Geschichtsschreibung war die These vom Obskurantismus und der Rückständigkeit der Gömez-Zeit lange Zeit unbestritten, und im31

Zablockl, Benjamin D. und Kanter, Rosabeth Moss, The Differentiation of Life-Styles, Annual Review of Sociology 1976, S. 2 6 9 , 2 8 2

32

Hahn, a.a.O., S. 6 0 9

33

Franco, Jean, La cultura moderna en América Latina, México 1983, S. 87 ff.

34

Gutiérrez, Ramón, Arquitectura y urbanismo en Iberoamérica, Madrid 1983, S. 555

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mer wieder wurde behauptet, das 20. Jahrhundert habe in Venezuela erst mit dem Tode des Diktators begonnen. 35 Daß das Verhältnis zwischen dem „barbarischen", „neureichen" Diktator und der „zivilisierten" hauptstädtischen Oberschicht nicht ungetrübt war, ist schon daran abzulesen, daß Gómez sich mit seinem Hofstaat in der Provinzstadt Maracay niederließ, mehr als 100 Kilometer von Caracas entfernt. Während die reichen caraqueños Tennis spielten, frönte der umfangreiche GómezClan traditionellen und ländlichen Freizeitvergnügen wie dem Hahnenkampf, und wenn man sich in der Hauptstadt an unaussprechlichen Köstlichkeiten wie „Chaud-Froix de Perdrix Beausejour" labte, lud Gómez in der Provinz seine Gäste zum rustikalen Spießbraten unter freiem Himmel. 36 Auch der Lebensstil der Oberschicht wies jedoch unterschiedliche Tendenzen auf. Während manche monate- oder gar jahrelange Reisen nach Paris oder an die Cöte d'Azur unternahmen oder sich in Caracas in Anlehnung an die Moden des europäischen Dandyismus dem tedium vitae ergaben, hatten sich andere das Leistungsdenken eines neuen Zeitalters zu eigen gemacht, widmeten sich mit Disziplin ihren Geschäften und betrieben wettbewerbsorientierte Sportarten wie Baseball oder Basketball. Man ist geneigt, diese Lebensstile einerseits einer sich in wirtschaftlicher Dekadenz befindlichen Großgrundbesitzerschicht, andererseits der neuen städtischen Finanz- und Handelsbourgeoisie zuzuordnen, in der ehrgeizige Aufsteiger aus der Mittelschicht, aber auch viele Neueinwanderer verschiedener Nationalitäten zu finden waren, die sich im 19. Jahrhundert vor allem als Kaufleute in Venezuela niedergelassen hatten. In Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Positionskämpfen, die diese Gruppen miteinander ausfochten, ließe sich vermuten, daß die städtische Bourgeoisie „Fortschrittlichkeit" und „Leistung" konnotierende Lebensgewohnheiten ins Feld führte und der „hedonistische" Lebensstil der Großgrundbesitzer feudale Statusmerkmale aufrechtzuerhalten suchte, während sich in den „rückständigen" Freizeitvergnügen von Gómez und seinen Freunden ein ebensolches, patriarchalisch geprägtes politisches System widerzuspiegeln schien. In Interviews mit zentralen Vertretern dieser Gruppen - unter anderem mit Florencio Gómez, dem Sohn des Diktators, oder mit Alfredo und Margot Boulton, Angehörigen einer Familie britischer Herkunft, die im 19. Jahrhundert eines der bis heute mächtigsten Handelshäuser Venezuelas gründete - hat die Autorin versucht, den Wahrheitsgehalt dieser Stereotypen zu überprüfen. 37 Dabei ist nicht nur zu fragen, ob und für welche Gruppen sich der Lebensstil Einzelner tatsächlich 35

Vgl. Werz, a.a.O., S. 5 2

36

El Universal 2. 5. 1914; Pareja y Paz Soldán, José, Juan Vicente Gómez, un fenómeno telúrico. Ensayo, Caracas 1951, S. 5 3 Angaben zur Interviewtechnik sowie eine Liste der befragten Personen sind im Quellen- und Literaturverzeichnis am Schluß der Untersuchung zu finden.

37

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verallgemeinern läßt. Bei der Untersuchung der Wechselbeziehungen, in die „fortschrittliche", „traditionale" oder „feudale" Lebensweisen im Kräftespiel rivalisierender Gesellschaftsgruppen zueinander traten, richtet sich der Blick auch auf die verborgenen Übereinstimmungen, die die Gruppen trotz vordergründiger wirtschaftlicher oder politischer Differenzen miteinander verbanden und die den besonderen Verlauf des venezolanischen Modernisierungsweges wesentlich bestimmten. Eben die Verbindungen, die sich zwischen den verschiedenen Gruppen bezüglich ihrer kulturellen Werte und Verhaltensmuster herstellen lassen, sollen im zweiten Teil der Arbeit in den Vordergrund rücken - und somit jene Kräfte, denen nicht nur die Oberschicht, sondern auch andere Gesellschaftsgruppen bei ihrem Eintritt in die Kultur der Moderne unterworfen waren. Auf der Suche nach den Ursachen für die „verhängnisvolle" Entwicklung, die Venezuela aus ihrer Sicht mit dem Erdölboom genommen hatte, haben Historiker und Soziologen gegenüber ihren Landsleuten tatsächlich immer wieder die gleichen Vorwürfe erhoben: eine blinde Ausrichtung an ausländischen Vorbildern, die zu einer oberflächlichen, mit der einheimischen Realität unverbundenen Imitation von Fortschritt geführt habe, und eine Rentiersmentalität, die der Ausbildung jenes Leistungsdenkens entgegenstehe, das für eine „erfolgreiche" Modernisierung unerläßlich sei. So hat um 1920 der Schriftsteller José Rafael Pocaterra diesem Zusammenspiel von kulturellen „Fehlorientierungen" in dem Typus des fortschrittsbegeisterten Dandys eine literarische Verkörperung gegeben, der Mitglied im „Automobil-Club" ist, Kappe und „motor-goggles" trägt und sich ganz dem fortschrittlichen Geist des technischen Zeitalters verschrieben zu haben scheint, obwohl er in Wirklichkeit keinen Beruf ausübt, sondern seine wohlhabende Familie für seine Spielschulden aufkommen läßt. 3 8 Fortschrittsglaube, Auslandsorientierung und eine feudale Neigung zu Müßiggang und Verschwendung waren offenbar bereits vor dem Eintritt in das Zeitalter des Erdöls eine charakteristische Verbindung eingegangen, die die Verarbeitung der aus dem Ölboom resultierenden Neuerungen entscheidend prägen sollte. Der Boom schien seinerseits nur dazu beizutragen, diese Dispositionen weiterzuentwickeln und mit neuen Inhalten zu füllen. So wurde das englische und französische Vorbild allmählich durch das US-amerikanische ersetzt und die geradezu märchenhaften Einnahmen aus dem Öl, die über den Staat in Umlauf gebracht wurden, verstärkten die althergebrachte Rentiersmentalität. Gleichzeitig schienen Fortschrittsoptimismus und Technologiegläubigkeit, die mit der Positivismusrezeption des 19. Jahrhunderts Fuß gefaßt hatten, durch die äußere Moderni38

Pocaterra, José Rafael, La casa de los Abila, Caracas o. J., S. 571. Der Roman, den Pocaterra als politischer Häftling des Gómez-Regimes zwischen 1919 und 1922 im Gefängnis schrieb, erschien erstmalig 1946. Vgl. Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 190

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sierung, die das Land innerhalb weniger Jahre erfuhr, ihre Bestätigung zu finden. Am Wandel einzelner Bereiche des Alltagslebens der venezolanischen Elite soll im zweiten Teil der Arbeit geprüft werden, inwiefern diese immer wieder geäußerte Kritik am Verlauf der Modernisierung des Erdöllandes berechtigt ist. Angesichts der Fülle der möglichen Fragestellungen, die sich aus dieser Sichtweise ergibt, mußte eine zugegebenermaßen mehr oder weniger willkürliche Auswahl das Interesse auf einzelne Aspekte des Lebensstils richten, in denen die dem Umorientierungsprozeß zugrundeliegenden Muster möglichst vollständig zu erfassen sind. So läßt sich in der Darstellung der Wohnkultur der Elite die Entwicklung vom europäisierenden Klassizismus der Jahrhundertwende über die „Koloniale Renaissance" der zwanziger und dreißiger Jahre bis hin zum International Style der Fünfziger verfolgen, mit dem sich Venezuela in den Funktionalismus der Moderne einzuschreiben scheint. Im Wandel der sportlichen Präferenzen der venezolanischen Elite finden unter anderem wechselnde Einstellungen zu Leistung und Wettbewerb ihren Niederschlag. Unterschiedliche kulturelle Leitbilder sprechen ebenso aus der schon im 19. Jahrhundert überschäumenden Theater- und Opernbegeisterung wie aus der zunehmenden Vorherrschaft des nordamerikanischen Kinos oder aus der Entstehung einer neuen iberoamerikanischen Show- und Unterhaltungskultur. Von besonderem Interesse ist auch das Verhalten der Oberschicht in der Begegnung mit der tropischen Natur als einem wesentlichen Aspekt jener einheimischen Realität, zu der die privilegierteren Schichten der städtischen Bevölkerung in einem so problematischen Verhältnis standen. Nach welchen Mustern wurde stadtnahe Landschaft für die Erholung der Elite „modelliert" und was konnte „zivilisierte" Städter dazu bewegen, sich in die Wildnis entfernterer, oft schwer zugänglicher Landesteile zu begeben? Eine Darstellung des Wandels der Ernährungsgewohnheiten wird den Teil der Untersuchung abschließen, der sich mit den einzelnen Praxisbereichen des Lebensstils befaßt. Sind hier einerseits der immer massivere Lebensmittelimport und die „Modernisierung" der Eßkultur zueinander in Bezug zu setzen, steht dem der „kulinarische Nationalismus" entgegen, der in den vierziger und fünfziger Jahren eine Rückkehr zu einheimischen Nahrungsmitteln und Eßgewohnheiten forderte. 39 Betrachtet man unter dem Gesichtspunkt der kollektiven Verarbeitung von Neuerungen den Wandel einzelner Lebensstilbereiche über den gleichen Zeitraum hinweg, so sind bei den verschiedenen Interessengruppen wiederum durchaus auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten. Im dritten und letzten Großkapitel soll untersucht werden, wie sich für das Jahrzehnt zwischen 1948 und 1958 die einzelnen Gruppen in dieses Kraftfeld von Nationalismus und Auslandsorien39

Viele nicht minder wichtige Aspekte des Lebensstils mußten einer notwendigen Eingrenzung des Themenspektrums zum Opfer fallen, so - um nur zwei Beispiele zu nennen - etwa Mode oder familiär-religiöse Feste wie Taufen, Heiraten etc.

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tierung, Fortschrittsglaube und Traditionalismus, Leistungsethik und Rentiersmentalität einordnen lassen. Nach einer Betrachtung jener kulturellen Umorientierung, mit der die Eliten innerhalb größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge auf eine durch den Ölreichtum veränderte Umwelt reagierten, rückt also wieder die Frage nach den unterschiedlichen Positionen in den Vordergrund, die die einzelnen Gruppen innerhalb dieses Wandlungsprozesses bezogen. Tatsächlich sollte die Konstellation in den fünfziger Jahren gewisse Ähnlichkeiten zu den Jahren der Regierung von Juan Vicente Gómez aufweisen. Nachdem Venezuela nach dem Tod des Diktators eine vorsichtige Demokratisierung erlebte und 1945 ein Militärputsch der militant sozialreformerischen Partei Acción Democrática zur Macht verhalf, stürzten 1948 eben dieselben jungen Militärs, die der Volkspartei in den Sattel geholfen hatten, den ersten durch demokratische Wahlen zur Regierung gelangten Präsidenten Venezuelas, den bekannten Schriftsteller Rómulo Gallegos. 40 Das Land war zu einem überwunden geglaubten Autoritarismus zurückgekehrt, und wenn ab 1952 mit der Alleinherrschaft von Oberst Pérez Jiménez nochmals eine alles beherrschende Führerfigur das Ruder in die Hand nahm, so stellten die Militärs in den Jahren der Diktatur wiederum eine nur allzu bald „neureiche" Herrschaftsclique dar, die in Hinblick auf die durch eine Phase allgemeiner Prosperität gestärkte Bourgeoisie gesellschaftlichen Status zu erringen suchte. Gleichzeitig lockte der fast schon legendäre wirtschaftliche Aufschwung des Erdöllandes nicht nur Einwanderer aus aller Welt an, von denen einige in kurzer Zeit beträchtliche Vermögen erwerben konnten, sondern bot auch Angehörigen der Mittelschicht die Möglichkeit zu schnellen wirtschaftlichen Erfolgen. Nachdem 1958 hervorragenden Vertretern der Industrie- und Handelsbourgeoisie in einer Allianz mit den Volksparteien der Sturz der Militärregierung gelungen war, sollte die öffentliche Meinung - und über lange Zeit auch die venezolanische Geschichtsschreibung - gegen den exilierten Diktator Pérez erneut all jene Irrationalismus- und Obskurantismusvorwürfe erheben, die in bezug auf autoritäre Alleinherrscher schon zur Tradition geworden waren. Die Betrachtung des Lebensstils bietet die Möglichkeit, diesen Vorwürfen nachzugehen und die inneren Widersprüche aufzuspüren, die dem Modernisierungsprogramm eines Regimes entgegenwirken konnten, das ausgesprochen bemüht um ein technokratisches Image gewesen war. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung wurden Interviews mit ehemaligen perezjimenistas durchgeführt und ein Blick auf den Círculo Militar geworfen, den zu seiner Zeit luxuriösesten Offiziersclub Lateinamerikas, den Pérez Jiménez in offensichtlicher Konkurrenz zum vornehmen Country Club hatte errichten lassen. Gleichzeitig wurden Vertreter der etablierten 40

Vgl. Werz, a.a.O., S. 5 3 - 6 1

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Bourgeoisie und der aufstrebenden Mittelschicht, aber auch wirtschaftlich erfolgreiche Einwanderer zu ihrem Lebensstil befragt, um so die Abgrenzungsmechanismen zu beleuchten, die die Oberschicht ihrer zunehmenden „Vermassung" entgegensetzte, aber auch um zu zeigen, wie die „Parvenüs" diese Statusbarrieren zu durchbrechen suchten. So folgt die Untersuchung des alltagskulturellen Wandels, den die venezolanische Elite mit ihrem Eintritt in das Zeitalter des Erdöls vollzog, im wesentlichen zwei Blickrichtungen. Indem Lebensstile als Ausdruck von gesellschaftlichen Prestigekämpfen verstanden werden, stehen bei der Betrachtung der Jahre des gomecismo zwischen 1908 und 1935 jene Faktoren im Vordergrund, die die rivalisierenden Gruppen auseinanderstreben ließen. Dabei geht die Analyse zunächst von historisch überlieferten Stereotypen aus: Einer an überkommenen feudalen Traditionen festhaltenden Großgrundbesitzerelite schien einerseits ein in bäurischer Rückständigkeit befangener Caudillo mit seiner Klientel, andererseits eine wirtschaftlich immer dominierendere, fortschrittsorientierte städtische Bourgeoisie gegenüberzustehen. Anhand von Interviews mit Angehörigen dieser Gruppen, der Auswertung von Memoiren, Biographien u.a. soll der Wahrheitsgehalt dieser Stereotypen überprüft werden. Die mit einer solchen methodischen Herangehensweise gewonnenen Ergebnisse können und wollen keine repräsentative Vollständigkeit beanspruchen, wohl aber Tendenzen aufzeigen, die ein differenzierteres Verständnis der venezolanischen Entwicklung ermöglichen. Im folgenden Abschnitt der Arbeit, der den Lebensstil als Instrument und Ergebnis der Verarbeitung eines tiefgreifenden kulturellen Umwälzungsprozesses betrachtet, der nicht die Oberschicht allein betraf, treten die Unterschiede zwischen den elitären Gruppen in den Hintergrund, um die Entwicklung einzelner Praxisbereiche des Lebensstils vom Jahrhundertanfang bis in die fünfziger Jahre zu verfolgen. Das Schwergewicht liegt hier auf der Analyse jenes Wechselspiels zwischen Tradition und Neuerung, zwischen Orientierung an ausländischen Vorbildern und Suche nach einer autochthonen Identität, das sich in den verschiedenen Bereichen des Alltagslebens, wie Sport, Wohnkultur, Nachtleben, etc. beobachten läßt. Den letzten Teil der Untersuchung, der sich mit dem Jahrzehnt der Militärherrschaft zwischen 1948 und 1958 befaßt, werden dann erneut die Gegensätze zwischen den konkurrierenden Gesellschaftsgruppen beschäftigen: Eine etablierte hauptstädtische Oberschicht sah sich wiederum mit einer wachsenden Zahl neureicher Aufsteiger sowie mit einer gewaltsam zur Macht gelangten politischen Elite konfrontiert. Doch wenn im historischen Rückblick auf die Jahre des perezjimenismo die Gegensätze zwischen einer angeblich fortschrittlichen, demokratisch gesinnten Bourgeoisie und den rückständigen Militärherrschern oft allzu sehr betont worden sind, so weist gerade die Betrachtung des Lebensstils auch auf die Gemeinsamkeiten hin, die die Gruppen über vordergründige Konflikte hinaus

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miteinander verbanden. Trotz der zunehmenden Gegensätze, die 1958 zum Sturz der Diktatur führten, hegten politische und wirtschaftliche Eliten nicht nur in vieler Hinsicht übereinstimmende Vorstellungen von Fortschritt, sondern waren auch in ähnlicher Weise überlieferten Werten und Verhaltensmustern unterworfen, die dem venezolanischen Entwicklungsweg seine charakteristische Wendung gaben. Aus der Sicht jener Modernisierungstheorien, für die politische Modernität sich durch „parlamentarisch-demokratische Verfassungen, pluralistische Interessenorganisation und gewaltlose Konfliktlösung" bestimmt, 4 1 stellt sich das Jahr 1958, das die Einführung des liberaldemokratischen Staates mit sich brachte, als das Jahr eines großen Erfolges dar. Indem man jedoch den Widerständen nachgeht, die kulturelle Überlieferungen in der Praxis allen erklärten Modernisierungs- und Rationalisierungsabsichten in den Weg zu legen vermögen, läßt sich Aufschluß darüber gewinnen, wo eine Modernisierung im Sinne einer „Erhöhung der Leistungsfähigkeit sozialer Systeme" 4 2 in der Tat gelungen oder gescheitert ist und inwiefern sich für die Zeit vor und nach 1958 Kontinuitäten und Diskontinuitäten feststellen lassen. Dabei soll die Frage nach der Modernisierung Venezuelas keineswegs allein auf den ökonomisch-politischen Bereich bezogen werden. Im Wandel der Lebensstile schlägt sich eine umfassende Neuinterpretation der Welt und damit auch das veränderte Selbstverständnis der betreffenden Gruppen nieder. Indem die durch die „Logik der Tradition" geprägten Auslesemechanismen untersucht werden, die der Modernisierung eine typisch venezolanische Ausrichtung gaben, wird eine Darstellung jener Version von alltagskultureller Modernität angestrebt, die sich im Zusammenhang mit dem Ölboom bis 1958 entwickelte. Wenn sich dabei immer wieder die Beobachtung aufzudrängen scheint, daß bei einer rein äußerlichen Übernahme moderner Praxisformen deren Inhalte trivialisiert oder in ihr Gegenteil verkehrt werden können, wenn also, wie viele kritische Beobachter meinen, der venezolanische Fortschritt sich auf eine trügerische Fassade zu beschränken scheint, heißt das nicht zuletzt, daß der Modernitätsbegriff als solcher zu hinterfragen und in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen ist. Am Beispiel der modernen Architektur sei diese Notwendigkeit kurz erläutert. So wurde während des Baubooms unter der Regierung von Oberst Pérez Jiménez nach europäisch-nordamerikanischem Vorbild eine Vielzahl aufsehenerregender Bauten errichtet, die in der äußeren architektonischen Gestaltung dem Prinzip des Funktionalismus folgten, sich aber im venezolanischen Kontext als so kostspielig und dysfunktional erwiesen, daß sie den ursprünglichen Inhalten einer

41 42

Lepsius, a.a.O., S. 13 Ebd.

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derartigen Bauweise - Methodik, Ökonomik, Rationalismus - zu widersprechen schienen. Auf Irrwegen will man jedoch derweil auch den architektonischen Funktionalismus der Industrieländer ertappt haben. „Simplifizierungen, die ihn dem technokratischen Zeitgeist kongenial werden ließen" und mangelnde Reflexion über die „Funktions- und Zweckzusammenhänge (...), auf die hin funktional zu produzieren und zu bauen wären" - so lauten die Vorwürfe, die sich die funktionalistische Bauweise der Moderne in jüngerer Zeit gefallen lassen mußte. 4 3 In Venezuela selbst ist immer wieder Kritik an einem auf eine glänzende Oberfläche beschränkten Fortschritt laut geworden, der - seiner ursprünglichen aufklärerischen und humanitären Inhalte beraubt - nur eine Kulisse schneller materieller Modernisierung schuf. Eine parallele „Vulgarisierung"

des Fort-

schrittsbegriffs, bei der politisch-soziale Qualitäten zugunsten von ökonomischtechnischen Quantitäten (etwa dem Leitbild einer quantitativen Steigerung des Lebensstandards) in den Hintergrund treten, charakterisiert durchaus auch die Entwicklung in den Industrieländern. Dennoch deutet gerade das obige Beispiel darauf hin, das der „vulgarisierte" Funktionalismus eines Pérez Jiménez vor einem anderen Hintergrund zu sehen ist als derjenige, der sich in der Architektur Westeuropas oder Nordamerikas beobachten läßt. Nur indem die Parallelen, aber auch die Unterschiede bei der Umsetzung eines universelle Gültigkeit beanspruchenden Fortschrittsgedankens aufgezeigt werden, kann der eigentümliche Weg in die Modernität nachgezeichnet werden, den die venezolanische Elite einschlug.

43

W c l l m c r , Albrecht, Kunst u n d industrielle P r o d u k t i o n . Zur Dialektik v o n M o d e r n e u n d P o s t m o d e r n e , in: Merkur 4 1 6 / 1 9 8 2 , S. 1 3 6

29

Das Legat des 19. Jahrhunderts

„Das Wort Stille ist niemals zutreffender verwandt worden, als wenn man über die Stadt Caracas spricht. Männer und Frauen gehen auf bloßen Sohlen, die Hufe von Maultieren, Eseln und Pferden sind nicht beschlagen und niemals ist eine Kutsche auf den Straßen zu sehen. Caracas ist maßlos langweilig, sehr heiß und feucht und einfach unvorstellbar trist. Man lebt dort wie in der Verbannung. Die Stadt ist voller Staub, die Luft drückend und schwül. Das Klima macht nachlässig und teilnahmslos, und bald gewöhnt man sich daran, so zu leben, obwohl man zum Gegenteil entschlossen war. Caracas, Caracas, du bist die Verkörperung der Langeweile selbst. Könnte man nicht hin und wieder eine Nacht mit Kartenspielen verbringen, ich legte mich für die nächsten sieben Monate schlafen." 1 Soweit die wenig vorteilhaften Ausführungen, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der erste diplomatische Vertreter der Vereinigten Staaten in Venezuela in seinem Tagebuch hinterließ. Wenn auch der mißmutige Charakter des Diplomaten, der 1840 in Caracas an einem Magengeschwür starb, an diesem negativen Urteil nicht unbeteiligt gewesen sein mag, standen die Dinge in der jungen Republik ohne Zweifel nicht zum besten. Das zerstörerische Werk der Unabhängigkeitskriege war n o c h auf Schritt und Tritt zu spüren, und in der Hauptstadt vervollständigten die Ruinen, die das große Erdbeben von 1812 hinterlassen hatte, das trostlose Bild. Erst um 1880 würde Caracas mit 55 0 0 0 Einwohnern wieder den Bevölkerungsstand der Vorkriegszeit erreichen. 2 Nachdem sich in den ersten Jahren nach der Befreiung von der spanischen Herrschaft „selbst die vornehmsten Familien nicht den Luxus leisten konnten, ein Huhn auf den Tisch zu bringen oder eine Flasche Wein zu entkorken", 3 hatte sich um die Jahrhundertmitte ihre Lage nicht wesentlich verbessert, und ein ausländischer Reisender sollte den Nachfahren der alten Kolonialaristokratie bescheinigen, sie seien „sanft im Umgang, haben höfliche, ja elegante Manieren und sind gastfreundlich, so weit es ihre Mittel erlauben, denn keiner von ihnen besitzt ein großes Vermögen." 4 1

J o h n G. Willlamson hielt sich 1 8 2 6 - 1 8 4 0 In Venezuela auf. Vgl.: Leal, Ildefonso, Nuevas crónicas de historia de Venezuela, Caracas 1985, Bd. I, S. 3 6 7 - 6 8

2

Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela, a.a.O., S. 129

3

Díaz Sánchez, Ramón, Evolución social de Venezuela (hasta 1960), in: Picón-Salas, Mariano et al., Venezuela independiente 1 8 1 0 - 1 9 6 0 , Caracas 1962, S. 3 0 7 Consejero Lisboa, Relación de un viaje a Venezuela, Caracas 1986, S. 5 8

4

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Schon vor der Unabhängigkeit hatten ausländische Beobachter allerdings festgestellt, daß es in Venezuela wenige Männer gab, die als wirklich reich zu bezeichnen waren. 5 Das Land befand sich in einem deutlichen Rückstand gegenüber anderen spanischen Kolonien wie Neuspanien oder Peru, deren Erschließung unter Miteinbeziehung der Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen der alten indianischen Hochkulturen und vor allem auf der Grundlage reicher Edelmetallvorkommen sehr viel rascher vorangetrieben worden war. Außer der schon im 16. Jahrhundert erschöpften Perlenfischerei an der Küste um Cumanä schien Venezuela keine verlockenden Reichtümer zu bieten, und nachdem die Suche nach dem El Dorado erfolglos geblieben war, begann mit Viehzucht, Indigogewinnung, Tabak- und Kakaoanbau eine bescheidene Landwirtschaft in den Vordergrund zu rücken. Erst jedoch als Venezuela im 18. Jahrhundert die zentralamerikanischen Länder als Hauptlieferant von Kakao abzulösen begann, machte sich ein gewisser Wohlstand bemerkbar. So stellten am Vorabend der Unabhängigkeitskriege die kreolischen Großgrundbesitzer eine selbstbewußte Elite dar, die in den Provinzstädten, aber auch in Caracas einen nicht zu unterschätzenden politischen Einfluß ausübte und - obwohl nur die wenigsten bedeutende Vermögen besaßen - ein ausgeprägtes Standesbewußtsein entwickelt hatte. Denn durften auch nicht mehr als zehn dieser knapp hundert eng miteinander verbundenen Familien sich eines wohlklingenden Adelstitels rühmen, wußte man den gesellschaftlichen Rang doch wirkungsvoll mit dem Hinweis auf die Abstammung von den ersten ruhmreichen Besiedlern Venezuelas zu unterstreichen. 6 Um 1800 hätte sich die Hauptstadt des erst 1777 geeinten Generalkapitanats der Vereinigten Provinzen von Venezuela schwerlich mit anderen Metropolen des spanischen Kolonialreichs wie Lima oder Mexiko messen mögen. Noch immer waren die Kirchen „die einzigen öffentlichen Gebäude, die Caracas besaß", 7 aber nachdem man in den ersten beiden Jahrhunderten der Besiedlung Venezuelas einen überaus einfachen Lebensstil gepflegt hatte, erlaubte es der wirtschaftliche Aufschwung des 18. Jahrhunderts, zumindest dem privaten Bereich mehr Glanz zu verleihen, und in immer prächtiger eingerichteten Häusern versammelte sich der kreolische „Adel" zu Bällen, Banketten oder Hauskonzerten.8 Gleichzeitig begann Frankreich als kulturelles Vorbild eine Rolle zu spielen, denn mit der Bourbonenherrschaft in

5

M c K i n l e y , P. M i c h a e l , P r e - R e v o l u t i o n a r y Caracas. Politics, E c o n o m y a n d S o c i e t y 1 7 7 7 - 1 8 1 1 , C a m b r i d g e 1 9 8 5 , S. 2 6

6

F u n d a c i ó n Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 8 0 0 ; Arcaya, Pedro M a n u e l , Estudios de sociología v e n e z o l a n a , Madrid, o. J., S. 4 3 , 5 6

7

D e p o n s , F r a n c i s c o , Viaje a la parte o r i e n t a l de Tierra F i r m e en la América M e r i d i o n a l , Caracas 1 9 8 3 , S. 1 1 2

8

Uslar Pictri, Arturo, Tierra v e n e z o l a n a , Caracas 1 9 8 6 , S. 3 1

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Spanien 9 gelangten französische Moden auch in die fernen Kolonien, und schon bald sollen es die jungen Kreolen als äußerst schmeichelhaft empfunden haben, wenn man sie „in Kleidung oder Umgangsformen mit einem Franzosen" verglich. 10 Der Einfluß des französischen Rokoko milderte die schmucklose Strenge, die die Einrichtung der kolonialen Häuser bislang bestimmt hatte, obwohl der galante französische Stil auf seinem Weg über Spanien in die amerikanischen Kolonien eine robustere, typisch kreolische Färbung annahm und „das graziöse Muschelwerk des Rokoko, das in (...) Frankreich Symbol der leichtfertigen Hofsitten war, in Caracas die Hausaltare schmückte oder Bildnisse der trauernden Mater dolorosa umrahmte". 1 1 Die iberische Tradition der Kolonialzeit mit ihrer Neigung zu zeremoniöser Religiosität und ständischer Etikette überlebte auch den politischen Bruch mit der spanischen Monarchie, und noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts fand ein ausländischer Reisender, daß die alte Kolonialaristokratie „viel von dem bewahrt, was den echten spanischen Edelmann auszeichnet", um allerdings mit Bedauern festzustellen: „Es sind liebenswürdige Wesen, aber ich fürchte, daß sie in Kürze in dem stürmischen Meer der republikanischen Ideen untergehen werden." 12 Mehr jedoch als die „republikanischen Ideen" waren es andere Faktoren, die die Vormachtstellung dieser Elite angefochten hatten. Der große Befreiungskämpfer Simón Bolívar, der einer der vornehmsten Familien von Caracas entstammte, hatte der Kolonialmacht einen „Krieg auf Leben und Tod" erklärt, der bis zum Sieg über die Spanier 1821 nicht nur große Lücken in die eigenen Reihen schlug, sondern auch den Reichtum der kreolischen Oberschicht weitgehend zerstörte. Dergestalt durch den Krieg geschwächt, sah sich die traditionelle Elite zudem mit dem Phänomen des caudillismo konfrontiert, der sich im Verlauf der Unabhängigkeitskämpfe entwickelt hatte und unter dessen Vorzeichen das erste republikanische Jahrhundert über weite Strecken stehen sollte. Schon der erste Präsident Venezuelas, der nach der Auflösung Groß-Kolumbiens die Macht ergriff und sich nach zwei Präsidentschaften zwischen 1830 und 1843 erst in den sechziger Jahren endgültig von der politischen Bühne zurückzog, verkörperte all jene Eigenschaften, die in der Folge den klassischen Caudillo bestimmten. Aus einfachen Verhältnissen stammend, verdankte José Antonio Páez seine Autorität den kriegerischen Erfolgen, die er mit seinen Ilaneros - seinem kühnen Reiterheer aus den Tiefebenen des venezolanischen Landesinneren - errungen

9

Seitdem nach dem Tod des letzten spanischen Habsburgers 1700 der Bourbone Philipp von Anjou, ein Enkel Ludwigs des XIV., König von Spanien geworden war, hatten französische Sitten auf der iberischen Halbinsel Eingang gefunden.

10 11

Depons, a.a.O., S. 81 Röhl, Juan, Historias viejas y cuentos nuevos, Caracas 1946, S. 76

12

Lisboa, a.a.O., S. 5 9 - 6 0

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hatte und die ihn neben Bolivar zu einem der großen Helden des Befreiungskampfes machten. Die bedenkenlose Anwendung von Gewalt und eine treu ergebene Gefolgschaft erwiesen sich als das Erfolgsrezept der Caudillos, die im 19. Jahrhundert nicht nur überall im Lande regionale Machtzentren aufrechtzuerhalten vermochten, die einer nationalen Integration im Wege standen, sondern die sich angesichts unsicherer politischer Verhältnisse in Caracas auch immer wieder ermutigt sahen, mit ihren Truppen aufzubrechen, um in der Hauptstadt gewaltsam die Macht an sich zu reißen. Angesichts der Tatsache, daß die junge Republik nach der glorreichen Befreiung von der spanischen Herrschaft durchaus nicht den erwarteten Glanz entfaltete, waren schon im 19. Jahrhundert Stimmen laut geworden, die den Caudillismus und dessen „Praxis von Machete und Machismo" 13 für den offensichtlichen Rückstand Venezuelas verantwortlich machten. Vetternwirtschaft und Korruption, die Mißachtung kollektiver, nationaler Zielsetzungen, der ständige Bruch republikanischer Verfassungsprinzipien, ein Regierungsstil, der auf Bauernschläue und Gewalt beruhte: Der begrenzte Horizont des regionalen Führers setzte offenbar auch der Entwicklung der von ihm geführten Nation ihre Grenzen. Als negative Konstante der venezolanischen Geschichte galt der caudillismo darum bis in die jüngste Zeit auch den Historikern, die hinsichtlich der autoritären Machthaber, denen das Land regelmäßig in die Hände fiel, immer wieder zu ähnlichen Diagnosen gelangten. Seinem „moralischen Versagen", so ein venezolanisches Geschichtsbuch von 1970, das sich in seiner ungezügelten Raffgier und der Willkür einer personalisierten Macht zeige, füge der Caudillo ein „geistiges Versagen" hinzu, da er sich als unfähig erweise, „über seinen dörflichen Horizont hinauszuschauen und die Nation als Ganzes zu begreifen, aber auch indem er die Kultur als Geistesqualität verachtet, weil sie einem macho und Führer nicht entspricht." 14 Der Vorwurf der kulturellen und intellektuellen Unzulänglichkeit, der immer wieder gegen jene Männer erhoben wurde, deren Herrschaft sich mehr auf die Gewalt denn auf die Macht der Ideen stützte, hat Tradition: Seit dem 19. Jahrhundert stand der caudillismo für die Ignoranz, die Barbarei und den Primitivismus des Landesinneren. 15 Obwohl die Oberschicht sich immer wieder zu Allianzen mit den machthabenden „starken Männern" bereitfand, konnte es nicht ausbleiben, daß sie den rustikalen Kriegern mit einer gewissen Distanz begegnete - auch was deren Lebensstil betraf. Bereits José Antonio Päez, gefeierter Befreiungsheld und erster Präsident Venezuelas, der angeblich erst von britischen Legionären den Gebrauch von Messer und Gabel erlernt hatte, schien ein geradezu klassischer Repräsentant 13 14

Salcedo-Bastardo, José Luis, Historia fundamental de Venezuela, Caracas 1982, S. 331 Ebd., S. 3 2 9 - 3 3 0

15

Burns, Edward B., The Poverty of Progress. Latin America in the Nineteenth Century, Berkeley 1980, S. 2 2

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des ländlichen Caudillo zu sein, der die einfachen Sitten des Mannes beibehält, „der seine Kindheit als einfacher Viehknecht und seine Jugend auf den Schlachtfeldern verbracht hat und dessen innerste Lust es ist, wie ein zügelloses Pferd die unermeßlichen Graslandschaften des Landesinnern zu durchqueren. Seine großen Leidenschaften waren die Reiterei, das Glücksspiel und die Liebe." 1 6 Mit Vorbehalten stand den Caudillos nicht nur die traditionelle Elite gegenüber, die ihre alten ständischen Vorrechte durch ungeschliffene Emporkömmlinge bedroht sah. In dem Kampf um politische Macht und gesellschaftliches Ansehen drängte inzwischen auch eine dritte Gruppe immer mehr in den Vordergrund: die Kaufmannschaft. Der wachsende Überseehandel, an dem viele Neueinwanderer des 18. Jahrhunderts beteiligt gewesen waren, hatte bereits in der Kolonialzeit einem wohlhabenden städtischen Handelsbürgertum immer deutlichere Konturen verliehen, dem sich nach der Befreiung von den kolonialen Handelsschranken nun eine Vielzahl neuer Möglichkeiten eröffnete. Angesichts dieser vielversprechenden Perspektiven sollten nach der Unabhängigkeit nicht allein Angehörige der kreolischen Mittelschicht den Einstieg in diese Gruppe suchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließen sich zudem zahlreiche ausländische Kaufleute in Venezuela nieder, sei es als selbständige Unternehmer, sei es als Vertreter mächtiger Stammhäuser, und Engländer und Deutsche, aber auch Franzosen, Holländer und später Nordamerikaner spielten bald eine zentrale Rolle in der Wirtschaft der neuen Republik. 17 Die Kaufmannschaft errang nicht nur als Geldgeber wachsende wirtschaftliche Macht gegenüber den Großgrundbesitzern, die durch Kredite und Hypotheken immer tiefer in deren Abhängigkeit gerieten. Nach dem Bruch mit Spanien war Venezuela begierig, sich dem internationalen Markt einzugliedern, und so gewann das Handelsbürgertum als Vermittler zwischen den expandierenden nordatlantischen Handelsnationen und den venezolanischen Produzenten zunehmend an Gewicht. Dergestalt in ständigem Kontakt mit einer sich

modernisierenden

Außenwelt war es auch diese Gruppe, die allmählich einen kosmopolitischeren Lebensstil in das provinzielle Venezuela einführte, der sich ganz am Vorbild jener westeuropäischen Länder orientierte, die in den Augen der Lateinamerikaner im Gegensatz zu dem rückständigen Spanien eine glanzvolle neue Epoche des Fortschritts verkörperten. Auf der Grundlage der seit der Jahrhundertmitte dominierenden, mit ausländischen Krediten finanzierten Ausfuhr von Kaffee sollte ab 1871 mit Präsident Antonio Guzmän Blanco ein tatkräftiger Vertreter dieser neuen städtischen Elite 16

Gil Fortoul, ln: Mijares, Augusto et al., Juicios sobre la personalidad del General José Antonio Páez, Caracas 1974

17

Vgl. etwa Waltcr, Rolf, Los alemanes en Venezuela. Desde Colón hasta Guzmán Blanco, Caracas 1985

34

einen Modernisierungsversuch einleiten, der mit der Einführung spektakulärer technischer Errungenschaften wie Eisenbahn oder Elektrizität greifbare Erfolge verbuchen konnte. General Guzmán Blanco selbst, der seine Kenntnis der internationalen Geschäftswelt nicht zuletzt für einträgliche Privatgeschäfte zu nutzen wußte, tat sich gemeinsam mit hervorragenden Vertretern des Handelsbürgertums auch als Pionier in für Venezuela neuartigen Geschäftsunternehmungen hervor. So befanden sich unter den Hauptaktionären des 1883 gegründeten Banco Comercial de Venezuela oder der 1884 ins Leben gerufenen Fábrica de Gas neben Guzmán Blanco die seit der Kolonialzeit bekannte Firma Santana & Co. sowie das 1827 von einem Briten gegründete Handelshaus Boulton. 18 Als Ausdruck der engen persönlichen Beziehungen und des kosmopolitischen, von europäischer Kultur durchtränkten Lebensstils, die dieser Gruppe Zusammenhalt gaben, können die kostbaren, ganz dem Zeitgeschmack entsprechenden Geschenke gelten, die der Präsident den Boulton machte, etwa die Bronzestatuen in griechischem Stil, die er der Kaufmannsfamilie aus Paris mitbrachte. 19 General Guzmán Blanco, der regelmäßig nach Europa reiste und dessen schwärmerische Europabewunderung geradezu legendär wurde, ist nicht zuletzt insofern als Wegbereiter einer neuen Epoche zu bezeichnen, als er dem Repräsentationsbedürfnis eines neuen städtischen Bürgertums zur Geltung verhalf. Das Wort „Zivilisation" war zum Leitmotiv seiner Regierungszeit geworden, und da Paris dem Präsidenten als Quintessenz aller Zivilisation galt, erhob er die französische Hauptstadt zum Vorbild einer ehrgeizigen städtebaulichen Umgestaltung von Caracas. Die enge Kolonialstadt wurde erweitert und „wie in Paris" promenierte man über breite Boulevards und öffentliche Plätze, die von Gärten, Brunnen und Denkmälern verschönt wurden. Der große öffentliche Markt, den man bisher im Herzen der Stadt veranstaltet hatte, wurde verlegt, und die so entstandene Plaza Bolívar - mit einem nach dem Entwurf eines italienischen Künstlers in München gegossenen Reiterstandbild des Befreiers - verwandelte sich in einen Ort eleganter Muße, der mindestens bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts der Elite als repräsentativer Hintergrund diente. 2 0 Mit der Errichtung prunkvoller öffentlicher Bauten wie dem Kongreßgebäude des Capitolio oder dem Teatro Guzmán Blanco, später umbe-

18

19 20

Brito Figueroa, a.a.O., Bd. IV, S. 1600; Gerstl, Otto, Memorias e historias. Reminiscencias de mis cincuenta y tantos años en Venezuela, entrelazadas con datos que he podido recopilar de la historia de una grande y antigua empresa, con la que me unen lazos de trabajo y afecto, desde el mismo día de mi llegada al país, Caracas 1977, S. 2 4 7 , 3 2 2 - 3 2 4 , 3 2 9 Heute im Museum der Fundación J o h n Boulton. Mcrola Rosciano, Giovanna, La relación hombre-vegetación en la ciudad de Caracas. Aporte al estudio de la arquitectura paisajista de Caracas, Caracas 1987, S. 94 ff.

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nannt in Teatro Municipal, hielt gleichzeitig die Architektur des Klassizismus ihren Einzug.21 Auch außerhalb von Caracas fand das Bestreben der hauptstädtischen Elite, fortschrittliche, europäische Gepflogenheiten zu übernehmen, seinen Niederschlag. Während der Küstenort Macuto zuvor „nichts als ein trauriges Fischerdorf mit wenigen, einfachen Häusern oder elenden Hütten" 22 gewesen war, verwandelten das neue Badehaus und das Villenviertel der Guzmania zumindest in den Augen der Venezolaner Macuto in eine Art „venezolanisches Trouville" - in einen Badeort also, der ebenso der Erholung wie der Repräsentation diente. Mit Theatern, Boulevards und öffentlichen Plätzen schien die Zivilisation auch in den größeren Städten des Landesinneren ihren Siegeszug anzutreten, etwa in Maracaibo, Valencia oder Barquisimeto. 23 Im nachhinein jedoch - und vor allem aus der kritischen Perspektive des 20. Jahrhunderts - sollten vielen Venezolanern die städtebaulichen Reformen von Guzmän Blanco als Musterbeispiel für einen „Fassadenfortschritt" gelten, der sich darauf beschränkte, mit den Erlösen aus der Kaffeeausfuhr kosmetische Verschönerungen nach europäischem Geschmack vorzunehmen, anstatt strukturelle Veränderungen anzustreben und die venezolanische Wirtschaft vielseitiger und produktiver zu machen. Zum Symbol eines prätentiösen, blind an ausländischen Vorbildern orientierten Lebensstils wurde aus dieser Sicht die „zwergenhafte" Neogotik der neuen Fassade, mit der Guzmän im Stadtzentrum dem bescheidenen alten Universitätsgebäude einen zeitgemäßeren Anstrich zu geben suchte. Der Schriftsteller und Essayist Arturo Uslar Pietri zumindest fand in diesem Prunkstück der städtebaulichen Neugestaltung von Caracas den ganzen schlechten Geschmack jenes Europas wieder, das der Präsident auf seinen Reisen kennengelernt hatte, den Geschmack „des viktorianischen Englands und des Frankreichs des Zweiten Imperiums. Von dort hat Guzmän Blanco seine Neigung zu pompösen Imitationen. (...) In einem Land von Ziegelsteinen und Lehm will er die Ziegel mit Gips verkleiden. So entsteht die Fassade der Universität mit ihrer betrügerischen Zuckerbäckergotik und das nicht weniger fragwürdige Kapitol mit seinen Gipskaryatiden und dem blechernen Dach seiner Turmspitze." 24 Wie zweifelhaft, ja lächerlich die Ergebnisse ihrer Anstrengungen auch auf ihre Nachfahren wirken mochten: wenn die neuen lateinamerikanischen Bourgeoisien 21

Gasparini, Graziano und Posani, Juan Pedro, Caracas a través de su arquitectura, Caracas 1969, S. 176 ff., 183 ff., 2 0 5 ff.

22

Castellanos, Rafael Ramón, Caracas 1883. Centenario del Natalicio del Libertador, Bd. I, Caracas 1983, S. 2 8 5

23

Ardía Farías, Eduardo, Historia de la ingeniería en Venezuela, Caracas 1961, Bd. II, S. 462, 5 2 3 - 2 4 ; Cubillán Fonseca, Luis, Historia de la construcción del Teatro Municipal de Valencia, Valencia/Venezuela 1984

24

Schael, Guillermo José, Imagen y noticia de Caracas, Caracas 1958, S. 157

36

mit ihrer modischen Neigung zu klassizistischem Prunk das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts zu imitieren suchten, so sprach hieraus ihr Wunsch nach Eingliederung in dessen opulente Welt von Fortschritt und Zivilisation - aber auch das Bestreben, einen Lebensstil zu entwickeln, den sie dem alten Patriziat entgegenhalten konnten. 2 5 Denn während die auf alte Vorrechte pochende „Kolonialaristokratie" noch um die Jahrhundertmitte „die Sitten der Vergangenheit so weit als möglich aufrechtzuerhalten suchte" 26 , entsprach die am französischen Vorbild orientierte Umgestaltung des alten Caracas nicht zuletzt dem Wunsch der neuen Bourgeoisien, mit einer von kolonialem Standesdenken bestimmten Vergangenheit zu brechen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls Guzmän Blancos antiklerikale Politik und deren städtebauliche Umsetzung zu sehen. Indem etwa die alte Trinitätskirche zu einem den großen Unabhängigkeitshelden gewidmeten Pantheon umgebaut wurde, sollte die religiöse Architektur, die der traditionellen Oligarchie ideologisch zu Diensten gestanden hatte, durch eine „politische Architektur" ersetzt werden, die das Schwergewicht auf die republikanischen Ideale der Bourgeoisie legte. 27 Der politische Liberalismus, unter dessen Banner Guzmän Blanco als Sohn des Gründers der Liberalen Partei im Bürgerkrieg von 1859-1863 gegen die Konservativen angetreten war, erwies sich angesichts des immer autokratischeren Gebarens des Präsidenten jedoch als Lippenbekenntnis. Die Venezolaner atmeten auf, als der Despot 1888 schließlich die Regierung niederlegte und sich nach Frankreich begab, um dort bis zu seinem Tod 1899 von einem Vermögen zu leben, das sich auf 100 Millionen Francs belaufen haben soll.28 Von kurzer Dauer war auch die Phase republikanischer Freiheiten und wirtschaftlichen Wohlstands, in deren Genuß die Venezolaner unter den nachfolgenden Regierungen von Rojas Paul (1888-90) und Andueza Palacio (1890-92) kamen. Die letzte Dekade des Jahrhunderts war von tiefgreifenden Krisen gekennzeichnet: Nachdem' um 1890 der steigende Kaffeepreis zu einem Aufschwung geführt hatte, leiteten sinkende Preise schon 1893 eine Talfahrt der venezolanischen Wirtschaft ein. Die zunehmende Staatsverschuldung führte nicht nur zu Konflikten mit den einheimischen Bankiers, sondern auch mit ausländischen Geldgebern, deren Regierungen zunehmenden Druck auf Venezuela auszuüben begannen. Gleichzeitig trugen erneute politische Wirren zu einer Verschärfung der Lage bei. Joaquin Crespo, der im Bürgerkrieg auf Seiten der Liberalen die typische Kar-

25 26 27

Vgl. Romero, José Luis, a.a.O., S. 233-234, 285 Lisboa, a.a.O., S. 59 González Ordosgoitti, Enrique, Para un estudio de la lucha cultural durante la Presidencia de Guzmán Blanco de 1870-1876, in: Tierra Firme. Revista de historia y ciencias sociales, n ú m . 22, abril-junio 1988, S. 202

28

Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 409, 412

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riere eines Caudillo durchlaufen und es vom einfachen Soldaten zum General gebracht hatte, 29 konnte seine gewaltsame Machtergreifung von 1892 zwar zunächst durch freie Wahlen legitimieren, erwies sich jedoch bald als ebenso korrupt wie autoritär. Für eine ganze Generation, die nach dem Ende der immer absolutistischeren Herrschaft von Guzmán auf eine Verwirklichung der republikanischen Ideale gehofft hatte, sollte der Wahlbetrug, mit dem Crespo 1897 seinem Favoriten Andrade zur Präsidentschaft verhalf, das Ende einer Illusion bedeuten: Man schien sich davon überzeugen zu müssen, daß die Venezolaner noch immer der Reife entbehrten, die politische Macht in institutionelle Bahnen zu lenken. 30 Die abstrakten Prinzipien einer republikanischen Staatsführung waren immer wieder vor dem „irrationalen", gewaltsamen Machtanspruch der Caudillos verblaßt, und Liberalismus und Konservativismus waren zu Etiketten ohne politischen Inhalt geworden, die entsprechend wechselnder Machtkonstellationen beliebig austauschbar schienen. So kam es, daß Cipriano Castro, der 1899 mit sechzig Getreuen - unter ihnen der spätere Präsident Juan Vicente Gómez - aus dem Andenstaat Táchira aufgebrochen war, um die Regierungsgewalt an sich zu reißen, in der durch politische und wirtschaftliche Krisen zerrütteten Hauptstadt offene Türen fand. Tatsächlich erreichten um die Jahrhundertwende viele seit langem schwelende Konflikte ihren Höhepunkt. Bereits wenige Wochen nachdem Castro die Macht ergriffen hatte, kam es zum politischen Eklat. Der Präsident ließ die Bankiers, die dem Staat neue Kredite verweigerten, kurzerhand ins Gefängnis sperren. Unter den Häftlingen befand sich General Manuel Antonio Matos, Schwager von Guzmán Blanco, Exminister und Aktionär des Banco de Venezuela sowie des Banco de Caracas, der 1901 die Führung einer Revolution übernahm, die die verschiedensten, mit der neuen Regierung unzufriedenen Interessengruppen verband und die Nation in einen blutigen Bürgerkrieg stürzte. Nicht nur die regionalen Caudillos, die sich der wachsenden Zentralisierung der politischen Macht gewaltsam zu widersetzen suchten, riefen überall im Land den Aufstand aus. Die sogenannte Revolución Libertadora gewann zudem mit der Unterstützung durch ausländische Investoren an Schlagkraft, die von dem diffusen Nationalismus verärgert waren, mit dem der neue Präsident ihren Forderungen begegnete. 3 1 Während es dem unter Castro modernisierten Militär 1903 gelang, den Aufstand niederzuschlagen und somit einen entscheidenden Sieg über den traditionellen Caudillismus des Landesinneren zu erringen, verschärften sich die Konflikte mit den ausländischen Kapitalgebern. Um deren Schuldforderungen 29

Zwischen 1884 und 1886 hatte Crespo auf Betreiben von Guzmán Blanco gar für zwei Jahre die Präsidentschaft übernommen.

30

Vgl. Velásquez, Ramón J., La caída del Liberalismo Amarillo: Tiempo y drama de Antonio Paredes, Caracas 1977 Harwich Vallenilla, a.a.O., S. 2 4 0

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Nachdruck zu verleihen, hatten deutsche, englische und italienische Schiffe 1903 mit einer Blockade der venezolanischen Küste wirkungsvoll ihre militärische Macht vorgeführt. Aber auch nach der diplomatischen Beilegung dieses Konflikts blieben die Beziehungen zum Ausland problematisch. Als 1908 sein ehemaliger Waffenbruder und Vizepräsident Gomez ihm die Macht entriß, hatte Castro die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich, Kolumbien, Holland und den USA abgebrochen und den Handelsverkehr mit diesen Ländern verboten. 32 Es ist nur allzu offensichtlich, daß eine derartige Außenpolitik den Interessen der auslandsorientierten städtischen Bourgeoisie nicht entsprechen konnte. Anlaß zu Unzufriedenheit hatten außerdem der geschilderte Konflikt mit den Banken und die wachsenden Zölle gegeben, mit denen Castro die leeren Staatskassen aufzufüllen suchte, sowie die Wirtschaftsmonopole, mit denen Regierungsfreunde begünstigt wurden. Dennoch drohte der Handels- und Finanzbourgeoisie keine ernstliche Gefahr. Trotz der Wirtschaftkrise des Jahrhundertendes konnte sie ihre Position festigen - was in der Gründung von Handelskammern in Caracas, Maracaibo, Valencia und Puerto Cabello seinen Niederschlag gefunden hatte, aber auch in der wachsenden Bedeutung, die die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegründeten Bankhäuser im venezolanischen Wirtschaftsleben gewannen. 33 Eine zentrale Rolle im Außenhandel spielte nach wie vor die ausländische Kaufmannschaft, die sich vor Jahrzehnten im Land etabliert hatte. Der Handel von Maracaibo z. B. - der Hafen, über den der Kaffee aus seinem Hauptanbaugebiet in den Anden ausgeführt wurde - war, wie der Historiker Picon Salas berichtet, „von deutschen Unternehmen monopolisiert, vor allem von Breuer Möller und der Firma Blohm & Co. Sie waren die Importeure, Darlehensgeber und Bankiers fast des gesamten Westens. Die Vermögen von Witwen und Waisen, von Landbesitzern, denen sie Geld geliehen hatten, die Aktien von Eisenbahnen und Dampfschiffahrtsgesellschaften konzentrierten sich in ihren Händen. Und die Macht dieser Unternehmen reichte auch dorthin, wo die Gewalt Castros nicht vordringen konnte." 34 Das wachsende Gewicht der Handelsbourgeoisie in Wirtschaft und Gesellschaft spiegelte sich nicht zuletzt auch darin wider, daß das hauptstädtische Bürgertum den kolonialen Stadtkern zu verlassen begann, dessen Wohnviertel ungeachtet der von Guzmän Blanco im öffentlich-repräsentativen Bereich vorgenommen Erneuerungen noch ganz von der kolonialen Tradition geprägt waren. 1895 war im Süden von Caracas der Grundstein für die Entstehung des neuen Villenviertels von El Paraiso gelegt worden, 35 und wie in Europa vollzog sich in den nächsten Jahren eine Bewegung in großzügig angelegte Vororte, in denen man in luxuriösen Villen 32

Rodríguez Gallad, a.a.O., S. 1 9 4

33

F u n d a c i ó n Polar (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. 9 3 3

34

Picón Salas, in: Rodríguez Gallad, a.a.O., S. 5 6

35

Mérola R o s c i a n o , a.a.O., S. 1 0 8 ff.

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mit klassizistischen Fassaden, Türmchen und Säulenportalen einen ganz am Vorbild des europäischen Bürgertums orientierten neofeudalen Lebensstil pflegte. 36 Von Stabilität und Fortschritt schien auch das zeremoniöse öffentliche Leben jener Jahre zu zeugen, mit seinen zum Ritual gewordenen Promenaden und Konzerten auf der Plaza Bolívar oder den pompösen Feiern, die man zur Einweihung öffentlicher Bauten zu veranstalten pflegte und die stets von hochtönenden Reden auf die „Zivilisation" und auf einen in ihrem Dienste unermüdlich tätigen Präsidenten begleitet wurden. 37 Aber die starre Fassade von Ordnung und Harmonie, die die hauptstädtische Elite bei diesen Gelegenheiten wie beschwörend zur Schau stellte, konnte nicht über die untergründigen Konflikte hinwegtäuschen, die im Venezuela der Jahrhundertwende gärten. Die wirtschaftliche Depression und die scheinbar unaufhaltsame Zersetzung aller politischen Ideale hatten das ihrige getan, um den Venezolanern die schwachen Fundamente vor Augen zu führen, auf denen die Republik nach langen Jahrzehnten der Unabhängigkeit noch immer stand. Die „Befriedung" des Landes, die 1903 mit dem militärischen Sieg über die Revolución Libertadora gelungen war, hatte viele Widersprüche unaufgelöst gelassen und die Oberschicht selbst bildete alles andere als eine geschlossene Einheit. Während unter der Herrschaft von Cipriano Castro erneut die Willkür eines Caudillo seiner - diesmal andinischen - Klientel zu zentralen Positionen in Politik und Wirtschaft verhalf, sah sich das immer vermögendere neue Bürgertum mit dem Standesdünkel einer „aristokratischen" Großgrundbesitzerschicht konfrontiert, die offensichtlich nicht in der Lage war, ihren fortschreitenden wirtschaftlichen Ruin aufzuhalten. In der Tat hatte sich die Krise der venezolanischen Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts so zugespitzt, daß das lateinamerikanische Land nicht wenige Symptome der europäischen Krise des fin de siècle an den Tag legte. Und ähnlich wie es in Europa der Fall gewesen war, schien das starre Festhalten an überkommenen gesellschaftlichen Normen und Konventionen in Wahrheit eine tiefgreifende Infragestellung aller etablierten Werte zu verbergen, eine moralische Verunsicherung, die in pessimistischer Untergangsstimmung, 38 aber auch in schwelgendem Hedonismus ihren Niederschlag fand. „Spieler und Duellanten", so der Essayist und Historiker Mariano Picón Salas, waren bereits die eleganten caraqueños des ausgehenden Jahrhunderts gewesen. Nach dem steifen Pomp der Jahre von Guzmán Blanco, der trotz seiner Neigung zu verschwenderischem Luxus stets auf Form und Etikette bedacht gewesen war,

36 37 38

Bentmann, Reinhard und Müller, Michael, Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Frankfurt/M. 1970, S. 119-121 Vgl. Caraballo Perichi, Ciro, Obras públicas, fiestas y mensajes. Un puntal del régimen gomecista, Caracas 1981 ... wie sie Manuel Díaz Rodríguez in seinem Roman Idolos rotos von 1901 beschrieben hat. Vgl. auch Olivares, Jorge, La novela decadente en Venezuela, Caracas 1984

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begann mit der zivilen Regierung von Raimundo Andueza Palacio - bekannter Frauenliebhaber und Freund französischen Cognacs - eine venezolanische Belle Époque, in der hinter der Fassade bürgerlichen Wohlverhaltens eine merkliche Lockerung der Sitten zu beobachten war. Der Caudillo Castro, dem man die „Sinnlichkeit eines abessinischen Prinzen oder eines Kalifen aus Tausendundeiner Nacht" zusprach, schien die „Libertinage" einer dekadenten Epoche auf die Spitze zu treiben. 39 Die „Tanzmanie" von Castro wurde geradezu sprichwörtlich, und vielerlei Gerüchte umwitterten die Feste, die ihm sein Günstling General Francisco Linares Alcantará, Gouverneur des Staates Aragua, in La Victoria ausrichtete, angeblich „goldene Orgien, die drei, vier, ja bis zu acht Tage dauerten." 40 Wenn Picón Salas in dem „tanzwütigen" Castro eine „sehr hispano-amerikanische Verschmelzung von einheimischer Barbarei und importierter Dekadenz" verkörpert fand, so war diese für eine ganze Epoche typische Verbindung ebenso bei Männern wie Eustoquio Gómez anzutreffen, jenem Cousin des Vizepräsidenten und späteren Staatsoberhaupts Juan Vicente Gómez, der 1907 in einem der Vorstadtlokale von Puente Hierro aus nächster Nähe seinen Revolver auf den Gouverneur von Caracas abschoß. 41 Zu der „frivolen Gesellschaft", die in diesen Jahren in den Kneipen, Bordellen und Spielhäusern von Puente Hierro zusammentraf, gehörten nicht nur politische Emporkömmlinge aus dem Kreis des Caudillo oder ausschweifende Bourgeois, die ihren neuen Reichtum auskosteten. 42 Zum Inbegriff dieser von wirtschaftlichem und moralischem Verfall geprägten Epoche wurden vielmehr die sich aristokratisch gebärdenden Dandys, die mit einem verschwenderischen Leben müßiggängerischer Eleganz die Einkünfte aus einer fernen Hacienda verbrauchten. Hatten bereits die kolonialen Großgrundbesitzer ihre ländlichen Besitztümer häufig von den größeren Provinzstädten aus dirigiert, zog es sie im Lauf des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verstärkt in das immer mehr zum Zentrum des Landes heranwachsenden Caracas. In komfortablen Stadthäusern lebten sie von den Renten, die sie aus ihren Haciendas oder aus städtischen Immobilien bezogen, aber auch von den Einkünften aus den ebenso ehrenvollen wie einträglichen öffentlichen Posten, zu denen ihnen das gesellschaftliche Prestige verhalf, über das die ältesten Familien des Landes nach wie vor verfügten. Der Niedergang der venezolanischen Agrarwirtschaft ist nicht selten der Unproduktivität dieser Landbesitzer zugeschrieben worden, die - anstatt sich um eine rationellere Bewirtschaftung ihrer Latifundien zu bemühen - ihren gesellschaftlichen Status offenbar durch eine 39

Picón Salas, Mariano, Los días de Cipriano Castro, Caracas 1962, S. 5 4 - 5 5 , 173

40

So berichtet der Schriftsteller Rufino Blanco Fombona in seinen Tagebüchern aus jenen Jahren. Vgl. Rama, Angel, Rufino Blanco Fombona íntimo, Caracas 1975, S. 5 2

41

Picón Salas, Los días de Cipriano Castro, a.a.O., S. 173, 2 1 5

42

Romero, José Luis, a.a.O., S. 234, 2 6 3

41

verschwenderische Lebensführung aufrecht zu erhalten suchten, die sich in Abkehr von der immer mehr als altmodisch empfundenen Förmlichkeit der hispanischen Tradition nun an der mondänen Eleganz der europäischen Belle Époque orientierte. Das Stereotyp der Großgrundbesitzerssöhne, deren dandyhafter Lebensstil traditionsreiche Familien ihrem unaufhaltsamen Untergang zuführt, hat nicht zuletzt durch zahlreiche literarische Darstellungen Verbreitung gefunden. Was auch immer von dem Wahrheitsgehalt dieser Klischees zu halten sein mag, festgehalten sei zunächst, daß Venezuela im anbrechenden 20. Jahrhundert eine Zeit voller Widersprüche erlebte, eine Zeit, die von Niedergang und Desillusion ebenso wie von Fortschrittsoptimismus und einem zunehmenden Streben nach Ordnung und Effizienz bestimmt war: Tatsächlich konnten dieselben Dandys, die sich darin gefielen, eine modische Neurasthenie zu kultivieren, in der Ausübung moderner Sportarten wie Tennis oder Baseball ein sportliches, aktives Lebensgefühl entdecken. Es war vielleicht in der berühmten, 1892 gegründeten Zeitschrift El Cojo Ilustrado, wo das facettenreiche kulturelle Wertesystem der gebildeten Oberschicht der Jahrhundertwende seinen vollständigsten Ausdruck fand. 43 Die bis 1915 vierzehntägig erscheinende Zeitschrift berichtete stets auf einigen Seiten von den gesellschaftlichen Ereignissen, die die Hauptstadt bewegten; vor allem aber veröffentlichte sie literarische Texte oder solche, die sich mit Kultur und Geschichte beschäftigten. Hier konnte sich das interessierte Publikum mit europäischen Autoren wie Oscar Wilde oder Maurice Maeterlinck vertraut machen, es fanden jedoch auch die mehr oder weniger wertvollen Produkte einheimischer Dichter Platz, die den übersteigerten Ästhetizismus der in ganz Lateinamerika zur Mode gewordenen Poesie des modernismo pflegten. So ließen Inhalt und Gestaltung der Zeitschrift, die stark vom Jugendstil geprägt war, den „idealistisch-aristokratischen Humanismus" 4 4 erkennen, den die Lateinamerikaner einer sich mit schwindelerregender Schnelligkeit modernisierenden Welt entgegensetzten, von deren wachsendem Rationalismus und Leistungsdenken sie sich bedroht fühlten. Ebenso deutlich jedoch sprach aus der Zeitschrift der positivistische Fortschrittsglaube, der seit den Tagen von Guzmân Blanco von den Venezolanern Besitz ergriffen hatte. Stets widmete El Cojo Ilustrado einige Seiten den jüngsten Neuigkeiten aus der Welt von Wissenschaft und Technik und informierte seine Leser etwa über den größten Ozeandampfer der Welt, der gerade in Belfaster Werften gebaut wurde, oder über den Zusammenhang zwischen Erkältungen und unlängst entdeckten

43 44

Rosales, Jullo, El Co|o Ilustrado, Caracas 1966 Gewecke, Frauke, Ariel versus Caliban? Lateinamerikanische Identitätssuche zwischen regressiver Utopie und emanzipatorischer Rebellion, in: Sander, Reinhard, Der karibische Raum zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Zur karibischen Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1984, S. 176

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„Mikroorganismen, die in unserem Mund leben." Bei einer Leserschaft, der sich mit dem Blick auf Europa immer dringender die Frage nach den Ursachen für die ungleiche Entwicklung zu stellen begann, mögen auch die Meldungen von neuen anthropologische Thesen europäischer Wissenschaftler auf besonderes Interesse gestoßen sein - wie jene von der „zivilisierenden Kraft der Kälte", die in prähistorischen Zeiten den Menschen zu Aktivitäten gezwungen habe, die den ersten Schritt auf dem Weg in die Zivilisation bedeuteten. 45 Während die Venezolaner des beginnenden 20. Jahrhunderts sich trotz aller bewußten und unbewußten Zukunftsängste einem geradezu grenzenlosen Fortschritts- und Technologieglauben verschrieben zu haben schienen, hatte das evolutionistische Denken des Positivismus, das seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Rezeption der Lehren Comtes, Spencers und Mills immer größeren Einfluß gewann, zu einer neuen, „wissenschaftlicheren" Betrachtung der venezolanischen Entwicklung geführt. Positivistische Soziologen begannen, nach „rationalen" Lösungen für die Probleme zu suchen, die es verhinderten, die Comtesche Losung von „Ordnung und Fortschritt" zu verwirklichen und sich von dem Ballast der kolonialen Vergangenheit, aber auch von der Anarchie des caudillismo zu befreien, dessen zersetzende Wirkung das 19. Jahrhundert überschattet hatte. Es sollte ausgerechnet ein Caudillo sein, der sich berufen fühlte, diese Aufgabe zu übernehmen. Als General Juan Vicente Gömez 1908 gewaltsam die Macht ergriff, war man der Willkür und der Exzesse von Castro überdrüssig und feierte Gömez als Befreier. Aber Castro hatte in Wahrheit die Macht für einen Nachfolger zentralisiert, der die Zügel nur noch fester in die Hand nehmen sollte und dessen von Autoritarismus und Vetternwirtschaft geprägtes Regime sich sehr bald als nicht weniger „irrational" als das seines Vorgängers erwies. Es war dieser bis zu seinem Tod 1935 allmächtige Senor Presidente, der im Namen von „Ordnung und Fortschritt" das Land in jenes neue Zeitalter führte, in dem das Erdöl die Wirtschaft zu vereinnahmen begann und noch nicht dagewesene ökonomische und kulturelle Wandlungsprozesse auslöste.

45

El Cojo Ilustrado 15. 1., 1. 5. und 15. 5. 1903

43

Die Regierungsjahre von General Gómez 1908-1935 Verheißungsvoller Auftakt - Die ersten Bohrtürme Als „Glorreichen Caudillo des Friedens und der Arbeit" feierten die Venezolaner den neuen Präsidenten der Republik, General Juan Vicente Gómez. 1 Im Gefolge von Cipriano Castro, mit dem er 1899 aus dem Andenstaat Táchira ausgezogen war, um in Caracas die Macht zu erobern, hatte Juan Vicente Gómez die politische Bühne der Hauptstadt betreten, und als Castros seit langer Zeit labiler Gesundheitszustand den Präsidenten 1908 dazu zwang, sich in Europa einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, wußte Gómez seine Abwesenheit zu nutzen, um sich der Präsidentschaft zu bemächtigen. „Einheit, Friede und Arbeit" wurde zur Devise des neuen Regimes, und tatsächlich trug die politische Stabilität, die Gómez nach den inneren Wirren des 19. Jahrhunderts zu schaffen wußte, bald zu einem spürbaren Wirtschaftsaufschwung bei, auch wenn der von dem diktatorischen Regime geschaffene „Friede" auf der brutalen Unterdrückung jeder politischen Opposition beruhte. 2 Die eiserne Hand des Diktators führte den seit nahezu einem Jahrhundert ersehnten politischen Frieden im rechten Augenblick herbei, denn bald sollte das Erdöl Venezuela in den Mittelpunkt des Interesses der nordatlantischen Industrienationen rücken, die diesen Rohstoff in immer größeren Mengen benötigten und die politische Stabilität des Landes zu schätzen wußten, das bis 1928 zum wichtigsten Erdölexporteur der Welt avancierte. 3 Nachdem 1912 der erste Bohrturm errichtet worden war, stellte das schwarze Gold bereits 1920 mehr als ein Viertel der venezolanischen Ausfuhren dar. Im Jahre 1936, nach dem Ende der Regierungszeit von Juan Vicente Gómez, betrug der Anteil des Öls am Gesamtexport

1 2

Caraballo, a.a.O., S. 119 Urbaneja, Diego Bautista, El sistema político gomecista, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 64; Sanoja Hernández, Jesús, Largo viaje hacia la muerte, ebd., S. 1 4 1 - 1 5 5 . Berühmtestes Zeugnis der Barbarel der Gómez-Kerker ist José Rafael Pocaterras dokumentarischer Bericht „Memorias de un venezolano de la decadencia", zuerst erschienen in Bogotá, Kolumbien 1927.

3

In Mexiko, wo man ebenfalls auf bedeutende Ölvorkommen gestoßen war, hatte sich die Revolution den Interessen der ausländischen Ölindustrie in den Weg gestellt. Vgl. Betancourt, a.a.O., S. 5 3

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mehr als 91 Prozent. Vor allem zwei ausländische Unternehmen sollten in der immer beherrschenderen Ölwirtschaft eine uneingeschränkte Vormacht genießen: die Royal Dutch Shell, die seit 1912 in Venezuela aktiv war, und die nordamerikanische Standard Oil, die sich zwar erst seit 1920 zu engagieren begonnen hatte, aber bald das Übergewicht gegenüber den Briten gewann. 4 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Castro betrieb Gómez eine Politik der Öffnung gegenüber dem ausländischen Kapital, dem er mit einer ausgesprochen vorteilhaften Gesetzgebung entgegenkam. Fielen dem Fiskus bis 1936 dabei insgesamt auch nur zirka 7 Prozent der Erlöse zu, die die ausländischen Gesellschaften aus dem Öl erzielten, so waren die staatlichen Einkünfte aus dem begehrten Rohstoff trotz allem beträchtlich und trugen ohne Zweifel dazu bei, daß Gómez seine Herrschaft bis zu seinem Tod im Dezember 1935 unangefochten aufrechtzuerhalten vermochte. Und obwohl weder der Staat noch einheimische Kapitalgeber aktiv am Aufbau der Ölindustrie beteiligt waren, machte sich die stabilisierende Wirkung einer neuen Prosperität bald bemerkbar - so konnte die Auslandsschuld, die Cipriano Castro so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte, 1930 beglichen werden.5 Die politische Stabilität, die der Señor Presidente mit Hilfe der Einnahmen aus dem Öl garantierte, ermutigte ihrerseits wiederum die ausländischen Investoren und förderte die rasche Expansion der neuen Industrie. Den Venezolanern schien sich mit dem unerschöpflichen Devisenzufluß nach Jahrzehnten fortgesetzter wirtschaftlicher und politischer Krisen eine neue Ära des Fortschritts anzukündigen. „Wir sind uns darüber einig", so konnte der angesehene Schriftsteller und Politiker José Gil Fortoul 1925 bei vielen seiner Landsleute voraussetzen, „daß die Regierung von Präsident Gómez, die so lang an Jahren wie fruchtbar an Werken ist, sich vor allem durch den beharrlichen Eifer auszeichnet, mit dem sie sich so weit als möglich von der politischen Ideologie zu lösen sucht, um der Förderung der Wirtschaft all ihre Zeit und Kraft zu schenken." 6 Wirklich zeigte sich die diktatorische Regierung von General Gómez gewillt, mit einer fortschreitenden Konzentration der politischen Macht den Querelen der Vergangenheit ein Ende zu machen, um ihre Anstrengungen voll und ganz auf eine Modernisierung von Verwaltung und Infrastruktur zu richten. Das Regime, das in manchen Jahren 50 Prozent der staatlichen Ausgaben für öffentliche Bauvorhaben in den Straßenbau investierte,7 schuf so die Grundlage für das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen einer Nation, deren einzelne Regionen bis ins 20.

4

5

Rodríguez Gallad, Irene, Perfil de la economía venezolana durante el régimen gomecista, in: Pino Iturrleta et al., a.a.O., S. 76; Betancourt, a.a.O., S. 4 3 - 6 2 ; Maza Zavala, D.F., Venezuela, una economía dependiente, Caracas 1985, S. 162 ff. Rodríguez Gallad, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 87

6 7

Gil Fortoul, José, Sinfonía inacabada y otras variaciones, Caracas 1984, S. 174 Caraballo, a.a.O., S. 2 2

45

Jahrhundert hinein nur äußerst unzureichend miteinander verbunden gewesen waren. Dank der Trartsandinischen Straße, die 1926 eingeweiht wurde, dauerte die Fahrt von der Andenstadt Mérida nach Caracas nur noch 30 Stunden - eine Reise, die zuvor zwei Wochen in Anspruch genommen hatte: Nach drei Tagesreisen auf dem Maultier war man von Mérida nach Valera gelangt, von dort im Zug an den Maracaibo-See und mit dem Schaufelraddampfer nach Maracaibo gereist. Die zweite Etappe war die Schiffsreise nach Caracas, die meist auf der holländischen Antilleninsel Curaçao unterbrochen wurde.8 Begannen diese infrastrukturellen Neuerungen Venezuela allmählich ein zeitgemäßeres, moderneres Antlitz zu verleihen, so verhalf der Devisenzufluß aus dem Erdöl der städtischen Bourgeoisie zu einer wachsenden Prosperität, die es ihr erlaubte, ihren Lebensstil mit all den Accessoires des fortschrittlichen Zeitalters zu modernisieren, das sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ihrem Leitbild erhoben hatte. Zum wohl augenfälligsten Symbol des anbrechenden 20. Jahrhunderts wurden die luxuriösen Automobile, die sich durch die engen Straßen des alten Caracas zu zwängen begannen oder den Promenaden des Villenvororts El Paraíso den Glanz eines neuen Zeitalters verliehen. Während dank der neuen Verkehrsverbindungen die Ankunft der ersten Kraftwagen in den entlegensten Winkeln des Landes den „triumphalen Einzug von Zivilisation und Fortschritt" anzukündigen schien - „besungen von der heiseren Sirene des Automobils, des Königs der modernen Fortbewegung" 9 - , dienten die eleganten Fahrzeuge der hauptstädtischen Oberschicht vor allem Repräsentationszwecken. Nicht von der Tribüne, sondern von ihren Automobilen aus verfolgten manche der angesehensten Familien die Pferderennen in dem 1910 eingeweihten Hippodrom von EI Paraíso oder wohnten dort der Landung der ersten Flugzeuge bei, die nach Venezuela kamen und die Rennbahn für einige Stunden in ein Aerodrom verwandelten. 10 Seit den Tagen von Guzmán Blanco hatte die städtische Oberschicht, die sich bei diesen Gelegenheiten zur Schau stellte, ihr gesellschaftliches Prestige auf den engen Kontakt zum „zivilisierten" Ausland gegründet. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der zwanziger Jahre wurden jedoch die Bemühungen der gesellschaftlichen Elite, ihre provinzielle Vergangenheit abzustreifen und sich dem modernen, kosmopolitischen Lebensstil des 20. Jahrhunderts anzugleichen, von sichtbarem Erfolg gekrönt. Ein Zeitgenosse hat eine anschauliche Schilderung dieser Dekade hinterlassen, in der Venezuela sich einem bewegteren Lebensrhythmus anzupassen begann. „Ganze Familien reisen nach Europa, von wo die eleganten Vertreter des starken Geschlechts mit bois-de-rose-farbigen Anzügen und 8

Leal, a.a.O., Bd. II, S. 2 1 7 ; Bricerto-Iragorry, Mario, Los Riberas, Caracas/Madrid 1957, S. 53 ff.

9 10

Vgl. Caraballo, a.a.O., S. 5 2 Schael, Imagen y noticia, a.a.O., S. 68

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Filzhüten mit schmaler Krempe, eingehenden Kenntnissen des argentinischen Tango und pomadisierten Haaren zurückkehren. Die Zeitschrift Elite, die dem Gesellschaftsleben besondere Aufmerksamkeit schenkt, bezeichnet die jungen Damen, die ein Automobil lenken, als .Königinnen des Steuerrads'. (...) Das Gesellschaftsleben wird abwechslungsreicher. Für die junge Generation finden immer häufiger Tanzveranstaltungen statt. Das Orchester von Carlos Bonnet führt das Saxophon ein. (...) Die gute Gesellschaft von Caracas fährt in Automobilen mit offenem Verdeck in El Paraíso spazieren, besucht sonntags das Hippodrom, fährt über die Osterwoche in den Badeort Macuto und applaudiert den Filmen von Rodolfo Valentino im Rialto-Kino (...)." n

Diktator Gómez und seine Klientel Es war eben diese nach allen Neuheiten des europäischen Lebens begierige Elite, welche anläßlich nationaler Feiertage ihren Präsidenten Juan Vicente Gómez mit Triumphbögen empfing, die ihn als „Glorreichen Caudillo des Friedens und der Arbeit" priesen. Hinter der Fassade offizieller Sympathiekundgebungen erwies sich das Verhältnis zwischen der hauptstädtischen Oberschicht und dem aus dem fernen Táchira stammenden Caudillo jedoch keineswegs als unproblematisch. Während der Präsident, der „wie Agamemnon von weitem regierte", es vorzog, sich mehr als 100 Kilometer von Caracas entfernt in Maracay niederzulassen,12 und nur gelegentlich in der Hauptstadt in Erscheinung trat, gab es caraqueños, die sich damit brüsteten, nie ihren Fuß in jene Provinzstadt gesetzt zu haben, die Gómez in die inoffizielle Hauptstadt des Landes zu verwandeln suchte. 1 3 Wie im 19. Jahrhundert war das Verhältnis zwischen dem regionalen Caudillo und der hauptstädtischen Oberschicht von mehr oder weniger verborgenen Spannungen geprägt, und mit Mißtrauen begegnete diese auch der andinischen Gefolgschaft des Diktators, die, während Gómez selbst sich in Maracay auf Distanz hielt, in die Hauptstadt einzog, um dort den Platz im politischen und wirtschaftlichen Leben einzunehmen, der der Klientel eines siegreichen Caudillo gebührte. In seinen romanhaft gestalteten Memoiren „Allá en Caracas" illustriert Laureano Vallenilla Lanz, Sohn des bekannten Publizisten und positivistischen Soziologen, 11 12

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 69 Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 93

13

Lapeyre, Jean-Louis, Ein Land taucht auf. Venezuela und Gómez, sein letzter Caudillo, Berlin 1938, S. 106

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die abweisende Haltung, die die etablierte Oberschicht gegenüber den andinischen „Emporkömmlingen" an den Tag legte, die von der politischen Macht privilegiert in einflußreiche Positionen vorgerückt waren und nun nach gesellschaftlicher Anerkennung verlangten. Nichts als ein Arrivist ist aus der Perspektive der traditionsreichen Familie Vallenilla ein neuer Nachbar, der in die Hauptstadt gekommen ist, um dort einen politischen Posten zu übernehmen. Als der andinische General seinen Antrittsbesuch ankündigt, entspann sich im Familienkreis folgendes Gespräch: „Tante Anita, stets abgeneigt, den Freundeskreis zu erweitern, erklärte, während sie auf ihren Löffel mit heißer Suppe pustete: ,Ich werde mich darauf beschränken, ihren Besuch zu erwidern, aber sonst nichts!' Papa wandte ein, daß es ratsam sei, den Kontakt zu pflegen. ,Außerdem', fügte er hinzu, ,hat er großen Einfluß bei General Gómez und ist ein sehr vermögender Mann ...' Meine Tante machte eine Geste der Resignation und führte den Löffel an die Lippen." 14 Obwohl die Konvenienz es nahelegte, gegenüber den neuen Männern der Macht nicht allzu herablassend aufzutreten, schien deren „Ungeschliffenheit" doch Anlaß genug zu vielerlei Vorbehalten zu geben. Zwar erregten die neuen Nachbarn Bewunderung als Besitzer eines Automobils - eines selbst in dem Stadtteil, in dem so vornehme Familien wie die Vallenilla wohnten, um 1920 noch „ungewohnten Luxus". Auf ihre provinzielle Herkunft wies jedoch nicht nur ein unverkennbarer regionaler Akzent hin, der in den Ohren der vornehmen caraqueños einen schwerfälligen, unbeholfenen Klang besaß, sondern auch die befremdlichen Alltagsgepflogenheiten der Neuankömmlinge, die zum Frühstück pisca - eine typisch andinische Suppe - und gebratene Yukka zu sich nahmen. 1 5 Wenn aus der Perspektive der hauptstädtischen Oberschicht die andinische Klientel des Caudillo die typischen Eigenschaften von Neureichen an den Tag legte, die zwar ihre finanzielle Macht wirkungsvoll zur Schau zu stellen wußten, mit einem ländlich anmutenden Lebensstil aber stets ihre mangelnde Gesellschaftsfähigkeit verrieten, so galt der Präsident selbst vielen seiner Zeitgenossen geradezu als Inbegriff der kulturellen und intellektuellen Rückständigkeit, die den caudillismo von jeher gekennzeichnet hatte. In den Anekdoten, die man sich über die Ungeschicklichkeiten zuraunte, die Gómez in den eleganten Salons der Hauptstadt angeblich unterlaufen waren, oder in der immer wieder auftauchenden Legende, der Präsident sei „fast Analphabet" gewesen, 1 6 etablierte sich das Bild eines grobschlächtigen Diktators, dem seine Gegner außer einem unbegrenzten Machtwillen höchstens eine gehörige Portion Bauernschläue zuzuschreiben gewillt waren. Diese Sichtweise, die lange Zeit auch in der von emotionaler Befangenheit getragenen venezolanischen Geschichtsschrei14

Vallenilla Lanz, Laureano, Allá en Caracas, Caracas 1954, S. 3 3 - 3 4

15

Ebd., S. 3 5

16

Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 9

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bung Schule machte, setzte sich bis in jene unvorteilhaften Beschreibungen der äußeren Erscheinung von Gómez fort, die ihn als einen gedrungenen, schwerfälligen Mann mit kleinen Augen und „niedriger, fliehender Stirn" schilderten. 17 Nur so konnte der Machthaber aussehen, den seine Gegner dafür verantwortlich machten, daß Venezuelas Eintritt ins 20. Jahrhundert sich bis zu seinem Tode 1935 verzögerte. Aber abgesehen von der kulturellen Kluft, die den rustikalen Señor Presidente, der als 42jähriger zum ersten Mal nach Caracas gekommen war, scheinbar von den weltgewandten, kultivierten Hauptstädtern trennte, hatten diese durchaus handfeste Gründe, den Caudillo und seine Klientel „unzivilisierter" Gepflogenheiten zu bezichtigen. Während die Einkünfte aus dem Öl es dem Regime ermöglichten, eine politische und wirtschaftliche Stabilität herbeizuführen, die den Interessen der Oberschicht zweifelsohne entgegenkam, boten die Verhandlungen mit den ausländischen Erdölgesellschaften dem Diktator und seinen Anhängern gleichzeitig Gelegenheit zu äußerst einträglichen Privatgeschäften - und sie versäumten es nicht, ihre Position durch persönliche Bereicherung zu stärken. Die durch den gomecismo betriebene Zentralisierung der politischen Macht hatte sich unter dem Vorzeichen der Vettern- und Günstlingswirtschaft vollzogen, und als dem Staat zudem die Verwaltung und Verteilung der Einkünfte aus dem Erdöl zufielen, bewiesen Gómez und seine Getreuen, daß sie die Privilegien einer autoritären Herrschaft zu nutzen wußten. Auch innerhalb einer verwaltungstechnisch modernisierten Bürokratie hatte das Prinzip der Patronage, das den Caudillismus von jeher gekennzeichnet hatte, nichts an Gültigkeit eingebüßt und bestimmte die Verteilung der politischen Macht nach wie vor ebenso wie die Verteilung der wirtschaftlichen Vorteile, die nun in so beträchtlichem Maße aus dem Ölexport erwuchsen. Als besonders bedeutsam erwies sich unter diesen Umständen die Tatsache, daß für die Vergabe von Erdölkonzessionen an ausländische Gesellschaften ein Vermittler venezolanischer Nationalität gesetzlich vorgeschrieben war. Fast ausnahmslos sollten es Familienangehörige oder Günstlinge des Diktators sein, die mit der Weitergabe von Konzessionen zu bedeutenden Vermögen gelangten: so etwa sein Schwiegersohn Julio Méndez, sein Schwager General Francisco A. Colmenares Pacheco oder sein Arzt Adolfo Bueno, der - nachdem er den Präsidenten 1921 von einer bedrohlichen Harnstauung befreit hatte - mit einer außerordentlich rentablen Konzession belohnt wurde, während man seinen Bruder Tomás Bueno zum

17

Vgl. hierzu den Aufsatz v o n M a n u e l Caballero, El h o m b r e . G ó m e z : U n retrato e n e m i g o , in: P i n o Iturrieta et al., a.a.O., S. 14

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Minister berief. 18 Die Praktiken der persönlichen Bereicherung durch die Vergabe von Ölkonzessionen erreichten 1923 einen ersten Höhepunkt mit der Gründung der Compañía Venezolana de Petróleo, die von Strohmännern des Präsidenten geleitet wurde und der die Regierung selbst diejenigen Areale zuwies, in denen man Erdölvorkommen vermutete - die die Gesellschaft dann mit beträchtlichen Gewinnen an ausländische Konzessionäre übertrug.19 Gleichzeitig waren Angehörige der weitläufigen Gómez-Familie in wichtige politische Positionen vorgerrückt und besetzten 1925 die Gouverneursposten der Bundesstaaten Aragua, Lara, Nueva Esparta, Táchira und Zulia. 20 Nicht familiäre Beziehungen, aber die gemeinsame Herkunft aus dem Táchira kam General Félix Galavis 1929 bei der Ernennung zum Gouverneur des Bundesstaates Yaracuy zugute. Galavis arbeitete mit dem Präsidenten im Viehhandel zusammen - einem einträglichen Geschäft, das der Gómez-Clan praktisch zu seinem Monopol machte. 21 Die traditionellen gegenseitigen Verpflichtungen der Gevatternschaft verbanden den General mit dem aus dem Táchira stammenden Arzt Rafael González Rincones, Teilhaber der Compañía Venezolana de Petróleo und von 1931 bis 1935 Erziehungsminister, oder mit Antonio Pimentel, einem Mann von ursprünglich einfacher Herkunft, der seit der Jahrhundertwende Besitzer ausgedehnter Kaffeeplantagen im Bundesstaat Carabobo war und 1906 in einem kritischen Moment Gómez mit einem Darlehen ausgeholfen hatte. Pimentel fungierte zeitweilig als Finanzminister und als Sekretär des Präsidenten und blieb bis zum Tod des Diktators einer seiner engsten Freunde. 22 Venezuelas Eintritt in das Zeitalter des Fortschritts - der mit den wachsenden Einnahmen aus dem Öl eine noch nicht dagewesene Dynamik zu entfalten begann vollzog sich also im Rahmen der traditionellen Machtstrukturen des Caudillismus. Dabei kann es keineswegs nur als politisches Problem gewertet werden, daß auch im beginnenden 20. Jahrhundert die abstrakte Rechtsstaatlichkeit, die man seit der Unabhängigkeit mit unzähligen republikanischen Verfassungen zu etablieren versucht hatte, in der venezolanischen Realität nicht Fuß fassen wollte. Das Phänomen einer „mißlungenen" politischen Rationalisierung, die einen nur vordergründig modernisierten Machtapparat zum Werkzeug der Willkür eines traditionellen Herrschers machte, ist vielmehr in einem größeren Zusammenhang kultureller Prägungen zu sehen. Die Cliquenwirtschaft des gomecismo, in der „irrationale" 18

19

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 2 3 3 - 2 3 4 ; Rodríguez Gallad, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 82; Segnini, Yolanda (Hg.), Los hombres del Benemérito. Epistolario inédito, Caracas 1985, Bd. I, S. 181; Interview mit Elena Bueno de Vallenilla vom 10. 7. 1989 Rodríguez Gallad, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 8 2

20 21

Urbaneja, Diego Bautista, El sistema político gomecista, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 56 Segnini (Hg.), Los hombres de Benemérito, a.a.O., Bd. I, S. 325; Werz, a.a.O., S. 4 4

22

Velásquez, Ramón ]., Confidencias imaginarias de Juan Vicente Gómez, Caracas 1981, S. 449; Segnini (Hg.), Los hombres del Benémerito, a.a.O., Bd. I, S. 4 8 3

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Kriterien wie Blutsverwandschaft, Gevatternschaft oder die gemeinsame regionale Herkunft über den Zugang zur wirtschaftlichen und politischen Macht entschieden, zeigte, daß der Caudillismus als kulturelles System überlebt hatte und mit ihm ein überliefertes Wertesystem, das sich einer tiefgreifenden Modernisierung in vielerlei Hinsicht zu widersetzen schien. 23 „Papa und Felix Galavis waren sehr gute Freunde. (...) Sie waren Liebhaber des Hahnenkampfs, sie liebten es, gemeinsam zum Hahnenkampf zu gehen. (...) Vielleicht war es deshalb, daß Papa bei General Gómez auf die Ernennung von Galavis drängte", berichtet der Sohn jenes berüchtigten Eustoquio Gómez, der, nachdem er wegen der Ermordung des Gouverneurs von Caracas in einer Kneipe von Puente Hierro zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, während der Präsidentschaft seines Vetters als Gouverneur verschiedener Bundesstaaten politische Karriere machte. 24 Läßt sich kaum eine anschaulichere Illustration für die Willkür und die Rückschrittlichkeit des gomecismo denken als die Tatsache, daß womöglich die gemeinsame Begeisterung für den Hahnenkampf über die Besetzung eines Gouverneurspostens entschied, so ist diese Aussage zudem hinsichtlich des kulturellen Rahmens aufschlußreich, innerhalb dessen sich die gomecistas bewegten. Denn Eustoquio Gómez teilte seine Leidenschaft für die Kampfhähne nicht nur mit Antonio Pimentel, dem Gevatter des Diktators, oder mit den Söhnen des Staatsoberhaupts, Juan Vicente und Florencio Gómez, die mehr als dreihundert eigene Kampfhähne besaßen. Auch der Präsident selbst pflegte jeden Sonntagvormittag unfehlbar die Hahnenkampfarena aufzusuchen.25 Der Hahnenkampf kann geradezu als das klassische Vergnügen der Caudillos bezeichnet werden. Bereits José Antonio Páez - der große Befreiungskämpfer, der es dank seiner kriegerischen Verdienste zum ersten Präsidenten des unabhängigen Venezuela gebracht hatte - war für diese Leidenschaft bekannt gewesen. 26 Wie Florencio Gómez in einem Interview im Rückblick auf seine Jugend erzählt, hielten er und sein Bruder auch an einem anderen traditionellen Vergnügen fest, in dem sich schon Páez hervorgetan hatte: den toros coleados, der überlieferten venezolanischen Version des Rodeo. Die Söhne des Diktators, gewandte Reiter, die nicht selten mit dem Vater und den peones das Tagewerk von Viehzüchtern verrichteten, pflegten zu den Patronatsfesten die Dörfer in der Umgebung von Maracay aufzusuchen, um dort bei den toros coleados ihre Geschicklichkeit zu erproben. 27 Wie es den Wurzeln des Caudillo entsprach, der zuerst als berittener Krieger auf der

23 24

Reimann, a.a.O., S. 374 Otalvora, Edgar C., Eustoquio Gómez, Caracas 1985, S. 58; Segnini (Hg.), Los hombres del Benemérito, a.a.O., Bd. I, S. 417

25 26 27

Interview mit Florencio Gómez vom 7. 9. 1988 Leal, a.a.O., Bd. I, S. 3 6 9 Interview mit Florencio Gómez vom 29. 8. 1988

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historischen Bühne aufgetreten war, verband sich mit den Spielen, die er und seine Anhänger bevorzugten, ein männliches Selbstverständnis, das körperliche Kraft betonte und diese gewissermaßen als naturgegebenes Mittel betrachtete, um Ansehen und Autorität zu erringen. Als Indiz der Barbarei und der Rückschrittlichkeit des Caudillo und seiner Klientel stellten sich derartige Gepflogenheiten hingegen aus der Sicht „zivilisierterer" Zeitgenossen dar. Für die hauptstädtische Oberschicht war die dicht neben der eleganten Pferderennbahn gelegene Hahnenkampfarena von Caracas eng mit der Person des Diktators und seinem „Hofstaat" verbunden und nicht wenige betrachteten sie als einen Ort, den ein gebildeter Städter nur aus politischer Zweckmäßigkeit aufsuchen mochte. 28 In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, als die weltoffenen Hauptstädter schon moderne, Wettbewerbs- und leistungsorientierte Sportarten wie Tennis oder Baseball betrieben, mußte sich der Hahnenkampf - dessen Tradition auf die Tage der spanischen Eroberung zurückging - als ein Bollwerk jener primitiven kreolischen Vergangenheit darstellen, mit der die europäisierten städtischen Bourgeoisien endgültig zu brechen wünschten. 29 Wirklich schienen die Sportarten, welche die städtische Elite bevorzugte, auf größere Fortschrittlichkeit hinzuweisen, auf größere Bereitschaft, sich der Rationalität eines neuen Zeitalters anzupassen. Die Tennis- oder Baseballspieler, die sich neben den eleganten Villen von El Paraíso vergnügten, unterwarfen sich denselben internationalen, systematischen und institutionalisierten Spielregeln wie die Sportler in New York oder London und standen damit in deutlichem Gegensatz zu den überlieferten Spielen, die auf ungeschriebenen, lokalen Gewohnheitsregeln beruhen. 3 0 Angesichts der Vorliebe, die im Unterschied dazu viele gomecistas für den Hahnenkampf zeigten, ist man versucht, darauf zu schließen, daß diese sich traditionalen Verhaltensmustern verbunden fühlten, die sich modernen Forderungen nach Abstraktion widersetzten. Unregelmäßige, gewachsene Normen, die sich jeder übergreifenden Formalisierung entzogen, kennzeichneten offenbar nach wie vor das kulturelle Wertesystem der gomecistas, die sich in der Tat auch in ihrem politischen Handeln keineswegs gewillt zeigten, sich den unpersönlichen, abstrakten Normen der Rechtsstaatlichkeit zu unterwerfen, sondern das Gewohnheitsrecht zum obersten Gebot erhoben. Vor diesem Hintergrund gewinnt die immer wieder erhobene Behauptung an Interesse, Gómez habe das Land regiert, als ob es seine Hacienda sei.31 Angesichts

28

Interview mit Alfredo Boulton vom 16. 8. 1988

29

Páez, Omar Alberto, La pelea de gallos en Venezuela. Léxico, historia y literatura, Caracas 1984, S. 9 1 - 9 2

30

Eichberg, Henning, Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 1978, S. 93 Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 9 2

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der Tatsache, daß der Diktator Soldaten auf seinen privaten Ländereien arbeiten ließ oder die Studenten, die sich 1928 gegen seine Herrschaft erhoben hatten, zum Straßenbau heranzog, mag sich tatsächlich der Gedanke aufdrängen, daß das Regime des gomecismo die unmittelbaren, durch persönliche Bindungen bestimmten Machtstrukturen der Hacienda - auf der der Wille des Patriarchen unumstößliches Gesetz ist - auf eine ganze Gesellschaft zu übertragen suchte. Wie es dem Selbstverständnis der traditionellen Großgrundbesitzer entsprach, übernahm General Gómez auch als Staatsführer die Rolle eines Patriarchen, der mit Selbstverständlichkeit von seiner Autorität Gebrauch machte und so gelegentlich, wie es einem strengen Vater zusteht, einen ungehorsamen Sohn bestrafte. Zur Rolle des Paterfamilias gehört es dabei ebenfalls, in ständigem und unmittelbarem Kontakt mit allen Mitgliedern der Familie zu stehen, deren Oberhaupt er ist. Indem der Präsident, wie es auf den Viehzuchtfarmen im Landesinneren üblich war, mit seinen Söhnen oft seine peones auf ihren Inspektionsritten begleitete und deren harte Arbeit und spärliches Essen teilte, festigte er ein patriarchalisches „Image", das seinem Regierungsstil entsprach. 32 Auch jene „volkstümlichen" Feste, zu denen Gómez regelmäßig lud und bei denen gemäß kreolischer Tradition Fleisch auf dem offenen Feuer gebraten wurde, gaben dem Präsidenten den Anstrich eines Familienoberhaupts, das die Seinen zur gemeinsamen Mahlzeit um sich versammelt. Sein Sohn Florencio erzählt, wie bei einem ländlichen Mittagessen, zu dem der General mehr als 100 Gäste auf eine seiner Haciendas in San Juan de los Morros geladen hatte, eine Gruppe kreolischer Musiker mit Harfe, Kürbisrasseln und cuatro-Guñane aufspielte und wie sein Vater „sich mitreißen ließ" und den cuatro in die Hand nahm, um einige andinische Lieder zu spielen.33 Die Leutseligkeit, die der sonst stets auf eine würdevolle Haltung bedachte Gómez bei solchen Gelegenheiten an den Tag legte, entsprach ganz der Tradition des Caudillismus und tat der Autorität des Señor Presidente durchaus keinen Abbruch. Für seine „Jovialität und Freude am Feiern" war schon der erste CaudilloPräsident José Antonio Páez bekannt gewesen, der sich durch den persönlichen Kontakt der Treue seiner Anhänger zu versichern wußte und „oft, wenn er auf seinen Haciendas fern von Caracas war, große Essen im Stil der Ilaneros gab." 3 4 Die rustikalen Spießbratenfeste der Ilaneros, der berittenen Viehzüchter der Tiefebenen des Landesinneren, waren überall in Venezuela gebräuchlich geworden, und es war in diesem Ambiente von patriarchalischer Gastlichkeit und informellem, persönlichem Umgang, in dem noch im 20. Jahrhundert die Klientel des Caudillo 32

Interview mit Fiorendo Gómez vom 29. 8. 1988

33 34

Interview vom 7. 9. 1988 Briccflo Valero, Americo et al., José Antonio Pâez visto por seis historiadores, Caracas 1973, S. 44, 112

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geschmiedet und gefestigt wurde - obwohl die Umstände sich geändert hatten und ein ausländischer Gast von General Gómez sich angesichts der eleganten Kleidung der anwesenden Damen fragte, wie sie es „mit ihren lackierten Nägeln wohl anstellen mochten, das am Spieß gebratene Fleisch ohne Messer zu essen." 35 Aber damit erschöpften sich noch nicht die Parallelen zwischen zwei Caudillos, die ein ganzes Jahrhundert venezolanischer Geschichte trennte. Über Páez, den ruhmreichen „Zentauren des Llano" hatte der Schriftsteller und Staatsmann Gil Fortoul in einer historischen Arbeit gesagt: „Er besaß nicht genügend Bildung, um den raffinierten, durch die Kunst verschönten Luxus genießen zu können: In seinem Haus gab es kein prächtiges Mobiliar, keine auserlesene Bibliothek, Bilder oder kostbaren Teppiche, und bei Tisch versammelte man sich zu einer frugalen Mahlzeit." 3 6 Wenn José Gil Fortoul, einer der hervorragendsten Mitarbeiter des Gómez-Regimes,37 den asketischen Lebensstil von Páez ohne Umschweife auf dessen mangelnde Bildung zurückführte, so muß offenbleiben, wie er in dieser Hinsicht von Gómez dachte, von dem bekannt war, daß er in seinem Privatbereich jeden Prachtaufwand ablehnte und die Einrichtung seiner persönlichen Räume auf das Notwendigste beschränkte. 3 8 Aus der Sicht einer städtischen Oberschicht, die großen Wert auf Luxus und Komfort legte, konnte der einfache Lebensstil des Caudillo jedoch zweifelsohne zu einem weiteren Indiz seiner mangelnden Bildung und seiner Rückschrittlichkeit werden, die sich der zivilisierenden Kraft eines am europäischen Vorbild orientierten Kulturideals widersetzte. Das grundsätzlich konservative und in sich abgeschlossene kulturelle System des gomecismo verschloß sich jedoch ganz systematisch dem Eindringen „zersetzender" ausländischer Elemente. Trotz der ausgesprochenen Offenheit, die General Gómez gegenüber den immer massiver eindringenden ausländischen Investitionen an den Tag legte, bewies er in seinen alltäglichen Gepflogenheiten eine deutliche Abneigung gegen alles Fremdländische. Während die Angehörigen der hauptstädtischen Elite regelmäßig monatelange Reisen nach Europa unternahmen, erlaubte Gómez nicht einmal, daß sein Sohn Florencio in die Vereinigten Staaten reiste, um sich einer Operation zu unterziehen, sondern ließ den Spezialisten nach Venezuela holen. 39 Das einzige europäische Land, dem Gómez Bewunderung zollte, war bezeichnenderweise das Deutsche Kaiserreich, und trotz des Drängens der Alliierten sorgte er

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Lapeyre, a.a.O., S. 2 0 2

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Bricefio Valero, a.a.O., S. 257 Im Auftrag von General Gómez hatte GI1 Fortoul 1913 sogar für kurze Zeit die Präsidentschaft übernommen. Vgl. Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 2 9 6 Interview mit Florencio Gómez vom 7. 9. 1988 Ebd.

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während des Ersten Weltkriegs dafür, daß Venezuela neutral blieb. 40 Zu dieser Deutschfreundlichkeit trug sicherlich der unmittelbare Kontakt bei, den Gómez im Táchira mit den in der Andenregion ansässigen deutschen Kaufleuten gepflegt hatte, die sich wegen ihrer Redlichkeit und Zuverläßigkeit eines guten Rufes erfreuten. Aber der Präsident war auch ein erklärter Bewunderer des deutschen Kaisers. 41 Im Gegensatz zu den bedrohlichen, destabilisierenden Kräften, die von der kulturellen Heterogenität Frankreichs oder von dem „gleichmacherischen" Rationalismus der nordamerikanischen Demokratie ausgingen, entsprach das patriarchalische Kaiserreich mit seiner starren gesellschaftlichen Ordnung eher dem Konservativismus eines Caudillo, der auf die Aufrechterhaltung althergebrachter Autoritätsverhältnisse bedacht war. Von störenden Einflüssen abgeschirmt, blieb so die Geschlossenheit eines Handlungsraums gewahrt, in dem die alten Gesetze von Gefolgschaft und persönlicher Treue ungebrochene Gültigkeit besaßen und in dessen Mittelpunkt eine alles beherrschende Führerfigur stand. Man möchte angesichts eines so patriarchalischen Machtverständnisses auch der Vorliebe, die General Gómez bekanntermaßen für Bäume hegte, besondere Aussagekraft zusprechen. Mit der Inschrift „Friede, Vaterland und Arbeit" ließ der Präsident das Gitter schmücken, mit dem er den Samán de Güere umgab, jenen berühmten Baumriesen in der Nähe von Maracay, unter dem nach der Legende schon der Indianerhäuptling Guaicaipuro Versammlungen abgehalten hatte, um die Verteidigung gegen die spanischen Eroberer zu organisieren, und in dessen Schatten 1813 der große Bolívar mit seinem Heer gerastet hatte. 4 2 Von Gómez, über dessen erklärte Liebe zu den Bäumen zahlreiche Anekdoten überliefert werden, erzählt man außerdem, daß er sich in Macuto, dem Badeort der eleganten Gesellschaft von Caracas, mit seinem Gefolge stets unter den gleichen Strandtraubenbaum der Uferpromenade setzte, um von dort dem geselligen Treiben der Badegäste zu „präsidieren". 43 Inmitten einer sich wandelnden Welt schien der Caudillo seine Autorität nach wie vor vom angestammten Platz der Vorväter auszuüben, und der Baum, unter dem er saß, wurde nicht nur zum Symbol eines ebenso beschützenden wie autoritären Paternalismus, sondern auch zum Ausdruck der Widerstandskraft der Tradition gegenüber den zersetzenden Einflüssen der Moderne. „Laßt uns die Erde bearbeiten und unsere Häuser auf dem Land bauen, wo die Luft rein ist und das Gehirn unserer Kinder stärkt, laßt uns unsere Söhne zu einer 40

In Anerkennung dieser Treue hatte Reichspräsident Hindenburg 1929 General Gómez das Schwert geschickt, mit dem er 1914 die siegreiche Schlacht von Tannenberg angeführt hatte. Vgl. Siso, Carlos, Castro y Gómez. Importancia de la hegemonía andina. Notas biográficas y documentales para la verdad histórica, Caracas 1985, Bd. I, S. 46, 3 3 9 - 3 4 5

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Lavin, J o h n , A Halo for Gómez, New York 1954, S. 2 2 6 - 2 2 9

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Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 81; Bricefio-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 2 3 8

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Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 68

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Arbeit erziehen, die sie gesund und stark für den Existenzkampf macht, und laßt uns nie vergessen, daß wer sät, erntet, wer arbeitet, lebt, und daß wer mit Toleranz und Liebe an den Nächsten denkt, über sich selbst hinauswächst und zu einem dicht belaubten Baum wird, der seinen Schatten den heutigen und den zukünftigen Generationen spendet. (...) Die Verehrung des Baumes ist für mich immer ein göttliches Gebot gewesen. (...) Laßt uns (...) auch in Zukunft wie der Saman de Güere mit der Erde verwurzelt bleiben, damit sie, die fruchtbar und großzügig ist, unserem Volk das Leben gibt, das man ihr abverlangt, wenn man sie bestellt. Laßt sie uns deshalb lieben wie unsere eigene Mutter." 44 In dieser bildhaften Sprache faßte 1927 eine Rede des Präsidenten die „Ideologie" eines Regimes zusammen, das eben jenes Landleben, das den europäisierten caraqueños als Inbegriff einer primitiven, ja barbarischen Vergangenheit galt, zum Bollwerk gegen die entkräftende Wirkung einer immer undurchschaubarer werdenden städtischen Kultur erhob. Der grundlegend konservative gomecismo, der die Zukunft Venezuelas in der Bewahrung des Status quo sah und auf die stabilisierenden Kräfte einer paternalistischen Autorität setzte, fand die traditionellen Werte, auf denen seine Herrschaft beruhte, mit großer Folgerichtigkeit nur noch in der „Unverdorbenheit" des ländlichen Venezuelas. Der rustikale Lebensstil, den Gómez und seine Freunde pflegten, diente somit der Aufrechterhaltung der kulturellen Grundlagen des caudillismo, die im Strudel des zivilisatorischen Fortschritts unterzugehen drohten, und verlieh dem Diktator jene „tellurische" Kraft,45 die ihm seine Biographen immer wieder zugeschrieben haben und die es ihm aus der Sicht seiner Kritiker ermöglichte, sich einer politischen Modernisierung Venezuelas bis zu seinem Todesjahr 1935 zu widersetzen.

Die Krise des Großgrundbesitzes: Dandies und Lebemänner Die Macht eines Mannes, der, „wenn er aufsteht, es mit solcher Entschlossenheit tut, daß die Absätze seiner Militärstiefel nicht nur schwer, sondern geradezu in die Erde eingelassen wirken", gründete sich nicht nur im übertragenen Sinne auf 44 45

Gaceta Oficial 26. 7. 1927 „Juan Vicente Gómez - Ein tellurisches Phänomen" lautet der Titel des im Verlauf dieser Arbeit bereits mehrmals zitierten Buches des Peruaners José Pare)a y Paz Soldán, der während eines langjährigen Venezuelaaufenthalts als Botschaftsangehöriger Gelegenheit gehabt hatte, den gomecismo aus der Nähe zu betrachten.

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seine Erdverbundenheit. 46 Von einem geradezu unersättlichen „Landhunger" 47 erfüllt, wußten die gomecistas ihre Macht ganz konkret auch durch eine unaufhaltsame Konzentration des Landbesitzes in den Händen des Diktators und seiner Anhänger zu festigen. Mit fragwürdigen Methoden bemächtigten sie sich nicht nur brachliegenden Landes oder eigneten sich Ländereien an, die zuvor von kleinen Bauern ohne definierte Eigentumsrechte bearbeitet worden waren. 48 Selbst die Großgrundbesitzer waren vor Übergriffen nicht sicher. Weil er sich geweigert habe, dem Diktator seine berühmte Kakaoplantage Aroa an der Küste von Choroni zu verkaufen, so heißt es, sei ihr Besitzer, General Benicio Sánchez, des Landes verwiesen worden. 49 Andere Hacendados gerieten in finanzielle Schwierigkeiten und sahen sich zum Verkauf ihrer Ländereien gezwungen, weil sie sich auf die eine oder andere Weise der Regierung widersetzt hatten und lange Jahre im Exil oder im Gefängnis verbringen mußten. Noch galt das alte Gesetz, daß wer das Land sein eigen nannte, auch die Macht besaß, und wenn der gomecismo eine Zentralisierung der politischen Herrschaft anstrebte, mußte vor allem dem Einfluß jener regionalen Großgrundbesitzer die Grundlage entzogen werden, die sich stets in umstürzlerische Caudillos verwandeln konnten. Nachdem Gómez gegenüber diesen potentiellen Rivalen in seinen ersten Regierungsjahren kluge Zurückhaltung geübt und sie - um ihnen „eine Illusion von Macht zu geben" - in eine Art Beratungskommission berufen hatte, wurde der sogenannte „Regierungsrat" schon 1913 aufgelöst. 50 Unter den politischen Gefangenen der folgenden Jahre befanden sich einige der hervorragendsten regionalen Caudillos. Mit 75 Jahren starb General Juan Pablo Penaloza 1933 als Gefangener in der Festung von Puerto Cabello. 51 General Zoilo Vidal, der während der ersten Jahre des gomecismo Präsident des Bundesstaates Sucre gewesen war, wurde schließlich in ein Irrenhaus eingewiesen, nachdem er Jahre in der Rotunda, dem berüchtigten politischen Gefängnis von Caracas verbracht hatte. 52 Die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Opposition, aber auch die „Monopolisierung" des Großgrundbesitzes in den Händen einer Machtklientel trugen somit zu einer Schwächung der Position der traditionellen Großgrundbesitzer bei, die in diesen Jahrzehnten politisch zunehmend an den Rand gedrängt wurden. Die Lage der Hacendados war in Wirklichkeit jedoch seit langem äußerst kritisch gewesen. Auf der Suche nach Erklärungen für den scheinbar endgültigen

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Nemesio Garda, in: Leal, a.a.O., Bd. I, S. 4 2 6

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Siso, Castro y Gómez, a.a.O., S. 3 8 2

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Rodríguez, Luis Cipriano, Gómez y el agro, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 95 Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 77

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Urbaneja, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 5 3 - 5 4 Velásquez, Confidencias imaginarias de Juan Vicente Gómez, a.a.O., S. 4 9 8

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Sanoja Hernández, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 141

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Niedergang des Agrarsektors, der sich in den dreißiger Jahren beobachten läßt, haben die Historiker lange Zeit in erster Linie die expandierende Ölindustrie für diese Entwicklung verantwortlich gemacht, die durch eine Stärkung der einheimischen Währung die Importe verbilligte und Landarbeiter in die Erdölcamps abzog. In der jüngeren Forschung wurde jedoch immer entschiedener darauf hingewiesen, daß sich der Agrarsektor, lange bevor das Öl die venezolanische Wirtschaft zu vereinnahmen begann, in einer tiefen Strukturkrise befand und daß der Latifundismus bereits im 19. Jahrhundert seine Unfähigkeit bewiesen hatte, die notwendige Modernisierung und Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion herbeizuführen. 53 Vor allem der Lebensstil der Hacendados ist dabei kritisch beleuchtet worden, und immer wieder wurde die mangelnde Leistungsfähigkeit der venezolanischen Landwirtschaft auf das Phänomen des Absentismus zurückgeführt, auf die Tatsache, daß viele der wohlhabendsten lateinamerikanischen Großgrundbesitzer sich selten oder nie auf ihren Ländereien aufhielten. Das feudale Stadtleben, das die Nachkommen der alten Großgrundbesitzerfamilien führten, habe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Typus des müßiggängerischen caballero hervorgebracht, der seiner Abstammung ein verschwenderisches Leben von kosmopolitischer Eleganz schuldig zu sein meint. Der dandyhafte Hacendado, der von Caracas oder Europa aus in vornehmer Tatenlosigkeit zusieht, wie seine Ländereien unter der Last von Hypotheken auseinanderbrechen, ist in der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung und Belletristik zum Stereotyp geworden. 54 Zu den zahlreichen literarischen Verarbeitungen dieses Themas gehörte Rómulo Gallegos Roman La Trepadora von 1925, in dem die fiktive Familie del Casal für die „dekadenten" Nachfahren jener alten Großgrundbesitzerfamilien stand, für die ihre Hacienda nicht mehr als ein Statussymbol und ein angenehmer Ort der Erholung war. Die Schwestern del Casal, „die ihre Jugendjahre in eleganten Salons oder auf jährlichen Reisen nach Europa verbrachten", pflegten die Weihnachtstage auf ihrer Hacienda zu verbringen. „Meist luden sie einige Freundinnen ein, um den Aufenthalt abwechslungsreicher zu machen sowie um ihre Eitelkeit zu befriedigen und dem guten Ton zu entsprechen, denn jeder, der das Landgut besucht hatte, schwärmte von den köstlichen Tagen, die man dank der Bequemlichkeit des Hauses und der auserlesenen Gastfreundschaft seiner Besitzer, aber auch dank der landschaftlichen Reize der Umgebung dort verbrachte: herrliche Panoramen, sprudelnde Gewässer, frische und reine Luft, fröhliche Exkursionen." 55 Jaimito, der männliche Sprößling der „illustren" Familie del Casal, legt jene Aversion gegen die derbe Landarbeit an den Tag, die für den absentistischen Großgrundbesitzer 53

Rodríguez, Luis Cipriano, Gómez. Agricultura, petróleo y decadencia, Caracas 1983

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Romero, José Luis, a.a.O., S. 2 6 2

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Gallegos, Rómulo, La trepadora, Caracas 1982, S. 41

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angeblich typisch ist. „(...) die Ursache seiner Verachtung für die aktive Landwirtschaft war eine jener Kleinigkeiten, die große Folgen haben können: Es grauste ihm vor dem Landleben. Penibel auf ein standesgemäßes Auftreten und auf korrekte Kleidung bedacht (...) und Anhänger eines bequemen und weltmännischen Lebens, flößte ihm die Vorstellung, sich in einen Bauern zu verwandeln, eine unüberwindliche Abscheu ein." 5 6 Der stets von aufklärerischen Absichten beseelte Rómulo Gallegos, dessen politisches Engagement ihn 1947 zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Venezuelas machen sollte, warf sich in derartigen Textpassagen zum Ankläger der eleganten Indolenz all jener Hacendados auf, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung entzogen, die der Besitz von Agrarland beinhaltet. 57 Daß sich das literarisch stilisierte Bild einer Großgrundbesitzerschicht, die ein vornehmes Desinteresse an der praktischen Nutzung ihrer Ländereien an den Tag legte, durchaus an realen Vorbildern orientierte, zeigt ein Auszug aus dem Tagebuch des Schriftstellers Rufino Blanco Fombona, dem Nachfahren einer glanzvollen venezolanischen Großgrundbesitzerfamilie. Der als Lebemann und leidenschaftlicher Spieler bekannte Don Rufino berichtet, wie er sich - der allabendlichen Bakkaratspiele in den Clubs von Caracas überdrüssig - auf die Ländereien seiner Familie zurückzieht. Das aus der Perspektive des zivilisationsmüden Städters anfänglich verklärte „bukolische" Landleben langweilt ihn jedoch bereits nach wenigen Wochen, ja der bäurische „Stumpfsinn" der Landbevölkerung wird ihm bald so unerträglich, daß er einer Umgebung entflieht, in der man ihm eine Sprache zu sprechen scheint, die nicht die seine ist. Blanco Fombona, der sich entschieden mehr für Literatur und Politik als für die Landwirtschaft interessierte, wurde 1910 nach einer Gefängnishaft als Regierungsgegner des Landes verwiesen und lebte bis zum Ende der Diktatur 1936 als Schriftsteller in Europa.58 Im Gegensatz zu den an „bäurischen" kreolischen Traditionen festhaltenden gomecistas pflegten viele der alteingesessenen Großgrundbesitzer offenbar einen „kultivierten" städtischen Lebensstil, der sich an europäischen Vorbildern orientierte. Und obwohl der Besitz großer Ländereien nach wie vor als die wichtigste Grundlage für seigneurale Ansprüche galt, war es die Eleganz eines müßiggängerischen Stadtlebens, die den aristokratischen Ruf festigte, auf den diese Gruppe ihr gesellschaftliches Prestige gründete. Eben vor diesem Hintergrund ist der Rückstand des venezolanischen Agrarsektors immer wieder auf die Untätigkeit von Großgrundbesitzern zurückgeführt worden, die extensiv genutzte Ländereien ungebildeten Verwaltern überließen und sich fern ihrer Haciendas einem feudalen Hang zu Luxus und Verschwendung hingaben, statt die für eine wirkungsvolle 56

Ebd., S. 8 2

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Romero, José Luis, a.a.O., S. 2 6 2

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Rama, a.a.O., S. 126

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Modernisierung der Landwirtschaft unerläßlichen Investitionen vorzunehmen. Die „hedonistische" Neigung der Hacendados, das heißt das Fehlen eines modernen Arbeits- und Leistungsethos und die unproduktive Verschwendung von Vermögen, so haben Kritiker der venezolanischen Entwicklung immer wieder erklärt, habe wesentlich dazu beigetragen, daß Venezuela der „Sprung in den Kapitalismus" mißlungen sei.59 Häufig ist in diesem Zusammenhang behauptet worden, der mangelnde unternehmerische Ehrgeiz der Lateinamerikaner sei auf jenen Geist des Feudalismus zurückzuführen, der - während er in Europa bereits im Schwinden begriffen war von den spanischen Eroberern in den neuen Kontinent hinübergerettet wurde. 60 Wenn als eines der Symptome dieses Übels die Verachtung gilt, die die spanischen Kolonisatoren angeblich für die Handarbeit hegten, so scheinen die Beobachtungen, die der französische Reisende Depons 1801 in Venezuela machte, zu bestätigen, daß die venezolanischen Hacendados es seit langem gewohnt waren, der derben Landarbeit entehrenden Charakter zuzusprechen. „Gewöhnlich leben sie in den Städten, wo jeder Landbesitzer sein Haus und seine Familie hat. Die Hacendados sind zufrieden, wenn sie gelegentlich ihre Ländereien aufsuchen, und meinen, damit genug getan zu haben. (...) Die Arbeit, die in ihren Augen Angelegenheit der Plebejer ist, könnte Anlaß geben, den Adel zu verkennen, den sie von ihren Großvätern geerbt haben. Sie sprechen nur dem Mann Würde zu, der sein Leben in der Hängematte ausgestreckt verbringt oder mit dem Schwert am Gürtel über die Straßen stolziert." 61 Die prahlerische Selbstdarstellung des spanischen Edelmannes, dem die tatkräftige Sorge um seine praktischen Existenzgrundlagen als würdelos gilt, hatte schon in den literarischen Werken des spanischen Siglo de Oro - wie in dem berühmten Lazarillo de Tormes von 1554 - Anlaß zu beißendem Spott gegeben. Die venezolanischen Großgrundbesitzer schienen diese Tradition fortzusetzen, obwohl im anbrechenden 20. Jahrhundert die aristokratische Verachtung der Arbeit in dem dandyhaften Lebensstil einer europäisierten städtischen Oberschicht neue, zeitgemäßere Ausdrucksformen gefunden hatte. In mehr als einer Hinsicht entsprach das Image des Dandy den Bedürfnissen einer Gruppe, deren wirtschaftliche Lage immer prekärer wurde und die sich angesichts des wachsenden gesellschaftlichen Glanzes, den die politischen „Emporkömmlinge" oder die immer wohlhabenderen Kaufleute zu entfalten vermochten, gezwungen sah, neue Formen „aristokrati59

Vgl. Suzzarini Baloa, Manuel A., Rómulo Betancourt. Proyecto de modernización, Caracas 1981, S. 28; Cartay, Rafael, Historia económica de Venezuela 1 8 3 0 - 1 9 0 0 , Valencia/Venezuela 1988, S. 83 ff.

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Eine kritische Untersuchung dieser These findet sich bei Pietschmann, Horst, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster/Westfalen 1980, S. 25 ff. Depons, a.a.O., S. 142

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scher" Exklusivität zu entwickeln. Schon Baudelaire hatte behauptet, daß das Dandytum in dem Augenblick in Erscheinung trete, in dem eine zunehmende gesellschaftliche Nivellierung die Stellung der Aristokratie bedrohe. „Im Trubel solcher Zeitläufte ist es möglich, daß manche (...) den Plan fassen, eine Art neuer Aristokratie zu begründen, die um so schwieriger zerstörbar sei, als sie sich auf die kostbarsten, unaustilgbarsten Eigenschaften gründen soll, auf die Himmelsgaben, die Arbeit und Geld nicht zu verleihen vermögen. (...) der Dandy strebt nicht nach dem Gelde als etwas an sich wesentlichem; ein unbeschränkter Kredit könnte ihm genügen; er überläßt diese grobe Eigenschaft den gewöhnlich gesinnten Sterblichen." 62 Es war, als sei die europäische Mode des Dandysmus wie dafür geschaffen, in Venezuela von einer gebildeten Elite übernommen zu werden, die ihr gesellschaftliches Prestige auf den eleganten Müßiggang und die vornehme Erhabenheit über niedere materielle Notwendigkeiten zu gründen suchte. Will man literarischen Darstellungen Glauben schenken, gab es schon bald auch in Caracas Männer, die mit einem eleganten Gesellschaftsleben und schöngeistigen kulturellen Interessen einer über Generationen überlieferten Noblesse neue Geltung verliehen und so, wie ein Roman der Jahrhundertwende es poetisch formulierte, „auf dem Boden einer alten, edlen Rasse (...) neue Schößlinge von auserlesenem Grün" zum Keimen brachten. 6 3 Im anbrechenden 20. Jahrhundert erfuhr der Kult der vornehmen Geschmacksverfeinerung seinen Höhepunkt, und die Literatur des modernismo wurde zum künstlerischen Ausdruck des übersteigerten Ästhetizismus jener Jahre. Im lateinamerikanischen Raum sind besonders zwei modernistische Schriftsteller bekannt geworden, die venezolanischen Großgrundbesitzerfamilien entstammten: der bereits mehrmals erwähnte Rufino Blanco Fombona und Manuel Díaz Rodríguez, dessen melodramatischem Roman über den vornehmen Hacendadosohn, der sich auf der Schiffsreise zurück von Europa aus Liebes- und Weltschmerz ins Meer stürzt, das obige Zitat entnommen wurde. Sprachrohr des literarischen Modernismus war die vom europäischen Jugendstil beeinflußte Zeitschrift El Cojo Ilustrado, die nicht nur Texte von Blanco Fombona oder Díaz Rodríguez veröffentlichte, sondern auch Gedichte des Nicaraguaners Rubén Darío, der als der Begründer des modernismo galt, oder Auszüge aus den Schriften des Uruguayers José Enrique Rodó. Von Rodos Essay Ariel, in dem er dem immer bedrohlicheren Materialismus, der in den Augen der Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten seine Verkörperung fand, eine auf einen „idealistisch-

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Zit. nach Schickedanz, Hans-Joachim (Hg.), Der Dandy. Texte und Bilder aus dem 19. Jahrhundert, Dortmund 1980, S. 1 0 6 - 1 0 7

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Diaz Rodriguez, Manuel, Sangre patricia, Caracas 1964, S. 41

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aristokratischen Humanismus" gegründete Latinität gegenüberstellt, wird später ausführlicher die Rede sein. 64 Angesichts der Tatsache, daß diese um eine überlieferte Exklusivität besorgte Gruppe zunehmend ihre kulturelle Distinktion ins Feld führte, lohnt es sich, einen Augenblick bei dem Bildungsbegriff zu verweilen, den sie dabei zu ihrem Leitbild erhob. Denn mehr als auf eine praktische, leistungsorientierte Bildung, die jedermann erwerben konnte, legte man das Schwergewicht auf eine Form von Kultur, die einem gewissermaßen in die Wiege gelegt wird und die der Historiker und Literat Gil Fortoul einem rustikalen Emporkömmling wie etwa General Päez absprechen mußte: die Fähigkeit nämlich, „den raffinierten, durch die Kunst verschönten Luxus genießen zu können." 65 Gerade Gil Fortoul - Sohn eines Landbesitzers aus der Gegend von El Tocuyo, den Zeitgenossen als „versiert im europäischen Leben" und als eine „merkwürdige Mischung aus Dandy, Sportsmann und Literat" beschrieben - verkörperte im Gegensatz dazu jene „innere" Bildung, die nur über Generationen hinweg zu erwerben ist und sich in einer fortschreitenden Geschmacksverfeinerung offenbart. 66 Indem sie - um es in den Worten des französischen Soziologen Bourdieu auszudrücken - einer „Sachkenntnis" bedarf, „wie sie nur durch den langandauernden Umgang mit kultivierten alten Menschen und Dingen zu erwerben ist", stellte die Fähigkeit, Luxus und Kunst zu genießen, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Alteingesessener unter Beweis, die sich zum Verwalter exklusiver kultureller Überlieferungen machte. 67 Es war nicht zuletzt in Anbetracht des allzu bescheidenen Glanzes einer kolonialen Vergangenheit, die nach der Unabhängigkeit als ein zu überwindendes Zeitalter des Rückschritts betrachtet wurde, daß nun all jene, die an eine vornehme Kulturtradition anzuknüpfen wünschten, den Blick nach Europa wandten. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa dominierende humanistische Bildung mit ihrem an der Tradition der Antike orientierten Ideal von ethisch und ästhetisch veredelter Menschlichkeit, entsprach ganz und gar den Bedürfnissen der gebildeten, lateinamerikanischen Eliten, die während ausgedehnter Europaaufenthalte ihre Verbindungen zu der „unvergänglichen" abendländischen Kultur zu festigen suchten. Insbesondere Paris, das die Venezolaner als Ciudad Luz, als „Stadt des Lichts" rühmten, wurde zur Verkörperung all jener erhabenen Werte, deren Kenntnis und Genuß den kultivierten Mann von Welt auswiesen. Aber wenn der Hunger nach europäischer Kultur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die kreolische Ari64

Gewecke, a.a.O., S. 176

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Brlceflo Valero, a.a.O., S. 2 5 7 Polanco Alcantara, Tomas, Gil Fortoul: Una luz en la sombra, Caracas 1983, S. 19 ff.; Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 19

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Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 4 3 9

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stokratie in die französische Hauptstadt gelockt hatte, war Paris auch die Stadt der Folies Bergères und übte all die Anziehungskraft eleganter weltlicher Vergnügen aus. In ihrem autobiographisch geprägtem Roman Iflgenia von 1924 beschrieb Teresa de la Parra - Angehörige einer alten Hacendadofamilie aus den Anden - wie um die Jahrhundertwende manches alte Familienvermögen bei einem müßiggängerischen Leben in Paris dahingeschmolzen war, wo venezolanische Lebemänner „ihr Vermögen bis auf den letzten Pfennig" ausgaben, um „Perlenketten, Hüte für tausend Francs und japanische Hündchen zu verschenken." 68 Auch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war es keineswegs nur das historisch-kulturelle Interesse an Baudenkmälern und Museen, das die Lateinamerikaner mit magischer Kraft nach Paris zog. Mindestens ebenso attraktiv waren die luxuriösen Restaurants und Geschäfte, die Bar des Hotel Ritz oder die Vergnügungsetablissements, in denen man Charleston oder Tango tanzen lernte. Die vornehmsten venezolanischen Familien legten großen Wert darauf, daß ihre Kinder sich in diesem Ambiente zu bewegen lernten. 69 Während Pascual Casanova, Sohn eines reichen Hacendados, in einem renommierten Internat in Lausanne mit Lateinunterricht und der Lektüre der europäischen Klassiker eine solide humanistische Schulbildung erhielt, hatte er während seiner regelmäßigen Parisaufenthalte Gelegenheit, ein gewandtes Auftreten in der eleganten Welt einüben. Auf einer Reise, zu der ihm sein Vater einen „fabelhaften Chrysler" geschenkt hatte, lernte er die bekanntesten europäischen Badeorte von Biarritz über Saint-Tropez bis Viareggio kennen. In Lausanne verkehrte der Großgrundbesitzerssohn in einem feudalen Kreis, zu dem unter anderem die Söhne des spanischen Königs Alfons XIII. gehörten, die seit dem Sturz der Monarchie in der Schweiz lebten. Die Lektüre von Corneille und Racine, ein distinguierter gesellschaftlicher Umgang und der Aufenthalt in den europäischen Zentren mondäner Eleganz machten so die Bildung zum kultivierten Weltmann perfekt. 70 Als Kosmopolit kehrte ebenfalls Guillermo Machado Mendoza nach Venezuela zurück, der als Jugendlicher zur Ausbildung nach Frankreich geschickt worden war und insgesamt vierzehn Jahre in Europa lebte. „Jeden Sommer", so berichtet der Sohn einer traditionsreichen Großgrundbesitzerfamilie in Erinnerung an jene Jahre, „fuhr ich nach Venezuela, und den Winter verbrachten wir immer irgendwo in den Alpen, zum Beispiel in Chamonix." 7 1 Tatsächlich war dieselbe Gruppe begüterter Venezolaner, die sich im Sommer in den exklusiven europäischen Seebädern aufhielt, im Winter in Chamonix, Gstaad oder Grindelwald anzutreffen. Dort verbrachten die jungen Leute die Ferien mit ihren Eltern, die die Winter68

Parra, Teresa de la, Ifigenia, Caracas 1972, S. 66, 9 5 - 9 7 (zuerst erschienen 1924)

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Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 1 8 4 - 1 8 8 Ders., Escrito de memoria, a.a.O., S. 8 1 - 8 2 , 100, 114 Interview vom 24. 10. 1988

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sportorte zur Station ausgedehnter Europareisen gemacht h a t t e n oder von denen m a n c h e gar seit Jahren in Paris lebten u n d von dort angereist waren, u m mit ihren Kindern, Verwandten u n d Freunden zusammenzutreffen. 7 2 Ganz wie es dem Stereotyp von der verschwenderischen Rentiersmentalität der lateinamerikanischen Großgrundbesitzer entsprach, schienen einige der traditionsreichsten venezolanischen Familien ein kosmopolitisches Gesellschafts- u n d Kulturleben sozusagen zu einem tagesfüllenden „Beruf" zu machen, zu dem sie ihren Nachwuchs sorgfältig heranbildeten. Es wird im Verlauf der Untersuchung noch auf den angeblich unproduktiven Lebensstil der venezolanischen Hacendados zurückzukommen sein, die - sich ihrer Verantwortung als Landbesitzer entziehend - aus der Ferne tatenlos dem Verfall ihrer Ländereien zuschauten. Festgehalten sei zunächst, daß die Agrarproduktion in den dreißiger Jahren endgültig an einem Tiefpunkt angelangt war u n d daß das mangelnde Engagement der Landbesitzer für den u n a u f h a l t s a m e n Niedergang der venezolanischen Landwirtschaft, die erst in den fünfziger Jahren wieder einen spürbaren Aufschwung erleben sollte, zumindest mitverantwortlich war. 7 3 Doch w e n n die Latifundisten, denen u m 1920 zirka 85 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens gehörten, es auch versäumt hatten, für eine Diversifizierung u n d Modernisierung der Agrarproduktion zu sorgen, u n d viele ihrer großen Ländereien ein trauriges Bild der Rückständigkeit u n d Unproduktivität abgaben, 7 4 so trugen gleichzeitig verschiedene andere Faktoren zu der landwirtschaftlichen Strukturkrise bei. Unter der Unzulänglichkeit der innervenezolanischen Verkehrswege, die oft nur in der Trockenzeit zu benutzen waren, hatte etwa der Export von Produkten aus der Viehzucht zu leiden, die vor allem in den fern von der Küste gelegenen Tiefebenen des Landesinneren betrieben wurde. Nachdem die Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts u n d die Malaria weite Landstriche dieser Region nahezu entvölkert hatten, erfuhr die Viehzucht zu Beginn dieses Jahrhunderts einen gewissen Aufschwung, den jedoch ein empfindlicher Rückgang der Weltmarktpreise schon nach dem Ersten Weltkrieg wieder zunichte machte. Auch der venezolanische Kaffee, der ungefähr seit 1820 den Kakao als wichtigstes Exportprodukt verdrängt hatte, blieb z u n e h m e n d hinter der brasilianischen Konkurrenz zurück. Die Entfernung der Kaffeeplantagen von den Ausfuhrhäfen, eine wachsende Auslaugung der Böden u n d das Fehlen staatlicher Kredite, das die Großgrundbesitzer in immer größere Abhängigkeit v o n den als Darlehensgeber auftretenden Handelshäusern geraten ließ, machte es den Kaffeepflanzern trotz der

72 73 74

Valleniila Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 94 Rodríguez, Luis Cipriano, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 105 Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela, a.a.O., S. 132

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bis in die zwanziger Jahre relativ stabilen Weltmarktpreise immer schwerer, rentabel zu produzieren. 75 Zum Ruin des seit langer Zeit maroden Agrarsektors sollte indirekt auch die Erdölindustrie beitragen, die nicht nur zur Abwanderung der schlecht bezahlten Landarbeiter in die neuen Industriezentren führte und so der Landwirtschaft Arbeitskräfte entzog. Vor allem indem die venezolanische Währung durch die Ölausfuhr eine Aufwertung gegenüber dem Dollar erfuhr, mußten die Erlöse aus den traditionellen Exportprodukten schmerzhafte Verluste verbuchen, während die Nahrungsmitteleinfuhr aus dem Ausland verbilligt wurde. Erst die internationale Rezession, die mit der Weltwirtschaftskrise einherging, führte jedoch zu einem wirklich dramatischen Rückgang der Einnahmen aus dem Agrarexport, von dem viele Landbesitzer sich nicht wieder erholen sollten. 7 6

Das Großbürgertum als Wegbereiter der Moderne Während die Aufwertung des Bolivar für den Agrarexport katastrophale Folgen zeitigte, verhalf sie anderen Wirtschaftszweigen zu einem Aufschwung. Die Verbilligung der Importe kam insbesondere dem Handel zugute, der bald sehr viel größere Profite versprach als der traditionelle Agrarsektor. Auch Jaimito del Casal, der „dekadente" Großgrundbesitzerssohn aus dem Roman von Romulo Gallegos, versucht sich in der vielversprechenden städtischen Wirtschaft. „Mit großem Aufwand richtete er im New Yorker Stil ein luxuriöses Büro für vage Handelsoperationen ein, mit einem Mobiliar, das ihn ein Vermögen gekostet hatte, mit livriertem Portier und einer Menge Angestellter, die täglich unzählige Briefe an Bankiers und große Kaufleute in der ganzen Welt schrieben." 7 7 Aber zumindest der literarische Typus des feudalen Hacendado, den Gallegos zeichnet, ist in einer Welt von Disziplin, Rationalität und Effizienz zum Scheitern verurteilt. Sein unverbesserlicher Hang zu verschwenderischer Repräsentation, zur Höherbewertung des Stils gegenüber dem Inhalt beschränkt die Einrichtung eines Büros im New Yorker Stil auf das Mobiliar, ohne daß sich damit das dazugehörige angelsächsische Arbeitsethos einstellen würde.

7 5

Brito Pigueroa, a.a.O., Bd. II, S. 3 5 9 ff.

76

Hein, W o l f g a n g , W e l t m a r k t a b h ä n g i g k e i t u n d E n t w i c k l u n g in e i n e m Ö l l a n d : Das Beispiel Venezuela ( 1 9 5 8 - 1 9 7 8 ) , Stuttgart 1 9 8 3 , S. 2 7

77

Gallegos, I.a trepadora, a.a.O., S. 8 1

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Die zunehmende Vorherrschaft der städtischen Wirtschaft setzte die traditionelle Elite in der Tat der Konkurrenz einer anderen Gruppe aus, die den Forderungen eines neuen, leistungsorientierten Zeitalters eher zu entsprechen schien und deren finanzieller Erfolg es ihr zu erlauben begann, einen gesellschaftlichen Glanz zu entfalten, der viele der traditionsreichsten Familien bei weitem in den Schatten stellte. Durch die Kontrolle des Außenhandels und ihre Rolle als Kreditgeber des Agrarsektors hatte sich im 19. Jahrhundert eine Finanz- und Handelsbourgeoisie herausgebildet, die, obwohl sie seit der Herrschaft der andinischen Caudillos Castro und Gomez in weniger unmittelbarem Kontakt zur politischen Macht stand als das in den Tagen des bürgerlichen Präsidenten Guzmän Blanco der Fall gewesen war, doch in dem prononcierten Wirtschaftsliberalismus und in der politischen Stabilität der Regierung Gömez einen fruchtbaren Boden für eine erfolgreiche Entfaltung ihrer Aktivitäten fand. 78 Zu einem mächtigen Handelshaus war etwa die 1783 gegründete Firma der Gebrüder Santana & Co. geworden, das älteste Großhandelsunternehmen des Landes, dessen Besitzer in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gemeinsam mit Guzmän Blanco an der Gründung der ersten venezolanischen Banken beteiligt gewesen waren. 79 In einer Serie, in der sie die bekanntesten Handelsunternehmen des Landes vorstellte, berichtete die Zeitschrift Billiken 1930 ausführlich auch über die Firma Boulton & Co.. Im Jahre 1826 von einem jungen Engländer gegründet, spielte das Handelshaus, das bald eine eigene Schifffahrtsgesellschaft - die Red ,D' Line - besaß, zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Niederlassungen in La Guaira, Maracaibo, Puerto Cabello und Valencia eine beherrschende Rolle in der Ausfuhr von Agrarprodukten und der Einfuhr von Textilien und Lebensmitteln. 80 Während diese alteingesessenen Firmen sich dem traditionellen Im- und Export widmeten und durch ihre Beteiligung am Agrarhandel mit der Weltwirtschaftskrise einen schweren Rückschlag erlebten - Boulton stand kurz vor dem Bankrott und Santana & Co. mußte sich einige Zeit später auflösen 81 - entstanden zur gleichen Zeit Handelsfirmen neuen Zuschnitts. Zu den von der Zeitschrift Billiken vorgestellten Unternehmen gehörte so der 1916 von Enrique Arvelo gegründete Bazar Americano: „Der angelsächsische Ausdruck ,self made man' trifft voll und ganz auf den Mann zu, der den ersten Ford nach Venezuela brachte: auf Don Enrique Arvelo. (...) Als Mann der Innovation, kann Herr Arvelo es zu seinen unzähligen Verdiensten rechnen, sich unter den ersten Importeuren von Schreibmaschinen befunden zu haben. (...) Durchdrungen von neuen Handelsmethoden, war er es auch, der den Kauf auf Ratenzahlung einführte, weibliches Personal 78 79 80 81

Werz, a.a.O., S. 43 Gerstl, a.a.O., S. 322 Billiken 20. 12. 1930 Gerstl, a.a.O., S. 247

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einstellte und Caracas mit einem soliden und schönen Bürogebäude versah, das den jüngsten Vorbildern Yanquilandias folgt. In diesem modernen Gebäude, das alle wünschenswerten Bequemlichkeiten bietet, ließ er den ersten elektrischen Personenaufzug installieren, bis heute der einzige, den es in der Stadt gibt." 82 Der Importbourgeoisie fiel offenbar die Aufgabe zu, als Vermittler zwischen einem beschaulichen, noch weitgehend in seiner provinziellen kolonialen Vergangenheit befangenen Venezuela und den industrialisierten Nationen Europas und Nordamerikas aufzutreten, deren wirtschaftlicher und politischer Einfluß weltweit zusehends dominierender wurde. Seit dem 19. Jahrhundert immer enger mit der internationalen Handels- und Finanzwelt verbunden, schien die Kaufmannschaft so zur Verkörperung des modernen venezolanischen Unternehmertums zu werden. Im Gegensatz zu der „Indolenz" eines Jaimito del Casal, gründete der „seif made man" Arvelo seinen Erfolg auf die Arbeit. Das repräsentative Bürogebäude, das er hatte errichten lassen, entsprach nicht nur äußerlich den „jüngsten Vorbildern Yanquilandias", auch innen herrschte jener Geist von rationaler Effizienz, der als typisch angelsächsisch gilt. Anstelle der ostentativen Eleganz war der moderne, funktionalere Begriff des Komforts in den Vordergrund gerückt, der sich die Errungenschaften des Fortschritts praktisch zunutze zu machen weiß. Gleichzeitig war es eben diese Importbourgeoisie, die jene Artefakte des Maschinenzeitalters einführte, die einem moderneren Lebensstil als Grundlage dienten. Bevor er sich erfolgreich selbständig machte, war Arvelo Partner des nordamerikanischen Kaufmanns William H. Phelps gewesen, und in der Zeitschrift El Cojo Ilustrado hatte die Firma Arvelo & Phelps schon 1910 für eine Reihe von Produkten geworben, die den Geist einer neuen, technisierten Epoche widerspiegelten: Pianolas und Phonographen, Fotoapparate, Fahrräder und Ausrüstung für neue Sportarten wie Baseball, Fußball oder Boxen. 83 Die traditionelle Elite konnte die wachsende wirtschaftliche Macht des „Krämervolks" nicht anders als mit Mißtrauen beobachten. Als die Ursache von „Unglück und Ruin der Landbesitzer" hatten viele schon im ausgehenden 19. Jahrhundert die Kaufleute gesehen, die als Gläubiger der immer tiefer verschuldeten Hacendados auftraten. 84 Aber auch von unmittelbaren wirtschaftlichen Interessenkonflikten abgesehen, war es nicht schwer, Indizien dafür zu finden, daß die vornehmen kreolischen Familien, die auf eine koloniale Tradition zurückblicken konnten, sich von dem Glanz neuerer Vermögen in den Schatten gestellt fühlten. In seinen Memoiren schrieb Laureano Vallenilla Lanz jr. bezüglich der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts: „Es gibt bei uns keine reichen Großgrundbesitzer wie in Argentinien. (...) Unsere Oberschicht besteht aus Lebensmittel- und Blechwarenhänd82

Billiken

83

El Cojo Ilustrado

2 0 . 12. 1 9 3 0

84

Diaz Rodriguez, Sangre patricia, a.a.O., S. 50, 79

15. 2., 15. 3., 1. 8. und 15. 10. 1 9 1 0

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lern, aus Repräsentanten ausländischer Schnapsmarken, einigen Angehörigen der freien Berufe und den Politikern, die gerade die Macht an sich gerissen haben." 85 Der zunehmende Reichtum, den die „Lebensmittelhändler" und „Vertreter ausländischer Schnapsmarken" zur Schau stellen konnten, ließ sie jedoch wie von selbst in den Mittelpunkt des Gesellschaftslebens rücken. Mit ihren im europäischen Stil gehaltenen Villen in El Paraíso, dem ersten vornehmen Vorort von Caracas, hatte sich diese städtische Bourgeoisie ein Ambiente von Eleganz und Komfort geschaffen, das ihre finanzielle Macht anschaulich zum Ausdruck brachte. Das zwischen 1912 und 1915 erbaute Palais der Boulton war das repräsentativste Privathaus der Hauptstadt geworden, aber auch die klassizistische Villa der Phelps - die sogenannte Casa Blanca - oder später die Villa Arvelo drohten die altehrwürdigen Häuser des aristokratischen Stadtkerns von Caracas an Luxus zu übertreffen und schienen gleichzeitig einen europäischeren, dem Fortschritt aufgeschlosseneren Lebensstil zu verkörpern. Die Bourgeoisie, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rolle des Vorreiters zivilisatorischer Neuerungen gefallen hatte, besaß nun immer beträchtlichere finanziellen Mittel, um ihre Vorstellungen von Fortschritt wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Unter den ersten Bewohnern von El Paraíso befand sich auch der Kaufmann Carlos Zuloaga, dessen nach den neuesten Erkenntnissen des Erdbebenschutzes konstruiertes Haus in Caracas Aufsehen erregt hatte, bis es 1908 vom Blitz zerstört wurde.8** Das erfolgreichste Mitglied der Familie Zuloaga, die im 18. Jahrhundert aus dem Baskenland eingewandert war und deren Mitglieder Ende des 19. Jahrhunderts noch als typische Repräsentanten der hauptstädtischen Mittelschicht gelten konnten, war jedoch Carlos Bruder Ricardo. 87 Selbst ohne nennenswertes Kapital, war es ihm nach einem Ingenieursstudium mit Hilfe venezolanischer Geldgeber 1897 gelungen, eines der ersten Elektrizitätswerke des amerikanischen Kontinents zu errichten. 88 So schien diese Familie ihren Aufstieg einer energischen Fortschrittlichkeit zu verdanken, die sie auch in ihrer Freizeit zu bahnbrechenden Taten bewegte. Von Sports- und Pioniergeist getrieben, hatten Ricardo Zuloaga und einige Freunde sich 1918 vorgenommen, als erste die Autofahrt von Caracas an den Orinoco zu unternehmen. Sie brachen zu einer abenteuerlichen Reise quer durch die venezolanischen Llanos auf, bei der sie Flußläufe durchqueren und ihre Wagen immer wieder über kaum passierbare Wegstrecken schieben mußten, während ihre Ankunft in den Dörfern des Landesinneren, in

85 86 87 88

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 27 El Cojo Ilustrado 15. 9. 1908 Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 159 Röhl,Juan, Ricardo Zuloaga, Caracas 1977, S. 71 ff.; Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 967

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denen m a n nie zuvor ein Automobil gesehen hatte, mit Volksfesten u n d Raketen gefeiert wurde. 8 9 Machte der Ingenieur Ricardo Zuloaga durch derlei spektakuläre Aktivitäten also nicht nur in beruflicher Hinsicht als engagierter Wegbereiter des technischen Fortschritts v o n sich reden, trat sein älterer Bruder Carlos indessen als Förderer einer m o d e r n e n Sportart auf, die in Venezuela bald großen Anklang fand. Carlos Zuloaga, der als Kaufmann u n d als Besitzer des berühmten Kaffeehauses La Glacière zu Vermögen gelangt war, verwandelte 1913 ein Grundstück, das er in dem Villenvorort El Paraíso besaß, in eines der ersten Baseballfelder des Landes. 90 Unter den Studenten, die in vorangegangenen Jahren auf improvisierten Plätzen das nordamerikanische Ballspiel in Venezuela bekannt gemacht hatten, waren vor allem die Söhne der w o h l h a b e n d e n Handelsfamilien ausländischer Herkunft zu finden, nämlich, so erzählt Alfredo Boulton in einem Interview, „die Todd, die Vollmer, meine älteren Brüder u n d einige andere, die das Spiel in den Vereinigten Staaten gesehen h a t t e n . " 9 1 Der neue Sport schien das an modernen Leitbildern von Leis t u n g u n d Tatkraft orientierte Wertesystem einer d y n a m i s c h e n Bourgeoisie widerzuspiegeln, die im Gegensatz zu der unproduktiven Muße der traditionellen, landbesitzenden „Aristokratie" ihre freie Zeit nutzbringend anzuwenden wußte. In seinem Ursprungsland sah m a n die Funktion des Baseball darin, d a ß er „die Charakterentwicklung u n d die Disziplin verbessert u n d die physische u n d mentale Leistungsfähigkeit fördert" - u n d das aufstrebende venezolanische Bürgertum hatte sich diese Denkungsweise offenbar erfolgreich zu eigen gemacht. 9 2 Könnte man den Baseball als den Sport einer Elite verstehen, die ihre wachsende wirtschaftliche Vormacht gegenüber den alten Großgrundbesitzern ihrer Effizienz u n d ihrer Disziplin zu verdanken hatte, so hob sich der m o d e r n e Sportsgeist des Bürgertums gleichzeitig deutlich v o n der „Irrationalität" ab, die den Lebensstil des Caudillo u n d seiner Anhänger kennzeichnete. Im Unterschied zu deren überlieferten Spielen, wie den toros coleados, der venezolanischen Version des Rodeo, d i e auf e i n e m b ä u r i s c h - d e r b , ja m i t h i n g e w a l t t ä t i g anmutenden, p e r s o n e n b e z o g e n e n Kraftideal b e r u h t e n , fügten sich m o d e r n e Sportarten wie Baseball in ein formales Regelwerk ein, das m a n als Ausdruck einer neuen, abstrakteren R e c h t s a u f f a s s u n g i n t e r p r e t i e r e n k ö n n t e . 9 3 Sich v o n den a n a c h r o n i s t i s c h e n , scheinbar „irrationalen" Kriterien distanzierend, die der s t ä n d i s c h e n P r i v i l e g i e n o r d n u n g oder d e m Personalismus des caudillismo 89

91 92

Schael, G u i l l e r m o José, A p u n t e s para la historia. El a u t o m ó v i l e n Venezuela, Caracas 1969, S. 112 ff. Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 13; Díaz Rangel, Eleazar u n d Becerra Mijares, G u i l l e r m o , El béisbol e n Caracas 1 8 9 5 - 1 9 6 6 , Caracas 1967, S. 32 I n t e r v i e w v o m 7 . 8 . 1988 Riess, a.a.O., S. 2 2 2

93

Eichberg, a.a.O., S. 28

90

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zugrundelagen, schien sich das sportbegeisterte Bürgertum jenem zeitgemäßen Wettbewerbsbegriff zu unterwerfen, der n a c h unpersönlichen Kriterien Leistung mit Erfolg belohnte. Dem entsprach, daß m a n auch politisch einen aufgeklärten Liberalismus zur Schau trug, der in einer m e h r oder weniger stillschweigenden Ablehnung des Willkürregimes von General Gómez seinen Niederschlag fand: So waren die jugendlichen Spieler des elitären Baseballclubs Los Samanes, den Carlos Zuloaga 1913 gegründet hatte, selbst bei d e n A n h ä n g e r n der rivalisierenden volkstümlichen Clubs als Regierungsgegner anerkannt. 9 4 Vor allem die großbürgerliche Jugend zeigte in der auch in Venezuela von tiefgreifenden kulturellen Umbrüchen gekennzeichneten Dekade der zwanziger Jahre kämpferischen Enthusiasmus für die Sache des Fortschritts. Als Margot Boulton während des Studentenaufstands von 1928 erfuhr, daß die Studenten „die Baskenmütze zum Zeichen des Protests gegen die Regierung" gemacht hatten, beschloß sie, „eine Ausfahrt mit m e i n e n Schwestern im Wagen meines Vaters dazu zu benutzen, mit einer Baskenmütze auf dem Kopf u m die Plaza Bolívar zu fahren." Ihre Eltern, die eine „rigoros apolitische Haltung" e i n n a h m e n , tadelten Margot wegen dieser Geste streng - wobei sie bei anderen Gelegenheiten nichts dagegen einzuwenden hatten, daß ihre Töchter als Wegbereiterinnen eines neuen Frauenbilds auftraten. „Mein Vater schenkte uns ein Automobil, als ich f ü n f z e h n Jahre alt war. Er kaufte u n s drei Mädchen einen französischen Peugeot von 5 PS. Meine ältere Schwester interessierte sich nicht dafür, u n d die jüngere m o c h t e es, w e n n ich sie spazierenfuhr. So wurde ich schließlich zur Besitzerin des Wagens." Zu einer Zeit, als in den aristokratischen Stadtvierteln des alten Caracas die Mädchen ihre Verehrer nicht selten noch nach alter Sitte vor den Fenstergittern der kolonialen Häuser empfingen u n d nur in Begleitung v o n Älteren das Haus verlassen durften, gestatteten J o h n u n d Catalina Boulton, daß ihre Tochter Margot regelmäßig mit ihrem Auto zum Tennisspielen in den Club Paraíso fuhr. 9 5 W ä h r e n d 1925 auf d e n Gesellschaftsseiten der Zeitschrift Elite ein Foto von Margot erschien, das sie als eine der modernen „Königinnen des Steuerrads" präsentierte, die im Caracas jener Jahre große Bewunderung ernteten, m a c h t e die Großbürgerstochter auch als Gewinnerin v o n Tennismeisterschaften v o n sich reden, was, wie sie heute behauptet, „nicht sehr schwierig war, d e n n es gab wohl nicht m e h r als zehn Frauen, die damals Tennis spielten." Bei der Begeisterung für diesen neuen Sport war bereits die Mutter Vorbild gewesen. Neben ihrer Villa in El Paraíso besaßen Margots Eltern den ersten court von Caracas u n d „wer dort am häufigsten spielte, war Mama." Obwohl ihre Weltoffenheit gerade die Boultons in vieler Hinsicht zu einer Vorhut fortschrittlicher Gepflogenheiten machte, konnte

94 95

Díaz Rangel/Becerra Mijares, a.a.O., S. 34-35 Interview vom 1. 9. 1988

70

das emanzipatorische Auftreten ihrer Tochter durchaus Anlaß zu familiären Konflikten geben. Wenn aber Margot Boulton, die in den ersten Jahren des Jahrhunderts geboren wurde, heute erzählt, sie habe wegen ihrer unkonventionellen Ideen „ihr ganzes Leben lang gegen die Meinung ihrer Eltern gekämpft", hatte ihr die liberale Gesinnung ihrer Familie ohne Zweifel von Anfang an einen relativ großen Spielraum geboten. 9 6 Unter jenen, die sich zumindest was die Stellung der Frau betraf, das egalitäre Denken des Fortschritts zu eigen machten, befanden sich tatsächlich auffallend viele Familien ausländischer Herkunft. So gehörten zu den autofahrenden und/oder sporttreibenden Frauen der zwanziger und dreißiger Jahre außer den Boultontöchtern auch Carolina Winckelmann, die Töchter des in Maracaibo niedergelassenen deutschen Kaufmanns Gustav(o) Zingg und die Töchter des Nordamerikaners William H. Phelps. 97 Obwohl viele dieser Familien nach mehreren Generationen im Land durch Heiraten mit Venezolanern „kreolisiert" waren, hatten sie ihre Herkunft aus jenen Ländern, die zum Inbegriff von zivilisatorischem Fortschritt geworden waren und zu denen sie in der Regel enge Verbindungen aufrechterhielten, keineswegs vergessen. W e n n in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Boulton, Phelps, Vollmer und Blohm zu jenem Dutzend Familien gehörten, die Schlüsselpositionen in der venezolanischen Privatwirtschaft innehatten, 9 8 mag nicht nur die größere Vertrautheit mit der modernen internationalen Handelsund Finanzwelt ihren überwältigenden wirtschaftlichen Erfolg erklären. In Anlehnung an die Theorien Max Webers könnte man auch vermuten, daß die protestantische Tradition, auf die die hervorragendsten Repräsentanten dieser Gruppe zurückblickten, sie für das Leistungsdenken des modernen Zeitalters zugänglicher machte. Die Boulton, die aus ihrem straff geführten Handelsunternehmen im Lauf des 20. Jahrhunderts ein Wirtschaftsimperium zu machen wußten, hatten 1854, als H. L. Boulton sich mit Dolores Rojas verheiratete, nominell den Katholizismus angenommen, ohne daß darum die nachfolgenden Generationen ihre Prägung durch die typisch „protestantische Ethik" von Pflichtbewußtsein und Selbstdisziplin hätten verleugnen können. 9 9 Unmittelbar an Benjamin Franklins Devise, „daß die Zeit Geld ist", 1 0 0 schien ebenso ein Brief anzuknüpfen, in dem um 1850 der aus Lübeck stammende Georg Blohm - seinerzeit einer der erfolgreichsten Kaufleute Venezuelas - seinen Sohn ermahnte: „Ohne einmal zu berücksichtigen, daß ein Leben im Überfluß die Gesundheit angreift, sollte man Zeit und Geld besser da 96

Ebd.

97

Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 108; Interview m i t Arnold Zingg v o m 6. 9 . 1 9 8 9

98

Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 3 9 8 ff.

99

I n t e r v i e w m i t Alfredo B o u l t o n v o m 7. 8. 1 9 8 8

100

Vgl. W e b e r , Die p r o t e s t a n t i s c h e Ethik, a.a.O., Bd. I, S. 4 0

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einsetzen, wo sie gebraucht werden, auf sehr ehrenwerte Art nämlich im Dienste am Nächsten." 1 0 1 Gerade die Familie Blohm, die ihre beherrschende wirtschaftliche Position im 20. Jahrhundert kontinuierlich ausbauen konnte, bewies eine deutliche Neigung, sich nach außen abzugrenzen und ihren Gepflogenheiten und Wertvorstellungen zudem dadurch Kontinuität zu verleihen, daß sie eheliche Verbindungen fast ausschließlich mit Deutschen oder deutschstämmigen Venezolanern einging. 102 Das fortschrittliche Denken einer dynamisch aufstrebenden Bourgeoisie verkörperten gleichzeitig Familien wie die Zuloaga oder die Arvelo, die den Aufstieg aus der Mittelschicht nicht zuletzt ihrer Anpassungsfähigkeit an die modernen Maßstäbe von Leistung und Effizienz zu verdanken hatten - und bemüht sein mußten, der von Standesdenken durchdrungenen traditionellen Elite des Landes eigene Werte und Leitbilder gegenüberzustellen, auf die sie ihren neuerworbenen Status gründen konnten. So traten Carlos und Ricardo Zuloaga auch in ihrer freien Zeit als „Pioniere des Fortschritts" auf, während die Tochter ihres Bruders Nicomedes, Elisa Elvira Zuloaga, mit einem Kunststudium in Paris, London und New York, das sie zu einer erfolgreichen Malerin machen sollte, um 1920 für eine Frau ungewohnte Freiheiten beanspruchen konnte. 103 Auch Enrique Arvelo, der Besitzer des Bazar Americano, führte in seinem luxuriösen Haus in El Paraiso ein betont modernes Leben. Hiervon zeugte nicht zuletzt ein Bild seiner Tochter Angelina, die sich ganz nach der neuesten europäischen garçonne-Mode gekleidet vor der Villa ihres Vaters für die Zeitschrift Billiken fotografieren ließ, nachdem sie zur „Miss Caracas" von 1930 gewählt worden war. 104 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die außenorientierten Handelsunternehmer als Erneuerer inmitten einer rückständigen Gesellschaft empfunden, und wirklich ging von der Weltoffenheit ihres Lebensstils in vieler Hinsicht eine modernisierende Wirkung aus. Mit ihrer zunehmenden ökonomischen Etablierung jedoch sollte der fortschrittliche Impetus, dem sie ihren Aufstieg zu verdanken hatten, einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren: Die wohlhabenden Kaufmannsfamilien, die sich in den eleganten Kreisen von Caracas stets als Vorreiter neuester ausländischer Moden hervorzutun suchten, legten eine immer deutlichere Neigung zu feudalen Lebensweisen an den Tag. Die betonte Fortschrittlichkeit des Bürgertums erhielt exklusiven Charakter und wurde zum gesellschaftlichen Unterscheidungsmerkmal, zum Statussymbol, das im Rahmen

101 Walter, Rolf, Venezuela und Deutschland 1815-1870, Wiesbaden 1983, S. 261 102 Erst die |üngsten Nachfahren der Familie Blohm sind heute mit Venezolanern nichtdeutscher Herkunft verheiratet. Interview mit Emily Blohm vom 6 . 3 . 1990 103 Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 966 104 Billiken 8. 11. 1930

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gesellschaftlichen Repräsentationsstrebens die Praxis der Modernisierung in den Hintergrund treten ließ.

Die Verschmelzung alter und neuer Eliten Offensichtlich ist die venezolanische Handelsbourgeoisie im bisherigen Verlauf der Untersuchung nur auf jene Symptome einer „kapitalistischen Ethik" von Leistung, Disziplin und Tatkraft untersucht worden, die sie von anderen Gruppen zu unterscheiden schien: Einer gesellschaftlichen Elite, die sich in Müßiggang damit begnügte, ihr aristokratisches Ansehen zu kultivieren, ist eine wirtschaftliche Elite gegenübergestellt worden, die zum Motor umfassender Modernisierungsprozesse wurde. Die Gegensätze zwischen den verschiedenen Gruppen, aus denen sich die venezolanische Oberschicht des beginnenden 20. Jahrhunderts zusammensetzte, waren jedoch keineswegs so kraß, wie es ein erster Eindruck vermuten lassen könnte. Nicht nur politische und ökonomische Allianzen verbanden alte und neue Eliten seit langem enger miteinander, als manche ihrer Angehörigen es womöglich wahrhaben wollten, auch auf der Ebene der Lebensstile war es im Kräftespiel der um gesellschaftliches Prestige konkurrierenden Gruppen allmählich zu einer Angleichung gekommen. So zeigte sich die alteingesessene Oberschicht auf die Dauer keineswegs bereit, hinter dem fortschrittlichen Impetus des Bürgertums zurückzustehen und diesem bei Venezuelas Vormarsch in ein moderneres Zeitalter die Führung zu überlassen. Ihrerseits offenbarte die wirtschaftlich erfolgreiche Handelsbourgeoisie eben jene Neigung zu feudalen Lebensweisen, wie sie auch bei dem europäischen Großbürgertum zu beobachten war und wie sie für aufstrebende bürgerliche Gruppen typisch ist, die ihren neuerworbenen Reichtum mit dem entsprechenden Sozialprestige zu umgeben wünschen. Die Wurzeln dieser gegenseitigen Annäherung reichen weit in die venezolanische Vergangenheit zurück. Seit der Kolonialzeit war die Kaufmannschaft bestrebt gewesen, gesellschaftliche Anerkennung gegenüber der Großgrundbesitzeraristokratie zu erringen, und ähnlich wie die europäischen Bourgeoisien des 18. Jahrhunderts durch den Landkauf ihrem Vermögen feudale Distinktion zu verleihen gesucht hatten, 1 0 5 pflegte man in Venezuela dem Besitz ausgedehnter Ländereien ebenfalls großen Repräsentationswert beizumessen. 106 Den ständischen Stolz von Großgrundbesitzern zeigten die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Deutschland 105 Weber, Die protestantische Ethik, a.a.O., S. 181. Zu dieser grundsatzlichen Neigung des europäischen Bürgertums, sich „adeligem Lebensstil anzupassen", vgl. auch Pletschmann, a.a.O., S. 26 106 McKinley, a.a.O., S. 77-80, 90

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eingewanderten Vollmer, die sich durch eine Heirat mit den Nachfahren des illustren Unabhängigkeitshelden General Félix Ribas verbunden hatten. Die Vollmer waren auf diese Weise in den Besitz großer Haciendas in den fruchtbaren Tälern von Aragua gelangt, wo sie im vorigen Jahrhundert mit dem Großgrundbesitzer und ehemaligen Präsidenten General Francisco Linares Alcántara in adeliger Manier zur Jagd zu gehen pflegten. 107 Der berühmte Rum Santa Teresa, den die Ribas seit 1796 aus Zuckerrohr brannten, das sie auf ausgedehnten eigenen Plantagen ernteten, sollte eines der Fundamente des bedeutenden Vermögens der Vollmer werden. 108 Ein anschauliches Zeugnis von der Eingliederung in die traditionelle Elite, die den wohlhabenden ausländischen Kaufleuten bereits im Lauf des 19. Jahrhunderts gelungen war, legen die Bilder des renommierten Malers Federico Brandt (18781943) ab, dem Enkel eines Hamburger Kaufmanns, der sich 1824 in Maracaibo niedergelassen hatte. 1 0 9 Obwohl - wie seine Biographen vermerken - Federico Brandts „künstlerische Produktion Unterbrechungen erfuhr, weil er sich auch den Geschäften widmete", hinterließ der Maler bekannte Gemälde wie das Porträt seiner dem kreolischen „Adel" entstammenden Cousine Josefina Casanova Ibarra oder die Darstellung der malerischen Hacienda Izcaragua, die seinem Bruder gehörte. 1 1 0 Auf einer Studienreise, die er von 1902 bis 1904 nach Europa unternahm, hatte Brandt den Impressionismus kennengelernt, den er für Darstellungen der Landschaft des Tals von Caracas verwenden sollte, aber auch um die „Winkel und Spuren der alten Stadt" festzuhalten. Brandt „liebte den Kolonialstil" und der Künstler und Geschäftsmann war um 1930 als Besitzer einer bedeutenden Sammlung von kolonialer Kunst bekannt. 111 Das Ambiente, mit dem er sich in seinem Haus im alten Caracas umgab, mochte ihn bei vielen seiner Stilleben und Innenansichten inspiriert haben. 112 Zu jenen, die - wenn auch als Kaufleute zu Vermögen gelangt - zu Beginn des Jahrhunderts in der traditionellen Elite aufgegangen waren, gehörten ebenfalls die Nachfahren von Vincenzo Velutini. 1850 aus Korsika eingewandert, hatte Velutini nach einigen Jahren als reisender Händler Clarisa Ron, die Tochter einer im Osten des Landes angesehenen Landbesitzerfamilie geheiratet und sich mit seiner Familie in Barcelona/Venezuela niedergelassen. Die Biographie seines ältesten Sohnes, General José Antonio Velutini, Besitzer großer Kaffeeplantagen und Vizepräsident

107 Interview mit José Antonio Giacopini Zárraga vom 13. 10. 1988 108 Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 157 109 Gerstl, a.a.O., S. 187 110 Mudarra, Miguel Angel, Cien semblanzas de caraqueños notables, Caracas 1976, S. 1 9 7 - 1 9 8 111 Duarte, Carlos F., Museo de Arte Colonial 'Quinta de Anauco', Caracas 1979, S. 1 4 - 1 5 1 1 2 Erminy, Pcrán und Calzadilla, Juan, El paisaje como tema en la pintura venezolana, Caracas 1975, S. 70

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von Ciptiano Castro, könnte schon die eines vornehmen Kreolen sein, ebenso wie die von General Juan Pietri, ebenfalls korsischer Abstammung und einer der ersten Außenminister der Gomez-Regierung.113 Während die Velutini als Hauptaktionäre des Banco Caracas im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer beherrschenden Stellung in der venezolanischen Finanzwelt gelangen sollten, verloren ihre einst reichen Kaffeeplantagen zusehends an wirtschaftlicher Bedeutung. Die Haciendas, die die Familie in der Umgebung von Caracas besaß, dienten bald vor allem dazu, nach kolonialer Tradition in den heißesten Monaten des Jahres auf dem Land Erfrischung zu suchen, oder boten frischvermählten Familienmitgliedern den romantischen und standesgemäßen Hintergrund für eine Hochzeitsnacht auf dem Weg nach dem Hafen von La Guaira, wo man sich für die Hochzeitsreise nach Europa einschiffte. 114 Weniger wirtschaftliche Interessen denn „ideelle" Motive hatten Ricardo Zuloaga 1926 zum Erwerb der Hacienda Mamo bewogen. Der um die Jahrhundertwende als Gründer der Elektrizitätsgesellschaft zu Vermögen gelangte Ingenieur erfüllte sich mit dem Kauf der Zuckerrohrplantage nicht zuletzt den Wunsch nach „standesgemäßem" Ersatz für den Besitz, den seine Vorfahren mütterlicherseits - die illustre Familie der Tovar - in den Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts verloren hatten. Bei seiner nostalgischen Rückwendung zu einer noblen Vergangenheit, so vermutet ein Biograph des erfolgreichen Unternehmers, sollen Ricardo Zuloaga außerdem die Gemälde seines Onkels, des berühmten Malers Martin Tovar y Tovar inspiriert haben, der um 1870 die Idylle des alten Landhauses der Tovar auf der Leinwand festgehalten hatte. 115 Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Leistungsdruck, der auf den bürgerlichen Aufsteigern lastete, merklich nachgelassen hatte, konnte die prosperierende Bourgeoisie ihr Augenmerk verstärkt darauf richten, ihren wirtschaftlichen Erfolg durch allerlei repräsentative Details zu unterstreichen. Aber obwohl der Landbesitz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen unangefochteten Prestigewert bewahrte, dem das zu Vermögen gelangte Bürgertum immer wieder erliegen sollte, fielen die rustikalen Gepflogenheiten des einst angesehenen Landadels in Wirklichkeit zunehmend dem Vergessen anheim. Die traditionelle Elite selbst hatte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts immer mehr einem verfeinerten städtischen Lebensstil verschrieben, für den der Landbesitz nur noch von zweitrangiger Bedeutung war. Daß der dandyhafte Müßiggang, den man einer europäisierten Großgrundbesitzerelite nachgesagt hat, auch in die Kreise reicher Kaufmannsfamilien vorgedrungen war, zeigte der Lebensstil von Salvador de Rivas Santana, der in den zwanziger Jahren als Vertreter der alten Handelsfirma „Santana Herma113 Veläsquez, Confidencias imaglnarias de Juan Vicente Gömez, a.a.O., S. 4 8 2 114 Interview mit Julio Velutini vom 8. 9. 1989 115 Röhl, Ricardo Zuloaga, a.a.O., S. 139 ff.

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nos" in Paris ein elegantes Junggesellenleben führte, in dem Restaurants und Nachtclubs, „Theaterpremieren, Pferderennen, renommierte Schneider und die literarischen Moden des Augenblicks" eine hervorragende Rolle spielten. 1 1 6 Im Gegensatz zu ihrem Ruf, „ungesellig wie ein Schatten und methodisch wie eine Obligation" zu sein, 1 1 7 entfalteten auch die Nachfahren protestantischer Einwanderer eine immer luxuriösere Lebensführung, legten mit monate- oder gar jahrelangen Europaaufenthalten einen feudal anmutenden Absentismus an den Tag und hatten sich ein ästhetizistisches Kulturideal zu eigen gemacht, das sie jedem bürgerlichen Materialismus immer weiter zu entheben schien. So überließ eine für die strenge Disziplin ihrer Unternehmensführung bekannte Kaufmannsfamilie wie die Boultons jedes Jahr ihre Geschäfte der Verwaltung anderer, um mehrere Monate auf Reisen in Europa zu verbringen - auf der Suche nach eben jenen „immateriellen" Werten der abendländischen Kultur, die Europa ebenso für die traditionelle kreolische Élite verkörperte. Nachdem sie um 1920 Rom, Florenz und Pompeji besucht hatten, „sagte Mama, daß wir, um an die Quellen der Zivilisation zu gelangen, nun nach Griechenland reisen müßten", erinnert sich Margot Boulton. 1 1 8 In dem gleichen Internat, das der junge Laureano Vallenilla Lanz und Felipe Casanova in Lausanne besuchten, hatten Alfredo und Andrés Boulton einige Jahre zuvor eine humanistische Bildung erhalten und sich auf Reisen in die Zentren europäischer Eleganz jene weltmännische Überlegenheit angeeignet, für die die Brüder in Venezuela bekannt wurden. 1 1 9 Bereits Alfredos und Andrés Onkel, der Handelsunternehmer Henry L. Boulton Rojas, hatte ein deutliches Gespür für jene Werte bewiesen, die den „Grandseigneur" vom „Erwerbsmenschen" unterscheiden und sich als 50jähriger von den Geschäften zurückgezogen, um als Privatier in seiner luxuriösen Villa an der Cöte d'Azur elegante Hobbys wie Malerei oder Rosenzucht zu pflegen. 1 2 0 Obwohl die Handelsbourgeoisie seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts auf einen immer „feudaleren" Lebensstil bedacht war, ließ sie sich dabei nicht nur von den Gepflogenheiten der traditionellen venezolanischen Elite leiten, auch wenn sie eine wachsende Neigung zu deren Ideal von distinguiertem Müßiggang an den Tag legte. 1 2 1 Zum viel bewunderten Vorbild hatte man inzwischen vielmehr die großbürgerliche Opulenz Europas erhoben, und die ausländischen Kaufmannsfamilien, deren Herkunft ihnen in allen Fragen kosmopolitischer Eleganz stets einen deut-

1 1 6 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 1 0 7 - 1 0 8 117 Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 158 1 1 8 Interview vom 10. 10. 1988 119 Interview mit Alfredo Boulton vom 7. 8. 1988 1 2 0 Interview mit Margot Boulton vom 10. 10. 1988; Interview mit Alfredo Boulton vom 16. 8. 1 9 8 8 121 Sieferle, a.a.O., S. 175

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liehen Vorsprung zu gewähren schien, wurden so ihrerseits zu Vorreitern des neofeudalen Lebensstils der europäischen Bourgeoisien. Um 1900 war der junge Hamburger Gustav Zingg von der Firma Christern & Co. nach Maracaibo verpflichtet worden und dreißig Jahre später zum alleinigen Besitzer des Unternehmens avanciert, einem der wichtigsten Handelshäuser der Region. Seine zwölf Kinder aus der 1907 geschlossenen Ehe mit Margarita Aranguren, die einer „sehr guten Familie aus Maracaibo" entstammte, sprachen zuhause zwar spanisch, wuchsen aber in einem Ambiente auf, das stark durch den engen Kontakt geprägt war, den die deutsche Handelskolonie von Maracaibo nach Deutschland hielt. In der drükkenden Hitze der Hafenstadt, die für ihre gefährlichen tropischen Fieber berüchtigt war, entfaltete die Bourgeoisie in ihren Villen am Seeufer den Luxus von „barocken Bronzelampen mit Kristalltropfen, die man aus Hamburg hergebracht hatte, Hutschenreuther Porzellan, feinen Tapeten aus Damast oder roter Seide, in Deutschland angefertigten Möbeln im Stil Ludwig XV, zwei Steinway-Flügeln" und einem Phonographen, der seinen Besitzern den kultivierten Genuß gewährte, den Puccini-Interpretationen Carusos zu lauschen. 122 Ebenso wie Gustav Zingg und andere deutsche Kaufleute den historisierenden, feudalen Geschmack der deutschen Gründerjahre am See von Maracaibo zu etablieren vermochten, waren wohlhabende ausländische Handelsfamilien auch in Caracas bei der Verbreitung einer neuen Wohnkultur wegweisend vorangegangen. Viele Jahre lang galt der distinguierte Lebensstil, den die Familie Boulton in ihrer schloßartigen Villa Las Acacias pflegte, in der Hauptstadt als tonangebend, und man schreibt der reichen Kaufmannsfamilie die Einführung eleganter Details wie der Gepflogenheit des five o'clock tea zu. 123 Daß ihr Bestreben, sich feudaler Statussymbole zu bemächtigen, auf das Vorbild der europäischen Bourgeoisien zurückging, offenbarte sich am deutlichsten wohl an den ganz am bürgerlichen Neoklassizismus der europäischen Jahrhundertwende inspirierten Villen von El Paraíso. Zu der aristokratischen Repräsentativität dieser Häuser trug nicht nur der historisierende Stil der Fassaden mit ihren Säulenportalen, Türmchen, Erkern und Zinnenwerk bei. In den mit Möbeln im Stil Louis-quatorze, mit Teppichen, Gobelins, hellenisierenden Skulpturen und goldgerahmten Gemälden ausgestatteten Palais der Boulton, Phelps oder Zuloaga wies alles auf den Distinktionswert hin, den diese „bürgerlichen Dynastien" der Geschichte beimaßen. 124 Vom neofeudalen Lebensstil des europäischen Großbürgertums inspiriert, hatte die venezolanische Bourgeoisie auch die Liebe zu den Schönen Künsten zum Zeichen von gesellschaftlicher Vornehmheit erhoben und „mäzenatische Ambitio-

122 Interview mit Arnold Zingg vom 8. 9. 1989 123 Interview mit José Antonio Giacopini Zärraga vom 5. 9. 1988; El Universal 1. S. 1914 124 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 137

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nen" entwickelt. 125 So machte John Boulton sich zum Förderer vielversprechender venezolanischer Künstler wie dem Landschaftsmaler Manuel Cabré, dessen Ausbildung in Paris er finanzierte. Von Cabré in Frankreich beim Kauf beraten, legte der vermögende Kaufmann sich eine für Venezuela außergewöhnliche Kollektion französischer Impressionisten zu. 126 Als Kunstsammler hatte schon Carlos Zuloaga von sich reden gemacht, dessen bedeutende Sammlung venezolanischer Maler des 19. Jahrhunderts 1908 bei dem Brand seines Hauses in El Paraíso verlorengegangen war. 1 2 7 Auch Enrique Arvelo trat als großzügiger Kulturfreund auf, und die Gesellschaftsseiten der hauptstädtischen Presse berichteten 1930 voller Anerkennung von dem eleganten Champagnerumtrunk, zu dem er zusammen mit seiner Frau zu Ehren einer in Caracas gastierenden spanischen Theaterschauspielerin in seiner Villa in El Paraíso geladen hatte. 128 Stellte sich ihr Lebensstil also einerseits als Ergebnis bürgerlichen Leistungs- und Fortschrittsdenken dar, so hatte die etablierte Bourgeoisie andererseits längst begonnen, sich einen Anstrich von schöngeistiger Erhabenheit über das rein Materielle zu geben. „1932 kamen die jungen Alfredo und Andrés Boulton Pietri zu einer Lehrzeit nach Puerto Cabello. (...) Von Anfang an merkte ich, daß die beiden eine grundsätzlich unterschiedliche Lebenseinstellung hatten. Während für Andrés die Arbeit ein ,Hobby' war, sozusagen seine liebste Zerstreuung, betrachtete Alfredo die Arbeit als eine Pflicht, der er nachkam, um ohne finanzielle Sorgen seinen künstlerischen und kulturellen Interessen zu frönen." 129 In den folgenden Jahren sollte Alfredo Boulton als Mäzen und Kunstkritiker von internationalem Ruf zum Förderer vieler der später bedeutendsten Vertreter der zeitgenössischen venezolanischen Malerei werden und als Fotograf selbst künstlerischen Ruhm erringen. 130 Die scheinbar so gegensätzlichen Lebensstile der beiden Brüder, von denen der eine die Arbeit und der andere die Kunst zum Lebensinhalt gemacht hatte, verkörpern in Wahrheit zwei Seiten ein und derselben Medaille: das unternehmerische Leistungs- und Fortschrittsdenken, das die Bourgeoisie als „Meritokratie" ausweist, die ihren Erfolg der Effizienz zu verdanken hat, und jener von überlieferter kultureller Verfeinerung sprechende Kunst- und Schönheitssinn, der ihr gesellschaftliche Distinktion verleiht. Während die venezolanische Bourgeoisie, ähnlich wie die europäische, immer deutlicher zu einer neofeudalen Lebenssführung hinzuneigen schien, war die tra-

125 126 127 128 129 130

Bentmann/Müller, a.a.O., S. 121 Interview mit Alfredo Boulton vom 16. 8. 1988 El Cojo Ilustrado 15. 9. 1908 Billiken 3. 12. 1930 Gerstl, a.a.O., S. 231-232 Museo de Arte Contemporáneo de Caracas, Homenaje a Alfredo Boulton. Una visión integral del arte venezolano, Caracas 1987

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ditionelle Oberschicht von den Leitbildern einer neuen Zeit ihrerseits nicht unbeeinflußt geblieben. Im „aristokratischen Club Paraíso", so berichtete die Zeitung El Heraldo 1927, stand Andrés Boulton bei einem Tennistournier dem Großgrundbesitzerssohn Carlos Ibarra gegenüber. Unter den Zuschauern dieses sportlichen Ereignisses befand sich die „Crème der Gesellschaft von Caracas" - d. h. im Sprachgebrauch jener Jahre die traditionelle Elite - , während „die ausländische Kolonie durch hohe Persönlichkeiten des Bank- und Handelswesens glanzvoll vertreten war". Nach dem Spiel machte „eine bis zum Rand mit Champagner gefüllte Copa Venezuela" die Runde, während die Anwesenden den eloquenten Worten lauschten, die ein Redner für den Sport als Wegbereiter von „Zivilisation und Fortschritt" fand. 131 Die um die Jahrhundertwende aufkeimende Sportbegeisterung, die bislang als Zeichen bürgerlichen Wettbewerbsdenkens interpretiert worden ist, war keineswegs das Monopol der Bourgeoisie, sondern erweist sich vielmehr als eines der kulturellen Bindeglieder, die die traditionelle und die neue Elite immer enger zusammenführten. Angehörige der ältesten kreolischen Familien waren auch an der Einführung des Baseball aktiv beteiligt gewesen, und um 1910 hatten die Söhne reicher Kaufleute wie Ricardo Sanabria Boulton oder Alberto Winckelmann mit „Aristokraten" wie Esteban und Bartolomé Palacios Blanco oder José Loreto Arismendi in gemeinsamen Mannschaften gespielt. 1 3 2 Derweil errangen ihre Schwestern Erfolge auf dem Tennisplatz oder gaben sich, wie Finita Vallenilla Lanz oder Tatana Troconis, als Automobilfahrerinnen ein modernes, sportliches Image. 1 3 3 Zunehmend in der Kultur der europäisierten Städte aufgegangen, mochte sich die traditionelle Elite dem fortschrittsbetonten Lebensstil eines neuen Zeitalters keineswegs verschließen. In einer Ansprache anläßlich der glanzvollen Einweihung eines neuen „Stand de Basse-Ball" (sic!) verlieh José Gil Fortoul 1917 der Hoffnung Ausdruck, die eine gebildete Oberschicht in einem als rückständig empfundenen Land wie Venezuela mit dem Sport verband: „(...) wir wären keine Freunde des sport, wenn wir nicht jeden Tag mit eleganten Gesten kraftvolle Übungen vollbrächten. (...) Statt anämischer Körper mit schwachen Nerven und von Malaria verseuchten Venen werden wir hier bewegliche und gesunde Körper sehen und bewundern, in deren Sehnen ein entschlossener Wille vibriert." 134 Deutlich ist in dieser „hygienistischen" Einschätzung von Sport der Einfluß des seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Lateinamerika verbreiteten Positivismus zu spüren, der als Wegbereiter 131 El Heraldo 30. S. 1927 132 Díaz Rangel/Becerra Mijares, a.a.O., S. 32 133 Vallenilla Lanz, Esaito de memoria, a.a.O., S. 60; Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 1 0 5 - 1 0 8 134 Gil Fortoul, in: El Sport en Venezuela 30. 9. 1917

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wissenschaftlicher Vernunft eine Vielzahl von Problemen zu lösen versprach, die sich dem Fortschritt des Kontinents bislang in den Weg gestellt hatten. Mit dem Soziologen und Historiker Gil Fortoul, einem der bedeutendsten Vertreter des lateinamerikanischen Positivismus, hatte eine neue Generation venezolanischer Denker begonnen, die Ursachen für die Rückständigkeit ihres Landes einer rationalen Analyse zu unterziehen, und aus ihrer Sicht stellte sich der Sport als Instrument des zivilisatorischen Fortschritts, als Wegbereiter von Leistungswillen und körperlicher Gesundheit dar. Der kulturelle Anspruch der traditionellen Elite, der ihre Söhne in der Regel zumindest für einige allgemeinbildende Jahre an die Universität führte, hatte gerade diese Gruppe in einen besonders engen Kontakt mit den Theorien des europäischen Positivismus gebracht. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten Universitätslehrer wie Rafael Villavivencio oder der deutsche Adolf Ernst dem venezolanischen Wissenschaftsbetrieb eine positivistische Ausrichtung gegeben, und unter den Studenten, die sich unter ihrer Anleitung modernen empirischen Wissenschaften wie der Anthropologie, Geographie, Botanik oder Biologie widmeten, befanden sich nicht wenige Nachfahren der vornehmsten venezolanischen Familien. 135 Besonderes Interesse zeigten die Schüler der Positivisten für die Errungenschaften der modernen Medizin, auf die in einem Land, das von Tuberkulose, Mageninfektionen, Syphilis und Malaria heimgesucht wurde, große Aufgaben warteten. Zu den neuen Männern des medizinischen Fortschritts, die traditionsreiche Namen trugen, gehörte unter anderem Juan Iturbe. Nachdem er sein Examen an der Universidad Central abgelegt und seine Studien in Berlin vervollständigt hatte, eröffnete Iturbe in Caracas eine erfolgreiche Privatklinik, mit der er nicht nur medizinischen Ruhm, sondern auch großes gesellschaftliches Ansehen errang. 136 Der bekannte Arzt durfte sich außerdem rühmen, einer der ersten Besitzer eines Automobils zu sein, mit dem er sich regelmäßig auf der Promenade von El Paraíso sehen ließ. 137 Sohn einer reichen Großgrundbesitzerfamilie aus dem Andenstaat Táchira war Samuel Dario Maldonado, der nach seinem Examen in Valencia/Venezuela und anschließenden Studien in den Vereinigten Staaten und Deutschland um 1900 als wandernder Arzt die venezolanische Provinz bereiste, wo er, wie sein Sohn heute berichtet, „viel Geld" verdiente. Wie es für die Generation dieser Ärzte charakteristisch war, gingen die wissenschaftlichen Interessen von Maldonado weit über 135 Beltrán Guerrero, Luis, Introducción al positivismo venezolano, in: Historia de la cultura en Venezuela, Instituto de Filosofía, Facultad de Humanidades y Educación, Universidad Central de Venezuela, Bd. II, Caracas 1956, S. 205 ff. 136 El Cojo Ilustrado 15. 10. 1908; Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 591 137 Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 19, 33

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die Medizin hinaus. Außer historischen Studien veröffentlichte er um 1910 eine „Verteidigung der venezolanischen Anthropologie". Unter der Regierung von General Gómez zunächst Erziehungsminister und dann als Leiter des von ihm gegründeten Gesundheitsamtes Pionier im Aufbau eines öffentlichen Gesundheitswesens, konnte Maldonado seine anthropologischen Forschungen über die indianischen Ureinwohner Venezuelas vor Ort weiterführen, als er in den zwanziger Jahren Gouverneur des von der Zivilisation noch weitgehend unerschlossenen Amazonas-Territoriums und später des Bundesstaates Delta Amacuro wurde, der unberührten Region des Orinocodeltas. 138 Gouverneur von Aragua und Präsidentschaftssekretär war indessen ein anderer Arzt, der aus Carúpano stammende Dr. Rafael Requena, der am See von Valencia/Venezuela archäologische Ausgrabungen durchgeführt hatte, die er in einer Publikation von 1932 gar mit den „Spuren von Atlantis" in Verbindung brachte. 139 Seit dem vorigen Jahrhundert pflegten überall in Lateinamerika die Großgrundbesitzerssöhne die Universitäten zu durchlaufen und waren so zu den Ärzten, Anwälten, Ingenieuren und Bürokraten der europäisierten Städte geworden. 140 Ihre Bildung hatte Angehörige der traditionellen Elite auch unter der Regierung von General Gómez in die Nähe der politischen Macht gerückt, und nicht wenige wußten ihre Tätigkeit als Ärzte, Rechtsanwälte oder Journalisten nicht nur mit wissenschaftlichen Interessen, sondern auch mit politischen Aktivitäten zu verbinden. Einige dieser allseitig gebildeten „Doktoren" - wie man sie respektvoll zu nennen gewohnt war, selbst wenn sie keinen akademischen Doktorgrad besaßen sollten großen Einfluß in der Umgebung des Präsidenten erlangen. Ähnlich wie es in Mexiko bei der berühmten Gruppe der Científicos, der sog. „Wissenschaftler", der Fall gewesen war, die dem Diktator Porfirio Díaz um die Jahrhundertwende zur Seite gestanden hatten, wurden Männer wie Pedro Arcaya, José Gil Fortoul, Laureano Vallenilla Lanz sr. oder Rafael Requena zu Mitarbeitern und Ideologen des Gómez-Regimes. Angesichts dieser unrühmlichen Nähe zur Diktatur haben venezolanische Historiker später immer wieder den Vorwurf erhoben, daß der Positivismus, der sich in den Zeiten von Guzmán mit dem Ziel etabliert habe, „eine objektive und wissenschaftliche Diagnose unserer Gesellschaft zu stellen", schließlich zu einer „Ideologie im Dienste von Gómez" verkommen sei. 141 Aber wie Laureano Vallenilla Lanz sr. 1919 in seinem positivistischen Hauptwerk „Demokratischer Cäsarismus" dar-

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M a l d o n a d o , S a m u e l Darío, Obras varias, Caracas 1 9 6 0 ; F u n d a c i ó n Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 7 9 4 ; Interview m i t Iván Dario M a l d o n a d o v o m 16. 6. 1 9 8 9 Velásquez, C o n f i d e n c i a s imaginarias de J u a n V i c e n t e G ó m e z , a.a.O., S. 5 0 3 ; Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 6 5

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ßurns, a.a.O., S. 7 5

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P i n o Iturrieta, i n : ders. et al., a.a.O., S. 157

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legte, glaubten die Doctores gute Gründe für ihre kooperative Haltung gegenüber einem Regime zu besitzen, dessen Autoritarismus nach einem Jahrhundert politischer u n d kriegerischer Wirren erstmals die Grundlagen für eine solide politische O r d n u n g schuf. „Ich unterstütze die derzeitige Regierung Venezuelas (...)", erklärte Vallenilla Lanz, „weil sie u m jeden Preis den Frieden schafft u n d aufrechterhält u n d auf diese Weise das Land überhaupt erst darauf vorbereitet, den Bedürfnissen der jungen Republiken unseres Kontinents gerecht zu werden, die mit ihren wüsten Landschaften sowie ihrer zahlenmäßig geringen u n d heterogenen Bevölkerung n o c h der Sitten, Ideen u n d Fähigkeiten entbehren, u m die fortgeschrittenen Prinzipien zu erfüllen, die in unseren geschriebenen Verfassungen niedergelegt wurden."142 Es war also keineswegs ein Zufall, daß die Comtesche Devise v o n „Ordnung u n d Fortschritt" zum Motto des gomecismo wurde: Die positivistische Analyse der hindernisreichen venezolanischen Entwicklung war zu dem scheinbar paradoxen Schluß gelangt, daß ein Regime, das das geschriebene Gesetz mit offensichtlicher Willkür behandelte, den „rationalsten" Ausweg aus dem Rückstand bot. W e n n auch zunächst ein Patriarch wie Gómez die O r d n u n g mit „irrationalen" Mitteln erzwingen mußte, zweifelte m a n entsprechend der evolutionistischen Überzeugungen des Positivismus nicht daran, daß sich auf diese Weise der Respekt für die Vernunft u n d die Gesetze, die sie repräsentierten, auf die Dauer etablieren werde. Doch obwohl die europäisierten Nachfahren der vornehmsten venezolanischen Familien sich u n t e r dem Einfluß des Positivismus seit dem 19. J a h r h u n d e r t als gebildete Wegbereiter des zivilisatorischen Fortschritts verstanden, waren sie deshalb keineswegs gewillt, sich gänzlich dem nivellierenden Geist des Rationalismus zu verschreiben. Der Positivist José Gii Fortoul, dem General Gómez h o h e öffentliche Ämter u n d 1913 - allerdings aus rein formellen G r ü n d e n - sogar für kurze Zeit die Präsidentschaft übertrug, gefiel sich in der Rolle des eleganten sportman u n d Kunstliebhabers u n d machte nicht nur als Historiker, sondern auch als schöngeistiger Literat v o n sich reden. 1 4 3 Der Großgrundbesitzerssohn aus der Provinzstadt El Tocuyo im Bundesstaat Lara, der als Diplomat jahrzehntelang in Europa gelebt hatte, „spanisch mit ausländischem Akzent sprach" u n d seinen Zeitgenossen „in Umgangsformen, Gepflogenheiten u n d Kleidung einem britischen Aristokraten" zu gleichen schien, 1 4 4 wußte in wohlgesetzen Worten von jener kulturellen Noblesse zu sprechen, die - wie er selbst es formulierte - den „erhabenen Men-

142 Vallenilla Lanz, Laureano, Cesarismo democrático. Estudios sobre las bases sociológicas de la constitución efectiva de Venezuela, Caracas 1990. Vgl. auch: Sosa A., Arturo, Ensayos sobre el pensamiento político positivista venezolano, Caracas 1985, S. 28 143 Osorio T., Nelson, La formación de la vanguardia literaria en Venezuela. Antecedentes y documentos, Caracas 198S, S. 179 144 Polanco Alcántara, a.a.O., S. 19-20; Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 68-69

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sehen" kennzeichnet: „Kultur zu erlangen, bedeutet Gefühle und Ideen zu verfeinern, im Umgang mit den Menschen die Güte und die Gerechtigkeit auf den Thron zu erheben, die Schönheit zu lieben, die Kunst zur Vollkommenheit zu führen, eine Landschaft zu genießen, mit den Augen und mit dem Herzen der Silhouette einer schönen Frau zu folgen, dem Lächeln einer sich öffnenden Blume zuzulächeln (...) und mit dem tröstenden Gedanken zu sterben, großzügig und nützlich gewesen zu sein." 1 4 S Mit seinen literarischen Texten, Literaturkritiken und historischen Studien, die ihn über Jahrzehnte zu einer beherrschenden Figur des venezolanischen Kulturlebens machten, verkörperte Gil Fortoul in jeder Hinsicht die für seine Generation charakteristische Verbindung von aristokratisch verfeinertem Ästhetizismus und positivistischem Fortschrittsdenken. Selbst die Hacendados der wirtschaftlich weniger begünstigten Regionen des Landesinneren gründeten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihr lokales Prestige zunehmend auf die eleganten Attribute eines am europäischem Vorbild orientierten Zivilisationsideals. Die Bürgerkriege und die Malaria hatten im 19. Jahrhundert die venezolanischen Llanos, die ausgedehnten Viehzuchtgebiete im Herzen des Landes, in Armut gestürzt. Aber so bescheiden ihr Lebensstandard oft auch sein mochte, die Hacendados neigten immer deutlicher dazu, ihre überlieferte regionale Führungsposition im Namen des Fortschritts zu beanspruchen. Bis sein Arztberuf ihm einen gewissen Wohlstand einbrachte und die Familie 1920 nach Caracas zog, hatte Julio de Armas auf seinen Ländereien im Bundesstaat Guärico in einem einfachen Haus mit Palmdach und Lehmboden gelebt. Angesichts der schwierigen Lebensbedingungen in den Llanos, wo „niemand dem Malariafieber und den Darmparasiten entkam", genoß er als Landbesitzer und Arzt, der zudem auf seiner finca eine Apotheke betrieb, großes Ansehen in seiner Region. Aber sein Sohn meint nicht nur die wegweisende Rolle des Landarztes, wenn er in einem Interview Julio de Armas als eine der „gesellschaftlichen Führerfiguren" jener Zeit bezeichnet und dabei auf Fotografien des Jahrhundertanfangs weist, auf denen sein Vater inmitten einer Gruppe von Herren mit schwarzem Überrock und Fliege zu sehen ist - Fotografien, die durch nichts verraten, daß sie im „rückständigen" venezolanischen Landesinneren und nicht in Europa aufgenommen worden sind. Bilder wie diese sprechen von der elitären zivilisatorischen Mission, die die Provinzhonoratioren bei feierlichen „Banketten und Ansprachen" für sich in Anspruch nahmen und die in vielen bedeutungsvollen Details ihres täglichen Lebens ihren Niederschlag fand. So brachten die de Armas von ihren regelmäßigen Reisen nach Caracas nicht nur Kleidung, Bücher oder Zeitschriften mit, sondern erstanden ebenfalls ein Grammophon, das es ihnen gestattete, in ihrer ländlichen Abgeschiedenheit Opernmusik zu hören und somit ein Vergnügen zu genießen, 145

El Nuevo Diario

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von dem sie wußten, das sie es mit den „zivilisierten Eliten" in aller Welt teilten. In einer beschwerlichen Reise von 22 Tagen gelang es Julio de Armas zudem, eines der ersten Automobile in die Region zu bringen, mit dem er fortan zu seinen Krankenbesuchen fuhr. So kündigte sich eine erfolgreiche Laufbahn an, die Julio de Armas in späteren Jahren über seine Praxis in Caracas als persönlichen Arzt des Präsidenten nach Maracay führen würde. 146 Angesichts der kritischen Lage, in der sich die Landwirtschaft im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert befand, ist es in der Tat schwierig, unter den Großgrundbesitzern Venezuelas reale Verkörperungen jener in verschwenderischem Luxus lebenden Dandies auszumachen, die die lateinamerikanische Literatur bevölkern und die auch in die Geschichtsschreibung vorgedrungen sind. 147 Die traditionelle Elite befand sich vielmehr in einer schwierigen Phase des Umbruchs, und viele der Nachfahren vornehmer kreolischer Familien konnten ihre finanzielle Lage erst verbessern, als sie sich von der Landwirtschaft abwandten und sich neuen Berufen widmeten. Zu einer Zeit, als der Besuch einer höheren Schule noch das Privileg einiger weniger war, konnte die Bildung, die sie sich auf Schulen und Universitäten aneigneten, einen Ausweg aus der verzweifelten wirtschaftlichen Lage bieten, in der sich viele Großgrundbesitzer vor allem in der Provinz befanden. Nachdem seine Familie um 1900 ihre Ländereien in der Nähe von Coro „für einen sehr geringen Preis" hatte verkaufen müssen, konnte Pedro Manuel Arcaya, Doktor der Rechtswissenschaften und von Gómez zwei Mal in das Amt des Innenministers berufen, einige Jahre später den verlorenen Familienbesitz zurückerwerben. 1 4 8 Seine Bildung hatte ebenfalls dem aus einer angesehenen, aber verarmten Hacendadofamilie stammenden José Gii Fortoul zu einem finanziellen Neuanfang verholfen - ebenso wie den Vallenilla Lanz, deren einst blühende Ländereien in der Gegend von Barcelona/Venezuela um 1900 „mit Hypotheken belastete Stoppelfelder" waren. 149 Während die venezolanischen Hacendados des Landesinneren um die Jahrhundertwende also in recht bescheidenen Verhältnissen lebten und ihre Lage erst allmählich durch neue Tätigkeiten verbessern konnten, hatte ihre prekäre finanzielle Situation auch dem angeblich feudalen Lebensstil der traditionellen Elite von Caracas deutliche Grenzen gesetzt. Die hauptstädtische Kolonialaristokratie war bereits 1814 bei der berühmten „Flucht in den Osten" zerstreut worden, als der für seine Grausamkeit berüchtigte Venezolaner Boves seine Ilaneros im Namen der spanischen Monarchie nach Caracas führte. 150 Die Aristeguieta zum Beispiel, die 146 Interview mit Julio de Armas jr. vom 16. 6. 1989 147 Romero, José Luis, a.a.O., S. 2 6 2 1 4 8 Arcaya, Pedro Manuel, Memorias, Caracas 1983, S. 9 - 1 0 149 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 7 150 Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. 4 3 8 ff.

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große Plantagen in der Kakaoregion des Barlovento ihr eigen nannten und im 18. Jahrhundert zu den wohlhabendsten Familien des Landes gehörten, hatten in den Unabhängigkeitskriegen ihren gesamten Landbesitz verloren. Die beiden Zweige der Familie, die nach der „Flucht nach Osten" in Cumanâ und Ciudad Bolivar wiedererstanden, widmeten sich dem Handel, der Politik oder wurden nach alter Familientradition Priester. Zu Beginn dieses Jahrhunderts besaß Francisco Aristeguieta Sucre in Cumanâ eine kleine Tabakmanufaktur, aber seine finanzielle Situation war alles andere als glanzvoll. Sein Sohn, der sich dem Vertrieb der väterlichen Zigarren und anderen Handelsgeschäften widmete, heiratete in Puerto Cabello die Tochter des wohlsituierten österreichischen Kaufmanns Alberto Gramcko. Als seine in der Hafenstadt Puerto Cabello aufgewachsenen Enkel 1938 zum ersten Mal den Großvater väterlicherseits in Cumanâ besuchten, waren sie schockiert von dem Rückstand, den sie in der Provinzstadt vorfanden. Die vornehmsten Familien, durch vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden, trugen traditionsreiche Namen wie Berrizbeitia, Bermüdez, Guillén oder Madriz, aber es gab „wenige Häuser, die fließendes Wasser oder ein modernes Badezimer besaßen, und außer der einen oder anderen Kinovorstellung gab es keine Vergnügungen außer den häuslichen Zusammenkünften, wo man sich wie in alten Zeiten mit Gesprächen zerstreute." 151 Die Familie Lovera hatte bei der „Flucht nach Osten" zwei Drittel ihrer Angehörigen verloren, aber sie besaß zu Beginn dieses Jahrhunderts noch kleinere Ländereien im Staate Aragua, die Gabriel Lovera Loreto von Camatagua aus verwaltete. Seine Familie hatte sich dort mit einem Handelshaus niedergelassen, bis sie 1914 vor der Malaria die Flucht in das höher gelegene Caracas ergriff. Als Besitzer mehrerer Textilgeschäfte, eines Juwelierladens, der berühmten Bar La Glacière und einer kleinen Brauselimonadenfabrik, konnte Lovera in der Hauptstadt allmählich wieder „standesgemäßen" Wohlstand erlangen, bis die Weltwirtschaftskrise ihn in den Ruin führte und sein Sohn Virgilio, der - wie dieser in einem Interview erzählt - bislang von einem Chauffeur im Automobil in die Schule gefahren worden war, auf eine öffentliche Schule wechseln mußte. Die Familie Lovera sah sich zudem mit politischen Schwierigkeiten konfrontiert, als einer ihrer Söhne wegen seiner Teilnahme an dem Studentenaufstand von 1928 zu zwei Jahren Festungshaft in Puerto Cabello verurteilt wurde. Vermochte ihre Bildung die Doctores in die Nähe der politischen Macht zu rücken, konnten die intellektuellen Interessen der Generation ihrer Söhne diese in die Opposition führen. So waren die älteren Brüder von Virgilio Lovera in ihrer Jugend nicht nur begeisterte Leser von Walt Whitman oder der französischen Symbolisten, sondern kannten auch russische Autoren 151

Interview m i t G u s t a v o Aristeguieta G r a m c k o v o m 11. 6. 1 9 8 9

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wie Andreev oder Gorki und bewiesen großes Interesse für die revolutionären Ereignisse in Rußland und Mexiko. 152 Während die Gegner der Regierung von General Gómez oft Jahrzehnte im Exil oder im Gefängnis verloren und - wie die Lovera - erst nach dem Tod des Diktators an der Neuverteilung der politischen und wirtschaftlichen Macht teilhaben sollten, hatten andere schon früher den Grundstein für eine solide Karriere gelegt und dabei wenig „feudale" Vorurteile gegenüber lukrativen Handelsgeschäften gezeigt. So berichtet Otto Gerstl, über Jahrzehnte leitender Angestellter der Firma Boulton und mit der venezolanischen Handelswelt vertraut, in seinen Memoiren: „Was Raimundo Aristeguieta betrifft, heute mein guter Freund und Golfpartner, so lernte ich ihn zwischen La Guaira und Maracaibo an Bord eines Dampfers kennen, als er mir eine Kollektion von Stoffen von Benzecry und Menmergui zeigte (...). Er hat eine herausragende Karriere als Kaufmann, Industrieller und Bankier gemacht." 1 5 3 Während die Weltwirtschaftskrise für viele, die einer ineffizienten Landwirtschaft verhaftet geblieben waren, den Bankrott bedeutete, kündigte sich in den zwanziger Jahren gleichzeitig ein noch nicht dagewesener Wirtschaftsaufschwung an. Vor allem der von den Öldevisen genährte Handelsboom bot die Gelegenheit zu allzu einträglichen Geschäften, als daß die traditionelle Elite sich hätte ausschließen mögen - die sich bei ihren neuen Handelsunternehmungen zudem die Tatsache zunutze machen konnte, daß „ein traditionsreicher Name vieles leichter machte." 1 5 4 Gerade die jüngere Generation mochte dabei, wie von Gallegos an der Romanfigur des Jaimito del Casal beschrieben, zuweilen der Versuchung erliegen, ihrem Einstieg in die moderne Geschäftswelt einen Hauch von aristokratischem chic zu geben. Wie er und seine Freunde ihre unternehmerischen Pflichten mit eleganten Vergnügungen zu verbinden wußten, hat Alfredo de la Sota y Urbaneja geschildert, der 1929 Mitbegründer einer Firma war, die nordamerikanische Autos der Marke Hupmobile importierte. „Der Hupmobile kostete dasselbe wie der Buick, aber er war kompakter und aus einem wundervollen Material. Wenn eine Sendung dieser Automobile in Puerto Cabello ankam, bildete sich eine Gruppe, die aus Juan [Lopez de Ceballos], den Guzman Bianco, José Antonio und Luis Alberto Olavarria bestand. (...) Wir übernahmen dann die Rolle der Chauffeure, die diese Fahrzeuge in die Hauptstadt brachten." 155 152 Interview mit Virgilio Lovera vom 19. 6. 1989. Nach dem Studentenaufstand von 1928 befand sich auch Ivan Dario Maldonado, Sohn des Gömez-Ministers Samuel Dario Maldonado, unter den politischen Gefangenen, die mit Schaufel und Spitzhacke „Fronarbeit" im Strassenbau leisten mußten, bis sein Vater seine Freilassung erwirken konnte und Ivan für einige Jahre nach Deutschland schickte. Interview mit Ivan Dario Maldonado vom 16. 6. 1989 153 Gerstl, a.a.O., S. 9 9 154 So Virgilio Lovera in einem Interview vom 19. 6. 1989 155 Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 166

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Auch wenn der Import von Automobilen zu dem dandyhaften Lebensstil zu passen schien, zu dem die Nachfahren der vornehmsten venezolanischen Familien in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine deutliche Neigung bewiesen, mußten derartige Handelsgeschäfte nicht ohne konkreten wirtschaftlichen Erfolg bleiben. Von der Hacienda seines Vaters kommend, trat Augustin Nüfiez Valarino eine Stelle in dem für seine Zeit wegweisenden modernen Handelshaus des Nordamerikaners Phelps an, um bald darauf ein erfolgreiches eigenes Unternehmen zu gründen, das Automobile und Lastwagen importierte. Einer seiner Geschäftspartner war Juan Bautista Arismendi, der 1920 aus Europa zurückgekehrt war, nachdem er dort sein Abitur abgelegt und einige Semester Medizin studiert hatte. Ein Vierteljahrhundert später etablierte Arismendi, der seine geschäftliche Karriere ebenfalls als Angestellter von William H. Phelps begonnen hatte, „eine der ersten Automontagefabriken des Landes". 156 Auch mit dem Städtebauer Juan Bernardo Arismendi Lairet oder dem als Rechtsanwalt der ausländischen Ölgesellschaften zu Vermögen gelangten Dr. José Loreto Arismendi Arismendi erstand aus den verschiedenen Zweigen einer der einst vornehmsten Familien des kolonialen Caracas eine neue, dynamische Generation, die in immer engere Verbindung zu der nationalen und internationalen Unternehmerwelt trat. 157 Als das wohl greifbarste Ergebnis der Annäherung, ja der Verschmelzung, die alte und neue Eliten nicht nur auf geschäftlicher Ebene, sondern auch in ihrem Lebensstil vollzogen, kann der 1929 gegründete Country Club gelten. Angehörige der Familien Vaamonde, Phelps, Machado, Brandt und Arismendi hatten am Rande von Caracas die Ländereien der alten Hacienda Blanditi gekauft und nordamerikanische Landschaftsarchitekten mit der Gestaltung eines weitläufigen Wohn- und Freizeitareals beauftragt, das der erfolgreichen neuen Unternehmerschaft Raum für einen zeitgemäßeren Lebensstil bieten sollte. 158 Mit eleganten Villen, die um ausgedehnte Golfplätze angesiedelt waren, und einem Clubhaus, in dem die Mitglieder am swimming-pool oder zum Bridgespiel zusammenkamen, stellte das nach außen durch Eingangskontrollen streng abgegrenzte Gelände des Country Club eine Enklave jenes an internationalen Maßstäben orientierten Lebensstandards dar, dem sich das seit dem 19. Jahrhundert prosperierende Großbürgertum, aber auch immer mehr Angehörige der traditionellen Elite verschrieben hatten. Indessen hatten auch die konservativeren alten Familien, aus deren traditionsbewußter und sittenstrenger Sicht das mondäne Ambiente des Country Club anfänglich Mißtrauen erweckte, längst bewiesen, daß sie die Voraussetzungen mitbrachten, um sich einem neuen, leistungsorientierten Zeitalter anzupassen. An einer 156

Ebd., S. 1 0 0 - 1 0 2

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Vallenilla I.anz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 3 7 8

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Es h a n d e l t e sich um das Hüro des r e n o m m i e r t e n L a n d s c h a f t s a r c h i t e k t e n Frederick O l m s t e d , der den New Yorker Central Park e n t w o r f e n hatte. Vgl. Mérola R o s c i a n o , a.a.O., S. 1 2 6

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altvaterischen Disziplin hielt der 1870 geborene Vicente Lecuna fest, der gegen Ende des Jahrhunderts seine Laufbahn als Ingenieur im Eisenbahnbau begonnen hatte und seit 1915 Präsident des Banco de Venezuela war. „Doktor Lecuna steht morgens um fünf Uhr auf und macht einen Spaziergang durch den Park von El Calvario, von wo er zurückkehrt, um um sieben Uhr zu frühstücken. Eine halbe Stunde später geht er zu Fuß zur Bank, im hellgrauen Anzug und mit einem feinen Panamahut. In seinem Haus wird um halb eins zu Mittag gegessen und um sechs das Abendessen eingenommen. Nicht eine Minute früher oder später." 159 Der historisch interessierte Bankier, der sich um den Aufbau des Simön-BolivarArchivs und die Restauration des zur Ruine verfallenen Hauses des Befreiungshelden verdient machte, trat in jeder Hinsicht als ein Mann auf, der jene von Generation zu Generation überlieferten Werte zu bewahren suchte, in deren Geist die Nachfahren der traditionsreichsten venezolanischen Familien erzogen wurden: „Verantwortung, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Arbeit und Aufrichtigkeit." 160 Wer wie Lecuna die vornehme Schlichtheit der kolonialen Vorfahren aufrechterhielt, vermochte sich nicht nur der wirtschaftlichen Dekadenz zu widersetzen, die viele der ältesten, kreolischen Familien bedrohte, sondern grenzte sich auch gegenüber dem prätentiösen Glanz neuerer Vermögen ab. Auch 1936 wurden vertraute Besucher von Don Vicente, wie Laureano Vallenilla Lanz jr. berichtet, nach wie vor eingeladen, sich in Schaukelstühlen im corral niederzulassen, dem im hintersten Bereich des kolonialen Hauses gelegenen Wirtschaftshof. „Dort stehen immer noch die Avocadobäume meiner Kindheit und an der Seite der zementene Waschtrog. Ein Dienstmädchen bietet uns große Gläser mit guanäbana-Sait an, wie Lecuna 161 meint, ,die beste Erfrischung der Welt'." Mochte das Festhalten an den altehrwürdigen Gepflogenheiten ihrer Vorväter gelegentlich auch nur der wachsenden wirtschaftlichen Misere einst vornehmer Familien einen letzten Glanz von Standesstolz verleihen, so konnte sich in anderen Fällen ein traditionsbewußter Lebensstil demnach mit einem erfolgreichen Einstieg in die moderne Finanz- und Handelswelt verbinden. Sei es die patriarchalische Disziplin der Generation ihrer Väter, sei es der Ehrgeiz der Söhne, die alte Rückständigkeit abzuschütteln und an den Errungenschaften des Fortschritts teilzuhaben - im Widerspruch zu dem Ruf von wirtschaftlicher Irrationalität, der den Nachfahren der alten Großgrundbesitzerelite anhaftete, hatten diese sich den ökonomischen Gegebenheiten des Augenblicks durchaus anzupassen gewußt. Von der fortschreitenden Verschmelzung traditioneller und neuer Eliten zeugten dabei nicht zuletzt zahlreiche eheliche Verbindungen. So tauchten im Stammbaum der Marqueses del Toro, der bis auf das 17. Jahrhundert zurückging, seit der Jahrhun159 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 40 160 Interview mit Virgilio Lovera vom 19. 6. 1989 161 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 153

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dertwende die N a m e n wohlhabender ausländischer Handelsfamilien wie Degwitz, Klindt, Stolk, Himiob, Bärtoli oder Phelps auf. 1 6 2 Wie in Caracas hatte sich ebenfalls in d e n Handelsstädten wie Puerto Cabello, Maracaibo oder Valencia die einheimische Aristokratie mit der wirtschaftlich immer erfolgreicheren in- u n d ausländischen Kaufmannschaft verbunden. 1 6 3 W ä h r e n d die Bourgeoisie ihren wirtschaftlichen Erfolg d u r c h einen immer feudaleren Lebensstil zu unterstreichen suchte, hatte der kreolische „Adel" also eine Verbürgerlichung erfahren, u n d alte u n d neue Eliten waren gleichermaßen bestrebt, die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, die sich mit dem wachsenden Devisenzufluß u n d der z u n e h m e n d e n Einbindung Venezuelas in den internationalen Markt von Tag zu Tag vervielfachten. Und w e n n eine immer homogenere städtische Oberschicht sich unter dem Vorzeichen der gesellschaftlichen Exklusivität von der Dynamik eines neuen Zeitalters hatte fortreißen lassen, konnten die durch die Privilegien der politischen Macht an zentrale Stelle vorgerückten gomecistas von dieser Entwicklung nicht ausgeschlossen bleiben. Die Ungeschliffenheit gesellschaftlicher Emporkömmlinge, die einer kultivierten städtischen Elite als Verkörperung ländlicher Rückständigkeit gegenübertraten, war in der Tat nur eine der Seiten des gomecismo. In seinem Roman Los Riberas v o n 1957 vermittelte Mario Briceno-Iragorry eine andere Facette des Lebensstils der gomecistas. An der fiktiven Familie Ribera, die er als Landbesitzer u n d Kaufleute der oberen Mittelschicht der Andenstadt Merida zuordnete, suchte der Autor den Weg der durch den Regionalismus des Gömez-Regimes privilegierten andinos nachzuzeichnen, die in die „vornehme" Gesellschaft von Caracas einbrachen. Von einer realen Figur protegiert, nämlich dem aus dem Andenstaat Tächira s t a m m e n d e n Baptista Galindo, zwischen 1922 u n d 1926 Minister u n d Sekretär von General Gomez, 1 6 4 läßt Briceno-Iragorry seinen Dr. Ribera „ Einfluß in der Umgebung des Präsidenten" gewinnen. Damit sind die Weichen für einen wirtschaftlichen Erfolg gestellt, für den es bald „keine Grenzen" mehr gibt - u n d den die Neuankömmlinge schnell in angemessener Weise zu genießen lernen. Als Alfonso, einer der in Merida verbliebenen Söhne des Dr. Ribera, schließlich seiner Familie in die Hauptstadt folgt, laden seine Brüder i h n nach seiner Ankunft im Hafen von La Guaira in das Hotel Neptuno zum Essen ein. „Die Wahl der Speisen zeigte die Unterschiede, die die Geschwister aus Caracas von dem soeben aus der Kordillere eingetroffenen Bruder in Geschmack u n d Benehmen trennten. Fabio Antonio verlangte Languste mit Mayonnaise u n d Beefsteak mit Zwiebeln; Carlos bestellte ein Omelette aux petit pois u n d ein Schweine1 6 2 T o r o Ramírez, Miguel, Genealogía de la casa de los M a r q u e s e s del Toro, Caracas 1979, S. 1 1 3 - 1 2 5 1 6 3 Interview m i t G u s t a v o Aristeguieta G r a m c k o v o m 11. 6. 1989 164 Velásquez, C o n f i d e n c i a s imaginarias de J u a n Vicente G ó m e z , a.a.O., S. 4 5 3

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Schnitzel; Alfonso bestellte Nudelauflauf und gebratenen Fisch. Als die Languste, das Omelette und der Nudelauflauf aufgetragen wurden, fragte Alfonso: ,Wie hast du gesagt, heißt dieser Eierkuchen, Carlos?' ,Omelette aux petit pois.' ,Ich nenne das Eierkuchen mit grünen Erbsen. Warum gibt man hier den Dingen andere Namen? Wenn ihr mich fragt, ist das nur Angeberei.' Die beiden Brüder sahen sich an und lächelten über die naive Widerspenstigkeit des Neuankömmlings. Sie verstanden den Widerstand, den Alfonso den verfeinerten Sitten der Stadt entgegensetzte, sehr gut. Bis heute war Alfonso Ribera (...) noch ein ahnungsloser, widerborstiger und mißtrauischer Gebirgsbewohner. Morgen würde er womöglich ein anderer sein." 165 Die Verwandlung Alfonsos läßt nicht lange auf sich warten, nachdem BriceñoIragorry seinen Protagonisten in ein neureiches Ambiente von prätentiöser Verschwendung einführt. Schnell haben sich die Ribera in den Kreis derer integriert, die in prächtigen Häusern zu Diners und Bällen laden, die „in die wichtigsten europäischen Hauptstädte reisen" und deren Töchter Klavier spielen und „sehr gut französisch sprechen". Mit einer jungen Frau aus „bestem Hause" verheiratet und als Besitzer einer modernen Villa im Country Club hat sich Alfonso gegen Ende des Romans in einen vermögenden, weltgewandten Hauptstädter verwandelt, der sich in der internationalen Finanz- und Handelswelt als ebenso versiert erweist wie beim Golfspiel. 166 Schneller als es das rustikale Image vermuten lassen mag, das man dem Caudillo und seiner Klientel zuzuschreiben gewohnt ist, wußten sich die andinischen „Arrivisten" dem eleganten Lebensstil der caraqueños anzupassen - die ihnen ihrerseits bereitwillig den Zugang zu den „besten" Kreisen öffneten. Der Vorwurf der politischen Barbarei, der nach dem Sturz der Diktatur immer wieder gegen die gomecistas erhoben wurde, blieb in der Tat vor allem, was den Gómez-Clan selbst betraf, lange Zeit mit dem der kulturellen „Barbarei" verbunden. Im Volksmund galt - und gilt - Santos Matute Gómez, der Halbbruder des Präsidenten, als ein ebenso „brutaler, ungehobelter und ungebildeter Mann" 1 6 7 wie sein Vetter Eustoquio Gómez, wenn auch dessen Sohn dieser landläufigen Meinung entschieden widersprochen hat: „Mein Vater war ein Mann, der Geschmack besaß, sich gerne gut anzog und gute Speisen zu genießen wußte. Mein Vater war nicht der ungehobelte Bauer, zu dem er in einigen Büchern gemacht wird." 1 6 8 Zweifelsohne mochten die Angehörigen des Diktators, der bei seinem Tod als der reichste Mann Venezuelas gelten konnte, 1 6 9 vom Glanz ihres neuen 165 Briceflo-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 184 166 Ebd., S. 233, 287, 3 3 6 , 379, 3 9 8 167 Pareja y Paz Soldán, a.a.O., S. 70 1 6 8 Otalvora, a.a.O., S. 43 169 Salcedo-Bastardo, a.a.O., S. 4 2 6

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Reichtums geblendet zuweilen über das Ziel hinausschießen und nicht bei allen ihren Zeitgenossen in Geschmacksfragen Zustimmung gefunden haben. Es muß offen bleiben, ob sich Außenstehende für die Eleganz des Gesellschaftslebens der gomecistas uneingeschränkt begeistern konnten - so etwa für das Fest, das um 1930 im Hotel Jardín in Maracay anläßlich des Namenstages einer Gómez-Tochter veranstaltet wurde. In mehr oder weniger zarter Anspielung auf ihren Vornamen hatte Rosa Amelia Gómez Núñez beschlossen, „das ganze Hotel mit rosa Rosen in drei verschiedenen Tönen zu schmücken, blaß, mittel und kräftig. Alle Vorhänge in den drei Rosatönen, das Tischtuch, sogar die Gerichte, alles rosa. Ebenso die Getränke, es war wirklich wunderbar." 170 General Gómez jedenfalls war keineswegs so bäurischer Herkunft, wie man ihm oft nachgesagt hat. Der Präsident entstammte vielmehr einer wohlhabenden Hacendadofamilie, die es in der ihren Ländereien nahegelegenen Andenstadt San Cristóbal bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert gewohnt gewesen war, gesellschaftlichen Glanz zu entfalten. In San Cristóbal, dem städtischen Zentrum eines prosperierenden Kaffeeanbau- und Viehzuchtgebiets, das durch die Nähe zu den wirtschaftlich und kulturell florierenden kolumbianischen Nachbarstädten in fruchtbarem Kontakt mit der Außenwelt stand, 171 hatte auch Indalecia Gómez, die Schwester des Präsidenten, elegante Umgangsformen angenommen. Laureano Vallenilla Lanz jr. lernte sie im Caracas der zwanziger Jahre als selbstbewußte „Frau von Welt" kennen. „Sie ist Patin meiner Cousine Inés Margarita Centeno Vallenilla. Wir besuchen sie oft in ihrer Villa Bagatelle, in der Avenida San Martin, oder in ihrem Haus in Caracas. (...) Sie ist eine großgewachsene, weiße Frau von guter Haltung, die stark den Akzent des Táchira spricht. Sie hat ausgezeichnete Beziehungen in der guten Gesellschaft von Caracas, und es wird gemunkelt, daß sie auf ihren allmächtigen Bruder großen Einfluß ausübt." 172 Enger noch war naturgemäß die zweite Generation der gomecistas - an die Privilegien des Reichtums von Jugend an gewöhnt - mit der hauptstädtischen Oberschicht verflochten. Dies galt auch für die Töchter und Söhne von Dionisia Bello, mit der General Gómez in den Anden liiert gewesen war. Zugang zu den vornehmsten Kreisen hatte José Vicente Gómez durch seine Heirat mit Josefina Revenga gefunden, einer „aufsehenerregenden, dunklen Schönheit", die für ihr reges gesellschaftliches Leben bekannt war. Der Gómez-Sohn, den sein Vater schließlich wegen des Verdachts der Konspiration seines Amtes als Vizepräsident enthob und der 1930 im europäischen Exil starb, war in familiäre Konflikte geraten, als seine Frau Josefina Geschenke an die nach dem Aufstand von 1928 inhaftierten Studen-

170

Olivares, C e l m i r a de, J u a n V i c e n t e G ó m e z en M a r a c a y . De 1 9 1 7 a 1 9 3 5 , Caracas 1 9 7 6 , S. 5 1

171

Ardao, Alicia, El café y las ciudades en los Andes v e n e z o l a n o s , Caracas 1 9 8 4 , S. 2 0 6 ff.

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Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 5 1

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ten sandte, viele von ihnen Angehörige angesehener befreundeter Familien. 173 Eine „elegante Frau", so erinnert sich Laureano Vallenilla Lanz jr., war ebenfalls José Vicentes Schwester Graciela Gómez Bello, die mit ihrem Mann Julio Méndez ein luxuriöses Leben in Paris führte, nachdem der Diktator seinem Schwiegersohn mit reichen Erdölkonzessionen zu einem Vermögen verholten hatte. 174 Unter den acht Kindern aus der ebenfalls unehelichen Verbindung des Präsidenten mit der einer vornehmen hauptstädtischen Familie entstammenden Amelia Núñez de Cáceres befanden sich Juan Vicente und Florencio, geboren 1907 und 1908. In Caracas als die muchachos, die „Jungens" bekannt, waren die Brüder bald zu einer gewohnten Erscheinung im hauptstädtischen Gesellschaftsleben geworden. Die muchachos waren eifrige Besucher der eleganten Pferderennbahn von El Paraíso, und während ihr Vater die gesellschaftlichen Clubs der Hauptstadt meist nur zu den Einweihungsfeiern mit seiner Anwesenheit beehrte, waren seine Söhne dort regelmäßig anzutreffen. So berichteten die Gesellschaftsseiten der hauptstädtischen Zeitungen, die die Schritte der muchachos respektvoll verfolgten, 1935 davon, daß „in den eleganten Eßsälen des Club Paraíso ein glanzvolles Mittagessen zu Ehren der Herren Juan Vicente und Florencio Gómez Núñez gegeben wurde, anläßlich des Sieges, den ihre Stute Copper Venus jüngst auf der Rennbahn von Caracas errang." 175 Doch obgleich General Gómez bei den wichtigsten Rennen der Saison von der Präsidentenloge aus den Glanz der politischen Macht wirkungsvoll zur Geltung zu bringen wußte, waren es nicht die gomecistas, die in dem eleganten Ambiente der Pferderennbahn von El Paraíso den Ton angaben. Indem sie jedoch als Förderer des Stierkampfes einem traditionellen Freizeitvergnügen der Venezolaner zu einer Epoche noch nicht dagewesenen Glanzes verhalfen, konnten die Angehörigen des Gómez-Clans in einem anderen, ihrem „nationalistischen" Image gemäßeren Bereich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Als regelmäßiger Besucher der großen corridas und als Züchter von Kampfstieren war nicht nur José Vicente Gómez Bello bekannt, sondern vor allem auch sein Bruder Gonzalo, 1930 Besitzer der Arenen von Caracas und La Victoria. 176 Angesichts des chronischen Mangels an guten Kampfstieren, der der Entfaltung des venezolanischen Stierkampfes stets gewisse Grenzen gesetzt hatte, wurde auch das Engagement von Juan Vicente und Florencio Gómez Núñez bedeutungsvoll, die mit importierten Tieren und der Hilfe spanischer Fachleute zum ersten Mal in Venezuela reinrassige spanische Stiere zu

173 Ebd., S. 51; Michelena, Eduardo, Vida caraqueña. Memorias íntimas, comentarios, anécdotas, Madrid 1965, S. 111 174 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 92 175 El Nuevo Diario 27. 4. 1935 176 Pepe Hule, Toros y toreros de Venezuela, Caracas 1930 (Reprint 1972), S. 174-175

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züchten begannen. 177 Zu einer Zeit, als die städtischen Eliten Lateinamerikas von einer folkloristischen Andalusienmode erfaßt waren und die Frauen die Stierkämpfe mit der spanischen Mantille oder dem flachen Cordobeser Hut aufsuchten, wurde die glanzvolle Einweihung der neuen Arena von Maracay 1933 zu einem Ereignis, das 7000 Zuschauer anlockte, unter ihnen zahllose vornehme Besucher aus Caracas. Mit dem Bau der Arena hatten Juan Vicente und Florencio Gómez den soeben von seinem Architekturstudium aus Europa zurückgekehrten Carlos Raúl Villanueva beauftragt, der in den folgenden Jahren zu einem der bedeutendsten lateinamerikanischen Architekten wurde und mit einer für einen Bau dieser Art wegweisenden Stahlbetonkonstruktion in Maracay ersten architektonischen Ruhm errang. 178 Zumindest in der Umgebung der außerhalb des eigentlichen Stadtkerns neu angelegten Plaza Bolívar, die mit ihren wahrhaft majestätischen Maßen von 500 Metern Länge und 200 Metern Breite zum repräsentativen Zentrum der Stadt geworden war, begann das von Gómez zur Residenz erwählte Maracay „großstädtische" Züge anzunehmen. Mit einer bunten Leuchtfontäne und nachts „von Scheinwerfern und Kandelabern längs den Straßen und Wegen mit elektrischem Licht prunkend überschüttet", so vermerkte bewundernd ein europäischer Besucher, „bot der Platz ein Schauspiel, das man von den Hotelbalkonen oder als Spaziergänger gern genoß." 1 7 9 Modernen Freizeitvergnügen frönten die Mitarbeiter der Regierung, die im Gefolge des Präsidenten mit ihren Familien nach Maracay gekommen waren, in dem am Rand des Platzes gelegenen Club Bolívar, der eines der ersten Schwimmbecken des Landes besaß und wo bei Basketballspielen auch weibliche Mannschaften gegeneinander antraten. 180 Im Gegensatz zu der Askese, die Gómez in seinem Privatleben an den Tag legte, befanden sich die gesellschaftlichen Zentren Maracays, was Luxus und Komfort betraf, durchaus auf der Höhe ihrer Zeit. 1930 wurde im Auftrag des Präsidenten der gigantische Bau des Hotel Jardín fertiggestellt, das den Besuchern von Maracay eine herrschaftliche Unterbringung gewähren und Gómez und seinen Anhängern als eleganter Rahmen für Bälle und Empfänge dienen sollte. In der Zeitschrift Billiken kündigte eine Annonce die Einweihung des „größten Gebäudes von Venezuela" an. „JEDES ZIMMER ist ein Appartement, AUSGESTATTET mit 1) Einem großen und ventilierten Schlafzimmer. 2) Einem Badezimmer, das allen Anforderungen der modernen Hygiene genügt. 3) Einem Empfangssalon. 4) Großen Terrassen, die mit eleganten Möbeln neuesten Stils ausgestattet sind. (...) DIE BAR: neuestes ameri177

I n t e r v i e w m i t F l o r e n c i o G ó m e z v o m 17. 10. 1 9 8 8

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Salas, Carlos, Los toros e n Venezuela, Caracas 1 9 5 8 , S. 1 8 2 ; M o h o l y - N a g y , Sibyl, Carlos Raul

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Lapeyre, a.a.O., S. 8 1 - 8 2

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Interview m i t F i o r e n d o G ó m e z v o m 17. 10. 1 9 8 8

Villanueva u n d die Architektur Venezuelas, Stuttgart 1 9 6 4 , S. 17

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kanisches Modell. (...) DAS ORCHESTER: zwölf der besten Interpreten des JAZZ AMERICANO. (...) Zur Eröffnung und Einweihung Gelegenheit zu e i n e m langen Wochenende. (...) 145 Bolívar PRO PERSON. (...) Die Direktion behält sich die Zulassung vor." 1 8 1 Dieses ebenfalls nach einem Entwurf des vielversprechenden jungen Architekten Carlos Raúl Villanueva erbaute Hotel, dessen Ausstattung modernem, internation a l e m G e s c h m a c k u n d den neuesten Ansprüchen von rationalem Komfort zu entsprechen suchte, stellte o h n e Zweifel einen angemessenen repräsentativen Hintergrund für den M a n n dar, den die Positivisten zum Wegbereiter des Fortschritts erhoben hatten. Dieser Eindruck m o c h t e sich dem Besucher bestätigen, der sich zum ersten Mal zu dem Landhaus begab, das Gómez während seiner letzten Regierungsjahre am Rand der Stadt bewohnte. „Die Promenade endet auf einem kleinen Platz, der früher der Hof eines Gutes war; große Tränken v o n Zement erinnern n o c h daran (...). Geradeaus ein Gittertor; darüber, nachts beleuchtet, ein Schild: ,Las Delicias'. Es ist der Eingang zum W o h n h a u s des Generals. Am Sockel einer elektrischen Uhr in der Mitte des Platzes ist die Höhe vermerkt: 4 9 0 Meter über dem Meerespiegel, und an einem T h e r m o m e t e r kann m a n ablesen, daß es hier gegen 11 Uhr vormittags 35 Grad warm ist und die Temperatur abends auf 2 2 bis 2 0 Grad sinkt. Hinter einem Vorhang von almendrones182

taucht der Umriß eines

Elefanten auf. Wie das? Es ist der Elefant eines Zoologischen Gartens. Und der kann sich wirklich sehen lassen; er zeigt Tiere aller Arten und Zonen (...)." Unmittelbar an seinen parkähnlichen Garten angrenzend, hatte der Präsident tatsächlich einen modernen Zoo angelegt, in dem nicht nur neben anderen exotischen Großkatzen ein afrikanischer Löwe zu bestaunen war, den der Hamburger Hagenbeck nach Venezuela geliefert hatte. Für den Tierpark, den er regelmäßig aufzusuchen pflegte, hatte Gómez auch eine „einzigartige heimatliche Tiersammlung" zusammentragen lassen, die durch ein Aquarium vervollständigt wurde. 1 8 3 Der Caudillo, der im n a c h h i n e i n so oft seiner Rückständigkeit geziehen werden sollte, zeigte sich in vieler Hinsicht v o n den Idealen des zivilisatorischen Fortschritts beseelt und trat auch privat als Förderer moderner technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften auf. Ebenso wie sich im Lebensstil die Pflege rustikaler Traditionen mit positivistischem Fortschrittseifer verbinden ließ, war auch das ö k o n o m i s c h e und politische Handeln der gomecistas durch ein charakteristisches Nebeneinander von Tradition und Moderne geprägt. Während die Regierung mit dem Bau von Straßen, Hospitälern und Aquädukten entscheidende infrastrukturelle Fortschritte verbuchen 181 Billiken 29. 11. 1930 1 8 2 Amerikanische Mandelbäume 183 Lapeyre, a.a.O., S. 9 2 - 9 4

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konnte oder erste offizielle Maßnahmen zur Technisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft ergriff, schritt Gömez als Privatunternehmer zur Gründung erster Industrien in der Umgebung von Maracay. 184 Gleichzeitig können der Aufbau eines nationalen Heeres und einer zentralisierten staatlichen Bürokratie als Errungenschaften des gomecismo auf dem Wege zu einer staatlichen Modernisierung gelten. 185 Doch mit dieser politischen „Fortschrittlichkeit" kontrastierte die willkürlich ausgeübte personalistische Macht, die in der gewaltsamen Unterdrückung der politischen Opposition und in Korruption und Vetternwirtschaft ihren Niederschlag fand. Auf der Suche nach den Gründen für die lange Lebensdauer, derer sich das Gomez-Regime erfreute, haben venezolanische Historiker neuerdings darauf hingewiesen, daß das Regime „relativ unpersönlich, fortschrittlich und, wenn man so will, .technisch' war, wenn es sich um Angelegenheiten handelte, die man tolerieren konnte, [aber] (...) patrimonial ausgerichtet, wenn es die politischen oder wirtschaftlichen Interessen von Gömez betraf. (...) Es sind zwei widersprüchliche Tendenzen, deren Synthese oder Integration das charakteristischste Merkmal des Regimes ist: (...) Modernisierung zu Diensten des Personalismus." 185 Im Dienst autoritärer Macht, so stellt es sich aus dieser Sicht dar, hatten sich die patrimonialen Strukturen der Vergangenheit gegenüber der unpersönlichen Ordnung der Moderne zu behaupten gewußt. In der Tat haben soziologische Untersuchungen der Widerstände, die sich in vielen traditionalen Gesellschaften einer Modernisierung nach europäisch-nordamerikanischem Vorbild in den Weg stellten, in jüngerer Zeit verstärkt auf die Selektionsmechanismen hingewiesen, die in diesem Zusammenhang wirksam werden können: Während sich eine deutliche Offenheit gegenüber allen technischen Neuerungen beobachten läßt, die dem personalistischen System nicht schaden oder es gar stärken, werden jene Elemente ausgeschlossen, die es aus dem Gleichgewicht bringen könnten. 1 8 7 Eben dieses Phänomen von „partieller" Modernisierung war auch im Venezuela des beginnenden 20. Jahrhunderts wirksam geworden. So kann es keinen Zweifel daran geben, daß der „rustikale" Lebensstil, an dem die gomecistas in vieler Hinsicht festhielten, seine Funktion für den Erhalt überlieferter Machtstrukturen erfüllte und nicht nur erfolgreich dazu beitrug, der autoritär-paternalistischen Führerfigur des Caudillo Profil zu verleihen, sondern auch jenes personalistische Beziehungsgeflecht zu stärken, das den inneren Zusammenhalt des caudillistischen Systems sicherte.

184

Rodríguez, Luis C i p r i a n o , G ó m e z . Agricultura, p e t r ó l e o y d e p e n d e n c i a , a.a.O., S. 2 5 ff.; Lavin, a.a.O., S. 2 0 4

185

S o n n t a g , Heinz R., Estado y desarrollo s o c i o p o l i t i c o en V e n e z u e l a , i n : C u a d e r n o s del CENDES, s e t i e m b r e - d i c i e m b r e 1 9 8 4 , S. 15

186

U r b a n e j a , in: P i n o Iturrieta et al., a.a.O., S. 6 1

187

R e i m a n n , a.a.O., S. 3 6 8

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Gleichzeitig aber wußten sich die neuen Machthaber in vielen Details ihres Alltagslebens das Auftreten von Männern zu geben, die - wie es die Positivisten forderten - bereit waren, den Rückstand Venezuelas mit der Rationalität von Technokraten in Angriff zu nehmen. Das in der mündlichen Überlieferung, Literatur und Geschichtsschreibung verbreitete Bild einer Machtelite bäurischer Herkunft und Mentalität, die den Ballast einer irrationalen und gewaltsamen Vergangenheit in das 20. Jahrhundert einbrachte, ist demzufolge in mancher Hinsicht zu revidieren. 188 Man darf, was die Entstehung dieses Klischees betrifft, keineswegs vergessen, daß seine Wurzeln auf die Sichtweise der städtischen Eliten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückgehen. Denn als Inbegriff der Barbarei eines unzivilisierten Landesinneren hatten die Caudillos, die immer wieder alle Privilegien der politischen Macht für sich und ihre Klientel zu beanspruchen verstanden, insbesondere der etablierten Oberschicht gegolten - die zudem stets geneigt war, den neuen Machthabern und ihrer Klientel die Ungeschliffenheit von gesellschaftlichen Emporkömmlingen nachzusagen. Zu bedenken ist außerdem, daß besonders nach dem unrühmlichen Ende der gomecistas die Bourgeoisie bestrebt war, ihre Zugehörigkeit zu jenem erwachenden demokratisch-bürgerlichen Venezuela zu unterstreichen, das mit dem Tod von General Gómez den finsteren Mächten der Despotie glücklich entronnen zu sein schien. Diese Faktoren dürften nicht ohne Einfluß darauf geblieben sein, daß die Gegensätze zwischen einer aufgeklärten, fortschrittlich gesinnten Bourgeoisie und einem bäurisch-konservativen Diktator im historischen Rückblick häufig überbetont worden sind. Erst in jüngster Zeit haben die Historiker begonnen, dieses überlieferte Bild zu hinterfragen und den Mythos von der bescheidenen Herkunft als Bauer aus den Anden, 1 8 9 der Gómez lange Zeit anhaftete, einer kritischen Beleuchtung zu unterziehen. So hat man darauf hingewiesen, daß der Hacendado Gómez aus dem prosperierenden Kaffeeanbaugebiet des Táchira nicht nur die unternehmerische Tatkraft eines entstehenden Agrarkapitalismus mitbrachte, sondern dort auch in Verbindung mit der städtischen Kultur der gebildeten lateinamerikanischen Eliten und deren Leitbildern von Zivilisation und Fortschritt gestanden hatte. 190 In diesem Sinn hat man in neueren historischen Arbeiten das politische System des Caudillismus als solches neu zu überdenken begonnen und darauf hingewiesen, daß es bereits im 19. Jahrhundert immer stärker unter den Einfluß einer legalistischen Ordnung geraten war, die „sehr tief in die Ordnung des Caudillismus eindringt und auf das Selbstverständnis des Caudillo einwirkt." In diesem Sinn 1 8 8 Britto Garcia, Luis, La máscara del poder, Bd. I: Del gendarme necesario al demócrata necesario, Caracas 1988, S. 130 ff. 189 Lapeyre, a.a.O., S. 8 3 1 9 0 Rodríguez, Luis Cipriano, in: Pino Iturrieta et al., a.a.O., S. 91

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kann der gomecismo als Ergebnis einer zunehmenden Institutionalisierung der Rolle des Caudillo gewertet werden, die seine Herrschaft weniger als politischen Unfall, denn als ein für die politische Entwicklung Venezuelas charakteristisches Strukturprinzip verstehen läßt. 191 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls das vordergründig von machtpolitischer Konkurrenz und von gesellschaftlichem Statuskampf geprägte Verhältnis zwischen dem Caudillo und der hauptstädtischen Elite zu überprüfen. Als der Besitz der Gómez-Familie - zu dem allein 400 000 Hektar Land gehörten 192 - nach dem Tod des Diktators verstaatlicht wurde, schien es, als habe sich ein liberal gesinntes Bürgertum einer personalistischen Herrschaft entledigt, die mit gewaltsamen Mitteln die Bereicherung einer Clique betrieb. Doch obwohl das jahrelange Exil der Angehörigen und engsten Vertrauten von Gómez den Eindruck eines einschneidenden Bruchs wecken mochte, hatten viele politisch weniger exponierte gomecistas längst einen festen Platz in der hauptstädtischen Gesellschaft eingenommen - ganz wie es Briceño-Iragorry in seinem Roman Los Riberas beschrieben hat. Nicht nur aus pragmatischen Erwägungen hatten sich die caraqueños den Männern der Macht gegenüber zugänglich gezeigt. Seine patriarchalischen Führungsqualitäten, aber auch sein schlichter und disziplinierter Lebensstil empfahlen in den Augen der Oberschicht Gómez als den Mann, der in einem von politischer und kultureller Unreife befangenen Land die C.omtesche Devise von Ordnung und Fortschritt in die Tat umsetzen würde. Im Gegensatz zu ihrem Ruf von aristokratischer Indolenz traten dabei die Nachfahren der alten venezolanischen Großgrundbesitzerfamilien durchaus als tatkräftige Verfechter zivilisatorischen Fortschritts auf. Während weniger bewegliche Angehörige des Provinzadels mit dem Niedergang der Landwirtschaft allmählich der ländlichen Vergessenheit anheimfielen, hatte die große Bedeutung, die die auf kulturelle Exklusivität bedachte traditionelle Elite der Bildung beimaß, seit dem vorigen Jahrhundert viele ihrer Söhne an die Universitäten geführt, wo sie mit Enthusiasmus die Lehren des Positivismus aufgriffen. In einer charakteristischen Verbindung von wissenschaftlicher, publizistischer und politischer Tätigkeit wurden die Doctores zu Mitarbeitern und Ideologen eines Regimes, das im Positivismus einen rationalen Ausweg aus dem venezolanischen Rückstand gefunden zu haben glaubte. Ihrem Image von unternehmerischer Unfähigkeit zum Trotz betrieben gleichzeitig Nachfahren aristokratischer Familien in den Städten und vor allem in Caracas erfolgreiche Finanz- und Handelsgeschäfte, wobei sie moderne, ein neues Zeitalter von Effizienz und Tatkraft ankündigende Lebensstilformen mit einer Aura von dandyhafter Vornehmheit zu umgeben wußten. 191

U r b a n e j a , D i e g o Bautista, La idea política de Venezuela: 1 8 3 0 - 1 8 7 0 , Caracas 1 9 8 8 , S. 4 2 , 4 4 ; Werz, a.a.O., S. 3 7

192

Ebd., S. 4 4

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Während ein großer Teil der traditionellen Elite in ihrem Bemühen, sich den Forderungen einer neuen Zeit anzupassen, eine wirtschaftliche und kulturelle Verbürgerlichung erfuhr, n a h m die nach gesellschaftlichem Status strebende Bourgeoisie feudale Lebensgewohnheiten an. Vermögende bürgerliche Handelsunternehmer legten sich aus Prestigegründen nicht nur kleinere oder größere ländliche Besitzungen zu, sondern zeigten auch eine immer deutlichere Neigung zu jenem verschwenderischen Umgang mit Zeit und Geld, dessen das historische Klischee im allgemeinen die Hacendados bezichtigt. Von denselben „idealistischaristokratischen" Bildungsidealen bewegt, von denen sich die traditionelle Elite leiten ließ, huldigte das Großbürgertum in absentistischer Manier auf ausgedehnten Europareisen der „erhabenen" abendländischen Kultur - und frequentierte ausgiebig die mondänen Zentren des europäischen Vergnügungslebens. Mag auch die über Generationen wirksam bleibende Tradition des protestantischen Leistungsethos, das manche ausländische Kaufmannsfamilien aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, ihnen zu dauerhaftem Erfolg verholfen haben und zum Teil ihre herausragende Position in der venezolanischen Wirtschaft erklären, so machte in der Regel das Leistungssdenken des bürgerlichen Aufsteigers - sobald dieser sich wirtschaftlich etabliert hatte - dem Streben nach feudaler Repräsentativität Platz. Unter dem Vorzeichen von positivistischem Fortschrittsglauben und gesellschaftlicher Distinktion war durch diese wechselseitige Annäherung von landbesitzender und großbürgerlicher Elite in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine neue, in ihren Werten und Verhaltensmustern relativ einheitliche städtische Oberschicht entstanden. Eingang in diese Allianz von alten und neuen Eliten hatten ebenfalls viele der im Gefolge von Gömez aus der Provinz zugezogenen andinos gefunden, und wenn auch die exponiertesten Vertreter des gomecismo nach dem Tod des Diktators das Land verlassen mußten oder zumindest im gesellschaftlichen Leben keine Rolle mehr spielten, so sollten andere den politischen Machtwechsel unbeschadet überstehen. Angesichts der Euphorie, mit der man 1936 den Beginn eines Zeitalters von „Friede und Gerechtigkeit, Ordnung und Freiheit" feierte, stellt sich die Frage, inwieweit diese neue städtische Oligarchie ihr Bekenntnis zu dem sich nun ankündigenden „wahrhaft republikanischen Leben" mit Inhalt zu füllen bereit war. 193 Ohne Zweifel gelangte mit General Lopez Contreras - Verteidigungsminister und enger Vertrauter von General Gömez - ein Mann an die Macht, der den Vorstellungen der Oberschicht in jeder Hinsicht entsprach. Während sich seine Regierung mit vorsichtigen Reformen jenen Anstrich von Fortschrittlichkeit gab, den die europäisierte Elite sich schuldig zu sein glaubte, blieb der exklusive Kreis, innerhalb dessen die Macht nach dem Ende der Diktatur neu aufgeteilt wurde, nach wie 1 9 3 Elite 1. 1. 1 9 3 6

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vor überschaubar. Mit dem Ende des regionalen caudillismo und der zunehmenden Zentralisierung und Bürokratisierung der Herrschaft war die hauptstädtische Elite immer enger an den wachsenden Staatsapparat herangerückt. Seit dem 19. Jahrhundert hatte sich die fortschrittliche neue Bourgeoisie ebenso wie die vom Positivismus beeinflußten Nachfahren der Kolonialaristokratie als Erneuerer inmitten einer rückständigen Gesellschaft empfunden. Die durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die politische Stabilität der Gomez-Jahre konsolidierte Oberschicht der dreißiger Jahre hegte keine Zweifel daran, daß ihr in Zusammenarbeit mit der neuen Regierung bei der Verbreitung von „Ordnung und Fortschritt" weiterhin eine Führungsrolle zukäme. Mit einem Lebensstil, in dem sich Modernität und feudale Distinktion verbanden, wußte sie auch in Zukunft ihre elitäre zivilisatorische Mission zu unterstreichen.

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Lebensstile zwischen Tradition und Wandel Überlieferte Werte als Faktoren der Innovation Kritische Beobachter der Entwicklung Venezuelas haben häufig der „Kultur des Erdöls" eine verderbliche Wirkung auf den venezolanischen „Volkscharakter" nachgesagt. 1 Der Ölboom ist vor allem für die Entstehung des sogenannten facilismo verantwortlich gemacht worden - ein Begriff, der von den Venezolanern immer dann herangezogen wird, wenn es gilt, selbstkritisch die Bequemlichkeit eines Volkes zu kennzeichnen, das allzu mühelos in den Genuß von Wohlstand und Fortschritt gelangt ist. Aber als die Ölwirtschaft in den zwanziger Jahren zu einer immer dominierenderen Position gelangte, bewirkte sie zunächst keine so grundsätzlichen gesellschaftlichen Änderungen, wie man auf den ersten Blick vermuten möchte. Die Kultur des Erdöls, so haben die bisherigen Überlegungen gezeigt, paßte sich vielmehr einem gesellschaftlichen Rahmen an, der deutlich von den Strukturen des 19. Jahrhunderts geprägt war. Der scheinbar so spektakuläre Eintritt in das Zeitalter des schwarzen Goldes vollzog sich in vieler Hinsicht unter dem Vorzeichen der Kontinuität. So war Venezuela, nachdem es vom Agrarausfuhrland zum wohlhabenden Erdölexporteur avancierte, weiterhin auf den Import von Konsumgütern angewiesen und blieb wirtschaftlich und kulturell nach außen orientiert. Gleichzeitig schien der plötzliche Wohlstand und die immer rascher voranschreitende äußere Modernisierung, die das Land mit dem Devisenzufluß erfuhr, die überlieferte „Rentiersmentalität" der Großgrundbesitzer gleichsam auf eine ganze Gesellschaft übertragen zu haben, die über Nacht und ohne große Anstrengung alle ersehnten Privilegien des Fortschritts in greifbare Nähe gerückt sah. Der Blick auf die Konflikte und Rivalitäten zwischen den einzelnen Gruppen innerhalb der Oberschicht, der die Untersuchung ihres Lebensstils bisher geleitet hat, kann dieses Phänomen des Wandels innerhalb überlieferter Strukturen nicht hinreichend erklären. Die unaufhaltsame Verschmelzung von alten und neuen Eliten, so ist deutlich geworden, hatte zu einer wachsenden Angleichung ihrer Werte und Verhaltensmuster geführt. Zu berücksichtigen ist zudem, daß mit der 1

Vgl. Werz, a.a.O., S. 9 2 - 9 3 , 132-137

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Welle des Fortschritts, die Venezuela in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts förmlich überrollte, die privilegierten Schichten Einflüssen und Veränderungen ausgesetzt waren, die die Gesellschaft als Ganzes betrafen, ja die in einem umfassenden Sinn für den lateinamerikanischen Weg in die Moderne bestimmend wurden. Um die komplexen Kräfte zu verstehen, unter deren Einfluß der Wandel des Lebensstils stand, muß dieser auch als Instrument und Ergebnis der Verarbeitung jener tiefgreifenden kulturellen Umwälzungen betrachtet werden, mit denen sich nicht nur die gesellschaftliche Elite, sondern auch andere Schichten der Bevölkerung mit dem Eintritt in ein moderneres Zeitalter konfrontiert sahen. Dabei gaben die Venezolaner den über sie hereinbrechenden Neuerungen, die vor allem die venezolanische Hauptstadt innerhalb weniger Jahrzehnte bis zur Unkenntlichkeit verändern sollten, keineswegs willenlos nach. Während sie aus dem 19. Jahrhundert gewisse Dispositionen mitbrachten, die sie für die „Fehlorientierungen" der Kultur des Erdöls offenbar besonders empfänglich machten, setzten sie andererseits den immer dominierenderen äußeren Einflüssen durchaus auch Widerstand entgegen oder verliehen ihnen eine neue, typisch venezolanische Ausrichtung, indem sie sie in den Kontext eigener kultureller Wertorientierungen einfügten. So standen Auslandsorientierung und

Fortschrittsbegeisterung

neben der nationalistischen Rückbesinnung auf jene überlieferten Werte, die im Strudel der Modernisierung verloren zu gehen drohten; die traditionelle Ethik der Verschwendung, die einen großzügigen Umgang mit Zeit und Geld zur vornehmen Gewohnheit erhob, neben einem neuen Streben nach Rationalität und Leistung. Nur indem die Wechselbewegungen zwischen diesen gegensätzlichen oder einander ergänzenden kulturellen Tendenzen nachvollzogen werden, läßt sich Aufschluß über die Voraussetzungen gewinnen, die der Modernisierung der venezolanischen Alltagskultur ihre eigentümliche Prägung gaben.

Fortschrittsglaube Auch in anderen Ländern Lateinamerikas, in denen man dem Phänomen eines importierten, mit der einheimischen Realität unverbundenen Fortschritts gegenüberstand, war man sich dessen bewußt, daß es auf dem wirtschaftlich und technisch rückständigen südamerikanischen Kontinent mit dem Streben nach Modernität eine besondere Bewandtnis hatte. Im Dezember 1930 veröffentlichte die

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Zeitschrift Elite ein Essay des Peruaners Victor Raúl Haya de la Torre, 2 der einige Jahre zuvor anläßlich des Aufsehens, das die Taten des Grafen Zeppelin überall in der Welt erregten, über die besondere Form der Technikbegeisterung nachgedacht hatte, die in Lateinamerika zu beobachten war: „Unsere Völker (...) haben die Maschine nicht erfunden, sie stellen sie nicht her. Sie erreicht sie in fertigem Zustand, ausgearbeitet, vollendet. Und wenn sie auch wissen oder ahnen, wo sie geschmiedet wurde, hat ihre ferne Schöpfung doch etwas Mysteriöses. (...) Wenn einer unserer futuristischen (...) Poeten in sehr literarischer und moderner Weise seine Stimme erhebt, um das Zeitalter der Fabriken, des Industrieproletariats, des Motors und der Elektrizität zu besingen, sind die Bemühungen seiner Vorstellungskraft wie die liebenswürdigen Phantasien eines Kindes, stellt man sie der Realität eines Volkes gegenüber, das wirklich im Zeitalter der Maschine lebt." 3 Angesichts der raschen äußeren Modernisierung, die der Erdölboom in dem zu Beginn des Jahrhunderts relativ rückständigen Agrarland auszulösen begann, fanden die Überlegungen Haya de la Torres um 1930 in Venezuela mit Sicherheit eine interessierte Leserschaft. Tatsächlich war in den letzten Jahren eine Vielzahl eklatanter Neuerungen zu beobachten gewesen. Während die Städte die koloniale Vergangenheit abzuschütteln begannen und mit neuen Geschäftsstraßen und Villenvororten ihr Gesicht zusehends veränderten, vervielfachten sich die Importe von Konsumgütern, die dem Lebensstil der Venezolaner einen moderneren Anstrich gaben. 4 Die pompösen Einweihungen von öffentlichen Bauten und Infrastruktureinrichtungen, mit denen die Regierung von General Gómez sich wirksam in Szene zu setzen wußte, schienen gleichzeitig nicht nur den unaufhaltsamen Vormarsch des Fortschritts zu beweisen, sondern auch die Anstrengungen, die man von offizieller Seite in diesem Sinne unternahm. 5 Ein nahezu grenzenloser Fortschrittsglaube hatte sich der Venezolaner jedoch nicht erst im Zeitalter des Öls bemächtigt. Als Prototyp des „modernen" Caudillo, der im Namen des Fortschritts eine mehr oder weniger autoritäre Herrschaft ausübte, konnte bereits Guzmán Blanco gelten. Die zahllosen Einweihungen, die der Präsident 1883 zur Feier des hundertsten Geburtstags von Simón Bolívar vornahm, kündigten das Ende einer jahrhundertealten Rückständigkeit an, und die Besucher, die den glanzvollen Festivitäten beiwohnten, mochten sich zeitweilig gefragt haben, ob es der heldenhafte Befreier des Kontinents war, der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, oder General Guzmán Blanco, jener Mann, für dessen zivi-

2

Nachdem er während seines Exils in Mexiko Sekretär von José Vasconcelos gewesen war, hatte Haya de la Torre in Peru die nationalistische Partei Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA) gegründet. Vgl. Franco, a.a.O., S. 101

3 4 5

Elite 13. 12. 1930 Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 103; Elite 19. 7. und 2. 8. 1930 Caraballo, a.a.O., S. 93-98

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lisatorische Verdienste die Zeitgenossen in unzähligen Ansprachen beredte Worte fanden. „Dank Euch macht das elektrische Licht die dunkelsten Nächte fast taghell (...); dank Euch, stört das Pfeifen der Lokomotiven im Geiste des Fortschritts die nutzlose Ruhe, in der die Dörfer Venezuelas lebten; (...) dank Euch, gelangen alle Errungenschaften der Wissenschaften, der Künste u n d der Industrien kaum, daß sie geboren sind, in unser Vaterland." 6 Im Rahmen wochenlanger Feierlichkeiten weihte Guzmän Blanco die Eisenbahnlinie von Caracas nach dem Hafen von La Guaira ein, n a h m ein erstes Telefonnetz mit 200 Anschlüssen in Betrieb u n d erprobte das elektrische Licht auf den zentralen Plätzen u n d Boulevards der Hauptstadt. Angesichts so augenfälliger Beweise waren die Venezolaner davon überzeugt, d a ß auch für ihr Land eine glorreiche Epoche unbegrenzten Fortschritts begonnen habe. „Man k a n n o h n e Übertreibung sagen, d a ß es dank der e r h a b e n e n Möglichkeiten der Wissenschaft u n d dem k ü h n e n Aufschwung der Künste im modernen Leben nichts m e h r gibt, was nicht Wirklichkeit werden kann. Alles beugt sich der Wucht einer Zivilisation, die im Bereich des Menschlichen u n d des Irdischen das Wort , u n m ö g l i c h ' aus ihrem Vokabular gestrichen hat." 7 Nachdem die zerstörerischen Folgen der Unabhängigkeitskriege zu einer jahrzehntelangen Verländlichung des Lebens geführt hatten, erhoben die Venezolaner in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts - wie es überall in Lateinamerika geschah das Banner der Zivilisation. Während m a n die Kolonialzeit als das „Mittelalter des Kontinents" betrachtete, schienen die Lehren der europäischen Positivisten, die die aufklärerische Tradition des 18. J a h r h u n d e r t s fortführten, den einzig möglichen Ausweg aus einer rückständigen Vergangenheit aufzuzeigen: den Weg der V e r n u n f t u n d des wissenschaftlichen Fortschritts. Bald wurde die vom Positivismus aufgestellte Forderung nach empirischer, rationaler Analyse auf die Sozialwissenschaften angewandt, vor allem auf das Studium der Geschichte Venezuelas u n d die Untersuchung der Ursachen für seinen notorischen Rückstand. Obwohl die venezolanischen Positivisten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts jene Theorien von dem zivilisatorischen Potential des Caudillismus vorlegten, die dem Regime v o n General Gomez als ideologische Legitimation dienten, hatte der Typus des „modernen" Caudillo von Anfang an unter dem Einfluß des Positivismus u n d seines szientistischen Fortschrittsverständnisses gestanden. So m u ß Guzmän Blanco, der der naturwissenschaftlichen Arbeit des deutschen Positivisten Adolf Ernst an der Universität von Caracas offizielle Unterstützung gewährte, als einer der ersten, wegweisenden Förderer des Positivismus in Venezuela gelten. 8

6

C a s t e l l a n o s , a . a . O . , S. 1 1 3

7

F.bd„ S. 6 3 , 110, 1 9 3 , 2 4 7

8

B c l t r á n G u e r r e r o , i n : H i s t o r i a d e la c u l t u r a e n V e n e z u e l a , a . a . O . , Bd. II, S. 2 1 6 - 1 7

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Tatsächlich schlug sich der Einfluß der neuen Theorien zunächst in einem unerhörten Aufschwung der Naturwissenschaften nieder. Nicht nur an den Universitäten, wo trotz aller Anfeindungen durch konservativere Zeitgenossen nun die Theorien von Darwin und Lamarck gelehrt wurden, wandte man sich mit Enthusiasmus einer Vielzahl neuer Wissensgebiete zu. 9 Die Beschäftigung mit der Wissenschaft errang gesellschaftliches Prestige, und interessierte Laien taten sich in vornehmen gelehrten Gesellschaften zusammen, wie der 1867 gegründeten „Gesellschaft für Naturwissenschaften" oder der 1882 ins Leben gerufenen „Gesellschaft der Freunde des Wissens". Angehörige der gesellschaftlichen Elite waren es auch, die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zur Gründung von privaten wissenschaftlichen Akademien schritten, die über viele Jahrzehnte eine zentrale Stellung im venezolanischen Wissenschaftsleben beanspruchten. 10 Obwohl diesen Vereinigungen lange Zeit ein Hauch von vornehmem Dilettantismus anhaftete, konnte die wissenschaftliche Begeisterung jener Jahre nicht ohne greifbare Folgen bleiben. Eine Verkörperung fand der positivistische Fortschrittsimpetus in einer neuen Generation von Ärzten, die dem besorgniserregenden sanitären Rückstand Venezuelas den Kampf ansagten. Gegen Ende des Jahrhunderts erstand auch „der Prototyp des Ingenieurs, der", wie seine Zeitgenossen meinten, „mit seiner praktischen und kreativen Arbeit dazu berufen ist, unsere Umgebung und unsere Gepflogenheiten zu verändern." 11 Wissenschaftliche Neugier und die aufmerksame Lektüre einer Zeitungsnotiz über den neuartigen Gebrauch von Wechselstrom, der es erlaubte, elektrische Energie über lange Distanzen zu leiten, hatten 1897 den jungen venezolanischen Ingenieur Ricardo Zuloaga dazu angeregt, das erste Wasserkraftwerk Lateinamerikas zu errichten, von dem Wechselstrom über lange Distanzen übertragen wurde - in seiner Art erst das zweite auf dem amerikanischen Kontinent und eines der ersten der Welt. 12 Indem die Venezolaner unter dem Einfluß des Positivismus die Lösungen für die Probleme ihres Landes immer ausschließlicher auf der technisch-rationalen Ebene zu suchen begannen, drohte ihnen jedoch die Gefahr eines allzu bedingungslosen Glaubens an die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft. Bei allen Erfolgen, die die neuen Männer des Fortschritts in Venezuela zu verzeichnen hatten, schienen die Beobachtungen des Haya de la Torre von dem geradezu „magischen" Charakter, den die Lateinamerikaner den Errungenschaften einer fremden, technisierten Welt zuschrieben, durchaus nicht unberechtigt. 9 10

11 12

Sosa A., Ensayos sobre el pensamiento político positivista venezolano, a.a.O., S. 14 Zu diesen gehören die „Academia Nacional de la Historia" von 1888, die „Academia Nacional de la Medicina" von 1904, die „Academia de Ciencias Políticas y Sociales" von 1915 u n d die „Academia de Ciencias Físicas, Matemáticas y Naturales" von 1917. Vgl. Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. 14-17 Beltrán Guerrero, a.a.O., S. 203 Röhl, Ricardo Zuloaga, a.a.O., S. 126

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Wirklich konnte die Bereitwilligkeit der gebildeten städtischen Eliten, die importierten Artefakte des Maschinenzeitalters mit ans Wunderbare grenzenden Eigenschaften auszustatten, gelegentlich groteske Züge annehmen. 1910 behauptete El Cojo Ilustrado bezüglich der wohltätigen Wirkungen, die das Automobilfahren auf die Gesundheit ausübe: „(...) dieser heute so beliebte Sport zeitigt mit seiner gesundheitsfördernden Ventilation vom hygienischen Standpunkt aus die vorteilhaftesten Ergebnisse. (...) In Maßen betrieben, verhilft der Automobilsport mit offenem Verdeck zu einem exzellenten Appetit und tiefem Schlaf und stellt so eine ausgezeichnete Behandlung für Anämiker, Chlorotiker und Neurastheniker dar". Nichts als eine szientistische Stilblüte ist aus heutiger Sicht die anschließende Warnung, daß „das Automobil kein Allheilmittel ist", ja daß es „morbide Fälle gibt, auf die es einen unheilvollen Einfluß ausüben kann." 13 Offenbar verknüpfte man in Venezuela geradezu grenzenlose Erwartungen mit jenem Eintritt in das „naturwissenschaftliche Zeitalter", der sich um 1880 in Europa vollzogen hatte und in den folgenden Jahren auf den Gebieten der Physik, der Chemie, der Biologie oder der Medizin zu unzähligen spektakulären Entdeckungen führte, die die Menschheit in eine Epoche noch nicht dagewesener technischer Naturbeherrschung zu führen versprach. 14 Während die Venezolaner die grundlegende Erneuerung, deren ihr Land so dringend bedurfte, immer ausschließlicher mit der Nutzbarmachung einer scheinbar unerschöpflichen wissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit gleichsetzten, traten andere Modernisierungsziele in den Hintergrund. Schon um die Jahrhundertwende machten sich Anzeichen dafür bemerkbar, daß man den umfassenden gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen, die das neue Zeitalter mit sich brachte, nicht nur gute Seiten abgewann. Gerade die berühmte Zeitschrift El Cojo Ilustrado, die zwischen 1892 und 1915 literarischen Ästhetizismus mit positivistischer Wissenschaftsbegeisterung zu verbinden wußte, illustriert den eigentümlichen, auf den ersten Blick widersprüchlichen Fortschrittsbegriff einer Oberschicht, die bei allem szientistischen Zukunftsoptimismus nicht frei von Vorbehalten gegenüber Veränderungen war. „Unsere Zivilisation ermüdet uns", verkündete 1907 Manuel Diaz Rodriguez in einem Essay über die Literatur des lateinamerikanischen modernismo, zu dessen Sprachrohr sich El Cojo Ilustrado in Venezuela gemacht hatte. 15 Die Zivilisationsmüdigkeit, die der Großgrundbesit-

13 14

El Cojo Ilustrado 1. 12. 1910 Hermann, Armin, „Auf eine höhere Stufe des Daseins erheben" - Naturwissenschaft und Technik. „Die Weltenergien unserer Tage", in: Nitschke, August, Gerhard A. Ritter, Detlev J.K. Peukert, Rüdiger vom Bruch, Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Hamburg 1990, Bd. I, S. 3 1 2 - 3 1 6

15

Gullón, Ricardo, El modernismo visto por los modernistas, Barcelona/Spanien 1980, S. 104

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zer, Politiker und Autor modernistischer Romane an den Tag legte, ist sicherlich nicht zuletzt als eine von europäischen décadence-Moden inspirierte Pose zu verstehen, die viele Zeitgenossen, aus deren Sicht sich der lateinamerikanische Kontinent erst in einer Phase des Aufbruchs befand, als aufgesetzt und fehl am Platze empfinden mochten. 1 6 Aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß die gebildeten Eliten Lateinamerikas dem unaufhaltsamen Siegeszug des Fortschritts zunehmend auch bedrohliche Seiten zuzuschreiben begannen und eigene, vom europäischen oder nordamerikanischen Weg abweichende Vorstellungen von der Modernisierung ihres Kontinents entwickelten. Unter denen, die den Sorgen und Wünschen dieser Generation wirkungsvoll Ausdruck verliehen, befand sich der Uruguayer José Enrique Rodò, dessen 1900 veröffentlichtes Essay Ariel in den folgenden Jahrzehnten zahlreichen Lesern überall in Lateinamerika ebenso wie einer ganzen Generation von Venezolanern geradezu zur „Bibel" wurde.17 Ohne die technischen Errungenschaften des modernen Zeitalters in Zweifel ziehen zu wollen - denn „sich über die Notwendigkeit zu erheben, bedeutet Erlösung zu finden" - , wandte Rodò sich gegen all jene, die den materiellen Fortschritt zum höchsten Ziel erhoben und darüber die „umfassende und harmonische Entfaltung" des Menschen selbst vergaßen. Denn ein prosaisch verflachtes Zivilisationsideal berge nicht nur individuelle, sondern auch soziale Gefahren: „Eine in allen Bereichen organisierte Gesellschaft", mahnte Rodò in seiner berühmten Schrift, „die ihre Vorstellung von Zivilisation darauf beschränkt, Wohlstand anzuhäufen, und deren Vorstellung von Gerechtigkeit nur darin besteht, diesen gleichmäßig unter ihren Mitgliedern zu verteilen, wird aus den Städten, die sie bewohnt, nichts als einen Ameisenhaufen oder einen Bienenstock machen." 1 8 Diese Kritik zielte vor allem auf das weltweit immer dominierendere Vorbild Nordamerikas, dessen Großstädte dem Uruguayer als die Verkörperung eines demokratisch-nivellierenden Fortschrittsbegriffs galten. Die Leugnung „legitimer" Unterschiede, der Untergang des Glaubens an den Heroismus, die Herrschaft des Mittelmaßes und des Utilitarismus - so lauteten die Befürchtungen der arielistas, die im Namen eines für den südamerikanischen Kontinent wegweisenden Geistesadels eine Rückorientierung auf den Idealismus des christlich-abendländischen Erbes forderten. 19 Auch die gebildeten Eliten Venezuelas verehrten Rodò als den „Lehrer", dessen „nobler Idealismus" ihnen in einer Zeit des Umbruchs zum Leitbild wurde. 20 Als

16 17

Olivares, a.a.O., S. 1 8 - 1 9 Interview mit Virgilio Lovera vom 19. 6. 1989

18 19

Rodò, José Enrique, Ariel, Buenos Aires 1946, S. 138 Ebd., S. 79, 96, 130

20

Zu dem nachhaltigen Einfluß von Rodò in Venezuela vgl. Semprum, Jesus, José Enrique Rodò, in: ders., Critica literaria, Caracas 1956, S. 2 7 9 ff.

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einer der erbittertsten Feinde eines rücksichtslos vordringenden angelsächsischen Rationalismus trat in Venezuela der Schriftsteller und Politiker Rufino Blanco Fombona auf, der ebenso wie sein Zeitgenosse Rodo den vornehmsten Kreisen der traditionellen Elite entstammte. 21 „Seht, was in China in der Morgenröte des 20. Jahrhunderts geschieht (...)", so wetterte der kämpferische Schöngeist zu Beginn des Jahrhunderts in seinem Tagebuch. „Im Namen des Fortschritts plündern die Söhne Europas mit der Hilfe von yankees und Japanern die Paläste und die ehrwürdigen Tempel des Fernen Ostens; (...) im Namen der Zivilisation befehlen sie den Tod von Prinzen und Helden und verbrennen die jahrhundertealten Manuskripte der chinesischen Geschichte." 22 Die geradezu militant antiimperialistische Stoßrichtung, die Blanco Fombona seiner Version des arielismo gab, entsprang nicht nur dem Widerstand gegen einen gewaltsam auferlegten Fortschritt, der fremden Wirtschaftsinteressen diente und den nationalen Stolz verletzten mußte. Gewappnet mit einem vornehmen humanistischen Bildungsideal erwies Blanco Fombona sich gleichzeitig als wortgewandter Verfechter jenes elitären Kulturverständnisses, das die traditionelle Oberschicht mit dem Großbürgertum des Jahrhundertanfangs verband und das der prosaische Rationalismus des nordamerikanischen Fortschrittsmodells in Frage zu stellen drohte. Die „ideellen" Kriterien, an denen die städtischen Eliten bei allem Streben nach Modernität festzuhalten gewillt waren, ließen sich bis in viele Details des Alltagslebens zurückverfolgen - so wenn El Cojo Ilustrado 1911 unter der Überschrift „Der Kult der Schönheit" zu den neuesten Kreationen der europäischen Modeschöpfer Stellung nahm. „Die englische Mode, die eine Erweiterung sucht, kreierte den ,tailleur'-Stil, eine Form, die hinter ihren strengen Linien die weibliche Idealität verschwinden läßt und dem Positivismus der gemeinen Bequemlichkeit all jenen Reiz einer verführerischen und heiteren Bekleidung zu unterwerfen sucht (...)", der die Frau mit „einer Aureole des Zaubers, einem geheimnisvoll verlockenden Nimbus" umgibt. 23 Ein ähnlich „idealistisch" modifizierter Fortschrittsbegriff sprach aus den Zeilen, mit denen die Zeitschrift Billiken 1936 die Eröffnung des Teatro Coliseo kommentierte. Das Lichtspielhaus, das mit neuester Projektionstechnik ausgestattet sei und „luxuriöse und äußerst moderne Parkettsessel" besäße, so meinte Billiken, müsse all jenen zusagen, deren „verfeinertem Geschmack die standardisierten Massenvergnügungen einer neuen Zeit widerstreben. (...) Endlich gibt es in Caracas ein Unternehmen, das sich nicht von kommerziellen Interessen, sondern von einem tiefen künstlerischen Anspruch leiten läßt und auf diese Weise

21 22

Gewecke, a.a.O., S. 176 Galasso, Norbcrto, Rufino Blanco Fombona, Caracas 1977, S. 215

23

El Cojo Ilustrado 1. 5. 1911

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ein Werk von wahrhafter Schönheit entworfen und ausgeführt hat." 2 4 Während die Errungenschaften des technischen Fortschritts unumschränkte Bejahung fanden und von einer Aura gesellschaftlichen Prestiges umgeben wurden, zeigte man sich gleichzeitig also bestrebt, an jenem vornehmen „Antimaterialismus" festzuhalten, den die Eliten zum Kennzeichen kultureller Distinktion erhoben hatten. Idealität, Schönheit, Geschmacksverfeinerung, künstlerischer Anspruch: die Ablehnung rationalistischer Nivellierung, die aus diesen Worten sprach, entsprang dem Selbstverständnis einer Oberschicht, die - gerade weil sie sich als Vorhut der Zivilisation inmitten eines rückständigen Landes empfand - die Privilegien des Fortschritts mit einer Aura von Exklusivität zu umgeben gewohnt war. Indem sie einen idealistischen Zivilisationsgedanken mit positivistischem Technikglauben verband, schrieb sich die gesellschaftliche Elite bei der Modernisierung Venezuelas eine Führungsposition zu, die eine Entsprechung in der Devise von „Ordnung und Fortschritt" fand, von der sich das diktatorische Regime von General Gómez leiten ließ. Schon bevor dieser 1908 gewaltsam die Herrschaft an sich riß, waren die einst emphatisch verfochtenen republikanischen Ideale von politischer Modernisierung zunehmend in den Hintergrund getreten. Nachdem gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der Liberalismus, dessen Banner weite Teile der gebildeten städtischen Eliten nach der Unabhängigkeit ergriffen hatten, vielen als gescheitert galt, und das von gewaltsamen Machtkämpfen zerrüttete Venezuela sich für eine tiefgreifende politische Erneuerung als unreif erwiesen zu haben schien, 25 neigte man immer mehr dazu, nach autoritär-technokratischen Auswegen aus dem Rückstand zu suchen. Die Comtesche Formel von „Ordnung und Fortschritt" wurde zum Programm einer Entpolitisierung, die auch weite Teile der Oberschicht als Voraussetzung für jene technische und infrastrukturelle Entwicklung empfanden, deren das Land auf seinem hindernisreichen Weg in den Fortschritt zunächst bedürfe. Der Tatkraft von General Gómez schien es in diesem Sinne gelungen zu sein, jenen Frieden zu etablieren, der, wie es in einem Nachruf auf den Präsidenten in der Tageszeitung El Universal hieß, „das Fundament für jedes Werk ist, sei es materieller, sei es spiritueller Natur." 2 6 So kam eben jener paternalistische Regierungsstil, der später häufig als Ausdruck der bäurischen Rückschrittlichkeit des Señor Presidente kritisiert werden sollte, im Grunde einem Fortschrittsverständnis entgegen, dem sich der Autoritarismus als der einzige Weg darstellte, um ein „ungebildetes" Volk aus der Barbarei des Rückstands zu befreien. Dem Caudillo kam es zu, die praktischen Grundlagen für die Modernisierung zu schaffen, während sich die Oberschicht bei 24 25 26

Billiken 15. 7. 1936 Velásquez, La caída del Liberalismo Amarillo, a.a.O., S. 150 ff. El Universal 18. 12. 1935

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allem Glauben an die technische Lösbarkeit der Probleme Venezuelas stets einen Raum von aristokratischem „Idealismus" vorbehielt, zu dem der nivellierende Rationalismus keinen Zugang hatte.

Auslandsorientierung Weil Venezuela seine nationale Tradition verleugne, fehle ihm „die magische Kraft, um jene Freibeuter in die Flucht zu schlagen, die mit einheimischer Hilfe die wirtschaftliche, politische und moralische Kraft des Vaterlandes zerstören", behauptete in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Mario Briceno-Iragorry, einer jener venezolanischen Kulturkritiker, die dem korrumpierenden Einfluß der Kultur des Erdöls die Schuld an einer fortschreitenden Zersetzung der „nationalen Identität" zugeschrieben haben. 2 7 Tatsächlich ist die wirtschaftliche und kulturelle Außenorientierung, die die Venezolaner aus dem 19. Jahrhundert mitbrachten, immer wieder dafür verantwortlich gemacht worden, daß sie scheinbar wehrlos dem Ansturm eines „Kulturimperialismus" erlagen, der seinerseits wiederum die überlieferte Neigung zur kulturellen Selbstverleugnung verstärkte. Um die Voraussetzungen zu verstehen, die dem Eintritt in das Zeitalter des Öls zugrundelagen, muß jedoch ein differenzierteres Bild des Selbstverständnisses der Venezolaner gezeichnet werden. So hat sich gezeigt, daß, obwohl die Elite sich seit den Tagen von Guzmän Blanco in ihrem Fortschrittsoptimismus nicht grundsätzlich hatte beirren lassen, sie sich bei der Übernahme fremder Fortschrittsmodelle doch ausgesprochen wählerisch gab. Trotz des unbestritten großen Einflusses, den man ausländischen Vorbildern einzuräumen gewillt war, wurden offensichtlich Auslesemechanismen wirksam, die Venezuelas Weg in die Moderne seine charakteristische Prägung gaben. Als die Lateinamerikaner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Banner der Zivilisation erhoben, verstand es sich für sie zunächst sozusagen von selbst, daß die zivilisierten Nationen das nächste Stadium verkörperten, das die weniger entwickelten Länder auf ihrem Weg in den Fortschritt anzustreben hatten. Ein Licht, das die „gleiche Stärke und Helligkeit wie die Gasbeleuchtung von New York besitzt", versprach ein venezolanisches Unternehmen im Jahre 1883. 2 8 Ob Caracas Paris ähnele, so berichtet in ihrem Buch Jenny de Tallenay, sei sie zu ihrer nicht geringen Verlegenheit häufig von den Venezolanern gefragt worden, als sie als Tochter des französischen Konsuls um 1880 in Venezuela lebte 2 9 - zu einer Zeit, als 27

D u n n o , Pedro (Hg.), Los m e j o r e s ensayistas v e n e z o l a n o s . Antología, Caracas o. )., S. 6 8

28

Castellanos, a.a.O., S. 4 6 , 2 5 9

29

T a l l e n a y , J e n n y de, Recuerdos de Venezuela. Apuntes de un viaje, Caracas 1 9 5 4 , S. 8 5

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Guzmán Blanco mit Boulevards und Parkanlagen sowie einem neoklassizistischen Operngebäude der venezolanischen Hauptstadt einen europäischen Anstrich zu verleihen suchte. Eine satirische Schilderung der absonderlichen Ergebnisse, zu denen die blinde Orientierung an ausländischen Vorbildern führen konnte, hatte Pedro Emilio Coli schon Ende des vorigen Jahrhunderts gegeben. „Der caraqueño, der aus Europa zurückkehrt, kommt fast immer aus Paris. Fast immer ist seine Seele traurig. (...) In Caracas herrscht die Stille eines Friedhofs, der Turm der Katedrale ist kaum höher als die benachbarten Häuser; die Hitze ist erdrückend. (...) Hier kann man nicht leben, sagt er sich immer wieder voller Melancholie. (...) Nini schickt ihm Briefe mit dem französischen Dampfschiff. J e t'aime toujours mon petit bébé', schreibt sie mit ihrer kleinen Schrift, und er küßt das feine, rosige Papier. (...) Die Tage vergehen. Die Kleider, die er aus Paris mitgebracht hat, sind verwelkt, und er muß sich einen Anzug von seinem alten Schneider anfertigen lassen. (...) Weiße Hotels, goldene Theater und bunte Nächte versinken langsam im Nebel der Erinnerung", bis er sich schließlich „an das Abenteuer mit Nini erinnert, als habe er davon in einem Roman von Marcel Prévost gelesen." 30 Karikierend übersteigert, verrät das Stereotyp des verliebten Jünglings, der Paris in den schöngeistig-sentimentalen Dunst eines Romans eingehüllt sieht, doch viel über die Rolle, die ihre Frankreichreisen für das Selbstverständnis der Lateinamerikaner spielten. Vorhersehbar waren offensichtlich auch die Ergebnisse einer Reise in das große, nördliche Nachbarland. „Wer aus den Vereinigten Staaten zurückkehrt, kommt fast immer aus New York. (...) Von der Devise ,time is money' überzeugt, holt er häufig seine Uhr heraus und geht eilig unter seinen Landsleuten umher, die trägen Schritts und mit zerstreuter Miene umherschlendern. (...) Unter den Blicken seiner erstaunten Familie schlingt er sein Essen hinunter, denn er hält einen Entwurf für den Bau einer Eisenbahn durch die Llanos in den Händen. (...) Der Minister hat ihm einen Termin für Punkt zehn Uhr gegeben, aber in der Amtsstube hört man nur das Kratzen der Feder eines Angestellten, der einem Freund schreibt. Der Minister liegt mit einer Erkältung zu Bett." 31 Sei es ein frenetischer Tatendrang im Stil der yanquis oder ein aufgesetzter „Pariser" Dandyismus, auf die Tatsache, daß die fragmentarische Verpflanzung fremder Lebensweisen auf venezolanischen Boden zum Scheitern oder mindestens zur Lächerlichkeit verurteilt war, hatten bereits im 19. Jahrhundert humorvolle Satiriker, aber auch ernsthafte Mahner ihre Zeitgenossen aufmerksam zu machen gesucht. Die vielbeschworene Dualität oder gar Polarität der Kulturen, in der sich „importierte" Lebensstile und einheimische Realität fremd und unverbunden gegenüberstehen und die zu dem für ganz Lateinamerika typischen Antagonismus 30 31

Picón Salas, Mariano (Hg.), Antología de costumbristas venezolanos del siglo XIX, Caracas o . J . , S. 4 1 7 ^ 4 1 9 Ebd., S. 4 1 9 - 4 2 0

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von Stadt und Land, von elitärer und volkstümlicher Kultur führt, ist durchaus kein Phänomen des Zeitalters des Erdöls, sondern reicht vielmehr weit in die venezolanische Vergangenheit zurück.32 Nach seinem Aufenthalt in Caracas war um 1800 bereits Alexander von Humboldt zu der Feststellung gelangt, daß in keinem Land Hispanoamerikas „die Zivilisation eine so europäische Färbung angenommen" habe wie auf Kuba und „in den schönen Provinzen von Venezuela."33 Im Gegensatz zu anderen spanischen Kolonien stand Venezuela nicht unter dem Einfluß indianischer Hochkulturen, und der wachsende Wohlstand des 18. Jahrhunderts hatte einen immer regeren Austausch mit dem Mutterland erlaubt, das sich seinerseits unter der Herrschaft der Bourbonen seit 1700 verstärkt nach Europa und vor allem nach Frankreich öffnete. Als die Kreolen die politischen Bande zu Spanien lösten und somit auch auf eine kulturelle Unabhängigkeit bedacht sein mußten, sah sich die junge Republik, was die Frage nach Grundlagen einer nationalen Identität betraf, in eine schwierige Lage gebracht. Obgleich der venezolanische Denker Andrés Bello damals seine Landsleute aufgerufen hatte, sich von dem „gebildeten Europa" abzuwenden und den Blick auf Amerika, den „großen Schauplatz der Welt des Kolumbus" zu richten, verspürten diese offenbar wenig Lust, derartigen Forderungen zu entsprechen und sich - wie Bello es verlangte - ihrer „heimatlichen Schlichtheit" zu besinnen. 34 Nachdem man dem spanischen Erbe die Schuld an der Rückständigkeit der ehemaligen Kolonien zuschrieb und eine „Enthispanisierung" 35 der jungen Republik anstrebte, richtete der Blick sich vielmehr auf die europäischen Nationen, die den Weg in einen vielversprechenden Fortschritt zu weisen schienen. Die kulturelle Ablösung von Spanien ließ jedoch auf sich warten. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein sei „die Seele Venezuelas spanisch" gewesen, erst dann habe „in langsamen Schritten die Entfaltung der zivilisatorischen Kräfte" eingesetzt, hieß es in einem historischen Essay, das ein in Paris lebender Venezolaner 1903 der Zeitschrift EI Cojo Ilustrado zusandte. 36 Es war erst Präsident Guzmán Blanco gewesen, der um 1870 der kolonialen Tradition den offenen Krieg erklärte, die Macht der katholi-

32 33 34

35 36

Biagini, Hugo E., La identidad, un viejo problema visto desde el Nuevo Mundo, in: Nueva Sociedad, núm. 99, enero-febrero 1989, S. 97 Humboldt, Alexander v., Vom Orinoko zum Amazonas. Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents, Wiesbaden 1959, S. 154 "(...) tiempo es que dejes ya la culta Europa que tu nativa rustiquez desama, y dirijas el vuelo adonde te abre el mundo de Colón su grande escena." Bello, Andrés, Poesías, Caracas 1952, S. 43 Gewecke, a.a.O., S. 162 El Cojo Ilustrado 15. 4. 1903

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sehen Kirche empfindlich beschnitt und in Venezuela die „zivilisierten" Gepflogenheiten der europäischen Bourgeoisien einzuführen suchte. So befanden sich die Venezolaner - und die Lateinamerikaner insgesamt - auch nach fast einem Jahrhundert der Unabhängigkeit hinsichtlich der Definition ihrer Nationalität in einem Dilemma. Gänzlich auf das europäische Vorbild fixiert, hatte zu ihrer geringen Begeisterung für das Eigene, das sie vor allem unter dem Blickwinkel seiner möglichen Umgestaltung betrachteten, um 1900 nicht zuletzt der Einfluß des zur Theorie des lateinamerikanischen Fortschritts erhobenen Positivismus beigetragen. Bei der Analyse der Probleme ihres Landes neigten die venezolanischen Positivisten zu einer negativen Einschätzung all jener Faktoren, die einer am europäischen Muster orientierten Entwicklung im Wege standen. Auf fruchtbaren Boden waren in dem von tiefgreifenden rassischen Gegensätzen geprägten südamerikanischen Land auch Gobineaus Theorien von der „Ungleichheit der Rassen" gefallen, und die anthropologische Erkundung Venezuelas, zu der die Positivisten um die Jahrhundertwende aufbrachen, schien zunächst nicht viel mehr als eine Bestätigung der quasi „natürlichen" Ursachen des venezolanischen Rückstands zu sein. 37 Galten das indianische und das afrikanische Erbe den Positivisten als ein Entwicklungshindernis, das nur durch jahrelange Zivilisierungsarbeit zu überwinden war, so war man nicht zuletzt unter dem Einfluß der europäischen Theorien des geographischen Determinismus außerdem zu der Überzeugung gelangt, daß die tropische Natur Venezuela im Vergleich zu den Ländern der gemäßigten Zone in eine nachteilige Ausgangslage brachte. Der Entwicklung stellten sich nicht nur gefährliche Krankheiten entgegen, die jedes Jahr Tausende von Toten forderten, sondern auch die tropischen Temperaturen, die zur Untätigkeit einluden. In ihrem Bestreben, sich diesen Fatalitäten zu widersetzen und nach Wegen zu suchen, die die „verderblichen Kräfte des venezolanischen Klimas" auf die Dauer unschädlich machen konnten, erhoben die Positivisten immer wieder auch politische Forderungen. Wenn Gil Fortoul die Hoffnung aussprach, daß „die gleichen menschlichen Kräfte, die die kalten Regionen Europas bewohnbar machten, auch alle Regionen des tropischen Amerikas bewohnbar machen werden", meinte er ganz konkret den positiven Einfluß, den er sich von einer staatlich geförderten

37

Von keinerlei Zweifeln an den europäischen Theorien der hierarchischen Zivilisationsstufen war offensichtlich Elias Toro angefochten, der sich 1905 in einer ethnographischen Studie über die von der Zivilisation noch weitestgehend unberührten Indianer der Urwaldregionen Guayanas zu drastischen Urteilen hinreißen ließ: „Moralisch betrachtet, sind diese Wilden indolent und egoistisch; vom intellektuellen Standpunkt gesehen, sind sie im allgemeinen stupide, wobei es in den zivilisierten Ländern ebenso stupide Individuen gibt, aber es gibt auch intelligente und erhabene Männer." Presidencia de la República (Hg.), Pensamiento político venezolano del siglo XIX. Textos para su estudio 13: La doctrina positivista, Caracas 1961, Bd. II, S. 4 8 2

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Einwanderung aus Europa versprach. 38 Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein hegte man in Venezuela die Überzeugung, daß europäische Einwanderer zum Fortschritt des Landes nicht nur durch Fleiß und Bildung beitrügen, sondern auch indem sie die „Rasse verbesserten" - „mejorar la raza", wie es in einer in Venezuela gängigen Formel heißt. Während die Venezolaner also wenig Grund zu einer positiven Einschätzung ihrer selbst zu haben glaubten, befanden sich die expandierenden europäischen Großmächte des 19. Jahrhunderts, so möchte man sagen, auf einer Welle der Selbstüberschätzung. Tatsächlich hatten sich die Europäer beeilt, das wirtschaftliche Vakuum auszufüllen, das die Unabhängigkeit von Spanien in Lateinamerika hinterließ, und im Rahmen wachsender Handelsbeziehungen waren ihre kulturellen Leitbilder immer wirkungsvoller zur Geltung gekommen. Aber es erwies sich, daß wirtschaftliche und kulturelle Vormacht durchaus nicht immer Hand in Hand gingen, vielmehr hatten die Venezolaner, was die Wahl ihrer Vorbilder betraf, ihre eigenen Kriterien entwickelt. Nach der Unabhängigkeit hatte zunächst das mächtige England wirtschaftliches Übergewicht errungen, und obwohl es sich gegen Ende des Jahrhunderts aus dem lateinamerikanischen Raum zurückzuziehen begann, 39 machte sein Einfluß sich in dem verbürgerlichten Venezuela der Jahrhundertwende mit der Einrichtung von städtischen Clubs im britischen Stil bemerkbar, wo in eleganten halls, Bibliotheken und Eßsälen all jene Angehörigen der neuen und alten Eliten zusammentrafen, die sich dem Fortschritt verschrieben hatten. 40 Auch Deutschland repräsentierte den Geist einer neuen, unternehmerischen Epoche, und es heißt, daß während des Ersten Weltkrieges in Caracas „die Meinungen so geteilt waren, daß es fast ebenso viele Germanophile wie Frankophile gab." 41 Obwohl in jenen Jahren in den Häusern vornehmer venezolanischer Familien „Photographien des Kaisers und der deutschen Generäle" zu finden waren, galt die Bewunderung aber nicht nur der martialischen Figur des Monarchen. 42 Bezeichnenderweise führten die Freunde des Deutschen Reichs als „kulturelle Rechtfertigung ihrer Neigung auch an, daß Deutschland ein Land von Musikern, Dichtern und Künstlern sei." 43 Es scheint, als seien derartige „ideelle" Kriterien für die Präferenzen der Venezolaner letztlich ausschlaggebend gewesen.

38

Gil Fortoul, El h o m b r e y la historia, E n s a y o de sociología v e n e z o l a n a , Madrid o . J . , S. 6 6 , 7 6 , 1 8 6 - 1 8 7 , 2 0 1 - 2 0 3

39

Harwich, a.a.O., S. 2 1 3

40

Estatutos del C l u b Alianza, Caracas 1 9 0 7

41

Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 3 0

42

Ebd.

43

M i c h e l e n a , a . a . O . , S. 8 4

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Mochten reiche caraqueños nach Berlin reisen, um dort renommierte Ärzte aufzusuchen, oder sich zu Kuraufenthalten nach Baden-Baden begeben - im Mittelpunkt ihres Interesses stand immer Paris, das ihnen als höchster Ausdruck des kulturellen Raffinements, des Luxus und des savoir vivre galt. Nicht nur in Fragen der Mode war Frankreich selbstverständlich maßgebend. 44 Die Venezolaner verfolgten mit größtem Interesse auch die Berichte über das „Pariser Leben", mit denen die einheimischen Zeitungen und Zeitschriften sie über alle Neuheiten auf dem Gebiet der Literatur, des Theaters, der Kunst und des Gesellschaftslebens auf dem laufenden hielten. 4 5 Die Frankreichbegeisterung der „vornehmen Gesellschaft" war geradezu grenzenlos, und in den eleganten Villen von El Paraíso erhielten die Kinder Sprachunterricht von französischen Gouvernanten, fast bevor sie ihre Muttersprache beherrschten. 46 Die Faszination, die von dem Mythos Paris ausging, macht deutlich, daß die venezolanische Elite sich ein stilisiertes Europabild zu eigen gemacht hatte, das sich im wesentlichen aus den Komponenten „Kultur" und „Eleganz" zusammensetzte ein Europa, das die Venezolaner, wenn sie Paris verließen, in Biarritz, Grindelwald oder Rom suchten und fanden. Trotz des Enthusiasmus, den die Errungenschaften der technischen Zivilisation bei den Venezolanern weckten, war es offenbar keineswegs der von modernen Industrienationen wie England oder Deutschland verkörperte Rationalismus, den sich die Venezolaner zum Vorbild machten. Vorbehalte gegen die angelsächsische Ethik von Effizienz und Nützlichkeit bestimmten auch die Haltung gegenüber dem nordamerikanischen Nachbarn, und man kann davon ausgehen, daß der Typus des caraqueño, der als von schöngeistigen Idealen inspirierter Elegant aus Europa zurückkehrte, sehr viel häufiger anzutreffen war, als der vom hektischen Tatendrang der yanquis bewegte Unternehmertypus. Lange bevor Rodó seine Theorien von der Herrschaft des Mittelmaßes formulierte, haftete den Nordamerikanern, die bekanntlich ihrerseits auf der Suche nach „Kultur" in die Alte Welt zu reisen pflegten, in Lateinamerika der Ruf der Kulturlosigkeit an. „Das Schöne und das Künstlerische finden wenig Bewunderer in der Heimat des Beefsteaks und der Bratkartoffeln", hatte eine venezolanische Zeitung schon 1887 unumwunden verkündet. 47 Mit ihrer rüden Expansionspolitik schufen sich die Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zudem mehr Feinde als Freunde. Versäumten streitbare Intellektuelle wie Rufino Blanco Fombona keine Gelegenheit, um ätzende Kritik an den gierigen yanquis zu üben und ein „allgemeines Zähneknirschen" im Südteil des amerikanischen Kontinents anzu44 45 46 47

Bricefio-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 268 El Cojo Ilustrado IS. 2. 1908 Vannini de Gerulewicz, Marisa, La influencia francesa en Venezuela, Maracaibo 1968, S. 47 ff. El Siglo 13. 7. 1887, in: Frankel, Benjamin A., Venezuela y los Estados Unidos (1810-1888), Caracas 1977, S. 351

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kündigen, 48 so nahm die kosmopolitische venezolanische Oberschicht gegenüber dem „Koloß im Norden" im allgemeinen eine Haltung von eher geringschätzigem Desinteresse ein, auch wenn sie sich für Zeitungsmeldungen über die eine oder andere Erfindung aus dem Lande Edisons interessierte oder mit Erstaunen eine Notiz über einen jener „angloamerikanischen Millionäre" wie Mister Astor las, der vor kurzem ein englisches Schloß gekauft hatte. 49 „Frankreich ist die Mode, die Vereinigten Staaten sind der Dollar", behauptete die Zeitschrift Actualidades noch 1920. 5 0 Trotz des unaufhaltsam wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einflusses der USA bewies die Überzeugung, daß das Krämervolk im Norden in kultureller Hinsicht wenig Beispielhaftes zu bieten habe, eine bemerkenswerte Lebensdauer. Zu einem Schlüsselerlebnis von weitreichenden Konsequenzen war in diesem Zusammenhang die Intervention geworden, mit der die Nordamerikaner den Befreiungskrieg Kubas gegen Spanien in ihrem Interesse zu nutzen gewußt und die Karibikinsel 1898 unter ihren Einfluß gebracht hatten. Die Lateinamerikaner empfanden dieses Vorgehen als Einmischung in eine „Familienangelegenheit" 51 und ergriffen spontan Partei für die ehemaligen spanischen Kolonialherren, die nach dem Abzug aus Kuba endgültig keine Bedrohung mehr für die Freiheit Hispanoamerikas darstellten. Politisch und wirtschaftlich zunehmend in den Hintergrund gedrängt und inmitten einer sich immer rascher modernisierenden Welt um die Bewahrung des iberischen Erbes besorgt, beschworen die Spanier nun eine von spirituellen Werten getragene „Hispanidad", die die Madre Patria, das „Mutterland", mit seinen ehemaligen Kolonien verbinde - und es gegen Nordamerika abgrenze. Bei der Vierhundertjahrfeier der Entdeckung der Neuen Welt, vor allem aber auf dem großen Hispanoamerikanischen Kongreß, der 1900 in Madrid stattfand, suchten Spanier und Lateinamerikaner eine gemeinsame Front gegenüber den Bestrebungen des Panamerikanismus zu bilden, in dessen Namen die Vereinigten Staaten ihren Einfluß auf die Länder Süd- und Mittelamerikas auszudehnen suchten und diese angeblich in Gefahr brachten, dem weltweit triumphierenden angloamerikanischen Materialismus zu erliegen. 52 Obgleich die hochtönenden Resolutionen des Kongresses von 1900 ohne greifbare Konsequenzen blieben, kann es keinen Zweifel geben, daß die Venezolaner des beginnenden 20. Jahrhunderts ihr Spanienbild revidiert hatten, ja, wie ein Zeitgenosse behauptete, mittlerweile wieder „fast ausnahmslos als hispanophil" gelten

48 49 50 51 52

Blanco Fombona, in: Galasso, a.a.O., S. 19 El Cojo Ilustrado 1 . 7 . 1903 Zit. nach Vannini de Gerulewicz, La influencia francesa, a.a.O., S. 110 Vgl. Gewccke, a.a.O., S. 169 Pike, Fredrick B., Hispanismo, 1898-1936. Spanish Conservatives and Liberals and Their Relations with Spanish America, London 1971, S. 4, 8, 69, 142

IIS

konnten. Zwar konnte eine panhispanische Union unter der Ägide des spanischen Konservatismus weder mit ihren monarchischen Reminiszenzen, noch mit ihrem Ideal der „Einheit im Geist des Katholizismus" in Venezuela Sympathien erwecken, aber man zeigte eine wachsende Bereitschaft, die kulturellen Impulse aufzunehmen, die von einem liberalen Spanien ausgingen. 53 Auf das Vorbild des Ateneo de Madrid ging die Gründung von unabhängigen Kulturzentren in den wichtigsten venezolanischen Städten zurück, allen voran das Ateneo de Caracas, das seit 1931 eine hervorragende Rolle im hauptstädtischen Kulturleben spielte. 54 Vielbeachtete Ereignisse stellten ebenfalls die Besuche bekannter spanischer Intellektueller darso 1920 der Aufenthalt des Dichters Francisco Villaespesa, „zu dessen Ehren im Opernhaus und in den vornehmsten gesellschaftlichen Clubs der Hauptstadt Festakte veranstaltet wurden." 55 Trotz der Distanz zu einem Spanien, mit dem die Lateinamerikaner keine nennenswerten wirtschaftlichen Beziehungen mehr pflegten und das ihnen als das europäische Aschenputtel des 20. Jahrhunderts galt, erwies sich die Sprache als ein unzerstörbares Band, das den kulturellen Austausch zwischen Spanien und den Ländern der Neuen Welt in stetem Fluß hielt. In realiter allerdings übte das rückständige katholische Spanien zu Beginn des Jahrhunderts keine große Anziehungskraft auf die Venezolaner aus, die bei ihren ausgedehnten Europareisen dem „Mutterland" wenig Aufmerksamkeit schenkten und womöglich eher Skandinavien als Spanien besuchten. „Spanien ist für mich wie eine Illusion, die man sich aufspart", rechtfertigten sich die Figuren des 1902 erschienenen Romans Sangre patricia in Antwort auf die Frage, warum sie so oft nach Frankreich, nie jedoch nach Spanien gereist seien, und sprachen schwärmerisch von der „Luft Sevillas, die von dem Geruch nach Fabel und Orangenblüten erfüllt ist", und von der „tiefen und grünen Landschaft" des Tals von Granada, das „von der Alhambra und dem Generalife beherrscht wird." 56 Das von Andalusienromantik verklärte Spanienbild, dem die Venezolaner vor dem realen Spanien den Vorzug zu geben schienen, bildete in den zwanziger Jahren den Hintergrund für eine regelrechte Spanienmode. Iberische Traditionen wie der Stierkampf gelangten zu neuer Blüte, und während die corridas zu glanzvoll zelebrierten gesellschaftlichen Ereignissen wurden, umjubelte man in Venezuela gastierende Flamencotänzer und veranstalte in den eleganten Clubs der Hauptstadt Feste in spanischen Kostümen, auf denen die Damen der guten Gesellschaft als Andalusierin oder als wahrsagende spanische Zigeunerin auftraten. Es hing nicht zuletzt damit zusammen, daß ein anderes Vorbild ins Wanken geraten war, wenn die Venezolaner in den zwanziger Jahren wieder Gefallen an 53

Gil Fortoul, Sinfonía inacabada, a.a.O., S. 319, 3 2 9 - 3 3 3

54

Segnini, Yolanda, Las luces del gomecismo, Caracas 1987, S. 192 ff.

55

Salas, Carlos, Historia del teatro en Caracas, Caracas 1967, S. 154

56

Díaz Rodríguez, Sangre patricia, a.a.O., S. 5 2 - 5 4

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dem einst verhaßten hispanischen Erbe bekundeten. So etwas wie den „Untergang des Abendlandes" konstatierte General José Maria Garcia, als er 1935 seinem Vetter Juan Vicente Gómez aus Europa schrieb: „Hier herrscht auf allen Gebieten ein großes Mißtrauen; man glaubt an nichts und an niemanden. (...) Das Übermaß an Zivilisation hat diese Länder ins Verderben geführt." 57 Nach dem Ersten Weltkrieg und mit den Wirren der Nachkriegszeit hatten die Länder Westeuropas in den Augen der Lateinamerikaner viel an Prestige verloren. Die allzu ausschließliche Orientierung auf das europäische Vorbild, der man sich um die Jahrhundertwende hingegeben hatte, stellte sich zunehmend als Sackgasse dar, die zur gesellschaftlichen und moralischen Krise führen müsse. Darüber hinaus empfand man angesichts der überwältigenden Veränderungen, die der Eintritt ins 20. Jahrhundert für Lateinamerika mit sich brachte, mehr denn je die Notwendigkeit, die Eigenarten der nationalen Kultur und Identität zu definieren. Die Spanienmode ist in diesem Zusammenhang als der Anfang einer Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln zu verstehen, die in den zwanziger Jahren zu tiefgreifenden kulturellen Umwälzungen führen sollte: Zunehmend begann man, die lateinamerikanische Gesellschaft als Ergebnis der Verschmelzung verschiedener Rassen und Völker zu verstehen und sich aus dieser Perspektive in noch nicht dagewesener Weise auch auf die Bedeutung des afrikanischen und des indianisches Erbes zu besinnen, die den Ländern der Neuen Welt ihr besonderes Gesicht verliehen hatten. „Sollten denn nicht nur die, die wir sicher sind, in unseren Adern kein indianisches Blut zu haben, sondern auch jene, die glauben, einen Tropfen Blut von caribes oder von chorotegas zu besitzen, um Ansehen zu erlangen, nicht lieber das Andenken unserer siegreichen Väter als das unserer besiegten Großväter pflegen? Was mich betrifft, so hatte ich noch nie Sinn für die Poesie der indianischen Reiche Amerikas." 58 So hatten sich die Dinge 1908 noch Bianco Fombona dargestellt, aber nur wenige Jahre war später ein deutlicher Stimmungsumschwung fühlbar geworden, was die mangelnde Empfänglichkeit für die Poesie vergangener indianischer Größe anging. Auf die Tatsache, daß auf dem Territorium des späteren Venezuela die indianischen Kulturen „nicht ausgeprägt genug waren, um uns ein kollektives Vermächtnis zu hinterlassen", führte es Pablo Rojas Guardia 1930 in einem Essay in der Zeitschrift Elite zurück, daß der Venezolaner nicht „in einer so engen Verbindung mit dem zutiefst unsrigen steht, wie dies bei einem Mexikaner oder einem Peruaner der Fall ist". 59 Die Neubewertung des indianischen Erbes, die aus diesen Worten sprach, ist in Zusammenhang mit einer tiefgreifenden kulturellen Umorientierung zu sehen, die den Faktor der Rassenverschmelzung als Grundlage eines neuen lateinameri57

Segnini (Hg.), Los hombres del Benemèrito, a.a.O., Bd. I, S. 3 7 1

58

Bianco Fombona, El peligro de America y el augurio de la poesia, in: Galasso, a.a.O., S. 257

59

Elite 18. 10. 1 9 3 0

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kanischen Selbstbewußtseins zu betrachten begann und für die besonders das nachrevolutionäre Mexiko wegweisend vorangegangen war. Zu überall auf dem Kontinent vieldiskutierten Persönlichkeiten waren Männer wie der mexikanische Erziehungsminister José Vasconcelos geworden, der in seinen Schriften das amerikanische Mestizentum zu einer neuen „kosmischen Rasse"60 erhob und dessen Thesen die monumentalen Gemälde von Diego Rivera mit ihren stilisierten Darstellungen indianischer Vergangenheit und Gegenwart zu illustrieren schienen. Es dauerte nicht lange, bis der neue Kulturnationalismus, der sich überall in Lateinamerika verbreitet hatte, aus seiner intellektuellen Enklave ausgebrochen und zur Mode geworden war. In Ermangelung eigener glorreicher indianischer Imperien empfingen die Venezolaner 1930 mit großer Begeisterung eine Truppe mexikanischer Künstler, von denen die Zeitschrift Elite ankündigte, daß sie „Tänze und Lieder vorführen werden, die voll jenes fast indianischen Gefühls sind, das sie noch immer bewahren" - ohne daß deshalb, wie das Foto einer der mexikanischen Tänzerinnen bewies, der Straß und die Federbüsche gefehlt hätten, die für das Revuetheater jener Jahre charakteristisch waren. 61 Das farbenfrohe Bild der indianischen Vergangenheit, das dieses neue „mexikanische Folkloretheater" vermittelte, war offenbar ebenso stilisiert, wie das Spanienbild, das die Andalusienmode verbreitete. Gerade hier jedoch zeichneten sich die Anfänge jener modernen Theater-, Kino- und Musikkultur ab, in der das sich wandelnde Selbstverständnis der Lateinamerikaner im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts seinen Niederschlag finden sollte. Dennoch darf man die um 1930 allerorts spürbare Neigung zur „nationalistischen" Rückbesinnung keineswegs als radikale Distanzierung von ausländischen Vorbildern verstehen. Mochten auch die Theoretiker des Kulturnationalismus vor der imperialistischen Gefahr warnen, die aus dem Norden drohe, so hatten die Vereinigten Staaten nach der Krise der Jahrhundertwende ihr Ansehen allmählich wiederherstellen können und befanden sich wirtschaftlich und kulturell auf dem Vormarsch. Nachdem deutlich geworden war, daß die Aggressivität der gunboatdiplomacy die Beziehungen zwischen den beiden Hemisphären auf die Dauer allzu sehr beeinträchtigen würde, hatten sich die Nordamerikaner darauf verlegt, „Kugeln durch Dollar zu ersetzen", und betrieben eine Politik der Vertrauensbildung, die in der 1933 von Franklin D. Roosevelt verkündeten Devise von der Good Neighbor Policy kulminierte. 62 Unter dem Vorzeichen nachbarlicher Annäherung vollzog sich jene Dollarinvasion, die die venezolanische Wirtschaft innerhalb 60 61 62

Vasconcelos, José, La raza còsmica, Mexico 1925 Elite 1. 11. 1930 Rosenberg, Emily S., Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890-1945, New York 1982, S. 58, 122; Fagg, John Edwin, Pan Americanism, Malabar/Florida 1982, S. 48

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weniger Jahre in einem noch nicht dagewesenen Maße auf den nördlichen Nachbarn ausrichtete: 1935 machte das Öl bereits 99 Prozent der venezolanischen Exporte aus, und 1938 waren 61 Prozent der ausländischen Investitionen in Venezuela nordamerikanischen Ursprungs.63 Für den immer spürbareren Einfluß, den die Vereinigten Staaten auf den Lebensstil der Venezolaner auszuüben begannen, war die Anwesenheit der Ölgesellschaften zunächst jedoch nicht unmittelbar verantwortlich zu machen. Aufgrund des Enklavencharakters der Ölwirtschaft waren die Venezolaner kaum in Berührung mit den Nordamerikanern gekommen, die in abgeschlossenen Camps nahe den Ölfeldern lebten und ihrerseits wenig Interesse an einem engerem Kontakt mit den Einheimischen zeigten, welcher Gesellschaftsschicht diese auch angehören mochten. Mit dem wachsenden Import wurden jedoch immer mehr Konsumgüter aus den USA eingeführt, die nicht ohne Einfluß auf das Alltagsleben der Venezolaner bleiben konnten. Seien es die Automobile der Marken Cadillac, Chrysler oder Ford, die das Straßenbild veränderten; Grammophone, Radios oder Kühlschränke, die den Haushalt technisierten, oder neue Produkte des täglichen Gebrauchs wie Colgate-Zahncreme und Mayonnaise der Firma Kraft - immer deutlicher machte sich eine „Nordamerikanisierung" des Lebensstils bemerkbar, die besonders die privilegierte Oberschicht, aber auch die wachsende städtische Mittel- und Unterschicht betraf. Kulturelle Leitbilder vermittelten die Nordamerikaner keineswegs nur über den massiven Export von Konsumgütern, tiefgreifenden Einfluß übten sie auch als Wegbereiter eines neuen Zeitalters der Massenkommunikation aus. Daß trotz aller erklärten Vorbehalte gegen den „nivellierenden" Rationalismus der Angelsachsen die venezolanische Presselandschaft von dem Vorbild einer „Demokratisierung" der Information nicht unbeeinflußt geblieben war, zeigte die Umgestaltung, mit der die Zeitschrift Elite sich Mitte der dreißiger Jahre den Ansprüchen einer neuen Zeit anzupassen suchte. Der Einfluß des nordamerikanischen Vorbilds war nicht nur an den neuen Comicstreifen oder an der zunehmenden Bedeutung der Werbung abzulesen. Elite präsentierte sich auch im Gesamteindruck weniger elitär, indem sie sich von dem stärker auf Text und Kommentar orientierten Vorbild der französischen Presse löste, während visuelle Elemente in den Vordergrund traten und Fotos bis an den Rand von großformatigen Seiten reichten. Durch die Kombination von Bildern und kurzen Informationen zugänglicher geworden, war Elite auf dem besten Wege, von der eleganten Kultur- und Gesellschaftszeitschrift einer europäisierten Elite zum modernen Massenmedium einer wachsenden städtischen Bevölkerung zu werden. 63

Das z u n ä c h s t d o m i n i e r e n d e b r i t i s c h - h o l l ä n d i s c h e Kapital war 1 9 3 8 m i t n u r 3 1 Prozent in den Hintergrund gedrängt worden. Vgl. Rodriguez Gallad, in: P i n o Iturrieta et al., a.a.O., S. 8 2 ; Brito Figueroa, a.a.O., Rd. II, S. 4 3 4

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Zum wohl wirkungsvollsten Wegbereiter des American way of life wurde indessen das Kino: Rund 80 Prozent der Filme, die 1925 in Lateinamerika gezeigt wurden, waren US-Produktionen. 64 Die Lateinamerikaner begegneten dieser Entwicklung nicht unkritisch, und während der europäische Film als der künstlerisch anspruchsvollere galt, kritisierte die Zeitschrift Elite 1930 die Stereotypen, die das nordamerikanische Kino in seinem Streben nach „Arbeitsersparnis, nach Standardisierung'" hervorbringe, und bekundete ihr Mißfallen an der rationalisierten Produktionsweise der immer dominierenderen US-amerikanischen Kinoindustrie. 6 5 Aber obgleich man die alten Vorbehalte der Lateinamerikaner hinsichtlich der angelsächsischen „Herrschaft des Mittelmaßes" wiederzuerkennen glaubt, wenn 1936 dieselbe Zeitschrift ein Melodram mit Robert Taylor als „fades Hollywoodprodukt" einstufte, 66 gaben die Stars und Sternchen des nordamerikanischen Kinohimmels doch einprägsame Lektionen in puncto Lebensstil und führten ihren Bewunderern in aller Welt ein Bild des Fortschritts vor, dessen Glanz immer größere Anziehungskraft auszuüben begann. Als die „Kultur des Erdöls" - deren charakteristische Konsumeuphorie nicht zuletzt auf den wachsenden Einfluß der USA zurückgeführt worden ist - sich in den dreißiger Jahren allmählich zu entfalten begann, war das kulturelle Selbstverständnis der Venezolaner also von einer Vielzahl von zum Teil widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Das Bestreben, sich von einer als rückständig empfundenen kolonialen Vergangenheit zu befreien, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer negativen Selbsteinschätzung geführt, die lange nachwirken sollte. Doch wenn in diesem Zusammenhang die Nationen Westeuropas zum uneingeschränkt bewunderten Maßstab allen Fortschritts erhoben worden waren, gab es durchaus auch Kräfte, die der angeblich bedingungslosen Auslandsorientierung der Venezolaner entgegenwirkten. Nachdem man im 19. Jahrhundert alle Spuren der spanischen Vergangenheit auszumerzen gesuchte hatte, begannen sich im 20. Jahrhundert die kulturellen Beziehungen zu jenem Land, das Venezuela durch die gemeinsame Sprache und Geschichte so nahe stand, wieder zu normalisieren. Die euphorische Europabegeisterung der Tage von Guzmän Blanco machte vor allem nach dem Ersten Weltkrieg einer gewissen Ernüchterung Platz, und in den zwanziger Jahren setzte gar eine „nationalistische" Rückbesinnung ein, die auch die indianischen und afrikanischen Wurzeln Venezuelas in ein neues Licht zu rücken begann und, wenn sie auch zu folkloristisch stilisierten Ergebnissen kam, doch eigene Wege in eine lateinamerikanische Kultur der Moderne eröffnete. Das Klischee von der blinden Auslandshörigkeit der Venezolaner ist jedoch auch insofern zu hinterfragen, als diese bei der Wahl ihrer Vorbilder ausgesprochen 64 65 66

Rosenberg, a.a.O., S. 100 Elite 25. 10. 1933 Elite 10. 10. 1936

120 selektiv vorgegangen waren. So wurden mit Vorliebe all jene Aspekte aufgegriffen, die einem elitären Zivilisationsideal von kultureller Verfeinerung und mondäner Eleganz entsprachen, während man gegenüber dem nüchternen Zweckdenken, das die angelsächsische Welt in den Augen der Lateinamerikaner verkörperte, deutliche Distanz wahrte. Der alltagskulturelle Wandel, den die Venezolaner im Zeitalter des Öls vollzogen und der vor allem dem lange Zeit wenig geschätzten American way of life zu immer größerer Vormacht verhalf, kann nur vor dem Hintergrund dieser komplexen kulturellen Vorgaben verstanden werden.

Ethik der Verschwendung Wenn Venezuela gleichsam über Nacht Einzug in das Zeitalter des Konsums gehalten hatte, so war der Wohlstand, der in den wachsenden Städten und vor allem in Caracas einen neuen Lebensstil schuf, nicht der Entfaltung der Produktivkräfte im Lande selbst zu verdanken. Mehr als die eigene Anstrengung hatte der Zufall Venezuela den Anstrich einer Überflußgesellschaft verliehen, die sich darauf beschränken konnte, die fabelhaften Einkünfte, die seit den zwanziger Jahren ins Land flössen, in einträgliche Geschäfte zu kanalisieren. Ebenso rasche wie bedeutende Gewinne versprach in erster Linie der Import von Konsumartikeln, das heißt der Import jener Artefakte des materiellen Fortschritts, die so leicht mit dem Fortschritt selbst zu verwechseln waren. Im Jahre 1949, als in dem boomenden Erdölland der Mythos vom El Dorado vielen seiner Zeitgenossen Wirklichkeit geworden zu sein schien, warnte Arturo Uslar Pietri deshalb vor einer trügerischen, oberflächlich bleibenden Modernisierung, die nicht mehr als die Illusion einer kleinen Gruppe von Privilegierten sei und wie von Zauberhand wieder verschwinden werde, sobald der letzte Tropfen Öl geflossen sei: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß wir das Erdöl benutzen, um eine fiktive Nation aufzubauen. Den Schein einer Nation. Alles Äußere, Prächtige und Aufsehenerregende, und nichts des Inneren, Soliden und Wahrhaftigen. Wir haben das Erdöl nicht benützt, um unseren bleibenden Reichtum zu vermehren, sondern es für das Vergnügen, den Genuß, die Prahlerei, die Bequemlichkeit und den Schein ausgegeben." 67 Immer wieder behaupteten die Kritiker der venezolanischen Entwicklung, das allzu mühelos erworbene Geld habe die vom Erdöl privilegierten Gruppen daran gewöhnt, den Reichtum im „Einkauf" des Fortschritts ebenso schnell wieder auszugeben, wie sie ihn erworben hatten, anstatt ihn einem produktiven Gebrauch 67

Uslar Pietri, De una a otra Venezuela, a.a.O., S. 4 6

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zuzuführen und eine solide Grundlage für die Zukunft des Landes zu schaffen. 6 8 Besonders die Oberschicht wurde für die mißlungene Modernisierung Venezuelas verantwortlich gemacht, denn der Kern des Problems schien vielen darin zu liegen, daß die venezolanische Unternehmerschaft jener bürgerlichen Tugenden entbehre, denen andere Nationen ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu verdanken hätten: Fleiß, Ausdauer, Vorausschau und Sparsamkeit. Das Ausbleiben einer bürgerlichen Revolutionierung von Wirtschaft und Gesellschaft, klagte 1938 der Essayist und Historiker Augusto Mijares 6 9 in seiner „Pessimistischen Interpretation der hispanoamerikanischen Soziologie", habe eine grundlegende Erneuerung der venezolanischen Wirtschaft und Gesellschaft bisher verhindert. 7 0 Lange bevor das schwarze Gold seine verderbliche Macht entfalten konnte, hatten die Venezolaner selbstkritisch ihre hedonistischen Neigungen für den Rückstand des Landes verantwortlich gemacht. In seinem Tagebuch vom Jahrhundertanfang hatte Rufino Blanco Fombona mit gewohnter Bissigkeit die Jugend der vornehmen, hauptstädtischen Gesellschaft folgendermaßen porträtiert: „(...) dem Zynismus oder der Heuchelei verfallen, von der Syphilis zerfressen, vom Alkohol vergiftet, gehen sie zugrunde oder vegetieren das ganze Leben in Schande und Müßiggang, ernährt vom Vater, vom reichen Onkel oder von der verheirateten Schwester. Sie fürchten die Arbeit so sehr, daß sie ihr selbst den Tod vorziehen würden. Deshalb verstärken sie in den Bürgerkriegen oft die Reihen der Aufständischen. Sie hoffen, zum Oberst oder zum General aufzusteigen; die Macht an sich zu reißen und sich schamlos zu bereichern. Sie wollen Geld haben und glücklich sein, ohne zu arbeiten." 7 1 Einige Jahre zuvor hatte Felipe Tejera, einer der satirischen Sittenschilderer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem gleichen Sachverhalt eine humoristischere, aber darum nicht weniger kritische Wendung gegeben und einem um seine Söhne besorgten Familienvater folgende Worte in den Mund gelegt: „Die beiden Gecken haben keinen Beruf; und da man die Jugend nicht mehr zum Studium anhalten kann und es unehrenhaft ist, ein Handwerk zu lernen, weiß ich noch nicht, wozu meine Sprößlinge geboren wurden. Ich nehme an, daß sie schließlich als Abgeordnete, Konsuln oder ähnliches Verwendung finden werden. Man kann ihnen aber nicht absprechen, daß sie wunderbar zu tanzen wissen, daß sie rauchen, nichts als Trüffel essen und sich wie die Modepuppen kleiden; sie sprechen viel von der Philosophie und von der Vernunft; verstehen es, Walzer auf dem Klavier zu begleiten, kurz, sie lassen sich wahrhaftig nicht für dumm verkaufen. 68

Vgl. Werz, a.a.O., S. 138

69

... selbst Nachfahre einer der vornehmsten Familien der venezolanischen Kolonialaristokratie, der Marqueses de Mijares ...

70 71

Mijares, Augusto, La interpretación pesimista de la sociología hispanoamericana, Caracas 1985 Zit. nach Rama, a.a.O., S. 130

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Jeder von ihnen wäre in der Lage, auch dem gerissensten Gegner vier Kugeln in die Brust zu jagen. Ja, sie sind richtige Männer, und ich kenne niemanden, der ihnen als Schütze überlegen wäre!"72 Vor dem Hintergrund der Theorien des europäischen Determinismus, vor dem man um die Jahrhundertwende den „Nationalcharakter" als Ergebnis der Rassenverschmelzung betrachtete, hatten bereits die venezolanischen Positivisten die Ursachen für den Hang zum Müßiggang und zur ostentativen Verschwendung in der iberischen Vergangenheit Venezuelas gesucht. 73 Nicht das Erbe der spanischen „Mentalität", wie die Positivisten glauben mochten, wohl aber die Werte des europäischen Feudalismus schienen sich in der Tat mit der spanischen Besiedlung Venezuelas auf den amerikanischen Kontinent verpflanzt zu haben. 74 „Jeder will ein Herr sein und in Muße leben", so hatte um 1800 der französische Reisende Depons die Haltung der Kreolen charakterisiert und damit den engen Zusammenhang zwischen Müßiggang und gesellschaftlichem Ansehen angesprochen, den man in einer von feudalen Wertvorstellungen geprägten Welt herzustellen gewohnt war. Aber nicht nur in ihrer vornehmen Abneigung gegen die Arbeit hielten die Venezolaner offenbar an überlieferten Leitbildern fest. In einer Gesellschaft, die durch die Gesetze der Ehre bestimmt wird, definiert sich das Selbstverständnis des Einzelnen weniger durch sein privates Ich als durch seine gesellschaftliche Rolle.75 Dieses „ständische" Übergewicht der Form über den Inhalt, des Äußeren über das Innere war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der großen Bedeutung, die man der repräsentativen Selbstdarstellung beimaß, noch deutlich zu spüren. Dabei mußte ein gesellschaftlicher Zwang zur Ostentation fast notwendigerweise zu einem mehr oder weniger nachlässigen Umgang mit den finanziellen Ressourcen führen. Ein seigneurales Leben führen heißt, sich über die Sphäre der Notwendigkeit zu erheben, heißt „Luxus treiben, so weit es die Mittel erlauben und über diese hinaus" 7 6 - und entsprechend dieser „Ethik der Verschwendung" galt den Venezolanern der Jahrhundertwende das Sparen geradezu als Sünde: „Wir sind hier alle reich, weil wir ausgeben, was wir haben", stellte Rufino Blanco Fombona mit Harm fest, „und wir verpfänden sogar unsere Zukunft, um die Gegenwart besser auskosten zu können. So liegt die schlimmste Beleidigung für uns in dem Wort: Geizhals. Der Geiz ist ein Fehler, der bei uns keine Verzeihung findet." 77

72 73 74 75 76 77

Picón Salas (Hg.), Antología de costumbristas, a.a.O., S. 285 Mieres, Antonio, Ideas positivistas en Gil Fortoul y su historia, Caracas 1981, S. 99 Vgl. Pietschmann, a.a.O., S. 25-26 Berger, Peter L., Berger, Brigitte u n d Kellner, Hansfrled, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt/M. 1987, S. 80 Sombart, Werner, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des m o d e r n e n Wirtschaftsmenschen, Hamburg 1988, S 19 Blanco Fombona, in: Rama, a.a.O., S. 173

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Es liegt nahe, diese Haltung vor allem den wegen ihrer Unproduktivität vielgeschmähten Hacendados zuzuschreiben. Doch obwohl eben der einer alten Großgrundbesitzerfamilie entstammende Blanco Fombona, der mit bitteren Worten die Verschwendung geißelte, selbst Tausende von Bolívares beim Bakkaratspiel in dem Badeort Macuto oder im Club Concordia verlor, 78 mußte ihre prekäre wirtschaftliche Lage den angeblich hedonistischen Neigungen der Großgrundbesitzer relativ enge Grenzen setzen. Es ist behauptet worden, Kaffee und Kakao seien die „Früchte des Müßiggangs", und die Meinungen über die Mühe, die der Anbau dieser Agrarprodukte bereitet, sind geteilt. In Wirklichkeit bezogen jedoch nur wenige aus ihren Haciendas ausreichende Einkünfte, um sich jenem eleganten Epikureertum hinzugeben, das den Landbesitzern oft nachgesagt worden ist. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß die „Ethik der Verschwendung" zunehmend jenem städtischen Ambiente von neofeudaler Eleganz angehörte, in dem alte und neue Eliten um die Jahrhundertwende zusammengefunden hatten. Es scheint vor diesem Hintergrund nur konsequent, daß diese städtische Oberschicht ihr repräsentatives Terrain zu verteidigen gewillt war und keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen jene rationalere Lebensführung machte, die die Angelsachsen in ihren Augen verkörperten. Bereits Rodó hatte dem Befremden der Lateinamerikaner über die weitabgewandten Puritaner Ausdruck verliehen - jene „traurige Sekte, die (...) alle Feste verbot, wo die Freude herrschte, und alle Bäume fällen ließ, die Blüten trieben." Indem sie sich unter Berufung auf „erhabene", ideelle Werte gegenüber dem immer erdrückenderen angelsächsischen „Nützlichkeitsdenken" zu Verteidigern des alten Begriffs der Muße aufwarfen, verwahrten sich die arielistas indirekt auch gegen jene umstürzlerischen Kräfte des Wettbewerbs, die ein uneingeschränktes Walten des Leistungsgedankens zum Leben erwecken mußte. 79 Die wahre Distinktion, so war den Worten Rodos und seiner Anhänger zu entnehmen, manifestiert sich in der Muße, wo der Geistesadel, das ästhetische Raffinement oder einfach der Prunk sich entfalten können und eine Sphäre bilden, zu der der nivellierende Utilitarismus keinen Zugang hat. „Es ist nicht wahr, daß Zeit Geld ist", kommentierte in diesem Sinn der venezolanische Essayist Jesús Semprum 1926 in der Zeitung El Heraldo das neue Evangelium des time is money, um mit warnenden Worten hinzuzufügen: „Wer glaubt, daß Zeit Geld ist, und sich nur dem Geldverdienen widmet, wird schließlich herausfinden, daß er seine Zeit verloren hat. Zeit ist Leben, Schönheit, Liebe, Freude, Kunst, Arbeit und Erholung (,..)." 80 So sehr man sich einerseits von der Überzeugung leiten ließ, daß die Fähigkeit zur eleganten Muße den distinguierten Menschen auszeichne, war man sich ande78 79 80

Ebd., S. 127, 131 Rodó, a.a.O., S. 73, 79 El Heraldo 9. 6. 1926

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rerseits jedoch durchaus der Gefahren bewußt, die jenen drohten, die in der Ablehnung des wirtschaftlich immer dominierenderen Leistungsprinzips zu weit gingen. 1921 beschrieb José Rafael Pocaterra in seinem Roman „Das Haus der Abila" die wirtschaftliche und moralische Dekadenz einer Familie, deren grenzenloses Streben nach gesellschaftlichem Glanz sie untätig dem finanziellen Ruin entgegentreiben läßt. Nur indem der junge Juan Abila sich die neue Ideologie von Arbeit und Leistung zu eigen macht, kann er seine Familie vor dem endgültigen Untergang bewahren. 81 Mehr denn je gewillt, sich nicht von jener modernen Welt der Effizienz auszuschließen, die so greifbare Erfolgsbeweise vorweisen konnte, hatte zu Beginn des Jahrhunderts eine Welle der Tatkraft die Venezolaner ergriffen. Trotz aller Vorbehalte gegen eine uneingeschränkte Herrschaft des Utilitarismus verlangte die allzusehr ins Auge springende Ungleichheit der Entwicklung Nord- und Südamerikas nach weiterreichenden Erklärungen, und die Positivisten begannen, sich intensiv mit den Ursachen für die unproduktive Bequemlichkeit ihrer Landsleute zu befassen. Neben den Nachteilen, die den Venezolanern aus einem rassischen Vermächtnis erwuchsen, das angeblich iberischen Standesstolz mit afrikanisch-indianischer Indolenz verband, 82 galt in Anlehnung an die im 19. Jahrhundert in Europa wiederauflebende Theorie des geographischen Determinismus auch das tropische Klima den Venezolanern als Hemmschuh der Entwicklung: „Wir alle, die wir unter der Sonne der heißen Klimazone geboren sind, neigen von Natur aus zur Faulheit", hatte schon um 1890 der positivistische Soziologe Gii Fortoul festgestellt.83 Von der unfehlbaren Wirksamkeit „rationaler" Lösungen überzeugt, beschränkten sich die Doctores nicht darauf, eine exakte Diagnose der fatalen Kräfte zu stellen, die auf den venezolanischen Charakter einwirkten, sondern suchten ebenfalls nach Heilmitteln, die eine Besserung herbeiführen konnten. „Gegen die Trägheit und gegen die Neigung zur Indolenz, die die übermäßige Hitze hervorruft", so behaupteten die Positivisten, „reagiert der menschliche Wille mit einer besonderen Diät und mit methodischen Übungen an der frischen Luft." 84 Die Sportbegeisterung, die zu Beginn des Jahrhunderts mit Baseball, Tennis oder Gymnastik von der venezolanischen Oberschicht Besitz ergriff, war Ausdruck eines neuen Strebens nach Disziplin und Leistungsfähigkeit, das bis in die Tiefe des venezolanischen Seins reichte: das Bestreben, jene chaotischen Zustände von Irrationalität und Fatalismus zu überwinden, die den seit der Unabhängigkeit erwarteten Glanz der Zivilisation hatte ausbleiben lassen und die Venezolaner nach wie vor zur Rückständigkeit verurteilten. 81

Pocaterra, J o s é Rafael, I.a casa de los Abila, Caracas 1 9 7 3

82

Mieres, a.a.O., S. 9 9

83

Gil Fortoul, El h o m b r e y la historia, a.a.O., S. 7 5 - 7 5

84

Ebd.

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„Ordnung und Fortschritt" lautete die Losung, die die Positivisten zu ihrem Leitbild erhoben hatten und die in ihren Augen nur ein autoritärer Herrscher im nationalen Gesamtzusammenhang in die Tat umzusetzen vermochte. Juan Vicente Gómez mochte der Bildung und der eleganten Umgangformen entbehren, aber der Mann, der in seinem asketisch eingerichteten Arbeitszimmer eine französische Bronzefigur eines am Amboß arbeitenden Schmieds aufgestellt hatte, die den Titel „Le Travail" trug, 85 verkörperte eben jene Tugenden, derer Venezuela jetzt am dringendsten bedurfte - und war sich dessen selbst durchaus bewußt. Bereits in seiner frühesten Jugend, so der Präsident 1923 in einer Ansprache vor dem Kongreß, habe er die Gewohnheiten der Ordnung, der Disziplin, der Sparsamkeit und des Fleißes erworben, von denen er sich erfolgreich in seiner Regierungsführung leiten ließe. 86 War es dem Diktator gelungen, der Anarchie des alten caudillismo ein Ende zu machen und die politische Macht zu bürokratisieren, so empfahl er sich außerdem gerade durch seine disziplinierte und schlichte Lebensführung, die ihm gleichzeitig den Vorwurf der bäuerlichen Ungeschliffenheit eintrug, als vorbildlicher Führer der nationalen Geschicke. Nur ein Barbar „lebt in den Tag hinein, ohne an die Zukunft zu denken", hatte um 1900 Blanco Fombona verkündet, später übrigens ein erklärter politischer Gegner des Gómez-Regimes. Der „Barbarei" der Improvisation und der Desorganisation überdrüssig, eröffnete das strenge Regiment von General Gómez jedoch vielen der Zeitgenossen Blanco Fombonas Hoffnungen auf eine „moralische" Gesundung, die aus den Venezolanern methodischere, diszipliniertere Menschen machen und ihrem Land einen neuen Anstrich von Modernität verleihen sollte. Zumindest seine Residenzstadt Maracay unterwarf Gómez in der Tat dem geregelten Rhythmus des Fortschritts. In einer Stadt voller Kasernen, wo pünktlich um fünf Uhr morgens eine Militärkapelle durch die Straßen marschierte und die Nationalhymne anstimmte, suchte man auch die zeitliche Ordnung der Effizienz zu etablieren, in deren Takt man sich direkt in eine glorreiche Zukunft zu marschieren versprach.87 Obwohl es die hauptstädtische Elite wohl kaum nach dieser Kasernenhofdisziplin verlangte, und sie eine Sphäre von exklusiver Muße stets mehr oder weniger ausdrücklich verteidigte, zeigte sie sich in den ersten Dekaden des Jahrhunderts offensichtlich doch gewillt, sich dem Leistungsdenken eines rationaleren Zeitalters zu unterwerfen. Indessen kündigten sich Entwicklungen an, die diese Einsichten wieder zu relativieren drohten. Mit dem Ölboom war Venezuela zu einem Zeitpunkt in die moderne Welt eingetreten, als diese selbst einen tiefgreifenden kultu85

Lavin, a.a.O., S. 1 7 0 - 7 1

86

Gómez, Juan Vicente, Botschaft des konstitutionellen Präsidenten der Republik Venezuela General Juan Vicente Gómez an den Nationalkongreß Im Jahre 1923, Hamburg 1923, S. 8 Lavin, a.a.O., S. 2 2 2

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rellen Wandel vollzog. Die Industrialisierung Europas und vor allem der Vereinigten Staaten hatte einen Wohlstand geschaffen, der jene puritanische Ethik von Arbeit und Sparsamkeit, die die Anfänge des Industriekapitalismus begleitet hatte, immer mehr in den Hintergrund treten ließ. Nachdem die Generation der arielistas die Freudlosigkeit eines „reinen" Nützlichkeitsdenkens entschieden von sich gewiesen hatte, entfaltete sich in Nordamerika nun eine Unternehmermentalität, die mehr Sympathien weckte. In einem Artikel, in dem sie 1922 ihre Leser darüber informierte, wie der „große Millionär Henry Ford lebt", hatte die Zeitung Panorama mit Wohlgefallen darauf hingewiesen, daß im Gegensatz zu „verkleideten Geistlichen" wie Carnegie, Rockefeller oder Morgan, „die ihre Millionen mit dem Grabesernst eines Presbyterianerpaters in die Tasche stecken", Ford der einzige sei, „der nicht feierlich gelehrt hat, daß der geheime Weg zum Erfolg darin liegt, jeden Tag fünfzehn Cent zu sparen." 88 Im Gegensatz zu den asketischen Vätern des Kapitalismus verkörperte Henry Ford den weniger angestrengten Erfolg des modernen Unternehmers, der „seine glänzende Situation erreicht hat, ohne sich zu beeilen und ohne zu laufen (...), mit einem ruhigen Vertrauen in sich und die Dinge." 89 Es kündigte sich der überwältigende Erfolg des American way of life an, der zunehmend die angenehmen, glückverheißenden Aspekte des Fortschritts betonte. In der großen Industrienation war die von Enthaltsamkeit und rastloser Arbeit getragene Epoche des Aufbaus zum Ende gekommen, und das scheinbar unbegrenzte Wachstum der Produktion und ihre fortschreitende Diversifizierung hatten eine neue Ära des Überflusses eingeleitet, in der Freizeit und Konsum eine immer wichtigere Rolle spielten. 90 „Nordische Dynamik" bescheinigte Elite anerkennend 1936 einer „köstlichen" Komödie mit Henry Fonda, 91 aber bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß der beschwingte Rhythmus des nordamerikanischen Kinos keineswegs mehr jenem puritanischen Tempo der Effizienz entsprang, dem die Lateinamerikaner den wirtschaftlichen Erfolg des nördlichen Nachbarn zuzuschreiben pflegten. In der dynamischen US-amerikanischen Unterhaltungskultur schlug sich vielmehr das von einer neuen, stimulierenden „Lebensfülle" bewegte Selbstverständnis einer Nation nieder, in der die asketische Moral der Kapitalakkumulation allmählich durch die hedonistische Moral des Konsums ersetzt wurde. Nicht zuletzt das Kino selbst Teil der immer mächtigeren Freizeitindustrie - trug dazu bei, überall in der Welt die Leitbilder der Konsumgesellschaft zu verbreiten, in der der Einzelne seine

88 89 90 91

Panorama (Maracaibo) 19. 5. 1922 Panorama 19. 4. 1922 Susman, Warren I., Culture as History. The Transformation of American Society in the Twentieth Century, New York 1984, S. 111-113, 489 Elite 26. 9. 1936

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Erfüllung nicht mehr ausschließlich in der Produktivität findet, sondern zunehmend auch im „kreativen" Genuß des erlangten Wohlstandes. 9 2 Es wird im weiteren Verlauf der Untersuchung nach der Rolle zu fragen sein, die das neue Leitbild von unbegrenztem Konsum bei der „Nordamerikanisierung" eines Landes spielte, das die sagenhaften Einnahmen aus dem Erdöl ebenfalls zu einer Überflußgesellschaft zu machen schienen - ohne daß es an der Entwicklung teilgehabt hatte, die in den industrialisierten Ländern eine generelle Konsumbereitschaft zur wirtschaftlichen Notwendigkeit machte. Tatsächlich befanden sich die Venezolaner in einem Zwiespalt, was das immer dominierendere nordamerikanische Modell betraf: Während die traditionelle Ethik der Verschwendung sie für die neue Ethik des Überflusses besonders empfänglich zu machen schien, mußte das US-amerikanische Konzept von massivem, d. h demokratisch-„nivellierendem" Konsum dem exklusiven Fortschrittsideal der städtischen Eliten widersprechen und auf entsprechenden Widerstand stoßen. Die Rezeption von ausländischen Vorbildern, so hat sich gezeigt, verlief also durchaus nicht - wie die Anhänger der These vom Kulturimperialismus immer wieder behauptet haben - als einseitiger kultureller Eroberungsprozeß. 9 3 Der Wandel des Lebensstils unterlag vielmehr einer durch überlieferte Werte und Verhaltensmuster geprägten „kulturellen Siebung" 9 4 , die einzelne Elemente annahm und in den einheimischen Kontext integrierte, andere jedoch ausschloß. Dies galt auch für den unbestritten immer größeren Einfluß der Vereinigten Staaten, unter deren Ägide sich Venezuelas Eintritt in das Konsum- und Medienzeitalter vollzog. Um jene Version von alltagskultureller Modernität, die sich bis 1958 in Venezuela entwickelte, in ihren Besonderheiten zu erfassen, darf die Rolle, die die „Logik der Tradition" bei der Verarbeitung dieser kulturellen Umwälzungen spielte, keineswegs unterschätzt werden.

92

Vgl. Lears, T.J. Jackson, From Salvation to Self-Reallzation. Advertising and the Therapeutic Roots of the Consumer Culture, 1 8 8 0 - 1 9 3 0 , in: Fox, Richard Wightman, und Lears, T.J. Jackson (Hg.), The Culture of Consumption. Critical Essays In American History 1 8 8 0 - 1 9 8 0 , New York 1983, S. 3 ff.

93

So hatte Rodolfo Quintero 1972 den Begriff der „Kultur des Erdöls" mit dem der „Kultur der Eroberung" gleichgesetzt. Vgl. ders, a.a.O., S. 103 Reimann, a.a.O., S. 3 6 9

94

128

Die Modernisierung der Alltagskultur In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhren die Lebensumstände der Venezolaner eine Veränderung, wie sie sich drastischer kaum denken läßt. Von dem relativ rückständigen Agrarland, das es zu Beginn des Jahrhunderts gewesen war, verwandelte sich Venezuela in ein Wirtschaftstraumland, dessen prosperierende städtische Zentren mit einer Flut von Importen unversehens Zugang zu allen Errungenschaften des Fortschritts erhielten. Venezuela wurde zu jener „Nation von Neureichen" 1 , die den materiellen Fortschritt in vollen Zügen auskosteten, ohne an die Zukunft ihres Landes zu denken, und dabei - wie nicht wenige Zeitgenossen meinten - zunehmend das Bewußtsein ihrer nationalen Identität verloren. Fortschrittsglaube, Auslandsorientierung und Hedonismus: so lauteten die Vorwürfe, die sich die von der Kultur des Erdöls angeblich korrumpierten Venezolaner immer wieder gefallen lassen mußten. Es hat sich jedoch gezeigt, daß die kulturellen Vorgaben, vor deren Hintergrund sich der Wandel vollzog, und dementsprechend auch seine Ergebnisse weitaus komplexer waren, als es in einem Land, das sich äußerlich immer mehr ausländischen Vorbildern anglich, zunächst den Anschein haben mag. Die Entwicklung einzelner Bereiche des Alltagslebens verfolgend, soll auf den nächsten Seiten Venezuelas Weg in diese moderne Welt des Wohlstands und des technischen Fortschritts beleuchtet werden. Im Blickfeld stehen dabei nicht nur die neue „Philosophie des schnellen Geldes" 2 , die der Ölboom hervorbrachte, sowie die Schwierigkeiten, die sich der Entwicklung jenes modernen Leistungsdenkens entgegenstellten, das für eine erfolgreiche wirtschaftliche Modernisierung offenbar unerläßlich ist. In Zusammenhang hiermit ist auch der sich wandelnde Fortschrittsbegriff zu untersuchen, der sich im Lebensstil der Oberschicht niederschlug. Trotz ihres Strebens nach Modernität und ihrer Forderung nach einer dem Fortschritt als Grundlage dienenden Ordnung hatte die Elite in den ersten Dekaden des Jahrhunderts einer von „prosaischem" Nützlichkeitsdenken geleiteten Rationalisierung deutlichen Widerstand entgegengesetzt. Mit dem materiellen Fortschritt, den die Öldevisen ermöglichten, gab sich vor allem die unaufhaltsam wachsende Hauptstadt jedoch einen immer beeindruckenderen Anstrich von moderner Funktionalität. Kritiker der venezolanischen Entwicklung meinten, dieser vordergründige Rationalismus gehöre jener Ebene von fiktivem Fortschritt an, auf der ausländische Modelle reproduziert werden, die der venezolanischen Rea1

Díaz S á n c h e z , in: Picón-Salas, M a r i a n o et al., Venezuela i n d e p e n d i e n t e , a.a.O., S. 3 0 6

2

Werz, a.a.O., S. 1 3 8

129

lität nicht entsprechen - eine Behauptung, die in der Folge zu diskutieren sein wird. Der Vorwurf der Nachahmung fremder Lebensstile, der besonders die Oberschicht immer wieder traf, stellt eine andere der Achsen dar, die die Untersuchung des Wandels leiten sollen, den das Alltagsleben bis zum Ende der fünfziger Jahre erfuhr. Mit ihrer nahezu grenzenlosen Offenheit gegenüber ausländischen Vorbildern schienen die Venezolaner dazu prädestiniert zu sein, jenem „transnationalen und damit anonymen" 3 Kulturstil zum Opfer zu fallen, der im 20. Jahrhundert die überlieferte globale Kulturvielfalt einzuebnen droht. In der Folge soll von den Symptomen dieses Prozesses die Rede sein, also von Phänomenen, wie sie angesichts einer internationalen Homogenisierung der Freizeit- und Konsumgewohnheiten in ähnlicher Form nahezu überall in der Welt anzutreffen sind, aber auch von den besonderen kulturellen Voraussetzungen, die die Venezolaner in diesen Akkulturationsprozeß miteinbrachten, das heißt von den Vorlieben und Widerständen, mit denen sie der von außen induzierten alltagskulturellen Modernisierung eine spezifisch venezolanische Prägung gaben. So wird nach den Ursachen und Ergebnissen der allmählichen Verdrängung des europäischen durch das nordamerikanische Modell zu fragen sein, das man trotz der wachsenden wirtschaftlichen Übermacht des nördlichen Nachbarn noch in den ersten Dekaden des Jahrhunderts als Verkörperung eines alles nivellierenden Materialismus abgelehnt hatte. Als die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer neuen weltweiten Exportoffensive aufbrachen und das devisenstarke Erdölland mit einer Flut von Massenkonsumgütern

überschwemmten,

schien auch Venezuela in den Kreis jener Nationen eingetreten zu sein, bei denen die attraktiven Leitbilder des American way of life Fuß gefaßt hatten. Doch gerade der radikale Lebensstilwandel, der mit dieser „Nordamerikanisierung" einherging und der den Verlust vieler vertrauter kultureller Bezugspunkte mit sich brachte, mußte auch Gegenreaktionen hervorrufen. Bald sollte man deutliche Anstrengungen unternehmen, um sich einer immer bedrohlicheren kulturellen Selbstentfremdung zu widersetzen und sich einer einheimischen Realität anzunähern, die lange Zeit vor allem als Hindernis für den Fortschritt betrachtet worden war. Dabei führte die Vielfalt der wirksamen Kräfte, das komplexe Zusammenspiel von kultureller Internationalisierung und nationaler Selbstbehauptung - wie zu zeigen sein wird - nicht selten zu überraschenden Ergebnissen.

3

Steger, Hanns-Albrecht, Kultur - Kulturtransfer - Gesellschaft. Anmerkungen zur Problematik kooperativer Entwicklung, in: Lindenberg, Klaus (Hg.), Lateinamerika. Herrschaft, Gewalt und internationale Abhängigkeit, Bonn 1982, S. 157

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Wohnen Die Wohnkultur ist vielleicht der Bereich des Alltagslebens, an dem sich die komplexen Leitbilder, die den kulturellen Umwälzungsprozeß bestimmten, am eindrucksvollsten ablesen lassen. Vor allem die rasante Entwicklung der Hauptstadt, die Caracas zu einer kosmopolitischen Metropole mit Stadtautobahnen, Wolkenkratzern und eleganten Villenvierteln machte, während das alte koloniale Stadtzentrum weitestgehend einem beispiellosen Bau- und Spekulationsboom zum Opfer fiel, ist häufig als die deutlichste Manifestation jener kulturellen Überfremdung bezeichnet worden, der Venezuela im Zeitalter des Erdöls ausgesetzt war. Die modernen Villenviertel, in denen die privilegierten Schichten einen an ausländischen Vorbildern orientierten Lebensstil pflegten, gelten Architekturtheoretikern als „Fassade" des Fortschritts, als Ausdruck der kulturellen Entwurzelung einer gesellschaftlichen Elite, die in ihrem Streben nach vordergründiger Modernität eine aufgesetzte, dem heimischen Kontext unangemessene Wohnkultur entwickelt hat. 4 Auf der Suche nach Erklärungen für diese angeblichen kulturellen Fehlorientierungen möchte es jedoch scheinen, als hätten die Venezolaner einem von außen induzierten Wandel von vornherein wenig entgegenzusetzen gehabt. „In Venezuela gibt es keine hundertjährigen Vermögen. Die Reichen von heute sind die Armen von gestern. (...) In unseren Häusern gibt es keine kostbaren Gegenstände oder Kunstwerke, die wir von unseren Großeltern geerbt haben, so wie es in Argentinien oder Kolumbien der Fall ist. (...) Jede Generation, jedes neue Heim muß wieder neu anfangen, sich von der Wohnzimmereinrichtung bis zu den Küchenpfannen neu einrichten." 5 Laureano Vallenilla Lanz jr. erklärte das Fehlen einer vornehmen Wohntradition, das sich um 1900 konstatieren ließe, mit den kriegerischen Wirren, die Venezuela im vorigen Jahrhundert heimgesucht und viele alte Vermögen zerstreut hatten. Nicht nur das große Erdbeben von 1812, das wie Humboldt berichtete, „neun Zehntel der schönen Stadt Caracas" 6 völlig verwüstete, auch der Unabhängigkeitskrieg und die Bürgerkriege der folgenden Jahrzehnte hatten einen beträchlichen Teil der materiellen Hinterlassenschaft der Kolonialzeit vernichtet. Nur wenige Gebäude, Möbel, Kunst- oder Gebrauchsgegenstände waren aus den Tagen der spanischen Herrschaft in das 20. Jahrhundert hinübergerettet worden.

4

Posani, J u a n Pedro, La vivienda en el siglo X X , i n : ders. (Hg.), La vivienda e n V e n e z u e l a , Caracas 1 9 7 9 , S. 9 5

5

Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 1 6 6

6

H u m b o l d t , a.a.O., S. 1 6 5

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Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang außerdem, daß im Vergleich zu anderen Provinzen des spanischen Kolonialreichs das Leben in Venezuela lange Zeit relativ bescheiden gewesen war. 1567 am Fuße des majestätischen .Avi/a-Berges gegründet, zählte Santiago de León de Caracas 1696 nur 6000 Einwohner.7 Wie es die spanische Gesetzgebung für die amerikanischen Stadtgründungen vorschrieb, bestand die Stadt aus einem rechtwinkligen Straßennetz und einem zentralen Platz. Die strenge Schlichtheit „viereckiger und flacher Formen" kennzeichneten die Architektur ebenso wie das Mobiliar, das sich auf das Nötigste beschränkte.8 Erst mit dem Wirtschaftsaufschwung des 18. Jahrhunderts hatte das Leben im Tal von Caracas an Annehmlichkeiten gewonnen. Auf 40 000 Einwohner schätzte Humboldt die Bevölkerung von Caracas um 1800. 9 Die neue Hauptstadt des erst 1777 geeinten Generalkapitanats von Venezuela hatte in den letzten Tagen der spanischen Herrschaft außer den Kirchen keine eindrucksvollen öffentlichen Gebäude vorzuweisen, aber in den Privathäusern entfaltete man mittlerweile einen gewissen Luxus: „Die Häuser der Honoratioren der Stadt", versicherte der französische Reisende Depons, „sind in der Regel mit Anstand und gar mit Reichtum eingerichtet. Man sieht schöne Spiegel, karmesinrote Damastvorhänge in den Fenstern und den Innentüren, (...) Tische mit vergoldeten Beinen, Kommoden, an denen der Vergolder seine Kunst erschöpft hat, und im Hauptzimmer kostbare Kronleuchter (...) [und] edle Teppiche." 10 Krieg und Erdbeben hatten viele dieser aristokratischen Residenzen zerstört, aber obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die meisten Häuser der Hauptstadt nicht mehr aus der Kolonialzeit stammten, folgten auch jüngere Konstruktionen dem Grundriß des kolonialen Hauses. Vor allem der zentrale patio, eine Reminiszenz der arabischen Tradition Südspaniens, die dem tropischen Klima Venezuelas entgegenkam, erwies sich als äußerst beständiges Element, auf das moderne Architekten auch in Zukunft immer wieder zurückgreifen sollten. Von einem offenen, überdachten Rundgang umgeben, in den die um den Hof angeordneten Zimmer mündeten, war der patio im traditionellen venezolanischen Stadthaus durch einen breiten Flur mit der Straße verbunden. Die Gestaltung des Haupteingangs, den gelegentlich noch Adelswappen schmücken mochten, 11 und die Zahl der vergitterten Fenster, die zur Straßenseite blicken, zeigten den gesellschaftlichen Rang der Bewohner an. Hinter einem zweiten patio, der von den Schlafzimmern umgeben war, befanden sich die Räume des Dienstpersonals - ehemals der Sklaven - und

7

Gasparini/Posani,, S. 17

8

Duarte, a.a.O., S. 8 2

9 10 11

Humboldt, a.a.O., S. 151 Depons, a.a.O., S. 111 Gasparini/Posani, a.a.O., S. 87

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im hintersten Teil des Hauses der rustikale corrai, der Hinterhof, in dem Wäsche gewaschen und Hühner, Truthähne oder andere Haustiere gehalten wurden. Wie in den Tagen der spanischen Herrschaft empfing man zu Beginn des 20. Jahrhunderts förmlichere Besuche im vorderen Teil des Hauses, im zentralen patio oder in der sala, dem Besuchszimmer, das für gewöhnlich geschlossen gehalten wurde. Der 1912 geborene Vallenilla Lanz erinnert sich daran, wie er sich als Kind auf Zehenspitzen „in jenen geheimnisvollen Bereich wagte, (...) um den riesigen, kristallenen Kronleuchter zu bewundern, der (...) dem des Teatro National sehr ähnlich sah und der der Stolz der Familie war, denn mein Großvater hatte ihn in Paris gekauft, auf seiner berühmten Reise nach Europa, damals in den Zeiten von Guzmän Bianco." 12 Tatsächlich fand die Enthispanisierung der venezolanischen Wohnkultur relativ spät statt. Während in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit einzelne aus Frankreich oder Nordamerika importierte Möbel im Louis-Philippe-Stil oder im Stil des American Empire das Innere des kolonialen Hauses nur unwesentlich modifizierten, waren Struktur und Außenansicht weitestgehend unverändert geblieben. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte versuchten die städtebaulichen Reformen von Guzmän Bianco, das Stadtbild nach mitteleuropäischem Vorbild umzugestalten: Plätze und Denkmäler, Boulevards und Parks erweiterten allmählich das Raumgefühl der engen Kolonialstadt, während öffentliche Gebäude im klassizistischen Stil errichtet wurden, so 1873 das Capitolio oder 1883 das Teatro Guzmän Bianco.13 Das Bestreben, sich von der kolonialen Vergangenheit zu lösen und sich europäischem Standard anzugleichen, schlug sich auch in dem wahllosen Eklektizismus nieder, mit dem man seit der Jahrhundertwende in den Privathäusern die überladene Wohnkultur der europäischen Bourgeoisien kopierte. In einem Roman von 1921 beschrieb José Rafael Pocaterra jenes typische Konglomerat von Stilmöbeln, Plüsch und Nippes, das zur gleichen Zeit auch in Europa den Widerspruch funktionalistischer Architekturtheoretiker zu erregen begann. Die bürgerliche „Prätention", die sich in der Mischung historischer Stile gefiel und - wie europäische Kritiker es formuliert haben - Kultur zu Gipsbüsten gerinnen ließ, 14 mochte hinter den traditionellen Fassaden der venezolanischen Häuser besonders befremdlich wirken. Mit spöttischen Worten schilderte Pocaterra die Ingredienzien eines solchen Interieurs, bestehend aus „zwei Terrakottanegern (...) auf der Jagd nach Nilpferden, einer Chinoiserie, einem Faunenkopf aus Porzellan, Tischen in jeder Form und Größe, überladen mit bibelots, Reproduktionen des Eiffelturms und der Grot12

Vallenilla Lanz, Allá c n Caracas, a.a.O., S. 7

13

G a s p a r i n i / P o s a n i , a.a.O., S. 1 6 0

14

Glaser, H e r m a n n , M a s c h l n c n w e l t u n d Alltagsleben. Industriekultur i n D e u t s c h l a n d v o m B i e d e r m e i e r bis zur W e i m a r e r Republik, F r a n k f u r t / M . 1 9 8 1 , S. 1 0 2

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te von Lourdes, Psyche und Amor, und zwischen diesen und einer Daphne, die ihre harten, jungfräulichen Schenkel vor einem drängenden Apoll verteidigt, ein Napoleon Bonaparte aus Gips, nachdenklich und in den Farben der Trikolore." 15 Ähnlich wie Guzmán Blanco seinerzeit das bescheidene alte Universitätsgebäude mit einer neogotischen Fassade ert miniature verkleidete, die Kritikern später als Indiz des „Fassadenfortschritts" seiner Regierung galt, hatte man gegen Ende des Jahrhunderts begonnen, die Fassaden der Privathäuser mit neoklassischen oder neobarocken Elementen zu verzieren, etwa mit Säulenreliefs aus Gips. 16 Das „weibische Lächeln", mit dem derartige Verschönerungen „Verrat" an der vornehmen Würde traditionsreicher Häuser übten, mochte den Traditionalisten ebenso zuwider sein wie die neuerdings mit glänzenden bunten Kacheln geschmückten Eingangsflure, durch die sie sich an „Badezimmer" erinnert fühlten. 17 Aus heutiger Sicht jedoch schufen die innerhalb des überlieferten Grundrisses vorgenommenen Veränderungen einen liebenswürdigen kreolischen Stil, der für die ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts charakteristisch ist. Während die vom mitteleuropäischen Vorbild jener Jahre inspirierte Begeisterung für halbhoch gekachelte Flurwände mit den andalusischen Wurzeln des venezolanischen Hauses in Einklang zu bringen war, und der zaghafte Einfluß des Jugendstils, der sich etwa in den neuen, bunt verglasten Innentüren niederschlug, dem tropischen Ambiente durchaus entgegenkam, erlitt der zentrale Innenhof eine eher fragwürdige Veränderung. Angesichts der neuen Hygieneforderungen, die eine positivistische Medizin erhob, galten die Pflanzen und Bäume des patio ebenso wie die Holzfußböden im Inneren des Hauses den fortschrittshungrigen Venezolanern nun als Nistplatz von Insekten, Ratten und anderem Ungeziefer. Mit ihren sogenannten „Mosaik"-Fußböden - d. h. bunten Fliesen aus gepreßtem Zement - und mit Ausnahme einiger Blumentöpfe ihrer Vegetation beraubt, wurde es zwar in den patios tagsüber unerträglich heiß, dafür konnten in den Innenhöfen „bequem Tanzfeste veranstaltet werden, (...) die ab jetzt immer häufiger wurden." 18 Trotz aller Versuche, ihnen ein „zivilisierteres" Aussehen zu verleihen, entsprachen die Häuser der vornehmen Stadtteile des alten kolonialen Zentrums jedoch immer weniger den Repräsentationsbedürfnissen einer Oberschicht, die sich an europäischem Standard zu messen wünschte. 1895 war mit der Urbanisierung der alten Zuckerrohrhacienda von EI Paraíso am südwestlichen Stadtrand von Caracas der Grundstein für einen ersten hauptstädtischen Vorort gelegt worden. Der Bau einer Brücke über den Guaire-Fluß, der die Stadt bislang nach Süden hin begrenzt hatte, und die neue Straßenbahnlinie, die eine Verbindung zum Zentrum her15

Pocaterra, La casa de los Abila, a.a.O., S. 507

16 17 18

Ebd., S. 2 5 6 Díaz Rodríguez, Sangre patricia, a.a.O., S. 16; Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 69 Pardo Stolk, Edgar, Las casas de los caraqueños, Caracas 1969, S. 1 7 - 1 9

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stellte, ermöglichten die Entstehung eines Villenviertels, das mit einem Schlag mit einer jahrhundertealten Wohntradition brach. Die Bewohner von El Paraíso bewiesen ihre Fortschrittlichkeit nicht nur auf der praktischen Ebene, etwa mit einer systematischen Strom- und Wasserversorgung, die für Venezuela wegweisend war. Auch architektonisch zeigte man sich bestrebt, einer als provinziell empfundenen Vergangenheit den Rücken zu kehren. Statt eines zentralen Innenhofes besaßen die Villen der Phelps, Arismendi, López de Ceballos oder De la Sota Urbane ja einen repräsentativen Außengarten und boten mit ihren prächtigen Säulenportalen sowie Kranzgesimsen und Balustraden aus vorgefertigten Zementteilen einen angemessenen Rahmen für jene neofeudale Lebensführung, mit der die venezolanische Bourgeoisie in Anlehnung an das Vorbild des europäischen Großbürgertums ihre neue gesellschaftliche Vormacht symbolisch zu unterstreichen suchte. 19 Von einem parkähnlichen Garten umgeben, war Las Acacias, das Palais der Familie Boulton, mit dessen Bau diese 1912 den Ingenieur Alejandro Chataing beauftragte, zum zweifelsohne prunkvollsten Privathaus der Stadt geworden. In den ersten Dekaden dieses Jahrhunderts wurden in Venezuela noch keine Architekten ausgebildet, und ebenso wie Chataing die Boultonsche Villa nach einem kaum modifizierten französischen Bauplan errichtete, bedienten sich Bauingenieure oder in Europa ausgebildete venezolanische Architekten mit bemerkenswerter Unbefangenheit ausländischer Entwürfe und begannen bald, die verschiedensten internationalen Architekturströmungen aufzugreifen. 20 So machte sich der Einfluß des Art Nouveau mit seiner Vorliebe für extravagante und phantastische Formen in der Villa Arvelo von Enrique Arvelo bemerkbar, aber auch im Exotismus der Villa El Molino Japonés, eines nach einem Entwurf von Seijas Cook im „japanischen" Stil erbauten Hauses.21 Nachdem die Elite das koloniale Stadtzentrum verlassen hatte, verfügte sie mit den neuen, am grünen Tisch geplanten Urbanisationen über eine tabula rasa, auf der sie ungehindert ihren architektonischen Launen frönen konnte. Die Unbekümmertheit, mit der man ausländische Modelle mehr oder weniger abgewandelt in einen reizvollen tropischen Rahmen verpflanzte, wurde zum womöglich hervorstechendsten Merkmal der venezolanischen Architektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So ließ sich Margot Boulton in den vierziger Jahren in Los Chorros ein Haus bauen, zu dem sie auf einer Reise in die Gegend von Salzburg inspiriert worden war. „Wir haben in Venezuela die kolonialen Balkons mit einfarbigem, schwarzem Geländer. (...) Ich wollte das mit Farben, mit grün, rosa und blau. (...) 19

Gasparini/Posani, a.a.O., S. 2 6 4 , 2 7 6 , 2 7 9 , 2 9 1 ; Pardo Stolk, a.a.O., S. 17; Schael, G u i l l e r m o José, Caracas. La ciudad que n o vuelve, Caracas 1 9 8 5 , S. 12

20

Gasparini/Posani, a.a.O., S. 2 8 6 - 2 8 7 ; Pardo Stolk, a.a.O., S. 2 1

21

M o n t e a g u d o del Uío, A n t o n i o M. u n d Lscámez Gutiérrez, A n t o n i o , Album de o r o de Venezuela, Caracas 1 9 4 2 , S. 9 3 ; Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 69

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Die Eingangstür war ebenfalls mit tropischen Blumen bemalt, aber im Tiroler Stil. (...) Das hat eine Ungarin für mich gemacht." 22 In der Tat hatte das rasche Wachstum von Caracas, das seit den zwanziger Jahren spürbar wurde, eine charakteristische Stadtentwicklung mit sich gebracht, die diesem architektonischen Eklektizismus Vorschub zu leisten schien. Nachdem das koloniale Stadtzentrum für die gehobenen Schichten als Wohngegend unaufhaltsam an Prestige verlor, expandierte das moderne Caracas am Fuße des AvilaBerges in Richtung Osten. Die neuen urbatiizaciones wurden dabei nach folgendem Muster angelegt: Immobilienhändler kauften das Gelände einer alten Hacienda und statteten es mit Straßen, Elektrizität und Kanalisation aus, um dann einzelne Parzellen zu verkaufen, die in der Regel von den Käufern selbst bebaut wurden.23 Eine zentrale Rolle in dieser Expansion spielten die Städtebauer Luis Roche und Juan Bernardo Arismendi, die im Jahre 1928 mit den Arbeiten für La Florida, ihrer ersten Urbanisation für „Familien mit mehr als mittlerem Einkommen" 2 4 begonnen hatten, über deren Vorgeschichte es 1943 in der Zeitung El Universal im Rückblick hieß: „Ungläubig lauschte man den Schilderungen eines prächtigen ,Clubs', eines gewaltigen Schwimmbeckens (das noch immer das größte der Stadt ist), eines Kinderspielplatzes (damals unbekannt), von zwanzig Meter breiten Strassen (...), sämtlich mit Bäumen bestanden (in einem Land, in dem nicht einmal die Regierung welche pflanzte) und einer Straßenbeleuchtung mit unterirdischer Kabelführung." 25 Dem Schema von La Florida folgten Roche und Arismendi 1930 bei der Anlage der Urbanisation von Los Palos Grandes, 1933 in Campo Alegre, 1935 in Don Bosco, 1940 in Los Caobos sowie 1943 in Altamira, und die beiden bekannten Städtebauer trugen so entscheidend dazu bei, das Gesicht des heutigen Caracas zu prägen. 26 Während die Mehrzahl der neuen Urbanisationen um die geradlinige Achse einer Avenida Principal entstanden, folgte der 1929 gegründete Country Club einer organischeren Konzeption. Die Mitglieder des Caracas Golf Club, der seit einigen Jahren im Südwesten der Stadt existierte, hatten die Initiative für die Gründung eines Wohnviertels ergriffen, das für viele Jahrzehnte zur exklusivsten Adresse in Caracas wurde. Die untereinander befreundeten Unternehmerfamilien erwarben die Hacienda Blandin und angrenzende Grundstücke und beauftragten nordamerikanische Landschaftsarchitekten mit der Gestaltung eines weitläufigen Wohn- und Freizeitareals. Das Ergebnis waren freundliche Straßen, die sich inmitten einer

22

Interview mit Margot Boulton vom 30. 8. 1988

23 24

Arismendi & Roche. Sindicato La Florida. La firma poderosa, activa y progresista que garantiza el éxito de la Florida a 7 minutos de la Plaza Bolívar, Caracas 1929, S. 18 Mérola Rosciano, a.a.O., S. 122

25 26

Roche, Marcel, La sonrisa de Luis Roche. Un ensayo biográfico, Caracas 1967, S. 6 9 Ebd., S. 7 7 - 7 8 , 85

136

üppigen Vegetation zwischen Golfplätzen und prächtigen Gärten dahinschlängelten. 2 7 Wächter und ein Schild mit der Aufschrift „Privatbesitz" verschlossen jedem den Zugang, der nicht Mitglied des Clubs war, bis dieser sich in den vierziger Jahren dem wachsenden hauptstädtischen Verkehr öffnen mußte, obwohl bis in die sechziger Jahre Wächter die Ein- und Ausfahrt aus dem Clubgelände kontrollierten. „Es war nicht möglich, den Club als Privatbesitz zu halten, auch wenn das unser Ideal war. Es war herrlich, den Reitern zu begegnen. (...) Ich erinnere mich genau an meinen Vater, wie er mit seinem Pferd ausritt. Wir alle waren wie eine große Familie, in der jeder jeden kannte (...), es war einfach wunderbar." 28 Wie in den nordamerikanischen Country Clubs bot sich Gelegenheit zum Reiten, Tennis- und Golfspielen oder Schwimmen, während das Clubhaus den gesellschaftlichen Mittelpunkt darstellte, wo die Männer nachmittags zusammentrafen, um Domino oder Bridge zu spielen, und das „die Frauen nach dem Spiel zum Abendessen aufsuchten, um dort einige angenehme Stunden zu verbringen." 29 Die Zugehörigkeit zum Country Club galt als Zeichen höchster gesellschaftlicher Distinktion, und die rund 500 Mitglieder, die der Club im Jahre 1940 besaß - von denen etwa die Hälfte nicht auf dem Gelände des Clubs wohnte, sondern nur dessen exklusive Freizeiteinrichtungen in Anspruch nahm - , galten als die Crème der Gesellschaft von Caracas. 30 Legte die Konzeption des Caracas Country Club Zeugnis von dem Vordringen der Wohnkultur der nordamerikanischen leisure class ab, so kennzeichnete das Clubhaus, das der nordamerikanische Architekt Wendehack unter Miteinbeziehung der Überreste des alten Stammhauses der Hacienda Blondin erbaute, den Beginn einer neuen Epoche der venezolanischen Architekturgeschichte. 31 Nachdem seit der Jahrhundertwende die Oberschicht ihre alten Häuser im kolonialen Stadtzentrum möglichst weitgehend zu modernisieren gesucht oder in den neuen Urbanisationen Villen im europäischen Stil gebaut hatte, kehrte man seit neuestem wieder bewußt zur kolonialen Bauweise zurück. Ähnlich wie viele der Privathäuser des Country Club oder der 1933 in dessen unmittelbarer Nachbarschaft gegründeten Urbanisation Campo Alegre, folgte das Clubhaus dem sogenannten Mission Style, der in Anlehnung an das Vorbild kalifornischer Kolonialbauten um 1915 in den Vereinigten Staaten entstanden war und überall in der Welt eine

27

Merola Rosciano, a.a.O., S. 126

28

Interview mit Ana Cecilia Wallis v o m 1. 11. 1989

29

Ebd.

30

Exposición q u e h a c e la J u n t a Directiva del Caracas C o u n t r y C l u b de su a c t u a c i ó n d u r a n t e el a ñ o q u e t e r m i n ó el 31 d e d i c i e m b r e d e 1940, Caracas 1941 Rodríguez de M e n d o z a , Helen u n d Duarte, Carlos I'., T e s t i m o n i o de la H a c i e n d a B l a n d í n , Caracas 1982

31

137

architektonische Spanienmode hervorrief. 32 Weiß getünchte Wände, spanische Dachziegel, „sevillanische" Kacheln, Balkons mit geschnitzen oder gedrechselten Geländern, andalusische patios mit Brunnen und Blumentöpfen, schmiedeeiserne Ornamente feierten einen internationalen Siegeszug - ausgehend von Nordamerika. 33 Die Venezolaner ließen überlieferte Bautraditionen jedoch keineswegs nur vor dem Hintergrund des unaufhaltsam vordringenden American way of life wieder aufleben. In den zwanziger Jahren hatte überall in Lateinamerika eine Suche nach den verschütteten Wurzeln der nationalen Kultur eingesetzt, in deren Zusammenhang man sich des lange Zeit als rückständig verpönten hispanischen Erbes zu besinnen begann. 34 Vor diesem Hintergrund könnte man die neokoloniale Architektur als bewußte Ablehnung jenes „alles unterjochenden Kosmopolitismus" 35 verstehen, der für die klassizistisch verschnörkelten Villen von El Paraíso charakteristisch war und diese in den Augen nicht weniger Venezolaner zum Inbegriff der Europatümelei einer ihrer heimischen Kultur entfremdeten Oberschicht machte. Bereits 1917 hatten in Argentinien die Ideologen des erwachenden kulturellen Nationalismus den Bruch mit dem europäischen Klassizismus und die Rückkehr zur Kunst des Vizekönigreichs des Río de la Plata gefordert. Den neokolonialen Architekten jener Jahre wurde später jedoch vorgeworfen, sie hätten „ihr eigenes Ziel, nämlich zur Tradition zurückzukehren, verraten, denn sie gestalteten ihre Gebäude mit phantastischen und oberflächlichen Verbindungen von hispanischen und manchmal peruanischen Elementen, die niemals Teil der bescheidenen Kolonialarchitektur des Río de la Plata gewesen waren und mit ihren ursprünglichen Modellen nicht die geringste Ähnlichkeit besaßen." 36 Ähnliches galt für Venezuela, denn man konnte schwerlich behaupten, daß die prächtigen neokolonialen Häuser von Caracas - wie die Residenz der Familie Vollmer in Montalbán, die der spanische Architekt Manuel Mujica Millán zwischen 1935 und 1940 gebaut hatte 37 - auf Vorbilder aus der venezolanischen Kolonialarchitektur zurückgingen. Die hispanisierende Bauweise der dreißiger und vierziger Jahre muß vielmehr als stilisiertes Modell gesehen werden, um das bekannte Architekten wie Carlos Raúl Villanueva oder Luis Malaussena ihr Repertoire erweiterten, während sie sich gleichzeitig anderer Architekturformen bedienten. Diese Koexistenz von einander programmatisch scheinbar entgegengesetzten Stilen ließ

32

Vgl. etwa Wicht, Hein, Spanish Houses of Southern Africa, Cape Town 1964

33

Martini, José Xavier und Peña, José María, La ornamentación en la arquitectura de Buenos Aires 1 9 0 0 - 1 9 4 0 , Buenos Aires 1967, S. 49

34

Franco, a.a.O., S. 87

35

Martini/Peña, a.a.O., S. 47

36 37

Martini/Pefla, a.a.O., S. 49 Gasparini/Posani, a.a.O., S. 3 0 8

138

sich ebenfalls in einer Werbung aus der Zeitschrift Billiken von 1930 beobachten, in der die Firma „Gathmann und Brüder (...), das Haus der eleganten Lampen, (...) Kronleuchter aus böhmischem Kristall in den klassischen französischen Stilen" ebenso anbot wie „Eisenleuchten im Kolonialstil", die aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls importiert wurden.38 Der neue „Nationalismus" ist demnach nicht als radikale Abkehr von ausländischen Vorbildern zu verstehen. Zwar fand die hispanische Kulturtradition endlich die Anerkennung, die man ihr lange Zeit versagt hatte, aber es war durchaus nicht das Anliegen der neokolonialen Architektur, getreue Repliken eher bescheidener Originalbauten zu errichten. Im Rahmen der neuen Urbanisationen und mit allen Bequemlichkeiten des Fortschritts ausgestattet, entsprang der stilisierte Traditionalismus der neokolonialen Häuser auch keineswegs jenem Widerstand gegen den immer mächtigeren nordamerikanischen Einfluß, den die Theoretiker des Kulturnationalismus forderten. Mit wachsendem nationalen Selbstbewußtsein sah man sich vielmehr Schulter an Schulter mit der internationalen Bourgeoisie in ein goldenes Zeitalter des Fortschritts marschieren, das in dem Erdölland in immer greifbarere Nähe zu rücken schien. Daß die neokoloniale Architektur sich bei aller verklärter Vergangenheitsschau zunehmend von den Leitbildern nordamerikanischer Behaglichkeit leiten ließ, zeigt ein Artikel der Zeitschrift Elite von 1930, der über jüngste innenarchitektonische Trends berichtete. Unter der Überschrift „Interieurs - Das klassische ,Home"' erschienen Fotografien des „Empfangsraums und des Eßraums eines authentischen ,Home', in dem alle Details vereint worden sind, um ein Ambiente im reinsten, altspanischen Stil zu schaffen." 39 So könnte man behaupten, daß die Anklänge an überlieferte Bauweisen nichts als szenische Accessoires einer Wohnkultur darstellten, die sich in Wahrheit zunehmend von ausländischen Modellen leiten ließ. Wie auch immer man sich zu derartigen Vorwürfen stellen mag, festzuhalten ist, daß es der gesellschaftlichen Aufwertung des kolonialen Kulturerbes zu verdanken war, daß dessen rar gewordene Überreste gerettet wurden. Um mit seiner Familie dort einzuziehen, ließ der wohlhabende Handelsunternehmer Carlos Heny 1930 das alte Stammhaus der Hacienda restaurieren, auf deren Ländereien die Urbanisation Campo Alegre entstanden war. Kunstsammler und -händler begannen, in den Leihhäusern - und auf dem Müll - nach den bislang wenig geschätzten kolonialen Antiquitäten zu suchen. In Anwesenheit des Präsidenten Lopez Contreras eröffnete Arturo Uslar Pietri 1939 die erste Ausstellung von Kolonialkunst im Museo de Bellas Artes, und 1942 wurde auf Initiative einer Gruppe von Kunstliebhabern aus den vornehmsten

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Billiken 15. 11. 1930 Elite 19. 7. 1 9 3 0

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Kreisen der hauptstädtischen Gesellschaft das „Museum für Koloniale Kunst" eröffnet. 40 Teil des Repertoires eben jener Architekten, die in den dreißiger und vierziger Jahren für die Verbreitung des Neokolonialstils verantwortlich zeichneten, bildeten gleichzeitig die ersten kubistischen Experimente, als deren Pionier Carlos Raúl Villanueva mit einer Villa in der Urbanisation La Florida aufgetreten war. „Die Schlichtheit rechteckiger Formen, die Beseitigung von dekorativen Elementen und eine funktionalere Raumaufteilung" 41 waren die bekannten Charakteristika des neuen Stils. Die formale Abstraktion, die der International Style in die venezolanische Architektur einführte, hatte sich bereits in der geometrischen Stilisierung des Art Deco angekündigt, der an einigen Villen von El Paraíso anzutreffen war oder an den Fassaden neuer Bürogebäude dem Zentrum von Caracas einen moderneren Anstrich zu verleihen begann. Es waren jedoch die unter den reformerischen Regierungen von López Contreras und Medina Angarita erbauten Schulhäuser, die die caraqueños zuerst an die nüchternen Formen der modernen Architektur gewöhnten. 42 Um 1940 begann sich in den Wohngegenden von La Florida, Campo Alegre oder El Paraíso die schmucklose Eleganz des neuen Baustils zu etablieren: Die sachliche, funktionale Ästhetik der Moderne, die in ihren revolutionären Anfängen gegen den bürgerlichen Schwulst der Jahrhundertwende zu Felde gezogen war, übernahm nun selbst repräsentative Funktion. Im Rückblick beschrieb Briceño-Iragorry 1957 in seinem Roman Los Riberas diese geschmackliche Neuorientierung. Während des gomecismo zu einem bedeutenden Vermögen gelangt, ist sein Romanheld Alfonso Ribera Ende der dreißiger Jahre in ein modernes Haus im Country Club gezogen: „Die schlichten Linien des Hauses entsprachen ganz dem aktuellen Geschmack. Weder edle Hölzer, noch prächtige Vorhänge oder Teppiche. Ein großer Raum, in den durch transparente, übergroße Fenster das ganze Licht des Tals von Caracas hineinflutete. Das side board (...) und der Eßtisch waren aus klarstem Glas. Ein berühmter italienischer Designer hatte diese ausgefallenen, ebenso einfachen wie wirkungsvollen Möbelstücke entworfen." 43

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Duarte, a.a.O., S. 15-19. Der erste Sitz des Museums, eines der wenigen großen Kolonialhäuser, die sich im Zentrum von Caracas erhalten hatten, fiel 1953 der Erweiterung der Avenida Urdaneta zum Opfer, die mit vielstöckigen Bürogebäuden und eleganten Geschäften zum Symbol eines modernen Venezuelas wurde. Sitz des Museo de Arte Colonial ist nun die Quinta Anauco, ein ehemals außerhalb der Stadt gelegenes Landhaus aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, das heute inmitten des modernen Stadtteils San Bemardino eine der letzten Enklaven der kolonialen Vergangenheit von Caracas darstellt.

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Gasparini/Posani, a.a.O., S. 317 Ebd., S. 342, 345 Briceflo-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 450

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Ebenso wie der streitbare Nationalist Bricefio-Iragorry in seinem Roman eine oberflächlich plagiierte Moderne als neureiche Prätention zu entlarven suchte, haben auch venezolanische Architekturhistoriker bis in die jüngste Zeit immer wieder Zweifel an der Authentizität eines allzu pompösen „Funktionalismus" bekundet. Die umfassende Technisierung und Rationalisierung, so behaupten sie, die in den Industrienationen der Forderung von form follows fitnction Folgerichtigkeit verleihe, habe in Venezuela nicht stattgefunden. Das „einzig Authentische" an den modernen Villen, die in den vierziger und fünfziger Jahren in den eleganten Wohnvierteln von Caracas wie Pilze aus dem Boden schössen, polemisierte der bekannte Architekturprofessor Juan Pedro Posani 1969, sei der Wunsch ihrer Bewohner, ihren Anschluß an zeitgemäße, internationale Architekturtrends unter Beweis zu stellen. 44 Ebenso wie der Klassizismus, mit dem einst Guzmän Blanco den venezolanischen Städten einen moderneren, europäischen Anstrich zu verleihen suchte, stellt sich der International Style als eine fadenscheinige „Kulisse" von Modernität dar, die zum Statussymbol einer privilegierten Minderheit wird und innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Rahmens ein Fremdkörper bleibt. Posani weist jedoch zu Recht darauf hin, daß in Europa und den Vereinigten Staaten die Architektur der Moderne beinahe ebenso schnell ihren Avantgardecharakter verloren habe und zu einem „Symbol des Überflusses" herabgekommen sei. 45 Mit der Verbreitung des International Style schien nur eben jener „an formalen und mechanischen Simplifizierungen" krankende „Vulgärfunktionalismus" nach Venezuela vorgedrungen zu sein, der auch den europäischen und nordamerikanischen Städtebau der Jahrhundertmitte weitgehend bestimmte und - wie europäische Kritiker festgestellt haben - entgegen seiner ursprünglichen Postulate „keine angemessene Reflexion auf die Funktions- und Zweckzusammenhänge einschließt, auf die hin funktional zu produzieren und zu bauen wäre." 46 Der vordergründige architektonische Rationalismus, der sich ungeachtet größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge zur Modeerscheinung verselbständigt, ist durchaus kein spezifisch venezolanisches Problem. Der technokratische Zeitgeist, der in den fünfziger Jahren den Fortschrittsbegriff in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß auf das Leitbild des materiellen Wohlstands zu verengen begann, sollte in dem reichen Erdölland einen triumphalen Einzug halten. Wenn das um 1900 noch gänzlich in der kolonialen Tradition befangene Caracas um die Jahrhundertmitte weltweit als Hauptstadt eines der modernsten lateinamerikanischen Länder galt, so trug die aufsehenerregende Modernisierung des Stadtbildes, die sich innerhalb weniger Jahre vollzogen hatte, wesentlich zu diesem Ruf bei. Caracas sei eine „bejahende, optimistische, uni44

Gasparini/Posani, a.a.O., S. 3 1 9

45

Posani, La vivienda en cl siglo X X , in: ders. (Hg.), La vivienda en V e n e z u e l a , a.a.O., S. 9 5 - 9 6

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W e l l m e r , a.a.O., S. 1 3 6

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verseile Demonstration des Funktionalismus" behauptete in den fünfziger Jahren eine offizielle Broschüre und belegte mit überzeugenden Bildern, was dieser „Funktionalismus" zumindest für die wohlhabenden Schichten in erster Linie bedeutete, nämlich wachsenden Komfort und Anpassung an internationale Lebensstilmodelle. 47 Die Geschäfte und Bürogebäude des alten und des neuen Stadtzentrums, das in Beton und Glas um die Plaza Venezuela erstand, waren mit den gehobenen Wohngegenden nun durch die neun prächtigen Kilometer der Autopista del Este verbunden, der nach Osten führenden Stadtautobahn. In geräumigen, nordamerikanischen Autos bequem dahingleitend, könne man - wie es in der Broschüre weiter hieß - auf dieser Autobahn die „womöglich schönste Spazierfahrt" durch Caracas genießen, denn „an dieser Route sind der Wohlstand und die Schönheit zu bewundern, die die bevorzugten Wohngebiete von Caracas entfalten." Die Hauptstadt des immer wohlhabenderen Erdöllandes erlebte gerade in dieser Dekade ein schwindelerregendes Wachstum, und wo sich zuvor alte Kaffeeplantagen ausdehnten oder bäuerliche Idylle anzutreffen waren, breiteten sich moderne Villenviertel aus, die das „ländliche" Ambiente einer üppigen tropischen Vegetation mit allen Bequemlichkeiten des Fortschritts verbanden. Nicht nur der östliche Teil des langgestreckten Haupttals von Caracas, auch die Hügel und Täler des Südostens waren bald mit Einfamilienhäusern gespickt. „Unter diesen neuen Wohnvierteln" hebt die zitierte Broschüre die Urbanisation von Prados del Este hervor, „umgeben von schönen Bergen, von einem idealen Klima begünstigt und mit dichten Bäumen begrünt. Ohne Zweifel ist dieser Ort von der Natur bevorzugt. Außerdem machen die dort vorgenommene Urbanisierung sowie die umfassenden Infrastruktureinrichtungen, in deren Genuß seine Bewohner kommen, aus diesem ländlichen Stadtteil von Caracas vielleicht den komfortabelsten, den es heute gibt." 48 Während vornehme Individualisten derartige Zusammenballungen scheuten und wie Alfredo Boulton mit seinem Haus in Los Guayabitos trotz schlechter, ungeteerter Straßen Einsamkeit in weniger erschlossenen Randgebieten suchten, besetzten andere in splendid isolation die Spitzen der Hügel, die das Tal von Caracas im Süden begrenzen, und genoßen von ultramodernen Häusern großartige Ausblicke über die Stadt und auf die majestätische Küstenkordillere - so Armando Planchart in Lomas de las Mercedes oder Margot Boulton in Las Minas. Unten im Tal wuchsen unterdessen neue Urbanisationen, die den Bedürfnissen einer wachsenden Ober- und Mittelschicht entgegenkamen. Die quinta, das von einem Garten umgebene Einzelhaus, war dort das vorherrschende Wohnmodell, und wenn die quinta in den meisten Fällen Ausdruck der wachsenden Bedeutung einer städti-

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Mendoza & Mendoza (asesores de publicidad), Caracas ciudad moderna, Caracas o. J., o. S.

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sehen Mittelschicht war, die ihren Lebensstil internationalen Maßstäben anzupassen suchte, wetteiferten andererseits alte und neuen Vermögen darin, immer luxuriösere, modernere und aufsehenerregendere quintas zu bauen. Mit teuren, oft importierten Baumaterialien ließ man die geschickten und fleißigen Maurer, die mit der Einwanderungswelle der Nachkriegszeit aus Südeuropa in das Land gekommen waren, Wohnhäuser von höchster Qualität bauen, womöglich nach den Entwürfen eines jener jüngst aus Deutschland oder Italien eingewanderten jungen Architekten, die in Venezuela einen nahezu unerschöpflichen Markt für moderne Architektur vorfanden. Und mit großzügigen, ineinander übergehenden Räumen, großflächigen Fenstern, Marmorfußböden mit geometrischen Mustern, funktionalem Mobiliar und perfekter Ausstattung wußten in- und ausländische Architekten eben jenes Ambiente von „rationalem Wohlbehagen" und eleganter Modernität zu schaffen, das ihre Kunden wünschten. 49 Dabei verhallten die ursprünglichen Forderungen nach architektonischer Rationalität, aus denen der „funktionale" Baustil einst in Europa und Nordamerika hervorgegangen war, in Venezuela keineswegs ungehört, sondern führten in den fünfziger Jahren bemerkenswerterweise zu einer Wiederentdeckung überlieferter Bauweisen. Nachdem der neokoloniale Stil der dreißiger Jahre im wesentlichen darauf ausgerichtet gewesen war, die feudale Repräsentativität einer verklärten, hispanoamerikanischen Kolonialarchitektur zu reproduzieren, schrieb sich die neue Hinwendung zur „Weisheit primitiver Lösungen", die ihre Vorbilder in den volkstümlichen, „kubischen" Häusern der Fischerdörfer von Margarita oder Paraguanä suchte, in eine für die Ästhetik der fünfziger Jahre charakteristische Tendenz ein, das Moderne dem Archaischen näherzurücken. 50 1952 veröffentlichte die Revista Shell ein Essay von Carlos Raul Villanueva, der inzwischen internationale Anerkennung als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Architekten gefunden hatte. Unter der Überschrift „Der Sinn unserer kolonialen Architektur" wies Villanueva auf den funktionalen Wert traditioneller, dem tropischen Klima angepaßter Bauelemente hin und führte als Beispiel für seine These Vordächer, überdachte Balkons, Jalousien und luftdurchlässige Zwischenwände, überdachte Wandelgänge und patios an. 51 Indem er die abstrakten Linien der modernen Architektur mit überlieferten Strukturen verband, gelang es Villanueva, mit einer einzigartigen Integration von Architektur, Vegetation und Klima den International Style um eine gelungene, tropische Variante zu bereichern. Die wegen ihrer volkstümlichen Anleihen als „populistische Architektur" bezeichnete Bauweise fand schnell großen Anklang, und in Kürze verstanden sich auch junge europäische Architekten wie der jüngst aus Deutschland eingewanderte 49

Posani, a.a.O., S. 9 4

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Ebd., S. 9 6 - 9 8

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Gasparini/Posanl, a.a.O., S. 3 5 1

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Klaus Heufer wirkungsvoll traditioneller hispanoamerikanischer Bauelemente zu bedienen. 1955 baute Heufer auf einem 7000 Quadratmeter großen Grundstück ein Haus für den Industriellen Hans Neumann, einem 1949 immigrierten Tschechen, der eine bedeutende Sammlung moderner Kunst sein eigen nannte. „Das ganze Haus war offen und auf verschiedenen Ebenen auf einen patio hin ausgerichtet", erinnert sich der Architekt. 52 Zugegebenermaßen hat sich die vorliegende Schilderung der Entwicklung der quinta vom Klassizismus des Jahrhundertanfangs über die neokoloniale Architektur und den International Style bis zum „Populismus" der fünfziger Jahre von den auffälligsten, innovativsten Bauwerken leiten lassen. Während Architekten wie Villanueva oder Fruto Vivas den „populistischen Stil" zu genialen Ergebnissen führten, 5 3 beschränkte sich die neue, immer verbreitetere Bauweise in der Regel darauf, unermüdlich Entwürfe mit „schlichten und reinen Formen, weißen Wänden und Ziegeldächern" zu wiederholen und sich damit - wie seine Kritiker anmerken - in ein „Klischee" zu verwandeln, in eine „beruhigende Formel für die Kunden". 54 In einer von Zeitgenossen als „moderner, kalifornischer" Stil beschriebenen Variante, die man „von verschiedenen Themen der Missions- und Kolonialarchitektur beeinflußt" fand, 55 verbanden sich die Bequemlichkeiten und die funktionale Eleganz des American way of life mit einem stilisierten criollismo - eine Mischung, die in hybriden Gebilden wie mit Ziegeln gedeckten car ports Ausdruck fand. Der stilistische Eklektizismus wiederholte sich in der Inneneinrichtung, in der sich koloniale Reminiszenzen mit funktionalem Mobiliar oder mit sogenannten Stilmöbeln verbanden. Auf Fotografien der eleganten Empfänge, die der Bankier Jesús María Herrera Mendoza in den fünfziger Jahren in seinem großen Haus in El Paraíso gab, läßt sich unschwer die Vorliebe erkennen, die die Gastgeber für Stilmöbel hegten. Mit französischen Rokokosesseln, großen Kronleuchtern und Stillleben in prächtigen, vergoldeten Rahmen reproduzierte man den „seigneuralen" Geschmack einer konservativen, internationalen Bourgeoisie - in einem Haus mit Rundbögen, schmiedeeisernen Gittern und Türen mit poliertem, „kolonialem" Kassettenwerk. 56 Im Gegensatz zu den Herrera Mendoza, die in der Einrichtung ihrer eleganten Salons auf moderne Elemente weitestgehend verzichteten, suchte Oberst Pulido Barreto, enger Vertrauter und Mitarbeiter des Militärdiktators Pérez Jiménez, sich ein moderneres Image zu geben. Ein italienischer Architekt wurde mit dem Umbau des Hauses beauftragt, das Pulido einige Jahre zuvor in Altamira gekauft hatte, 52

Interview mit Klaus Heufer vom 8. 11. 1988

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Gasparini/Posani, a.a.O., S. 3 5 4 - 3 5 7

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Posani, a.a.O., S. 9 7 - 9 8

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Mendoza & Mendoza, a.a.O., o.S.

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Herrera Mendoza, Jesús Maria, Reminiscencias, Caracas 1964, Bd. II, S. 5 3 0 - 5 3 6

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und erweiterte es nicht nur beträchlich, sondern nahm zudem die neokolonialen Rundbögen heraus, ließ einen Marmorfußboden mit geometrischem, schwarzweißem Muster verlegen und eine Bar im „amerikanischen Stil" einbauen. Der Hausbesitzer glaubte sein Ideal von Eleganz aber erst verwirklicht zu haben, als er die nach der weiblichen Hauptfigur des Kinomelodrams „Vom Winde verweht" benannte Quinta Scarlett mit Stilmöbeln eingerichtet hatte. 57 Der Wunsch nach größerer Repräsentativität ließ die ursprüngliche Schlichtheit der „funktionalen" Architektur in diesen Jahren immer mehr in den Hintergrund treten. Für seinen eigenen Gebrauch hatte der venezolanische Architekt Gustavo Wallis 1954 im Country Club die Quinta Piedra Azul gebaut, die beim „Ersten Panamerikanischen Architektenkongreß" einen Preis für die innovative Kühnheit erhielt, mit der die Fassade in eine Vielzahl rechteckiger Formen aufgelöst worden war, die durch unterschiedliche Materialien reizvoll miteinander kontrastierten. 5 8 Andere Häuser führten diese überall in der Welt fühlbar werdende Abkehr von der nüchternen Sachlichkeit der Anfangsjahre der modernen Architektur ins Extrem und stellten eine geradezu erschlagende Fülle extravaganter Formen und Materialien zur Schau. Größeres Aufsehen noch erregten jene Konstruktionen, die eine andere Tendenz der internationalen Architektur der fünfziger Jahre aufgriffen: den Ehrgeiz, mit neuen Materialien und einer gewagten Statik die Gesetze der Schwerkraft scheinbar außer Kraft zu setzen. Ein „einzigartiges Beispiel" der „wissenschaftlichen Nutzung von Materialeigenschaften bei der Lösung von Raumproblemen, bei der die modernsten Erkenntnisse der Kunst, mit Stahl und Zement zu bauen, zur Anwendung kommen", so meinten Zeitgenossen, stelle ein neues Haus auf den Hügeln von Bello Monte dar, das - von Stahlpfeilern gestützt - mit einer verwirrenden Vielfalt von Linien und Winkeln gleichsam über dem Hang zu schweben scheine. 59 Obwohl in einigen Fällen der gute Geschmack einer Architektur fragwürdig sein mochte, deren Sensationalismus ihre ursprüngliche Forderung nach Funktionalität ad absurdum zu führen schien, ist der bauliche Wagemut jener Jahre doch genuiner Ausdruck eines Ambiente, in dem enorme Summen in den Bau luxuriöser Häuser investiert wurden und in dem das Streben nach Modernität deren zukünftige Bewohner ausgesprochen offen für formale Experimente machte. Nur ganz vereinzelt bewohnten Angehörige der Oberschicht - wie Dr. Giacopini Zärraga, Rechtsanwalt, Politiker und seit 1949 einer der leitenden Angestellten der Shell de Venezuela - in den fünfziger Jahren noch ihre Häuser im alten Zentrum von Caracas, das durch den unaufhaltsamen Vorstoß der Bulldozer sein altes Gesicht fast gänzlich verloren hatte. Das wohl aufsehenerregendste Haus dieses 57 58 59

Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto in der Quinta Scarlett vom 7. 11. 1988 Gasparini/Posani, a.a.O., S. 341 Mendoza & Mendoza, a.a.O., o.S.

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Jahrzehnts kann heute als Denkmal der architektonischen Avantgarde gelten. Aus Italien bezogen der Handelsunternehmer Armando Planchart und seine Frau Analuisa die Architekturzeitschrift Domus, die sie mit der Arbeit von Gio Ponti vertraut gemacht hatte. Sie beschlossen, ihn in Mailand aufzusuchen, um ihn mit dem Bau eines Hauses zu beauftragen, für das sie ein spektakuläres Grundstück auf einem der Hügel gekauft hatten, die das Tal von Caracas beherrschen. 60 Gio Ponti entwarf ein Haus, das mit einer asymmetrischen, schwebenden Dachkonstruktion und Innenräumen voll spielerischer Details ganz einem bewegten, von optimistischer Aufbruchsstimmung beseelten Zeitgeschmack entsprach, der radikal mit der von den Wegbereitern der Moderne einst geforderten „geometrischen Präzision" brach. Indem Möbel, Lampen, Stoffe, Geschirr und Besteck nach Entwürfen Gio Pontis in Italien hergestellt wurden, erzielte die Villa Planchart eine bemerkenswerte stilistische Einheit. Unregelmäßig gegliederte, ineinander übergehende Räume, farbige Wand- und Deckenmalereien, polychrome Marmorfußböden und große Fenster schufen eine transparente Atmosphäre von moderner Eleganz, die durch die Einbindung der tropischen Vegetation in das Haus ihren Reiz vervielfacht. Der zentrale patio, vom Wohnraum aus durch überdimensionale Glaswände einsehbar und von dem Italiener Fausto Melotti mit einer Wandskulptur aus glasierter Keramik geschmückt, beherbergte seltene tropische Pflanzen. Im Haus selbst, das zum Garten hin offen ist und so in den Genuß natürlichen Lichts und natürlicher Ventilation kommt, standen die schönsten Exemplare der Orchideensammlung, die Armando Planchart in seinen Glashäusern züchtete. 61 Die Villa Planchart ist Ausdruck jener Atmosphäre von sorglosem Überfluß, die Gio Ponti bei seinen Besuchen in Caracas vorfand und die ihn 1957 zu folgender Prognose verleitete: „So wie die Zivilisation in Auf- und Abwärtsbewegungen entsteht, wird es auch mit den Tropen geschehen; weil die natürlichen klimatischen Gegebenheiten das Leben dort leichter machen, wird die Zivilisation in die Tropen zurückkehren (...): Das ist meine Prophezeiung, ihr tropischen Länder, die ihr für viele Jahre dem Leben des modernen Menschen verschlossen schient und heute mit modernen Transportmitteln leicht zu erreichen seid. Und in der Glückseligkeit der Tropen wird die moderne Architektur bald zur Blüte gelangen, weil sie hier eine ideale Umgebung vorfindet: In anderen Breiten ist die Baukunst eine komplizierte Verteidigung, eine Höhle außerhalb der Erde: Hier ist die Architektur ein Flügel, unter dem man lebt, ein irdisches Paradies. Venezuela, Brasilien: Orte der glücklichen Architektur." 62

60 61 62

Interview mlt Analulsa Planchart vom 24. 11. 1989 Ossott, Johann, Gio Ponti y la Villa Planchart, Revista 'M', núm. 88, año XXII, julio 1988 Gio Ponti (1891-1979). Obra en Caracas, Austellungskatalog dcr Sala Mendoza, Caracas 1986, o. S.

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Es wäre ohne Zweifel verfehlt, die spektakuläre moderne Architektur, die im Caracas der fünfziger Jahre entstand, einzig und allein als Ergebnis einer fortschreitenden kulturellen Überfremdung zu verstehen. Der phanstasievolle, Optimismus ausstrahlende Baustil jener Jahre muß vielmehr ebenso als Ausdruck eines spezifischen gesellschaftlichen Stimmungsbildes angesehen werden wie die klassizistischen Villen von El Paraíso, mit denen sich um die Jahrhundertwende das Streben nach einer neuen großbürgerlichen Repräsentativität kundgetan hatte. Sicherlich liegt es nahe, den Auszug aus dem kolonialen Stadtzentrum, den die Oberschicht seit der Jahrhundertwende vollzog, als Ergebnis ihres gebrochenen Verhältnisses zu einer Tradition zu werten, die sie allzu einseitig mit Rückständigkeit gleichgesetzt hatte. Indem jedoch später dann der altmodisch gewordene, verspielte Klassizismus der Villen von El Paraíso als kitschige Manifestation der kulturellen Selbstverleugnung kritisiert wurde, sah man ohne Bedauern dem Verschwinden der Häuser zu, als diese seit den fünfziger Jahren vielgeschossigen Wohngebäuden Platz machen mußten. Erst in allerjüngster Zeit hat man den kulturhistorischen Wert der wenigen noch verbliebenen Überreste der venezolanischen Belle Époque erkannt und beginnt, Gelder für deren Restauration bereitzustellen. 63 Während fremde Elemente, in den venezolanischen Kontext eingefügt, einen neuen, unverwechselbaren Charakter erhielten und so als Bestandteil des nationalen Kulturerbes gelten müssen, hat sich gleichzeitig die Widerstandskraft überlieferter Modelle gezeigt. Die scheinbar bedingungslose Auslandsorientierung, die um die Jahrhundertwende zur Hinwendung zum europäischen Klassizismus und zu einer charakteristischen Modernisierung der alten Stadthäuser führte, hatte sich in ihrer Ausschließlichkeit bald als unbefriedigend erwiesen. Schon in den zwanziger Jahren setzte eine Rückbesinnung auf die koloniale Bautradition ein, die mit dem international wirksam werdenden Vorbild des nordamerikanischen Neokolonialstils von unerwarteter Seite Unterstützung erfuhr. Internationale Kunstströmungen kreativ aufgreifend, begann man sich in den fünfziger Jahren mit dem funktionalen Sinn traditionaler Bauweisen zu beschäftigen und ihren abstrakten dekorativen Wert zu entdecken. So ist die Wohnkultur, die die privilegierten Schichten der venezolanischen Bevölkerung im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelten, einerseits als Ergebnis einer trotz aller äußeren Veränderungen unzweifelhaften kulturellen Kontinuität zu sehen, andererseits als Ausdruck des neuen Selbstverständnisses einer Nation, die Anspruch auf kulturelle Modernität erhebt.

63

Vgl. El Nacional 6. 7. 1990

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Sport In den zwanziger Jahren, berichtet Alonso Calatrava in einem Büchlein, in dem er auf das beschaulich Leben im alten Caracas zurückblickt, „beschränkten sich die wöchentlichen Vergnügungen auf den Sonntag (...) und auf die wenigen öffentlichen Veranstaltungen, die es gab, wie etwa Kino oder, über eine recht kurze Saison hinweg, die man als temporada bezeichnete, Stierkampf, Pferderennen, Baseball, (...) Komödien, Opern etc. Manchmal fielen zwei oder mehr temporadas zusammen, wie dies in der Regel mit dem Baseball und dem Stierkampf der Fall war, die zwischen Oktober und Januar des folgenden Jahres lagei.." Es wäre angesichts der Gleichzeitigkeit von Baseball- und Stierkampfsaison j -doch voreilig, den Schluß zu ziehen, daß die caraqueños der zwanziger Jahre sich in fortschrittliche Liebhaber des modernen Sports einerseits und in traditionalistische Stierkampffreunde andererseits aufteilten. Denn während „das Ballspiel pünktlich morgens um zehn Uhr anfing", begannen die corridas erst nachmittags um vier, wenn auch „die Arena des Nuevo Circo sich um zwei Uhr zu füllen begann, und eine in der Nähe der Logen plazierte Musikkapelle schon ununterbrochen pasodoble nach pasodoble spielte." 64 Es mag auf den ersten Blick überraschen, wie die Venezolaner es verstanden, sich ebenso für die traditionellen kreolischen Vergnügungen wie für den modernen Sport zu begeistern. So spielten die Söhne des Präsidenten, Florencio und Juan Vicente Gómez Núñez, in den zwanziger Jahren regelmäßig Baseball und nahmen an Meisterschaften in den Clubs von Caracas teil, während sie gleichzeitig als engagierte Förderer des venezolanischen Stierkampfs auftraten und auf ihrer Stierzuchtfarm von Los Guayabitos in einem informellen Rahmen gelegentlich selbst die rote capa der Stierkämpfer ergriffen.65 Und indem sie eine ähnliche Geschmacksvielfalt bewiesen, schauten viele Hauptstädter am Sonntagmorgen dem immer populäreren, nordamerikanischen Baseball zu, einem match, das von rationalen Regeln, kollektiver Disziplin und Wettbewerb bestimmt wurde, um nachmittags dem blutigen Ritual der corrida beiwohnen. Nicht immer hatten so gegensätzliche Vergnügungen harmonisch nebeneinander gestanden. Von dem Streben nach zivilisatorischer Ordnung geleitet, waren Ende des 19. Jahrhunderts die Positivisten gegen die „irrationalen" traditionellen Vergnügen zu Felde gezogen: „Es gibt öffentliche Spektakel, die die Barbarei erzeugen, wie Stier- und Hahnenkämpfe, die unbedingt in den Städten verboten werden müssen, die auf dem Wege der Zivilisation voranzuschreiten wünschen; 64

Calatrava, a.a.O., S. 87

65

Interview mit Florencio Gómez vom 29. 8. 1988

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und es gibt nützliche, zivilisierende Unterhaltungen, wie Gymnastik und Pferderennen, die man fördern sollte." 66 Wirklich standen die neuen Vergnügungen, die man eleganterweise gern mit dem englischen Wort sport zu bezeichnen pflegte, um die Jahrhundertwende im Begriff, zum allgegenwärtigen Symbol von Zivilisation und Fortschritt zu werden. „Die Leibesertüchtigung ist die erste Voraussetzung für das persönliche Wohlbefinden und für die Kraft der Nationen" 6 7 , verkündete die Zeitschrift El Cojo Ilustrado im Jahre 1903: Nach europäischem Vorbild begann man die Gesundheit als individuelles und nationales Kapital zu betrachten, das ein fortschrittliches Land zu vermehren gewillt sein mußte. 68 Gerade in den tropischen Breiten, deren Klima besonders gesundheitsgefährend sei, so meinten die positivistischen „Doktoren", die nach rationalen Heilmitteln für die notorische Rückständigkeit Venezuelas suchten, käme den neuesten Erkenntnissen auf dem Gebiet der Hygiene und der Körperkultur besondere Bedeutung zu. Neue Vitalität erhoffte man von den um die Jahrhundertwende in zahlreichen Varianten angebotenen „kräftigenden Elixieren" und „Stärkungsmitteln", die eine kräftigende Wirkung bei Rachitis, Blutarmut oder Tuberkulose versprachen, aber auch der Sport sollte die „anämischen", „von Malaria verseuchten" Körper der Venezolaner stählen und einer ungesunden, rückschrittlichen Vergangenheit ein Ende bereiten. 69 In dem Eifer, mit dem „eine der Athletik gewidmete Jugend" sich an den Ringen und am Barren übte, schlug sich der Kult nieder, der in den „asthenischen" Dekaden der Jahrhundertwende um die Entwicklung der Körperkraft betrieben wurde. 70 Die Erhöhung der physischen Leistungsfähigkeit war nur eine der wohltätigen Wirkungen, die man der sportlichen Ertüchtigung zuschrieb. Nach der „kontemplativen, fast klösterlichen Ruhe" 71 , mit der die Venezolaner nach althergebrachter Weise das erste Jahrhundert der Unabhängigkeit hatten verstreichen lassen, machte sich nun ein ungewohnter Tatendrang bemerkbar. „Methodische Übungen an der frischen Luft" hatte der Positivist José Gii Fortoul gegen die dem Tropenbewohner eigene „Neigung zur Indolenz" empfohlen. 72 Indem er den Venezolanern Willenskraft und Selbstzucht vermittelte, sollte der Sport die Lebensführung im physischen ebenso wie im moralischen Sinne verbessern. Begierig, an den Errungenschaften einer neuen Welt des Fortschritts und des Wohlstands teilzuhaben, mobilisierte eine ehrgeizige neue Bourgeoisie all ihre Kräfte, um jene 66 67 68 69 70 71 72

Muñoz Tébar, Jesús, El personalismo y el legalismo, In: Caraballo, a.a.O., S. 63 El Cojo Ilustrado 15. 7. 1903 Vgl. Castcll Rüdenhausen, Adelheid Gräfin zu, „Die gewonnenen Jahre". Lebensverlängerung und soziale Hygiene, In: Nitschke, August et al., a.a.O., Bd. I, S. 150 El Cojo Ilustrado 1. 8. 1903; El Sport en Venezuela 30. 9. 1917 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 30 El Cojo Ilustrado 15. 12. 1909 Gil Fortoul, El hombre y la historia, a.a.O., S. 75-76

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Vorurteile zu widerlegen, die aus Südamerika - wie ein Zeitungskommentar von 1926 die ausländische Sichtweise ironisch wiedergab - einen Kontinent von „indolenten Mestizen" machten, von „Hängematten, in denen träge Wesen im Halbschlaf liegen, und von großen, verträumten Urwäldern, in denen apathische Krokodile in der Sonne hingestreckt schlafen." 7 3 Doch trotz der großen Bedeutung, die nach europäischem Vorbild der körperlichen Ertüchtigung für die Erhöhung der „Lebenskraft der Völker" neuerdings zugeschrieben wurde, war man in Venezuela weit davon entfernt, den Sport als Instrument einer systematischen Verbesserung der physischen und psychischen „Volksgesundheit" zu verstehen. In seinen Anfängen war der Sport das Privileg der Elite, und wenn man von seiner herausragenden Rolle für die „Führung der Jugend" sprach, galt dies nahezu ausschließlich für die Söhne und Töchter der europäisierten, städtischen Bourgeoisie. 74 In anderem Zusammenhang ist bereits von der humanistischen Bildung die Rede gewesen, die junge Venezolaner an exklusiven europäischen Schulen erhielten. Die Leistungsfähigkeit und Disziplin, die beim Sport eingeübt wurden, sollten die ganzheitliche Charakterbildung vervollständigen, die diese Pädagogik sich vorgenommen hatte. In seinen Memoiren berichtet Vallenilla Lanz jr., daß in dem Schweizer Internat, das er wie eine Reihe anderer junger Venezolaner aus gutem Hause in Lausanne besuchte, das Fußballspiel zum schulischen Pflichtpensum gehörte, daß die Schule außerdem eigene Tennisplätze besaß und Ruderregatten auf dem See veranstaltete. 75 Besonders bemerkenswert ist die wichtige Rolle, die man innerhalb dieses sportlichen Bildungsprogramms dem Wintersport zuschrieb und die den venezolanischen Wünschen und Sehnsüchten offensichtlich besonders entgegenkam. Von der Faszination des Tropenbewohners für Schnee und winterliche Temperaturen geleitet, womöglich aber auch nicht unbeeinflußt vom positivistischen Mythos der „zivilisierenden Kälte" - jener Theorie, nach der der Zivilisationsprozeß seinen Anfang in den gemäßigten Breiten genommen habe 7 6 - legten die wohlhabenden Venezolaner immer größeren Enthusiasmus für die verschiedenen Formen des 73 74

Billiken 1 1 . 9 . 1926 Die zitierten Wendungen entstammen den Sportseiten der Zeitschrift Elite, wo es 1930 in einem die aktuelle Berichterstattung vom Sport einleitenden Abschnitt u.a. heißt: „Der Sport gewinnt in dieser Jugendstunde der Welt an Terrain. Er trainiert dafür, zum höchsten Symbol dieser Zeit aufzusteigen. Indem er die Führung der Jugend übernimmt, erhöht er die Lebenskraft der Völker, mit seinem wunderbaren Gepäck von fröhlicher Kriegstechnik und seinem erhabenen Sinn für Hygiene. Die Hellenen, die als erste den athletischen Körper zu einer köstlichen Skulptur zu machen suchten, haben würdige Nachfolger im nordischen ,fair play' gefunden, das neue Kampfkraft für das frische Schlachtfeld der Olympiaden sammelt." Das an zeitgleichc europäische Strömungen gemahnende, „skulpturale" Sportideal, das aus diesen Worten spricht, soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ohne Kommentar bleiben. Vgl. Elite 27. 12. 1930.

75 76

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 82, 8 7 - 8 8 Vgl. El Cojo llustrado 15. 5. 1903

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Wintersports an den Tag. „Die Schule", so kann Vallenilla Lanz berichten, „hat in Grindelwald ein ehemaliges Hotelgebäude gekauft, wo wir jedes Jahr vier Monate verbringen werden. Grindelwald besitzt eine gute Bahn für Bobsleigh, und bald beginnt dieser Sport, mir Spaß zu machen. Nachmittags nehme ich mit Freunden den Lift und gleite mit höchster Geschwindigkeit die steile, vereiste Bahn hinunter." 7 7 Bald war es für die jungen Venezolaner, die sich zur Ausbildung oft mehrere Jahre in Europa aufhielten, eine Selbstverständlichkeit, den Winter in Grindelwald, Sankt Moritz oder Chamonix zu verbringen. 78 Auch die renommierten Schulen von Caracas befleißigten sich, unter einer großbürgerlichen Jugend den wohltätigen Sportsgeist zu verbreiten. Um den Jahrhundertanfang hatte die neugegründete Jesuitenschule ein Gelände in El Paraíso gepachtet, um es als Fußballfeld zu nutzen, 79 aber das Ballspiel, das im vorigen Jahrhundert mit Begeisterung an exklusiven britischen Schulen betrieben worden war, konnte in Venezuela keine Wurzeln schlagen. Weitreichende Konsequenzen hatte hingegen das Experiment, das aus den Vereinigten Staaten, England oder Trinidad zurückgekehrte Schüler und Studenten anstellten, die sich mit den angelsächsischen Ballspielen vertraut gemacht hatten und 1895 den ersten Baseballclub Venezuelas gründeten 80 - ohne zu ahnen, daß sie ein Spiel etablierten, das innerhalb weniger Jahrzehnte zum venezolanischen Nationalsport werden sollte. Der Baseball, ein dynamischerer und athletischerer Sport als das britische Cricket, entsprach den Bedürfnissen einer neuen Ära der Tatkraft, als deren Vorhut die junge städtische Bourgeoisie auftrat. Mit den Söhnen befreundeter Familien, die er um 1913 einlud, auf einem seiner Grundstücke in El Paraíso Baseball zu spielen, gründete Carlos Zuloaga den bald berühmten Club Los Samanes. Dieser „aristokratische" Club jedoch, dessen Spielfeld neben dem Palais der Boulton gelegen war und eine der „guten Gesellschaft" von Caracas vorbehaltene Tribüne besaß, konnte seine Vormachtstellung auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Der Wettstreit zwischen den Samanes und anderen, weniger exklusiven Vereinen, unter denen vor allem der Girardot und der Independencia die Sympathie breiterer Volksschichten besaß, nahm 1917 dramatische Formen an. „An jenem Sonntag kam es zu wiederholten Freudenkundgebungen wegen des Sieges von Girardot. Die Straßenbahnen hielten auf ihrem Weg durch El Paraíso vor der Villa der Zuloaga an, und die Passagiere amüsierten sich köstlich dabei, sie auszupfeifen."81

77

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 92, 99

78

Interview mit Guillermo Machado Mendoza vom 2 4 . 10. 1988

79 80 81

Ebd., S. 55 Díaz Rangel/Becerra Mijares, a.a.O., S. 17 Ebd., S. 3 2 - 4 1

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Angesichts der Tatsache, daß sich der Baseball immer rascher zu einem modernen Massensport entwickelte, wurde der Club Los Samanes 1918 aufgelöst. Tausende von Fans strömten bereits in das Stadion von San Agustín, um 1930 dem Treffen der populären einheimischen floya/-Mannschaft mit einem „herkulischen" Team aus dem nordamerikanischen Georgia beizuwohnen. Die hauptstädtische Elite hatte sich vom aktiven Baseball zurückgezogen, aber indem sie in der Förderung dieses Sports die Zügel ergriff, war ihre Präsenz nach wie vor fühlbar. In den folgenden Jahrzehnten waren in den Zeitschriften immer wieder Fotos zu sehen wie jenes, das Elite 1930 anläßlich des Spiels gegen die Mannschaft aus Georgia veröffentlichte und auf dem „eine Gruppe distinguierter junger Damen" zu sehen war, die dem Kapitän der siegreichen „yanqui-Mannschaft" einen Strauß frischer Rosen überreichten. 8 2 Während in der Provinz wohlhabende junge Sportfreunde die Gründung von Baseballclubs zum prestigereichen Hobby machten, 8 3 nahmen sich in Caracas Angehörige der Oberschicht mit der 1926 gegründeten Asociación Venezolana de Base Ball der Organisation des professionellen Baseballs an. Zu einer der zentralen Figuren des venezolanischen Baseballs wurde mit der Gründung des Clubs Concordia zwischen 1932 und 1935 der Präsidentensohn Gonzalo Gómez, dessen Mannschaften 1934 erfolgreich bei internationalen Wettkämpfen in Puerto Rico und der Dominikanischen Republik spielten. 84 Unter der Schirmherrschaft der Oberschicht hielt Venezuela so seinen Einzug in jene große Baseballkultur, die sich in Anlehnung an das nordamerikanische Vorbild im karibischen Raum zu entfalten begann. Die gesellschaftliche Elite, die dem breiten Volk einen Sport überlassen hatte, der relativ große körperliche Ansprüche stellte und eine strenge Mannschaftsdisziplin verlangte, machte nun geltend, daß „der Sport bei den Arbeitern eine der wirkungsvollsten Bildungsmaßnahmen" darstelle und „die Angehörigen der einfachen, arbeitenden Schichten von all jenen Aktivitäten fernhält, die sie moralisch, gesellschaftlich und physisch verderben." 85 Schrieb man dem Baseball, nachdem er seinen anfänglich exklusiven Charakter verloren hatte, also seit neuestem erzieherische Funktionen für die Massen zu, so entsprach dies ganz dem Selbstverständnis einer Oberschicht, die sich seit dem 19. Jahrhundert als elitäre Wegbereiterin von Zivilisation und Fortschritt empfand. Was jedoch die Elite selbst betraf, so schienen die neuen Leitbilder von Tatkraft und Leistungsfähigkeit, die man zu Beginn mit der Sportbegeisterung verknüpfte, zunehmend in den Hintergrund zu treten.

82

Elite 25. 10. und 29. 10. 1930

83 84 85

Siehe hierzu den Roman „Campeones" von Guillermo Meneses, zuerst erschienen 1939 Díaz Rangel/Becerra Mijares, a.a.O., S. 69, 79-83 Blanco Chataing, Luis A. (Hg.), Guía de Base Ball, Caracas 1944, S. 13

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Indem sich die sportlichen Aktivitäten der Oberschicht immer mehr auf das geschlossene Ambiente der gesellschaftlichen Clubs konzentrierten, gewannen die dort angebotenen Sportarten eine immer uneingeschränktere Vorherrschaft. Zu diesen gehörte auch das Tennis, das sich um 1910 in Venezuela zu etablieren begann. Wegen seiner Exklusivität, die seinen Wettbewerbscharakter rein numerisch beschränkte, und seiner größeren Eleganz im Vergleich zu härteren Sportarten wie dem Baseball, entsprach der weiße Sport auf die Dauer mehr den Bedürfnissen der Elite. Sicherlich konnte das Tennisspiel ein athletischer Sport sein und mit großem Ehrgeiz betrieben werden: Als Andrés und Alfredo Boulton 1922 auf das Internat nach Lausanne kamen, erwiesen sie sich bald als die besten Spieler der Schule. 86 Doch wenn die Brüder in ihrer Jugend „das Tennis wirklich als Sport betrieben, war er für andere vor allem eine Frage der Eleganz", erinnert sich Alfredo Boulton. 8 7 Sein aristokratischer Anstrich und die Tatsache, daß er nicht unbedingt größere körperliche Anstrengungen verlangte, verhalfen ihm bei der gesellschaftlichen Elite zu einem triumphalen Erfolg. In den dreißiger Jahren besaßen fast alle Clubs der Hauptstadt Tennisplätze, und sogar in den alteingesessenen Clubs des Stadtzentrums wurde die eine oder andere Tennishalle angebaut. 88 Nicht zuletzt die immer bedeutungsvollere Rolle, die die Massenmedien für die Verbreitung von Lebensstilen zu spielen begannen, hatte dazu beigetragen, den sportsman zur Idealfigur moderner Eleganz zu machen. 8 9 Im Unterschied zu der patriarchalischen Kraftkultur der Jahrhundertwende kennzeichnete die agilere Sportlichkeit der zwanziger Jahre den Eintritt in ein dynamisches Zeitalter, in dem die Jugend „in der Welt der Freizeit, der Medien, der Mode" den Ton anzugeben begann. 9 0 Mit dieser modischen Jugendbewegtheit mochte es zusammenhängen, daß, obgleich die Elite sich einerseits von allzu unbeugsam wettbewerbsorientierten Sportarten distanzierte, sie andererseits neue sportliche Rivalen zuließ: die Frauen. Die tiefgreifende Verwandlung, die das Frauenbild in diesen Jahren erfuhr, illustriert ein Foto aus der Zeitschrift Elite von 1930, das die Gewinnerin der nationalen Meisterschaft im lawn tennis zeigte, Fräulein Dolly Domínguez. 91 Nicht nur der nordamerikanische Vorname, auch der kurze Rock und die kurzen Haare von Fräulein Dolly wiesen auf die Geburt eines neuen Frauentypus hin, 86

87 88 89 90 91

Interview mit Alfredo Boulton vom 7. 8. 1988. Florencio Gómez hingegen berichtet, daß er und sein Bruder Juan Vicente wenig Tennis spielten, weil dieser Sport ihnen „zu monoton, zu wissenschaftlich" erschien. In dem weniger prätentiösen Maracay, mit seiner Atmosphäre von Enthaltsamkeit und Disziplin, bevorzugte man Sportarten wie Baseball oder Basketball, die als „aufregender, athletischer" galten. Interview mit Florencio Gómez vom 29. 8. 1988 Interview vom 7. 8. 1988 Club Central, Exposición de la Junta Directiva en el período de 1929 a 1930, Caracas 1930 Vgl. etwa Elite 25. 10. 1930 Peukert, Detlev J.P., „Mit uns zieht die neue Zeit ...". Jugend zwischen Disziplinierung und Revolte, in: Nitschke et al., a.a.O., S. 195 Elite 2. 8. 1930

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dem die jungen Venezolanerinnen auf ihren Auslandsreisen oder durch Zeitschriften und Kino nachzueifern gelernt hatten. Obwohl sie weit von dem vergnügungssüchtigen Lebenstil der europäischen und nordamerikanischen Jugend der roaring twenties entfernt waren, legten die venezolanischen Mädchen und Frauen der zwanziger Jahre eine gewisse Kühnheit an den Tag, die mit den konservativen Moralvorstellungen der älteren Generation gelegentlich hart zusammenprallen mußte. In seinen romanhaft gestalteten Memoiren „Allá en Caracas" beschreibt Vallenilla Lanz, wie einige seiner Freundinnen in dem Strandbad Macuto „eine Revolution von unberechenbaren Folgen auslösten, denn sie beschlossen nichts weniger, als neben dem übelriechenden Badehaus am Strand zu baden, wo alle Welt sie sehen konnte. Ungefähr um 11 Uhr morgens erschienen sie in ihre Bademäntel eingehüllt, legten diese auf den Steinen ab und sprangen ins Meer. Ihre Badeanzüge waren aus ,schwarzem Jersey', mit Röckchen aus dem gleichen Stoff, die bis zu den Knien gingen. (...) Ihre Tat rief einen Skandal hervor." 92 So bewies der Sport insofern die ihm zugeschriebene modernisierende Kraft, als er den Frauen Raum bot, eine neue, selbstbewußtere Rolle zu erproben. Bei aller Faszination aber, die von den modernen, sportlichen Frauen Europas und Nordamerikas ausgehen mochte, blieb die Toleranz den eigenen Frauen gegenüber zunächst relativ beschränkt. Obwohl in einem Kommentar zu Fotografien von ausländischen Sportlern, die für die Olympiade trainierten, die Zeitschrift Elite begeistert ausrief: „Wir sind mitten im Garten Eden, ein Eden mit ,maillot' - der ,mailIot' ist das evolutionierte Feigenblatt - , in dem Männer und Frauen sich vermischen" 9 3 , hatte die „Vermischung" der Geschlechter, die man in Venezuela hinzunehmen gewillt war, durchaus ihre Grenzen. Viele der Familienoberhäupter des Country Club waren trotz ihres Anstrichs von aufgeklärter Fortschrittlichkeit patriarchalisch genug, ihren Töchtern einen allzu häufigen Besuch der Sporteinrichtungen des Clubs zu untersagen, die sie selbstverständlich ohnehin nicht ohne einen chaperón, eine begleitende Anstandsperson, aufsuchen durften. 94 Obwohl bis in die fünfziger Jahre hinein manche Frauen erst nach ihrer Heirat Gelegenheit erhielten, das konservativen Familien als frivol geltende Ambiente des Clubhauses zu frequentieren, verwandelte sich die Beteiligung von Frauen an den sportlichen Aktivitäten des Clubs jedoch allmählich in eine Alltäglichkeit. Bei den Reitturnieren, die der Country Club 1941 organisierte, gingen Preise immer wieder an die sportlich vielseitig begabte Flor Isava, aber Elite schwärmte in ihrem Bericht auch von den „schönen und jungen Gestalten der Damen de Sucre, de Olavarria und der Fräulein Branger, Chacin, Zingg und anderen weiblichen Teilnehmerinnen", die „dazu beitrugen, die außerordentliche Schönheit dieser Vorstellung 92

Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 73

93 94

Elite 29. 11. 1930 Interview mit Ana Cecilia Wallis vom 2. 11. 1989

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zu erhöhen." 95 Vor allem die Schwestern Zingg erregten in diesen Jahren Aufsehen in der Welt des Sports. „Meine Schwestern", so erzählt Arnold Zingg rückblickend in einem Interview, „waren sehr sportlich, sie betrieben Dressur- und Springreiten, spielten Golf und Bowling. Meine ältere Schwester war nationale Bowlingmeisterin, außerdem fuhr sie Motorrad und besaß die größten BMW-Maschinen, mit denen sie bei den Rennen am ,Tag des Polizisten' in Maracay teilnahm." 96 Womöglich waren die Schwestern Zingg von einer sportlichen Tradition und einem Frauenbild geprägt, die auf ihren zu Beginn des Jahrhunderts aus Deutschland eingewanderten Vater zurückgingen. Trotz wachsender weiblicher Beteiligung war in den dreißiger und vierziger Jahren insgesamt ein Rückgang jenes betont sportlichen Aktivismus zu verzeichnen, den die Oberschicht in den ersten Dekaden des Jahrhunderts an den Tag gelegt hatte. Nachdem athletische und wettbewerbsorientierte Mannschaftsspiele wie Basketball oder Baseball in den vornehmen Clubs nicht mehr praktiziert wurden, herrschten dort repräsentative Sportarten wie Tennis oder Reiten vor. Es scheint für diese Entwicklung symptomatisch zu sein, daß in der oben zitierten Schilderung des Reitturniers von 1941 offensichtlich ästhetische über sportliche Kriterien dominierten: „Von den schönen Trabübungen bis hin zu den kühnsten Hindernissprüngen bot das Programm den Liebhabern des Pferdesports, die das Glück hatten, dieser köstlichen Veranstaltung beizuwohnen, heftige Emotionen. Ohne spektakulär zu sein, erwiesen sich die Übungen in Trab und Galopp wegen der Beherrschung und Sorgfalt, die die Reiter in jede Bewegung legten, als äußerst glanzvoll. Die stolzen und edlen Reittiere vervollständigen die Schönheit der Vorführungen." 97 Der hohe repräsentative Wert eines „Herrensports" wie Reiten oder der stilisierten Athletik des Tennis weisen auf eine Sportkultur hin, die sich vom Leistungsund Enthaltsamkeitsideal des Jahrhundertanfangs zu lösen begann. Das Golfspiel war wohl der charakteristischste Ausdruck des Modells von exklusiver, erholsamer Freizeitgestaltung, das die nordamerikanische Bourgeoisie mit dem Übergang von der industriellen Aufbauphase in die Konsumgesellschaft entwickelt hatte. Schon 1918 gründeten begüterte Hauptstädter den Caracas Golf Club,9* aber die Blütezeit des Golfs begann in Venezuela um 1930 mit der Gründung des Country Club. Als er kurz nach dem Tod von Gomez nach einem jahrelangen Europaaufenthalt in seine Heimat zurückkehrte, stellte Vallenilla Lanz jr. neben anderen Veränderungen fest, daß das Golfspiel für die Angehörigen seiner Gesellschaftsschicht fast zu einem Muß geworden war. 99 Die wachsende Zahl erfolgreicher 95 96 97 98 99

Elite 10. 1. 1942 Interview mit Arnold Zingg vom 6. 9. 1988 Elite 10. 1. 1942 Caracas Golf Club. Estatutos del Caracas Golf Club, Caracas 1918 Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 293

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Unternehmer, die auf den Golfplätzen zusammentrafen, verkörperte ein prosperierendes Venezuela, das sich mit der vorsichtigen Demokratisierung unter den Regierungen von Lopez Contreras (1936-1941) und Medina Angarita (1941-1945) von dem altvaterischen Autoritarismus der Gömez-Zeit zu lösen und in eine neue Phase von sachlicher Fortschrittlichkeit zu treten schien. Bei den lockers der Golfspieler des Country Club traf Laureano Vallenilla Lanz 1941 den tags zuvor zum Präsidenten gewählten General Isaias Medina Angarita, der soeben mit seinen Freunden eine Partie Golf gespielt hatte. „Ich beglückwünsche ihn zu der Wahl, und er umarmt mich freundschaftlich. Danach lädt er mich ein, dort gleich einen ,Whisky' mit ihm zu trinken." 100 Der nüchtern-praktische Glanz des American way of life hatte mit seinen lässigeren Umgangsformen Einzug gehalten und festigte seine Position auch unter der Präsidentschaft von Medina, der - während er wirtschaftspolitisch für die Importsubstitution zu Felde zog und eine „nationalistische" Haltung gegenüber den nordamerikanischen Ölgesellschaften einnahm 101 - als Golfspieler ein in Offizierskreisen zugegebenermaßen ungewöhnliches Hobby betrieb. Der Lebensstil des nördlichen Nachbarn war weltweit zum Vorbild geworden, und obwohl sich Teile der Bourgeoisie mit General Medina neuerdings bestrebt zeigten, einen politisch und wirtschaftlich unabhängigeren Weg in den Fortschritt zu suchen, zweifelte man doch keinen Augenblick daran, wohin dieser Weg führen sollte. Elegante und entspannende Sportarten wie Golf, Tennis und Reiten waren die bevorzugten Vergnügen der modernen, von dem Leitbild eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums ausgehenden Unternehmerelite der Industrienationen geworden 102 - und angesichts eines unaufhaltsam wachsenden Wohlstandes schien es der venezolanischen Bourgeoisie nur natürlich, deren neue „Ethik des Überflusses" auch für sich zu beanspruchen. Das zu Beginn des Jahrhunderts verbreitete Ideal einer systematisch vitalitätssteigernden körperlichen Ertüchtigung war dabei ebenso in den Hintergrund getreten wie der Gedanke der zivilisatorischen Kraft, die von einer sportlich gestählten Elite in einem rückständigen Land ausgehen müsse. Statt dessen galt nun eine ebenso exklusive wie erholsame sportliche Freizeitgestaltung als eine jener Früchte des Fortschritts, die die privilegierten Schichten Venezuelas zu genießen gewillt waren. Wie war es indessen um die traditionellen, kreolischen Vergnügungen bestellt, die trotz der umfassenden Modernisierung des Lebensstils der Venezolaner durchaus nicht in Vergessenheit geraten waren? Der Beliebtheit des Stierkampfes hatten weder die Ausrichtung auf „zivilisierte", mitteleuropäische Moden Abbruch getan, noch die positivistischen Angriffe der Jahrhundertwende, die ihn zum 100

Ders., Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 1 7 8

101

W e r z , a.a.O., S. 5 4

102

Bourdieu, Die f e i n e n U n t e r s c h i e d e , a.a.O, S. 3 4 5

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Inbegriff barbarischer Rückschrittlichkeit erhoben. Selbst als 1930 das Sportfieber einen noch nicht dagewesenen Höhepunkt erreichte, konnten Zeitgenossen selbstbewußt darauf hinweisen, daß „jene sich irren, die glauben, daß wir uns wegen der Invasion ,exotischer' Sportarten nicht mehr für den Stierkampf begeistern würden. (...) Er ist das Vermächtnis unserer Vorfahren. (...) Es gibt nichts männlicheres, glanzvolleres und fröhlicheres als eine corrida."103 Dabei besaß das aus den Tagen der spanischen Herrschaft überlieferte Kampfspiel nicht nur Anhänger unter der traditionellen Elite oder unter den rustikalen Freunden des Caudillo, die die „rückschrittlichen" Gepflogenheiten ihrer provinziellen andinischen Heimat bewahrt hatten - wie der Diktator selbst, der „schon als Kind zum Stierkampf ging und den Mut, den die toreros bewiesen, sehr zu schätzen wußte." 104 Auch innerhalb der neuen hauptstädtischen Bourgeoisie, die scheinbar einem moderneren Zeitalter von Rationalität angehörte, gab es Freunde des Stierkampfs. Indem er bei einem Geschäftsessen „detailliert einige corridas beschrieb, die kurz vor dem Tod von Gómez in Maracay stattgefunden hatten und die jahrelang als goldene Epoche des venezolanischen Stierkampfs galten", soll Andrés Boulton 1942 in Buenos Aires zu einem äußerst vorteilhaften Geschäftsabschluß mit einem argentinischen Stierkampffanatiker gelangt sein. 105 Nicht nur das Engagement des mächtigen Gómez-CIans, dessen Angehörige als Besitzer einiger der größten Stierkampfarenen des Landes den corridas herrschaftliches Gepränge verliehen, auch die von aufkeimendem kulturellem Nationalismus geleitete Spanienmode der zwanziger Jahre hatte dem Stierkampf um 1930 einen Glanz beschert, wie er ihn seit den kolonialen Tagen nicht erlebt hatte. Mit stolz zur Schau getragenen Cordobeserhüten, Mamillen und bestickten Schultertüchern schien man auf den Zuschauertribünen die spanischen Wurzeln Venezuelas nach Jahrzehnten der Distanz wieder betonen zu wollen. Auch die englischstämmige Kaufmannsfamilie Boulton, die noch heute vielen Venezolanern als Inbegriff einer europäisierten, „antinationalen" Bourgeoisie gilt, mochte in dieser Atmosphäre von kultureller Rückbesinnung den Stierkampf als Teil der Tradition ihrer Vorfahren begreifen, unter denen sich seit dem vorigen Jahrhundert nicht nur Briten, sondern auch Venezolaner befanden. Mit gemischtem Erfolg begann John Boulton, Vater von Andrés, seine Söhne und Töchter zu den corridas mitzunehmen. Im Unterschied zu Margot, die sich erinnert, großes Gefallen an dem Spektakel gefunden zu haben, mußte ihre an das verfeinerte Ambiente der Salons gewöhnte Schwester Anita in Tränen aufgelöst fortgeführt werden. 106 Die zahllosen männlichen Liebhaber des Stierkampfs trafen sich in diesen Jahren indessen 103 Biiliken

8. 11. 1930

104 Interview mit Florencio Gómez vom 17. 10. 1988 105 Gerstl, a.a.O., S. 2 8 1 1 0 6 Interview mit Margot Boulton vom 10. 10. 1988

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in spanischen Kneipen wie El Postillón de la Ríoja oder in der berühmten Bar La Península, die während der Stierkampfsaison von spanischen Stierkämpfern und den Mitgliedern der in Caracas gastierenden spanischen Theatertruppen aufgesucht wurde. 107 Nachdem die Gómezfamilie in den zwanziger und dreißiger Jahren entscheidend zur Blüte des Stierkampfs beigetragen hatte, machte sich nach dem Untergang der Diktatur in den venezolanischen Arenen eine gewisse Stagnation bemerkbar. Erst im Lauf der vierziger Jahre kündigte sich wieder ein Aufschwung an. José Antonio Giacopini Zárraga - damals Staatssekretär der 1945 durch einen Militärputsch zur Macht gelangten Regierungsjunta - berichtet, wie er 1947 auf die Initiative einiger Stierkampfliebhaber hin zum „Paten" von Los Guayabitos ernannt wurde, jener berühmten Stierzucht der Brüder Gómez, die seit ihrer Verstaatlichung nach dem Ende der Diktatur vom Verfall bedroht war. Dr. Giacopini, der 1949 in eine führende Positionen bei der Shell de Venezuela aufstieg, war mit Bedacht für diese Aufgabe auserkoren worden, denn er war als Anhänger überlieferter venezolanischer Sitten bekannt. Der Rechtsanwalt erinnert sich gerne an jene Zeit, als er jedes Wochenende in Los Guayabitos verbrachte und morgens „über die Weiden ritt, um die Arbeiten zu beaufsichtigen", während er und seine Freunde sich „nachmittags in improvisierten Stierkämpfen übten." 1 0 8 Mit großem Erfolg wurde 1947 die jährliche Stierkampfsaison von Maracay wieder ins Leben gerufen. Die Begeisterung wuchs, als 1949 der venezolanische Torero Luis Sánchez Olivares, genannt Diamante Negro, und sein Landsmann Ali Gómez triumphale Erfolge in spanischen und mexikanischen Arenen feierten. 109 Die Venezolaner konnten sich zudem durch eine den hispanischen Raum überschreitende Woge der Stierkampfbegeisterung bestätigt fühlen, die bis nach Hollywood schwappte und die venezolanischen Startoreros der fünfziger Jahre - El Diamante Negro und César Girón - zum Gegenstand des Interesses der internationalen Regenbogenpresse machte. 1 1 0 Von Hemingways mittlerweile einem breiten Publikum bekannten Stierkampfromanen womöglich nicht unbeeinflußt, 1 1 1 infizierte eine neue Stierkampfmystik auch Intellektuelle wie Alfredo Boulton, der den berühmten Diamante Negro zu seinem persönlichen Freund machte. Die Ausstellung, auf der Boulton 1951 seine Fotos zu dem Thema „Spanien und der Matador" vorstellte, wurde von der Presse als beachtlicher künstlerischer Erfolg gefeiert. 112 Dabei verlieh die abstrakte, von existenzialistischem Zeitgeist getragene

107 Calatrava, a.a.O., S. 27 108 Interview vom 11. 11. 1988 109 Salas, Los toros en Venezuela, a.a.O., S. 2 8 9 110 Vgl. Elite 7. 12. 1957 111 "The Sun Also Rises" 1926; "Death in the Afternoon" 1932 112 El Universal 2. 2. 1951

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Perspektive dieser Fotografien dem Thema jenen universellen Charakter, der dem Geschmack eines kosmopolitischen Ästheten wie Alfredo Boulton entsprach. Andererseits schrieb sich die wiedererwachte Begeisterung für die Tradition der corridas jedoch in die kulturelle Strömung des criollismo ein, jener Betonung des typisch Kreolischen, in deren Zusammenhang man sich auch anderer einheimischer Sitten besann, an denen der kulturelle Nationalismus der dreißiger Jahre vorübergegangen war. So boten in den fünfziger Jahren die neuen, „ländlichen" Sportclubs am Rande von Caracas, in denen eine unaufhaltsam wachsende Mittelund Oberschicht nach Erholung und Zerstreuung suchte, ein weites Spektrum von Aktivitäten, das neuerdings wieder rustikale kreolische Vergnügungen beinhaltete. Neben einem Fußballplatz, Bowlingbahnen, einem Reitplatz, einem swimming-pool und Tennisplätzen besaß der neue Sportclub Los Cortijos eine Hahnenkampfarena, eine Anlage für toros coleados - das traditionelle venezolanische Rodeo - und einen Platz für bolas criollas, die überlieferte kreolische Variante des mediterranen Boulespiels. Auch der jüngst entstandene Club Campestre Sartanejas in Baruta bot seinen Mitgliedern nicht nur Gelegenheit, ihre reiterische Geschicklichkeit beim Polospiel, sondern auch bei den toros coleados zu erproben. 113 Das Nebeneinander von modernen, internationalen Sportarten und althergebrachten kreolischen Vergnügungen spiegelte die charakteristische Verbindung von Universalismus und Nationalismus wider, die den venezolanischen Lebensstil der fünfziger Jahre kennzeichnete. In dem sich mit schwindelerregender Schnelligkeit modernisierenden Caracas, in dem viele alte Bezugspunkte verlorengegangen waren, begann ein neues Bedürfnis nach Tradition fühlbar zu werden. Selbst der volkstümliche Hahnenkampf, als Inbegriff bäurischer Barbarei scheinbar seit langem der Vergessenheit anheimgefallen, rückte plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Ausführlich berichtete 1953 die hauptstädtische Presse von wohlhabenden Venezolanern, die eigens nach Cuba gereist waren, um dort Hähne für die demnächst in Caracas beginnende Hahnenkampfsaison zu kaufen. Angesichts der Tatsache, daß nur 200 Zuschauer diesem noch vor wenigen Jahren kaum beachteten Ereignis würden beiwohnen können, wurde das Spektakel nun gar für Kino und Fernsehen mit der Kamera festgehalten. Der Hahnenkampf sei ein „Sport für caballeros", suchte die Tageszeitung El Universal die der ländlichen Tradition entfremdeten Städter in die Regeln des Spiels einzuführen, denn „die Wette gilt automatisch mit einer mündlichen Verabredung, und man muß weder Geld hinterlegen, noch Papiere austauschen." 114

113 República de Venezuela, Ministerio de Fomento, Dirección de Turismo, Guía turística de Caracas, Caracas 1957, S. 65-66 114 El Universal 4. 12. und 5. 12. 1953

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Nachdem der kulturelle Nationalismus der zwanziger und dreißiger Jahre vor allem an dem malerisch-glanzvollen Pomp des Stierkampfes Gefallen gefunden hatte, gewannen nun also auch volkstümlichere Traditionen an gesellschaftlichem Prestige. Diese kulturelle Neuorientierung muß nicht zuletzt auf den wachsenden gesellschaftlichen Druck zurückgeführt werden, der den allzu elitären Anstrich der europäisierten Oberschicht des Jahrhundertanfangs immer mehr als Anachronismus erscheinen ließ. Bereits die populistische Partei Acción Democrática, die mit Hilfe der Militärs 1945 an die Macht gelangt war, hatte die Bewahrung volkstümlicher, einheimischer Traditionen zu einem der Kernpunkte der offiziellen Kulturpolitik gemacht. Unter der Herrschaft des Militärdiktators Pérez Jiménez sollte die propagandistische Aufbereitung eines „volksnahen" Kulturnationalismus in den fünfziger Jahren einen noch nicht dagewesenen Höhepunkt erreichen. Die Renaissance rustikaler Spiele wie toros coleados oder Hahnenkampf stellt sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck eines zeittypischen, stilisierten Traditionsbewußtseins dar, das angesichts immer bedrohlicherer sozialer Umwälzungen eine in bodenständigen nationalen Überlieferungen wurzelnde gesellschaftliche Harmonie beschwört. Die tiefgreifenden Veränderungen, die die venezolanische Gesellschaft im Laufe weniger Jahrzehnte erfuhr, spiegelten sich ebenfalls im Wandel des modernen Zuschauersports wider. Allein die Tatsache, daß zwischen 1920 und 1950 die Einwohnerzahl von Caracas von 120 000 auf 700 000 gestiegen war, konnte nicht ohne Folgen bleiben. 115 Während Baseball, einst Elitesport, sich längst in ein Massenvergnügen verwandelt hatte und Tausende von Fans in die Stadien lockte, verlor die Pferderennbahn von EI Paraíso die fast familiäre Atmosphäre, die sie in den ersten Jahren ihrer Existenz besessen hatte. Alfredo Boulton berichtet, daß seine Familie seit den dreißiger Jahren allmählich das Interesse an den Pferderennen verlor, und erklärt das nicht nur damit, daß „die Geschmäcker sich änderten", sondern daß „dort außerdem eine Reihe fremder Leuten in Erscheinung zu treten begann." 116 Selbst die Elite war von einem neuen Zeitalter der Vermassung nicht verschont geblieben, und unter den Pferdebesitzern, die in den fünfziger Jahren die neue goldene Epoche des venezolanischen Derby mit gesellschaftlichem Glanz umgaben, befanden sich Angehörige der traditionellen Eliten, aber auch zahllose „Emporkömmlinge", zu denen viele Alteingessene ebenfalls die politischen Arrivisten der Militärdiktatur zählen mochten. Die Rennbahn wurde zum Symbol einer Epoche neureicher Verschwendung, die quer durch alle Gesellschaftsschichten hindurch die Venezolaner ergriffen zu haben schien. Ende der vierziger Jahre war das Pferde-

115 Geigel Lope-Bello, Nelson, El ambiente de Caracas, Caracas 1976, S. 72 116 Interview vom 1 6 . 8 . 1 9 8 8

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toto geradezu zu einem „nationalen Laster" geworden, und während die wöchentlichen Einnahmen des Hipódromo siebenstellige Zahlen erreichten, standen zeitweilig bis zu tausend kostbare Rennpferde in den Boxen von El Paraíso.117 Die neue Pferderennbahn von La Rinconada, deren Baukosten 1955 mit 80 Millionen Bolívares veranschlagt worden waren, 118 wurde erst nach dem Sturz von Pérez Jiménez 1958 prunkvoll eingeweiht. Mit ihrer riesenhaften Konstruktion aus scheinbar freischwebendem Beton sollte die Zuschauertribüne der neuen Rennbahn „in architektonischer und funktionaler Hinsicht eine der vollkommensten und modernsten der Welt" werden. Der Diktator selbst jedoch sollte nie in den Genuß der luxuriösen Präsidentenloge kommen, deren „ultramoderne" geometrische Eleganz bereits in einer Skizze zu bewundern war, die das Presseorgan des Hipódromo Nacional 1955 veröffentlichte. 119 Während bis auf den heutigen Tag die Pferderennen von La Rinconada allwöchentlich die Wettleidenschaft unzähliger Venezolaner herausfordern, bleibt der Bau ein herausragendes Beispiel für die futuristisch-raumgreifende Architektur der fünfziger Jahre - und gleichzeitig Ausdruck der Ausgabeneuphorie einer Dekade scheinbar grenzenlos wachsender Prosperität. So schien es, als sei die „nützliche, zivilisierende"120 Wirkung, die die Positivisten zu Beginn des Jahrhunderts modernen Vergnügungen wie den Pferderennen zugeschrieben hatten, im Rausch eines Wohlstands untergegangen, der die überlieferten hedonistischen Neigungen der Venezolaner Wiederaufleben ließ. Indem der Sport um 1900 Turnen oder Ballspiele zu neuen „vitalitätssteigernden" Freizeitvergnügen der städtischen Eliten machte, hatte er zunächst als Wegbereiter einer fortschrittlicheren Ära von Tatkraft und Disziplin gegolten. Die anfängliche Begeisterung für leistungs- und wettbewerbsorientierte Sportarten wie Baseball oder Basketball, in denen ein entstehendes bürgerliches Leistungsethos Ausdruck zu finden schien, war jedoch nicht von langer Dauer. Bald überließ die Elite diese athletischen Spiele anderen Schichten der wachsenden städtischen Bevölkerung und trat bei großen Sportveranstaltungen nur noch als deren Förderer auf, ganz wie es ihrem elitären Selbstverständnis von der erzieherischen Mission einer im Dienst des Fortschritts tätigen Oberschicht entsprach. Versteht man Sport als kulturelle Praxis, die Wettbewerbsverhalten einübt, so kam die „modernisierende" Wirkung des Sports jedoch den Frauen zugute, denen der moderne Lebensstil von sportlicher Eleganz, den die Elite mit vornehm entspannenden Vergnügungen wie

117 Rodríguez, Manuel Alfredo, Tres décadas caraqueñas 1935-1966, Caracas 1975, S. 168; Hipismo Nacional. Organo del Hipódromo Nacional, núm. 1, año I, julio de 1955, S. 31 118 Ca. 2 0 Millionen Dollar 119 Hipismo Nacional, julio de 1955, S. 3 2 - 3 3 120 Caraballo, a.a.O., S. 63

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Reiten oder Tennis pflegte, Raum zu einem selbstbewußteren öffentlichen Auftreten gab. Während die Oberschicht exklusive internationale Sportarten bevorzugte und die breite Masse der Bevölkerung den Baseball zu einem neuen, volkstümlich verwurzelten Nationalsport machte, konnten die traditionellen Vergnügungen ihre überlieferte Stellung auf die Dauer schwer behaupten. Nachdem der Stierkampf mit den Wogen nationalistischer Rückbesinnung in den dreißiger und fünfziger Jahren Epochen großen gesellschaftlichen Glanzes erlebte, ist er mittlerweile zum Relikt einer als altvaterisch geltenden Vergangenheit geworden. Die traditionellen kreolischen Vergnügungen wie bolas criollas, toros coleados oder Hahnenkampf, die in den fünziger Jahren im Zusammenhang mit einem neuen Trend zur kulturellen „Volkstümlichkeit" wieder in den Mittelpunkt des Interesses der städtischen Eliten gerückt waren, geraten heute in den Städten immer mehr in Vergessenheit und sind nur noch vereinzelt als ländliche Volksvergnügungen anzutreffen.

Naturbild Im bisherigen Verlauf der Untersuchung ist eine Oberschicht beschrieben worden, die ihre Vorbilder vor allem im städtischen Lebensstil der europäischen und nordamerikanischen Bourgeoisien suchte und die primitiven Lebensbedingungen des venezolanischen Landesinneren lange Zeit mit dem Rückschritt, ja der Barbarei gleichsetzte. Mit einer Oberfläche von rund einer Million Quadratkilometern und einer Bevölkerung, die im Jahre 1936 kaum mehr als drei Millionen betrug 121 und sich größtenteils auf die Küstenregion konzentrierte, besaß Venezuela jedoch nicht nur ausgedehnte Landstriche, die der wirtschaftlichen Nutzung harrten, sondern auch weite Gebiete, die von der Zivilisation gänzlich unberührt waren. Oft hatten ausländische Naturforscher den ersten Anstoß zur Erkundung dieser Gegenden gegeben. Daß man um 1800 nicht weit zu gehen brauchte, um in unerforschte Regionen vorzustoßen, hatte schon Alexander von Humboldt mit seiner berühmten Erstbesteigung der Silla von Caracas bewiesen, einem der Gipfel der Küstenkordillere, die eine bis zu 2500 Meter hohe Barriere zwischen dem Tal von Caracas und dem Karibischen Meer bildet. Während die verwunderten caraqueños mit dem Fernrohr den mühseligen Aufstieg Humboldts und seiner Begleiter beobachteten, war dem Naturforscher seinerseits das mangelnde Interesse unverständlich, das die Venezolaner für ihre heimatlichen Naturschönheiten zeigten. 121

Salcedo-Bastardo, a.a.O., S. 5 4 2

162

„In einem Lande mit so reizenden Fernsichten glaubte icn viele Leute zu finden, welche mit den hohen Bergen in der Umgegend genau bekannt wären; wir konnten aber in Caracas nicht einen Menschen auftreiben, der je auf dem Gipfel der Silla gewesen wäre. Die Jäger kommen nicht bis oben hinauf, und in diesen Ländern geht kein Mensch hinaus, um Alpenpflanzen zu sammeln, um Gebirgsarten zu untersuchen und ein Barometer auf hohe Punkte zu bringen. Man ist an ein einförmiges Leben zwischen seinen vier Wänden gewöhnt, man scheut die Anstrengung und die raschen Witterungswechsel, und es ist, als lebe man nicht, um das Leben zu genießen, sondern eben nur, um fortzuleben." 122 Wirklich mochten die Venezolaner angesichts einer durch den Menschen noch weitestgehend ungebändigten Natur mehr an ihr „Fortleben" denn an den ästhetischen Genuß oder die wissenschaftliche Erschließung denken. Die Natur tritt in Venezuela in all ihren Extremen in Erscheinung: Im Westen befinden sich die Anden mit ihren 5000 Meter hohen Gipfeln, im Süden die undurchdringlichen Urwälder des Amazonasbeckens, im Zentrum die unermeßlichen Weiten der Llanos, jene Tiefebenen, in denen in der Regenzeit kilometerweite Überschwemmungen jede Verbindung mit der Außenwelt unterbrachen. Erst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts sollte eine wirkungsvolle Kampagne gegen die Malaria eingeleitet werden, die jedes Jahr in den Llanos, im Gebiet des Orinocodeltas, aber auch in den tieferliegenden Küstenregionen Tausende von Toten forderte. In einem Land, in dem man zuvor auf Maultieren oder - wenn man von Caracas aus wichtige Handelsstädte wie Maracaibo oder das am Orinoco gelegene Ciudad Bolívar erreichen wollte - auf dem Wasserwege gereist war, begann erst in den dreißiger Jahren der Bau von befestigten Straßen einigermaßen rasche und bequeme Verbindungen zwischen den wichtigsten städtischen Zentren herzustellen. In weiten Teilen Venezuelas befanden sich die Verkehrswege jedoch weiterhin in einem mehr als fragwürdigen Zustand, denn „kaum fiel ein kräftiger Regenguß, schon waren sie nicht mehr zu gebrauchen." In den dreißiger und vierziger Jahren waren die Szenen, in denen „gutmütige Anwohner" halfen, ein im Schlamm steckengebliebenes Automobil wieder flott zu machen, ein allzu alltäglicher Anblick. 123 Zeigte man noch im 20. Jahrhundert wenig Interesse für eine strapazenreiche Erkundung entfernterer heimatlicher Naturschönheiten, so wußten die Städter seit langem die Annehmlichkeiten zu genießen, die die Natur ihnen in der unmittelbaren Umgebung der Ortschaften bot. Eines der komfortablen Landhäuser, die wohlhabende caraqueños seit dem Ende des 18. Jahrhunderts außerhalb der Stadt aufzusuchen pflegten, ist die bekannte Quinta Anauco, die der Marqués von Mijares

122

H u m b o l d t , a.a.O., S. 1 5 5

123

Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 1 0 1

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1797 errichten ließ und die heute Sitz des Museums für koloniale Kunst ist. Diese Häuser dienten der Erholung oder der Rekonvaleszenz und boten Zuflucht vor der Hitze der Sommermonate, aber auch vor den Epidemien, die die Städte heimsucht e n . 1 2 4 Größter Beliebtheit erfreuten sich in der Umgebung der Städte ebenfalls die - nach Geschlechtern getrennten - Badestellen an Flüssen und Bächen. Als Humboldt 1 7 9 9 die Stadt Cumanä besuchte, fiel ihm auf, daß „selbst die weiblichen Glieder der reichsten Familien" schwimmen konnten und fährt fort: „(...) in einem Lande, wo der Mensch dem Naturzustande so n a h e ist, hat m a n sich, wenn man morgens einander begegnet, nichts Wichtigeres zu fragen, als, ob der Fluß heute kühler sei als g e s t e r n . " 1 2 5 Um 1 8 0 0 war es auch üblich, kleine Ausflüge in die Umgebung der Städte zu u n t e r n e h m e n , u m an idyllischen Plätzen ein mitgebrachtes Picknick zu verzehren. 1 2 6 Erst als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Einfluß des Positivismus ein erstes wissenschaftliches Interesse an der Natur aufkeimen ließ, begann dieses „pastorale" Naturbild in den Hintergrund zu treten. Es ist kein Zufall, daß es ein Positivist wie Lisandro Alvarado war, der 1 9 2 0 die spanische Übersetzung von Humboldts Bericht über seine „Reise in die Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents" in Angriff n a h m . 1 2 7 Alvarado war Schüler des Deutschen Adolf Ernst gewesen, der 1863 begonnen hatte, an der Universität von Caracas Zoologie, Botanik und Geologie zu unterrichten und zum Lehrer einer ganzen Generation positivistischer Denker und Wissenschaftler wurde. Regelmäßig führte Ernst seine Adepten zum Botanisieren auf die Hänge des Avila, doch seinem Bestreben, die Venezolaner für die Erkundung einer v o m wissenschaftlichen Standpunkt n o c h

jungfräulichen

Natur zu begeistern, war nur begrenzter Erfolg beschieden. 1 2 8 Zwar m a c h t e n die Belletristen der J a h r h u n d e r t w e n d e das Anlegen „botanischer und e n t o m o l o g i scher S a m m l u n g e n " zum „zivilisierten" Zeitvertreib dandyhafter Romanfiguren: „Er war oft mit der Botanisiertrommel unterwegs" - charakterisierte etwa Diaz Rodriguez den Protagonisten eines Romans von 1 9 0 0 als M a n n von verfeinerter, europäischer Bildung - „und sammelte gleichzeitig jedes Tierchen, das im Licht unseres köstlichen, grünen Tals lebt. Nach und nach besuchte er so jeden einzelnen Hang des Avila."129

Aber im Gegensatz zu ihren literarischen Abbildern bewiesen

die meisten Venezolaner dieser und der folgenden Jahrzehnte nach den obligatorischen Botanisierausflügen der Schulzeit wenig Neigung zum praktischen Studium der einheimischen Flora und Fauna.

124

Duarte, a.a.O., S. 3 1

125

H u m b o l d t , a.a.O., S. 75

126

B a n c o O b r e r o (Hg.), Casas v e n e z o l a n a s , Caracas 1 9 7 3 , o. S.

127

F u n d a c i ó n Polar (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. 115

128

Núñez, Enrique Bernardo, Codazzi o la pasión geográfica, Caracas 1 9 6 1

129

Díaz Rodríguez, Sangre patricia, a.a.O., S. 4 2

164

Mehr als in einem erwachenden Interesse an einer wissenschaftlichen Annäherung an die Natur schlug sich der Einfluß des Positivismus in einem neuen zivilisatorischen Impetus nieder, der auf die „Domestizierung" einer dem Menschen feindlich gegenüberstehenden Unweit abzielte. Ähnlich wie in Europa der Aufschwung von Wissenschaft und Technik den Fortschrittsbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auf das Leitbild einer erfolgreichen Naturbeherrschung zu verengen schien, hoffte man in Venezuela, sich mit Hilfe der Technik eine Natur Untertan zu machen, die als einer der wesentlichen Faktoren des Rückschritts galt. „Das Pfeifen der majestätischen Lokomotiven" - so einer der zahllosen Redner, denen im Jahre 1883 die glanzvolle Einweihung der Eisenbahnlinie von Caracas zum Hafen von La Guaira eloquente Worte in den Mund legte kündige eine glanzvolle Epoche des Fortschritts an, in der „zwischen steilen und felsigen Gebirgen, wo es ein wahnsinniges Unterfangen gewesen wäre, auch nur die wilde Akazie zum Keimen zu bringen, nun innerhalb weniger Monate weite Landstriche zu fruchtbaren Feldern werden, zu köstlichen Gärten, wo neben der schönen Rose das zarte und wohlriechende Veilchen blüht; während in dem abgeschiedenen und dichten Wald, der gestern von dem giftigen Reptil bewohnt war, sich eine Stadt erhebt, in der ein Volk sich der Wissenschaft, der Kunst und der Literatur widmet." 1 3 0 Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die städtischen Eliten Südamerikas zu der Überzeugung geneigt, daß ihr Kontinent außerhalb der Städte nicht viel mehr als eine Wüste sei, die durch die wohltätige Wirkung der Zivilisation erlöst werden müsse. 1 3 1 Unter dem Einfluß von Herbert Spencers geographischem Determinismus gelangten einige Jahrzehnte später auch die venezolanischen Positivisten bei der Untersuchung der Natur ihrer tropischen Heimat zu wenig vorteilhaften Ergebnissen. Ständig durch „Hitze und Schlamm, schädliche Insekten und Fieberkrankheiten" bedroht, so konstatierte José Gii Fortoul 1896 in einer umfassenden Analyse der „natürlichen" Grundlagen der Entwicklung Venezuelas, neige der Tropenbewohner wegen der hohen Temperaturen zudem zu Trägheit und Kraftlosigkeit. Aber der Positivismus hielt auch die Lösungen bereit, um diesen nachteiligen geographischen Bedingungen entgegenzuwirken. In diesem Sinn wies Gii Fortoul auf die Unterschiede zwischen einer „unbewußten Evolution", in der der Mensch dem „Einfluß der physischen Umwelt" unterliegt, und einer „intellektuellen oder bewußten Evolution" hin, in der der Mensch die Umwelt nach seinem Wille gestaltet. Nachdem man während der Kolonialzeit den schwächenden Einflüssen der Natur fast widerstandslos nachgegeben habe, müsse

130 Castellanos, a.a.O., S. 373 131 Burns, a.a.O., S. 21

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die Umwelt ihrerseits nun mit zivilisatorischer Tatkraft den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Bewohner unterworfen werden. 132 Der neue Anspruch auf rationale Intervention blieb nicht ohne Folgen auf die praktische Begegnung mit der Natur. Zu einer seiner charakteristischsten Verkörperungen wurde vielleicht das Provinzstädtchen Los Teques, die unweit von Caracas gelegene Hauptstadt des Bundesstaates Miranda, die seit 1894 dank der neuen Eisenbahnlinie nach Valencia mit dem Zug zu erreichen war. Das szientistische Gesundheitsbewußtsein der Jahrhundertwende hatte Los Teques mit seiner „sauerstoffreichen Luft" 1 3 3 und seinen angenehm kühlen Temperaturen, deren Durchschnittswert Alfredo Jahn mit positivistischer Präzision auf 20,25° berechnete, zu einer Zuflucht nicht nur für Tuberkulosekranke, sondern für all jene werden lassen, die einen Klimawechsel oder einfach eine erholsame Ortsveränderung suchten. 1 3 4 Bis in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts erschien der Name von Los Teques regelmäßig auf den Gesellschaftsseiten der Zeitungen und Zeitschriften, die von den Erholungsreisen der bekanntesten Familien von Caracas berichteten. Neben dem gesunden Klima, das die Wissenschaft Los Teques zuschrieb, war seine Beliebtheit vor allem den landschaftlichen Reizen seiner Umgebung zuzuschreiben, seitdem die ordnende Hand des Fortschritts diese genießbar gemacht hatte. „Der Fortschritt", so hieß es in diesem Sinne 1907 in einem Buch über „Städte und Landschaften" Venezuelas, „ist der Eifer Gottes, der die Natur sogar dort verbessert, wo sie am poetischsten ist, und er hat Los Teques, das schon als solches köstlich ist, in ein unvorstellbares Paradies verwandelt." 135 Seit der Jahrhundertwende boten das Städtchen und seine Umgebung Attraktionen, die ganz dem Geschmack der fortschrittsbegeisterten städtischen Elite entsprachen. Jeden Sonntagmorgen verließ ein Sonderzug Caracas, der nach einer malerischen Fahrt durch die Berge fröhliche Ausflügler in El Encanto entließ, einem befestigten Aussichtspunkt auf einem der Gipfel in den Bergen um Los Teques. Wie in den „venezolanischen Alpen" konnten sich die familiären Gruppen fühlen, während sie einen weiten Rundblick genossen und ein reichhaltiges Picknick verzehrten, um - ohne sich auf allzu gewagte Wanderungen begeben zu haben - nach einigen Stunden wieder mit der Bahn in die Stadt zurückzukehren. Gerne suchten die Ausflüger aus Caracas, Valencia oder Maracay auch den Parque Knoop auf, den der deutsche Eisenbahningenieur Gustav Knoop Ende des vorigen Jahrhunderts in der Nähe des Bahnhofs von Los Teques angelegt hatte. Mit seinen klassifizierten Pflanzen, von denen nicht wenige „exotischer" europäischer Her132

Gil Fortoul, El h o m b r e y la historia, a.a.O., S. 5 7 - 7 8

133

D i r e c t o r i o anual de Caracas, Distrito Federal y Estados de la República para 1 9 0 6 , Caracas 1 9 0 6 , S. 5 2 0

134

Castillo I.ara, Lucas J . , U n a tierra llamada Guaicaipuro, Caracas 1 9 7 0 , S. 2 3 7

135

Leal, a.a.O., Bd. TI, S. 1 6 9

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kunft waren, lud der Park zu zivilisierten Spaziergängen ein, die in ihrer Förmlichkeit denen ähnelten, zu denen die städtische Elite bis in die dreißiger Jahre auf der Plaza Bolívar zusammenkam. Genoß man in Los Teques und Umgebung also gemeinschaftlich eine durch den Fortschritt „verbesserte" Natur, so vergaß man darüber nicht die Normen städtischer Repräsentation. Ähnlich wie in den europäischen Bade- oder Kurorten, die die Elite auf ihren Auslandsreisen besuchte, bildeten elegante gesellschaftliche Aktivitäten einen unerläßlichen Bestandteil jedes Erholungsaufenthalts in Los Teques, dessen Besucher zu Beginn des Jahrhunderts in den Hotels „Europa" oder „Schweiz" zu walzerbeschwingten Tanzabenden zusammenkamen. 136 Auch der Badeort Macuto am Karibischen Meer bot einer Bourgeoisie, die den Leitbildern von europäischer Eleganz nachzueifern wünschte, einen immer „zivilisierteren" Hintergrund. Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts pflegten die caraqueños in der kühleren Jahreszeit nach Macuto zu reisen, 137 aber es war Guzmán Blanco, der die „glückliche Idee hatte, (...) es im Lande als einen schicklichen Erholungsort bekannt zu machen." 1 3 8 Nachdem man in Europa um 1800 den therapeutischen Wert von Meeresklima und Seebädern entdeckt hatte, ließ Guzmán für seine von einem neuen Gesundheitsbewußtsein bewegten Zeitgenossen an der felsigen Küste Macutos eines der für die bürgerliche Badekultur des 19. Jahrhunderts typischen Badehäuser errichten. 139 Ganz nach dem Vorbild vieler europäischer Strandbäder 140 war der Ort bald mit einem kleinen Zug bequem zu erreichen, und 1906 behaupteten Zeitgenossen, mit seinen „breiten Boulevards und eleganten Villen" befände das einstige Fischerdorf sich „auf der Höhe europäischer Badeorte." 141 Nicht jeder, der die unbefestigten Straßen erblickte, auf denen die Badegäste unter Kokospalmen und Mandelbäumen promenierten, mochte diese Meinung geteilt haben. Beißenden Spott hat der mit den eleganten europäischen Badeorten vertraute Vallenilla Lanz jr. in seinen romanhaften Memoiren in die Beschreibung des legendären Badehauses von Macuto einfließen lassen, das die Badegäste morgens gegen 11 Uhr aufsuchten und wo Frauen und Männer beim Bad durch eine hohe Zementmauer getrennt wurden. „Die Regierung hatte dort mit Zementblökken zwei Stückchen Meer abgetrennt, um die Badenden vor den Haifischen zu schützen. Dahinter befanden sich die Holzhäuschen, in denen sich die Besucher

1 3 6 Castillo Lara, a.a.O., S. 2 3 7 - 2 4 1 137 Leal, a.a.O., Bd. II, S. 78 1 3 8 Schael, Caracas, a.a.O., S. 48 139 Vgl. Saison am Strand. Badeleben an Nord- und Ostsee. 2 0 0 Jahre, Ausstellungskatalog des Altonaer Museums in Hamburg/Norddeutsches Landesmuseum, Herford 1986, S. 1 8 - 2 5 140 Ebd., S. 3 2 141 Directorio Anual, a.a.O., S. 519

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umzogen - eng, immer feucht und von einem strengen Uringeruch erfüllt. Einige glitschige, von Algen und Mollusken bedeckte Stufen führten direkt in das bewegte Karibische Meer. An der letzten Stufe konnten sich die Neulinge und die Schüchternen an einem Seil festhalten, um dem Anprall der Wellen zu widerstehen. Es war ein groteskes Schauspiel, denn jung und alt tauchten vollkommen nackt auf und unter. Ich werde nie einen alten General aus Trujillo mit langem, schwarzen Bart vergessen, der vorsichtig die schlüpfrige Treppe hinunterstieg (...) und sich ernst und traurig in die Fluten stürzte, wie die Hindus, die sich im Ganges benetzen." 142 Was Hygiene und Bequemlichkeit betraf, vollzog sich das „zivilisierende Ritual" des Seebads lange Zeit offenbar unter prekären Umständen. Erst mit dem Wirtschaftsaufschwung der zwanziger Jahre entfaltete Macuto allmählich jene Eleganz, die man ihm wohl allzu vorschnell zugeschrieben hatte. 1928 wurde das Hotel Miramar eingeweiht, das mit einem Schwimmbad und einem nachts mit elektrischem Licht beleuchteten Tennisplatz das erste Hotel seines Standards in Venezuela war. 1 4 3 Gleichzeitig fand jene „Revolution" statt, die den von konservativeren Moralvorstellungen beseelten Zeitgenossen zunächst als Skandal galt: Männer und Frauen begannen, außerhalb des Badehauses an der felsigen Küste von Macuto zu baden. Schon 1930 erschienen in der Zeitschrift Billiken Fotos von Badegästen, die befreit von voluminöser, einengender Kleidung - im Badeanzug Meer, Sand und Sonne in Playa Caribe genossen, jenem Strand in der Nähe von Macuto, der derzeit „in Mode" war. Schwimmen und Sonnenbäder in „immer knapperer Bekleidung" schufen in den von Sportsgeist beseelten Jahren um 1930 ein neues Ambiente von informeller Erholung in der Natur. 144 Dieses Strandleben war jedoch nur „dem äußeren Anschein nach primitiv", wie Billiken 1936 auf ihren den jüngsten internationalen Bademoden gewidmeten Seiten ihren Lesern beruhigend versicherte, denn „die scheinbare Wildheit breitet sich in angenehmster Weise auf der Grundlage eines erlesenen Komforts aus." 145 Obwohl man in diesen Jahren die Reize einsamer Strände entdeckte, 146 bestimmte die Bequemlichkeit der Hotels und Ferienhäuser von Macuto doch weiterhin den Aktionsradius. Bis 1950, als Margot Boulton zum ersten Male die Insel Margarita besuchte, kannte sie wie die meisten caraqueños nur einen kleinen Abschnitt der venezolanischen Küste, da sie sich von Macuto niemals mehr als dreißig Kilometer entfernt hatte, „bis nach Los Caracas in der einen Richtung und bis Mamo in der

142 143 144 145 146

Ebd., S. 30 Martínez Salas, Rafael, Acerca de La Guaira y Macuto, Caracas 1977, S. 4 Billiken 18. 10. 1930 Billiken 1. 9. 1936 Vallenilla I.anz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 311

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anderen." 147 Noch auf lange Zeit sollten die schlechten Verkehrsverbindungen und das Fehlen einer touristischen Infrastruktur die Zahl der Ziele drastisch beschränken, die „zivilisierte" Reisende im eigenen Land anstreben mochten. Bis heute ist die Küstenstraße des Litoral Central, des nahe der Hauptstadt gelegenen Küstenstreifens, zu dem Macuto gehört, nur bis zu dem Strandbad von Los Caracas asphaltiert. Nicht alle bedurften jedoch der Straßen, um sich zur Erkundung ihres Landes aufzumachen. Zum Ausdruck einer neuen, aktiveren Herangehensweise an die Natur wurde das 1929 gegründete Centro Excursionista de Caracas, das für seine Mitglieder unter anderem regelmäßig Aufstiege auf die zuerst von Humboldt erklommene Bergkette des Avila organisierte. 148 Daß im Gegensatz zu den beschaulichen, familiären Ausflügen der Jahrhundertwende die modernen Exkursionen einer sportlicheren Zeit entsprachen, bestätigten die Fotos, die „tapfere Wanderer" von ihrem Ausflug in das heiße Umland der Provinzstadt San Juan de los Morros gemacht hatten und deren Veröffentlichung die Zeitschrift Elite 1930 eine ganze Seite widmete. Mit seiner Kamera, mit der er Bilder eines dem städtischen Publikum wenig bekannten Landesinneren festhielt, verwandelte sich die moderne Figur des sportlichen Wanderers in einen Pionier der Zivilisation, der „mit seinen Schritten erste flüchtige Wege in die großartige venezolanische Geographie einzeichnet." 1 4 9 Auch die majestätischen Andengipfel begannen in diesen Jahren erste Liebhaber des Bergsports anzuziehen. 1934 lauschten im Ateneo de Caracas Zuhörer aus gehobenen Kreisen der hauptstädtischen Gesellschaft Alfredo Jahns Vortrag über „Wandersport und Alpinismus", den er mit der „Projektion eines Films über die Sierra Nevada" auf zeitgemäße Weise zu illustrieren wußte. 150 Waren die vielfältigen Aktivitäten des Ateneo zum großen Teil von dem Blick nach Europa geleitet, so verstand sich das Kulturzentrum ebenfalls als Forum für jene, die sich um eine Förderung der „nationalen" Kultur bemühten. In diesen Kontext schrieb sich auch die Erkundung der venezolanischen Geographie ein. Der kulturelle Nationalismus der zwanziger Jahre hatte nicht nur eine Rückbesinnung auf die indianischen und afrikanischen Wurzeln Lateinamerikas gefordert. Auch dem Einfluß, den die großartige Natur ihres Kontinents auf die Identität der Lateinamerikaner ausgeübt hatte, maß man nun eine neue Bedeutung bei, und die ländliche Tradition Venezuelas, von der sich die europäisierten Städter der Jahrhundertwende loszusagen versucht hatten, erfuhr zumindest in der Theorie eine Aufwertung. Die geradezu mystische Aura, mit der Romulo Gallegos in seinen 147 148 149 150

Interview mit Margot Boulton vom 30. 8. 1988 Schael, Caracas, a.a.O., S. 146 Elite 26. 7. 1930 Dieser für das Naturbild Jener Jahre äußerst aufschlußreiche Vortrag ist vollständig zu finden bei: Romero Mufloz-Tebar, R.A., Nieves y riscos meridefios, Caracas 1976, S. 15 ff.

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Romanen die venezolanische Landschaft und die mit ihr „wesenhaft" verbundenen Landbewohner umgab, schien den Bedürfnissen des Augenblicks in besonderer Weise entgegenzukommen. 1 5 1 Über die literarischen Präferenzen seiner Jugend sagt Dr. Giacopini Zárraga im Rückblick: „Weil ich mich gern und viel auf dem Land aufhielt, interessierte ich mich für eine Literatur, die sich mit dem ländlichen Milieu beschäftigte. In der argentinischen Literatur über die gauchos wurde ich fündig. In meiner Bibliothek stehen alle klassischen Bücher über die argentinische Pampa, Don Segundo Sombra von Ricardo Güiraldes, der Martín Fierro, die Biblia Gaucha. (...) Gallegos begann ich in den zwanziger Jahren zu lesen, als er seine ersten Romane veröffentlichte. So hatte ich den direkten Kontakt mit der Natur und außerdem die Idealisierung durch die Bücher. (...) Gallegos hat eine wunderschöne Prosa, wenn er über die Angst spricht, die der Llano einflößt oder einflößte, denn heute ist er gezähmt. Ich lernte den Llano von Gallegos kennen, und ich kannte seine Bewohner. Es war der furchterregende Llano, der Llano des Abenteuers." 152 Kaum, daß er erschienen war, hatte sich vor allem Rómulo Gallegos LlanoRoman Doña Bárbara als Klassiker der jungen venezolanischen Literatur etabliert. Obwohl die Zensur, nachdem der Autor 1931 ins politische Exil gegangen war, seine Bücher aus den Buchhandlungen verschwinden ließ, war Santos Luzardo, die Hauptfigur des Romans, bereits zum Vorbild für eine ganze Generation von Venezolanern geworden, und es heißt, daß selbst Diktator Gómez sich für das Buch begeistert habe. 153 Der Roman, dessen Lektüre nach 1936 zum Pflichtpensum an den venezolanischen Schulen gehörte, erzählt die Geschichte des Sohns einer Viehzüchterfamilie aus den Llanos, der nach dem Studium in Caracas auf die Hacienda zurückkehrt. Mit allen Problemen des krassesten ländlichen Rückstandes konfrontiert, muß er sich zudem der brutalen Gewalt seiner Nachbarin Doña Bárbara entgegenstellen, die ihm seine Ländereien zu entreißen sucht. Dabei war es offenkundig Gallegos Absicht, seinen Protagonisten Dr. Luzardo zum Pionier einer vorbildlichen Rückkehr auf das Land zu machen, die eine fortschrittliche Elite im beginnenden 20. Jahrhundert unternehmen sollte, „mit dem Ungestüm der Nachfahren (...) einer kraftvollen Rasse und mit den Idealen der Zivilisation, die jenen fehlten." 154 Als die „Angriffslust" seiner Vorfahren in der „halbbarbarischen" Atmosphäre des unzugänglichsten Llano-Staates Apure wieder in Santos Luzardo erwacht, nimmt der Romanheld sich vor, das „patriotische Werk" zu vollbringen und sich nicht nur gegen die „Kräfte des Rückschritts" durchzusetzen, die machthungrige 151

Franco, a.a.O., S. 1 4 6

152

Interview m i t J o s é A n t o n i o G i a c o p i n i Zárraga v o m 11. 11. 1 9 8 8

153

M i c h c l e n a , a.a.O., S. 1 7 8

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Gallegos, R ó m u l o , D o ñ a Bárbara, Caracas 1 9 8 2 , S. 3 9

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Kaziken wie Doña Bárbara verkörpern, sondern auch „gegen die Natur zu kämpfen: gegen die gesundheitsschädigenden Lebensbedingungen, die die Rasse der llaneros aussterben lassen, gegen Überschwemmungen und Trockenheit, die sich das Land das ganze Jahr über streitig machen, gegen die Wüste, die die Zivilisation nicht vordringen läßt." In einem irrationalen Ambiente die Rationalität des Fortschritts durchzusetzen, so ist den mehr oder weniger expliziten Ausführungen des Autors zu entnehmen, bedeutete nicht nur, das Gesetz der Gewalt durch die abstrakten Prinzipien einer schriftlichen Gesetzgebung zu ersetzen. Ebenso wichtig schien es, eine ungezähmte Natur zu regulieren und mit Straßen und Zäunen, die die traditionell nur vage definierten Grenzen der Viehzuchtfarmen markieren sollen, „der geschweiften Linie der Natur die gerade Linie des Menschen entgegenzusetzen", jene Linie, die „geradewegs in die Zukunft führt." 155 Verfocht also auch Gallegos bei aller mythischer Verklärung der urwüchsigen venezolanischen Landschaft eine rationale Intervention in die Natur, die ganz dem etablierten positivistischen Credo von „Ordnung und Fortschritt" entsprach, so fühlten nur wenige sich zur praktischen Umsetzung dieser Forderung berufen. Die Großgrundbesitzerssöhne, die wie Iván Darío Maldonado, nachdem sie eine städtische Ausbildung genossen hatten, ins Landesinnere zurückkehrten, um dort kraft ihrer Arbeit die Grenze zwischen „Zivilisation" und „Barbarei" voranzutreiben, stellten zweifelsohne die Ausnahme dar. 156 Gerade in diesen Jahren setzte vielmehr eine noch nicht dagewesene Landflucht ein. Ebenso wie Santos Luzardo waren die Söhne vieler Hacendados zum Schul- und Universitätsbesuch in die Städte und vor allem nach Caracas gekommen, aber im Gegensatz zu der Romanfigur zogen sie es in der Regel vor, die vielversprechenden Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen in der durch das Erdöl prosperierenden, städtischen Wirtschaft oder in der Politik boten, und mochten froh sein, den primitiven Lebensbedingungen auf dem Lande entronnen zu sein. Und während die allseits geforderte Zivilisierung des „wüsten" Landesinneren auf sich warten ließ, wurde die Aufwertung der ländlichen Wurzeln Venezuelas, die der kulturelle Nationalismus der zwanziger und dreißiger Jahre propagierte, zur städtischen Mode stilisiert. In Literatur und Theater - und seit den vierziger Jahren in den immer zahlreicheren venezolanischen Kinoproduktionen - verkörperte ein mythisch überhöhter Llano die ureigenste, bodenständige Kraft des venezolanischen Volkes. Gefallen fand man auch an dem virilen Zugriff auf die Natur, der den Llano in den Augen der Städter zur abenteuerlich verklärten Herausforderung machte. Gallegos hatte in seinem Roman Doña Bárbara jenes „überströmende Gefühl von Männlichkeit" beschrieben, „das einfach dadurch erzeugt wird, daß man auf dem

155 Ebd., S. 3 8 - 3 9 , 65, 119 1 5 6 Interview mit Iván Darío Maldonado vom 16. 6. 1989

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Pferd über die unermeßlichen Savannen reitet." 1 5 7 Mit Sportarten wie Jagen, Schießen und Querfeldeinreiten gelangten in den dreißiger und vierziger Jahren die „Insignien" des hombre macho - Pferd und Schußwaffen - zu neuem Ansehen. Ungeachtet der wechselnden kulturellen Bedeutung, die man ihm zusprechen mochte, lag das ländliche Venezuela noch in allzu greifbarer Nähe, als daß man seine Gepflogenheiten gänzlich aus den Augen verloren hätte. Von Generation zu Generation waren überlieferte Vergnügungen wie die Jagd weitergegeben worden. Schon als Kind war der 1915 als Sohn eines Großgrundbesitzers und Kaufmanns geborene José Antonio Giacopini Zárraga mit einem Onkel und dessen jagdbegeisterten Freunden im Tal von Caracas auf die Pirsch gegangen. Als in den dreißiger Jahren die soliden Ford-Automobile eine Erweiterung des Aktionsradius erlaubten, so erinnert sich Giacopini, unternahmen Gruppen von befreundeten Jägern strapazenreiche Fahrten in die Llanos, um dort für einige Tage Hochwild, Vögel und Wildschweine, aber auch Jaguare oder Alligatoren zu jagen. Seine allgemein bekannte Vorliebe für das rauhe Leben im unzivilisierten Landesinneren empfahl den Rechtsanwalt 1948 als geeigneten Mann für den Gouverneursposten im Bundesstaat Territorio Amazonas, jener von der Zivilisation größtenteils unberührten Urwaldregion im äußersten Süden Venezuelas, wo Giacopini in „einsamen Nächten" erneut die Romane von Rómulo Gallegos las. Mit einer für viele Männer seiner Generation typischen Verbindung von beruflichen und geschäftlichen Interessen, Gefallen an virilen Vergnügungen und zivilisatorischem Ehrgeiz gab der Gouverneur sich den Anstrich eines männlich-tatkräftigen Santos Luzardo. Sich zum ersten Mal als Viehzüchter erprobend, gründete Giacopini im Urwald nördlich von Puerto Ayacucho eine „Modellfarm", mit der er die Bevölkerung mit „rationalen Viehzuchtmethoden" vertraut zu machen suchte. Und hatte Luzardo auf den ersten Seiten von Doña Bárbara seine Schießkünste an einem Kaiman erprobt, so ergriff der erfahrene Jäger Giacopini während einer Patrouillenfahrt auf einem der wenig erforschten Nebenflüsse des oberen Orinoco die Gelegenheit, einen jener „enormen Saurier" zu erlegen.158 Giacopini war nicht der einzige Jäger, der bald darauf ein langjähriges Freizeitvergnügen aufgab und sich zum Naturschutz bekehrte. Angesichts einer mittlerweile erheblichen Dezimierung der einheimischen Fauna kehrten Ende der vierziger Jahre auch Antonio Julio Branger und Iván Darío Maldonado ihrem alten Hobby den Rücken und verboten die Jagd auf den riesigen Ländereien, die sie in den Llano-Staaten Cojedes beziehungsweise Apure besaßen. Heute sind die Farmen zu einzigartigen privaten Naturschutzreservaten geworden, in denen eine in anderen Landesteilen weitestgehend verschwundene Tierwelt Zuflucht gefunden

157

Gallegos, D o ñ a Bárbara, a.a.O., S. 6 5 - 6 6

158

Ebd., S. 2 5 ; Interview m i t J o s é A n t o n i o G i a c o p i n i Zárraga v o m 13. 10. 1 9 8 8

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hat. 159 Erst 1944 war das erste Jagdgesetz zum Schutz einer Fauna erlassen worden, die man, wie dem Gesetzestext zu entnehmen war, nun als „hervorragendes Charakteristikum der typischen Eigenheiten der jeweiligen Länder" zu betrachten begann. Wenn einige der ersten venezolanischen Naturschützer sich aus den Kreisen von „Nationalisten" rekrutierten, die bodenständige venezolanische Eigenarten zu erhalten wünschten, reagierte man gleichzeitig auf ausländische Entwicklungen, denn Venezuela hatte 1940 in Washington panamerikanische Naturschutzvereinbarungen unterzeichnet. 160 Während so einerseits der nordamerikanische Einfluß dem Naturschutzgedanken in Venezuela zur Verbreitung verhalf, wurden aus den Vereinigten Staaten gleichzeitig moderne Sportwaffen, Ausrüstung und Spezialzeitschriften importiert, die der Jagdbegeisterung der Venezolaner neuen Auftrieb gaben. Gerade in den fünfziger Jahren genossen die Jagd und die Sportfischerei in den Flüssen des südlichen Venezuela größere Beliebtheit denn je. Fast möchte man die fünfziger Jahre als die Dekade bezeichnen, in der das Leitbild des von männlicher Tatkraft erfüllten Zivilisators, das zunächst mehr literarische als reale Verkörperungen gefunden hatte, seine größte Wirkungskraft erhielt. Der Vorstoß in den unerschlossenen Süden stellte eines der erklärten Ziele der Militärregierungen dar, die seit 1948 die Macht ausübten. Die energische „Umgestaltung der natürlichen Umwelt", die die Militärs verfochten, sollte nicht nur die Ausbeutung reicher Bodenschätze in der Region Guayanas ermöglichen, sondern auch der vernachlässigten Landwirtschaft zum Aufschwung verhelfen. 161 Mit dem Bau von Stauseen, Bewässerungskanälen, Stromleitungen und Straßen schritten Vertreter der Staatsmacht und Ingenieure zur Zähmung de; furchterregenden Llano. Auch Privatleute zeigten sich von „zivilisatorischem" Tatendrang bewegt. Kleine Sportflugzeuge, die auf primitiven Pisten inmitten der Savanne landeten, stellten auch ohne Straßen Verbindungen zu einst schwer zugänglichen Orten her; der Gebrauch von Funkgeräten verminderte das Risiko, das die Entfernung von den Zentren des Zivilisation mit sich brachte. Zu den begeisterten Sportfliegern jener Jahre, so erinnern sich Zeitgenossen, gehörten die Jäger. 162 Immer mehr wohlhabende caraqueños besaßen im Landesinneren Farmen mit eigener Landepiste, wo sie das Wochenende mit Jagen, Fischen oder Reiten verbrachten und ihre Freunde und Bekannten zu rustikalen Festen einluden, deren 159 Interview mit Antonio Julio Branger auf Hato Piñero am 7. 1. 1990; Interview mit dem Großgrundbesitzer und Industriellen Iván Darío Maldonado, Besitzer des bekannten Hato El Frío in Apure, vom 16. 6. 1989 160 República de Venezuela, Ministerio de Agricultura y Cría, Exposición de motivos al proyecto de Ley de Caza, Caracas o.J. 161 Vgl. Castillo d'Imperio, Ocarina, Los años del buldozer. Ideología y política 1948-1958, Caracas 1990, S. 157 162 Zuloaga, Nicomedes (hijo), El transporte aéreo privado en Venezuela, in: Fundación Eugenio Mendoza (Hg.), Evolución del transporte en Venezuela, Caracas 1970, S. 141-142

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unerläßliche Bestandteile am offenen Feuer nach //awero-Tradition gebratenes Fleisch und schottischer Whisky waren. Für diese Wochenend-Hacendados war die Landwirtschaft - vor allem die als „zünftig" geltende Viehzucht - oft nur ein Hobby, „ein Vorwand, um ein Flugzeug zu haben." 163 Ohne Zweifel hatten die wachsenden technischen Möglichkeiten die lange vernachlässigte Erkundung des Landesinneren attraktiver gemacht. Als nach dem Zweiten Weltkrieges die Importe wieder uneingeschränkt ins Land flössen, konnten die ersten Sportflieger ihre Aktivitäten endlich erweitern und richteten sich 1946 mit dem privaten Flugplatz von La Carlota eine eigene Landebahn inmitten des Tals von Caracas ein. 1 6 4 Von hier starteten wohlhabende Hauptstädter zur Erkundung einer Geographie, die den meisten bis dahin weniger vertraut gewesen war als die europäische oder die nordamerikanische. Bei einem Ausflug im Privatflugzeug ihres Bruders Andrés, der mittlerweile die kommerzielle Luftfahrtgesellschaft AVENSA ins Leben gerufen hatte, lernte Margot Boulton um 1950 an einem einzigen Tag die einzigartigen Tafelberge der im äußersten Südosten des Landes gelegenen Gran Sabana sowie die Insel Margarita kennen. 165 Mit Motorbooten erkundeten andere unterdessen die venezolanischen Küsten. Obwohl seit den dreißiger Jahren in Venezuela Sportboote verkauft wurden, 166 hatte der Wassersport erst nach 1945 größere Verbreitung gefunden. Auch in diesem Zusammenhang fiel der wachsende Einfluß US-amerikanischer Moden auf fruchtbaren Boden. Mit „aus Miami importierten Techniken", so berichtet der Unternehmer Guillermo Machado Mendoza, widmeten sich begüterte caraqueños der sportlichen Hochseefischerei, die sie bis zu den einsamen Inseln führte, die Venezuela im Karibischen Meer besitzt. Regelmäßig besuchten die Sportfischer unter anderem das 170 Kilometer vor der Küste gelegene Archipel Los Roques, das in späteren Jahrzehnten zum exklusiven Karabikparadies der Oberschicht von Caracas wurde. Während die Frauen tagsüber meist auf einer der zahllosen kleinen Inseln blieben, um dort zu baden und sich zu bräunen, fuhren die Männer auf das offene Meer hinaus, um einen modernen, technisierten Sport zu betreiben, dessen Höhepunkt der Kampf mit manchmal mehr als mannsgroßen Schwertfischen oder Hornhechten war. 167 Hatte ein Kreis eingeschworener Jagd- und Angelfreunde es zu ihrem Hobby gemacht, mit modernster Ausrüstung versehen zu einer männlichen Konfrontation mit der Natur aufzubrechen, gaben weitaus die meisten Venezolaner einer weniger strapazenreichen Freizeitgestaltung den Vorzug. Aus den Vereinigten 163 Interview mit Julio Sojo Bianco vom 1. 12. 1989 164 Zuloaga, a.a.O., S. 141-142 165 Interview mit Margot Boulton vom 30. 8. 1988 166 Elite 22. 11. 1930 167 Interview mit Guillermo Machado Mendoza vom 24. 10. 1988

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Staaten kamen ebenfalls die Vergnügungsjachten, deren Erwerb in jenen Jahren in Mode kam. Laureano Vallenilla Lanz jr. hatte um 1950 „ein schönes Segelschiff gekauft, das auf internationalen Regatten Preise gewonnen hat." Mit der Familie und Freunden segelte er ebenso nach Los Roques wie zu der Insel Orchila, jenem karibischen Militärstützpunkt, dessen türkisblaue Buchten Diktator Pérez Jiménez zu seinem bevorzugten Erholungsort gemacht hatte. Der Wunsch nach größerer Bequemlichkeit und Schnelligkeit bewog Vallenilla Lanz jedoch bald dazu, das Segelboot zu verkaufen und statt dessen die Yacht Eda zu erwerben. Der 300Tonner mit zwei Motoren „ist gut möbliert, und die Geschwindigkeit des Kreuzers beträgt 18 Knoten." 168 Das Ambiente von modernem Komfort, mit dem die Oberschicht sich auf ihren Motorjachten umgab, entsprach dem Geist einer Zeit, die in der tropischen Landschaft eine attraktive Kulisse für eine an internationalen Vorbildern ausgerichtete Freizeitgestaltung sah. Die „Eroberung und Inbesitznahme des Unseren", die eine erneute Woge „nationalistischer" Rückbesinnung in den fünfziger Jahren zur Notwendigkeit erklärt hatte, vollzog sich - so möchte man sagen - unter dem Vorzeichen der Distanz. Mit künstlerisch stimmungsvollen Fotografien seines Cousins Alfredo Boulton illustriert, stellte Uslar Pietri in seinem 1953 erschienenen Buch Tierra Venezolana „eine Sammlung literarischer und graphischer Impressionen einiger der charakteristischsten Städte und Regionen des Landes" vor. 169 Doch während Literaten und Journalisten in Landschaften und volkstümlichen Gebräuchen die „wesentlichen Züge des venezolanischen Antlitzes" 170 zu entdecken suchten und dabei die Natur, ähnlich wie man es in den dreißiger Jahren getan haue, als identitätsformend verstanden, orientierten sich die caraqueños, die seit 1950 zögernd das Landesinnere zu bereisen begannen, an dem zur internationalen Mode gewordenen Autotourismus. 171 Dem neuen Bedürfnis nach einer touristischen Durchdringung Venezuelas entsprachen ehrgeizige staatliche Pläne, die mit dem Bau von Straßen und Hotels einen nationalen Reiseverkehr zu entwickeln suchten, der sich an internationalen Maßstäben messen sollte. Die von Diktator Pérez Jimémez in zahllosen Ansprachen bekräftigte Devise von der tatkräftigen „Umgestaltung der natürlichen Umwelt" beinhaltete auch, sie dem modernen Touristen zugänglich zu machen. In komfortablen nordamerikanischen Autos gelangten die Reisenden in Hotels, die an charakteristischen Punkten der venezolanischen Geographie die standardisierten Bequemlichkeiten moderner Hotelketten zu bieten hatten - wie

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Vallenilla Lanz, Escrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 3 9 8 , 4 4 0

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Uslar Pietri, Tierra v e n e z o l a n a , a.a.O., S. 13

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Ebd., S. 2 3 9

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Vgl. das Essay v o n R o l a n d B a r t h e s zu der b e s o n d e r e n W a h r n e h m u n g v o n L a n d s c h a f t e n u n d S e h e n s w ü r d i g k e i t e n , die m i t dieser Form des Reisens e i n h e r g e h t , in: ders., M y t h e n des Alltags, F r a n k f u r t / M . 1 9 6 4 , S. 5 9 ff.

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das Hotel Prado Río in der Andenstadt Mérida oder das Hotel Bella Vista auf der Insel Margarita. 172 „Mein Vater liebte es, durch Venezuela zu reisen", berichtet im Rückblick auf seine Kindheit der Bankierssohn Julio Velutini, „diese kurzen Reisen, die wir über Ostern oder über die Karnevalstage mit dem Auto durch Venezuela machten. Vor 1950 war das schwierig, aber Pérez Jiménez hatte eine Menge Hotels bauen lassen. Jedenfalls reiste meine Mutter mit einem Sterilisiergerät. Wir fuhren in die Anden, in die Llanos, nach Barinas, Maracaibo, Barquisimeto, Cumaná, Barcelona. (...) Mein Vater ist ein Autofan, er liebt es, einen starken und guten Wagen zu fahren." 173 Während man mit Staunen verfolgte, wie Pioniere wie William H. Phelps, einer der erfolgreichsten venezolanischen Unternehmer und international anerkannter Ornithologe, 1 7 4 zu abenteuerlichen Forschungsexpeditionen in den unberührten Süden Venezuelas aufbrachen, waren die allermeisten Venezolaner um der geforderten „Eroberung des Unseren" willen kaum bereit, allzu große Anstrengungen auf sich zu nehmen. Noch immer zog man es in der Regel vor, ins „zivilisierte" Ausland, also nach Europa oder Nordamerika zu reisen, die mit der wachsenden venezolanischen Finanzkraft und dem neuen Luftverkehr in immer größere Nähe gerückt waren. Bei aller mangelnden Reiselust im eigenen Land suchte man die Natur aber nach wie vor in der Nähe der Hauptstadt auf. Im Südwesten von Caracas hatte die Umgebung der mittlerweile beträchtlich gewachsenen Landeshauptstadt Los Teques den „alpinen" Reiz, den man ihr zu Beginn des Jahrhunderts zugesprochen hatte, durchaus nicht gänzlich verloren. Den Bedürfnissen einer neuen Zeit entsprachen jedoch eher jüngst entstandene, näher an der Stadt gelegene Clubs wie der Junko Country Club und der Jutiko Golf Club, die - wie es in einem Stadtführer hieß - „einen malerischen Blick auf grüne Hügel bieten, die mit modernen Wochenendhäusern verschiedener architektonischer Stilrichtungen gespickt sind." 175 Die städtische Bourgeoisie, die sich in den Tagen von Guzmán Blanco an europäischen Vorbildern von repräsentativer Erholung orientiert hatte, ersetzte die zeitlich ausgedehnteren Aufenthalte der Vergangenheit durch week-ends, die mit ihrer funktionalen Bequemlichkeit im nordamerikanischen Stil den konzentrierten Erholungswert einer durch den Fortschritt „verbesserten" Natur gewährten und gleichzeitig zeitgemäßen Vorstellungen von Eleganz entsprachen. Den allergrößten Teil der erholungssuchenden Städter zog es nach wie vor an den unmittelbar vor Caracas gelegenen Küstenabschnitt des Litoral Central. Die 172 Corporación Venezolana de Hoteles y Turismo (CONAHOTU), Visit and Know Venezuela. Land of Wonderful Scenery, Caracas o . J . 173 Interview mit Julio Velutini vom 8. 9. 1989 174 El Nacional 14.8. 1988 175 Ministerio de Fomento, Guía turística, a.a.O., S. 66

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vierspurige Autobahn, die statt einer kurvenreichen Landstraße seit 1953 die Hauptstadt mit der Küste verband, lud immer mehr caraqueños zu entspannenden Strandaufenthalten ein. Nachdem Macuto eine „Demokratisierung" 176 erfahren hatte, die es für viele seiner ursprünglichen Besucher unattraktiv machte, zogen die privilegierten Schichten sich in Privatclubs wie Laguna Beach, Caraballeda Yacht y Golf Club oder Club Tanaguarena zurück, die mit ihren an der Felsenküsten des Litoral künstlich angelegten Sandbuchten und „ultramodernen Gebäuden" zu exklusiven Freizeitenklaven von kosmopolitischem Charakter wurden. 177 Mittlerweile von zahlreichen eleganten Hochhausbauten gesäumt und alle Annehmlichkeiten einer modernen Infrastruktur bietend, konnte der Litoral s e i n e Attraktivität für die hauptstädtische Bourgeoisie bewahren, die die Wochenenden in ihren Häusern am Strand verbrachte und zu gesellschaftlichen und sportlichen Aktivitäten die Clubs aufsuchte. Das 1956 hoch über Caracas auf dem Avila in staatlichem Auftrag erbaute Hotel Humboldt ist wohl eine der anschaulichsten Verkörperungen einer technokratischen Zeit, die „das Unmögliche tat", um inmitten der Natur Oasen des Fortschritts zu schaffen. Der Präsident, der Caracas und den Küstenstreifen jenseits der Kordillere in „eine Stadt auf zwei Etagen" zu verwandeln wünschte, die „attraktiver als Rio de Janeiro" werden sollte, 178 hatte eine spektakuläre Seilbahn bauen lassen, die das Hotel Humboldt über eine Strecke von 14 Kilometern über den Südhang mit der Stadt und über den Nordhang mit der Karibikküste verband. 179 In wenigen Monaten schuf der Architekt Tomás Sanabria einen futuristischen Zylinderbau von 17 Stockwerken, der den Mittelpunkt einer „integralen" Erholungszone bildete, die neben „70 Suiten und großzügigen Gesellschaftsräume für 800 Personen" ein überdachtes Schwimmbad, eine Schlittschuhbahn, Gärten und Restaurants bot. 1 8 0 Weniger um Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, kamen die Besucher, um diese Anlagen zu genießen, für die hinter großen Glasscheiben Panoramaausblicke einen beeindruckenden Hintergrund boten. Oberst Pulido Barreto, enger Mitarbeiter der Militärregierung, erinnert sich an einige Wochenenden, die er mit seiner Frau und Freunden im Hotel Humboldt verbrachte und an denen es „Shows mit Künstlern aus den Vereinigten Staaten oder Cuba gab." 181 Das Tal von Caracas weithin überragend, ist das Hotel - das seit den sechziger Jahren nicht mehr in Betrieb ist - zum Denkmal einer Zeit geworden, in der einem trium176 177 178 179

Arocha, Rafael, Motivos del presente y del futuro optimistas, Caracas 1949, S. 10 Mendoza & Mendoza, a.a.O., S. 30 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 450 El Universal 4. 12. 1958; vgl. auch: República de Venezuela, Ministerio de Relaciones Interiores, Venezuela 1955, Caracas 1955, S. 174-176 180 Goldberg, Mariano, Guía de edificaciones contemporáneas en Venezuela, Parte 1, Caracas 1979, S. C 24 181 Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto vom 7. 11. 1988

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phalen Sieg über eine lange Zeit als Faktor des Rückschritts verstandene Natur keine Grenzen mehr gesetzt zu sein schienen. Nach wie vor war das Verhältnis der Venezolaner zu der Natur ihres tropischen Heimatlandes von der Distanz gekennzeichnet. „Es gibt Orte in der Natur von unglaublicher Vielfalt und tellurischer Schönheit. Sie sind nicht Bestandteil unseres Bewußtseins. Wie Touristen stehen wir vor ihnen", hat der Schriftsteller Juan Liscano 1980 festgestellt und dieses Phänomen als Symptom der Identitätskrise gewertet, die Venezuela im Zeitalter des Erdöls erlitten habe. 1 8 2 Die Ursachen für das geringe Interesse, das die meisten seiner Landsleute für die Naturschönheiten eines zivilisatorisch vielerorts noch wenig erschlossenen Landesinneren zeigen, reichen jedoch weit in die venezolanische Vergangenheit zurück. Das iberische Erbe war von Anfang an nicht dazu angetan, die Lateinamerikaner zu einer profunden Naturliebe hinzuführen. Um die Jahrhundertwende hatten dann die Positivisten zum Kampf gegen eine „feindliche" tropische Natur gerüstet, die Venezuelas Entwicklung im Wege zu stehen schien - und sich damit jenem Leitbild von wachsender Naturbeherrschung verschrieben, auf das sich auch das Fortschrittsverständnis der Industrienationen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend verengt hatte. So hielt man in Anlehnung an die Thesen, die der Postivist Gil Fortoul in Bezug auf die anzustrebende „physische Verwandlung" Venezuelas entwickelt hatte, in den fünfziger Jahren unverändert an der Anschauung fest, daß der Fortschritt des Landes „nicht etwa darin liegt, den Menschen an seine Umgebung anzupassen, sondern im Gegenteil diese ihm anzupassen." 1 8 3 Während die Venezolaner in der Regel den Naturgenuß auf die domestizierten Landschaften in der unmittelbaren Umgebung der Städte beschränkten, leitete die überlieferte Vorstellung von einer Grenze zwischen „Zivilisation" und „Barbarei" auch jene sportliche Konfrontation mit der Natur, die manche Angehörige der städtischen Elite im Lauf des 20. Jahrhunderts mit Hobbys wie Jagen oder Angeln suchten. Die nationalistische Rückbesinnung auf die Wurzeln der venezolanischen Identität hatte in den dreißiger Jahren die Erschließung der urwüchsigen Landschaften des Landesinnereren zur männlichen Herausforderung stilisiert, an der die „zivilisierten" Städter eine bodenständige Kraft erproben konnten, die ihnen im Taumel des kulturellen Wandels verloren zu gehen drohte. Das Prestige, das man in Venezuela dem Landbesitz zuzuschreiben gewohnt war, sollte so um die Jahrhundertmitte den Typus des Wochenend-Hacendados hervorbringen, der den fortschrittlichen Impetus einer technokratischen Epoche mit einem aus der rustikalen Überlieferung schöpfenden, virilen Zugriff auf die Natur verband. Besser als die meisten ihrer Landsleute mit den wachsenden Gefahren vertraut, die der Flora

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Liscano, J u a n , ¿Identidad n a c i o n a l o universalidad?, in: W e r z , a.a.O., S 1 4 0

183

Castillo d ' I m p e r i o , Los a ñ o s del buldozer, a.a.O., S. 1 0 4

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und Fauna aus einem ungezügelten Vordringen der Zivilisation erwuchsen, sollten indessen gerade aus den Kreisen dieser Männer auch viele der ersten Naturschützer hervorgehen, deren wegweisendem Engagement für den Erhalt der Besonderheiten der heimischen Landschaft Venezuela nicht wenig zu verdanken hat.

Theater und Nachtleben „Einsam und dunkel" waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Nächte in den venezolanischen Städten. 184 Eines der wenigen öffentlichen Vergnügen, das die Venezolaner nach der Dämmerung aus ihren Häusern lockte, waren um 1800 die gelegentlichen Theatervorstellungen, die nur an Feiertagen gegeben wurden und in den Augen eines europäischen Besuchers keineswegs eine überzeugende Schauspielkunst boten: „Die Deklamation (...) ist wie ein monotones Stammeln, ähnlich als wenn ein zehnjähriges Kind eine schlecht gelernte Lektion aufsagt", behauptete der französische Reisende Depons und fügte hinzu, die Schauspieler lebten „nicht vom Vergnügen ihrer Zuschauer, sondern von ihrem Mitleid." 185 Im provinziellen Caracas der Kolonialzeit, wo das gesellschaftliche Leben sich im wesentlichen auf die Privathäuser beschränkte, hatte sich keine bedeutende Theaterkultur entwickelt. 186 Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als die politische und wirtschaftliche Lage sich nach den Krisen der Nachkriegszeit zu stabilisieren begann, kündigte sich eine glanzvollere Epoche an. Begierig, sich von dem Ballast spanischer „Rückschrittlichkeit" zu befreien - die in der strengen Zensur, die der Klerus in den Kolonien auf das Theater ausübte, greifbaren Ausdruck gefunden hatte 187 verlangte es die Venezolaner nach neuen, europäischeren Darbietungen. Bereits in dem 1854 eingeweihten Teatro Caracas hatte sich Gelegenheit geboten, die Opern von Bellini, Donizetti und Verdi zu hören, jene Musik, von der die Tagespresse verkündete, daß sie „heute in Europa in Mode ist." 188 Zum kulturellen Statussymbol einer zivilisationsdurstigen Bourgeoisie wurde jedoch erst das später in Teatro

184 185 186 187

Uslar Pletri, Tierra Venezolana, a.a.O., S. 32 Depons, a.a.O., S. 121 Herrera, Carlos E., Teatro colonial venezolano. In: Imágenes, junio de 1988, S. 2 5 - 2 6 Pérez Vila, Manuel, Polémicas sobre representaciones dramáticas en Venezuela: 1775-1829, in: Universidad Central de Venezuela. Dirección de Cultura. Centro de Investigación y Desarrollo del Teatro, Cuaderno 1, junio de 1966, S. 25 188 Salas, Carlos und Feo Calcaflo, Eduardo, Sesquicentenarlo de la ópera en Caracas. Relato histórico de ciento cincuenta años de ópera 1808-1958, Caracas 1960, S. 28

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Municipal umbenannte Teatro Guzmán Blanco, das 1881 mit dem „Troubadour" von Verdi eingeweiht wurde. Im 19. Jahrhundert hatte die europäische Bourgeoisie prächtige Theater- und Opernbauten nicht nur zum Mittelpunkt ihres kulturellen Lebens, sondern auch zum Schauplatz eines glänzenden Gesellschaftslebens gemacht. Von diesem Vorbild inspiriert, entstanden überall in Lateinamerika repräsentative Theaterbauten - in Venezuela außer dem Teatro Municipal das Teatro Baralt in Maracaibo von 1883 oder die Theater von Barquisimeto und Valencia, die 1891 und 1894 eingeweiht wurden. 189 Auf den fotografischen Stadtansichten von Caracas, die aus der Jahrhundertwende erhalten sind, hebt sich das imposante Gebäude des Teatro Municipal deutlich von den ziegelgedeckten Flachbauten der alten Hauptstadt ab. Mit seiner neuartigen klassizistischen Architektur, einer in Europa erworbenen Innenaustattung und seit 1884 mit einem der ersten Stromgeneratoren Venezuelas elektrisch beleuchtet, stellte das Theater ein wirkungsvolles Denkmal von Zivilisation und Fortschritt dar und wurde zum Szenarium der Selbstdarstellung einer europäisierten Oberschicht, die den Theaterbesuch zum repräsentativen Ritual machte. Die Elite sicherte ihre Vorherrschaft nicht nur dadurch, daß vor Beginn der Theatersaison die bekannten Familien Abonnements für Logen oder Gruppen von Parkettsitzen kauften und auf diese Weise stets über die besten Plätze verfügten. Da Monate oder gar Jahre vergehen konnten, ohne daß europäische Operntruppen nach Venezuela kamen, bestieg man auch gelegentlich selbst die Bühne. Bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung, die 1918 zugunsten des Britischen Roten Kreuzes stattfand, trugen jugendliche Angehörige der vornehmsten Gesellschaftskreise Klavierstücke von Liszt und Schubert vor, führten eine kleine Komödie auf und präsentierten lebende Bilder wie „Griechischer Fries, Gemartertes Belgien und Britische Legion." 190 Den größten Glanz jedoch entfalteten das Teatro Municipal und seine distinguierten Besucher an den großen Galaabenden, denen die Auftritte berühmter Interpreten des bel canto besonderen Rang verliehen. Eines der teuersten Ensembles, das damals in Venezuela gastierte, war das des italienischen Baritons Titta Ruffo, dem man 1924 die „fabelhafte Summe von 24 000 Bolívares pro Vorstellung" zugesagt hatte. 1 9 1 Nie war der große Caruso, dem man in Havanna und anderen lateinamerikanischen Städten zujubelte, nach Caracas gekommen, aber die Hauptstädter konnten sich rühmen, einige der berühmtesten Sänger jener Zeit gehört zu haben, die nicht nur immer verwöhnteren Ohren genügen mußten, sondern auch dem 189

Ebd., S. 4 7 ; Arcila Parías, a.a.O., Bd. II, S. 5 2 3 - 5 2 4 ; vgl. a u c h Dolkart, R o n a l d H „ Elitelorc at t h e Opera: T h e T e a t r o C o l ó n of B u e n o s Aires, in: J o u r n a l of Latin A m e r i c a n Lore, vol. 9., n o . 2 ( W i n t e r 1 9 8 3 ) , S. 2 3 1 - 2 5 0

190

Salas, Historia del t e a t r o en Caracas, a.a.O., S. 1 4 5 - 1 4 6

191

Ders., C i e n a ñ o s del T e a t r o M u n i c i p a l , Caracas 1 9 8 0 , S. 7 2

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Theater und seinen Besuchern gesellschaftliches Prestige verleihen sollten. In den Presserezensionen wurden das internationale Renommee der Sänger, die Pracht der Aufführung und die Größe des Ensembles zu den zentralen Kategorien für den Erfolg einer Opernsaison gemacht. 192 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und für fast hundert Jahre besaßen italienische Operntruppen in Venezuela praktisch ein Monopol. Mit ihnen bestritten Komponisten wie Verdi, Donizetti, Rossini oder Puccini den allergrößten Teil des Repertoires, während erst 1930 mit „Lohengrin" die erste Wagneroper aufgeführt wurde - ein aus dem Rahmen fallendes Ereignis, das sich nicht bald wiederholen sollte. 1 9 3 Das über Jahrzehnte nahezu gleichbleibende Programm zeugt von der Stagnation einer Opernkultur, die zum Symbol elitärer Kultur erstarrte und die Erneuerung, die das europäische Modell erfuhr, nicht weiterverarbeitete. Indem sie sich nach wie vor auf die zivilisatorische Mission berief, die die europäisierte Elite des 19. Jahrhunderts der Oper zugeschrieben hatte, verlangte die Zeitschrift Billiken nach den unruhigen Monaten, die dem Tod von Diktator Gómez gefolgt waren, im Oktober 1936 nach den gewohnten staatlichen Subventionen. Caracas habe „seine Ration Oper (...) ehrlich mit der Besonnenheit verdient, die unsere vornehme Gesellschaft seit Dezember bis heute gezeigt hat. (...) Weder Präsident López noch einer seiner Minister, sie alle gebildete Männer, die jahrelang das europäische Kulturleben genossen haben, könnten es ablehnen, aus der Staatskasse Gelder bereitzustellen, damit auf diese Art Zivilisation und positive Kultur im Volke verbreitet werden." 194 Obgleich man der Oper den höchsten gesellschaftlichen Rang zusprach, hatten allein aufgrund der sprachlichen Verbindungen die Lateinamerikaner die spanische Theaterkultur keineswegs aus den Augen verloren. Regelmäßig führten spanische Ensembles in Caracas zarzuelas auf, jene spanischen Operetten, die mit Handlungen voller Liebes- und Ehrenhändel die Erwartungen eines Publikums befriedigten, das weniger die Originalität und die ästhetische Innovation suchte, sondern dessen Theatervergnügen vornehmlich im Wiedererkennen vertrauter Muster bestand. Die spanischen Dramen indessen, die zu Beginn des Jahrhunderts noch ganz unter dem Einfluß der Spätromantik standen, erregten mittlerweile einen gewissen Unmut, und venezolanische Kritiker erklärten, der „Melodramen (...) mit vorgefertigten Sätzen (...), Schwertern und Dolchen und Giften (...), Seen von Tränen und orkanartigem Geheul" überdrüssig zu sein. 195 Spanien hatte in diesen Jahren nicht den Anschluß an die Entwicklung des modernen europäischen Dramas halten können, und dies mußte sich in den Spielplänen der spanischen 192 193 194 195

Billiken Elite 8. Billiken El Cojo

1. 11. 1930; Elite 8. 11. 1930 11. 1930 15. 10. 1936 Ilustrado 15. 8. 1909

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Schauspieltruppen niederschlagen, die bis 1950 die venezolanische Theaterkultur entscheidend prägten. Gelangten Stücke von Calderón de la Barca oder Garcia Lorca in Caracas nur äußerst selten zur Aufführung, 196 so begeisterten sich Generationen von venezolanischen Theaterbesuchern für den Dramatiker Jacinto Benavente, der 1922 den Nobelpreis erhalten hatte und bei seinem Tod 1954 mehr als hundert Theaterstücke hinterließ. Als Vertreter des literarischen modernismo war Benavente überall in Südamerika als der große „realistische" Erneuerer des von einer künstlichen und schwülstigen Spätromantik erstickten spanischsprachigen Theaters gefeiert worden. Am Maßstab der zeitgenössischen europäischen Theaterkultur gemessen, erscheinen die Komödien und Dramen Benaventes, die im Ambiente der Salons oder im pittoresken ländlichen Milieu angesiedelt sind, in Form und Inhalt jedoch recht konventionell. 197 Abseits der europäischen Moderne hatten sich in Spanien gleichzeitig Theaterformen entwickelt, die das Schwergewicht auf spanisches Lokalkolorit legten, und die Stücke von costumbristas, d. h. Sittenschilderer, wie den Brüdern Alvarez Quintero bildeten bis 1950 einen nicht wegzudenkenden Bestandteil des Repertoires des Teatro Municipal.19* Nachdem sie mit zarzuelas ersten Ruhm errungen hatten, waren Joaquín und Serafín Alvárez Quintero zu den bedeutendsten Vertretern des saínete geworden, einer Kleingattung, die in lustigen kurzen Szenen „erzspanische Typen und Orte" darstellt. 199 Die Verse der Brüder Alvarez Quintero, die - wie Florencio Gómez sich erinnert 200 - in den Salons der „guten Gesellschaft" gerne rezitiert wurden, entsprachen mit ihrer malerischen Verklärung Andalusiens der seit den zwanziger Jahren in Venezuela grassierenden Spanienmode. 201 Bald inspirierten sie jedoch auch venezolanische Autoren dazu, eine kreolische Version des saínete zu entwickeln. Das einheimische Theater hatte bislang wenig Prestige genossen, und noch im Jahre 1924 vertrat ein durchaus ernst gemeintes Essay über die Entwicklung des Theaters in Caracas die Ansicht, daß der Mangel an guten, einheimischen Dramatikern auf den „organischen oder anthropologischen Defekt der Rassenmischung" zurückzuführen sei, die „Hybride hervorgebracht hat, die so unfruchtbar wie ein Maultier sind." 2 0 2 Obwohl sich das zivilisierte Teatro Municipal in der Regel dem 196

Salas, Historia del t e a t r o en Caracas, a.a.O., S. 1 7 9 - 1 8 0 , 1 9 6

197

Vgl. B e n a v e n t e , J a c i n t o , Obras escogidas. Prólogo de A. Berenguer C a r i s o m o , Madrid 1 9 7 8

198

Salas, C i e n a ñ o s del T e a t r o M u n i c i p a l , a.a.O., S. 1 4 2

199

Alvarez Q u i n t e r o , Serafín u n d Alvarez Q u i n t e r o , J o a q u í n , A m o r e s y a m o r í o s , B u e n o s Aires 1 9 6 5 , S. X I

200

I n t e r v i e w m i t F l o r e n c i o G ó m e z v o m 17. 10. 1 9 8 8

201

Alvarez Q u i n t e r o , a . a . O . , S. XIII

202

C h u r i ó n , J u a n J o s é , El teatro en Caracas, in: Castillo, Susana D., El " d e s a r r a i g o " en el t e a t r o v e n e z o l a n o . M a r c o h i s t ó r i c o y m a n i f e s t a c i o n e s m o d e r n a s , Caracas 1 9 8 0 , S. 13

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„minderwertigen" kreolischen Theater verschloß, konnten sich die caraqueños an den Werken ihrer einheimischen Autoren jedoch in der familiären Atmosphäre kleinerer Säle in den Theatern Caracas, Olimpia oder Ayacucho erfreuen, aber auch im zweiten Haus am Platze, dem Teatro Nacional. Große Publikumserfolge feierten dort um 1920 Autoren wie der auch als Schauspieler beliebte Rafael Guinand, Leopoldo Ayala Michelena oder Leoncio Martínez, die mit ihren venezolanischen saínetes in burlesken Szenen typisierte Gestalten aus dem hauptstädtischen Volksleben auf die Bühne brachten. 2 0 3 Und obwohl das einheimische Schauspiel auf Bühnen zweiter Kategorie verbannt wurde, konnte dies seiner Beliebtheit bei allen Volksschichten keinen Abbruch tun. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts hatte das Theater des sittenschildernden costumbrismo in Lateinamerika Verbreitung gefunden, aber im Gegensatz zu Argentinien, wo es in den dreißiger Jahren von den Bühnen zu verschwinden begann, konnte es sich in Venezuela ein Jahrzehnt länger halten. 204 Der spanische Einfluß schlug sich indessen auch in einer anderen Art von Theaterspektakeln nieder, die nicht nur Abwechslung in das gewohnte Repertoire brachten, sondern zu Vorboten einer neuen hispanoamerikanischen Theaterkultur wurden. Die Vorliebe, die das venezolanische Publikum für ein unterhaltsames und spektakuläres Theater zeigte, führte um 1930 zu einem Boom der Revue, einer Gattung, die in Spanien als revista äußerst beliebt war und in verschiedenen Varianten ebenfalls in anderen europäischen Ländern zahlreiche Freunde gefunden hatte. 205 Nachdem die venezolanische Presse regelmäßig über die revistas berichtet hatte, die in Madrid triumphale Erfolge feierten, 206 mußte die Ankunft des berühmten Revueensembles von Enrique Rambai einer der Höhepunkte der Spielzeit von 1931 werden. Nach rauschenden Erfolgen in Buenos Aires, Puerto Rico und Havanna eröffnete Rambai in Caracas die Saison mit Jules Vernes „Michail Strogoff oder der Kurier des Zaren" - eine Aufführung, der nicht nur die vornehmsten Kreise der hauptstädtischen Gesellschaft beiwohnten, sondern die auch Präsident Gómez mit seiner Anwesenheit beehrte. Wenn eine Zeitungsrezension dieser aufwendigen Ausstattungsrevue darauf hinwies, daß die Figuren des Stücks vor dem „prächtigen Bühnenbild und Kostümen" zu „bloßem Beiwerk" verblaßt seien, so beabsichtigte man durchaus nicht, Kritik an Rambai zu üben, dessen Einfallsreichtum und technische Perfektion das Publikum tief beeindruckt hatten. Während der Aufführung von „Der Graf von Monte Christo" verlangten die Zuschauer unter tosendem Beifall die Wiederholung der Szene, in der der Graf unter Wasser aus 2 0 3 Salas, Historia del teatro en Caracas, a.a.O., S. 133 2 0 4 Castillo, Susana, a.a.O., S. 3 4 - 3 9 2 0 5 Zur deutschen Varietekultur vgl. etwa: Wintergarten GmbH (Hg.), Festschrift Novembermagazin, Berlin 1938, Reprint Hildesheim 1975

206 Blliiken 4. 10. 1930

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der Gefangenschaft flüchtet. Die Presse hielt diesen „Trick" für „einen der gelungensten, der uns je vorgeführt wurde." 207 Fast eine Erfolgsgarantie waren ebenso die „spektakulären Dekorationen" des spanischen Ensembles von Alegría & Enhart, das 1933 auf der Bühne des Teatro Municipal „einen authentischen Stierkampf" zeigte, an dem der bekannte venezolanische Stierkämpfer Niño de Rubio teilnahm. Als die Truppe im Anschluß zu einer Tournee durch Südamerika aufbrach, hatten sich ihr bekannte venezolanische Schauspieler angeschlossen. 208 Angesichts des großen Zulaufs, dessen sie sich in Lateinamerika erfreuten, hielten sich die spanischen Schauspieltruppen oft lange Zeit auf dem Kontinent auf und begannen, mit einer neuen Generation einheimischer Künstler zusammenzuarbeiten, die sich bald nicht nur in Hispanoamerika, sondern auch auf den spanischen Bühnen einen Ruf machten. Indessen suchten lateinamerikanische Autoren das neue Genre dem heimatlichen Ambiente anzupassen, und 1933 präsentierte das Teatro Nacional ein Varietéprogramm, das unter anderem die venezolanische Revue „Fox-Trot Social" beinhaltete. 2 0 9 Vor allem Kuba hatte mittlerweile immer zahlreichere eigene Produktionen zu bieten, und seit den zwanziger Jahren gastierten regelmäßig kubanische Ensembles in Venezuela. 210 Das Revuetheater hatte in Lateinamerika einen dynamisch expandierenden Markt geschaffen, dessen Zentrum sich allmählich von Madrid nach Havanna verlagerte. So führten die Venezolaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was ihre Theaterkultur betraf, sozusagen ein Doppelleben. Das Teatro Municipal bewahrte seine Vorherrschaft, indem es an einem stilisierten, europäischen Kulturmodell festhielt und sich gegen das kreolische Theater weitgehend verschloß. Indessen hatten venezolanische Autoren und Schauspieler auf der Bühne des Teatro Nacional - ganz wie es dessen Namen entsprach - , aber auch in kleineren Sälen ein einheimisches Theater entwickelt, das spanischen Vorbildern wie zarzuela, saínete oder revista folgte. Und während die sittenschildernden costumbristas dem Lokalkolorit verhaftet blieben, entstand auf dem Gebiet des Variete eine eigenständige hispanoamerikanische Unterhaltungskultur, die sich allerdings bald aus den Theatern in die Nachtclubs und die sogenannten cabarets verlagerte. Trotz aller Gegensätze gab es jedoch auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden wichtigsten Bühnen von Caracas: Im Municipal ebenso wie im Nacional bevorzugte man all jene Genres, die eine unterhaltsame und glanzvolle Vorstellung versprachen, und hier wie dort galt der Theaterbesuch in erster Linie als gesellschaftliches Ereignis. Als 1941 die Zeitung La Esfera angesichts sinkender Besucherzahlen nach 207 El Nuevo Diario 3. 9. und 29. 9. 1931 2 0 8 Salas, Historia del teatro en Caracas, a.a.O., S. 219 2 0 9 El Nuevo Diario 11. 3. 1933 2 1 0 Salas, Historia del teatro en Caracas, a.a.O., S. 187

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den Ursachen für den in jüngster Zeit zu beobachtenden „fortgesetzten Niedergang" der hauptstädtischen Bühnen fragte, führte sie zur Verteidigung des Theaters an, daß dieses „den Reiz der Zwischenakte mit ihren Unterhaltungen und Kommentaren bietet, bei denen der erleuchtete Saal es den Damen erlaubt, ihre durch Kleidung und Schmuck erhöhte Schönheit zur Schau zu stellen." 211 Wie seit fast hundert Jahren dienten die Schauspielhäuser noch immer als repräsentative Kulisse für eine Elite, die das Theater nicht als Ort kritischer Selbstreflexion verstand und die sich bei aller erklärten Bewunderung für die Kultur des Alten Kontinents der ästhetischen Erneuerung der europäischen Theaterkultur verschloß: Als 1941 im Teatro Municipal die moderne englische Balletttruppe „Joos" auftrat, so erinnern sich Zeitgenossen, präsentierte sie ein „recht originelles" Ballett, das „den Zuschauern aber wegen des Verzichts auf Orchesterbegleitung und der Schlichtheit der Bühnenbilder wenig gefiel." 212 Auf die Dauer konnten Veränderungen jedoch nicht ausbleiben. Der „Niedergang des Theaters", den die Zeitgenossen in den vierziger Jahren beobachteten, stellt sich aus heutiger Sicht als Krise der gesellschaftlichen Modelle dar, die die Schauspielhäuser über viele Jahrzehnte repräsentiert hatten. Das Entstehen einer breiten, weltoffenen Mittelschicht und der kontinuierliche Zuwachs, dem auch die städtische Oberschicht unterworfen war, hatten neue kulturelle Bedürfnisse aufkeimen lassen, die in der „ritualisierten" Theaterkultur der etablierten Elite keinen Raum fanden. In modernen Theatersälen führten in den fünfziger Jahren neue Regisseure und Schauspieler die Venezolaner in die zeitgenössische Dramatik ein und machten sie mit Autoren wie Jean Paul Sartre oder Tennessee Williams bekannt. 2 1 3 Erst aus dieser Atmosphäre erstand eine junge Generation venezolanischer Dramaturgen, die nach 1958 eine tiefgreifende Erneuerung des Theaters leistete. 214 Neigten die großen Theaterhäuser offenbar dazu, die großbürgerliche Tradition zu bewahren, aus der sie entstanden waren, so könnte man hingegen annehmen, daß in einem informelleren Bereich abendlicher Vergnügungen der status quo von gesellschaftlicher Exklusivität, den die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte Oberschicht aufrechtzuerhalten suchte, größeren Anfechtungen ausgesetzt war. Dem elitären Repräsentationsmodell einer europäisierten Oberschicht, das im Teatro Municipal seinen glänzendsten Ausdruck fand, entsprachen im Alltag die Zusammenkünfte auf der Plaza Bolívar, die zum Mittelpunkt all jener städtischen Vergnügungen geworden war, an denen auch das weibliche Geschlecht

211 212 213 214

La Esfera 10. 3. 1941 Salas, Historia del teatro en Caracas, a.a.O., S. 242-243 Ebd., S. 284, 294 Castillo, Susana, a.a.O., S. 38

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teilnehmen konnte, ohne seinen Ruf zu gefährden. 215 Seit 1865 der Markt aus der unmittelbaren Stadtmitte verlegt und der zentrale Platz mit Grünanlagen und 1874 mit einem in Europa angefertigten Reiterstandbild Simón Bolívars verschönt wurde, 216 war die Plaza Bolívar der Ort, wo man zusammenkam, um zu sehen und gesehen zu werden. Bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts bestand „die gewohnte Promenade auf dem Platz darin, mehrmals von einem Rand zum anderen zu gehen, immer um das Denkmal des Befreiers herum. (...) Mehrere Stuhlreihen entlang der Promenade können für ein geringes Entgelt für eine kleine Ruhepause gemietet werden. (...) Den Rest des Platzes belegt das Volk, das, weil es nicht über die angemessene Kleidung verfügt, um sich zur Schau zu stellen, das Licht der Laternen scheut und sich hinter den Bäumen verschanzt." 217 Ähnlich wie der Theaterbesuch diente die Promenade auf der Plaza Bolívar von Caracas, Valencia oder Mérida der Selbstdarstellung der „zivilisierten" städtischen Eliten, deren gesellschaftliche Ordnung sich auf förmliches und geregeltes Verhalten stützte. Nachdem man dem gewohnten Konzert der Militärkapelle gelauscht hatte, war es üblich, die unmittelbar an der plaza gelegenen Erfrischungsstuben La Glacière, La Francia oder La India aufzusuchen. Während die Männer sich an die Bar begeben mochten, hatten Frauen und Mädchen, die ohnehin niemals ohne Begleitung ausgingen, in diesen Lokalen nur zu dem sogenannten „Familiensalon" Zugang, wo sie - in der Regel tatsächlich im familiären Kreis - ein Sprudelgetränk, ein Sorbeteis oder auch einen Champagnercocktail oder Vermouth zu sich nehmen konnten. 218 Doch dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten bürgerlichen Idyll drohten bald vielfältige Gefahren. In der bewegten Dekade der zwanziger Jahre hatten in Europa und in den Vereinigten Staaten die steifen Umgangsformen der Vorkriegszeit einer neuen Ungezwungenheit Platz gemacht, die den Bruch mit der Konventionalität der alten Generationen geradezu zur Mode erhob. Die städtische Oberschicht von Caracas, gewohnt, sich am ausländischen Vorbild zu orientieren, beobachtete diese Entwicklungen mit einer Mischung von Faszination und Sorge, vor allem, was das neue Frauenbild betraf, das aus den sittsamen, häuslichen Frauen der Jahrhundertwende selbstbewußte Wesen gemacht hatte, die in Beruf und Freizeit kühn in den Vordergrund drängten. Gerade der weibliche Anstand stellte sich den Venezolanern jedoch als eines der grundlegendsten 215 Die Lebemanner der Jahrhundertwende kamen derweil in den berüchtigten Bars von Puente Hierro am Rande der Stadt zusammen, wo die Künstlerinnen der „Follies Dramatiques" zu ihren Vorstellungen einluden. Vgl. Salas, Historia del teatro en Venezuela, a.a.O., S. 132 216 Mérola Rosciano, a.a.O., S. 96 217 Ramos y Garría, Dioclesiano, La retreta, in: Schael, Imagen y noticia de Caracas, a.a.O., S. 168-169 218 Guía del viajero, Imp. Soriano Sucesores, Caracas 1911, S. 2; Briceño-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 224-225; Schael, Apuntes para la historia, a.a.O., S. 18

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Fundamente einer Gesellschaftsordnung dar, die durch allzu große Freizügigkeit aus dem Gleichgewicht geraten mußte. Welch apokalyptische Ausmaße diese Gefahr in den Augen mancher Zeitgenossen annahm, dokumentiert ein Zeitungsartikel, der 1922 unter der Überschrift „Der Todestanz" gegen jene „yanquí-Tánze" zu Felde zog, die seit einiger Zeit in Venezuela Verbreitung gefunden hatten und die, wie warnend wiedergegeben wurde, nach den jüngsten Erkenntnissen eines französischen Gynäkologen „schwere physische und mentale Störungen hervorrufen. (...) Es ist der makabre, frivole Tanz, (...) bei dei.i der Tod selbst erscheint und ein verführerisches Dekolleté zeigt, während er si h in unreinen Bewegungen windet." 2 1 9 Die moralische Verderbnis der Frauen jedoch war, wollte man dem Autor dieser Zeilen Glauben schenken, nur einer der bedrohlichen Aspekte der neuen Tanzmoden. Indem er „amerikanisiere", so führte der bekannte Essayist und Literaturkritiker Jesús Semprum weiter aus, bringe der T a r ' zudem andere unheilvolle Folgen mit sich: Über die Musik dringe jene babylonische Auflösung aller Ordnung ein, die die nordamerikanische Demokratie in den Augen standesbewußter Lateinamerikaner verkörperte und die in der gesellschaftlichen Anerkennung der afroamerikanischen Musik einen noch nicht dagewesenen Höhepunkt erreicht zu haben schien: „(...) diese Tänze sind ganz und gar afrikanisch (...). Man braucht kein Spezialist zu sein, um den brutalen Wilden in den Bewegungen dieser konvulsivischen, extravaganten und grotesken Tänze zu erkennen." 220 Doch der Lauf der Dinge war nicht mehr aufzuhalten, und es sollte nicht lange dauern, da zog vor allem die junge Generation den gemessenen Walzerschritten die zündenden Rhythmen des Onestep, Foxtrott oder gar Charleston vor. 221 Die Modernisierung und Diversifizierung des Vergnügungslebens schlug sich Ende der zwanziger Jahre in der Eröffnung von Tanzlokalen wie dem Tea Room Avila nieder, der, wenige Schritte von der Plaza Bolívar entfernt, zu den beliebten nachmittäglichen „Tanztees" einlud - obgleich „die konservativen Familien den Tea Room für unmoralisch hielten, weil dort zum Tanzen die Lichter gedämpft wurden." 2 2 2 Nahezu gleichzeitig öffnete das „Restaurant et dancing" La Suisse,223 das sich in Werbeannoncen als „der aristokratischste Treffpunkt der ,Elite' von Caracas" empfahl und wo das Orchester „The Sea Melody" die neuesten Foxtrotte spielte. 224 Noch hatte das Vorbild europäischer Eleganz seine Vorherrschaft nicht verloren, 219 Panorama 20. 5. 1922 220 Ebd. 221 Zur Verbreitung der nordamerikanischen Tanze In Europa vgl. etwa Otterbach, Friedemann, Die Geschichte der europäischen Tanzmusik, Wilhelmshaven 1980, S. 259 ff. 222 Calatrava, a.a.O., S. 187; Interview mit José Antonio Giacopini Zärraga vom 13. 10. 1988 2 2 3 ... dessen Besitzer Pierre Deloffre b e k a n n t e r m a ß e n von der Sträflingsinsel Cayenne geflüchtet war. Vgl. Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 211 224 Billiken 11. 10. 1930

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aber die populären nordamerikanischen Rhythmen, die anfänglich als so gefährlich galten, hatten in das Repertoire elitärer Repräsentationsmodelle Eingang gefunden. Die tiefgreifenden Veränderungen, die der Lebensstil der Venezolaner seit den zwanziger Jahren erfuhr, waren nicht zuletzt auf den unerhörten Einfluß zurückzuführen, den die modernen Massenmedien auszuüben begannen. Während Radios und Grammophone dazu beitrugen, neue Rhythmen und Melodien zu verbreiten, illustrierten die Zeitschriften - in denen visuelle Elemente immer stärker dominierten - Kleidung und Posen, die die wechselnden musikalischen Moden begleiteten. Eine besonders wichtige Rolle mußte wegen seiner unübertroffenen Anschaulichkeit das Kino spielen. Nachdem die erste Begegnung mit dem Stummfilm von einem „hohen" europäischen Kulturideal geleitet wurde, das elegante Hauptstädter in das Teatro Princesa führte, um die berühmte Francesca Bertini in der Verfilmung von „Tosca" zu sehen, 225 hatten schon Ende der zwanziger Jahre die Produktionen der Metro-Goldwyn-Mayer den elitäreren europäischen Film von den venezolanischen Leinwänden verdrängt.226 Trotz aller Vorbehalte gegen die „nivellierende" Wirkung, die man den standardisierten Produkten der US-Filmindustrie zunächst zugeschrieben hatte, zog der unbeschwerte Rhythmus der nordamerikanischen Unterhaltungskultur die Venezolaner zunehmend in seinen Bann. Aber obwohl bei der Einweihung des Hotel Jardin 1930 in Maracay das bestellte Orchester die Gäste mit „Jazz Americano" zum Tanzen einlud und man in denselben Jahren begann, den Schallplatten von „Eddi Gordon" oder „Hotel Pennsylvania N.Y." zu lauschen, 227 konnte sich die yanquiMusik in Venezuela nie ganz durchsetzen. Verblüffenderweise hatten die neuen Medien vielmehr ein anderes Akkulturationsmuster erzeugt, und die Verbreitung lateinamerikanischer Musik auf dem eigenen Kontinent vollzog sich nicht selten über den Umweg über Europa oder Nordamerika. Weil „er den Reiz besaß, Paris, die eleganten europäischen Salons erobert zu haben", 228 begann man sich in den zwanziger Jahren in Venezuela für den Tango zu interessieren, dessen berühmtesten Interpreten die neuen Schallplatten zu internationaler Bekanntheit verholfen hatten. 2 2 9 In einem Text, den die Zeitschrift Elite 1930 veröffentlichte, hatte der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges darauf hingewiesen, daß die Modernität des in den Vorstädten von Buenos Aires entstandenen Tango in seinem Urbanen Charakter liege. 230 Es war jedoch vor allem 2 2 5 Bricefto-Iragorry, Los Riberas, a.a.O., S. 2 9 8 2 2 6 Elite 19. 7. 1930 2 2 7 Billiken 29. 11. und 3. 12. 1930 2 2 8 Interview mit Jose Antonio Giacopini Zärraga vom 13. 10. 1988 2 2 9 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 108; Elite 19. 7. und 2. 8. 1930 2 3 0 Elite 26. 7. 1930

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das europäische und nordamerikanische Kino, das den Tango in ein Symbol des glamourösen Lebens der großen Weltmetropolen verwandelte. Filme wie „Die Lichter von Buenos Aires", der in Paris gedreht wurde, oder „Tango auf dem Broadway", eine spätere, nordamerikanische Produktion, hatten den argentinischen Tangosänger Carlos Gardel in Lateinamerika zur Legende gemacht. Als er 1935 in Venezuela eintraf, bereiteten Tausende von Fans ihm auf den Straßen von Caracas einen triumphalen Empfang. 231 Auf direkterem Wege als der Tango schien die mexikanische Musik kontinentale Verbreitung zu finden, die Musik jenes Landes, das in den zwanziger Jahren zum Vorreiter eines neuen lateinamerikanischen Kulturnationalismus geworden war ohne daß dies eine radikale Abkehr von Europa mit sich gebracht hätte: Argentinien, so hieß es 1936 in der Zeitschrift Billiken in einem Essay über die „zwei komplementären psychischen Strömungen des lateinamerikanischen Lebens" repräsentiere die „europäische Strömung", Mexiko die „einheimische". 232 Wirklich war in den Jahren der Rückbesinnung auf die Wurzeln das Interesse für die mittelamerikanische Musik erwacht, und während 1933 im Country Club ein marimba-Ensemble zum Tanz aufspielte, machten Schallplatten Gruppen wie die „Trovadores Tamaulipecos" bekannt. 233 Das Medium, das am stärksten zur Verbreitung der mexikanischen Musik beitrug, war jedoch das Kino, denn in dem großen zentralamerikanischen Land hatte die Filmproduktion relativ früh industrielle Ausmaße angenommen. Die berühmte mexikanische Schauspielerin Dolores del Río besaß in Caracas „Tausende von Bewunderern", als dort 1933 ihr neuer Film „Flor de Pasión" angekündigt wurde, „dessen Schauplatz die nördliche Landesgrenze von Mexiko ist, wo ein schneidiger, stolzer Mann sich in Dolores, in die hübsche Coupletsängerin aus dem Nachtklub verliebt und sie zu erobern sucht." 234 Sprachen die Intellektuellen mit eloquenten Worten von der Synthese der „vitalen Strömungen", die durch die Rassenmischung mexikanische charros, argentinische gauchos und venezolanische llaneros zur Verkörperung des „lateinamerikanischen Wesens" machten, so begeisterte sich das Publikum in den dreißiger und vierziger Jahren für Kinohelden wie den mexikanischen Sänger Jorge Negrete, die eine ungebrochene lateinamerikanische Virilität mit romantischem Schmelz umgaben. 235 Auch in den „städtischsten" Kreisen

231 Kurz darauf sollte Gardeis tragischer Tod bei einem Flugzeugabsturz weltweites Aufsehen erregen. Vgl. Ordosgoitl, Napoleón, Un hilo en la tormenta. De la invasión del "Falke" al 18 de octubre, Caracas 1984, S. 168; El Universal 24. 4. 1935 232 Billiken 1. 8. 1936 233 El Nuevo Diario 12. 3. 1933; Elite 29. 11. 1930 234 El Nuevo Diario 4. 11. 1933 235 Yanes, Oscar, Los años inolvidables. La historia venezolana desconocida: Política, intriga, farándula y el suceso pasional ..., Caracas 1989, S. 419

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der Bourgeoisie von Caracas erfreuten sich die charro-Filme großer Beliebtheit und mit ihnen ihre Musik. 236 Wenn mexikanische Lieder wie „Allá en el Rancho Grande" bald zu Klassikern der lateinamerikanischen Musik wurden, war der große Anklang, den sie beim nordamerikanischen Publikum gefunden hatten, dabei nicht ohne Einfluß gewesen. Nachdem das Tangofieber den Anfang gemacht hatte, erlangten bald auch andere lateinamerikanische Musikrichtungen in den Vereinigten Staaten immer größere Popularität. In den dreißiger Jahren arbeiteten mexikanische Musiker mit US-Plattenfirmen zusammen oder traten auf dem Broadway auf, während Schauspieler wie Dolores del Río oder Jorge Negrete in Hollywood filmten, wo lateinamerikanische Themen in Mode gekommen waren. 237 Der neue Musik- und Filmmarkt verbreitete mexikanische und brasilianische Rhythmen und Melodien in aller Welt, aber es war in erster Linie die kubanische Musik, die über die Vereinigten Staaten einen internationalen Siegeszug antrat. Wegen ihrer volkstümlichen und - bedenklicher noch - afrikanischen Wurzeln war die kubanische rumba in Venezuela in gehobenen Gesellschaftskreisen lange Zeit verpönt, 238 aber seitdem sie im Norden in Mode gekommen war, erwärmten sich auch die Venezolaner für die afroantillanischen Rhythmen. 1930 hatte „Don Azpiazú's Havana Casino Orchestra" auf dem Broadway zum ersten Mal die exotischen Instrumente der kubanischen Tanzmusik vorgestellt und das New Yorker Publikum mit maracas und congas - Kürbisrasseln und Handtrommeln - vertraut gemacht. 239 Die Platten von Don Azpiazú wurden 1931 in den Vereinigten Staaten ein großer Verkaufserfolg, und die Annoncen der Firma „Victor", die im gleichen Jahr in der venezolanischen Presse für ihre Schallplatten warben, bewiesen, daß die Venezolaner durchaus darüber auf dem laufenden waren, „was heute getanzt wird": nämlich die „rumbas fox" des Orchesters von Don Azpiazú, mit Titeln wie „Afrikanische Klage" oder „The Voodoo". 240 Auf der Suche nach den kulturellen Grundlagen einer nationalen Identität hatten die Lateinamerikaner inzwischen ihrerseits begonnen, den afrikanischen Traditionen ihres Kontinents wachsende Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht unbeeinflußt von der „europäischen Mode der schwarzen Kunst" der zwanziger

2 3 6 Interview mit Alfredo Boulton vom 7. 8. 1988 237 Vgl. Martínez Gandía, Rafael, Dolores del Río, la triunfadora, Madrid 1930; Ordosgoiti, a.a.O., S. 158 2 3 8 Interview mit Florencio Gómez vom 7. 9. 1988 239 Roberts, John Storm, The Latin Tinge. The Impact of Latin American Music on the United States, New York 1979, S. 76-77 2 4 0 El Nuevo Diario 31. 8. 1931. Zu dem triumphalen Erfolg, den Don Azpiazú 1932 in Paris feierte, vgl. die Essays von Alejo Carpentier, in: ders., Obras completas, México 1985, Bd. 8: Crónicas. Arte, literatura y política, S. 3 0 0 - 3 0 9

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Jahre, 241 beschäftigte sich die kubanische Literatur mit dem afrikanischen Erbe der Karibik, und im Ateneo de Caracas fanden 1935 Vorträge über afrokubanische Poesie eine interessierte Zuhörerschaft. 242 Aber während derartige literarische Interessen als flüchtige intellektuelle Modeerscheinung gelten können, sollte die afroamerikanische Populärmusik in den folgenden Jahrzehnten zu einem kulturellen Faktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung werden. In seinen romanhaften Memoiren beschreibt Vallenilla Lanz jr. ein Karnevalsfest, das von privaten Gastgebern zu Ehren von Präsident López Contreras um 1940 in einer Villa in La Florida gegeben wurde. „Das dominikanische Orchester begann zu spielen. Zuerst einen melancholischen bolero. Dann einen bewegten afrokubanischen Rhythmus. Niemand konnte dem Ruf der Musik widerstehen. (...) Auch mir zuckten die Füße. (...) ,Eins, zwei und drei', sang ein Neger vor dem Mikrophon. Später wurden Luftschlangen, Konfetti und Papierhüte verteilt. Die Bar war reichlich ausgestattet. Man tanzte fast pausenlos. (...) Wieder hörte man die Musik: »Barlovento, Barlovento, heißes Land der Trommel ...' Margarita sprach mit dem Orchesterchef. Die Gäste wollten wieder die conga hören, die gerade in Mode war." 243 Mühelos erkennt der venezolanische Leser in dieser Beschreibung das Orchester eines Musikers aus der Dominikanischen Republik wieder, der bis zu seinem Tod 1988 zu einem unerläßlichen Bestandteil der Tanzvergnügen mehrerer Generationen von caraqueños wurde. 1938 war der Saxophonist, Pianist und Komponist Luis María Frómeta, genannt Billo, mit seiner Band „Billo's Happy Boys" zum ersten Mal im „Roof Garden" des Hotel Madrid im Zentrum des alten Caracas aufgetreten. Frómeta, der dominikanische Musiker wie den Sänger Ernesto Negrito Chapuseaux mitgebracht hatte, spielte eigene Kompositionen und kann als Verbreiter des dominikanischen merengue-Rhythmus in Venezuela gelten, aber er trug ebenso die großen internationalen Erfolge kubanischer Musiker vor, wie etwa El Manicero - „Der Erdnußverkäufer" -, einer der ersten Hits von Don Azpiazú in den Vereinigten Staaten. 244 In einem Land, das wie Venezuela deutlichen Anteil an der afrokaribischen Kultur hatte, schlug die Musik der Antillen, nachdem sie einmal gesellschaftliche Anerkennung gefunden hatte, schnell tiefe Wurzeln. Angesichts der Tatsache, daß seine Musiker mittlerweile - fast ausnahmslos weiße - Venezolaner waren, gab Billo 1941 der Band einen neuen Namen. Es entstanden die

2 4 1 Franco, a.a.O., S. 137 2 4 2 Segnini, Las luces del gomecismo, a.a.O., S. 398. Erste venezolanische Romane, die sich in diese Linie einschrieben, erschienen 1934 mit „Canción de negros" von Guillermo Meneses und 1937 mit „Pobre negro" von Rómulo Gallegos. Vgl. Piquet, Daniel, La cultura afrovenezolana en sus escritores contemporáneos, Caracas 1983, S. 25 ff., 71 ff. 2 4 3 Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 3 1 9 2 4 4 Vgl. die Zeitschrift "¡Caracas está de duelo! Murió Billo, su eterno amante", Sonderausgabe des Bloque de Armas, Caracas 1988, S. 35, 38; Roberts, a.a.O., S. 76

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„Billo's Caracas Boys", dem in der Publikumsgunst lange Zeit nur das musikalisch ähnlich orientierte, venezolanische Orchester von Luis Alfonzo Larrain nahekam. 245 Mochte das erwachende Interesse an der afrovenezolanischen Kultur in den vierziger Jahren Anthropologen dazu anregen, auf Tonband die Trommeln des Barlovento festzuhalten, jenem Küstenstreifen unweit der Hauptstadt, wo sich in der Umgebung der alten Kakaoplantagen ein großer Teil der Venezolaner afrikanischer Abstammung konzentrierte, 2 4 6 so bewahrte die neue städtische Musik immer weniger Spuren ihrer Herkunft aus der regionalen Folklore. „Für die Rumba gibt es keine Grenzen", versicherte in diesem Sinne das kubanische Orchester „Casino de la Playa" in seinen Texten und forderte „Muselmanen, Engländer, Eskimos und Japaner" zum Tanzen auf. 247 Indem die lateinamerikanischen Rhythmen und Melodien zum Bestandteil der nordamerikanischen Popularmusik wurden und sich den Ansprüchen der Massenkommerzialisierung unterwarfen, nahmen sie mit vereinfachten Rhythmen und einer „eleganten" Orchestrierung leichter assimilierbare Formen an. 2 4 8 Zu den Stars der internationalen lateinamerikanischen Musik, die das US-amerikanische show business erzeugte, gehörten Musiker wie der Spanier Xavier Cugat oder der Mexikaner Pérez Prado, die in den fünfziger Jahren in Venezuela gastierten. Während Cugat, „Hollywood's most successful Latin", zur musikalischen Untermalung der großen Karnevalsfeiern engagiert wurde, die das jüngst eröffnete Luxushotel Tamanaco 1954 veranstaltete, brachte Pérez Prado, der „König des Mambo", auf einem Fest in dem eleganten neuen Offiziersclub den Militärs und ihren Gästen den neuen Tanz bei, der seit einiger Zeit in den Vereinigten Staaten Furore machte. 249 Eine vergleichbare Internationalisierung ließ sich bei den Neuinterpretationen der venezolanischen Musik beobachten, die mit einer zweiten Woge von kulturellem Nationalismus in den fünfziger Jahren einen großen Aufschwung erlebte. Man feierte die „neuartigen Arrangements" von Aldemaro Romero, der mit seiner „Orquesta de Salón" der kreolischen Musik „universelle" künstlerische Gültigkeit verlieh. 2 5 0 Vor einem dergestalt modernisierten musikalischen Hintergrund begannen einheimische Künstler, sich ein betont folkloristisches Image zu geben. Der Dominikaner Billo begleitete Mario Suárez, einen in den fünfziger Jahren beliebten

2 4 5 Zu den Orchestern, die in diesen Jahren von den gesellschaftlichen Clubs für Tanzveranstaltungen engagiert wurden, vgl. etwa Club Paraíso Caracas, Informe correspondiente al período del año 1946, que presenta la Junta Directiva a la Asamblea General Ordinaria, de conformidad a los Estatutos, Caracas 1947 2 4 6 Arctz, Isabel, Manual de folklore, Caracas 1988 (zuerst erschienen 1955), S. 173 2 4 7 Auf ihrer Langspielplatte „Recuerdos de La Habana" 2 4 8 Roberts, a.a.O., S. 81 2 4 9 Carnaval de Caracas, Folleto o. J.; Interview mit Mario Matute Bravo vom 11. 11. 1988; Roberts, a.a.O., S. 106, 127 2 5 0 Romero, Aldemaro, De 78 a 33 revoluciones, in: El Nacional

3. 8. 1988

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Sänger, der in der venezolanischen Nationaltracht des liquilique auftrat und die Melodien und Rhythmen traditioneller joropos und kreolischer Walzer interpretierte. Mit weitem Rock, Stiefeln, Jacke und Hut betonte zur gleichen Zeit Adilia Castillo, ein weiblicher Star der kreolischen Musik, ihre Herkunft aus dem LlanoStaat Apure. 2S1 Es war keineswegs das erste Mal, daß die ländliche Musiktradition in städtisch verfeinerten Versionen aufgegriffen wurde. Als eine Art inoffizielle venezolanische Nationalhymne gilt der 1914 von Pedro Elias Gutiérrez komponierte joropo „Alma Llanera", dessen Melodie in zahllosen Orchesterversionen weltweite Berühmtheit erlangte. Das Lied war ursprünglich Bestandteil einer gleichnamigen zarzuela, deren Schauplatz der Librettist Rafael Bolívar Coronado in das einheimische Ambiente der Llanos verlegt hatte. 2 5 2 Aber im Unterschied zu dem von spanischen Vorbildern geleiteten criollismo des Jahrhundertanfangs, der mit einer gewissen Unbefangenheit aus dem Reservoir einer lebendigen kreolischen Kultur schöpfte, bemühten sich die Venezolaner 1930 und 1950 bewußt um eine Wiederbelebung der Tradition: Die Konzerte, mit denen das Ateneo de Caracas Pedro Elias Gutiérrez zum Vortrag von „typischer Musik" einlud, waren erklärtermaßen Bestandteil der „großen Wiederentdeckung der wahrhaft venezolanischen Kunst", die sich der kulturelle Nationalismus der dreißiger Jahre vorgenommen hatte. 2 5 3 In den fünfziger Jahren sollten die stilisierten Bilder des Autochthonen, mit denen vor allem die Folklore der Llanos zum Symbol der Venezolanität erhoben wurde, zum Mittelpunkt der nationalistischen Kulturpolitik einer diktatorischen Regierung werden. Machte sich um die Jahrhundertmitte eine wachsende Begeisterung für nationale Folklore bemerkbar, knüpfte indessen eine immer reichere lateinamerikanische Unterhaltungskultur unsichtbare Bande zwischen den wachsenden Metropolen Süd- und Mittelamerikas. Als Ausdruck des synthetischen Charakters des neuen, städtischen Vergnügungslebens können die Repertoires der venezolanischen Orchester gelten, die die stilisierten Ilanero-Lieder von Juan Vicente Torrealba ebenso beinhalteten wie die romantischen Melodien des Mexikaners Agustín Lara, argentinische Tangos, gefühlvolle kubanische Boleros oder bewegte afrokubanische Rhythmen - fast immer mit einer Orchestrierung, die sich am Modell der nordamerikanischen big band orientierte. Man ist vor diesem Hintergrund versucht, von einer „panamerikanischen" Unterhaltungskultur zu sprechen, die, nachdem sie zu Beginn des Jahrhunderts ganz unter spanischem Einfluß gestanden hatte, nun ihre glanzvollsten Zentren in Havanna und New York besaß.

2 5 1 Aretz, a.a.O., S. 2 0 2 5 2 MIsle, Carlos Eduardo, Alma Llanera. Himno popular de Venezuela. 70 años de su estreno y centenario de su autor Rafael Bolívar Coronado, Caracas o. J. 2 5 3 Segnini, Las luces del gomecismo, a.a.O., S. 217, 2 2 7

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Stärker noch zeigte sich die Neigung zur Internationalisierung in den zahlreichen Nachtclubs, in denen die caraqueños seit den vierziger Jahren in vollen Zügen den Wohlstand auskosteten, der ihre Hauptstadt innerhalb kürzester Zeit zu einer der modernsten Lateinamerikas gemacht hatte. Die ausländischen Reisenden, die Caracas in den fünfziger Jahren besuchten, wußten womöglich schon aus ihren Reiseführern, was sie erwartete: "The majority of the cabarets are new and the entertainers are usually imported. (...) Prices are high." 2 5 4 Tatsächlich waren die Nächte in der sprudelnden südamerikanischen Stadt mittlerweile weit davon entfernt, „einsam und dunkel" zu sein, wie es vor noch nicht allzu langer Zeit der Fall gewesen war. 255 In den modernen Gebäuden aus Beton und Glas, die an neuen Geschäftsstraßen wie der Avenida Urdaneta und der Sabana Grande entstanden waren, hatten Restaurants, Nachtklubs und cabarets eröffnet, in denen, wie ein Zeitgenosse berichtet, die „großen Herren von Caracas" beträchtliche Summen für Champagner, französischen Brandy und schottischen Whisky ausgaben. 256 Das im Rückblick geradezu zur Legende gewordene Nachtleben jener Dekade erweist sich des Rufes eines modernen Eldorado würdig, den Venezuela überall in der Welt genoß, und ist womöglich der anschaulichste Ausdruck der Ausgabeneuphorie einer Nation, die im Erdöl einen Quell unerschöpflichen Reichtums gefunden zu haben schien. Frack oder Galauniform verlangte 1953 die Einladung zur Einweihung des Hotel Tamanaco, bei der Präsident Marcos Pérez Jiménez „und Gattin" anwesend waren. Gefeiert wurde in den Räumen des „Restaurant night-club Naiguatá", die mit großen Schiebetüren aus Glas auf eine Terrasse erweitert wurden, von der man einen beeindruckenden Blick über das Tal von Caracas genoß. Niemand weniger als Salvador Dali war mit dem Entwurf für das Dekor der Vorhangstoffe beauftragt worden, die die ganz dem aktuellsten Zeitgeschmack entsprechende Inneneinrichtung des „Naiguatá" vervollständigten. Das Programm der Einweihungswoche, das zum Teil im Fernsehen übertragen wurde, entsprach den Ansprüchen eines der modernsten und luxuriösesten Hotels Lateinamerikas: Zum Tanz spielte das „Venezolanische Orchester von Jesús Sanoja und seinen Sängern" auf, aber die großen Attraktionen waren die Auftritte von „Armando Orefiche y sus Havana Cuban Boys" sowie die Shows von Künstlern wie der schönen „Patachou", die sich durch jüngste Erfolge im Waldorf Astoria in New York und in Las Vegas empfahl, oder der Tänzerin Joy Williams, „eine Berühmtheit auf dem europäischen Kontinent und lange Zeit Mitglied des Russischen Balletts von Montecarlo." 257 254

Pan American World Airways, New Horizons World Guide. Pan American's Travel Facts About 8 9 Countries, New York 1959, S. 4 3 5

2 5 5 Uslar Pietri, Tierra venezolana, a.a.O., S. 3 2 2 5 6 Interview mit Antonio Julio Branger vom 7. 1. 1990 2 5 7 EI Universal 1. 12. 1953

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So ist das kulturelle Szenario, das bei dieser Gelegenheit entworfen wurde, Spiegel der vielseitigen Neigungen, von denen sich die Vergnügungen der Venezolaner in jenen Jahren leiten ließen. Während die europäische Kultur nach wie vor mit einer Aura von aristokratischer Vornehmheit umgeben wurde, hatte man längst auch Gefallen an dem einst als demokratisch-nivellierend gefürchteten American way of Hfe gefunden und wußte dessen funktionale Eleganz wirkungsvoll in Szene zu setzen. Parallel dazu hatten sich jedoch eigenständige Kulturformen entwickelt, die diesem kosmopolitischen Vergnügungsleben eine unverkennbar lateinamerikanische Prägung gaben. In einem Zeitalter tiefgreifender gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse mehr denn je von dem Bedürfnis nach kulturellen Bezugspunkten getragen, ließen die Venezolaner entschwindende kreolische Traditionen in der Folklore aufleben. Vor allem aber hatte sich im Zeitalter moderner Massenkommunikation eine hispanoamerikanische Unterhaltungskultur entfaltet, die neue kontinentale Verbindungen herstellte. Wenig ist bislang zur Erforschung der Integrationsfiguren dieser Theater-, Kino- und Musikkultur geschehen, unter denen etwa der mexikanische Komiker Cantinflas - eigentlich Mario Moreno - zu nennen wäre, dessen zahlreiche Filme in Venezuela bei allen Bevölkerungsschichten ein begeistertes Publikum fanden und der Caracas zu wiederholten Malen besuchte. 2 5 8 Eine Untersuchung der humoristischen Verarbeitung lateinamerikanischer Stereotypen, wie sie die Filme von Cantinflas darbieten, dürfte ebenso aufschlußreich sein wie, um nur ein Beispiel mehr zu nennen, die Betrachtung des Beitrags, den die von viel emotionalem Pathos getragenen Liebeslieder der berühmten kubanischen Bolerosänger und -Sängerinnen zur éducation sentimentale der Hispanoamerikaner leisteten. 259

Ernährung 1952 veröffentlichte Mario Bricefio-Iragorry, der stets als unermüdlicher Verfechter der wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit seines Landes auftrat, eine „Kleine Apologie der alten Landwirtschaft", in der er für eine Rückkehr zur kulinarischen Tradition Venezuelas und zu deren landwirtschaftlichen Grundlagen plädierte. Wirklich schienen die wechselnden Ernährungsgewohnheiten

258 Yanes, a.a.O., S. 361; El Universal 20. 12. 1953; Páginas 6. 7. 1957 259 Daß auch die Spanier sich als Teil dieser Tradition empfinden, zeigt die Renaissance, die der Bolero in den letzten Jahren auf der iberischen Halbinsel erlebt hat. Vgl. Reverdecen las gardenias. El resurgimiento del bolero sentlmentaliza la vida española, in: El País 4. 11. 1990

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besonders deutlich den tiefgreifenden wirtschaftlichen u n d kulturellen Wandel widerzuspiegeln, den Venezuela auf seinem kurzen Weg v o m Agrar- zum Erdölland vollzog. „Die Erde ist nicht mehr so fruchtbar wie einst. Das Erdöl hat sie für die Landwirtschaft steril gemacht", behauptete Don Mario u n d f u h r fort: „Die Leute betrachten dieses Problem im allgemeinen mit Gleichgültigkeit. (...) Wichtig ist nur, daß das Erdöl uns das Geld einbringt, das wir für den Import brauchen. Es ist so einfach, alles aus dem Norden herzubringen." 2 6 0 Längst hatten die Ausgaben für Lebensmitteleinfuhren Millionenhöhe erreicht. Aus Nordamerika wurden Milch, Reis, Fleisch, Mehl oder Konserven importiert, aber die Venezolaner verzehrten auch dänische Butter oder holländischen Käse. Ungefähr 50 Millionen Bolívares - mehr als 10 Millionen Dollar - gaben sie im Jahre 1957 allein für den Import von Whisky, Cognac, Brandy, Wein u n d Champagner aus. Der Rückstand der venezolanischen Landwirtschaft, die Nachfrage einer unaufhaltsam wachsenden städtischen Bevölkerung u n d die scheinbar unbegrenzten finanziellen Mittel, die billige Einkäufe im Ausland erlaubten, erklären zumindest teilweise den mit mehr als 1000 Prozent schwindelerregenden Anstieg des Importvolumens zwischen 1938 u n d 1953. 261 Briceño-Iragorry sah das P h ä n o m e n einer derart massiven Einfuhr jedoch auch in Z u s a m m e n h a n g mit dem Prestige, den seine Landsleute allen ausländischen Lebensmitteln zuzuschreiben gewillt waren. „In der internationalen Welt gilt es als elegant, genügend Geld zu haben, u m alles zu kaufen, was m a n braucht, koste es, was es wolle", stellte er in diesem Zusammenhang fest u n d beklagte, daß „in dieser zügellosen Zeit ein Orangensaft weniger Ansehen genießt als eine ,Orangeade' oder ein ,orange juice' aus Nordamerika." Aber der Autor befand sich im Irrtum, w e n n er den Verlust einer angeblichen „Nahrungsmittelautarkie" konstatierte, die in der Kolonialzeit bestanden habe. 2 6 2 Tatsache ist, daß auch in vergangenen Jahrh u n d e r t e n die begüterten Kreolen zahlreiche Lebensmittel aus dem Mutterland bezogen. Aus Spanien kamen im 18. Jahrhundert Olivenöl, Wein, Essig, eingelegte Oliven, Trauben, Anschovis u n d Lachs in Fässern. Und zwischen spanischen u n d einheimischen Lebensmitteln hatte es schon damals hierarchische Abstufungen gegeben: Den höchsten gesellschaftlichen Rang besaßen die Nahrungsmittel europäischer Herkunft, während all diejenigen, „die von den Eingeborenen u n d den Afrikanern verzehrt wurden", als minderwertig galten. So war das Weizenbrot das Weißbrot - die Speise der weißen Eroberer u n d Kolonisatoren, während das

2 6 0 Briceño-Iragorry, Mario, Alegría d e la tierra. P e q u e ñ a apología d e la agricultura a n t i g u a , Caracas 1952, S. 64 2 6 1 República de V e n e z u e l a , M i n i s t e r i o d e Relaciones Exteriores, Dirección d e Política Económ i c a , I n f o r m a c i o n e s de C o m e r c i o Exterior, n ú m . 6: I m p o r t a c i o n e s v e n e z o l a n a s d e p r o d u c t o s a l i m e n t i c i o s , c o m e s t i b l e s y b e b i d a s 1 9 4 8 - 1 9 5 3 , Caracas 1954 2 6 2 Briceño-Iragorry, Alegría de la tierra, a.a.O., S. 65, 107, 130

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„Maisbrot" - die kreolische arepa, die als Ergebnis kulinarischen Mestizentums gelten kann - nie das Prestige des europäischen Brotes erlangte, obwohl es auch in vornehmen Häusern zur täglichen Ernährung gehörte. Am untersten Ende der Rangskala rangierte das Jukkabrot, das indianische casabe, das von den unteren Volksschichten verzehrt wurde.263 Die für die Zeit nach der Unabhängigkeit charakteristische Enthispanisierung der Sitten und Neuausrichtung auf Westeuropa konnte an der Gastronomie nicht spurlos vorübergehen. Das republikanische Jahrhundert wurde das Jahrhundert der Bankette, die vor allem unter der Regierung von Guzmán Blanco mit großem Aufwand zelebriert wurden. Der Caudillo-Präsident und die europäisierte Bourgeoisie feierten ihre Allianz im Namen des Fortschritts mit Festessen, bei denen kunstvoll verzierte Speisekarten lange Listen von Gerichten „a la francesa", „a la parisiense", „a la strasbourgeoise", „a la inglesa", „a la napolitana" - oder einfach „a la moderna" ankündigten. Die zunehmende Verbürgerlichung des Lebensstils ließ Kaffeehäuser, Restaurants und Konditoreien entstehen, die alle Köstlichkeiten einer verfeinerten europäischen Ernährung anboten, seien es „Pâtés" oder „Pfand Kuchen au begnets aladauphine" (sie!).264 Von dem vornehmen Raffinement der französischen Küche inspiriert, suchte man sogar typisch kreolische Speisen wie die hallaca265, zu „zivilisieren", indem man sie mit Trüffeln füllte. 266 So besaß in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die „feudale" Eßkultur der europäischen Bourgeoisien - und mit ihr jene „unvergleichliche Befriedigung, die feine Tischtücher, prächtiges Besteck, auserlesenes Tafelgeschirr und ein exquisiter Blumenschmuck gewähren" - vor allem bei förmlicheren kulinarischen Ereignissen eine uneingeschränkte Vorherrschaft. 267 Im familiären Rahmen der häuslichen Alltäglichkeit dominierten jedoch weiterhin arepas, schwarze Bohnen und Kochbananen, die klassischen Bestandteile der venezolanischen Ernährung. Besonders morgens, bei dem wohl privatesten Mahl des Tages, hielt man an der Gewohnheit der reichhaltigen kreolischen Frühstücke fest. Unter der Woche wurden auch mittags und abends regelmäßig einheimische Gerichte wie die kreolische Hühnersuppe oder der pabellón criollo268 gereicht. Nicht zuletzt das Fortbestehen überlieferter Versorgungsweisen trug dazu bei, daß viele kulinarische Traditionen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein erhielten. Im Hinterhof vieler Häuser des alten 2 6 3 Lovera, José Rafael, Historia de la alimentación en Venezuela. Con textos para su estudio, Caracas 1988, S. 5 6 - 5 8 , 1 1 0 - 1 1 1 264

Ebd., S. 1 1 8 - 1 1 9 , 2 7 1 - 2 7 2

2 6 5 Mit Fleisch und Gemüse gefüllter und in Bananenblatter eingewickelter Maiskuchen 2 6 6 „Hallacas trufadas", vgl. Lovera, a.a.O., S. 2 7 2 2 6 7 Muñoz, Pedro José, Imagen afectiva de Caracas. "La Belle Epoque" caraqueña, Caracas 1972, S. 3 2 2 6 8 Gericht bestehend aus Reis, schwarzen Bohnen, gebratenen Bananen und kraftig abgeschmeckten Rindfleischfasern

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kolonialen Stadtkerns stolzierten Hühner, Puter und Enten zwischen üppigen Mango- oder Avocadobäumen umher. Angesichts einer „schwierigen finanziellen Situation" griffen weibliche Mitglieder angesehener alter Familien auf feine, von Generation zu Generation weitergegebene Rezepte zurück und boten in den vornehmen Vierteln des alten Caracas hausgemachte Süßigkeiten feil oder lieferten Leckereien für häusliche Festivitäten. 269 Während die städtische Oberschicht die „rustikalen" kreolischen Eßgewohnheiten in den privaten, familiären Bereich verbannt hatte und für repräsentative Gelegenheiten seit dem 19. Jahrhundert auf die französische Küche zurückgriff, machten die positivistischen Theoretiker des venezolanischen Fortschritts die überlieferten Ernährungsgewohnheiten zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik. Um dem verderblichen Einfluß des tropischen Klimas entgegenzuwirken, der ihm als eine der wichtigsten Ursachen des venezolanischen Rückschritts galt, hatte der Positivist José Gil Fortoul bereits 1896 eine „besondere Diät" empfohlen. 2 7 0 Ein aus dieser Sichtweise resultierendes, szientistisches Gesundheitsbewußtsein fand seinen Niederschlag bald in der Werbung, die in jenen Jahren zögernd in die venezolanische Presselandschaft einzudringen begann. So führte eine Annonce für den bekannten „ Ponche-Crema", einen Eierlikör einheimischer Herstellung, zu Beginn des Jahrhunderts an, die „chemische Analyse" habe erwiesen, daß es sich um „ein stärkendes Getränk" handele, das „äußerst nahrhaft und hygienisch" sei. 2 7 1 Doch obwohl in gebildeten städtischen Kreisen Hygiene und Nährwert zu den zentralen Zielen einer modernen Ernährung erhoben wurden, änderten diese Erkenntnisse an den praktischen Eßgewohnheiten zunächst wenig. Die benötigten Nährstoffe konzentrierten sich in Dosen des Stärkungsmittels „Phosphatine Fullié", das für Kinder und Rekonvaleszente empfohlen wurde und Hilfe bei Rachitis, Blutarmut und Darmbeschwerden versprach; oder in den Flaschen der berühmten nordamerikanischen „Emulsión Scott", zusammengesetzt aus „Lebertran und Hypophosphiten aus Calcium und Natrium. (...) In den tropischen Ländern", so warb man mit positivistischen Argumenten für das Elixier, „führen die Verluste, die der Organismus wegen der hohen Temperaturen und der beständigen klimatischen Wechsel durch übermäßige Diaphorese erfährt, zu allgemeinen Schwächezuständen und zu Erkrankungen der Atemwege, die die .Emulsión Scott' unfehlbar wiederherstellt und vorteilhaft behandelt." 2 7 2 In den folgenden Jahren erschienen immer mehr neuartige, industriell hergestellte Nahrungsmittel auf dem Markt, die mit einer ähnlichen wissenschaftlichmedizinischen Beweisführung als Wegbereiter einer fortschrittlichen Ernährung 269 270 271 272

Muñoz, a.a.O., S. 45 Gil Fortoul, in: Micrcs, a.a.O., S. 114 Lovcra, a.a.O., S. 2 8 6 El Cojo Ilustrado 18. 8. 1903

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präsentiert wurden. „Was ist OVOMALTINE?" fragte eine Werbung von 1930, um zu antworten: „Eine wissenschaftlich erzielte Konzentration der Nährstoffe von Malz, Milch und Eiern, mit einem feinen Kakaoaroma. (...) Mit dem blossen Auge, aber besser noch durch ein Vergrößerungsglas können sie sich davon überzeugen, daß OVOMALTINE ein wissenschaftliches Produkt ist und nicht eine Mischung aus Zucker, Milch etc." 2 7 3 Die chemische Herstellungsweise garantierte den höheren Nährwert der Ovomaltine, während der traditionelle kreolische Kakao, der bereits seit dem vorigen Jahrhundert gegenüber dem „republikanischen" Kaffee ins Hintertreffen geraten war, mit seiner blumigen Schwere immer weniger den neuen Vorstellungen von rationaler Ernährung entsprach. 274 In einem Venezuela, das den Rückschritt und die „Fehler der Vorfahren" 275 zu überwinden wünschte, versprachen die modernen Nahrungsmittel den Menschen sozusagen von innen her zu zivilisieren - und zwar nicht nur, was seine körperliche Gesundheit betraf. Wie lange man sich von der Überzeugung leiten ließ, daß neue, an ausländischen Vorbildern orientierte Eß- und Trinkgewohnheiten ebenfalls auf moralischer Ebene eine positive Wirkung ausübten, indem sie die durch das tropische Klima verminderte Leistungsfähigkeit erhöhten, zeigen die Worte, mit denen 1945 eine Sammlung von Rezepten für Cocktails eingeleitet wurde: „Der Cocktail, Produkt dieses Jahrhunderts, ist konzentrierte Dynamik. So unterbrach man früher in den Tropen in den heißesten Stunden des Tages seine Aktivitäten, um einen Mittagsschlaf zu halten. Heute nimmt man einen Cocktail zu sich und fährt mit der Arbeit fort. Vielleicht stimuliert seine Kraft gelegentlich unseren Organismus zu sehr. Aber dagegen ist leicht Abhilfe zu schaffen: die Mäßigkeit; nicht zwei zu trinken, wenn einer reicht." 276 Besaßen die zu Beginn des Jahrhunderts vordringenden europäischen Nahrungsmittel wie Nestlé oder Ovomaltine - beides Schweizer Produkte - zunächst einen relativ elitären Charakter, so führte erst der massive nordamerikanische Import zu tiefgreifenden Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten. Seit den zwanziger Jahren begannen die Vereinigten Staaten die wachsenden städtischen Märkte Lateinamerikas mit neuen Lebensmitteln zu überschwemmen, für die mit großangelegten Werbekampagnen geworben wurde. Als Werbeträger von Toddy, Leche Klim oder Avena Quaker wetteiferten in den dreißiger und vierziger Jahren musikalische und humoristische Programme im venezolanischen Radio um die Publikumsgunst. 277 Hygienisch abgepackt, in Minutenschnelle zuzubereiten und den neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend: So 273 274 275 276 277

Elite 26. 7. 1930 Lovera, a.a.O., S. 81 Nos-Otras 1. 10. 1931 EX IN CO, Expreso Informador Comercial, año II, núm. 2, Caracas 1945, S. 143 Yanes, a.a.O., S. 77

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lautete das Erfolgsrezept der neuen, massenweise verbreiteten Lebensmittel, mit denen die praktische Effizienz des American way of life überall in der Welt ihren Einzug hielt. Dabei trugen die zusehends unter nordamerikanischen Einfluß geratenen Massenmedien nicht nur über die Werbung dazu bei, neue Produkte einzuführen. In einem sehr viel umfassenderen Sinn illustrierten Zeitschriften und Filme die Konsummodelle, die den neuen Nahrungsmitteln einen zeitgemäßen Rahmen gaben. Nach der Vorführung eines Films mit Tyrone Powell und Linda Darnell, „dem romantischen Paar des modernen Kinos", führte so die fuente de soda2?s des jüngst eingeweihten Teatro Hollywood 1941 elegante Kinobesucher zum Verzehr von sandwiches und sprudelnden Erfrischungsgetränken zusammen - in einer ähnlichen Szenerie von moderner, funktionaler Eleganz, wie sie kurz zuvor auf der Leinwand zu bewundern gewesen war. 279 Gingen Lebensstilwandel und Wandel der Ernährungsgewohnheiten unter dem wachsenden nordamerikanischem Einfluß in einer noch nicht dagewesenen Weise Hand in Hand, waren die vierziger Jahre indessen auch Jahre des wirtschaftlichen und kulturellen Nationalismus. Unter der Regierung von General Isaías Medina Angarita, dessen Wirtschaftspolitik auf eine Reduzierung der Importabhängigkeit zielte, und der mit einer Agrarreform der venezolanischen Landwirtschaft zu einem neuen Aufschwung zu verhelfen suchte, 280 begann man sogar von offizieller Seite, eine kulinarische Rückbesinnung zu propagieren. In Begleitung von Politikern und Unternehmern verzehrte Präsident Medina während der „Woche des nationalen Konsums" in einem „Kreolischen Restaurant" arepas mit chicharrón2*1, es wurden Wettbewerbe kreolischer Koch- und Backkunst durchgeführt und ein Preis ausgeschrieben, um „den besten Cocktail zu prämiieren, der mit venezolanischen Produkten hergestellt wurde." 282 Politisch links stehende Kreise - von denen es hieß, sie stünden in immer engerer Verbindung zu Medina 283 - veranstalteten aufsehenerregende Angriffe auf die gastronomische Frankreichtümelei der „reaktionären" Oberschicht. Als der mexikanische Komiker Mario Moreno, alias Cantinflas, die venezolanische Hauptstadt besuchte, strömten Tausende von Neugierigen herbei, um seiner Ankunft im „RESTAURANT POPULAR" beizuwohnen, wo die satirische Zeitschrift El Morrocoy Azul ihm zu Ehren ein Essen gab. Eine humoristische Imitation der eleganten Speisekarten der „guten Gesellschaft" führte rustikale kreolische Speisen unter französisch „vornehm" verfremdeten

278 279 280 281 282 283

... die amerikanische soda fountain ... Yanes, S. 2 5 7 - 2 5 8 Mommer, a.a.O., S. 203, 211 Gerösteter Schweinespeck Yanes, a.a.O., S. 3 5 3 - 3 5 4 ... und die mit renommierten Intellektuellen wie Andres Eloy Blanco und Miguel Otero Silva Sympathisanten aus den besten Kreisen der hauptstadtischen Gesellschaft besaßen ...

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Namen auf, so „Hervideau de picatierra 284 (...), Tete de lechön a la marrane 2 8 5 (...), Hallaquites du maiz picanteuses 2 8 6 (...), Kassabe 287 (...), Pasapalaux 288 (...), Guarappe a la pigna 2 8 9 (...)" etc. 2 9 0 Mochte es selbst in der wachsenden Mittelschicht nicht an „Gourmets" fehlen, die sich bestrebt zeigten, bei förmlicheren Anläßen eine verfeinerte französische Eßkultur an den Tag zu legen, so waren die alltäglichen Eßgewohnheiten der gehobenen Schichten vom europäischen Einfluß nicht maßgeblich berührt worden. Es war die Einfuhr von nordamerikanischen Lebensmitteln, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg unerhörte Ausmaße annahm, Eingang bei allen gesellschaftlichen Schichten fand und bis in die entlegenste Provinz vordrang. 2 9 1 Die nationale Lebensmittelproduktion war von dieser Entwicklung nicht unberührt geblieben. Nicht nur die Engpässe, die durch eine wenig leistungsfähige Landwirtschaft entstanden, hatten seit dem Ende der zwanziger Jahre der nordamerikanischen Nahrungsmitteleinfuhr Tür und Tor geöffnet. Viele der einfachen Manufakturbetriebe, die zu Beginn des Jahrhunderts in Caracas Zucker, Bonbons, Schokolade, Nudeln, alkoholische Getränke oder Brausegetränke herstellten, erlagen dieser Invasion von billigen Importen. 2 9 2 Eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung blieb nur vereinzelten Produktionszweigen vorbehalten, so zum Beispiel der venezolanischen Bierproduktion. Angesichts der steigenden Nachfrage nach Bier - das seit dem vorigen Jahrhundert aus Europa und den Vereinigten Staaten importiert wurde - waren um die Jahrhundertwende in Caracas, Maracaibo, Puerto Cabello und Valencia Brauereien entstanden, die zumeist unter der Anleitung deutscher Braumeister gute einheimische Biere produzierten. Bereits um 1900 wurden allein in Caracas jährlich mehr als eine Million Liter des „exotischen Getränks" gebraut, und das stetige Wachstum der Produktion kündigte den überwältigenden Erfolg der venezolanischen Bierindustrie an, die in den vierziger Jahren zu einer der mächtigsten des Landes wurde. 2 9 3 Nachdem mit den wachsenden Importen die nationale Lebensmittelproduktion Ende der zwanziger Jahre in eine Phase der Stagnation eingetreten war, ja in einigen Sparten sogar einen Rückgang zu verzeichnen hatte, setzte in den vierziger Jahren in der Tat ein erster bedeutender Industrialisierungsschub ein. Mit General

2 8 4 Eigentlich „Hervido de gallina": Hühnersuppe 2 8 5 „Cabeza de c o c h i n o " : Schweinskopf 2 8 6 „Hallaquitas de maíz picantes": Pikante Maisklöße 2 8 7 „Casabe": Yukkabrot 2 8 8 „Pasapalos": Appetithappen, etwa entsprechend den spanischen „tapas" 2 8 9 „Guarapo de pifia": Ananassaft 2 9 0 Yanes, a.a.O., S. 3 6 2 - 3 6 3 2 9 1 Briceflo-Iragorry, Alegría de la tierra, a.a.O., S. 1 1 0 - 1 1 1 2 9 2 Indicador de Caracas y de la República 1 9 1 9 - 1 9 2 0 , Caracas o . J . , S. 4 1 2 2 9 3 Lovera, a.a.O., S. 132; Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 2 3 3 ff.

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Medina Angarita war 1941 eine „nationalistisch" orientierte Regierung an die Macht gelangt, zu deren Mitarbeitern Männer wie Arturo Uslar Pietri und Mario Briceño-Iragorry gehörten. Für den Aufschwung der einheimischen Industrie, der sich in diesen Jahren beobachten ließ, spielten sicherlich die durch den Zweiten Weltkrieg notgedrungen sinkenden Einfuhren eine ebenso wichtige Rolle wie die protektionistische Wirtschaftspolitik der medinistas.

Von langfristiger Bedeutung

war jedoch vor allem die Tatsache, daß Venezuela im Begriff stand, die „Substitutionsschwelle" zu überschreiten: Der wachsende Binnenmarkt hatte es endlich rentabel gemacht, eine Reihe von Produkten, die zuvor importiert wurden, im Land selbst herzustellen. 294 Einer der herausragendsten Agroindustriellen jener Jahre war Alejandro Hernández, Begründer von Industrias Pampero, der 1938 mit einer bescheidenen Rumdestillation und der Herstellung von Weinen aus tropischen Früchten angefangen hatte. Indem es sich dem industriellen Anbau und der Verwertung von Tomaten und tropischen Früchten annahm, wurde das Unternehmen in den vierziger Jahren zu einem der Pioniere der venezolanischen Agroindustrie. 1944 erwarb Hernández im Bundesstaat Aragua ausgedehnte Ländereien für seine „Modellfarm des Agroindustrieplans Pampero" und ließ dort Wohnungen für die Landarbeiter und die Beschäftigten einer hochmodernen Fabrik bauen, die Ende der vierziger Jahre täglich 85 000 Dosen Tomatensaft und -püree produzierte und 3600 bis 6000 Flaschen Ketchup pro Stunde abfüllte. 295 In scheinbar unversöhnlichem Gegensatz zu einem gleichzeitig expandierenden Handelssektor stehend, der, wie Hernández selbst es formulierte, „daran gewöhnt war, ins Ausland um Waren zu telegraphieren, die dann per Telefon verkauft wurden", trat der Unternehmer als kämpferischer Gegner eines der nationalen Industrialisierung im Wege stehenden Importhandels auf, der in den fünfziger Jahren zudem durch niedrige Zölle offizielle Förderung zu erhalten schien. Angesichts der Tatsache, daß zum größten Teil auch die Konsumenten ausländische Produkte bevorzugten, initiierte Hernández breitangelegte Werbekampagnen, in denen er die nationalistische Mission der entstehenden einheimischen Industrien betonte und die Venezolaner zu einem Umdenkungsprozeß zu bewegen suchte: „Üben Sie nicht mit exotischen Geschmäcken Verrat an ihrem kreolischen Gaumen!" oder „Wenn es keine kreolische Frucht ist, verwendet PAMPERO sie nicht" - so lauteten die für ihre Zeit sensationellen Werbeslogans von Industrias Pampero. Der Konflikt spitzte sich zu, als sich 1951 das nordamerikanische Unternehmen Yukery in Venezuela niederließ, das mit importiertem Mark von Birnen, Äpfeln oder Aprikosen jene Obstsäfte herstellte, die Briceño-Iragorry als „Gebräu (...) aus venezolanischem 294

Purroy, M. Ignacio, Estado e industrialización en Venezuela, V a l e n c i a / V e n e z u e l a 1 9 8 6 , S. 5 7

295

Rodríguez, J o s é Angel, Pampero ... Una tradición ... U n a industria ... M e d i o siglo de Industrias Pampero 1 9 3 8 - 1 9 8 8 , Caracas 1 9 8 8 , S. 8 6 - 8 7 , 2 3 9 - 2 4 3

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Wasser und ausländischem Fruchtkonzentrat" bezeichnete. In seinen Memoiren berichtet Hernández, wie er sich in den fünfziger Jahren gezwungen sah, Obstsäfte im Wert von fast zwei Millionen Bolívares zu vernichten, denen die Käufer Säfte aus den Früchten der gemäßigten Zone vorgezogen hatten. 2 9 6 Der sogenannte „Fruchtmarkkrieg" und die durch ihn ausgelöste Diskussion über die fatale kulinarische Auslandsorientierung der Venezolaner schlug nicht nur in der zeitgenössischen Presse hohe Wellen. 2 9 7 Auch die Wissenschaft, die in der Vergangenheit meist der Überlegenheit ausländischer Nahrungsmittel das Wort geredet hatte, schritt zur Verteidigung des einheimischen Obstes. An der wechselnden Einstellung zum Mango - einer Frucht, die längst als ebenso kreolisch galt wie der Kaffee, obwohl beide erst im 18. Jahrhundert nach Venezuela gekommen waren - ließ sich diese Entwicklung ablesen. Die positivistische Überzeugung von der verderblichen und „degenerativen" 2 9 8 Wirkung der Üppigkeit der tropischen Natur sprach aus den Worten, die Vallenilla Lanz jr. in seinen romanhaft gestalteten Memoiren einem vornehmen Hacendado des Jahrhundertanfangs 2 9 9 in den Mund gelegt hatte: „Der General erklärte uns, daß die tropischen Früchte ihm nicht zusagten. Er bevorzuge die der gemäßigten Zonen. ,Was die Mangos betrifft', betonte er, ,so mag ich sie nicht einmal ansehen! Die Natur ist Opfer eines Irrtums geworden, als sie uns so reichlich mit einer Frucht ausstattete, die die Insekten anzieht, nach Terpentin riecht und uns Tausende von kleinen Fasern zwischen den Zähnen hinterläßt. Mir soll niemand erzählen, daß das etwas für zivilisierte Münder ist!'" 3 0 0 Die Rettung dergestalt „vergessener Reichtümer" nahm sich 1951 eine wissenschaftliche Studie des Nährwerts der Mangos vor. Einer positivistischen, d. h. um rationalen ernährungswissenschaftlichen Fortschritt bemühten Beweisführung treu bleibend, enthüllten moderne chemische Analysen jetzt, daß „keine der Früchte des gemäßigten Klimas, die in großen Mengen importiert werden, wie Trauben, Äpfel, Birnen, Pfirsiche etc., was ihren Nährwert betrifft, sich mit dem des Mango messen können, der weitaus höher ist." 3 0 1

2 9 6 Ders., Alejandro Hernández. Historias de una pasión, Caracas 1988, S. 50, 188-189 297 In diesem Zusammenhang sind ebenfalls die sich häufenden Angriffe auf die überall in der Welt siegreiche Coca-Cola zu sehen, die auch in Venezuela in allen Gesellschaftsschichten längst zahlreiche Anhänger gefunden hatte. In einer medizinischen Themen gewidmeten Spalte von EI Universal wurde 1951 auf die Gefahr der „Unterernährung" hingewiesen, die alle Kinder bedrohe, die nach Lust und Laune Jene „Gier" befriedigen, die dieses „Scheinnahrungsmittel" wecke. Vgl. El Universal 1. 12. 1951 298 Arcaya, Pedro Manuel, in: Sosa A., Ensayos sobre el pensamiento político positivista venezolano, a.a.O., S. 253 299 ... als dessen reales Vorbild leicht der Großgrundbesitzer, Bankier und Politiker Manuel Antonio Matos zu erkennen ist ... 300 Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 132 301 Jaffé, Werner G. und Czyhrinclw, Nildta, Riquezas olvidadas. El mango, In: Serie de Publicaciones del Instituto Nacional de Nutrición, Cuaderno 4, Caracas 1950, S. 3 ff.

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Die zitierten Sätze entstammen einer Studie, die 1948 vom Landwirtschaftsministerium in Auftrag gegeben und 1950 vom „Nationalen Institut für Ernährung" veröffentlicht wurde. Trotz vordergründiger Konflikte mit „nationalistischen" Industriellen wie Alejandro Hernández - der in den fünfziger Jahren sogar mehrmals für kurze Zeit von der Geheimpolizei verhaftet wurde 302 - verstanden sich die Militärs, die 1948 die Macht ergriffen hatten, ebenfalls als Nationalisten und förderten aktiv die Entwicklung der venezolanischen Agroindustrie. Bedeutende staatliche Investitionen flössen in die Technisierung der Landwirtschaft, und mit dem Bau von Straßen, Bewässerungsanlagen und Silos sowie großzügigen Krediten für Anbau und Vertrieb gelang es, den nationalen Markt mit einer Reihe von einheimischen Produkten zu versorgen. 303 Dabei arbeitete die Regierung eng mit jenen Großgrundbesitzern zusammen, die ihrerseits um eine Modernisierung der Landwirtschaft bemüht waren - wie etwa mit dem Viehzüchter Antonio Julio Branger, dem die Militärs sogar das Landwirtschaftsministerium anboten. 304 Der „kulinarische Nationalismus" fand in dieser Atmosphäre von landwirtschaftlichem Aktivismus einen fruchtbaren Nährboden. Einen bemerkenswerten Aufschwung erlebten die traditionellen terneras, bei denen Fleisch auf dem offenen Feuer gebraten wurde - und die die offiziellen Auftritte der machthabenden Militärs im Landesinneren unfehlbar zu begleiten pflegten. In bürgerlichen Kreisen fand die Rückbesinnung auf die heimische Kochkunst gleichzeitig in einer neuen Literatur von kulinarischem criollismo Ausdruck. Große Publikumserfolge wurden Sammlungen venezolanischer Rezepte wie „Casildas Küche", 1953 von Graciela Schael Martínez veröffentlicht, oder das 1956 erschienene „Kochbuch von Tante Maria" von María Chapellin. Ihre angebliche Volkstümlichkeit, die die kreolischen Gerichte einst in Verruf gebracht hatte, wurde nun als Ausdruck des „grundsätzlich demokratischen Charakters" der klassischen venezolanische Küche gewertet, und Graciela Schael feierte überlieferte Speisen wie den pabellón criollo als Symbol nationaler Einheit: „(...) der Reiche verschmäht ihn nicht, die Mittelschicht verzehrt ihn mit Stolz und häufig ist er auf dem Tisch des Bauern und des Arbeiters zu sehen." 305 Eine ähnliche Sichtweise sprach aus den sogenannten „Rezept-Essays" von Ramón David León, die 1951 allwöchentlich in der Zeitung La Esfera erschienen und 1954 unter dem Titel „Gastronomische Geographie Venezuelas" als Buch veröffentlicht wurden. Die verschiedenfarbigen Zutaten des pabellón verkörperten in den 3 0 2 Zu diesen Verhaftungen kam es vor allem wegen der bekannten Verbindungen, die Hernández zu Rómulo Betancourt pflegte, dem Parteichef der oppositionellen Acción Democrática. Vgl. Rodríguez, José Angel, Alejandro Hernández, a.a.O., S. 175 3 0 3 Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 176 3 0 4 Interview mit Antonio Julio Branger vom 7. 1. 1990 3 0 5 Schael Martínez, Graciela, La cocina de Casilda. Las mejores recetas criollas, Caracas 1953, S. 52

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Augen des Essayisten die Rassen, die in die venezolanische Nation aufgegangen waren, während mondongo306 und sancocho de gallina307 ihm als „authentische Manifestation der demokratischen Gesinnung Venezuelas" galten, um die sich „der Weiße, der Indianer, der Schwarze, der Mulatte und der Mestize freundschaftlich versammeln." Man ist angesichts dieser Aufwertung der volkstümlichen Küche versucht, in Anlehnung an den Begriff von der arquitectura populista von einem „kulinarischen Populismus" der fünfziger Jahre zu sprechen. Dem neuen Prestige, das die Architekten den „weisen Lösungen" der volkstümlichen Bauweisen zuschrieben, entsprach die Entdeckung der einfachen, von einem unverfälschten Gefühl für Geschmack und Nährwert inspirierten Kochkünste eines aus städtischer Sicht exotischen Landesinneren, seien es Merkwürdigkeiten wie das „keuperi rionegrero" 3 0 8 oder eine „naive, primitive Form" der Langustenzubereitung, wie sie die Fischer im östlichen Venezuela praktizierten und deren Ergebnisse, wie Ramón David León versicherte, schlicht „unaussprechlich" sei. 309 Dabei stellte die Welle des kulinarischen criollismo keineswegs Anspruch auf Ausschließlichkeit. 1957 empfahl die bekannte Frauenzeitschrift Páginas für den Besuch „eines ausländischen Freundes (...) ein Menü mit einem typisch kreolischem Touch". Nachdem darauf hingewiesen wurde, daß „es selbstverständlich nicht passend ist, dem ganzen Essen diesen Akzent zu geben", riet man zu einer Speisenfolge von Spargelcremesuppe, wobei zweifelsohne die sich großen gesellschaftlichen Prestiges erfreuenden Dosensuppen gemeint waren, als Hauptgericht kreolisches Grillfleisch mit Yukka und als Nachtisch Erdbeeren mit ChantillySahne. 310 Noch immer genoß die französische Küche das größte gesellschaftliche Prestige, aber die trotz aller nostalgischen Rückgriffe auf die kreolische Kochkunst nicht aufzuhaltende Nordamerikanisierung der Eßgewohnheiten spiegelte sich nicht nur im Konsum importierter Lebensmittel wider, sondern vor allem in der Art des Konsums. In den fünfziger Jahren entstanden die ersten Supermärkte, die mit Regalen und Gefriertruhen voller abgepackter, standardisierter Lebensmittel ein modernes Zeitalter rationaler Versorgung einzuleiten versprachen. Nelson Rockefeller selbst war Aktionär des aufsehenerregenden neuen „CADA"-Supermarktes, Bestandteil eines „ultramodernen" Einkaufszentrums in dem eleganten Stadtteil

306 307 308 309

Kuttelsuppe Hühnersuppe Fischspeise der Indianer des Río Negro in der Amazonasregion León, Ramón David, Geografía gastronómica venezolana, Caracas 1984, S. 27, 43, 79, 96, 149, 201, 237. Zu den Autoren, die sich in jenen Jahren kulinarischen Themen widmeten, gehörte auch Alvarado, Aníbal Lisandro, Menú—Vernaculanismos, Caracas/Madrid 1953 310 Páginas 2 . 2 . 1 9 5 7

205

Las Mercedes.311

US-amerikanischer Herkunft waren auch die funktionalen Kü-

chenmöbel, die Kühlschränke oder die elektrischen Haushaltsgeräte, die die Hausarbeit mechanisierten und für deren Gebrauch die beigegebenen Rezeptbücher Beispiele gaben. Nach den Anweisungen des „Recipe Book" des „National Presto Cooker" konnte die fortschrittliche venezolanische Hausfrau nun in „verblüffender Geschwindigkeit" die gleichen einfachen und nahrhaften Gerichte zubereiten wie die Hausfrau in Wisconsin. In ähnlichen Broschüren verriet die Firma „Junket", wie man zuhause mit „Junket Rennet Tablets" und „Junket Food Color" Eis in allen Regenbogenfarben herstellen konnte. 3 1 2 Die venezolanische Lebensmittelindustrie suchte sich diesem Standard anzupassen, und ganz im nordamerikanischen Stil versprach die Werbung für die Suppen von Alejandro Hernández Firma Pampero:

„Die Summe von Geschmack und Be-

quemlichkeit. EINE DOSE PAMPERO-SUPPE + EIN GLAS WASSER = EINE LECKERE, SERVIERFERTIGE SPEISE." 3 1 3 Ende der fünfziger Jahre bereitete sich der Großindustrielle Lorenzo Mendoza Fleury- der mit der Bierbrauerei Polar ein mächtiges Wirtschaftsimperium aufgebaut hattte - darauf vor, ein Produkt zu lancieren, das überwältigenden Erfolg ernten und bald in keinem venezolanischen Haushalt fehlen sollte: „Harina Pan", ein Mehl aus vorgekochtem Mais, dem man nur noch Wasser hinzufügen muß, um jenen Teig für arepas

und hallacas

zu kneten, der

früher der Hausfrau tagtäglich einen langwierigen Arbeitsprozeß abverlangte. 314 In dem Rationalisierungsprozeß, den die kreolische Küche gemäß der funktionalen Kriterien der modernen Ernährung durchlief, wurden traditionelle Speisen dem Rhythmus „der aktuellen, turbulenten, eiligen Zeit" angepaßt, „deren Stunden sich nach Minuten zählen." 3 1 5 So stand die kulinarische Landschaft der fünfziger Jahre unter dem Zeichen der Assimilation. Obwohl selbst in den vornehmsten Häusern die kreolische Küche in der Alltagskost ihre Vorherrschaft nie gänzlich verloren hatte, kann die Welle von „nationalistischer" Rückbesinnung, die ihr auch für festliche Ereignisse wieder Prestige verlieh, nicht darüber hinwegtäuschen, daß der einheimischen Kochkunst nach wie vor jener Ruf von archaischer Rustikalität und Irrationalität anhaftete, den man ihr seit dem vorigen Jahrhundert zuzuschreiben gewohnt war. Dem Wandel der Konsum- und Eßgewohnheiten, den das Vordringen der großen internationalen Nahrungsmittelkonzerne zur gleichen Zeit auch andernorts in der 3 1 1 Castillo d'Impcrio, Los aflos del buldozcr, a.a.O., S. 157; Mendoza & Mendoza, a.a.O., o.S.; Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 2 3 9 3 1 2 National Presto Cooker Recipe Book. Instructions and Cooking Tables, Eau Claire/Wisconsin 1946; How to Make Rennet-Custards and Ice Cream, Chr. Hansen's Laboratory, Inc., Little Falls/New York, o . J . 3 1 3 Rodriguez, José Angel, Pampero, a.a.O., S. 5 8 3 1 4 Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 2 4 2 3 1 5 Páginas 9. 11. 1957

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Welt mit sich brachte, standen in dem kulturell und ökonomisch auslandsorientierten Venezuela Tür und Tor offen, und nicht wenige überlieferte Getränke und Speisen gerieten in diesen Jahren in Vergessenheit oder wurden zumindest im städtischen Ambiente in den Hintergrund gedrängt. Angesichts der neuen Forderungen nach Hygiene, einheitlicher Qualität und schneller Zubereitung, die man in allen fortschrittsbewußten Nationen an eine moderne Ernährung zu stellen begann und die die standardisierten Produkte der weltweit expandierenden multinationalen Nahrungsmittelkonzerne zu erfüllen versprachen, zogen immer mehr Venezolaner dem kreolischen Handkäse den „homogeneren" Käse der Firma Kraft vor, benutzten vorgefertigte Soßen- und Puddingpulver der Marken Maggi und Royal, während die traditionellen guarapos, die hausgemachten Säfte aus einheimischem Obst, durch die „hygienischere" Pepsi-Cola ersetzt wurden. 316 Gerade das koffeinhaltige Erfrischungsgetränk, das Kritikern des „Kulturimperialismus" als Inbegriff jener Nordamerikanisierung galt, die das Bewußtsein der nationalen Identität unaufhaltsam untergrabe, wurde rasch zu einem nicht mehr wegzudenkenden Element des täglichen Lebens aller Schichten der venezolanischen Bevölkerung, die es auf ihre Art und Weise in den kreolischen Kontext einzubinden verstand. Einheimische Unternehmer, die aus den Vereinigten Staaten nur das Konzentrat importierten, produzierten seit 1940 venezolanische PepsiCola, und wenn sie diese nur wenige Jahre später in der Werbung als „nationales Erfrischungsgetränk" bezeichneten, so schien ihre schnelle und vollständige Assimilation ihnen recht zu geben. 317 Die Pepsi-Cola wurde nicht allein Bestandteil des sogenannten Cuba libre, jenes eisgekühlten Mischgetränks aus Cola, Rum und Limonensaft, das bald im gesamten karibischen Raum uneingeschränkte Popularität genoß und heute als einer der klassischen Cocktails dieser Region gelten kann. In ihrer 1953 erschienenen Sammlung der „besten kreolischen Rezepte" erinnerte sich Graciela Schael Martinez „mit der Sehnsucht nach den Dingen, die vergangen sind" an den guarapo und nahm statt dessen neue Rezepte wie diese auf: „PEPSICOLA MIT GUANABANA: eine gut gekühlte Flasche ,Pepsi-Cola'; ein guanäbana-Us. Man serviert die ,Pepsi-Cola' in einem hohen Glas, fügt das Fruchteis hinzu und rührt um, bis es sich aufgelöst hat. (...) ,PEPSI-COLA'-PUNSCH: Man mischt vier Flaschen , Pepsi-Cola' mit zwei Flaschen Bier, dem Saft von drei Limonen, sechs Tropfen Angostura-Magenbitter und einer in Scheiben geschnitten Limone. Nachdem diese Zutaten gut vermischt sind, fügt man das geschlagene Eiweiß von drei Eiern hinzu sowie Zucker nach Geschmack. Eisgekühlt servieren." 318

316 Brlcefio-Iragorry, Alegría de la tierra, a.a.O., S. 131-132 317 Interview mit Pedro Monsanto Barrios vom 10. 4. 1990; Revista Diplomática, 30. 4. 1954, S. 84 318 Schael Martínez, a.a.O., S. 126

La Habana,

207

Wechselnde Moden und stilistische Leitmotive Mit ihren wechselnden Vorlieben und Abneigungen, ihren Ablösungs- und Assimilationsprozessen spiegelt die Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten die wichtigsten Phasen jenes kulturellen Umwälzungsprozesses wider, den die Venezolaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzogen. Das wird vor allem deutlich, wenn man Vergleiche zwischen der Entwicklung der verschiedenen Lebensstilbereiche herstellt, zwischen denen sich bezeichnende „stilistische" Übereinstimmungen beobachten lassen. Die einzelnen, scheinbar flüchtigen Moden, die auf den vorangegangenen Seiten im Zusammenhang mit dem Wandel der Eß- und der Wohnkultur, des Sports oder des Nachtlebens beschrieben wurden, erweisen sich als Variationen über die stilistischen Grundthemen, die die Modernisierung der venezolanischen Alltagskultur bestimmten und jeder ihrer Etappen ihr charakteristisches Gesicht gaben. So hatte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Sphären des Alltagslebens das Bedürfnis niedergeschlagen, einer als rückständig empfundenen kolonialen Vergangenheit zu entrinnen und sich mitteleuropäischem Standard anzupassen. Doch wenn sich auch in einzelnen Bereichen, so was den Exodus der Elite aus dem kolonialen Stadtzentrum und das Entstehen von Villenvierteln im europäischen Stil betrifft, eine konsequente „Enthispanisierung" zu vollziehen schien, waren die traditionellen Gepflogenheiten darüber durchaus nicht in Vergessenheit geraten. Trotz der wachsenden Vorherrschaft der „zivilisierten" französischen Eßkultur im öffentlich-repräsentativen Bereich bewahrte die kreolische Küche in der häuslichen Alltäglichkeit weiterhin ihre Vorherrschaft, und obwohl in dem renommiertesten Theater von Caracas die europäische Kultur ihren Einzug hielt, nahm das kreolische Schauspiel in Theatern von weniger Rang seit den zwanziger Jahren einen merklichen Aufschwung. Die von Kritikern der venezolanischen Entwicklung vielbeschworene Kluft zwischen elitären und volkstümlichen, zwischen städtischen und ländlichen Lebensweisen 3 1 9 fand also in dem kulturellen „Doppelleben" der städtischen Oberschicht selbst ihre Entsprechung. Indem sie die wechselnden Einflüsse einer neuen Zeit verarbeitete, konnte sich die autochthone Kultur in diesem Rahmen zum Teil durchaus schöpferisch entfalten. Ließ die mehr oder weniger konsequente Abkehr von „rustikalen" kreolischen Traditionen sich von jener Bestandsaufnahme der Faktoren des Rückschritts leiten, die die Positivisten um die Jahrhundertwende geleistet hatten, so folgte der Wan-

319

Biaginl, a.a.O., S. 9 6 ff.

208

del des Lebensstils auch deren Forderungen nach rationaler Problembewältigung. Der Erneuerungswille, der sich in einem szientistischen Gesundheitsbewußtsein oder einer wachsenden Sportbegeisterung niederschlug, entsprang dem Wunsch nach einer neuen Moral von Tatkraft und Disziplin, mit der die Venezolaner eine überlieferte „Passivität" überwinden und gestaltend in ihre Umwelt eingreifen wollten. Die Fortschrittlichkeit, die die Tennis oder Baseball spielende Bewohner von

El Paratso

in ihrem Lebensstil an den Tag legten und die ihre Vorreiterposition

in dem angestrebten Erneuerungsprozeß zu unterstreichen schien, war jedoch von Anfang an in Gefahr, sich zum äußerlichen Merkmal von gesellschaftlicher Distinktion zu verselbständigen. Eine Oberschicht, die etwa ausgerechnet der zum Symbol von elitärer Kultur erstarrten Oper die Aufgabe zuschrieb, „Zivilisation und positive Kultur im Volke zu verbreiten", verlieh ihrem Fortschrittsbegriff eine Aura von Exklusivität, die seiner gesellschaftlichen Stoßkraft eindeutige Grenzen setzen mußte.320 Auf ein elitäres Fortschrittsverständnis, das Modernisierung keineswegs mit gesellschaftlicher Demokratisierung gleichsetzte, war es auch zurückzuführen, daß die venezolanische Oberschicht trotz ihres Rufs von kultureller Willfährigkeit lange Zeit entschieden Abstand gegenüber dem mächtigen nördlichen Nachbarn hielt, von dessen rationalem Lebensstil in ihren Augen eine bedrohliche Nivellierung ausging. Seit der Jahrhundertwende wurde hingegen eine allmähliche Wiederannäherung an die einst verhaßte Kolonialmacht Spanien fühlbar, deren erklärtem Widerstand gegen das rücksichtslose Voranschreiten des angelsächsischen „Materialismus" sich die Lateinamerikaner verbunden fühlten. Auch nachdem Spanien längst jeden politischen und wirtschaftlichen Einfluß auf Venezuela verloren hatte, stellte die gemeinsame Sprache nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Verbindung dar, die besonders auf dem Gebiet von Literatur und Theater den Austausch nicht abreißen ließ, ja die in den zwanziger Jahren mit einer von Andalusienromantik getragenen Spanienmode sogar wieder bewußt betont wurde. Inmitten einer sich immer rascher verändernden Welt von einem wachsenden Bedürfnis nach eigenständigen kulturellen Bezugspunkten getragen, begann man das spanische und - vor allem unter dem Einfluß der mexikanischen Kulturrevolution - wenig später auch das indianische und afrikanische Erbe in einem neuem Licht zu betrachten. Doch die Woge von kulturellem Nationalismus, die in den folgenden Jahren in den verschiedensten Lebensstilbereichen Ausdruck fand, ist nicht nur als Ergebnis eines bewußten Stilbildungsprozesses zu verstehen, mit dem die Venezolaner in einer Zeit des Umbruchs ihrer „nationalen Identität" deutlichere Konturen zu verleihen suchten. Vom radikalen kulturpolitischen Programm wurde die natio-

320

BiUiken

15. 10. 1 9 3 6

209

nalistische Rückbesinnung schnell zu einer Mode, die auf einem entstehenden, länderübergreifenden lateinamerikanischen Kulturmarkt einen fruchtbaren Nährboden fand. Von besonderem Interesse ist dabei die Vermittlerrolle, die in diesem Zusammenhang die Vereinigten Staaten spielten. So ging die neokoloniale Architektur der zwanziger Jahre, deren lateinamerikanische Theoretiker einen „nationalistischen" Bruch mit dem europäischen Klassizismus gefordert hatten, nicht zuletzt auf den international wirksam werdenden Einfluß des kalifornischen Mission Style zurück, der in einem dekorativen kolonialen Ambiente modernen nordamerikanischen Wohnkomfort entfaltete. Die US-amerikanische Schallplattenindustrie trug gleichzeitig zur Verbreitung der mexikanischen Musik bei, die in den Augen der Lateinamerikaner als Ausdruck einer genuinen „Verbindung mit dem zutiefst Unsrigen" galt. 321 Nachdem sie auf dem nordamerikanischen Markt triumphiert hatte, wurde auch die kubanische Musik, deren afrikanische Rhythmen sie der Oberschicht lange Zeit verdächtig gemacht hatten, in Venezuela gesellschaftsfähig. Die nordamerikanischen Massenmedien waren demnach nicht unwesentlich an der Entstehung einer Unterhaltungskultur beteiligt, die die wachsenden lateinamerikanischen Metropolen im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend miteinander verband. In Venezuela führte die in den zwanziger Jahren einsetzende Suche nach den Wurzeln, mit der man sich von einer allzu einseitigen Europaorientierung zu lösen begann, nicht nur zur Wiederentdeckung in Vergessenheit geratener Überlieferungen, das Streben nach einem klareren Bewußtsein von Nationalität verlangte auch nach neuen schöpferischen Ausdruckformen. Besonders der Llano und seine Bewohner boten diesem Bedürfnis offenbar eine Projektionsfläche. Während Romulo Gallegos in seinen Romanen die Landschaft des Llano in eine mythische Atmosphäre von Ursprünglichkeit und Vitalität tauchte, wurde der llanero zur stilisierten Verkörperung eines Mestizentums, das als Ausdruck der nationalen Integration eine tragfähige Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen versprach. Eine wachsende Zahl venezolanischer Filmproduktionen, die einen malerisch verklärten Llano zu ihrem Schauplatz machten, zeigte, daß die llanero-Mode in den vierziger Jahren weiterhin an Anziehungskraft gewann. 322 Innerhalb einer zunehmend durch die moderne Massenkommunikation geprägten 321 Elite 18. 10. 1930 322 In diesen Jahren wurden auch die Romane von Rómulo Gallegos verfilmt, der als Kandidat von Acción Democrática 1948 zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Venezuelas gewählt wurde. Nachdem die mexikanische Verfilmung von „Dofla Bárbara", mit der bekannten mexikanischen Schauspielerin María Félix in der Hauptrolle, einen erfolgreichen Anfang gemacht hatte, folgten in Venezuela 1944 „La trepadora", 1945 „Canaima" und „Cantaclaro". Vgl. Tirado, Ricardo, Memorias y notas del cine venezolano 1897-1959, Caracas o. J., S. 111, 118-122, 128-133, 154

210 städtischen Gesellschaft war die Folklore entstanden, jene spezifische Form der Traditionspflege, mit der sich modernisierende Gesellschaften unverwechselbare kulturelle Eigenheiten zu bewahren suchen. Gleichzeitig mußte der immer fühlbarer werdende gesellschaftliche Druck, der von einer wachsenden städtischen Mittel- und Unterschicht ausging, die elitäre Auslandsorientierung, von der sich der Lebensstil der Oberschicht zu Beginn des Jahrhunderts leiten ließ, allmählich zum Anachronismus machen. So unterschied sich der kulturelle Nationalismus der dreißiger Jahre von dem criollismo der fünfziger Jahre bezeichnenderweise dadurch, daß der letztere ausgesprochen volkstümliche Überlieferungen wiederaufgriff, die damals weniger ins Blickfeld geraten waren. Angesichts des propagandistischen Gebrauchs, den in den fünfziger Jahren eine aufwendige staatliche Kulturpolitik von der volkstümlichen Folklore machte, muß der „kulturelle Populismus" eines der zentralen Themen des folgenden Kapitels sein, das sich mit jener Dekade neuerlicher diktatorischer Herrschaft befassen wird, die mit dem Militärputsch von 1948 ihren Anfang nahm. Gerade in jenem Jahrzehnt von scheinbar unbegrenztem materiellen Wohlstand erfuhr der Lebensstil der Venezolaner unter der Gewalt einer sprunghaft zunehmenden Flut von Importen eine beispiellose äußere Modernisierung. Der exklusive Fortschrittsbegriff, an dem die Elite in den ersten Dekaden des Jahrhunderts festzuhalten gesucht hatte, machte unter dem nordamerikanischen Einfluß einem neuen Leitbild von massivem Konsum Platz, mit dem alle Schichten der städtischen Bevölkerung in noch nicht dagewesener Weise Zugang zu den Errungenschaften des Fortschritts erhielten. Aber das Bild der Harmonie, das die sich unter dem Vorzeichen des kulturellen „Nationalismus" modernisierende venezolanische Gesellschaft abgab, erweist sich bei näherer Betrachtung als trügerische Illusion. Indem sich im folgenden Abschnitt die Aufmerksamkeit wieder auf die einzelnen Gruppen innerhalb der Oberschicht und die unterschiedlichen Positionen richtet, die sie innerhalb des Modernisierungsprozesses einnahmen, soll die Widersprüchlichkeit eines Jahrzehnts beleuchtet werden, das von nationalistischer Rückbesinnung ebenso wie von Kosmopolitismus, von neureicher Verschwendung ebenso wie von energischem Fortschrittswillen bestimmt war.

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Das Jahrzehnt der Militärs 1948-1958 Eldorado Venezuela - Die Früchte des Booms „Es gibt in der Bibel ein Bild, das mir auf seltsame Weise der venezolanischen Gegenwart zu ähneln scheint. Es ist das von König Balthasar und seinem Gelage. Gold und Silber der heiligen Gefäße der Juden füllen sich mit Wein, der lärmende Hofstaat jubelt und lacht, Musik ertönt, es drehen sich die Tänzerinnen, die Höflinge schlemmen, das Volk sammelt die reichen Reste auf, und der Fürst lächelt durch seinen gekräuselten Bart und betrachtet jenes große Bild von Überfluß und Wohlbehagen. Niemand scheint zu bemerken, daß man sich am Rande einer Tragödie befindet, daß das wunderbare Gelage nicht unbegrenzt dauern kann, daß alles, was so reichlich vorhanden zu sein scheint, trügerisch und falsch ist und bald verschwunden sein wird." So kennzeichnete Arturo Uslar mit seiner gewohnten kritischen Schärfe schon Ende der vierziger Jahre eine Situation, in der seine Landsleute förmlich überrollt wurden von einer Geldlawine „riesiger Ausmaße, die sich über Venezuela ergossen hat wie einer jener tropischen Regenfälle, die alles überfluten und mit sich fortreißen, und die alle Taschen mit heiterem und leichtem Geld füllt, so daß das Land lebt, als würde es täglich in einer Lotterie spielen, bei der es immer gewinnen muß." 1 Mit Riesenschritten begann sich in den vierziger Jahren das einst arme und rückständige Venezuela in jenes Land zu verwandeln, dessen Wohlstand und schwindelerregende materielle Modernisierung ihm bald weltweit den Ruf eines neuen lateinamerikanischen Eldorado eintrugen. Die steigenden Einkünfte aus dem Erdöl hatten dieses Wunder ermöglicht. Nachdem Präsident Medina schon 1943 die ausländischen Ölgesellschaften höheren steuerlichen Belastungen unterworfen hatte, konnte die Volkspartei Acción Democrática

1948 die Konzerne dazu verpflich-

ten, 5 0 Prozent ihrer Gewinne an den venezolanischen Staat abzuführen. 2 Aber nicht nur das berühmte „fifty-fifty"-Abkommen erhöhte die Einnahmen aus dem Öl. Um den durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Bedarf zu befriedigen, war die Produktion zwischen 1943 und 1945 verdreifacht worden. Der internationale Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit und ab 1950 der Koreakrieg trugen dazu bei,

1

Uslar I'ictri, De una a otra Venezuela, a.a.O., S. 2 2

2

M o m m c r , a.a.O., S. 193, 2 7 3

212

daß die Nachfrage relativ konstant blieb und sogar neue Konzessionen vergeben wurden.3 Nachdem die Ölrente zwischen 1945 und 1948 von 660 Millionen Bolivar auf 1776 Millionen Bolivar gestiegen war, erhöhte sich das Bruttosozialprodukt zwischen 1950 und 1957 noch einmal um 40 Prozent, so daß Venezuela in den fünfziger Jahren das höchste Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas aufzuweisen hatte. 4 Caracas erhielt in diesem Jahrzehnt das Gesicht einer modernen Weltstadt obwohl 1954 laut offiziellen Angaben schon 38 Prozent seiner sich mit dem Boom vervielfachenden Einwohnerschaft in Elendsvierteln rund um die Stadt wohnten. 5 Während das koloniale Stadtzentrum trotz der radikalen Modernisierung, der viele der letzten alten und traditionsreichen Häuser zum Opfer fielen, als Wohnund Geschäftsgegend unaufhaltsam an Prestige verlor, verlagerte sich das Caracas der privilegierten Schichten nach Osten, und immer mehr elegante Autos waren auf den mehrspurigen Straßen und Stadtautobahnen zu sehen, die komfortable neue Wohnviertel mit dem modernen Stadtzentrum und seinen vielstöckigen, klimatisierten Bürogebäuden verbanden. In einer sich von Tag zu Tag ausdehnenden Stadt, deren neues Verkehrsnetz den zeitgenössischen Leitbildern von Komfort, Mobilität und Geschwindigkeit entsprach, wurde das Auto nicht nur immer unentbehrlicher, sondern - wie damals fast überall in der Welt - geradezu zum Kultgegenstand. Cabriolets mit Automatikschaltung von Chrysler oder Chevrolet, die neuesten Fabrikate der altangesehenen Firma Packard, besonders aber die Cadillacs mit ihren auffallenden Heckflossen standen an der Spitze der Gunst eines zahlungskräftigen Publikums. Waren in anderen Teilen der Stadt vereinzelt noch die letzten von Tieren gezogenen Fuhrwerke zu sehen, 6 so bestimmten chromglänzende Straßenkreuzer, Leuchtreklamen und die breiten Glasfronten eleganter Geschäfte das Bild im neuen östlichen Stadtzentrum, das zwischen dem Boulevard von Sabana Grande und der Plaza Venezuela entstanden war. Mehr als 50 000 Geschäfte soll es in den fünfziger Jahren in ganz Caracas gegeben haben, und mit „prächtigen Schaufenstern und aufwendig dekorierten Verkaufsräumen" wurden die teuersten unter ihnen zum Treffpunkt der „vornehmen Welt von Caracas (...) auf der Suche nach den letzten Modellen aus Paris oder New York, Rom oder London". 7 Die Betonung, die die Mode der fünfziger Jahre auf die Eleganz legte, stieß in Venezuela auf großen Anklang, und Exklusivanfertigungen von

3 4 5 6 7

Avendafto Lugo, José Ramón, El militarismo en Venezuela. La dictadura de Pérez Jiménez, Caracas 1982, S. 117 Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 50 Revista Diplomática, La Habana 30. 4. 1954 Rodríguez, Manuel Alfredo, a.a.O., S. 63 Mendoza & Mendoza, a.a.O., S. 19, 21

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Dior oder Baimain fanden Abnehmerinnen, die auf eleganten Abendempfängen mit tief ausgeschnittenem langen Kleid, Pelzstola und blitzenden Juwelen Aufsehen erregen wollten. Importiert wurden nicht nur Autos, Kleidung, Lebensmittel, Kühlschränke oder Radios. Seit 1952 gehörte Venezuela auch zu den ersten zehn Ländern der Welt, die in den Genuß eines regelmäßigen TV-Programms kamen. 8 Für jene, die das neue Faszinosum Fernsehen nicht zum Zuhausebleiben verleiten konnte, hatte Caracas 150 Theater- und Kinosäle zu bieten. 9 Während die Konzertbesucher Dirigenten und Solisten von Weltrang wie Furtwängler oder Rubinstein lauschten, boten modern ausgestattete, vollklimatisierte Kinos vor allem im Osten der Stadt die Möglichkeit, neueste filmtechnische Errungenschaften wie das CinemascopeBreitwandverfahren kennenzulernen, sei es zunächst auch nur in einem von der Militärregierung bei der Twentieth Century Fox-Film in Auftrag gegebenen Propagandafilm. 1 0 Die Stadt besaß außerdem zahlreiche luxuriöse Nachtlokale, in denen beachtliche Mengen schottischen Whiskys und französischen Champagners konsumiert wurden. Vergnügungslustige Venezolaner gelangten in wenigen Stunden mit dem Flugzeug nach Havanna, das mit berühmten Nachtclubs wie dem Tropicana für Touristen aus Nord- und Südamerika zum Anziehungspunkt geworden war, aber auch in Caracas gab es vergleichbare Etablissements, die aufwendige Shows mit Tänzerinnen aus Cuba und aller Welt präsentierten. Die Dekade, in der für Vinylmöbel mit dem Slogan „Besser leben dank der Chemie" geworben wurde und in der selbst biedere Familienväter in der Nähe der Provinzstadt Barquisimeto fliegende Untertassen gesehen haben wollten, stand ganz unter dem Einfluß des mächtigen nördlichen Nachbarn. 11 Um 1950 war Venezuela nicht nur der beste Kunde der Vereinigten Staaten in Lateinamerika, sondern weltweit einer ihrer wichtigsten Abnehmer. 12 Schon unter der Regierung von Acción Democrática, die bei ihrem Machtantritt 1945 als „kommunistisch" und „antiamerikanisch" gegolten hatte, waren die Importe aus dem Norden beträchtlich angestiegen. Parteiführer und Juntachef Rómulo Betancourt zeigte vor allem gegenüber der Standard Oil der Rockefellers großes Entgegenkommen, und die Regierung unterstützte aktiv die zahlreichen Entwicklungsprojekte, die Nelson Rockefeiler in Venezuela - und anderen Teilen der Welt - durchführte und die die Politik der wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit widerspiegelten,

8 9

Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 6 9 0 Mendoza & Mendoza, a.a.O., S. 14

10 11 12

Salas, Cien años del Teatro Municipal, a.a.O., S. 165, 174; El Universal 4. 12. 1953 El Universal 17. 8. 1950, 2. 8. und 5. 8. 1952 Brito Figueroa, Historia económica y social de Venezuela, a.a.O., Bd. II, S. 434; Liss, Sheldon B., Diplomacy & Dependency, Venezuela, The United States, And The Americas, Salisbury/North Carolina 1978, S. 155

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mit der die Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges ihren Einflußbereich aufrechtzuerhalten und zu erweitern suchten. 13 Obwohl nach dem Putsch von 1948 speziell Rockefellers Beziehungen zu den venezolanischen Machthabern eine gewisse Abkühlung erfuhren, hielten die Nordamerikaner insgesamt an einer politischen Linie fest, die den Geist der späteren Alliance for Progress vorwegzunehmen schien. Nachdem US-Präsident Truman 1950 erklärt hatte, daß nur die Hilfe zur Selbsthilfe und die Vermittlung von nordamerikanischem Know-how in den weniger entwickelten Ländern der Welt die drohende Gefahr des Kommunismus abwenden könne, 1 4 wurde Diktator Pérez Jiménez 1954 für seine antikommunistischen Aktivitäten und seine tatkräftigen Bemühungen um eine wirtschaftliche Modernisierung Venezuelas von der Regierung Eisenhower mit dem Orden der Ehrenlegion belohnt. 15 Während des Zweiten Weltkrieges hatte Nelson Rockefeiler in Zusammenarbeit mit der US-Regierung eine Medienkampagne geleitet, die über Film, Radio und Presse in Lateinamerika um Sympathien für den Kampf um die Freiheit in der Welt warb und die südlichen Nachbarn gleichzeitig mit den Errungenschaften des American way of life vertraut machen sollte. 16 Als nach dem Krieg dieser Medienapparat zum größten Teil privatisiert wurde, bedeutete dies keinen Rückgang des nordamerikanischen Einflusses, ganz im Gegenteil. Unzählige Hollywoodproduktionen, aber auch spanischsprachige Ausgaben nordamerikanischer Zeitschriften wie Life oder Selecciones, die südamerikanische Version des Reader's Digest, lieferten das Ideen- und Anschauungsmaterial zu einem nach 1945 massiv einsetzenden Warenimport, der von Cadillacs, Musikboxen und Geschirrspülmaschinen über Tupperware-Behälter bis zu Hemz-Catchup und Max-FactorLippenstiften reichte. Obwohl um die „nationale Identität" ihrer Landsleute besorgte Kulturkritiker erbittert gegen „Yankisierung" und „Cocacolismus" polemisierten, 17 war der Lauf der Dinge nicht mehr aufzuhalten. Im Zeitalter des kommerziellen Luftverkehrs schienen die Vereinigten Staaten auch geographisch näher gerückt zu sein. War Nordamerika früher meist nur eine kurze Zwischenstation auf langen Schiffsreisen nach Europa gewesen, flog man jetzt zum Einkaufen nach Miami oder New York und reiste zur Erholung nach Hawaii. In den venezolanischen Zeitungen warben Annoncen für den Erwerb von Immobilien in Florida, und es gehörte längst zum guten Ton, seine Töchter und Söhne zur

13 14

Avendaño Lugo, a.a.O., S. 142; Rosenberg, a.a.O, S. 2 0 6 Rosenberg, a.a.O., S. 2 2 5

15 16

Liss, a.a.O., S. 157 Rosenberg, a.a.O., S. 2 0 6 - 2 0 8

17

Briceflo-Iragorry, Tradición, nacionalidad y americanidad, a.a.O., S. 43

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Ausbildung auf Internate u n d Universitäten in die Vereinigten Staaten zu schicken. 18 Schon n a c h dem Ersten Weltkrieg hatte die uneingeschränkte Bewunderung der Lateinamerikaner für die europäischen „Kulturnationen" eine gewisse Trübung erlitten, u n d als 1945 weite Teile des alten Kontinents in Trümmern lagen, richteten sich die Blicke z u n e h m e n d auf jenes Land, das aus dem Krieg als die mächtigste u n d technologisch fortgeschrittenste Nation der Welt hervorgegangen war. Der robuste, kaum von Zweifeln angekränkelte Konsumismus, dem nach den Entbehrungen der Kriegszeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gehuldigt wurde, etablierte sich in vielen Teilen der Welt als Modell von Fortschritt und Wohlstand. Gerade die Venezolaner - auf der Woge einer nicht enden wollenden Prosperität u n d den Vereinigten Staaten geographisch u n d wirtschaftlich so nahe - mochten glauben, sich auf jenem breiten, geradlinigen Weg zu befinden, den das nordamerikanische Entwicklungsmodell vorgezeichnet hatte u n d der in eine glorreiche Zukunft führen mußte. Vor allem die Fülle von Konsumgütern, die in den sich gleichsam über Nacht vervielfachenden modernen Geschäften der Hauptstadt angeboten wurden, hatte das prosperierende Erdölland in einen Rausch grenzenlosen Fortschrittsoptimismus versetzt. Stolz verkündeten die Zeitgenossen, „die Seele des heutigen Caracas" sei der Handel, dem es seine wirtschaftliche Dynamik u n d Macht zu verdanken habe. 1 9 Schon Jahre zuvor hatten u n b e q u e m e Mahner wie Arturo Uslar Pietri auf die Gefahren hingewiesen, die der Devisenüberfluß u n d der niedrige Dollarkurs beinhalteten, der seit 1934 zwischen drei u n d vier Bolívar lag 20 u n d aus Venezuela „ein Paradies für Importeure u n d eine Hölle für Exporteure" machte. 2 1 Zu großen Vermögen waren jedoch nicht nur jene gelangt, die sich „unproduktiven" Aktivitäten wie dem Import von Konsumgütern widmeten oder sich an der Immobilienspekulation bereicherten, die das schwindelerregende Wachstum der Stadt begünstigte. Die Expansion von Caracas u n d anderen städtischen Zentren hatte nicht nur einen Boom der Bauwirtschaft bewirkt, der die Entstehung entsprechender Zuliefererindustrien zur Folge hatte. Insgesamt erlaubte es der expandierende interne Markt, jenen Industrialisierungsprozeß fortzusetzen, der während der Regierungszeit von Medina Angarita (1941-1945) unter anderem von den durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Importreduktionen ausgelöst worden war. Die wachsenden Absatzmöglichkeiten machten es rentabel, eine Vielzahl von Produkten im Lande 18

El Universal 3. 8. 1 9 5 2 u n d 3. 7. 1955; Páginas 26. 10. 1957

19 20

M e n d o z a & M e n d o z a , a.a.O., S. 19 Maza Zavala, a.a.O., S. 236; Izard, Miguel, Series estadísticas para la h i s t o r i a d e Venezuela, Mèri da 1970, S. 2 1 6 - 2 1 7

21

Uslar Pietri, De u n a a otra Venezuela, a.a.O. S. 53

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selbst herzustellen, wie Textilien, Schuhe, Papier, Möbel, chemische und pharmazeutische Erzeugnisse, Erfrischungsgetränke, Bier oder Zigaretten. Der Rohstoffbedarf der Lebensmittel- und Textilindustrie stellte wiederum einen Impuls für die Landwirtschaft dar, die mit Maschinen und modernen Anbautechniken eine kapitalistische Modernisierung erfuhr. Dem Entwicklungsimpetus jener Jahre kamen ebenfalls die ausländischen - vor allem nordamerikanischen - Investoren entgegen, die in Venezuela hochtechnisierte Fabriken errichteten, die den spektakulären industriellen Fortschritt des Landes anschaulich zu beweisen schienen. Es entstanden zahlreiche sogenannte „gemischte" Unternehmen: sei es, daß nationale Industrien von ausländischem Kapital durchdrungen wurden, sei es, daß ausländische Firmen Filialen oder Tochtergesellschaften in Venezuela gründeten, indem sie sich teils mit einheimischem Kapital verbanden, teils sich aber auch die alleinige Kontrolle über die Unternehmen vorbehielten. Das Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von 1952 begünstigte diese für die venezolanische Entwicklung charakteristischen „Importindustrien", die Säfte aus importiertem Fruchtfleisch herstellten und elektrische Geräte oder Autos aus importierten Einzelteilen montierten. 22 Für die wirtschaftliche Modernisierung Venezuelas, die sich in diesen Jahren vollzog, spielte zudem der durch die Einnahmen aus dem Ölgeschäft wachsende Staatskapitalismus eine entscheidende Rolle. Der Staat förderte nicht nur aktiv die Agrarproduktion, indem er beachtliche Summen in die Schaffung einer landwirtschaftlichen Infrastruktur investierte und großzügige Kredite gewährte. 23 Mit der Errichtung staatseigener petrochemischer und stahlerzeugender Werke gelang es ihm auch, seine ehrgeizigen Pläne bezüglich des Aufbaus von Schlüsselindustrien in die Tat umzusetzen. 24 Die Regierung, die aufsehenerregende Verwaltungsgebäude wie die 32stöckigen Zwillingstürme des Centro Simón Bolívar hinterließ und mit der neuen Autobahn, die Caracas über die Küstenkordillere hinweg mit dem Meer verband, die zu jener Zeit in Lateinamerika größte Ingenieursleistung nach dem Kanal von Panama für sich verbuchen konnte, war gleichzeitig der beste Kunde der Bauindustrie. 25 Als die 1954 in Caracas stattfindende Zehnte Interamerikanische Konferenz der Militärregierung die Gelegenheit zu einer wirkungsvollen Selbstdarstellung gab, faßte ein brasilianischer Journalist seine Eindrücke folgendermaßen zusammen: „Als ich 1948 Caracas zum ersten Mal besuchte, gefiel die Stadt mir nicht. Die Straßen waren eng und schlecht beleuchtet, die Häuser alt 22 23 24 25

Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 61; Jankus, Alfred P. und Malloy, Neil M., Venezuela. Land of Opportunity, New York 1956, S. 87, 104 Castillo d'Imperio, Agricultura y política en Venezuela, a.a.O., S. 114 ff. Rincón Noriega, Fredy E., El Nuevo Ideal Nacional y los planes económico-militares de Pérez Jiménez 1 9 S 2 - 1 9 5 7 , Caracas 1982, S. 78 ff. República de Venezuela, Ministerio de Obras Públicas, Autopista Caracas - La Guaira, Caracas o. J.

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und die Hotels miserabel. Ich bin zurückgekehrt, um der Zehnten Interamerikanischen Konferenz beizuwohnen, und bin begeistert. Die breiten Prachtstraßen, modernen Gebäude und neuen Villenviertel ließen mich glauben, ich besuchte die Stadt zum ersten Mal. (...) Ich beglückwünsche die Venezolaner, denn in wenigen Ländern der Welt geschieht etwas Vergleichbares." Und beeindruckt stellte ein anderer Journalist fest: „Venezuela ist im Ausland nicht mehr wegen des Erdöls bekannt, sondern wegen seines ungeheuren Fortschritts und seiner baulichen Leistungen: Autobahnen, Avenuen, Straßen, majestätische Gebäude. Der Präsident der Republik Venezuela, Oberst Marcos Pérez Jiménez, hat all dies mit einer progressiven Regierung geschaffen, die nur die Größe der Nation vor Augen hat." 2 6

Nationale Harmonie unter autoritärer Herrschaft: Pérez Jiménez und seine Offiziere Der neue Regierungschef, auf den weit über die Landesgrenzen hinaus Lobeshymnen für seine ins Auge fallenden Erfolge bei der Modernisierung Venezuelas angestimmt wurden, war erstmals 1945 auf der politischen Bühne in Erscheinung getreten. Eine Gruppe junger Offiziere hatte sich damals durch einen Staatsstreich der Regierungsgewalt bemächtigt, um sie für kurze Zeit mit der Volkspartei Acción Democrática zu teilen. Nachdem er als Verteidigungsminister Mitglied der Militärjuntas gewesen war, die seit 1948 das Land regierten, hatte Oberst Pérez Jiménez 1952 die Alleinherrschaft an sich gerissen, indem er für ihn nachteilige Wahlergebnisse ignorierte und auf „den Beschluß der Streitkräfte hin" die „provisorische" Präsidentschaft übernahm: Kaum sechzehn Jahre nach dem Tod von General Gómez besaß Venezuela wieder einen Diktator.27 Als 1936 das Ende des gomecismo mit allgemeiner Erleichterung begrüßt worden war, hatte es den Anschein gehabt, als wäre eine dem Fortschritt aufgeschlossene Oberschicht endlich zu der Überzeugung gelangt, daß ihre Zukunft in der Beseitigung der autoritären Militärherrschaften lag, denen sie sich seit dem 19. Jahrhundert immer wieder unterworfen hatte. Die politische Öffnung, die die Gomez-Generäle López Contreras und Medina Angarita vorantrieben, war durchaus im Sinne der etablierten Elite gewesen, obwohl man es bei der vorsichtigen 26

S e r v i d o I n f o r m a t i v o V e n e z o l a n o . Venezuela b a j o el N u e v o Ideal N a c i o n a l . R e a l i z a c i o n e s d u r a n t e el G o b i e r n o del C o r o n e l M a r c o s Pérez J i m é n e z , 2 de d i c i e m b r e de 1 9 5 2 - 19 de abril de 1 9 5 4 , Caracas 1 9 5 4 , S. 1 2 3 - 2 4

27

B c t a n c o u r t , a.a.O., S. 6 7 3

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Einführung bürgerlich-demokratischer Regierungsformen bislang vermieden hatte, das allgemeine und direkte Wahlrecht zu gewähren. Der Staatsstreich von 1945 jedoch drohte, endgültig neue Spielregeln einzuführen. Während die jungen, akademisch ausgebildeten Offiziere, die in der Unión Militar Patriótica zusammengefunden hatten, die Absetzung der „Reitergeneräle" der Gómez-Zeit verlangten, die nach wie vor die höchsten militärischen Ränge innehatten, machte Acción Democrática erklärtermaßen die Privilegien der Oligarchie zu ihrer Zielscheibe.28 Die Liberalisierung der venezolanischen Politik, die sich nach 1936 in der Formierung von politischen Parteien niedergeschlagen hatte, wuchs sich für die an ihre Vormachtstellung gewohnte Oberschicht nun zum Problem aus. Aber die von der „guten Gesellschaft" von Caracas verächtlich als alpargatocracia - als Herrschaft der Hanfschuhträger - bezeichnete Regierung sollte nicht von langer Dauer sein. Das politische Sektierertum von Acción Democrática erregte bald den Unwillen ihrer militärischen Verbündeten. Nachdem sie der Partei drei Jahre zuvor gewaltsam zur Macht verholfen hatten, entrissen die Offiziere mit dem Putsch von 1948 dem demokratisch gewählten Präsidenten Rómulo Gallegos die Regierungsgewalt, um endlich ihre eigenen Vorstellungen von der Modernisierung Venezuelas in die Tat umzusetzen. Und nach der „traumatischen" Erfahrung mit dem Populismus von Acción Democrática war die Oberschicht nur allzugern bereit, der neuen Militärjunta und ihrem Chef, Oberst Carlos Delgado Chalbaud, ihre Unterstützung zuzusagen.29 Auch andernorts in Lateinamerika hatten die von den politischen Parteien mit zunehmender Deutlichkeit artikulierten Forderungen der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten bedrohliche Ausmaße angenommen, bis Militärregierungen als „Retter des Vaterlandes" aufgetreten waren und durch Klassenkämpfe entzweite Nationen wieder „geeint" hatten, wie Juan Perón in Argentinien oder Manuel Odria in Peru.30 Selbst nach dem offenkundigen Willkürakt, mit dem sich Pérez Jiménez 1952 von den Streitkräften zum Präsidenten ernennen ließ, anstatt die Macht an die aus den Wahlen siegreich hervorgegangene Partei URD abzugeben, wurden im Regierungspalast „Vertreter der Banken, des Handels und der Industrie" vorstellig, um ihm persönlich ihre „Unterstützung für seine Haltung zu bekunden." 3 1 Offensichtlich hielten es zu diesem Zeitpunkt weite Teile der Unternehmerschaft für angebracht, eine politische Modernisierung zunächst zurückzustellen und es einem autoritären und technokratischen Regime zu überlassen, die Grundlagen für die wirtschaftliche Modernisierung Venezuelas zu schaffen. 28 29 30 31

Avendaflo Lugo, a.a.O., S. 95, 123; Schaposnik, Eduardo, La democratización de las Fuerzas Armadas Venezolanas, Caracas 1985, S. 39 Rincón, a.a.O., S. 47 Avendaflo Lugo, a.a.O., S. 153-158 El Universal 6. 1. 1953; Avendaño Lugo, a.a.O, S. 200 ff.

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Aber schon 1953 kündigte die Rivalität um die geplante Stahlindustrie am Orinoco einen ersten Bruch zwischen den Militärs und der Unternehmerbourgeoisie an. Als „antinational" wies die Regierung die Anfragen des sogenannten „Eisensyndikats" zurück, einer Gruppe venezolanischer Kapitalisten unter der Führung des Industriellen Eugenio Mendoza, die das Industrieprojekt in private Hände nehmen wollten. 32 Der immer dominierendere Staatskapitalismus war nicht der einzige Grund dafür, daß die Militärregierung bald die Unterstützung verlor, die sie anfangs von der durch den lautstarken „Egalitarismus" von Acción Democrática verschreckten Oberschicht genossen hatte. Schon wenige Jahre nach ihrem Machtantritt zeigte sich, daß die für ihre aufsehenerregende Bautätigkeit international gelobte Regierung die Kontrolle über ihre Ausgaben verloren hatte. 1957 schuldete der Staat dem Privatsektor fast 2000 Millionen Bolívares - rund 500 Millionen Dollar - , und mit der Weigerung, diese Summe zu zahlen, schuf das Regime sich mächtige Feinde.33 Angesichts schwindender Staatsreserven rückten auch politische Diskrepanzen stärker in den Vordergrund. Immer größeres Mißfallen erregte nun die seit 1952 mit der Alleinherrschaft von Pérez Jiménez zunehmende Personalisierung der Macht, die nicht zuletzt an der wachsenden Bedeutung der Seguridad Nacional abzulesen war, der Geheimpolizei unter der Leitung des gefürchteten Pedro Estrada, der über sein Vorgehen bei der Bekämpfung der politischen Opposition dem Regierungschef persönlich Rechenschaft ablegte. 3 4 In der Willkür personalisierter Machtstrukturen hatte die Korruption einen fruchtbaren Nährboden gefunden, und es wurde immer offensichtlicher, daß die Machthaber und jene, die ihnen nahestanden, im Wirtschaftstraumland Venezuela die Gelegenheit zu lukrativen Nebengeschäften nicht ungenützt verstreichen ließen z. B. bei der Vergabe von großen Bauprojekten.35 Eines autoritären Regimes überdrüssig, das - wie schon so oft in der venezolanischen Geschichte - den Mißbrauch der Machtprivilegien zu weit getrieben zu haben schien, suchte die Unternehmerschaft 1957 Kontakt zu den politischen Parteien, aber auch zu jenem aufgeklärten Sektor des Militärs, der seit dem Putsch von 1945 auf eine Institutionalisierung der Streitkräfte bedacht gewesen war und den Absolutismus der Regierung von Pérez Jiménez ablehnte. Mit einem landeswei32

Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 146 ff.

33 34

Ebd., S. 57; Avendafto Lugo, a.a.O., S. 212, 2 8 3 Blanco Mufloz, Agustín, Pedro Estrada habló, Caracas 1983, S. 148

35

Noch während der Regierungszeit von Pérez Jiménez mußte Bauminister Gerardo Sansón, gleichzeitig Vorstandsvorsitzender einer der erfolgreichsten venezolanischen Bauunternehmen, wegen offenkundig gewordener Unregelmäßigkeiten zurücktreten. Vgl. Plaza, Elena, El mercado de las tierras urbanas, in: Machado de Acedo, Clemy, Estado y grupos económicos en Venezuela. Su análisis a través de la tierra, construcción y banca, Caracas 1981, S. 2 2 3 - 2 4 ; Vallenllla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 3 3 6

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ten Generalstreik gelang es im Januar 1958, den Diktator zur Flucht zu zwingen, und eine Allianz von politischen Parteien, Unternehmerverbänden und Militärs verkündete den Beginn einer neuen, glanzvollen Ära der Rechtsstaatlichkeit. 36 Von einer Welle demokratischer Begeisterung emporgetragen, galten die zehn Jahre der Militärdiktatur nun als Rückfall in die Barbarei des Despotismus und die Hals über Kopf ins Ausland geflohenen perezjimenistas als Verkörperung jener irrationalen Machtgelüste, die immer wieder eine tiefgreifende Modernisierung Venezuelas verhindert hatten. 37 Wenn der Diktator und seine Klientel - ähnlich wie es bei den gomecistas der Fall gewesen war - im nachhinein als Eindringlinge gebrandmarkt wurden, die die Privilegien einer gewaltsam errungenen Macht in den Dienst der eigennützigen Interessen einer Clique stellten, so bezichtigte man die gestürzten Militärs jedoch nicht nur des politischen Arrivismus. Seit dem 19. Jahrhundert war das ambivalente Verhältnis zwischen Caudillos und Oberschicht in der Regel durch einen Standesunterschied gekennzeichnet gewesen. Auch Pérez Jiménez, Sohn einer früh verwitweten Dorfschullehrerin aus dem Bundesstaat Táchira, 38 sowie die meist der Mittelschicht entstammenden Offiziere, die ihn umgaben, galten der Elite von Caracas - wie auch immer diese politisch zu ihnen stehen mochte - als gesellschaftliche Emporkömmlinge. „Am eigenen Leibe", so berichten Vertraute des ExPräsidenten, habe dieser in jüngeren Jahren erlebt, wie sich die bei der Oberschicht in geringem Ansehen stehenden Militärs für eine Einladung in die eleganten gesellschaftlichen Clubs von Caracas „erniedrigten" und dennoch oft keinen Einlaß erhielten. Um den Offizieren ihre „Minderwertigkeitskomplexe" zu nehmen, habe Pérez Jiménez den Círculo Militar gebaut, der bei seiner Einweihung 1953 als einer der luxuriösesten Offiziersclubs Lateinamerikas gelten konnte. 39 Als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der perezjimenistas ist die Betrachtung des Círculo Militar in der Tat aufschlußreich. Deutlich ist das Bestreben einer Gruppe von Aufsteigern zu spüren, einen ihrer Machtposition angemessenen sozialen Status zu erringen. So hatten die Kinder der Clubmitglieder Gelegenheit, großbürgerliche Kulturpraktiken wie Ballet oder Klavierspiel zu erlernen. 40 Mit „cocktail-parties" umwarb man die Gesellschaftschronisten von Zeitungen und Zeitschriften, denn auf ihren Seiten genannt zu werden, hieß jene „Salonfähigkeit" attestiert zu bekommen, für die die etablierte gesellschaftliche Elite von Caracas

36 37 38 39 40

Avendaño Lugo, a.a.O., S. 182, 279; Werz, a.a.O., S. 60-61, 78-79; Stambouli, Andrés, Crisis política. Venezuela 1945-58, Caracas 1980, S. 123-133 Vgl. Salcedo-Bastardo, a.a.O., S. 482 Capriles Ayala, Carlos, Pérez Jiménez y su tiempo, Biografía del Ex-Presidente y radiografía de Venezuela en algunas etapas estelares de su historia, Caracas o.J., Bd. I, S. 95 Interview mit José Antonio Giacopini Zárraga vom 5. 9. 1988; El Universal 3. 12. 1953 El Universal 8. 7. 1955

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allein die Maßstäbe zu setzen suchte. 41 Zum Mittelpunkt der am Vorbild der Oberschicht orientierten gesellschaftlichen Aktivitäten des Offiziersclubs hatte sich die Ehefrau des Staatsoberhaupts gemacht, Flor Chalbaud de Pérez Jiménez. Als Vorsitzende der „Damen der Bolivar-Gesellschaft" veranstaltete die zu frühzeitiger Korpulenz neigende Präsidentengattin die in den fünfziger Jahren so beliebten wohltätigen Kanastanachmittage, Modenschauen und Tombolas, bei denen sie mit den anwesenden Damen darin wetteiferte, kostbare Schmuckstücke zu stiften, die für gute Zwecke verlost wurden. 42 Eine nähere Betrachtung des Círculo Militar gewährt jedoch nicht nur Einblick in die Statusprätentionen einer neuen politischen Machtelite, sondern erlaubt es auch, die Ideologien und Anschauungen zu prüfen, mit denen sie ihre Herrschaft zu legitimieren suchte. Der Club war Teil eines in einem südlichen Seitental von Caracas gelegenen Gebietes, das militärischen Einrichtungen vorbehalten war und dem Pérez Jiménez ein repräsentatives Herzstück von monumentalem Pathos verliehen hatte: Eingeleitet von einem Obelisken und dem Reiterstandbild eines Indianers begann eine den „Vorläufern der nationalen Unabhängigkeit" gewidmete, begrünte Promenade, der sogenannte Paseo de los Precursores. Hinter dem überdimensionalen Denkmal für die Helden des Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien, dem Monumento de los Proceres, setzte eine mit Tribünen versehene Paradestraße diese Linie fort und führte sie auf die gewaltigen Fassaden zweier Militärschulen zu. Das Gesamtbild der Anlage erinnert Architekturhistoriker an die Achse Trocadero - Ecole Militaire in Paris und an frühere Vorbilder aus dem europäischen Absolutismus, aber auch an den stilisierten Neoklassizismus der europäischen Staatsarchitektur der dreißiger Jahre. 43 Auffällig ist der Kontrast zwischen dem ideologisch aufgeladenen Pomp der Gesamtanlage und der modernen, funktionalen Architektur des am Rande dieser Prachtstraße gelegenen Círculo Militar. Von dem bekannten venezolanischen Architekten Luis Malaussena in Zusammenarbeit mit drei jungen deutschen Architekten erbaut, besaß der Offiziersclub für militärische Besucher aus dem Inland ein mehrstöckiges Hotel mit einem offenen Schwimmbad, zu welchem auch die seitlich angrenzenden, niedrigeren Gebäude in Verbindung standen, die gesellschaftlichen Aktivitäten dienten und in denen Festsäle, Restaurants, ein Theatersaal und Spielsalons zu finden waren. 44 Während draußen dem Heroenkult gehuldigt wurde 41 42 43

44

Páginas 14. 9. 1957 Páginas 22. 6. 1957 Eine gelungene Analyse der Militärarchitektur von El Valle Ist zu finden bei: Hernández de Lasala, Silvia, La obra arquitectónica de Antonio y Luis Malaussena. Presencia de Ia arquitectura académica en la Venezuela moderna, 1870-1958. Apuntes para su estudio, Caracas 1985, S. 2 4 2 - 2 8 3 Interview mit dem Architekten Klaus Heufer vom 8. 11. 1988; Hernández de Lasala, a.a.O., S. 272, 274

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und Skulpturen und Denkmäler die Tradition des Kampfes gegen fremde Invasoren und die Rückbesinnung auf die nationalen Wurzeln heraufbeschworen, erzeugte die Bauweise des Círculo Militar jene kosmopolitische Atmosphäre von modernem Komfort, die man von internationalen Hotelketten kennt. Aber auch innerhalb des Clubs ließen sich gewisse Stilbrüche feststellen. So nahmen in einem der in neobarockem Louis-Quinze-Stil ausgestatteten Räume, die für offizielle Feierlichkeiten vorgesehen waren, die Gemälde des renommierten venezolanischen Malers Pedro Centeno Vallenilla das heroische Moment wieder auf. In Anlehnung an die Darstellungsweise der mexikanischen Muralisten waren auf einem Triptychon Jaguarmenschen und indianische Kaziken im Kampf mit Konquistadoren zu sehen, daneben Simón Bolívar und andere Helden der Unabhängigkeit, und auf einer dritten Tafel Bauern, Arbeiter und Soldaten des 20. Jahrhunderts, die einer zweifelsohne glorreichen Zukunft entgegenmarschierten. Aus dem stilistischen Gesamtrahmen fiel ebenfalls der am äußersten Rand des Gebäudekomplexes angegliederte neokoloniale patio, der mit einem Bogengang, einem „wahrscheinlich nach mexikanischem Vorbild" 45 nachgebauten Brunnen und den schweren, mit Wappen verzierten Holztüren, die in einen kleinen Saal führten, eine mehr oder weniger überzeugende Atmosphäre von kolonialem Prunk inszenierte. Ähnlich wie es bei der Gómez-Residenz Maracay der Fall gewesen war, besaßen die neuen politischen Machthaber in dem Areal von El Valle einen eigenen, gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen allein räumlich deutlich abgegrenzten Bereich, bei dessen Gestaltung - im Gegensatz zu der altvaterisch anmutenden Repräsentativität der Provinzstadt Maracay - der gezieltere, demonstrative Einsatz von ideologischen Elementen zu beobachten war. 46 Auffällig war außerdem ein gewisser Eklektizismus, das unvermittelte Nebeneinander von Elementen verschiedener Herkunft und Bedeutung: Neben dem Pathos der Pracht- und Paradestraße und der Architektur der Militärschulen, in denen die neue militärische Elite ausgebildet wurde, stand der geradlinige Funktionalismus des Offiziersclubs; neben der Verklärung des Widerstands der amerikanischen Ureinwohner gegen die Eroberung standen „traditionalistische" Zitate aus dem Ambiente der hispanischen Kolonialaristokratie, die dieses als langlebiges Statusmodell bestätigten; und trotz ihrer gelegentlich mit „revolutionären" Diskurselementen betonten Volksnähe zögerten die Militärs nicht, die feudalen Repräsentationsmuster der Oberschicht zu übernehmen. Der Vielfalt der Leitbilder, die in der architektonischen Gestaltung des Clubs und seines Umfeldes zum Ausdruck kamen, entsprach die kulturelle Vielschich45 46

Interview mit Klaus Heufer vom 8. 11.1988 Zu den erklärten ideologischen Absichten, die den Entwürfen für die Anlage des sogenannten Sistema de la Nacionalidad zugrundelagen, vgl. Mérola Rosdano, a.a.O., S. 176-78

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tigkeit der Aktivitäten, denen die Militärs und ihre Angehörigen im Círculo Militar nachgingen. Neben Klavier- und Ballettstunden wurde Unterricht im Spiel des traditionellen cuatro, der viersaitigen venezolanischen Guitarre erteilt; man veranstaltete „Festivals kreolischer Musik" oder lud Folkloregruppen zur Belebung der Tradition vom „Tanz um das Maikreuz" ein. 47 Besonderer Beliebtheit erfreute sich im Círculo Militar Yolanda Moreno, die Gründerin der Tanzgruppe Danza Venezuela, die - ähnlich wie das berühmte mexikanische „Nationalballett" typisch venezolanische Volkstänze zur Aufführung brachte. Als Leitfigur einer nationalistischen Kulturpolitik avancierte Yolanda Moreno bald zum Star, wenn auch nicht jedermann sich für den aufwendig inszenierten, offiziellen Folklorismus begeistern mochte. 1953 tanzte Yolanda in dem Ballet „Tamanaco" die Rolle der indianischen Prinzessin Apacuama, deren edler Bräutigam Tamanaco dem siegreichen Einzug der spanischen Konquistadoren zum Opfer fällt. An diesem spektakulären Tanztheater, das mit einer Galapremiere „zu Ehren von Flor Chalbaud de Pérez Jiménez" im ehrwürdigen Teatro Municipal uraufgeführt wurde, bemängelte eine Theaterkritik der großen Tageszeitung El Universal eine „übertriebene folkloristische Stilisierung", „fast schon mystifizierte" Figuren und das Fehlen authentischer indianischer Musik, um außerdem darauf hinzuweisen, daß die Prinzessin zwar eine junge dunkelhäutige Schönheit sei, jedoch einer Rasse angehöre, „die nichts mit der indianischen zu tun hat." Zu sarkastischen Bemerkungen gaben außerdem Ausstattung und Kostüme Anlaß, so die goldenen Sandalen der Indianer, die als „anachronistische Jahrmarktsrequisiten" den eingeborenen Kämpfern das Aussehen „römischer Zenturien" gäben. 48 Aus der Sicht der offiziellen Ideologie des „Neuen Nationalen Ideals" stellte sich das Ballett „Tamanaco" jedoch als uneingeschränkter Erfolg dar. Stolz verkündeten die Militärs, die Tanzgruppe, die von einer dem Ministerium der Arbeit unterstellten Kulturabteilung organisiert wurde, sei mehrmals im Fernsehen zu sehen gewesen und bis 1954 in 460 Vorstellungen vor fast zwei Millionen Zuschauern aufgetreten, wobei es ihr gelungen sei, dem venezolanischen Volk „Vertrauen in die eigenen Werte" zu geben. Indem sich die Mitglieder der Gruppe ausschließlich aus der Arbeiterschaft rekrutierten, habe sie zudem den „künstlerischen Begabungen unzähliger venezolanischer Arbeiter" Raum zur Entfaltung geboten. 49 Mit seiner betonten Volksnähe und dem erklärten Engagement für die Bedürfnisse der Arbeiterschaft erinnert der Nationalismus der perezjimenistas an ein anderes Militärregime, das zur gleichen Zeit in Südamerika von sich reden machte: 47 48 49

El Universal 3. 7. und 8. 7.1955; Interview mit Oberst Juan José Aguerrevere vom 1. 11. 1988 El Universal 21. 12. und 23. 12. 1953 Vgl. Servicio Informativo Venezolano, a.a.O., Bildteil

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nämlich an das von General Juan Perón, der 1946 in Argentinien die Macht ergriffen hatte. Tatsächlich rettete der argentinische Präsident sich nach seinem Sturz 1955 ins Exil nach Venezuela, wo er freundliche Aufnahme bei einer Regierung fand, die der seinen in Ideologie und Image nahestand. Bereits 1945 hatten sich die venezolanischen Putschisten nach dem Vorbild der aufrührerischen „Offizierslogen" Peróns organisiert, ebenso wie jene von der Vorstellung bewegt, den Streitkräften käme die gewissermaßen „providentielle" Aufgabe zu, das Vaterland vor dem inneren Zerfall und wachsender äußerer Abhängigkeit zu retten. 50 Die Überzeugung von ihrer „revolutionären" Mission konnte die venezolanischen Militärs gelegentlich in Versuchung führen, den volkstümelnden Gestus mit einer antioligarchischen Rhetorik zu verbinden und gegen die Privilegien einer exklusiven Minderheit zu polemisieren. Die erwähnten Bilder von Pedro Centeno Vallenilla im Círculo Militar zeigen, wie in diesem Sinn die längst zu Stereotypen gewordenen Motive der lateinamerikanischen Revolutionsästhetik in der Selbstdarstellung einer autoritären Militärherrschaft Verwendung finden konnten, 5 1 während man sich - ganz wie es die sich antioligarchisch gebenden Peronisten getan hatten - im gesellschaftlich-repräsentativen Bereich am Vorbild der Großbourgeoisie orientierte. Wie ihre Ideologen ausdrücklich erklärten, war es in der Tat keineswegs das Ziel der Militärregierung, „das Bürgertum zu proletarisieren", vielmehr strebe man an, „die Arbeiterschaft zu verbürgerlichen". 52 Es war sicherlich nicht unberechtigt, wenn zwei Monate nach dem Sturz von Pérez Jiménez die Zeitschrift Elite weitere Vergleiche zu den Peronisten anstellte: „Der Tyrann warf einen Blick auf Lateinamerika, und ein politisches Phänomen, das in Argentinien zu beobachten war, erregte sein Interesse. Obwohl sie mittlerweile gestorben war, war Peróns Ehefrau doch ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Regierungspropaganda gewesen. Er betrachtete seine Frau, die Präsidentin der ,Damen der Simón-Bolívar-Gesellschaft' geworden war (...), und in ihm erwachten gewisse Hoffnungen. Der Staat ließ nun den wohltätigen bolivarianischen Damen beträchtliche Summen zukommen. Doña Flor verstand, was ihr Ehemann von ihr wollte, und die Gesellschaft verwandelte sich in ein erklärtes (...) Organ der Regierungspropaganda."53 Das Vorbild von Eva Perón als „Beschützerin

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51

52 53

Avendaflo Lugo, a.a.O., S. 153-155; Morón, a.a.O., S. 483. Ocarina Castillo d'Imperio hat unter den zeitgenössischen politischen Bewegungen, die auf die perezjimenistas Einfluß gehabt haben könnten, auch den ägyptischen Nasserismus genannt. Vgl. dies., Los años del buldozer, a.a.O., S. 98-100 Auf das Vorbild der mexikanischen Muralisten ging ebenfalls das mit 84 Quadratmetern monumentale Wandgemaide des Dramatikers, Bildhauers und Malers César Rengifo zurück, das dieser 1956 für die Plaza Diego ¡barra im zentralen Stadtteil El Silencio anfertigte. Vgl. Castillo, Susana, a.a.O., S. 65-67 El Heraldo 30. 6. 1955 Elite 22. 3. 1958

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der Minderprivilegierten" 54 mag tatsächlich nicht ohne Einfluß auf die Rolle gewesen sein, die die Frauen der neuen Machthaber als Organisatorinnen von glanzvollen Benefizveranstaltungen spielten, bei denen sich das Streben nach gesellschaftlichem Status auf vollkommenste Weise mit propagandistischen Intentionen verbinden ließ. Mit seiner kulturellen „Volkstümlichkeit" und einer Hochkonjunktur von wohltätigen Aktivitäten, in denen das „soziale Engagement" der neuen, selbsternannten politischen Machtelite seinen Niederschlag fand, entsprach der Lebensstil der perezjimenistas offensichtlich eben jener Forderung nach nationaler Einheit, die vor den Toren des Offiziersclubs von einer patriotisch-monumentalen Architektur beschworen wurde, jener Einheit, die - wie es die Ideologen des Regimes formulierten - „sich immer dann einstellen muß, wenn die Völker zur Eroberung eines großen Schicksals aufbrechen." 55 Es verstand sich dabei von selbst, daß wo die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Venezolaner zur „erhabensten" gemeinsamen Aufgabe geworden war, „ideologische Differenzen und theoretische Auseinandersetzungen" in den Hintergrund treten mußten. 5 6 „Keine Worte, sondern Taten" könnte die Devise dieser paternalistischen Technokrate lauten, und wirklich betonten die perezjimenistas immer wieder, die Probleme ihres Landes seien „nicht politischer, sondern technischer Natur". 57 Energisch nahmen die Militärs jene „Verwandlung der physischen Umwelt" in Angriff, die einen der Kernpunkte der Ideologie des „Neuen Nationalen Ideals" darstellte, und ausländische Beobachter bestätigten, daß diese Regierung nicht im Interesse einer privilegierten Minderheit handelte, sondern sich ihrer Verantwortung gegenüber der Mehrheit bewußt war.58 Die Errichtung riesiger Wohnblocks, die für den sozialen Wohnungsbau in Lateinamerika zu jener Zeit beispielhaft waren, sollte ebenso die technische Lösbarkeit sozialer Probleme vorführen, wie das Seebad Los Caracas, das 1956 in der Nähe von Macuto als Erholungsort für die arbeitenden Schichten angelegt worden war. 59 Mit seinen modernen, inmitten einer weitläufigen tropischen Parklandschaft gelegenen Unterkünften und einem unregelmäßig geformten Schwimmbecken, das sich über eine Fläche von 3600 54 55 56 57 58 59

Vgl. Perón, Eva, La razón de ml vida, Buenos Aires 1951 Mérola Rosciano, a.a.O., S. 177 Pérez Jiménez, a.a.O., S. 14 El Heraldo 27. 6. 1955 Jankus/Malloy, a.a.O., S. 23 Berühmt - und wegen einer Vielzahl von sozialen Problemen berüchtigt - waren die von Carlos Raúl Villanueva entworfenen Wohnblocks der zunächst nach dem Datum des Machtantritts von Pérez Jiménez benannten Urbanización 2 de Diciembre, die nach dem Sturz der Diktatur am 23. 1. 1958 in Urbanización 23 de Enero umbenannt wurde. Vgl. Posani, Juan Pedro, The Architectural Works of Villanueva, Caracas 1985, S. 52-53. Siehe auch República de Venezuela, Ministerio de Relaciones Interiores, Dirección Nacional de Información, Venezuela 1954. Expresiones del Nuevo Ideal Nacional, Caracas o.J., S. 46-65

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Quadratmetern erstreckte und für 1200 Badegäste konzipiert war, konnte Los Caracas sicherlich nicht zu Unrecht als eine „in ihrer Art in Lateinamerika einzigartige Leistung" bezeichnet werden. 60 Unter einer Regierung von Technokraten, die „methodische und stetige Arbeit" zu ihrem erklärten Ziel erhoben hatten, schien für die Venezolaner ein neues Zeitalter der Effizienz angebrochen zu sein. 61 Der Marathon von aufsehenerregenden Einweihungen, die alljährlich im Dezember im Gedenken an die Machtergreifung von Pérez Jiménez am 2.12.1952 in allen Teilen des Landes stattfanden, konnte bald als das Markenzeichen der Militärs gelten. Zahlreiche Fotografien belegen, wie das Durchtrennen des symbolischen Bandes, das im Mittelpunkt dieser Einweihungsfeiern stand, zu einem zentralen Sinnbild der revolutionären Tatkraft der perezjimenistas wurde. 62 Eben dieser Perfektionismus jedoch, das Bestreben, ständig Superlative der Effizienz für sich zu verbuchen, so sollten Kritiker des Regimes später behaupten, beinhaltete eine zutiefst irrationale Komponente. Denn wo es nur noch galt, sich den technischen Fortschritt in seinen glanzvollsten Ausdrucksformen zu eigen zu machen und ritualisierte Erfolgsdemonstrationen zum Mittel der Machtlegitimierung wurden, mußten alle tiefergreifenden Modernisierungsziele in den Hintergrund treten. Der funktionalistische Stil der Staatsarchitektur erwies sich nicht selten als eine kostspielige Fassade, die unter enormem Zeitdruck hochgezogen wurde, um propagandistischen Einweihungsterminen gerecht zu werden. 63 Nicht nur die Einweihung öffentlicher Bauten hatte seit den Tagen von Guzmán Blanco den autoritären venezolanischen Herrschern dazu gedient, sich als Wegbereiter des Fortschritts in einem rückständigen und irrationalen Ambiente darzustellen. Auch die Tatkraft und Disziplin, die ein Juan Vicente Gómez in seinem privaten Lebensstil an den Tag legte und die ihn als effizienten Führer der nationalen Geschicke empfahlen, entsprach, wie weiter oben gezeigt, der Selbstdarstellung einer von der positivistischen Devise von Ordnung und Fortschritt geleiteten Macht. Der dynamische, weltoffene Typus, den Pérez Jiménez verkörperte, gehörte einer anderen Epoche an als der patriarchalische Caudillo des Jahrhundertanfangs, aber es gab dennoch nicht wenige Parallelen. Um den immer allmächtigeren Chef einer technokratischen Regierung, die sich einen „titanischen Kampf" 6 4 im Dienst der Zivilisation vorgenommen hatte, entwickelte sich eine moderne Ikonographie des caudillismo, ein neuer „Heroismus" der kapitalistischindustriellen Entwicklung, zu dem der rationale Lebensstil eines Mannes paßte, 60 61 62 63 64

El Universal 3. 12. 1956 Servido Informativo Venezolano, a.a.O., S. 26 Vgl. die Umschlagbilder ebd. Interview mit dem Architekten Dirk Bornhorst vom 26. 10. 1988 Castillo d'Imperio, Los aflos dei buldozer, a.a.O., S. 157

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der seine Leistungsfähigkeit regelmäßig mit Rudern, Geräteturnen, Boxen u n d Unterwassersport trainierte u n d dessen Hobbys Motorjachten u n d schnelle Autos waren, mit denen er bei wichtigen Einweihungen im Landesinneren nicht selten den Eskorten enteilte, u m als erster an Ort und Stelle zu sein. 65 Indem er die Führungsposition eines autoritären Herrschers festigte, stellte sich dieser demonstrativ zur Schau getragene Fortschrittsaktivismus jedoch in den Dienst einer personalisierten Macht, die der Umsetzung eines rationalen Modernisierungsprogramms letztlich im Wege stehen mußte. Die von Oberst Pérez Jiménez erklärte „Ablehnung des Personalismus, der egoistischen Einflußnahme von Interessengruppen" 6 6 blieb Lippenbekenntnis einer Machtelite, die im Kern aus einem „charismatischen" Führer u n d seiner Klientel bestand u n d die 1958 nicht zuletzt der Vorwurf der Korruption zu Fall bringen würde. Blutsverwandschaft, Gevatterschaft u n d eine gemeinsame regionale Herkunft hatten die Klientel traditioneller Caudillos wie Juan Vicente Gómez zusammengeschweißt. Obwohl nach dem unrühmlichen Ende von Pérez Jiménez die Presse behauptete, daß der „Tyrann sehr gütig zu seinen Familienangehörigen gewesen" sei u n d einem Cousin „um ein Haar den ganzen Staat Táchira geschenkt" habe, spielte die Besetzung von Staatsposten durch Familienangehörige im Gegensatz zu dem u n v e r h o h l e n e n Nepotismus des Gómez-Clans eine untergeordnete Rolle. 67 Große Bedeutung besaß aber nach wie vor der Regionalismus. Obwohl 1945 die Beseitigung der seit den Tagen des gomecismo überlieferten Vormachtstellung der andinos eines der erklärten Ziele der Putschisten gewesen war, stammten viele der jungen Offiziere - wie Pérez Jiménez selbst - aus dem Táchira, u n d die Herkunft aus den Andenstaaten stellte bei der Vergabe von Staatsposten weiterhin ein wichtiges Entscheidungskriterium dar. 6 8 Auf die im Beziehungsgeflecht der Günstlingswirtschaft geforderte Fähigkeit, sich gegenüber seinen Freunden großzügig u n d loyal zu verhalten, 6 9 bauten hingegen jene, die den Präsidenten oder andere Männer der Macht zum Taufpaten ihrer Kinder u n d damit zum Gevatter, zum compadre machten. Dabei war es nicht von ungefähr, daß die für die Festigung von Klientelbeziehungen so wichtigen Tauffeste oft auf dem Lande stattfanden. 7 0 Seit den frühesten Tagen des Caudillismus h a t t e n ländliche Feiern den Führer u n d seine Gefolgschaft in persönlichen u n d informellen Kontakt zueinander gebracht. So griffen die Militärs der fünfziger Jahre - zudem auf ihr Image von volkstümlichem Nationalismus bedacht - die

65

I n t e r v i e w mit José A n t o n i o Giacopini Zärraga v o m 13. 10. 1988

66 67

Servicio I n f o r m a t i v o V e n e z o l a n o , a.a.O., S. 118 Venezuela Gràfica 14. 3. 1958

68 69 70

Vallcnilla I.anz, Ilscrito de m e m o r i a , a.a.O., S. 324; Britto Garcia, a.a.O., S. 145 Britto Garcia, a.a.O., S. 140-44 I n t e r v i e w mit M a r i o M a t u t c Bravo v o m 11. 11. 1988

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Tradition der terneras auf, bei denen auf dem offenen Feuer gebratenes Fleisch, Jukka und die traditionelle guasacaca-Soße die Menukarte ersetzten. Oberst Carlos Pulido Barreto - als Chef der Logistik71 der venezolanischen Armee enger Vertrauter von Pérez Jiménez - berichtet in einem Interview, daß er auf einer Hacienda, die er außerhalb von Caracas erworben hatte, dem Präsidenten solche „informellen" Feste ausrichtete. Aber auch in der Stadt verstand man die ländliche Atmosphäre der terneras zu erzeugen, und nicht weniger als „fünf gegrillte Rinder und zwei Schweine" erwarteten die Gäste auf den Festen, zu denen Oberst Pulido im Garten seiner Villa in La Castellana lud. 72 Obwohl sich die perezjimenistas ausdrücklich von den rückständigen, ungeschliffenen Patriarchen der Vergangenheit zu distanzieren suchten, wußten sie doch an das Ansehen und die „tellurische" Kraft anzuknüpfen, die die Caudillos stets aus ihrer „Erdverbundenheit" geschöpft hatten. Bei der energischen Modernisierung der venezolanischen Landwirtschaft, die sie zu einem der zentralen Ziele ihrer Politik machten, pflegten die Machthaber auf regelmäßigen Reisen ins Landesinnere aktiv in Erscheinung zu treten und versäumten es bei dieser Gelegenheit nicht, durch die Teilnahme an rustikalen Freizeitaktivitäten ihre Verwurzelung im ländlichen Venezuela zu betonen. 73 Die große Agrarmesse von 1954, die das Landwirtschaftsministerium in Zusammenarbeit mit privaten Unternehmern in Maracay veranstaltete, wurde von einem Unterhaltungsprogramm begleitet, das große terneras, Stier- und Hahnenkämpfe sowie toros coleados umfaßte. 7 4 Die Militärs traten auf diese Weise als Förderer traditioneller Vergnügungen auf, die zu ihrem Ruf von bodenständiger, männlicher Kraft beitrugen. Auch die soldatischen Gewohnheiten, die mit der Herrschaft der Militärs in den Vordergrund rückten, setzten der Dekade der fünfziger Jahren den Stempel einer neuen Männlichkeit auf. Unter sich waren Männer in den Spielsalons des Offiziersclubs, die mit ihrer Bar um elf Uhr morgens öffneten und wo Poker und Domino gespielt wurden. 75 Der Aufschwung, den das traditionelle Dominospiel damals in weiten Kreisen der Bevölkerung erlebte, mag von dem Vorbild der neuen Machthaber nicht unbeeinflußt gewesen sein. Der Schießplatz von Conejo Blanco, der 1954 anläßlich der Schießweltmeisterschaften eingeweiht wurde, galt seinerzeit als einer der besten Amerikas. Die Militärs und ihre Freunde nutzten die Installationen als Freizeiteinrichtung, und Pérez Jiménez selbst war jeden Sonntag dort bei

71 72 73 74 75

,Jefe de Armamentos" Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto vom 7. 11. 1988 Interview mit Antonio Julio Branger vom 7. 1. 1990 El Universal 17. 12. 1953 Interview mit Oberst Juan José Aguerrevere vom 1. 11. 1988

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Schießübungen anzutreffen. 76 Dieser technisierte Männersport paßte gut zu dem Image von dynamischer Virilität, das die neuen Machthaber mit jenen verband, die ihnen nahestanden. Aber auch in anderen, privateren Bereichen spielte der machismo sowohl für die Selbstdarstellung des einzelnen - vor allem der des Caudillo - wie für die Festigung der das Klientelsystem tragenden persönlichen Bindungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. In seiner jüngsten Untersuchung über die Symbolik der Macht im Venezuela des 20. Jahrhunderts hat der venezolanische Politologe Luis Britto Garcia auf die Tatsache hingewiesen, „daß um die drei Präsidenten, die in diesem Jahrhundert mit der größten Berechtigung als Autokraten bezichtigt wurden - Castro, Gómez, Pérez Jiménez - sich Legenden von sexueller Zügellosigkeit und poligamer Vaterschaft gesponnen haben." 77 Zahlreiche Gerüchte gehen bis heute über die Orgien um, die der Präsident auf seiner „Lustinsel" La Orchila gefeiert haben soll. In einem Interview von 1983 bestätigte Pérez Jiménez, daß er und seine engsten Freunde und Mitarbeiter die Karibikinsel gelegentlich in Begleitung von Damen aufsuchten, bei denen es sich nicht um die Ehefrauen handelte. 78 Enge Vertraute der einstigen Machthaber berichten, wie in den bekannten Nachtclubs von Caracas - wie dem Pasapoga oder dem Montmartre in Baruta - der Öffentlichkeit die Türen verschlossen wurden, wenn sich der Präsident mit einer Gruppe von Freunden einstellte. 79 Während bei derartigen Feiern im freundschaftlichen Kreis die „verschworene" Gemeinschaft einer Machtelite bekräftigt wurde, gereichte der „schlechte" Ruf, den ihnen diese Eskapaden eintragen mochten, den Machthabern nicht unbedingt zum Nachteil. In weiten Teilen der venezolanischen Bevölkerung, so hat Britto García in seiner Analyse gezeigt, besteht die traditionelle Neigung, „sexuelle Potenz und politische Macht" unmittelbar miteinander in Verbindung zu bringen. Weil „die Massen stets den macho-¥ühiei bewundern", sei auch der moderne Caudillo stets um ein Image von besonderer Virilität bemüht. 80 Pérez Jiménez selbst formulierte das 1983 im Rückblick so: „In Venezuela muß der Machthaber sich einen Ruf schaffen (...), und ich wählte den Ruf eines Frauenhelden."81

76

M e n d o z a & M e n d o z a , a.a.O., o.S.; Interview m i t Oberst T o m á s Pérez T e n r e i r o v o m 2 5 . 1 0 . 1 9 8 8 ; Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto v o m 7. 11. 1 9 8 8

77

Britto Garcia, a.a.O., S. 1 1 8

78

B l a n c o M u ñ o z , Agustín, Habla el general, Caracas 1 9 8 3 , S. 4 0 4

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Interview mit A n t o n i o J u l i o Branger v o m 7. 1. 1 9 9 0

80

Britto García, a.a.O., S. 1 1 8 - 1 2 1

81

B l a n c o M u ñ o z , Habla el general, a.a.O., S. 4 0 4 - 4 0 5

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Das Establishment zwischen Fortschrittlichkeit und feudaler Exklusivität Trug der Lebensstil der Militärs auf diese Weise dazu bei, nach innen den Zusammenhalt der Klientel zu stärken und nach außen hin ihre Führungsqualitäten als Männer der Tat vorzuführen, so mußte der wachsende Personalismus und Autoritarismus des Regimes dieses schließlich in Konflikt mit der etablierten Elite bringen, die ihre Entfaltungsmöglichkeiten zunehmend beschnitten sah. Ganz unproblematisch war das Verhältnis zur Oberschicht von Anfang an nicht gewesen. Anlaß zu Differenzen gab einerseits die antioligarchische Rhetorik, mit der die perezjimenistas den wachsenden Staatskapitalismus und vor allem den Anspruch des Staates auf den Aufbau der neuen Stahlindustrie gegen die Interessen einer „Geldaristokratie" verteidigten. 8 2 Andererseits wetteiferte die neue politische Machtelite mit der alteingesessenen Oberschicht um gesellschaftliches Prestige und suchte sie zu umwerben. Die eleganten Feste im Offiziersclub waren „wie aus Tausendundeiner Nacht", schwärmt Oberst Pulido Barreto in Erinnerung an jene glorreichen Jahre militärischer Macht. „Alle Leute aus dem Coutitry Club gingen hin, und eben das war es, was Pérez Jiménez wollte: die gute Gesellschaft von Caracas für sich gewinnen." 83 Die „gute Gesellschaft" von Caracas aber wollte von einer solchen Annäherung nichts wissen. Zumindest als nach dem Ende der Diktatur die Presse voll der „unzensierten Enthüllungen" war, wurde der repräsentative Glanz, den die perezjimenistas zu entfalten gesucht hatten, als der verzweifelte Kampf einer nach Sozialprestige begierigen Gruppe von Parvenüs entlarvt. Mit Modellen von „Baimain oder Dior" und Schmuck von „Cartier, Arpéis und Winston", so berichtete die Zeitschrift Elite im März 1958, habe Flor de Pérez Jiménez den vornehmen Hauptstädterinnen den „Luxuskrieg" erklärt. Ihren neuen Reichtum auskostend, habe die Präsidentengattin keine Gelegenheit ausgelassen, „in allen Salons mit kostspieliger Kleidung und Schmuck Neid zu erregen", während die gute Gesellschaft „mit leiser Stimme" ihr Befremden über diese „Verschwendung" bekundete. 84 Geradezu von „Haß auf die Aristokratie", so hatte die vorige Ausgabe der Zeitschrift behauptet, sei Pedro Estrada beseelt gewesen, der Chef der berüchtigten Geheimpolizei Seguridad Nacional, den man, nach seiner Geburtsstadt Güiria auf der Halbinsel Paria im äußersten Osten des Landes, den „Schakal von Güiria" zu 82 83 84

Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 335 Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto vom 7. 11. 1988 Elite 22. 3. 1958

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nennen pflegte. Die „Minderwertigkeitsgefühle eines Mannes, der nichts als Geldnot" gekannt habe und sein „unbezähmbarer Wunsch, sich mit der Gesellschaft zu verbinden, die ihn wegen seiner Untaten abgewiesen hatte", so Elite, waren der Hintergrund für Pedro Estradas Heirat mit Alicia Urdaneta gewesen, einer auffallenden Schönheit aus besten Kreisen, deren Mann bei einem „mysteriösen" Autounfall ums Leben gekommen war. Viel Geld habe Don Pedro für seine Frau ausgegeben, nur „um alles zu übertreffen, was sich die Aristokratie hätte leisten können. Er baute ihr ein neues, luxuriös eingerichtetes Haus und kaufte ihr eine märchenhafte Garderobe." Anderthalb Millionen Bolívares - fast 4 0 0 0 0 0 Dollar sollen das Halsband und die Ohrringe gekostet haben, die Pedro Estrada der jungen Witwe zum Hochzeitsgeschenk machte und die sogar Flor de Pérez Jiménez „vor Neid erblaßen" ließen. 8 5 Will man der Interpretation von Elite

Glauben schenken, diente eine solch

verschwenderische Demonstration von Reichtum, indem sie darauf angelegt war, „Neid zu erregen", der Kompensation von gesellschaftlichen Ressentiments und verriet den Neureichen, der vergeblich um eine Anerkennung rang, die sich weder mit politischer Macht erzwingen noch mit Geld erkaufen ließ: Aller äußeren Eleganz zum Trotz konnten die Parvenüs ihre Herkunft nicht verbergen, und immer wieder offenbarten sich die „niedrigen Instinkte", die ihr Handeln scheinbar bestimmten. Diese Sichtweise fügte sich nahtlos in die politische Beurteilung der jüngsten Vergangenheit ein, über die nach dem Sieg der demokratischen Kräfte in allen Schichten der venezolanischen Bevölkerung Konsens zu bestehen schien. In Hinblick auf ihr gesellschaftliches Geltungsbedürfnis galten die Jahre der Herrschaft der Militärs nun ebenso als Rückfall in die Barbarei illegitimer und irrationaler Machtprätentionen wie hinsichtlich ihrer maßlosen politischen Machtansprüche. Wie zu Gómez Zeiten, so hieß es im nachhinein, hatten Emporkömmlinge das Gesetz des Stärkeren etabliert und damit jene Linie des Fortschritts unterbrochen, die nach 1936 von den Präsidenten López Contreras und Medina Angarita eingeleitet und von der wirtschaftlichen Elite des Landes getragen worden war. 8 6 Sich von der Willkürherrschaft einer Machtclique distanzierend, deren „roher Gewalt" auch die Oberschicht - wie nicht zum ersten Mal in der venezolanischen Geschichte - zum Opfer gefallen sei, wurde in der durch den Sturz der Diktatur ausgelösten öffentlichen Diskussion die Behauptung laut, es habe in Venezuela nie eine geschlossene oligarchische Kaste gegeben, sondern eine demokratische, für leistungsfähige Aufsteiger durchlässige Bourgeoisie. „Der aktuelle Gebrauch des Wortes ,Oligarchie' ist so etwas wie eine archäologische Wiederauferstehung; es

85

Elite

86

Salcedo-Bastardo, a.a.O., S. 4 8 4 - 8 5

15. 3. 1 9 5 8

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hat in unserem heutigen politischen Leben keinen realen Bezug", verkündete Arturo Uslar 1958 und wies darauf hin, daß seit der nationalen Unabhängigkeit mit einer einzigen Ausnahme 87 nie ein Vertreter der gesellschaftlichen Elite zur Präsidentschaft gelangt sei. Vielmehr müsse man von einer „Gruppe von Technikern und Unternehmerfiguren" sprechen, deren Position allein ihrer Kompetenz zuzuschreiben sei und die man nicht als Oligarchen disqualifizieren dürfe, weil das Land ihnen „viele seiner bemerkenswertesten Fortschritte zu verdanken" habe. So mobilisierte die etablierte Elite, die in Wirtschaft und Politik der neuen Demokratie eine zentrale Rolle spielen sollte, ihr schon zur Tradition gewordenes Image von der Bastion des Fortschritts gegen jene „anarchischen Instinkte, die uns als Nation immer wieder haben scheitern lassen", und trat demonstrativ als Verfechter von Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit und technischer Effizienz auf. 88 Ohne Zweifel war die Oberschicht aus den Jahren des Booms wirtschaftlich gestärkt hervorgegangen. Die Gunst der Stunde nutzend, hatte sie seit dem Ende der vierziger Jahre eine Vielzahl von Aktivitäten entfaltet, sei es in den Baugesellschaften und deren Zuliefererindustrien, die im Städtebau einen unaufhörlich expandierenden Markt fanden, sei es im Importhandel, in der entstehenden Konsumgüterindustrie oder der sich modernisierenden Landwirtschaft. Eine alteingesessene Hacendadofamilie wie die Sosa Rodriguez89 investierte das beträchtliche Kapital, das ihr der Verkauf von Landbesitz im Tal von Caracas bei schwindelerregend gestiegenen Grundstückspreisen eingebracht hatte, in gewinnbringende industrielle Aktivitäten und widmete sich der Herstellung von Schmierfetten. Die Familie Vollmer, Großgrundbesitzer deutscher Abstammung, die seit der Jahrhundertwende unter anderem eine florierenden Brauerei betrieben, bildete über zahlreiche Aktiengesellschaften mit den Gründern der Electricidad de Caracas die Gruppe Vollmer-Zuloaga, die Banken und Versicherungen besaß und sich ebenso in der Industrie wie im Immobilienhandel betätigte. Der vertraute Klang vieler der großen Namen der venezolanischen Wirtschaft der fünfziger Jahre bewies, daß auch andere ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt und den beispiellosen Wirtschaftsaufschwung des Erdöllandes zu nutzen gewußt hatten, so die Mendoza Goiticoa, Mendoza Fleury, Boulton, Phelps, Tello, Tamayo, Branger, Delfino oder Blohm. 90 Indem die Nachfahren der traditionellen Großgrundbesitzer sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts immer enger mit der städtischen Finanz- und Handelsbourgeoisie verbunden hatten, war eine wirtschaftlich und gesellschaftlich relativ 87 88 89 90

Gemeint ist Manuel Felipe Tovar, Präsident von Venezuela zwischen 1859 und 1861 Elite 3. 5. und 10. 5. 1958 ... denen unter anderem die heute zu einem zentralen Stadteil von Caracas gewordene Hacienda La Floresta gehörte ... Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 155 ff., 233 ff., 249 ff., 267, 398-404

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homogene Oberschicht entstanden, in der die seit dem 19. Jahrhundert in Venezuela ansässigen Kaufmannsfamilien ausländischer Herkunft noch immer eine zentrale Stellung einnahmen. Oft hatten eheliche Verbindungen ökonomische Allianzen bekräftigt, und das gesellschaftliche Prestige dieser durch Abstammung und bürgerlichen Wirtschaftserfolg doppelt „geadelten" Elite spiegelte sich in dem vornehmen Klang wider, den man seit langem zusammengesetzten Namen wie Phelps Tovar, Velutini Zuloaga oder Zuloaga Tovar zuzuschreiben gewohnt war. 91 Insofern als wirtschaftliches Durchsetzungsvermögen schließlich gesellschaftliche Anerkennung zu finden pflegte, und Aufsteiger oft durch Heiraten sogar familiär eingebunden wurden, mochte diese Gruppe also jenen ihrer Angehörigen als höchst durchlässig erscheinen, die sie - wie Arturo Uslar Pietri - nicht für eine Oligarchie, sondern für eine demokratische Bourgeoisie hielten. Aber es war wohl vor allem der Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern, der bei dieser Selbsteinschätzung den Maßstab lieferte. Mochten auch die Nachfahren der alten Kolonialaristokratie in Venezeuela keine so dominierende Rolle wie etwa in dem Nachbarland Kolumbien spielen, so hatte sich die Verbindung, die sie um die Jahrhundertwende mit dem wirtschaftlich erfolgreichen Handelsbürgertum eingangen waren, auf die Dauer als ausgesprochen exklusiv erwiesen. Die Unbefangenheit, mit der die Zeitschrift Elite 1958 im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Prätentionen eines Pedro Estrada die Oberschicht des Country Club, wie im damaligen Sprachgebrauch üblich, als „Aristokratie" bezeichnete, deutete auf den unmißverständlichen Anstrich von feudaler Distinktion hin, mit dem die etablierte Elite sich umgab. Daß diese trotz ihrer heterogenen Herkunft noch immer überschaubare Gruppe sich durchaus wirksam abzugrenzen wußte, zeigte die von den Mitgliedern des Country Club - dem nach wie vor vornehmsten Club von Caracas - betriebene gesellschaftliche Auslese, die angeblich zu Pérez Jiménez Entschluß beitrug, den Militärs ihren eigenen Club zu bauen. Die sogenannte „Aristokratie" definierte sich jedoch nicht nur über die institutionalisierte Exklusivität der Clubs, von deren Gesellschaftsleben sich manche ihrer ältesten und renommiertesten Mitglieder längst gelangweilt zurückgezogen hatten. 9 2 Subtilere, aber darum nicht weniger wirksame Abgrenzungsmechanismen hatte man in einem verfeinerten Lebensstil entwickelt, der mittlerweile auf eine gewisse Tradition zurückblickte. Es ist bereits die Rede davon gewesen, wie seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der wirtschaftliche Verschmelzungsprozeß von alter und neuer Elite in der Verbürgerlichung der traditionellen Oberschicht und der Feudalisierung der Bourgeoisie seinen Niederschlag gefunden

91 92

El Universal 22. 4. und 16. 12. 1953 Interview mit Alfredo Boulton vom 22. 8. 1988

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hatte. Beschrieben wurde auch, wie sich dabei die ostentative Fortschrittlichkeit eines aufgeklärten Bürgertums mit der verschwenderischen Repräsentativität eines feudalen Lebensstils und mit jener ästhetischen Geschmacksverfeinerung verband, die eine der Sphäre der materiellen Notwendigkeit enthobene „Noblesse" definiert. Offensichtlich hatten in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts „Schönheitssinn" und „Kunstverstand", die nur aus einer überlieferten Distinktion erwachsen, als elitäre Statusindikatoren nicht an Gültigkeit verloren. Diese Schlußfolgerung scheint zumindest die Schilderung eines Festes nahezulegen, das 1957 in der Villa von Johnny Phelps und seiner Frau Anita Boulton de Phelps im luxuriösen Valle Arriba Golf Club stattfand und das von der Frauenzeitschrift Páginas ausführlich kommentiert wurde. Unerläßlicher Bestandteil dieser Gesellschaftschronik war selbstverständlich die detaillierte Beschreibung von Kleidung und Schmuck der anwesenden Damen, wobei die aufsehenerregenden Hüte, die in jenen Jahren in Mode waren, nicht außer acht gelassen wurden. Die Rede war aber auch von der kostbaren Porzellansammlung der Phelps, die die elegante Gesellschaft zu bewundern Gelegenheit hatte und „unter der sich ein Tafelgeschirr befindet, das der Kaiserin von Rußland gehörte." Vor einem Gemälde von Renoir, so führte Páginas weiter aus, sei der „kubanische Maler Wilfredo Lanz" (sie!)93 anzutreffen gewesen, der, wie man seiner „gedankenverlorenen" Miene zu entnehmen glaubte, wohl darüber nachsann, „wie der geniale französische Künstler ein so schönes Kunstwerk zu schaffen vermochte." Anlaß dieses niveauvollen Zusammentreffens von „Schriftstellern, Künstlern, Diplomaten und vielen hervorragenden Vertretern der hauptstädtischen Gesellschaft" war die Verleihung eines Literaturpreises, den Anita Boulton de Phelps 1947 ins Leben gerufen hatte und der diesmal an die venezolanische Schriftstellerin Gloria Pinedo ging, die unter dem Pseudonym Gloria Stolk mit Amargo el fondo einen für die Zeit relativ gewagten, von zeitgemäßen Anleihen bei der Literatur des Existenzialismus durchsetzten Frauenroman geschrieben hatte. 94 Wenngleich im Lebensstil dieser gesellschaftlichen Elite deutliche Anklänge an jene Belle Époque zu spüren waren, in der sie ihre erste Blütezeit erlebt hatte, und Distinktion sich noch immer aus der Anknüpfung an neofeudale, europäische Lebensart und deren distinguierte Ästhetik der „reinen" Schönheit herleitete, so deutete doch vieles darauf hin, daß der Kultur in diesem Jahrzehnt eine neue Funktion zugesprochen wurde. Im modernen Venezuela der fünfziger Jahre, das nicht nur innerhalb kürzester Zeit einen jahrhundertealten wirtschaftlichen Rück93

94

Wilfredo Lam, 1902 In Kuba geborener Maler chinesischer Abstammung, hatte sich 1939 bei einer gemeinsamen Ausstellung mit Picasso In New York in der modernen Kunst einen Namen gemacht. Páginas 1 6 . 2 . 1 9 5 7

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stand aufgeholt hatte, sondern dessen Wohlstand es an die Spitze der lateinamerikanischen Staaten stellte, empfand man die konventionellen Kulturpraktiken der Vergangenheit als nicht mehr zeitgemäß. Der Oberschicht, die seit langem Fortschrittlichkeit mit Weltoffenheit gleichzusetzen pflegte, galt der europäisierende Pomp, den Guzmân Blanco im Teatro Municipal institutionalisiert hatte, mittlerweile als Indiz des kulturellen Provinzialismus.95 Inmitten einer sich unaufhaltsam verändernden Welt besann sich das gebildete Großbürgertum seiner überlieferten Vorreiterrolle und zeigte sich bestrebt, sich dem zeitgenössischen Kulturpanorama einzuschreiben, um auch auf diesem Gebiet modernem, internationalen Standard zu entsprechen. Nachdem in Europa und Nordamerika die künstlerische Avantgarde von einst als „Klassische Moderne" allgemeine Akzeptanz gefunden hatte, brachte auch die sich von jeher kosmopolitisch gebende venezolanische Elite den Klassikern der Moderne uneingeschränkte Bewunderung entgegen und bewies Offenheit gegenüber den zeitgenössischen Künstlern, die deren ästhetische Linie fortsetzten. Das Wirtschaftstraumland Venezuela wurde zu einem Eldorado moderner Kunst, und der rege Kulturbetrieb jener Jahre zeigt, wie das Streben nach Aktualität in allen Kunstrichtungen zu einer Erneuerung führte. Herausragende Persönlichkeiten des internationalen Kulturlebens wurden in dieser Dekade in die blühende südamerikanische Metropole eingeladen. So dirigierte Igor Stravinsky 1953 mehrere große Konzerte in Caracas, denen die besten Kreise der hauptstädtischen Gesellschaft beiwohnten. Wohlhabende Venezolaner konnten es sich leisten, ihre Häuser von renommierten ausländischen Architekten entwerfen zu lassen, und 1957 holten Armando und Anala Planchart mit Gio Ponti einen der hervorragendsten Vertreter der modernen italienischen Architektur ins Land. In manchen dieser Häuser - so auch in der Villa Planchart - waren als Dekoration die berühmten Mobiles des nordamerikanischen Bildhauers und Zeichners Alexander Calder zu sehen. Neben Künstlern wie Hans Arp oder Fernand Léger hatte Calder an der Gestaltung der als Gesamtkunstwerk entworfenen neuen Universität mitgewirkt, die dem venezolanischen Architekten Carlos Raul Villanueva internationalen Ruhm einbrachte. Auch die bildende Kunst Venezuelas befand sich im Aufschwung. Während der noch vom Impressionismus beeinflußte Armando Reverôn 96 mittlerweile als einer der wichtigsten Vertreter der modernen venezolanischen Malerei gefeiert wurde, gingen bei einer großen Ausstellung 1953 von privaten Kunstliebhabern gestiftete Preise an eine neue Generation von Malern wie 95

96

Pincda, Rafael, Conversación sobre teatro. La esperanza encerrada entre cuatro paredes, in: Revista Shell, núm. 5, diciembre de 1952, S. 18; vgl. auch ders., Pasado y presente del teatro en Venezuela, in: El Farol, núm. 150, febrero de 1954, S. 32 ff. Armando Reverón 1889-1954. Reveróns erster Bewunderer und Mäzen Alfredo Boulton spielte im Lauf des 20. Jahrhunderts bei der Entdeckung und Förderung bedeutender venezolanischer Maler und Bildhauer immer wieder eine entscheidende Rolle. Vgl. Boulton, Alfredo, La obra de Armando Reverón, Caracas 1966, sowie ders., Reverón, Caracas 1979

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Carlos Cruz-Diez, Vertreter der geometrischen Abstraktion, oder den vom Surrealismus beeinflußten Héctor Poleo. In diesen Jahren kam Louis Armstrong nach Caracas, im Kino waren Filme zu sehen, die wie Akira Kurosawas „Rashomon" neue künstlerische Wege einschlugen, und auf den Bühnen von Caracas, wo einst zarzuelas und spanische Melodramen die Herzen der Zuschauer rührten, kamen Stücke von Thornton Wilder oder Albert Camus zur Aufführung. Zur gleichen Zeit begann eine junge Generation venezolanischer Dramatiker in Erscheinung zu treten, zu der Namen wie Isaac Chocrón oder Román Chalbaud gehörten. 97 Von dem wachsenden Bedürfnis nach einer Aktualisierung der kulturellen Ausdrucksformen sprach auch die existenzialistische Pose, die - wie es den literarischen Moden der Zeit entsprach - der Roman von Gloria Stolk annahm, der 1957 in der eleganten Residenz des Ehepaars Phelps prämiert wurde. Das Buch erzählte die Geschichte einer jungen Frau aus reicher Familie, die nach einer schmerzlichen Ehescheidung ein selbständiges, aber zielloses Leben beginnt, um schließlich „Sklavin ihrer Leidenschaft" zu einem „oberflächlichen und egoistischen" Mann zu werden. Mit diesen Worten gab eine Mitarbeiterin der Frauenzeitschrift Páginas, die der gesellschaftlichen Elite entstammende Mary Matos de Pérez Matos, den Inhalt des Romans wieder und riet allen Lesern über vierzig von der Lektüre eines durch die radikale Neuartigkeit seiner Problemstellung schockierenden Buches ab, dessen Hauptfigur in „furchterregender Weise" dem 20. Jahrhundert angehöre. 98 Mit Romanfiguren, die sich auf die eine oder andere Weise mit „zutiefst existenzbewegenden Fragen" konfrontiert sahen, knüpften derartige schriftstellerische Versuche an zeitgenössische internationale Literaturströmungen an. Es war nicht von ungefähr, daß als Produzenten, Leser und Kritiker einer „trivialexistenzialistischen" Belletristik, deren von Zweifeln an sich selbst und an der Welt erschütterte Protagonisten in der Regel Angehörige der gesellschaftlichen Oberschicht waren, zunehmend Frauen in Erscheinung traten. 99 Der zeitgemäße Skeptizismus, der in den Romanen dieser Zeit einen „poetischmelancholisch" verklärten Niederschlag fand, beinhaltete jedoch trotz allem eine neue Entscheidungsfreiheit, die im Grunde zu optimistischen Hoffnungen Anlaß gab. Wirklich überwog im Gegensatz zu der in der Literatur kultivierten Illusionslosigkeit im Lebensgefühl dieser Dekade das Bewußtsein einer neuen Tatkraft, die aus der Befreiung aus sinnlos gewordenen Konventionen resultierte und die gut in ein von Aufbruchsstimmung geprägtes Zeitalter paßte. So hatte Gloria Stolk in den 97

98 99

Crónica de Caracas, núm. 13, febrero-abril de 1953, S. 272, 275; Elite 7. 12. 1957; El Universal 4. 2. 1951 und 1. 8. 1952; Salas, Cien años del Teatro Municipal, a.a.O., S. 156-57; Castillo, Susana, a.a.O., S. 83 ff. Páginas 25. 5. 1957 Zu diesen gehörte auch Narcisa Bruzual mit ihrem Roman „Guillermo Mendoza. La historia de un hombre atormentado" von 1952, etwa zu übersetzen als „Giullermo Mendoza. Geschichte eines Mannes, der leidet". Vgl. El Universal 3. 8. 1952

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Mittelpunkt ihres Romans bezeichnenderweise eine moderne Frau gestellt, die sich nicht mehr in die herkömmlichen familiären Bindungen einfügte: Der Bruch mit überkommenen gesellschaftlichen und moralischen Normen begann „salonfähig" zu werden, und machte sich bald in einem freizügigeren Auftreten des weiblichen Geschlechts bemerkbar. 100 Die Tatsache, daß Frauen aus den höchsten Gesellschaftskreisen aus dem engen häuslichen Rahmen ausbrachen und sich öffentlich für die Sache des „Feminismus" engagierten, schien wiederum - ähnlich wie es in der bewegten Dekade der zwanziger Jahre der Fall gewesen war - die fortschrittliche, vorurteilsfreie Denkungsart einer Oberschicht zu bestätigen, die flexibel genug war, um zeitgemäße gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand als tatkräftige Wegbereiterin weiblicher Unabhängigkeit Margot Boulton, die nach einer geschiedenen Ehe 1942 den Nordamerikaner Robert Bottome geheiratet hatte. Die Tochter einer der reichsten venezolanischen Unternehmerfamilien machte nicht nur durch gesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten von sich reden. Seit 1941 Leiterin des von ihr gegründeten Kulturzentrums Centro Venezolano-Americano, betätigte sich Margot Boulton zwischen 1947 und 1952 als Stadträtin von Caracas auch in der Politik und gründete 1954 die Gruppe Intercambio, mit ungefähr dreihundert Mitgliedern die erste internationale Frauenvereinigung Venezuelas. 101 Zu den gesellschaftlich und politisch aktiven Frauen dieser Zeit gehörte auch Alicia Larralde, deren stattliche Erscheinung bei keiner Veranstaltung fehlen durfte, die die Belange der Frauen betraf. Einer traditionsreichen Landbesitzerfamilie entstammend, war früh das kämpferische Temperament dieser Frau zutage getreten, die sich 1946 unter den beiden einzigen weiblichen Gründungsmitgliedern der großen christlichen Partei COPEI befand, während sie mit drei Ehen ein ausgesprochen bewegtes Privatleben führte. Wie andere Frauen ihrer Gesellschaftsschicht wußte Alicia Larralde ihr politisches Engagement, ihre Tätigkeit als Herausgeberin der Zeitschrift Ritmo und ihre Aktivitäten in nationalen und internationalen Frauenorganisationen mit einem regen gesellschaftlichen Leben zu verbinden. So organisierte sie etwa 1956 in ihrer Eigenschaft als Präsidentin des „Kommitees für die Unterstützung der ungarischen Patrioten", das als Reaktion auf den gescheiterten Aufstand in Ungarn gegründet worden war, im eleganten Hotel Tamanaco eine Benefizveranstaltung mit großem Diner, ungarischer Musik und Tanz sowie der Versteigerung von Gemälden und anderen kostbaren Gegen-

100 Vgl. Araujo, Orlando, Narrativa venezolana contemporánea, Caracas 1988, S. 2 3 3 - 3 7 101 Boulton de Bottome, Margot, Apuntes informales, Trabajo mecanografiado, Caracas 1985, Biblioteca Fundación J o h n Boulton; vgl. auch Elite 7. 12. 1957

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ständen, die die „Freunde Ungarns" gestiftet hatten. 1 0 2 Unerläßlicher Bestandteil dieses dynamischen, weltoffenen Lebensstils war ein reges Interesse an kulturellen Dingen. Zwischen 1952 u n d 1956 veranstaltete Alicia Larralde in ihrer Villa in La Florida die sogenannten „Literarischen Mittwoche", zu denen sich manchmal mehr als zweihundert Besucher einstellten. Hier bildete sich ein v o r n e h m e r Zirkel von „Künstlern, Diplomaten u n d Angehörigen der besten Gesellschaftskreise", die zusammenkamen, u m musikalischen oder tänzerischen Darbietungen beizuwohnen, u m Dichterlesungen zu hören oder den Vorträgen zu lauschen, die gelegentlich ein europäischer Botschafter über sein Land gab u n d die er womöglich mit Dias oder einem Film begleitete. 103 Z u n e h m e n d spielten Frauen also ein Rolle im öffentlichen Leben u n d traten in der Politik, in Presse u n d Literatur, im Berufs- u n d Gesellschaftsleben in den Vordergrund. Daß nicht alle sich den Anforderungen gewachsen fühlten, die das m o d e r n e Leben an sie stellte, schien die Existenz von Einrichtungen wie der des ausschließlich für Frauen bestimmten Sanatoriums Altamira in Chacao zu belegen, das sich für die „Behandlung v o n Krankheiten nervöser u n d mentaler Art" empfahl, für „Rekonvaleszenzen, Liegekuren oder Hospitalisierung". 1 0 4 Der Bedarf an psychiatrischer u n d psychotherapeutischer Behandlung, der in diesen Jahren entstand, weist auf die Schwierigkeiten hin, mit d e n e n sich jene konfrontiert sahen, die dem eleganten, gebildeten u n d aktiven Typus der m o d e r n e n Frau zu entsprechen suchten. Inzwischen wuchs jedoch eine junge, selbstbewußtere Generation heran, für die gewisse Freiheiten allmählich zur Selbstverständlichkeit wurden. Mit einem großen Bankett in einem Hotel von New Orleans, bei dem das durch Film u n d Schallplatten international bekannte Orchester von Xavier Cugat aufspielte - so berichteten 1952 die Gesellschaftsseiten von El Universal - feierte die Familie Villasmil den erfolgreichen Abschluß des Chemiestudiums ihrer Tochter Carmen Edilia, die sich seit 1946 zur Ausbildung in Nordamerika befand. 1 0 5 W ä h r e n d das Streben n a c h kultureller Modernisierung, das in den fünfziger Jahren spürbar wurde, den Frauen zu größerer gesellschaftlicher Präsenz verhalf, stellte der „ h o h e " kulturelle Anspruch der Oberschicht nach wie vor eines ihrer charakteristischsten Distinktionsmerkmale dar. Sich auf eine Bildungstradition berufend, die v o n Neulingen durch nichts aufzuholen war, stand die kulturelle Betriebsamkeit, die die Oberschicht in diesen Jahren entfaltete, stets u n t e r dem Vorzeichen des v o r n e h m e n Abstandes, den m a n gegenüber sozialen Aufsteigern zu wahren gewillt war. Wie Pierre Bourdieu in seiner Soziologie der Lebensstile auf102 Larralde, Alicia, Lo que quiero recordar. Desde Teresa de la Parra, Marcos Pérez Jiménez hasta el cambio, Caracas 1969, S. 140, 1S7 103 Interview mit Alicia Larralde vom 9. 3. 1990 104 El Universal 4. 8. 1952 105 Ebd.

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gezeigt hat, kann sich gesellschaftliche Distinktion in dem nur durch eine familiale oder ständische Überlieferung von kultureller Verfeinerung zu erwerbenden Vermögen ausdrücken, „zwischen .Echtem' und »Imitiertem', zwischen ,wahrer' Kultur und ,Massenkultur'" zu unterscheiden. 106 Als Imitatoren mochten in diesem Sinne der etablierten Elite all jene Parvenüs gelten, die zu politischer oder wirtschaftlicher Macht gekommen waren, aber deren aufgesetzte und illegitime Statusprätentionen sie nicht nur gesellschaftlich, sondern auch kulturell unglaubwürdig machten. So fiel es anspruchsvolleren Zeitgenossen nicht schwer, in dem von propagandistischen Absichten geleiteten kulturellen Gebaren der Militärs - wie es in dem künstlich-pompösen Folklorismus des indianischen Balletts „Tamanaco" Ausdruck fand - Beweise für deren schlechten Geschmack und die Oberflächlichkeit ihres patriotischen Gebarens zu entdecken. 107 Die kosmopolitische hauptstädtische Oberschicht hatte schon an dem kulturellen Nationalismus der dreißiger Jahre aktiv teilgehabt, und wenn sie sich auch in den fünfziger Jahren von der allgemeinen Rückbesinnung auf einheimische Traditionen nicht ausschloß, so bediente sie sich eines „seriöseren", „niveauvolleren" Stils, der deutliche Grenzen zwischen wahrem und imitiertem Nationalismus zu ziehen schien. An die großbürgerliche Bildungstradition anknüpfend, betrieb man eine wissenschaftlichere, „profundere" Suche nach den kulturellen Wurzeln und Besonderheiten Venezuelas und wußte gegen die Übertreibungen eigennütziger Propagandisten jene Diskretion und Schlichtheit zu setzen, die das Gütesiegel des Authentischen ist. 108 Als eine Illustration derartiger kultureller Abgrenzungsmechanismen wirkt ein Artikel, den die Frauenzeitschrift Páginas 1957 einer weiteren künstlerisch tätigen Frau aus den besten Gesellschaftskreisen widmete. María Luisa Zuloaga de Tovar, so wurde berichtet, habe in Venezuela Neuland betreten, als sie 1939 beschloß, sich mit der Keramik einer Kunst zuzuwenden, die „so alt wie die Menschheit ist." Auf der Suche nach klassischen Vorbildern habe sie sich auf Studienreisen nach Europa vor allem in Spanien und Italien aufgehalten, sich aber auch nach Mexiko und zu den für ihre Töpferkunst berühmten nordamerikanischen Navajo-Stämmen begeben - und nur diesen gründlichen Studien habe die Künstlerin ihren Erfolg zu verdanken. Ihr exquisites Porzellan, das alljährlich im „Museum der Schönen Künste" ausgestellt werde, sei auf dieser soliden Grundlage zu einem authentischen Ausdruck venezolanischer Kultur geworden, denn zu den Motiven, die die Keramikerin für ihre Dekors verwendete, gehörten die Vögel der einheimischen Fauna, die vorgeschichtlichen Felszeichnungen der venezolanischen Ureinwohner, volkstümliche Sprichwörter oder die Darstellung typischer nationaler Tänze oder 106 Bourdleu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 389 107 El Universal 23. 12. 1953 108 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 388

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Gebräuche. „In der großen Werkstatt, die sie in ihrem Haus besitzt, arbeitet Maria Luisa Zuloaga unermüdlich. (...) Unbeeinflußt von der Gunst des Publikums und jedes öffentliche Aufsehen scheuend, (...) setzt sie ihre Studien in der Überzeugung fort, daß der Künstler nur in der steten Hingabe an seine Arbeit die Erfüllung findet." 1 0 9 In diese Linie von kulturell gehobener Beschäftigung mit der volkstümlichen Tradition gehörte Uslar Pietris 1953 erschienenes Buch Tierra Venezolana,

in dem

er zu einer literarischen Erkundung der Geographie und Sitten des Landesinneren aufbrach, ebenso wie die Essays, die in Zeitschriften und Zeitungen die indianischen und afrikanischen Wurzeln Venezuelas zum Gegenstand historischer und anthropologischer Betrachtungen machten, ohne daß es die Autoren an gelehrten Anspielungen auf eine humanistische Bildungstradition hätten fehlen lassen. 1 1 0 Auch mit einer anspruchsvollen Literatur des kulinarischen criollismo,

die der

kreolischen Küche zu neuem Prestige verhalf, 1 1 1 oder mit der Architektur eines Villanueva oder Fruto Vivas, die überlieferte ländliche Bauweisen geschmackvoll modernisiert in das Ambiente kultivierten städtischen W o h n e n s übertrugen, fanden Elemente der Volkskultur - zu Folklore stilisiert - Eingang in das Inventar großbürgerlicher Kulturpraktiken. Dabei waren internationale ästhetische Strömungen, die das Moderne dem Archaischen nähergerückt und ein umfassendes Interesse für primitive und volkstümliche Kunst geweckt hatten, auf die neue Folklorebegeisterung der venezolanischen Oberschicht nicht ohne Einfluß gewesen. So paßte man sich dem Geschmack der Zeit an und entsprach gesellschaftlichen Forderungen nach kultureller Volkstümlichkeit, ohne sich eines wichtigen Abgrenzungsmechanismus zu entblößen: der kulturellen Distinktion. Mochte man also auch Geschmack an den farbenfrohen Besonderheiten der venezolanischen Kultur gefunden haben, so hatte dies dem gewohnten Bestreben der Oberschicht nach kosmopolitischer Weitläufigkeit keinen Abbruch getan. Nach wie vor war der Lebensstil der Elite auf das vornehme Europa ausgerichtet. Obwohl Vallenilla Lanz jr. behauptet hatte, daß bereits in den dreißiger Jahren der alte Kontinent bei den wohlhabenden Venezolanern „außer Mode" gekommen sei, 1 1 2 gehörten ausgedehnte Europareisen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zur gesellschaftlichen Konvention. Ganz wie es zu Beginn des Jahrhunderts üblich gewesen war, verkündeten die Gesellschaftseiten der Zeitungen und Zeitschriften die Namen jener, die sich für Monate, ein Jahr oder gar länger nach Europa

109 Páginas 22. 6. 1957 110 Armas Chitty, J.A. de, Así se integró nuestro pueblo, in: El Farol, núm. 150, febrero de 1954, S. 10-13 111 Vgl. etwa Boulton, Alfredo, Copas y platos de la casa. Precedidos de un anuncio del maestresala y seguidos de la siesta, Pampatar 1957 112 Vallenilla Lanz, Allá en Caracas, a.a.O., S. 298

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b e g a b e n . 1 1 3 Nachdem man, wie Arturo Uslar Pietri berichtete, während der „großen europäischen Krise" mit einer gewissen Geringschätzung auf den scheinbar im Niedergang befindlichen Kontinent geschaut hatte, waren nun kulturell anspruchsvolle Reiseberichte aus der Alten Welt wieder en vogue. „Herbst in Europa" hieß das Buch, das Uslar Pietri 1954 mit Fotografien seines Cousins Alfredo Boulton über eine Reise veröffentlichte, die Madrid, die Cöte d'Azur und Paris zu ihren Stationen machte. Die Idealisierung von europäischer Kultur, die in einem anderem Reisebericht, nämlich in Jean Aristeguietas „Poesia-amor de Europa" von 1950 überschwenglich poetische Ausmaße annahm, war jedoch nur einer der Aspekte, der Europas bleibendes Prestige erklärte. Unverminderte Anziehungskraft übten auch die exklusiven Vergnügungszentren der internationalen High-Society aus. Während im Winter in Sankt Moritz und im Sommer in Nizza stets eine Gruppe von wohlhabenden Venezolanern anzutreffen war, glänzte Paris unverändert als „Mekka des Luxus" und des eleganten Nachtlebens. 114 Um Einkäufe zu machen oder sich zu vergnügen, reiste man indessen ebenfalls immer häufiger in die nordamerikanischen Metropolen, in die Berge von Vermont oder an die Strände von Barbados. Der angelsächsische Rationalismus der nördlichen Nachbarn, der einst das Mißfallen der Lateinamerikaner erregt hatte, war längst in eine Atmosphäre von moderner Eleganz getaucht, die ihre Wirkung auf die wohlhabenden Venezolaner nicht verfehlte. In den teuersten Restaurants von New York und Paris hatte ein Lebemann wie Reinaldo Herrera Uslar einen festen Tisch, so behauptete dessen Jugendfreund Vallenilla Lanz in seinen Memoiren und bezeichnete Reinaldo als einen jener „Spezialisten des frivolen Lebens", für die die Bar des Hotel Ritz von größerer Bedeutung als der Louvre war und die mit jener „Fauna" Umgang pflegten, die auf den Titelblättern internationaler Zeitschriften von sich reden machte. 115 Als Besitzer der Hacienda La Vega,116 dem bei weitem prunkvollsten noch bewohnten Kolonialhaus im Tal von Caracas, hatte Reinaldo Herrera Uslar einen ausgesprochen feudalen Hintergrund aufzuweisen. Seine prominente Erscheinung, die in Caracas bei keinem größeren gesellschaftlichen Ereignis fehlen durfte, 117 schien nicht nur die unerschütterliche Auslandsorientierung der Elite zu illustrieren, sondern auch die unveränderte Gültigkeit zu belegen, die die überlieferte „Ethik der Verschwendung" in dem prosperierenden Erdölland offenbar besaß. 113 El Universal 4. 8. und 5. 8. 1952 114 Uslar Pietri, Arturo, El otoño en Europa. Septiembre - diciembre 1952, con seis fotografías de Alfredo Boulton, Caracas 1954, S. 9-10, 67, 71 115 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 404 116 Zur Geschichte der 1590 gegründeten Hacienda La Vega vgl. El Nacional 9. 12. 1989. 117 So war Herrera Uslar stets an der Organisation der Veranstaltungen beteiligt, die im Zusammenhang mit den Wahlen zur Miss Venezuela alljährlich in eleganten Clubs und Hotels stattfanden. Vgl. El Universal 1. 7. 1955; Páginas 6. 7. 1957

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Obwohl die Extravaganz eines Reinaldo Herrera Uslar sicherlich nicht die Regel war, setzte der Typus des Rentiers, der sein Geld ostentativ und mit leichter Hand ausgibt, durchaus noch Maßstäbe. In Interviews befragte Zeugen der Zeit berichten übereinstimmend von den „großen Herren, die absolut nichts taten", außer in vollen Zügen jene „glamouröse Epoche" eleganter Vergnügungen auszukosten, die der erste große Höhepunkt des Wirtschaftsbooms Venezuela in den fünfziger Jahren beschert hatte. „Viele meiner Freunde lebten von ererbten Vermögen", erinnert sich Antonio Julio Branger, Angehöriger einer Industriellenfamilie aus Valencia, der selbst lebemännische Vergnügungen mit dem Aufbau einer der modernsten Viehzuchtfarmen Venezuelas zu verbinden wußte. Als erfahrener Kenner des bewegten Nachtlebens jener Dekade bezeichnet er als einen der Treffpunkte seiner müßiggängerisehen Freunde den eleganten Nachtclub Maxim's, wo manche allmonatlich Rechnungen von Tausenden von Bolívar zu begleichen hatten. 118 Wie Reinaldo Herrera Uslar waren andere Großgrundbesitzer, die in Stadtnähe Land verkauft hatten, zu bedeutendem Kapital gelangt, und viele traditionsreiche Namen waren unter den Gründern der Urbanisierungs- und Baugesellschaften zu finden, die in diesen Jahren wie Pilze aus dem Boden schössen. 119 Während das schwindelerregende Wachstum der Stadt den Immobilienhandel und das Baugewerbe über Nacht zum Millionengeschäft gemacht hatte, ermöglichte der expandierende städtische Markt und die starke einheimische Währung auch in dem florierenden Importhandel beträchtliche Gewinnspannen. Angesichts ihrer Vorliebe für schnelle Geschäfte mit größtmöglichen Profiten schien es, als ließen die Venezolaner sich von einer überlieferten Neigung zu Muße und Verschwendung fortreißen, anstatt all ihre Energie aufzubieten, um die Einkünfte aus dem Öl in die Grundlagen einer soliden wirtschaftlichen Zukunft zu kanalisieren. Vor diesem Hintergrund hinterfragten kritische Geister immer eindringlicher das Image von Effizienz, mit dem die „moderne" venezolanische Unternehmerschaft der fünfziger Jahre sich umgab. Der Politologe Domingo Alberto Rangel stellte in der öffentlichen Diskussion von 1958 der These von einer fortschrittlichen, leistungsorientierten Bourgeoisie die Behauptung entgegen, der wirtschaftliche Rückstand Venezuelas sei in erster Linie auf die Dominanz einer „Handelsoligarchie" zurückzuführen, die sich gegen jede produktive Arbeit sperre und die Wirtschaft einseitig auf den Konsum von importierten Waren ausrichte. Selbst in

118 Interview mit Antonio Julio Branger vom 7. 1. 1990; Interview mit Leopoldo Fontana vom 7. 4. 1990; Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 339; El Universal 3. 2. 1951. Zu den eleganten Nachtclubs und Bars jener Dekade gehörten auch Le Mazot, Hector's, Pasapoga, Tony's, Montmartre oder Mi vaca y yo. Vgl. República de Venezuela, Ministerio de Fomento, Dirección de Turismo, Guía turística de Caracas, a.a.O., S. 56 119 Plaza, in: Machado de Acedo, a.a.O., S. 223

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ihren industriellen Aktivitäten sei die Unternehmerschaft nur auf die schnellen Profite einer oft mit ausländischem Kapital assoziierten Konsumgüterproduktion ausgerichtet. Die industriellen Glanzleistungen der venezolanischen Unternehmer, so hatte Rangel bereits in einem seiner Bücher behauptet, beschränkten sich im wesentlichen auf die Herstellung von Alkoholika oder Erfrischungsgetränken und auf eine im Sinne der nationalen Wirtschaftsproduktivität sterile Bauindustrie. 120 Wirklich mochten die besonderen wirtschaftlichen Gegebenheiten, die aus der Boomsituation entstanden, zu einer fatalen ökonomischen Bequemlichkeit verleiten, zu einer kurzsichtigen Ausrichtung auf eine möglichst mühelose und rasche Bereicherung. Dabei wußten auch ehrgeizige Aufsteiger die zahllosen Möglichkeiten zu nutzen, die der legendäre venezolanische Reichtum dem cleveren Geschäftsmann bot. Wenn fast überall in Lateinamerika zu beobachten war, daß auch die Oberschicht von der rapiden Vermassung der Städte nicht verschont blieb, so galt dies erst recht für das unaufhörlich prosperiende Erdölland. 121 Sei es in der Immobilienspekulation oder im Baugewerbe, sei es im Handel oder in der Industrie: auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens war eine neue obere Mittelschicht herangewachsen, die immer größeren Wert auf gesellschaftliche Repräsentativität legte. Der Vorwurf der bedenkenlosen Verschwendung sollte besonders diese Gruppe treffen, die ihren Reichtum angeblich ebenso schnell ausgab, wie sie ihn erworben hatte, und deren prätentiöser Lebensstil immer wieder zum Inbegriff der negativen Folgen der Kultur des Erdöls erhoben wurde. 122

Neureiche Konkurrenz: Der Mythos des schnellen Geldes Wie war es nun gegenüber den mit dem Erdölboom immer zahlreicher werdenden Aufsteigern in der Praxis um jene „Durchlässigkeit" bestellt, die aus der gesellschaftlichen Elite Venezuelas - wie deren Angehörige selbst behaupteten keine Oligarchie, sondern eine demokratische Bourgeoisie machte? „Der beste Beweis dafür, daß in unserer Bourgeoisie kein oligarchischer Geist herrscht, ist der, daß sobald ein Kaffeeröster Millionär wird, sein Name die Liste der Mitglieder des Country Club ziert", behauptete 1958 die Zeitschrift Elite.123 Doch wenn die 120 121 122 123

Elite 10. 5. 1958; Rangel, Venezuela, país ocupado, a.a.O., S. 116, 120 Romero, José Luis, a.a.O., S. 347 Vgl. Rangel, Venezuela, país ocupado, a.a.O., S. 210 Elite 10. 5. 1958

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traditionellen und die erfolgreichen bürgerlichen Eliten des vorigen Jahrhunderts in der Tat zu jener mehr oder weniger homogenen Gruppe verschmolzen waren, die man als die „Aristokratie" des Country Club zu bezeichnen pflegte, fiel es den Neuaufsteigern des 20. Jahrhunderts keineswegs leicht, Zugang zu diesen elitären Gesellschaftskreisen zu finden. Grundsätzlich stand das zwar jedem offen, der - wie der Gesellschaftschronist Leopoldo Fontana in einem Interview die Situation im Rückblick beschreibt - „kein Schwarzer" war, über gewisse berufliche Qualifikationen verfügte und Kulturpraktiken wie „Bridgespielen" beherrschte. 124 Aber trotz der teils engen geschäftlichen Zusammenarbeit von etablierten und neuen Unternehmern konnten sich die Grenzen im gesellschaftlichen und privaten Umgang als äußerst dauerhaft erweisen. Während die Clubzugehörigkeit ohne Zweifel das prägnanteste institutionalisierte Unterscheidungsmerkmal war, galt im privaten Bereich nicht jener als der gesellschaftlichen Elite zugehörig, dessen Einladungen diese nachkam, sondern der, dessen Einladungen auch erwidert wurden. Unverkennbare Barrieren waren dabei bereits zwischen den „guten Familien" von Caracas und denen aus dem Landesinneren zu spüren. Besonders wenn diese erst im Rahmen des jüngsten Massenzuzugs in die Hauptstadt gekommen waren, galten die Unterscheidungen, „die schon immer für den Hofadel und den Provinzadel gegolten haben" - so die Einschätzung von Leopoldo Fontana, der selbst einer Familie aus dem Landesinneren entstammt. 125 Der „Provinzadel", der in der Regel auf den gleichen Verschmelzungsprozeß von Großgrundbesitzer- und Handelselite zurückging wie die hauptstädtische „Aristokratie" des Country Club, entfaltete in Caracas zum Teil in eigenen regionalen Clubs wie dem Club Táchira, der Casa de los Llanos oder der Casa Anzoátegui ein paralleles Gesellschaftsleben.126 Die neue obere Mittelschicht drängte gleichzeitig in den Club Paraíso, dessen Prestige auch deshalb im Schwinden war, weil das elegante Caracas immer weiter von dem einst vornehmen Stadtteil El Paraíso fortrückte und sich nach Osten verlagerte. Während der traditionsreiche Club in den fünfziger Jahren seine letzten glanzvollen Momente erlebte, entstanden neue elegante Freizeiteinrichtungen, die dem wachsenden Bedarf nach gesellschaftlicher Repräsentanz entgegenkamen. Zu diesen gehörte der Club Hípico, der am südlichen Rand von Caracas gelegene Reitclub. 127 Reiter aus dem Country Club nahmen an den großen Wettbewerben teil, die hier veranstaltet wurden, aber unter den regelmäßigen Besuchern des

124 125 126 127

Interview mit Leopoldo Fontana vom 7. 4. 1990 Interview vom 7. 4. 1990 El Universal 4. 8. 1952; Goldberg, a.a.O., S. H 4 República de Venezuela, Ministerio de Fomento, Dirección de Turismo, Guia turística de Caracas, a.a.O., S. 67

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Vereins waren vor allem jene anzutreffen, die ihrerseits keinen Zugang zu dem nach wie vor vornehmsten Club von Caracas hatten. Aus der Mittelschicht der Venezuela im Osten vorgelagerten Insel Margarita stammte Alejandro Hernández, der Mann, der vom bescheidenen Likörfabrikanten, als der er 1938 angefangen hatte, innerhalb weniger Jahre zum Großindustriellen in der Getränke- und Lebensmittelbranche geworden war. „Um mit der Tradition zu brechen, nach der den gesellschaftlichen Clubs nur die Oligarchie und ihre Freunde angehören durften", berichtete Hernández in seinen Memoiren, habe er Mitte der vierziger Jahre gemeinsam mit einigen Freunden beschlossen, am äußersten östlichen Stadtrand den Club Los Cortijos zu gründen. „Wir waren (...) Industrielle, Kaufleute, Landwirte, Bankiers, Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure, Militärs, Berufspolitiker und Handelsangestellte. Die Traditionalisten nannten uns geringschätzig den ,Club der Krämer' von Caracas." 128 Diese Gruppe, die in Los Cortijos mit Tanz- und Musikveranstaltungen die Folkloretraditionen Venezuelas aufleben ließ, verstand sich als Wegbereiter mittelständischer Durchsetzungskraft gegenüber der Oligarchie und war auf ein Image von volksnahem Nationalismus bedacht. So befanden sich auf dem Clubgelände eine Hahnenkampfarena, ein Platz für das traditionelle kreolische Kugelspiel, die bolas criollas, und eine Anlage für toros coleados.129 Die Tatsache, daß für die junge Generation der Clubmitglieder jedoch der elegante und kostspielige Reitsport die wichtigste Rolle spielte und sich in Los Cortijos auch Gelegenheit bot, Tennisspielen zu lernen, spricht von dem Bestreben der Eltern, eine flexiblere Jugend mit elitären Kulturpraktiken vertraut zu machen. Auch die eleganten Feste, die in den weitläufigen modernen Clubräumen und im Garten bis zu 6000 geladene Gäste versammelten, weisen auf die Repräsentationsmodelle der Oberschicht hin. 1 3 0 Einer der Mitbegründer des Clubs Los Cortijos war der Präsident von Pepsi-Cola gewesen, Pedro Monsanto. Als echter Selfmademan hatte Monsanto 1940 aus Nordamerika die Lizenz für die Herstellung des Erfrischungsgetränks mitgebracht und - selbst ohne finanzielle Mittel - mit der Hilfe einheimischer Kapitalgeber Venezuela zu dem zweiten Land der Welt nach Kuba gemacht, wo außerhalb der Vereinigten Staaten Pepsi-Cola hergestellt wurde. Der „kleine, rundliche Mann", der mit dem neuen Produkt einen kommerziellen Volltreffer gelandet hatte, änderte, wie sein Sohn in einem Interview berichtet, auch in finanziell unabhängigeren Jahren seine Freizeitgewohnheiten kaum und hielt vor allem an dem traditionellen Dominospiel fest, das sich im „Jahrzehnt der Militärs" großer 128 Rodríguez, Jose Angel, Alejandro Hernández, a.a.O., S. 155 129 República de Venezuela, Ministerio de Fomento, Dirección de Turismo, Guía turística de Caracas, a.a.O., S. 65 130 Páginas 14. 9. 1957; vgl. auch Goldberg, a.a.O., S. J 5

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Popularität erfreute. Obwohl die Monsanto im Club Los Cortijos die erwünschte gesellschaftliche Repräsentanz fanden, obwohl sie ausgedehnte, ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung gemäße Reisen nach Europa unternahmen und ihren Sohn wie es die Elite damals zu tun pflegte - zur Ausbildung in die Vereinigten Staaten schickten, drückte sich die Außenseiterposition dieser „Neureichen" nicht zuletzt in der Bedeutung aus, die „die große Pepsi-Cola-Familie" für das Freizeitleben der Monsanto besaß, das sich zum großen Teil in firmeneigenen Sportclubs in dem Industriegebiet von Guatire abspielte. 131 Nicht nur der aufstrebenden Unternehmerschaft, sondern auch den meist aus mittleren oder unteren Bevölkerungsschichten stammenden Offizieren bot der Club Los Cortijos einen repräsentativen Rahmen, mit dem sie ihren jüngst erworbenen Status zu unterstreichen vermochten. Auf eleganten Festen, die der Präsident und seine Minister zu beehren pflegten, empfingen Oberst Pulido Barreto und seine Frau in ihrem Haus Angehörige der vornehmsten Gesellschaftskreise, und es war dem Ehepaar gelungen, Mitglieder des renommierten, erst im Aufbau begriffenen Valle Arriba Golf Club zu werden. Aber die Pulido Barreto hielten sich viel in Los Cortijos auf, während ihre Söhne dort und im Club Hípico ritten. 132 Dabei war es kein Geheimnis, daß Alejandro Hernández, der Gründer von Los Cortijos, wegen seiner Verbindungen zu der seit 1948 im Untergrund arbeitenden Partei Acción Democrática mit der Regierung nicht auf gutem Fuß stand. 133 Die neuen Clubs, in denen die verschiedenen Angehörigen der Mittelschicht zusammenfanden, machen die Gemeinsamkeiten deutlich, die sie trotz vordergründiger politischer Differenzen miteinander verbanden: einerseits ein kultureller Nationalismus, der die volkstümliche Verwurzelung einer Gruppe betonte, die sich gegen die Privilegien der Oberschicht durchzusetzen suchte und einen stärker auf soziale Integration ausgerichteten Nationsgedanken zu verkörpern schien; andererseits ein Repräsentationsstreben, das sich an den von der Elite etablierten Modellen orientierte. Die fünfziger Jahre wurden so, ganz wie Pérez Jiménez es erklärtermaßen anstrebte, zur Dekade einer erstarkenden Mittelschicht, die wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich immer größeren Raum beanspruchte. Der Club Los Cortijos gewährte indessen auch den Angehörigen einer anderen Gruppe Zugang, die in der venezolanischen Wirtschaft und Gesellschaft stets eine wichtige Rolle gespielt hatte: nämlich den Einwanderern verschiedenster Herkunft, die in den Jahren des Booms nicht selten bemerkenswerte unternehmerische Aktivitäten entfaltet hatten. Seit langem integriert waren die Einwanderer des 19. Jahrhunderts, und man empfand italienische, korsische oder französische 131 Interview mit Pedro Monsanto Barrios vom 10. 4. 1990 1 3 2 Interview mit Oberst Carlos Pulido Barreto vom 7. 11. 1988 133 Rodríguez, José Angel, Alejandro Hernández, a.a.O., S. 161; Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 3 0 9 - 1 0

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Namen wie Cupelo, Velutini und Branger als ebenso venezolanisch wie Senior oder Capriles, die Namen christianisierter jüdischer Familien, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von der holländischen Karibikinsel Curaçao nach Venezuela gekommen waren. 134 Äußerst wohlhabende Geschäftsleute und Unternehmer gab es um 1950 jedoch auch unter den Nachfahren von Libanesen und von sephardischen Juden aus Nordafrika, die Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts eingewandert waren. Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg waren aus Mitteleuropa die Aschkenasim gekommen, denen häufig eine solide Berufsausbildung zu einer günstigen Ausgangsposition verhalf. Von dem venezolanischen Wirtschaftsboom wußten ebenfalls manche der Italiener, Portugiesen und Spanier zu profitieren, die in der Nachkriegszeit zu Tausenden aus den verarmten Mittelmeerländern nach Venezuela strömten. 135 An der gesellschaftlichen Anerkennung, die man den wirtschaftlich leistungsfähigen Einwanderern, die mit der einheimischen Unternehmerschaft geschäftlich oft in engem Kontakt standen, zuzugestehen bereit war, sind die Abgrenzungs- und Annäherungsmechanismen zwischen alten und neuen Eliten besonders deutlich zu erkennen. Das Kapital, das ihre um die Jahrhundertwende aus Marokko eingewanderten Väter als Kaufleute erwirtschaftet hatten, ließ seit den vierziger Jahren aus Familien sephardischer Herkunft - wie den Benacerraf, Benarroch, Benaim oder Sabal große Bankiers, Industrielle und Handelsunternehmer hervorgehen. 136 Während ihr hispanischer Hintergrund den Sephardim bei der Anpassung an die neue Umgebung zugute kam und einzelne, weniger traditionalistische Familien wie die Sabal sogar in die gesellschaftliche Elite einheirateten, haftete ein Hauch von womöglich allzu orientalischer „Exotik" lange Zeit den Libanesen an. Diese waren ihrerseits relativ wenig auf Integration bedacht, blieben sprachlich und kulturell der arabischen Welt verbunden und heirateten meist entweder innerhalb der libanesischen Kolonie oder holten ihre Ehepartner aus dem Libanon. Zu großem Wohlstand hatten es der Schuhfabrikant Färsen Ramia, der Kaufmann Julián Karam oder die Brüder José und Luis Farage gebracht, aber die wirtschaftlich herausragendste libanesische Familie waren die Dao, die 1954 die Banco del Caribe gründeten. Im hauptstädtischen Gesellschaftsleben blieben die Bankiers jedoch 134 Obwohl die jüdische Abstammung seiner Familie zumindest bei seinen politischen Gegnern nicht in Vergessenheit geraten war, ist der Lebensweg von Miguel Angel Capriles, der in den vierziger und fünfziger Jahren zum Besitzer einiger der wichtigsten venezolanischen Zeitungen und Zeltschriften wurde, der eines Angehörigen der venezolanischen Mittelschicht. Vgl. Capriles, Miguel Angel, Memorias de la inconformidad, Caracas 1973, S. 359 135 Troconis de Veracochea, Ermila, El proceso de la Inmigración en Venezuela, Caracas 1986, S. 189-191, 272-276 136 Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 185; Bendahan, Daniel, Personajes de mis recuerdos, Caracas o.J; Chocrón, Isaac, Semana Sefardí: Privilegio y responsabilidad, In: Escudo. Revista Trimestral de la Asociación Israelita de Venezuela y del Centro de Estudios Sefardíes de Caracas, núm. 49, octubre-diciembre 1983, S. 16-19

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lange Zeit Außenseiter. Die Dao wurden zwar zu großen Festen in die eleganten Villen des Country Club eingeladen, aber im wesentlichen beschränkte sich der gesellschaftliche Verkehr auf derartige Förmlichkeiten. 137 Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, daß die Dao in einem anderen Zusammenhang von sich reden machten: Liebhabern des Pferdesports war Miguel Dao als ein Mann bekannt, der für den Kauf von importierten Rennpferden Zehntausende von Bolívar ausgab. 138 Obwohl einige der traditionsreichsten Familien, die am Jahrhundertanfang der Rennbahn ihren ersten Glanz verliehen hatten, sich in den vierziger Jahren von ihrem alten Hobby zurückgezogen und ihre Pferde verkauft hatten, wurde die Rennbahn von El Paraíso, die mit dem geradezu zur Volkskrankheit gewordenen Pferdetoto - dem sogenannten „5 y 6" 1 3 9 - Millionenumsätze machte, in den fünfziger Jahren wieder zum Mittelpunkt eines eleganten Gesellschaftslebens. Hier bot sich finanzkräftigen Aufsteigern die Gelegenheit, auf neutralem Boden mit der gesellschaftlichen Elite zusammenzutreffen - und sich bei dieser Gelegenheit ebenfalls der politischen Elite zu nähern, denn die Militärs wußten die staatseigene Rennbahn wirkungsvoll als repräsentativen Hintergrund in Anspruch zu nehmen. Korruptionsskandale um die staatlichen Einnahmen aus dem Pferdetoto sollten die Öffentlichkeit nach dem Ende der Diktatur bewegen, aber der Geruch von illegitimem Reichtum haftete nicht nur den politischen Usurpatoren, sondern auch einigen neureichen Geschäftsleuten an, die der Besitz von kostspieligen Rennpferden zum Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit machte. Zu den von allerlei Gerüchten umwitterten Gestalten, die als Derbyfreunde bekannt waren, gehörte Alfredo Abilahoud, in Venezuela geborener Sohn libanesischer Kaufleute und zeitweilig Vorstandsmitglied des Hipódromo Nacional. Bis zu 30 importierte Rennpferde konnte Abilahoud sein eigen nennen, die ihm manchen ersten Preis einbrachten. 140 Nach dem Fall der Militärregierung, deren Protektion er genossen hatte, hieß es, der Libanese habe seine beträchtlichen Einkünfte weniger seinem Handelsunternehmen als dem Mietwucher und seinen betrügerischen Machenschaften im Hipódromo zu verdanken. 141 Schillernde Figuren wie Abilahoud verkörperten die Möglichkeiten der „unproduktiven" Bereicherung, die das spekulative Wirtschaftsklima des Booms cleveren Geschäftsleuten bot, ebenso wie jene „Mentalität der Verschwendung", mit der Neureiche ostentativ ihre finanzielle Macht zu

137 Interview mit José Farage vom 7. 3. 1990; Interview mit Carlos Capriles vom 14. 2. 1990 138 El Universal 7. 12. 19S7 139 Vgl. República de Venezuela, Ministerio de Fomento, Dirección de Turismo, Guía turística de Caracas, a.a.O., S. 62 140 Hipismo Nacional. Organo del Hipódromo Nacional, núm. 1, julio de 1955, S. 34; Interview mit José Farage vom 7. 3. 1990 141 Dupray, a.a.O., S. 68

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bekunden pflegen. 1 4 2 Doch obgleich das alte Hippodrom im letzten Jahrzehnt seiner Existenz - 1958 wurde die von Pérez Jiménez gebaute neue Rennbahn von La Rinconada eröffnet - in den trügerischen Glanz allzu rasch erworbenen Reichtums getaucht zu sein schien, bezog das Derby sein Prestige nicht nur aus seiner exklusiven Vergangenheit, sondern nach wie vor auch aus der Anwesenheit von Angehörigen der etablierten hauptstädtischen Elite. 143 Das prätentiöse Auftreten, das die gesellschaftlichen Neuaufsteiger in diesem eleganten Ambiente angeblich an den Tag legten, machte letztlich nur die unangefochtene Gültigkeit der Repräsentationsmodelle einer Oberschicht deutlich, die dem wachsenden Zustrom von Einwanderern in das Wirtschaftstraumland Venezuela mit gemischten Gefühlen gegenüberstand. Schiffsladungen einfacher Arbeiter kamen seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre aus Spanien, Italien und Portugal. Aus den drei Mittelmeerländern stammten etwa 70 Prozent der fast 10 000 Immigranten, die allein im Rekordjahr 1957 Venezuela zu ihrer neuen Heimat machten. Während die Einwanderung von Menschen schwarzer oder gelber Hautfarbe bis auf wenige Ausnahmen gesetzlich verboten war, hatten die perezjimenistas der europäischen Immigration Tür und Tor geöffnet. 144 Diese Politik war deutlich von den positivistischen Theorien der Jahrhundertwende beeinflußt, die die Rasse zwar nicht als genetischen, aber als kulturellen Faktor für den Rückstand bzw. Fortschritt eines Landes verantwortlich machten. 1 4 5 Als Ergebnis dieser Tradition war es zu verstehen, wenn ein Mann wie Laureano Vallenilla Lanz jr. - Sohn des bekannten Positivisten und seit 1952 Innenminister von Präsident Pérez Jiménez - die Ansicht bekundete, daß während ein hoher indianischer Bevölkerungsanteil sich in Lateinamerika meist als „Hindernis" für den Fortschritt erwiesen habe, in jenen Ländern, „wo die Europäer vorherrschen, der Reichtum ist. (...) das nordamerikanische und das argentinische Wunder sind das Ergebnis des Werkes, das Männer aus dem Alten Kontinent vollbracht haben." 146 Doch nicht jedermann mochte seine Meinung teilen, wenn der Minister als engagierter Befürworter der europäischen Einwanderung seine Landsleute darauf hinwies, daß in jedem italienischen Einwanderer, und sei sein Äußeres auch noch so ärmlich, ein „Nachfahre von Dante oder Leonardo" stecke. 147 Besonders die steilen Karrieren jener Italiener, die es in dem nicht zuletzt durch große Regierungsaufträge boomenden Baugewerbe angeblich über Nacht vom Maurer zum 142 143 144 145 146 147

Rangcl, Venezuela, país ocupado, a.a.O., S. 210 Sociales de la hípica, in: Hipismo Nacional, núm. 1., julio de 1955, S. 34-36 Troconls de Veracochea, a.a.O., S. 275-76, 287-88 Sosa A., Ensayos sobre el pensamiento político positivista venezolano, a.a.O., S. 19 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 253-54 Ebd., S. 254

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Bauunternehmer gebracht hatten, galten vielen als Inbegriff der moralischen Korruption, die das schnelle Geld in dem Erdölland um sich greifen ließ, und als Ferment eines gesellschaftlichen Verfalls, der schließlich den Arrivisten zur Vormacht verhelfen würde.148 Ganz so rasch und mühelos, wie es die Legende behauptete, hatten sich die Einwanderer ihren Weg jedoch nicht bahnen können. Meistens waren die, welche in den fünfziger Jahren zu beachtlichen Vermögen gelangten, bereits seit einigen Jahrzehnten im Land - so seit 1931 Mario Giurlano, der im Auftrag der Regierung bei der Anlage der vor den Toren des Offiziersclubs gelegenen Prachtstraße des Paseo de los Pröceres „seinen feinen künstlerischen Geschmack" bewies.149 Auch der bekannte Bauunternehmer Filippo Gagliardi, der - ähnlich wie der Libanese Abilahoud - den Typus des rücksichtslosen, ungebildeten Neureichen verkörperte und nach dem Sturz der Diktatur fluchtartig nach Italien zurückkehrte, war immerhin seit 1930 im Land und mit einer stetigen Erweiterung seiner Tätigkeiten beschäftigt. 150 War für die Elite der gesellschaftliche Verkehr mit diesen Emporkömmlingen indiskutabel, so genossen andere Angehörige der italienischen Kolonie durchaus ihren Respekt. Viele der im 19. Jahrhundert eingewanderten Italiener gehörten längst der Oberschicht an, aber auch das kulturelle Prestige Italiens erwies sich als Bindeglied. Es galt als schick, die Vorträge, Filmvorführungen oder Sprachkurse zu besuchen, die die Casa d'Italia veranstaltete, und unter den Schülerinnen der Sprachlehrerin Marisa Vannini befanden sich viele „elegante Damen aus dem Country Club", die die Sprache für ihre Reisen nach Italien zu lernen wünschten oder „um Dante oder Leopardi auf italienisch zu lesen." 151 Die Italiener, mit denen die Oberschicht in der Casa d'Italia zusammentraf, erfüllten ein wichtiges Kriterium, um Anerkennung zu erwerben: Sie beherrschten bürgerliche Kulturpraktiken. Der Typus des ungeschliffenen Einwanderers, der - wie man es von Gagliardi behauptete - seinen Aufstieg vor allem der Skrupellosigkeit zu verdanken hatte, mag in den Jahren des Booms hier und da anzutreffen gewesen sein, aber in der Regel brachten die Männer, die in Venezuela zu herausragenden Industrie- und Handelsunternehmern werden sollten, aus ihrem Heimatland eine gute schulische und berufliche Bildung - und gewisse Umgangsformen mit. 1 5 2 Die meisten Angehö-

148 Troconis de Veracochea, a.a.O., S. 284-85 149 Papi, Enzo, Itala Gente. Protagonistas del trabajo italiano en Venezuela, Caracas 1980, Bd. II*, S. 62 150 Elite 8. 2 . 1 9 5 8 ; Vallenllla Lanz, Esalto de memoria, a.a.O., S. 173; Papi, Itala Gente, a.a.O., Bd. III, S. 151 151 Interview mit Marisa Vannini de Gerulewicz vom 15. 3. 1990 152 Zu den Italienern, die in den fünfziger Jahren große Unternehmen aufzubauen begannen, gehören u.a. Dr. Livio Luzatto und Dr. Paolo Marietti, Dr. Pietro Pizzi, die Ingenieure Benve-

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rigen dieser Gruppe waren wirtschaftlich jedoch noch allzusehr im Aufbau begriffen, als daß sie gesellschaftlich in den Vordergrund treten konnten. Dies galt in noch stärkerem Maße von den Einwanderern, die zu Tausenden aus den verarmten Dörfern Spaniens und Portugals ins Land kamen. Während letztere als Busfahrer oder Gemüseverkäufer am untersten Rang der sozialen Skala rangierten, und die Bezeichnung „Portuguiese" fast einen pejorativen Beigeschmack hatte, befanden sich auch die Spanier, die in den folgenden Jahrzehnten in der Agroindustrie, im Binnenhandel und im Transportwesen ihre unternehmerische Tüchtigkeit unter Beweis stellten, um 1958 noch in den Anfängen. 153 Gute Voraussetzungen für eine rasche wirtschaftliche Entfaltung besaßen nicht selten die mitteleuropäischen Einwanderer der Jahrhundertmitte. Eine vierjährige Ausbildung als Chemiker hatte der tschechische Jude Hans Neumann durchlaufen, der 1949 nach Venezuela kam und innerhalb kürzester Zeit ein Wirtschaftsimperium aufbaute. Seine Familie hatte in Prag eine Farbenfabrik besessen, und mit einem kräftigen Darlehen eines in den Vereinigten Staaten lebenden Onkels bauten Hans und sein Bruder Lothar unter dem alten Firmennamen Montana eine Farbenindustrie auf, der die expansive staatliche Baupolitik bald zu lohnenden Aufträgen verhalf. 154 Doch obwohl Hans Neumann sich schon Ende der fünfziger Jahre neben Eugenio Mendoza, mit dem er geschäftlich eng zusammenarbeitete, als eine der führenden venezolanischen Unternehmerfiguren abzuzeichnen begann, vollzog sich seine gesellschaftliche Integration weitaus langsamer. Neumann, der sich 1955 ein spektakuläres Haus bauen ließ, das seiner bedeutenden Sammlung moderner Kunst einen angemessenen Rahmen geben sollte, 155 wurde - so berichtet der Gesellschaftschronist Leopoldo Fontana - „von der gesellschaftlichen Elite von Caracas nicht empfangen. Er besaß keine Anknüpfungspunkte, keine Tauschmittel, denn er war mit einer Tschechin verheiratet, mit der er einen in Europa geborenen Sohn hatte. Möglicherweise interessierte ihn die einheimische Oberschicht auch überhaupt nicht, jedenfalls wußte er seinerseits nicht sehr gut zu empfangen. Im Grunde nämlich ist die venezolanische Elite leicht verführbar. Sein kulturelles Niveau half ihm nicht, aber wenn er sein Geld benützt hätte, um die Elite mit schönen Festen zu verführen, hätte er es erreicht. Erst als Hans Neumann sich in den sechziger Jahren mit einer Angehörigen der Oberschicht, mit Maria Cristina Anzola verheiratete, begann er in ihren Kreisen zu verkehren.

nuto Barsanti, Carlo und Ricardo Tronconi oder Ermlnio und Raffaelle Staccioli. Vgl. Papi, Itala Gente, a.a.O., Bd. II, S. 40 ff., 160 ff.; Bd. III, S. 29 ff., 292 ff., 305 ff.; Bd. III*, S. 178 ff. 153 Interview mit Francisco Gutiérrez vom Hogar Canario Venezolano vom 30. 3. 1990 154 Revista 'M', núm. 92, diciembre de 1989, S. S-16 155 ... wie das Haus von Eugenio Mendoza in der im Osten von Caracas am Fuße des Avila gelegenen Urbanisation Sebucán. Interview mit dem Architekten Klaus Heufer vom 8. 11. 1988

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Vorher war er noch im Aufbau, im täglichen Kampf bei der Gründung seiner Industrien." 156 So konnten Aufsteiger, die zu wirtschaftlicher oder politischer Macht gelangt waren, sich zwar durch Heiraten mit der Elite verbinden, andererseits wurden solche Verbindungen jedoch nahezu zur Voraussetzung, um rückhaltlose Anerkennung zu finden. Trotz der wachsenden Konkurrenz neuer Vermögen besaß die etablierte Oberschicht demnach noch immer greifbare Mittel, um ihrer Gruppe Zusammenhalt zu geben und sie gegen Außenseiter abzugrenzen, und wenn sie eine gewisse Zugänglichkeit bewies, indem sie sich von neureicher Eleganz umwerben und schließlich verführen ließ, setzte sie auf diese Weise ihre repräsentativen Gepflogenheiten durch. Die alteingesessene Oberschicht war unter Umständen bereit, dem wirtschaftlichen Erfolg von Aufsteigern gesellschaftliche Anerkennung zu zollen, aber weitestgehend war sie es auch, die dabei die Bedingungen stellte und Lebensstilmodelle lieferte.

Gemeinsame Leitbilder rivalisierender Eliten Erweist sich die Behauptung von der gesellschaftlichen Durchlässigkeit der Elite somit als zweischneidiges Schwert, so ist auch die demokratische Gesinnung zu hinterfragen, mit der sie sich nach dem Ende der Diktatur von dem despotischen Gebaren der perezjimenistas abzugrenzen suchte. Obwohl sich vertiefende Differenzen schließlich dazu führten, daß das Großbürgertum sich 1958 maßgeblich am Sturz der Regierung beteiligte, waren in dem Jahrzehnt der Militärherrschaft die Verbindungen zwischen politischer und gesellschaftlicher Elite weitaus enger gewesen, als es diese im nachhinein wahrhaben mochte. Während allein angesichts der Tatsache, daß der Staat die alles beherrschenden Ölgelder verwaltete, eine allzu große Distanz zu den Machthabern nicht ratsam sein konnte, hatten auch weltanschauliche Übereinstimmungen zu einer Annäherung geführt. Wirklich spielte das Großbürgertum in den Jahren des perezjimenismo politisch keineswegs eine untergeordnete Rolle. Ähnlich wie es unter der Regierung von Juan Vicente Gömez der Fall gewesen war, berief der starke Mann der fünfziger Jahre Angehörige der Oberschicht auf wichtige Ministerposten, und die gehobene Administration lag größtenteils in den Händen der „Doktoren", das heißt der akademisch gebildeten städtischen Elite. In der Person von Innenminister Laureano Vallenilla Lanz jr.,

156 Interview mit Leopoldo Fontana vom 7. 4. 1990

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neben dem Präsidenten wohl die bestimmendste politische Figur im Lande, schienen die unverkennbaren Parallen zu den Jahren des gomecismo eine Verkörperung zu finden. Der Sohn jenes bekannten Positivisten, der 1919 Diktator Gómez zum „notwendigen Gendarmen" erklärt hatte, lieferte neben seiner politischen Tätigkeit - ähnlich wie es einst sein Vater in der Zeitung El Nuevo Diario getan hatte - in den mit „R.H." gezeichneten Kommentaren in der Tageszeitung El Heraldo die ideologischen Grundlagen der autoritären Herrschaft. 157 Nach wie vor an die positivistische Devise von „Ordnung und Fortschritt" anknüpfend, schrieb die Elite der Diktatur die Aufgabe zu, in einer Atmosphäre von politischer Stabilität und organisatorischer Disziplin für greifbaren materiellen Fortschritt zu sorgen. „Die Regierung ist der Meinung", so charakterisierte „R.H." 1954 in El Heraldo das Leitprogramm der technokratischen Macht, „daß die meisten unserer Probleme ihre Lösung im Ingenieurswesen finden. Wohnung, Wasser, Transport, das sind Forderungen, die Techniker zu untersuchen und zu lösen haben." 1 5 8 Ohne Zweifel verdankt das moderne Venezuela den Jahren der Militärherrschaft eine infrastrukturelle Grundlage, die bis auf wenige Ausnahmen über Jahrzehnte hinweg Bestand hatte. Aber die perezjimemstas, die bei ihrer unermüdlichen Bautätigkeit höchste Qualitätsansprüche stellten und nur modernste Technologien verwandten, mußten sich später den Vorwurf der „pharaonischen Verschwendung" gefallen lassen. 159 Trotz der von offizieller Seite immer wieder betonten Forderungen nach Rationalität und Zweckmäßigkeit haftete dem Monumentalismus der Staatsarchitektur der Ruf des Disproportionalen an. Indem die energischen Modernisierer höchsten internationalen Standard zum Maßstab des venezolanischen Fortschritts erhoben, ließen ihre modernen Prestigebauten funktionale Gesamtzusammenhänge in der Tat oft unberücksichtigt. Das Phänomen einer äußerlichen, an realen Bedürfnissen vorbeigehenden Modernisierung ist jedoch keineswegs, wie es die venezolanische Geschichtsschreibung allzu oft getan hat, einzig und allein den eigennützigen propagandistischen Absichten eines machthungrigen Diktators anzulasten. Seit dem 19. Jahrhundert war die venezolanische Elite von einem an ausländischen Vorbildern orientierten Fortschrittsoptimismus durchdrungen, der sie immer wieder zur Überbewertung vordergründiger materieller Erfolge verführt hatte. Nicht allein jedoch der unverminderte positivistische Glaube in die unfehlbare Wirksamkeit technischer Lösungen erklärte die Zustimmung, die das Entwicklungsmodell der Militärregierung in weiten Teilen der Oberschicht zunächst fand. Wenn Präsident Pérez Jiménez sich mit einem Team von Technokraten umgab, um Venezuela in eine glänzende Epoche des Fortschritts zu führen, so entsprach das zudem dem Geist 157 Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 68, 8 0 - 8 2 158 El Heraldo 8. 3. 1954 159 Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 158

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einer Zeit, in der überall in der Welt technische Leistungsfähigkeit und eine aus ihr resultierende Steigerung des Lebensstandards zu den zentralen, alles andere überschattenden gesellschaftlichen Leitbildern geworden waren. Mit Wohlgefallen nahm so das außenorientierte Großbürgertum jene Oasen des Fortschritts auf, die der staatliche Hotelbau überall im Lande schuf und die in Zusammenhang mit dem Ausbau des inländischen Verkehrsnetzes jene Forderung nach einer physischen Erschließung Venezuelas in die Tat umsetzten, die Pérez Jiménez zu einem der Kernpunkte des „Neuen Nationalen Ideals" erhoben hatte. „Die Hotels machten das Land erst bereisbar", urteilt etwa der Bankierssohn Julio Velutini, wenn er sich an die Fahrten erinnert, die er als Kind mit seinen Eltern in komfortablen amerikanischen Wagen innerhalb Venezuelas unternahm. 1 6 0 Die nach dem Vorbild der großen nordamerikanischen Hotelketten gestalteten Enklaven von Eleganz, Komfort und Hygiene, die der Tourist dank der staatlichen Initiative neuerdings in Mérida, Cumaná oder Margarita vorfand und die das Reisen im Landesinneren für die „zivilisierten" Städter zum ersten Mal attraktiv machten, führten ihren Erfolg auf eben jenen Perfektionismus zurück, der später der Baupolitik der perezjimenistas nicht selten den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit eintrug. Auch die ehrgeizigen städtebaulichen Reformen, mit denen die Militärs in Rekordzeit die venezolanische Hauptstadt zu einer der modernsten lateinamerikanischen Metropolen machten, entsprachen den Vorstellungen einer Elite, die - nachdem sie Caracas um die Jahrhundertwende nach europäischem Vorbild zu modernisieren gesucht hatte - nun die funktionale Eleganz und den Komfort der nordamerikanischen Verkehrs- und Wohnkultur zum Fortschrittsideal erhob. Während diese „geschmacklichen" Übereinstimmungen den Präsidenten und seinen Minister Vallenilla Lanz auch privat zusammenführten und sie Hobbys wie schnelle Autos, Motorjachten oder Sportfischerei teilen ließen, verbanden gemeinsame Freizeitpräferenzen die neuen Machthaber mindestens ebenso eng mit einem anderen, wirtschaftlich und kulturell stärker nach innen orientierten Sektor der Oberschicht. Die Militärs hatten ihr technokratisches Entwicklungsmodell auch auf eine Modernisierung der venezolanischen Landwirtschaft übertragen und bewiesen mit dem Bau von Straßen, Staudämmen oder Silos bei der Schaffung einer agrarischen Infrastruktur beispiellosen Aktivismus. Zu den Männern der Tat, bei denen sie Verbündete fanden, gehörte mit Ivan Dario Maldonado - Angehöriger einer traditionsreichen Großgrundbesitzerfamilie und Sohn des Gómez-Ministers Samuel Dario Maldonado - einer der reichsten Viehzüchter Venezuelas. Maldonado und der mit ihm befreundete Antonio Julio Branger, Sohn einer Industriellenfamilie aus dem venezolanischen Valencia, zeigten Pioniergeist mit den modernen 160

I n t e r v i e w m i t J u l i o Velutini v o m 8. 9. 1 9 8 9

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Viehzuchtmethoden, die sie auf ihren ausgedehnten Ländereien zur Anwendung brachten, sowie mit der industriellen Verarbeitung von Agrarprodukten in dem neuen Industriezentrum von Valencia. Nicht nur auf politischer Ebene führte das gemeinsame Bestreben nach neuer landwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit diese Großgrundbesitzer zur Zusammenarbeit mit der Regierung. Antonio Julio Branger, dem sogar die Leitung des Landwirtschaftsministeriums angeboten wurde, pflegte enge persönliche Kontakte zu den Machthabern, mit denen er Freizeitvergnügen wie den Schießsport teilte, 161 aber auch jene Amüsements in Bars und Nachtclubs, die - wie er selbst es in einem Interview formuliert - in der „Epoche des machismo" die Militärs und ihre Freunde zusammenführten. 162 Eng mit Maldonado und Branger befreundet war auch der Rechtsanwalt José Antonio Giacopini Zärraga, der seit langem für seine Neigung für die rustikalen Gepflogenheiten des Landesinneren bekannt war und 1948/49 im Auftrag der Militärjunta als Gouverneur des Bundesstaates Territorio Amazonas seine Tatkraft bewiesen hatte. Als „Militär ohne Uniform" war José Giacopini regelmäßiger und gern gesehener Besucher des Circulo Militar und des Poligono de Tiro, des auch vom Präsidenten allsonntäglich als Freizeiteinrichtung genutzten militärischen Schießplatzes im Süden von Caracas.163 Die Regierung, die die Entstehung einer ländlichen Mittelschicht zu einem der erklärten Ziele ihrer Landwirtschaftspolitik machte, siedelte ausländische Einwanderer in staatlich geförderten Agrarkolonien an, aber zugunsten kleinerer Produzenten änderte sich an den Besitzverhältnissen in diesen Jahren wenig. 164 Die Modernisierung der Landwirtschaft war weitgehend durch die Zusammenarbeit von Regierung und Großgrundbesitz bestimmt, und die mächtigen Wegbereiter des agrarischen Fortschritts gefielen sich in einem dynamisch-virilen Lebensstil, der einem zeitgemäßen Ideal von „Entwicklungsheroismus" entsprach. Männlichkeit, Tatkraft und nationalistisches Selbstbewußtsein waren die Werte, die eine Gruppe von Männern verbanden, die der kapitalistischen Modernisierung der Landwirtschaft eine unverkennbar paternalistische Ausrichtung gaben. Dabei schien jene Rückbesinnung auf ein ländliches, volkstümliches Venezuela, welche die Militärs gleichzeitig zu einem der Kernpunkte einer aufwendigen Regierungspropaganda machten, bei ihren städtischen Mitarbeitern durchaus nicht auf ungeteilte Zustimmung zu stoßen. Höhepunkt des patriotischen Gebarens der perezjimenistas waren die sogenannten „Wochen des Vaterlandes", die

161 Antonio Julio Branger war einer der Gründer des Club de Tiro de Pichón in Valencia. 162 Interview mit Ivan Dario Maldonado vom 16. 8. 1988; Vallenilla Lanz, Esaito de memoria, a.a.O., S. 385; Interview mit Antonio Julio Branger vom 7. 1. 1990; El Universal 8. 12. 1953 163 Interview mit José Antonio Giacopini Zärraga vom 5. 9 . 1 9 8 8 164 Castillo d'Imperio, Los aiìos del buldozer, a.a.O., S. 154; dies., Agricultura y politica en Venezuela, a.a.O., S. 164-65

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seit 1953 alljährlich Anfang Juli mit Militärparaden und großen Aufmärschen von öffentlichen Angestellten begangen wurden und bei denen die Männer in der Nationaltracht des liquilique, die Frauen mit weißer Bluse, buntem weiten Rock und Stiefeln in folkloristischer Kleidung defilierten. Etwa 120 000 Staatsangestellte sollen 1953 durch die Straßen der Hauptstadt marschiert sein. 165 Innenminister Vallenilla Lanz und Justizminister Dr. Luis Felipe Urbaneja, so berichtete der erstere in seinen Memoiren, vertrauten einander im Stillen ihr Mißfallen an der „Woche des Vaterlandes" an und mochten sich der Folklorebegeisterung, die in den Jahren der Militärherrschaft um sich griff, nicht recht anschließen. 166 Auch in seinen Artikeln in El Heraldo bekundete „R.H." unmißverständlich seine Abneigung gegen eine allzu weitreichende Rückbesinnung auf Traditionen, die in seinen Augen nichts als „die Frucht der Armut, der Unwissenheit und des Rückschritts" waren. 167 Der von Vallenilla Lanz wenig geschätzte criollismo ließ sich jedoch besser mit der unaufhaltsamen Modernisierung des Lebensstils der Venezolaner verbinden, als auf den ersten Blick zu erwarten gewesen wäre. Die Oberschicht hatte bereits am kulturellen Nationalismus der dreißiger Jahre teilgehabt, der vor allem die flachen Landschaften des Llatio zur Wiege der venezolanischen Nation erhoben und dessen an die argentinischen gauchos erinnernde Bewohner, aus deren Reihen heldenhafte Unabhängigkeitskämpfer stammten, als Verkörperung des Mestizentums und einer zukunftsweisenden rassischen Integration idealisiert hatte. 1 6 8 Die Symbole dieses rustikalen Venezuela - die männliche Nationaltracht des liquilique, die traditionellen Spießbratenfeste unter freiem Himmel sowie die Musik und der Tanz der Llanos - fanden in den fünfziger Jahren nicht nur Eingang in den Lebensstil der auf ihr patriotisches Image bedachten Militärs. Auch in großbürgerlichen Kreisen war jene Ilanero-Mode verbreitet, die später vielfach als Ausdruck eines künstlichen, im Dienst diktatorischer Macht kitschig aufbereiteten Patriotismus kritisiert wurde. Volkstümliche Musiker in malerischer ländlicher Tracht waren bei den „Literari165 Rincón, a.a.O., S. 53; Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. III, S. 569; El Universal 1. 7. 1953 und 2. 7. 1955 166 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 421 167 „Wir verlieren nichts", so schrieb „R.H." im Februar 1957, „wenn wir alles aussortieren, was in der Kolonialzeit, im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts geschrieben oder gebaut wurde. Es gibt auch keine präkolumbinlsche Kunst, denn die Tonscherben und Götzenfiguren, die uns improvisierte Ethnologen und Archäologen als Beweis vergangener Zivilisationen präsentleren, sind vom ästhetischen Gesichtspunkt gesehen wertlos. Es ist also gut, wenn der von revolutionärem Geist geführte Traktor all diesen Schutt (...) beiseitekehrt und auch In den Urwald eindringt, um Städte zu schaffen, die die araguatos [= Brüllaffen] und andere Affen durch denkende, arbeitende und produzierende Menschen ersetzen (...)." Vgl. El Heraldo 8. 2. 1957 und 28. 3. 1957, in: Castillo d'Imperio, Los años del buldozer, a.a.O., S. 109 168 Torrealba Lossi, Mario, El Guárico, evocación y semblanza, in: Revista Shell, núm. 5, diciembre de 1952, S. 48-51

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sehen Mittwochen", zu denen Alicia Larralde in ihrer Villa in La Florida lud, ebenso anzutreffen wie auf eleganten Parties im Country Club. Zu den gefeierten Stars des venezolanischen Showlebens, in dem seit 1952 auch das Fernsehen eine Rolle spielte, gehörten der stets im liquilique auftretende Sänger Mario Suärez oder Orchesterchef Aldemaro Romero mit seinen modernen Big-Band-Arrangements von kreolischen Walzern oder joropos.169 Der Folklorismus der fünfziger Jahre war also keineswegs allein das Produkt einer übermächtigen staatlichen Kulturpolitik. Die gebildeten städtischen Eliten mochten auf eine niveauvollere Herangehensweise Wert legen, aber sie nahmen durchaus Anteil an der Woge des criollismo, der in der Architektur, der Kochkunst oder der Musik zur Wiederentdeckung volkstümlichen Kulturgutes schritt. Suchten die Militärs an die Überlieferungen der Volksreligiosität anzuknüpfen, indem sie die „Jungfrau von Coromoto" zur Schutzpatronin der „Woche des Vaterlandes" erhoben oder eine monumentale Skulptur der auf einem Tapir reitenden synkretistischen Volksheiligen Maria Lionza an den Rand der neuen Stadtautobahn stellten, so lagen dem offenkundig propagandistische Absichten zugrunde. 170 An die dramatische Kunst eines Lope de Vega oder eines Garcia Lorca hingegen fühlten sich zeitgenössische Theaterkritiker angesichts des Werks einer renommierten, aus angesehener Familie stammenden Literatin wie Ida Gramcko erinnert, die den Maria-Lionza-Mythos 1957 in einem erfolgreichen Theaterstück verarbeitete. 171 Doch obwohl er in verschiedenen Kontexten in mehr oder in weniger gebildeten Varianten auftrat - der „kulturelle Populismus" kann als Zeichen der Zeit gelten, das nicht allein die perezjimenistas in ihrem Interesse aufzugreifen verstanden. Zu Sprachrohren der Rückbesinnung auf die autochthone Überlieferung waren die Zeitschriften geworden, die Shell und Esso in Venezuela herausgaben und in denen bekannte einheimische Autoren Themen der venezolanischen Kultur und Folklore behandelten. 1 7 2 Und noch bevor die Militärregierung 1953 die erste „Woche des Vaterlandes" beging, hatte die Niederlassung des US-amerikanischen Kaufhauses Sears & Roebuck in Caracas bereits 1952 eine „Woche des Joropo" veranstaltet, bei der die Angestellten typisch

169 Romero, Aldemaro, De 78 a 33 revoluciones, in: El National 3. 8. 1988; Interview mit Alicia Larralde vom 9. 3. 1990 170 Castillo d'Imperio, Los aflos del buldozer, a.a.O., S. 126; El Universal 2. 7. 1955; Kirchhoff, Herbert, Venezuela, Buenos Aires 1956, S. 25. Die Blumen und Kränze, die bis heute bei der Skulptur der Maria Lionza niedergelegt werden, beweisen, wie vollständig das Denkmal von den Anhängern des Kults angenommen worden Ist. Vgl. auch Pollak-Eltz, Angelina, Maria Lionza. Mito y culto venezolano, Caracas 1985 171 El National 2. 5. 1957 172 Vgl. auch Päginas 25. 5. 1957

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venezolanische joropo-Tánze vorführten, während auf dem firmeneigenen Parkplatz Hahnenkämpfe stattfanden. 173 Sicherlich machte der lautstarke Nationalismus der Militärregierung - der gelegentlich gar antioligarchische Anklänge annehmen konnte - gerade in den fünfziger Jahren eine überzeugende Antwort der Oberschicht erforderlich. Doch wenn diese deutlichere Anstrengungen denn je unternahm, um dem Ruf von elitärer Auslandshörigkeit entgegenzuwirken, der ihr seit den Tagen von Guzmán Blanco anhaftete, so war das Bewußtsein, sich von einer einseitigen kulturellen Außenorientierung lösen zu müssen, mittlerweile Allgemeingut geworden. Die reformistische Partei Acción Democrática, die 1945 mit Hilfe der Militärs an die Macht gelangt war, hatte diesem Bedürfnis wirkungsvoll mit dem großen Folklorefestival Ausdruck zu verleihen gewußt, das 1948 zur Feier des Wahlsieges von Rómulo Gallegos stattfand. 174 Ein Angehöriger der hauptstädtischen Elite, der Schriftsteller Juan Liscano, war seit 1946 Leiter des neugegründeten „Nationalen Folkloreinstituts", mit dem Acción Democrática die Erforschung und Pflege der volkstümlichen einheimischen Kultur förderte und das auch für die Organisation des Festivals verantwortlich zeichnete. 175 Die Oberschicht konnte und wollte sich von dem allgemein spürbaren Trend zu einer neuen Betonung des nationalen Selbstbewußtseins nicht ausschließen. Nachdem sie schon in den dreißiger Jahren als treibende Kraft einer Suche nach den Wurzeln der „venezolanischen Identität" aufgetreten war, mochte sie es sich auch jetzt nicht nehmen lassen, auf vielfältige Weise die Initiative in jener Erkundung der einheimischen Geschichte, Kultur und Landschaft zu ergreifen, mit der man in den fünfziger Jahren der nationalen Physiognomie klarere Umrisse zu verleihen suchte. Der Gedanke der nationalen Einheit, den die Militärregierung zum Leitmotiv dieser Dekade erhob und in dessen Dienst ihre erklärtermaßen auf gesellschaftliche Integration zielende Kulturpolitik stand, fand gleichzeitig Niederschlag in dem betonten Engagement, das die Machthaber bei der Lösung sozialer Probleme an den Tag legten. In diesem Zusammenhang war nicht nur eine staatliche Baupolitik zu sehen, die die Bedürfnisse der arbeitenden Schichten in scheinbar noch nicht dagewesener Weise in den Vordergrund stellte. Die wohltätigen Aktivitäten der Sociedad Bolivariana de Damas, die in Flor de Pérez Jiménez eine ehrgeizige Organisatorin gefunden hatten, ergänzten die Bemühungen eines Regimes, das an den paternalistischen Autoritarismus eines neuen Typus lateinamerikanischer Militärherrschaften anzuknüpfen schien. Das Vorbild von Eva Perón, der 1952 173 El Universal 1. 8. 19S2 174 Betancourt, a.a.O., S. S02-S03; Rodríguez, Manuel Alfredo, a.a.O., S. 148 175 Castillo d'Imperio, Ocarina, Un centro de investigación cultural: El Instituto Nacional de Folklore, in: Vessuri, Hebe (Hg.), Las Instituciones científicas en la historia de la ciencia en Venezuela, Caracas 1987, S. 182-185

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verstorbenen Frau des argentinischen Präsidenten, so die Zeitschrift Elite 1958, habe Doña Flor in ihrer Rolle als Wohltäterin der Armen und Bedürftigen inspiriert. Aber auch das von den besten Kreisen der hauptstädtischen Gesellschaft getragene Projekt der „Stadt der Jugend", in dem elternlose Jugendliche aus den wachsenden Slumvierteln der venezolanischen Hauptstadt eine Heimat finden sollten, ging auf eine Idee der berühmten Argentinierin zurück. 176 Mit privaten Stiftungen für den Aufbau von Wohlfahrtseinrichtungen aller Art und mit den Wohltätigkeitsveranstaltungen, von denen die Gesellschaftseiten der Zeitungen ständig berichteten, stand das Großbürgertum in seinem ostentativen sozialen Engagement der neuen politischen Machtelite in nichts nach. So veranstalteten Dr. José Herrera Uslar und seine Frau Clementina Velutini in ihrer Villa in Altamira 1955 einen wohltätigen Tee- und Kanastanachmittag zugunsten der Berufsschule Jesús Obrero im Arbeiterviertel Catia. Herrera Uslars Bruder Reinaldo lud 1957 in den prunkvollen Räumlichkeiten der Hacienda La Vega zugunsten der Kinderschutzorganisation OPAN zu einem eleganten Ball, bei dem prominente Gäste wie Susana Duijm, die venezolanische Miss World von 1955, oder der mexikanische Komiker Mario Moreno alias Cantinflas anzutreffen waren. 177 Auch aus den Aktivitäten der Clubs einer aufstrebenden Mittelschicht sowie jener Clubs, in denen die ökonomisch etablierten Angehörigen der verschiedenen Einwandergruppen zusammenfanden, waren glanzvolle Wohltätigkeitsveranstaltungen nicht wegzudenken. Ebenso wie Flor de Pérez Jiménez und ihre Mitstreiterinnen es im Círculo Militar taten, veranstalteten die weiblichen Mitglieder des Club Los Cortijos oder die Gruppe der Damas Israelitas regelmäßig wohltätige Kanastanachmittage, Tombolas oder Modenschauen. 178 Das Großbürgertum, das sich seit dem vorigen Jahrhundert als Wegbereiter des Fortschritts in einem von Unwissenheit und Rückständigkeit geprägten Land empfand, stimmte grundsätzlich mit jener Vorstellung einer durch die Eliten vorangetriebenen Verbesserung der Lebensbedingungen der venezolanischen Bevölkerung überein, zu deren staatlichen Verfechtern sich die perezjimenistas gemacht hatten. Die Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen sich gute Absichten in einem eleganten gesellschaftlichen Rahmen demonstrieren ließen, wurden dabei gleichzeitig zum Austragungsort von Prestigekämpfen. Als erbitterte Gegnerin, so sollte die Zeitschrift Elite im nachhinein behaupten, habe die geltungsbedürftige Präsidentengattin mit ihrer Sociedad de Damas Bolivarianas dem Projekt der „Stadt der Jugend" gegenübergestanden. 179 Doch wenn im edlen Wettstreit 176 Elite 22. 3. 1958; vgl. auch Jiménez Macías, Rafael, La protección a la infancia en Venezuela, in: Revista Shell, núm. 5, diciembre de 1952, S. 25-26 177 El Universal 7. 7. 1955; Páginas 6. 7. 1957 178 Páginas 8. 6. 1957 179 Elite 22. 3. 1958

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um ostentative Mildtätigkeit mehr oder weniger offenkundige Statusrivalitäten mitschwangen, sprach dies letztlich von einem Prozeß der Annäherung zwischen den konkurrierenden Gruppen. Nicht nur in ihrer gesellschaftlichen Selbstdarstellung orientierte sich die neue obere Mittelschicht am Vorbild einer Elite, mit der sie zu verschmelzen wünschte, sie hatte offensichtlich auch deren elitäres Entwicklungsmodell von paternalistischer Modernisierung übernommen. Auf diesem Boden wuchsen in den Jahren der Militärherrschaft jene modernen Unternehmerfiguren heran, die nach dem Ende der Diktatur als Vertreter einer fortschrittlichen, national gesinnten Großbourgeoisie einen zentralen Anteil an der politischen Entscheidungsgewalt beanspruchten und erhielten. 1 8 0 „Der nationale Kapitalismus ist ein Instrument der Verteidigung gegen den ausländischen Imperialismus", begründete Simón Alberto Consalvi - Parteigenosse der aus dem Kampf gegen die Diktatur siegreich hervorgegangenen Acción Democrática - 1958 in der Zeitschrift Elite die Zusammenarbeit mit der Unternehmerschaft, auf der das demokratische Venezuela fortan beruhen sollte. Um die neue Linie der einst als antioligarchisch gefürchteten Partei zu verdeutlichen, wies Consalvi in diesem Zusammenhang darauf hin, daß „(...) nur eine Sichtweise, die sich noch aus den Geschichtsfolianten des 19. Jahrhunderts nährt, oligarchische Interessen im Kampf um die wirtschaftliche Unabhängigkeit entdecken kann, den unsere Bourgeoisie in enger Zusammenarbeit mit der Mittelschicht und den ausgebildeten Teilen der Arbeiter- und Bauernschaft heute ausficht." 181 Einer der hervorragendsten Vertreter der neuen, sich ihrer „kollektiven Verantwortung" bewußten Unternehmer war der Großindustrielle Eugenio Mendoza, der nach der Entmachtung der perezjimenistas für einige Monate zum Mitglied der neuen Regierungsjunta wurde, die Venezuela den Weg in die Demokratie wies. 182 Mendoza, dessen Stammbaum - wie auch die Anhänger der These von der demokratischen Bourgeoisie nicht zu erwähnen versäumten - bis auf die Familie des Befreiers Simón Bolívar zurückreichte, 183 gehörte zu der Elite des Country Club, wo er seit den vierziger Jahren den Ruf eines gewandten Polospielers genoß. 1 8 4 Der Industrielle, der sich gelegentlich in der Nationaltracht des liquilique und umgeben von mit volkstümlichen Instrumenten musizierenden Arbeitern fotografieren ließ, trat seit 1942 als Philanthrop auf. 185 1952 rief er die mit 6 1/2 Millionen 180 Werz, a.a.O., S. 149 181 Elite 10. 5. 19S8 182 Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 893-94; Rangel, La oligarquía del dinero, a.a.O., S. 195 ff. 183 Elite 15. 2. 1958 184 Exposición que hace la Junta Directiva del Caracas Country Club de su actuación durante el año que terminó el 31 de diciembre de 1940, a.a.O., o.S. 185 Jaén, Gustavo, Eugenio Mendoza. Apuntes para una interpretación, Caracas 1987, Bildteil S. 122 ff.

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Bolívar dotierte Fundación Mendoza ins Leben, die u.a. mit dem Bau von Schulen u n d Kinderkrankenhäusern der Initiative privater Wohltäter eine wichtige Funktion bei der Lösung sozialer Probleme zuwies. 186 Auch aus der ausländischen Perspektive stellte Eugenio Mendoza sich als tatkräftiger, vorausschauender M a n n seiner Zeit dar. In dem Bildband, den die Reihe der Time-Life Books 1969 Kolumbien, Venezuela u n d den Guayanas widmete, sollte er einer internationalen Leserschaft als einer jener „aufgeklärten" lateinamerikanischen Industriellen vorgestellt werden, die die Gefahren allzu krasser sozialen Unterschiede erkannt hatten u n d darum die US-amerikanische Alliance for Progress unterstützten, die „soziale Reformen zur Bedingung für Wirtschaftshilfe gemacht hat." Auf den Fotografien, die den Artikel eindrucksvoll illustrierten, war Mendoza bei seiner Arbeit als Industriekapitän, bei der Einweihung einer Schule u n d in der Freizeit beim Ausritt auf einer seiner Besitzungen zu sehen. 1 8 7 Als Acción Democrática nach der Beseitigung der Diktatur ihre Zusammenarbeit mit der einheimischen Unternehmerschaft verkündete, hatte sie einen erklärten Unterschied zwischen einer angeblich „konservativen", das heißt an einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Modernisierung des Landes desinteressierten Finanz- u n d Handelsbourgeoisie einerseits, u n d einer „produktiven" Bourgeoisie andererseits gemacht, der sie den Rang eines „taktischen Alliierten im Kampf für wirtschaftliche Entwicklung" zuschrieb. 1 8 8 Einer weitverbreiteten These widersprechend, haben Wirtschaftshistoriker in jüngerer Zeit jedoch darauf hingewiesen, daß es im Venezuela jener Jahre keinen echten Antagonismus zwischen einer Industrie- u n d einer Handelsbourgeoisie gab. 189 Es war ein u n d dieselbe wirtschaftliche Elite, die - w e n n auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten - am Importhandel, am Banken- u n d Versicherungswesen ebenso beteiligt war wie an der Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion oder an den neuen Industrien, die ihre Produkte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus importierten Rohstoffen oder Einzelteilen fertigten. 1 9 0 Ein traditionelles Handelshaus wie das der Boulton betrieb in den fünfziger Jahren die private Fluglinie AVENSA, stellte Zigaretten u n d Liköre her u n d besaß seit 1947 eine Zementfabrik in dem neuen Industriezentrum von Valencia. 1 9 1 Viele Unternehmer hatten sich mit ausländischen Investoren - vor allem aus den Vereinigten Staaten - verbunden. Eugenio Mendoza, der als Führer des sogenannten „Eisensyndikats" die privatwirtschaftlichen Interessen an der geplanten Stahlindustrie

186 187 188 189 190 191

Jimenez Marias, a.a.O., S. 24-27 MacEoin, Gary, Colombia, Venezuela and t h e Guianas, Amsterdam 1969, S. 75, 79-80 Vgl. Werz, a.a.O., S. 149 Purroy, a.a.O., S. 74 Brito Figueroa, Historia econòmica y social de Venezuela, a.a.O., Bd. II, S. 632 Gerstl, a.a.O., S. 271, 348, 350-53

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erfolglos gegenüber dem Staatskapitalismus der Militärs vertreten hatte, verdankte seinen unternehmerischen Erfolg nicht zuletzt den Farben, die er unter der Lizenz der Sherwood Wiliams Paint Company herstellte. 192 Ausländische Investitionen und ausländisches Know-how galten als unerläßliche Voraussetzung für den venezolanischen Fortschritt. So hatte Mendoza 1955 der „Interamerikanischen Konferenz für Investitionen" in New Orleans beigewohnt, um dort für eine Beteiligung USamerikanischen Kapitals an der Industrialisierung Venezuelas zu werben. 193 Die hochtechnisierten ausländischen Industrien, die sich in diesen Jahren in großer Zahl im Land niederließen, stellten sich in den Augen der Venezolaner als Partner im „nationalen Entwicklungsprojekt" dar, und als tatkräftige Mitstreiter im Kampf um den venezolanischen Fortschritt warben die immer zahlreicher vertretenen ausländischen Firmen für sich und ihre Produkte. 194 In Abkehr von der rüden imperialistischen Expansionspolitik des Jahrhundertanfangs hatten sich die industrialisierten Nationen - allen voran die Vereinigten Staaten - einer Politik der wirtschaftlichen und technischen Kooperation verschrieben, die in dem reichen, von grenzenlosem Fortschrittswillen getragenen Erdölland nun ihre Früchte trug. In der Überzeugung, daß die Zukunft Venezuelas in einer engen Zusammenarbeit mit den Industrienationen liege, standen sich Regierung und Unternehmerschaft, Handels- und Industriebourgeoisie dabei durchaus nicht so fern, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Pérez Jiménez sollte die privaten Ansprüche, die die Industrieunternehmer unter der Führung von Eugenio Mendoza auf den Aufbau der neuen Stahlindustrie erhoben, mit der Begründung zurückweisen, die Regierung könne es nicht zulassen, daß eine hauptstädtische „Geldaristokratie" die entstehende venezolanische Industrie an ausländische Investoren verkaufe. 195 Aber dieselbe Regierung, die gegenüber dem sogenannten „Eisensyndikat" einen sich antiimperialistisch gebenden Staatskapitalismus vertrat, hatte 1952 in einem Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten ihre Offenheit für die immer massiveren US-Importe und Investitionen bekräftigt. 196 Trotz aller vordergründiger Interessenkonflikte waren sich Anhänger und Gegner der Militärs letztlich darin einig, daß Venezuela nicht allzu weit davon entfernt war, einen Lebensstandard zu erreichen, der sich an internationalen Maß-

192 Jankus/Malloy, a.a.O., S. 87 193 Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. II, S. 894 194 „(...) dies Ist das moderne und luxuriöse Fabrikgebäude der Firma HEINIKEN in Venezuela", erklärte eine Zeitschriftenwerbung von 1954 und fuhr fort: „HEINIKEN, das beste Bier der Welt, wird Jetzt in Venezuela hergestellt. Holland und Venezuela werden durch diese Industrie in einer gemeinsamen Anstrengung vereint. Das wichtigste Ziel von HEINIKEN Ist es, zum industriellen Gleichgewicht und zur wirtschaftlichen Stabilität Venezuelas beizutragen." Revista Diplomática, La Habana 30. 4 . 1 9 5 4 195 Vallenilla Lanz, Escrito de memoria, a.a.O., S. 335; Stambouli, a.a.O., S. 123 ff. 196 Avendaño Lugo, a.a.O., S. 211; Rincón, a.a.O., S. 93, 147 ff.; Purroy a.a.O., S. 58

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Stäben messen konnte. In einer Zeit, in der man fast überall in der Welt Fortschritt immer ausschließlicher mit technischer Modernisierung gleichsetzte, schien die überwältigende materielle Erneuerung, die das Land in den letzten Jahren erfahren hatte, ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum zu versprechen, das schließlich wie von selbst allen Bevölkerungsschichten zugute kommen mußte. Ganz ähnlich wie die autoritären Politiker, die sie 1958 zu Fall brachte, verstand sich auch die „demokratische" Unternehmerschaft als paternalistisch-technokratische Elite, 197 die in internationaler Zusammenarbeit den Lebensstandard der Venezolaner dem Vorbild der modernen Industriegesellschaften angleichen würde - und beschwor dabei mit ihrer Version des kulturellen Nationalismus, mit ihrer betonten Verbundenheit mit der volkstümlichem Tradition und ihrem philanthropischen Engagement ein durchaus vergleichbares Bild von sozialer Harmonie, unter deren Vorzeichen sich die wirtschaftlich-technische Modernisierung vollziehen sollte. Sich vertiefende wirtschaftliche und politische Konflikte mit den perezjimenistas führten dazu, daß die Unternehmerschaft sich 1958 zum Vorkämpfer demokratischer Rechtsstaatlichkeit machte und aktiv an der Beseitigung der Diktatur mitwirkte. Doch gerade der von politischen Machtwechseln nicht unmittelbar berührte Lebensstil weist auf die Übereinstimmungen hin, die den scheinbar so verschiedenen Entwicklungsmodellen der konkurrierenden Eliten zugrundelagen. Das Venezuela der Zukunft, so lautete die ungeteilte Hoffnung jener Jahre, würde alle Vorzüge des Wohlstands und des technischen Fortschritts genießen - und könnte dabei nach Belieben über jene Tradition verfügen, die dem Leben inmitten einer veränderten Welt seinen unverwechselbaren sabor criollo, seinen „kreolischen Geschmack" gab. Erst aus der Distanz des historischen Rückblicks scheint deutlich zu werden, daß die Venezolaner der Jahrhundertmitte, die in vieler Hinsicht als Vorreiter lateinamerikanischer Modernität gelten können, der Tradition stärker verhaftet blieben, als sie selbst es oft wahrhaben mochten.

197 Vgl. Mittelstrass, Jürgen, Fortschritt und Eliten. Analysen zur Rationalitat der Industriegesellschaft, Konstanz 1984, S. 2 4 - 2 6

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Der demokratische Aufbruch von 1958: Beginn einer neuen Ära?

Der 23. Januar 1958, der Tag, an dem Marcos Pérez Jiménez, seine Familie und seine engsten Mitarbeiter an Bord des Präsidentenflugzeugs Venezuela fluchtartig in Richtung der Dominikanischen Republik verließen, gilt als einer der Wendepunkte der venezolanischen Geschichte. Unterstützt von führenden Unternehmerpersönlichkeiten, regimekritischen Offizieren und hohe Kirchenvertretern hatte eine von den politischen Parteien ins Leben gerufene „Patriotische Junta" einen landesweiten Generalstreik organisiert, der zu einem beinahe unblutigen Machtwechsel führte. Die Führer der demokratischen Parteien, deren Anhänger unter der Diktatur Opfer gewaltsamer politischer Verfolgung gewesen waren, schienen mit den Vertretern einer fortschrittlichen Bourgeoisie zu einem „Konsens der aufgeklärten Eliten" gekommen zu sein, mit dem sich in Venezuela eine der stabilsten Demokratien Lateinamerikas etablieren konnte. 1 Die Venezolaner feierten die Entmachtung eines Diktators, der das Land in die Finsternis der Tyrannei, der Korruption und der Mißwirtschaft gestürzt hatte. Aber nachdem das Jahr 1958 lange Zeit als das Jahr einer einschneidenden Wende, ja als der Beginn einer neuen Zeitrechnung von Rechtsstaatlichkeit und Fortschritt gegolten hat, muß heute, nach mehr als dreißig Jahren demokratischer Erfahrung, die Frage nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die den Regimewechsel kennzeichneten, neu gestellt werden. Tatsächlich gewährt die Art und Weise, wie in den auf den Sturz folgenden Wochen und Monaten die jüngste Vergangenheit in der öffentlichen Diskussion verarbeitet wurde, einen aufschlußreichen Blick auf die Stimmung, die die Anfänge der venezolanischen Demokratie beherrschte. Zeitungen und Zeitschriften ergingen sich in mehr oder weniger seriösen Enthüllungen über Exzesse in den Folterkellern der Seguridad Nacional, über Bestechungsaffären und schamlose Bereicherung an pompösen öffentlichen Bauten „ohne Sinn und Zweck".2 Nicht nur Sensationsblätter wie Venezuela Gráfica gaben phantasievoll ausgeschmückte Schilderungen von den bis heute geheimnisumwitterten Festen auf der den Militärs

1 2

Werz, a.a.O., S. 60-61, 78 ff. Elite 8. 2. 1958

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vorbehaltenen Karibikinsel La Orchila, die angeblich „die lasterhaftesten und lüsternsten römischen Imperatoren hätten verstummen lassen." Auch Elite berichtete von den „tagelangen" Orgien, denen sich die Machthaber in La Orchila hingaben, während das Volk „tausend Entbehrungen" litt. 3 Im März 1958 veröffentlichte die Zeitschrift gar die psychologischen Gutachten zweier Experten, die bei dem „Patienten" Marcos Pérez Jiménez übereinstimmend „Paranoia, Größenwahn und Neurose" diagnostizierten. Während Dr. Reyes Espinoya weiterhin eine geradezu klassische „Sexualpsychose" erkannt zu haben glaubte, stellte Dr. Sánchez Peláez bei einer charakterologischen Prüfung des Expräsidenten zudem „Hysterie, Starrsinn, Jähzorn, emotionale Übererregbarkeit, (...) Feigheit und Grausamkeit" fest. 4 Als zutiefst irrational wurden also die Führer jener Regierung entlarvt, die sich die „rationale Erneuerung" Venezuelas zur Devise gemacht hatte. 5 Im Rückblick erklärte man den in Südamerika angeblich einzigartigen „technischen und progressiven" Impetus, der zum Kernstück der Ideologie des unrühmlich gefallenen Regimes geworden war, zum Deckmantel des Rückschritts, hinter dem die Machthaber nicht viel mehr als die „Technik" des Wahlbetrugs, der Unterschlagung, der Korruption und der Gewalt perfektioniert hatten. 6 In der öffentlichen Meinung, aber auch in der in- und ausländischen Geschichtschreibung hat diese Sichtweise von dem „anachronistischen" Charakter der Militärdiktatur, die die nach dem Tod von General Gómez eingeschlagene Linie des Fortschritts unterbrochen habe, lange Zeit Gültigkeit bewahrt. Hinter der vordergründigen Modernität einer monumentalen Staatsarchitektur, so schien es, waren die rückschrittlichen Kräfte einer überwunden geglaubten Irrationalität noch einmal zur Wirkung gelangt. Günstlingswirtschaft, Korruption und politischer Autoritarismus waren die eigentliche Essenz eines Regimes gewesen, das - indem es sich hinter dem „sprichwörtlichen Pomp der Tyranneien" verschanzte - Venezuela auf den „Fassadenfortschritt" eines Guzmán Blanco zurückwarf. 7 Die einst als Ausdruck einer erfolgreichen Modernisierung gerühmte Baupolitik stellte sich nun als Mittel unehrenhafter Bereicherung und als propagandistische Pose dar, die alle erklärten Modernisierungsabsichten Lügen strafte. Vor diesem Hintergrund schien es nicht mehr als konsequent, wenn die demokratischen Regierungen, die nach 1958 als authentische Modernisierer aufzutreten versprachen, die Fertigstellung einiger jener „pharaonischen" Bauprojekte

3 4 5 6 7

Venezuela Gràfica 14. 2. 1958; Elite 8. 2. 1958 Elite 15. 3. 1958 Pérez Jimenez, a.a.O., S. 12 Dupray, Norman, Huyen las aves de rapifla, Buenos Aires 1959, S. 5-8 Salccdo-Bastardo, a.a.O., S. 558; Lombardi, John V., Venezuela. The Search for Order, The Dream of Progress, NcwYork/Oxford 1982, S. 226

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ablehnten, die der als größenwahnsinnig in Verruf geratene Diktator in Angriff genommen hatte. Bis heute legen gigantische Bauruinen in Caracas Zeugnis von dieser Haltung ab: so der für Ladenstraßen und Ausstellungsräume vorgesehene spiralförmige Bau des Helicoide, der trotz unzähliger späterer Nutzungspläne nie einer praktischen Bestimmung zugeführt worden ist. 8 Vernichtende Kritik erntete auch der lautstarke Nationalismus der gestürzten Regierung, der in den von Regimegegnern als „faschistoid" 9 bezeichneten Paraden und folkloristischen Aufmärschen der „Wochen des Vaterlandes" einen spektakulären Höhepunkt gefunden hatte. „Es gibt keine Semana de la Patria mehr", konnte Elite im Februar 1958 triumphierend verkünden und endlich - ohne länger auf eine unerbittliche Pressezensur Rücksicht nehmen zu müssen - unumwunden feststellen, daß diese treffender als „Woche von Pérez Jiménez" bezeichnet worden wären, da sie einzig und allein der „Verherrlichung" des Diktators dienten. Unsummen sollen diese Feiern verschlungen haben, und die Zeitschrift wollte von einträglichen Geschäften wissen, die Regierungsmitglieder mit dem Verkauf von Uniformen und Fahnen gemacht hatten. 1 0 Zu den Anklägern des unglaubwürdigen Patriotismus eines Regimes, dessen skrupellose Machtpolitik es im Gegenteil als Feind der nationalen Interessen entlarvt zu haben schien, gehörten ebenfalls jene fortschrittlichen Unternehmer, die unter Berufung auf einen rechtsstaatlichen - also „wahrhaft" integralen - Nationsgedanken an dem Sturz der Diktatur maßgeblich beteiligt gewesen waren. In den folgenden Jahrzehnten sollte diese Großbourgeoisie über den Unternehmerverband Fedecámaras einen nicht geringen Einfluß auf die demokratischen Regierungen Venezuelas ausüben. 11 So schien 1958 der seit dem vorigen Jahrhundert schwärende Konflikt zwischen einem konstitutionalistisch gesinnten Bürgertum und jenen „starken Männern" zu einem glücklichen Ende gekommen zu sein, die die autoritäre Macht, die sie im Namen des Fortschritts an sich zu reißen pflegten, schließlich immer wieder in den Dienst ihrer Interessen und denen ihrer Klientel stellten.

8

Nachdem dreißig Jahre nach dem Sturz von Pérez Jiménez auch an die demokratischen Regierungen kritischere Maßstäbe angelegt werden, gilt der Helicoide, in dem in den siebziger Jahren zeitweilig Slumbewohner ihre provisorischen Behausungen errichteten, vielen Venezolanern nicht mehr allein als Ergebnis diktatorischen Geltungsbedürfnisses, sondern mittlerweile ebenso als Symbol demokratischer Handlungsunfähigkeit. Vgl. Goldberg, a.a.O., S. B 7. Ein ähnlicher Fall Ist ein als Hospital geplantes Hochhaus mit futuristischer Fassade in der Avenida O'Higgins in El Paraíso, das niemals fertiggestellt wurde, aber auch das 1956 von dem Architekten Tomás J. Sanabria im Auftrag der Regierung auf dem Gipfel des Avila erbaute Hotel Humboldt, das seit dem Ende der sechziger Jahre nicht mehr in Betrieb ist.

9 10 11

Betancourt, a.a.O., S. 691 Elite 15. 2. 1958 Brewer-Carias, Allan-R., 50 años en la evolución institucional de Venezuela, 1926-1976, in: Velásquez, Ramón J. et al., Venezuela moderna. Medio siglo de historia 1926-1976, Caracas 1979, S. 750-757; Fundación Polar (Hg.), a.a.O., Bd. I, S. 501-503

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Die Auseinandersetzung zwischen einem rückständigen Diktator und einer von diesem angeblich entmachteten, fortschrittlichen Oberschicht war in den letzten hundert Jahren geradezu zu einem festen Topos der venezolanischen Geschichte geworden. Auch 1936, nach dem Tod von General Gómez, hatte die Bourgeoisie das Ende einer Zeit des politischen Obskurantismus und Venezuelas Erwachen zu einem „wahrhaft republikanischem Leben" verkündet. 12 Die problematische Konstellation, in der sich Oberschicht und Diktator gegenüberstanden, ging auf historische Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zurück. Damals, im Zeitalter der rustikalen Reitercaudillos, hatte sich der Konflikt zwischen der hauptstädtischen Elite und den machthungrigen Militärführern aus der Provinz aus der Sicht der ersteren als der Konflikt zwischen dem primitiven Landesinneren und den die Zivilisation repräsentierenden Städten dargestellt.13 Diese überlieferte Vorstellung vom Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen bürgerlichem Fortschritt und despotischer Rückständigkeit wirkte auch in der Einschätzung nach, die den gomecismo ebenso wie den perezjimenismo im nachhinein zu Epochen des Rückschritts und der Irrationalität erklärte. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, daß der caudillismo sich im Lauf seiner Geschichte den politischen Bedürfnissen der sich konsolidierenden Republik weitaus besser anzupassen wußte, als es zunächst den Anschein hat. Mochten die Caudillos in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in der Tat eine „Verländlichung des politischen Lebens" herbeigeführt haben - bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte zeigten sie sich bereit, an der von den europäisierten städtischen Eliten angestrebten Modernisierung von Staat und Wirtschaft teilzuhaben. 14 Als gewandter Geschäftsmann mit kosmopolitischen Lebensgewohnheiten, Führer der Liberalen Partei und energischer Verfechter einer Einbindung Venezuelas in den Weltmarkt hatte seit 1870 vor allem Präsident Guzmán Blanco bewiesen, daß der stets der Rückschrittlichkeit bezichtigte Caudillo sich zum Wegbereiter des Fortschritts machen konnte. Auch die geradezu zur Konvention erhobene These von der Rückständigkeit des gomecismo ist von der Geschichtsschreibung neuerdings hinterfragt worden. Angesichts einer nach den Wirren des 19. Jahrhunderts bahnbrechenden Zentralisierung der politischen Macht und einer tiefgreifenden Modernisierung von Bürokratie und Militär werden die Jahre der Herrschaft von Juan Vicente Gómez neuerdings als eine wichtige Etappe der Rationalisierung der venezolanischen Politik angesehen.15 12 13 14 15

Elite 1. 1. 1936 Burns, a.a.O., S. 21 Wcrz, a.a.O., S. 37; Urbaneja, a.a.O., S. 39 ff. Sonntag, a.a.O., S. 15. Zu den Historikern, die als erste das Tabu durchbrochen und auf die fortschrittlichen Aspekte der Regicrungszeit von Juan Vicente Gómez hingewiesen haben, gehört u.a. Angel Ziems mit seiner Arbeit über die Institutionalisierung der venezolanischen Streitkräfte: El gomecismo y la formación del ejército nacional, Caracas 1979

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Es war vor allem der Einfluß des europäischen Positivismus, der seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Figur des fortschrittsbringenden Caudillo deutlichere Züge verlieh. Juan Vicente Gómez, der 1899 mit Castros Eroberungszug aus dem Táchira in die Hauptstadt gekommen war, kann als der letzte regionale Militärführer traditionellen Zuschnitts gelten, der in Venezuela zur Macht gelangte. Der Diktator, den seine positivistischen Ideologen zum „notwendigen Gendarmen" 16 in einem von Anarchie zerrissenen Land erklärten, war jedoch auch der erste venezolanische Präsident, der die Comtesche Devise von „Ordnung und Fortschritt" zur programmatischen Grundlage einer autoritären Herrschaft zu machen wußte. Und während Oberst Pérez Jiménez sich von dem traditionellen, „bäurischen" caudillismo eines Juan Vicente Gómez erklärtermaßen zu distanzieren wünschte, knüpfte der Diktator der fünfziger Jahre in zeitgemäßerer Weise an dieselbe Rolle des autoritären Modernisierers an, der ein rückständiges Land mit starker Hand in den Fortschritt zu führen versprach. Dabei wußten die gomecistas ebenso wie die perezjimenistas in ihrem Lebensstil wirkungsvoll das Image von Effizienz und Tatkraft zu unterstreichen, das sie für eine Führungsposition bei der angestrebten Modernisierung Venezuelas berufen erscheinen ließ. Juan Vicente Gómez, in der Überlieferung vor allem als Anhänger „rückständiger" ländlicher Vergnügungen wie dem Hahnenkampf bekannt, war keineswegs in jeder Hinsicht ein Traditionalist und entfaltete große Anstrengungen, um dem Leben in seiner Residenzstadt Maracay moderne, großstädtische Züge zu verleihen. Vor allem betonte jedoch die asketische, disziplinierte Lebensweise des Patriarchen die „ordnungstiftende" Mission eines Regierungsführers, dem die Aufgabe zugeschrieben wurde, die Grundlagen des venezolanischen Fortschritts zu schaffen. Zwanzig Jahre später war Venezuela unter dem Einfluß des Öls zu einem der wohlhabendsten und äußerlich modernsten Länder Südamerikas geworden, und so entsprach das dynamischere Bild, das der Technokrat Pérez Jimenez mit seiner Vorliebe für schnelle Autos und Motorjachten an den Tag legte, einer Zeit, die von optimistischer Aufbruchsstimmung und grenzenlosem Technikglauben geprägt war. Die Betrachtung des Lebensstils zeigt jedoch auch, daß jene scheinbar in sich widersprüchliche Entwicklung, die - am Maßstab der demokratischen Industrienationen gemessen - als „ungleichzeitige Modernisierung" bezeichnet worden ist, in Wahrheit auf der für den venezolanischen Entwicklungsweg charakteristischen Verbindung von Tradition und Moderne beruht und demnach ihren eigenen Gesetzen folgt. Juan Vicente Gómez ebenso wie Marcos Pérez Jiménez sind in die venezolanische Geschichte als Männer eingegangen, die die Willkür, Gewaltsamkeit und Egozentrik eines überlieferten machismo in das politische Leben 16

Vallenilla Lanz sr., C e s a r l s m o d e m o c r á t i c o , a.a.O., S. 1 6 5

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hineintrugen und so der Modernisierung, die sie versprachen, letztlich selbst im Wege standen. Doch der Ballast rückständiger Lebensweisen, den die Caudillos des vorigen Jahrhunderts an die Führer des modernen Venezuela vererbt zu haben schienen, gereichte deren Ansehen durchaus nicht so sehr zum Nachteil, wie es das einhellig negative Bild nahelegt, das die Venezolaner im nachhinein von den „barbarischen" Gepflogenheiten ihrer gestürzten Despoten gezeichnet haben. Es erweist sich vielmehr, daß gerade die an überlieferte Werte und Verhaltensmuster anknüpfende Lebensführung, die den venezolanischen Machthabern den Vorwurf der Irrationalität eintrug, für den Erhalt ihrer Macht eine wichtige Rolle spielte, ja in diesem Sinne traditionelle Gepflogenheiten geradezu kultiviert wurden. Dem Personalismus als Grundprinzip der caudillistischen Herrschaft entsprach ein Lebensstil, der einerseits die Figur eines charismatischen Führers heraushob und andererseits die persönlichen Bindungen zu seiner Klientel festigte. In vielen Details ihres Alltagslebens zeigte sich, wie die Regierungschefs des modernen Venezuela um jene Ausstrahlung von unverbildeter Männlichkeit bemüht waren, die - mochte sie im Rückblick auch als Ausdruck der Ungeschliffenheit machthungriger Emporkömmlinge gewertet werden - einen Politiker in den Augen vieler seiner Landsleute im Gegenteil als Führer der nationalen Geschicke besonders geeignet erscheinen ließ. Auch an jene althergebrachte patriarchalische Jovialität, die der traditionelle Caudillo bei informellen Geselligkeiten gegenüber seinen Gefolgsleuten an den Tag zu legen pflegte, wußten Gómez und Pérez Jiménez geschickt anzuknüpfen und so dem alten Prinzip der persönlichen Loyalität, die die Männer der Macht stets miteinander verbunden hatte, neue Wirkungskraft zu verleihen. Der venezolanische Politologe Luis Britto Garcia hat jüngst in einer wegweisenden Untersuchung des symbolischen Systems caudillistischer Machtlegitimierung als typische Elemente des Image der großen venezolanischen Führerfiguren u.a. genannt: körperliche Widerstandsfähigkeit und machismo, einfache Herkunft und Vorliebe für volkstümliche Vergnügungen sowie Freigiebigkeit gegenüber Freunden und Anhängern. 17 Wirklich spielte der kulturelle Traditionalismus, den die Machthaber in ihrem Lebensstil betonten, eine wichtige Rolle für ihre Selbstdarstellung als „Mann des Volkes", dessen bodenständige Verbindung mit seinem Land ihm als tatkräftigem Verfechter nationaler Interessen Überzeugungskraft verlieh. Während der ob seines politisches Instinkts oft gerühmte Juan Vicente Gómez gespürt haben mochte, daß er mit der Beharrlichkeit, mit der er an volkstümlichen Lebensgewohnheiten festhielt, seinem Ansehen keineswegs schadete, sollten in den fünfziger Jahren Pérez Jiménez und seine Mitstreiter sehr viel gezielter an ihrem Image von volkstümlicher Verwurzelung arbeiten. In einem veränderten Venezuela, in dem die 17

Britto Garría, a.a.O., S. 9 2 ff.

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Massenmedien einen neuen, breiteren Raum von gesellschaftlicher Kommunikation geschaffen hatten, gelang es den perezjimenistas, mit einer aufwendigen nationalistischen Kulturpolitik das caudillistische Prinzip der „Volksnähe" zu moderner propagandistischer Perfektion zu führen. 18 Das Nebeneinander von Tradition und Moderne, das den Lebensstil der autoritären Machthaber kennzeichnete, fand im politischen Bereich in einer charakteristischen Verbindung von Fortschrittlichkeit und Konservativismus seine Entsprechung. Auf einen scheinbaren Widerspruch zwischen seiner Offenheit für technische Neuerungen einerseits und seiner Verschlossenheit gegenüber allen die patrimoniale Macht gefährdenden Faktoren andererseits haben in jüngster Zeit Analysen des politischen Systems des gomecismo hingewiesen. 19 Auch die Militärherrscher der fünfziger Jahre hatten sich ein Regierungsprogramm zu eigen gemacht, in dem die drängendsten sozialen Probleme des modernen Venezuela technischen Lösungen zugeführt und dadurch allzu weitreichende politische und gesellschaftliche Veränderungen sozusagen überflüssig werden sollten. So erweist sich das technokratisch-paternalistische Modernisierungsprogramm, das - wie Kritiker meinten - unter der Herrschaft von Gómez oder Pérez Jiménez nur als Deckmantel einer rückschrittlichen, personalistischen Herrschaft gedient hatte, bei näherer Betrachtung als Ergebnis eines grundlegenden Strukturprinzips des modernen Caudillismus. Wie stand nun die venezolanische Oberschicht einem autoritären Entwicklungsmodell gegenüber, das Politologen mit der Formel „Modernisierung im Dienst des Personalismus" 20 zusammengefaßt haben? Zweifelsohne ist das Bild einer demokratischen, wettbewerbsorientierten Bourgeoisie, mit dem diese nach dem Sturz von Pérez Jiménez ihren Anspruch auf eine führende Rolle im politischen Leben der jungen Demokratie zu rechtfertigen suchte, ebenso einer kritischen Prüfung zu unterziehen wie das Stereotyp der rückständigen Caudillos, die sich dem fortschrittlichen Impetus dieses Bürgertums angeblich immer wieder in den Weg stellten. Arturo Uslar Pietri hatte 1958 versichert, daß von der Existenz einer antidemokratischen Oligarchie, die mit Hilfe ihres Reichtums die politische Macht kontrolliere, in Venezuela keine Rede sein könne. 21 Mit seiner Behauptung, daß es in Venezuela keine auf die Kolonialaristokratie zurückgehende Machtelite gebe, sondern daß die venezolanische Oberschicht stets ein höchst unbeständiges Gebilde von wechselnder Zusammensetzung gewesen sei, folgte Arturo Uslar - der selbst jenen großbürgerlichen Kreisen angehörte, für deren demokratischen Ruf er zu 18

Castillo d'Imperlo, Un centro de investigación cultural: El Instituto Nacional de Folklore, in: Vessuri, a.a.O., S. 1 8 2 - 1 8 5

19

Urbaneja, in: Pino Iturrleta et al., a.a.O., S. 61

20

21

Ebd.

Elite 3. 5. und 10. 5. 1958

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Felde zog - einer etablierten positivistischen Geschichtsauffassung. Schon Vallenilla Lanz sr. hatte 1919 in seinem historischen Hauptwerk Cesarismo democrätico in diesem Sinne behauptet: „Unser instinktiver Egalitarismus, unser noch undisziplinierter, abenteuerlicher und heroischer Individualismus haben die Vorherrschaft einer einzelnen Kaste, Klasse oder Oligarchie unmöglich gemacht (..,)." 22 Es kann sicherlich kaum bestritten werden, daß die standesstolze Oberschicht des kolonialen Venezuela mit den kriegerischen Wirren und der wirtschaftlichen Misere des 19. Jahrhunderts eine tiefe Krise durchlaufen hatte. Dennoch spielten viele der altangesehenen Hacendados in dem Agrarexportland wirtschaftlich nach wie vor eine wichtige Rolle und hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegenüber der sich mit dem wachsenden Außenhandel konsolidierenden Kaufmannschaft an gesellschaftlichem Prestige nichts verloren. Tatsächlich ist in diesem Zusammenhang ein weiteres historisches Klischee in Frage zu stellen, das eine mindestens ebenso große Lebensdauer bewiesen hat, wie die Behauptung von der angeblich uneingeschränkten Rückständigkeit der Caudillos: Literatur und Geschichtsschreibung haben das Bild einer dekadenten Großgrundbesitzerelite überliefert, die sich von einer unproduktiven feudalen Lebensführung nicht loszusagen vermochte und ihre traditionelle Führungsposition schließlich an eine leistungs- und durchsetzungsfähigere städtische Bourgeoisie abgeben mußte. 23 Wirklich mochten viele jener einst angesehenen Familien, die in der Provinz an traditionellen Lebensweisen festhielten, im Lauf der Zeit hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeblieben und allmählich der Vergessenheit anheimgefallen sein. 24 Die wohlhabendsten Landbesitzer waren jedoch meist seit langem auf die Städte orientiert, und ihre Söhne, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die höheren Schulen und Universitäten bevölkerten, nahmen in der sich modernisierenden staatlichen Bürokratie beherrschende Positionen ein. Die Neigung zu einem dandyhaften Lebensstil von weltmännischer Eleganz, die nicht wenige dieser Hacendadosöhne an den Tag legten und die immer wieder die Aufmerksamkeit von Literaten und Historikern auf sich gezogen hat, muß in der Tat als unmißverständlicher Ausdruck ihres Strebens nach feudaler Exklusivität gewertet werden. 25 Aber es war gleichzeitig eben diese gebildete traditionelle Elite, die als 22

Vgl. Bonilla, Frank und Silva Mlchelena, José A. (Hg.), The Politics of Change In Venezuela, Cambridge/Mass, und London/England 1 9 6 7 - 1 9 7 1 , Bd. II: The Failure of Elites, S. 36

23

Eine der zahllosen literarischen Verarbeitungen des Themas, die an drastischer Zuspitzung nichts zu wünschen übrig lassen, liefert Carlos Elias Villanueva mit der Schilderung des wirtschaftlichen und moralischen Verfalls einer aristokratischen venezolanischen Familie in seiner Erzählung „La casa de los Arrublas", In: ders., Ronda de muñecos, Barcelona 1922, S. 11 ff.

24

Am Beispiel der alten Kolonialstadt Carora ist die zunehmende wirtschaftliche und kulturelle Marginalisierung der Provinzeliten untersucht worden bei: Garría Ponce, Antonio, Crisis, oligarquía y latifundio. Carora 1 9 2 9 - 1 9 3 5 , Barquisimeto 1986 Romero, José Luis, a.a.O., S. 2 6 2

25

272

erste mit Enthusiasmus die Theorien des europäischen Positivismus aufgriff und ihren kulturellen sowie ihren nicht unbeträchtlichen politischen Einfluß geltend machte, um Venezuela einer grundlegenden, von der neuen positivistischen Forderung nach Rationalität geleiteten Modernisierung zu unterziehen. Die so häufig der feudalen Weltfremdheit geziehenen Nachfahren der vornehmsten venezolanischen Familien traten dabei nicht nur als vergeistigte Theoretiker des Fortschritts auf, für den sie sich vielmehr als Politiker, Ärzte oder Ingenieure tatkräftig engagierten. Mit expandierenden Finanz- und Handelsgeschäften trugen Angehörige der traditionellen Elite auch als städtische Unternehmer aktiv zu jener Einbindung in den Weltmarkt bei, die nach der kolonialen Isolation als Voraussetzung für eine Modernisierung des südamerikanischen Landes galt - wenn auch die Landwirtschaft, die eigentliche Grundlage dieses exportorientierten Entwicklungsmodells, dabei zunehmend ins Abseits geriet. 26 Zogen zahlreiche Großgrundbesitzer das Stadtleben also bereits seit langem der Abgeschiedenheit ihrer ländlichen Besitzungen vor, so galt dies erst recht für das Zeitalter des Erdöls, in dem die wachsenden städtischen Zentren eine Vielzahl neuer Geschäftsmöglichkeiten boten und vor allem das Leben in der sich modernisierenden Hauptstadt immer attraktiver wurde. Auch den Nachfahren jener aristokratischen Familien, die im 19. Jahrhundert ein bescheidenes Dasein gefristet hatten, denen Bildung und gesellschaftliches Prestige nun aber zu einer guten Ausgangsposition verhalfen, sollte sich mit der zunehmenden Bedeutung, zu der das Erdöl der städtischen Wirtschaft verhalf, die Gelegenheit bieten, ihre finanzielle Situation wieder zu verbessern. Dabei näherten sich Großbürgertum und Aristokratie einander nicht nur als Geschäftspartner oder durch eheliche Verbindungen an, die den Glanz bürgerlicher Vermögen mit dem vornehmen Klang traditionsreicher Namen verknüpften. Die Verschmelzung alter und neuer Eliten ließ sich vor allem auch an einer zunehmenden kulturellen Angleichung ablesen. Die vorliegende Untersuchung des Lebensstils der venezolanischen Oberschicht hat sich zunächst von der heuristischen Annahme eines greifbaren Gegensatzes zwischen einem fortschrittsorientierten neuen Bürgertum und einer an den überlieferten Ritualen von feudaler Repräsentativität festhaltenden traditionellen Elite leiten lassen. Gerade die Betrachtung der sich wandelnden Lebensgewohnheiten von „Bürgern" und „Aristokraten" aber hat gezeigt, daß es im Kräftespiel der um gesellschaftlichen Status rivalisierenden Gruppen relativ bald zu einer wechselseitigen Durchdringung von Wertvorstellungen und Verhaltensmustern kam. So erlag das neue Großbürgertum dem Prestige feudaler Lebensgewohnheiten und gab sich durch den Erwerb von stadtnahen, vor allem für Freizeitzwecke 26

Carrera Damas, Una nación llamada Venezuela, a.a.O., S. 82

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genutzten Landgütern einen seigneuralen Anstrich, pflegte mit ausgedehnten Auslandsreisen jenen vornehmen Absentismus, den man in der Regel den Großgrundbesitzern zuzuschreiben gewohnt ist, und legte eine wachsende Neigung zu verschwenderischer Repräsentativität an den Tag. Ihrerseits zeigte sich die alteingesessene Elite von der fortschrittsbetonten Weitläufigkeit beeindruckt, mit der sich die wirtschaftlich erfolgreiche, in engem Kontakt mit dem Ausland stehende Handelsbourgeoisie zum Vorreiter alltagskultureller Innovationen machte, und wollte hinter deren mondäner Weltoffenheit nicht zurückstehen. Dieser Prozeß der gegenseitigen Annäherung von bürgerlichen und landbesitzenden Eliten ließ in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine neue, relativ homogene Oberschicht entstehen, die dem alten kolonialen Stadtkern allmählich den Rücken kehrte und sich in dem Villenviertel von El Paraíso mit seinen exklusiven Sportund Freizeiteinrichtungen einen gemeinsamen Lebensraum schuf, der zeitgemäßeren Ansprüchen genügen sollte. Sicherlich war es in Europa zu einer ähnlichen Annäherung von Aristokratie und Bürgertum gekommen, und der neofeudale Lebensstil, den die Bewohner von El Paraíso pflegten, ging offensichtlich auf das Vorbild der europäischen Eliten der Jahrhundertwende zurück. In einem Land wie Venezuela jedoch, wo ein umfassender, alle Bevölkerungsschichten miteinbeziehender Modernisierungsprozeß erst stattfinden sollte, mußte die Mischung von sich fortschrittlich gebender Auslandsorientierung und feudaler Exklusivität, die den Lebensstil dieser Gruppe kennzeichnete, grundsätzlich andere Folgen als in Europa zeitigen: Der Fortschritt selbst nahm exklusiven Charakter an und wurde nicht zum allgemein verbindlichen gesellschaftlichen Leitbild, sondern zum Statussymbol, das einer privilegierten Minderheit als ein besonders wirksames Mittel der gesellschaftlichen Abgrenzung diente. Dieses Phänomen, das villeicht als eines der charakteristischsten Strukturmerkmale des Lebensstils der venezolanischen Oberschicht gelten kann, ließ sich auch bei jener Generation beobachten, die aus dieser Allianz von alten und neuen Eliten hervorgegangen war und die man in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts mit bemerkenswerter Unbefangenheit als die „Aristokratie" des Country Club zu bezeichnen pflegte. 27 Im Vergleich zu den Bewohnern von El Paraíso hatten die Mitglieder des Country Club den am europäischen Vorbild orientierten, neofeudalen Lebensstil des Jahrhundertanfangs gegen die aktuelleren Gepflogenheiten einer internationalen Unternehmerbourgeoisie ausgetauscht. Aber noch immer führte diese Gruppe ihre gesellschaftliche Vormachtstellung auf ihren engen Kontakt mit dem „zivilisierten" Ausland und ihre Kenntnis von dessen fortschrittlichen Lebensgewohnheiten zurück, wobei sie ihren mittlerweile über Generationen überliefer27

Elite 15. 3. 1958

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ten Kosmopolitismus mit einem für „unversierte" gesellschaftliche Neuaufsteiger unnachahmlichen Anstrich von feudaler Distinktion zu umgeben wußte. Tatsächlich erlaubt es die Betrachtung des Lebensstils nicht nur, jene These von der demokratischen Durchlässigkeit der venezolanischen Oberschicht in Frage zu stellen, zu der sich Historiker und Politologen angesichts der ursprünglich heterogenen Zusammensetzung dieser Gruppe immer wieder haben verleiten lassen 2 8 : Unbestritten gab es in Venezuela keine unmittelbar auf die Kolonialaristokratie zurückgehende Oligarchie, wohl aber eine sich seit der Jahrhundertwende konsolidierende städtische Oberschicht, in der traditionelle und bürgerliche Eliten zusammengefunden hatten und die in der Folge ihre Distanz gegenüber Außenseitern durch exklusive Kulturpraktiken eindrucksvoll zu betonen verstand. Die Analyse der Werte und Leitbilder, die dem Lebensstil dieser Gruppe zugrundelagen, läßt zudem Rückschlüsse auf ihr Verhältnis zur politischen Macht zu, die einer auf vordergründige Differenzen ausgerichteten Geschichtsschreibung zu entgehen drohen. Das elitäre Fortschrittsverständnis, das aus dem Lebensstil der Oberschicht sprach, hatte stets in ihrem politischen Handeln seinen Niederschlag gefunden und rückte sie auch in den fünfziger Jahren näher an die „nationalistischen" Militärherrscher heran, als die sich verschärfenden

Interessenkonflikte

vermuten lassen möchten, die sie 1958 schließlich zum Bruch mit der Diktatur veranlaßten. Angehörige der städtischen Elite waren es gewesen, die seit dem 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des europäischen Positivismus der Figur des modernen Caudillo die theoretischen Grundlagen geliefert und dessen ordnungstiftende, autokratische Herrschaft zu einer nicht zu umgehenden Etappe auf Venezuelas Weg in den Fortschritt erklärt hatten. In diesem Sinne vertraten nicht wenige Angehörige der Oberschicht in den fünfziger Jahren die Ansicht, daß eine „aufgeklärte Diktatur (...) den Fortschritt und die soziale Gerechtigkeit nötigenfalls mit Gewalt herbeiführen" müsse und erklärten sich zur Zusammenarbeit mit der Regierung bereit. 2 9 Gerade die Untersuchung des Lebensstils jedoch deutet darauf hin, daß auch jene Teile der Großbourgeoisie, die 1958 den Sturz der Militärregierung betrieben, sich im Grunde von einem ähnlichen elitär-paternalistischen Fortschrittsverständnis leiten ließen. Anhänger und Gegner der Diktatur huldigten einem vergleichbaren Ideal von technokratischem

„Entwicklungsherois-

mus" und zeigten sich unter dem zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Druck, der von einer wachsenden städtischen Mittel- und Unterschicht ausging, gleichermaßen um ein Image von kultureller Volkstümlichkeit und wohltätigem sozialen Engagement bemüht. Unter demokratischem Vorzeichen verfochten auch

28 29

Vgl. Blank, David Eugene, Politics In Venezuela, Boston 1973, S. 17 Vallenilla Lanz, E s a i t o de memoria, a.a.O., S. 303, 3 0 6 - 3 0 7

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die neuen bürgerlichen Unternehmerpersönlichkeiten, die nach 1958 über den Unternehmerverband Fedecámaras entscheidenden Einfluß auf die venezolanische Politik nehmen sollten, den Gedanken eines schichtenübergreifenden Gesellschaftsbündnisses, das unter der Führung einer „technischen" Elite in einer gemeinsamen Anstrengung alle Kräfte auf die physischen Grundlagen des venezolanischen Fortschritts konzentrieren sollte. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen muß die bis in die jüngste Zeit immer wieder erhobene These vom perezjimenismo als vorübergehendem Rückfall in die Barbarei der Despotie, dem ein grundsätzlich fortschrittliches und demokratisches Venezuela zum Opfer gefallen sei, 30 äußerst fragwürdig erscheinen. Der technische „Perfektionismus" 3 1 , der die später verfemten Prestigebauten des Militärregimes zur steingewordenen Verkörperung diktatorischer Selbstherrlichkeit zu machen schien, stellt sich im Gegenteil nur als eine der möglichen Verwirklichungen eines allgemein anerkannten Entwicklungsmodells dar, das die erfolgreiche Anwendung technischen Wissens als Garanten sozialer Harmonie verstand - das heißt als Garanten überlieferter Gesellschaftsstrukturen. Jene auffallende „Ungleichzeitigkeit" von technischer und politischer Modernisierung, die der venezolanischen Entwicklung in den Augen ihrer Kritiker den Anstrich des Disproportionalen, Unorganischen gab, kann demnach nicht nur, wie es die Oberschicht nach 1958 verstanden wissen wollte, als Ergebnis des immer wieder gegen ihren Willen triumphierenden Machthungers rückständiger Caudillos gedeutet werden. Sie entsprach weitgehend auch dem Selbstverständnis einer etablierten gesellschaftlichen Elite, die dem technischen Fortschritt und einer materiell greifbaren Modernisierung absolute Priorität einräumte, während sie an einer paternalistischen Machtauffassung festhielt, die sich einer grundlegenden demokratischen Rationalisierung der Gesellschaftsordnung widersetzte. Indem Parallelen auf dem Gebiet der Lebensstile auf ein spezifisches Fortschrittsverständnis hinweisen, das die autoritären Machthaber der fünfziger Jahre trotz aller politischen Konflikte mit der „demokratischen" Unternehmerelite teilten, trägt diese kulturbezogene Geschichtsbetrachtung dazu bei, Einblick in strukturelle Probleme zu gewinnen, mit denen Venezuela sich auf seinem Weg in die Moderne konfrontiert sah. Gerade die Untersuchung der Lebensstile und der sie bestimmenden kulturellen Prägungen bietet sich somit als Grundlage an, um nach gesellschaftlichen Kontinuitäten zu fragen, die von politischen Machtwechseln unberührt blieben. Angesichts der in vielen wesentlichen Aspekten übereinstimmenden Leitbilder, denen die um die Macht rivalisierenden Gruppen folgten, stellt sich vor allem die Frage, wie tiefgreifend der Bruch tatsächlich war, mit dem

30

Salcedo-Bastardo, a.a.O., S. 4 8 4

31

Castillo d ' I m p e r l o , Los a ñ o s del buldozcr, a.a.O., S. 1 5 8

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die Demokraten 1958 endgültig den Sieg über einen Autoritarismus errungen zu haben schienen, der sich dem Fortschritt angeblich immer wieder in den Weg gestellt hatte. Nachdem Venezuela heute, im Jahre 1992, auf mehr als dreißig Jahre demokratischer Erfahrung zurückblicken kann, muß jede Beurteilung der Wende von 19S8 durch die Kenntnis der Entwicklung bestimmt werden, die das Land in diesen Jahrzehnten vollzogen hat. Daß viele der Hoffnungen, die sich damals mit dem Beginn einer neuen demokratischen Ära verknüpften, heute fragwürdig geworden zu sein scheinen, hängt vor allem mit zwei einschneidenden Ereignissen zusammen, die der Geschichte der venezolanischen Demokratie in den letzten Jahren eine neue, besorgniserregende Wendung gegeben haben. Nachdem die seit dem Beginn des Ölbooms unverändert starke Landeswährung den wohlhabenden Venezolanern über Jahrzehnte hinweg Zugang zu allen Annehmlichkeiten des Fortschritts gewährt hatte, leitete der plötzliche Verfall des Bolívar - im Zusammenhang mit einer zunehmenden Auslandsverschuldung und weltweit sinkenden Ölpreisen - im Februar 1983 eine wirtschaftliche Talfahrt ein, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Das traumatische Bewußtsein einer tiefen Krise stellte sich endgültig am 27. Februar 1989 ein, als eine Woche blutiger Unruhen begann, die mit mehreren Hundert Toten zu einer der gewaltsamsten Eruptionen sozialer Unzufriedenheit wurde, die das südamerikanische Land im 20. Jahrhundert erlebt hat. 32 Die einst mit großem Enthusiasmus begrüßte Demokratie, die im Gegensatz zu dem „Fassadenfortschritt" der perezjimenistas eine grundlegende politische und wirtschaftliche Modernisierung versprochen hatte, ist bei nicht wenigen Venezolanern mittlerweile in Verruf geraten. 33 Nicht nur die Kluft zwischen den privilegierten Schichten, die die eleganten Wohngegenden, Büro- und Geschäftsviertel im Osten des Tals von Caracas bevölkern, und jenen, die auf den Hügeln rings um die Stadt behelfsmäßige Behausungen errichtet haben, droht in den letzten Jahren immer tiefer zu werden. Eine effektive politische Erneuerung scheint auch insofern mißgelungen, als die demokratisch gewählten Regierungen durchaus nicht die erwartete Neigung zeigen, sich den Prinzipien jener Rechtsstaatlichkeit zu beugen, die 1958 einen triumphalen Sieg errungen zu haben schien. Innerhalb der politischen Parteien, die nach dem Sturz der Diktatur die politische Macht übernommen haben, knüpft man unverändert an die überlieferten Strukturen der Patronage und des Klientelismus an, und nahezu täglich bewegen Korruptionsskandale die venezolanische Öffentlichkeit. Der Typus des modernen Caudillo, der technische Fortschrittlichkeit mit einer personalistischen Machtauffassung verbindet und der in Gómez und Pérez 32 33

El Nacional (Hg.), 27 de febrero. C u a n d o la muerte t o m ó las calles, Caracas 1990 Diese Demokiatiemüdigkelt glaubten sich auch die Anführer des fehlgeschlagenen Militärputsches v o m 4. 2. 1992 zunutze machen zu k ö n n e n .

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Jiménez autoritäre Verkörperungen gefunden hatte, prägt in der zeitgemäßeren Gestalt der charismatischen Führer der großen Volksparteien auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. 3 4 Dabei hat die paternalistische „Volksverbundenheit", die stets für den Lebensstil der Caudillos typisch war, keineswegs an Wirkungskraft verloren und ist zum festen Bestandteil mediengerechter Imagepflege geworden. 3 5 Auch eine grundsätzliche ökonomische Konsolidierung läßt bislang auf sich warten, und es scheint, als ob sich mit der immer bedrohlicheren Wirtschaftskrise der letzten Jahre jene Warnungen bewahrheitet haben, die Arturo Uslar Pietri schon vierzig Jahre zuvor bezüglich der Vergänglichkeit eines Reichtums ausgesprochen hatte, der von außen ins Land geflossen und nicht das Ergebnis eigener produktiver Anstrengung war. 3 6 Vor allem die venezolanische Unternehmerschaft, die über Jahrzehnte hinweg von der staatlichen Subventionspolitik der demokratischen Regierungen profitiert hat, ist in jüngster Zeit für die offenkundig werdenden wirtschaftlichen Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht und der unproduktiven Verschwendung von finanziellen Ressourcen bezichtigt worden. Versteht man unter Modernisierung also Rationalisierung im Sinne von steigender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und gesellschaftlicher Chancengleichheit, so stellen sich dem venezolanischen Fortschritt offenbar schwerwiegende Hindernisse entgegen, die mit dem Machtwechsel von 1958 keineswegs endgültig aus dem Weg geräumt wurden. Es war jedoch nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit, einzig und allein festzustellen, wo eine Modernisierung nach dem Vorbild

„fortgeschrittener"

Nationen fehlgeschlagen ist, sondern es sollte vor allem beschrieben werden, was statt dessen geschah. Die Soziologie hat im Zusammenhang mit der Entwicklung traditionaler Gesellschaften neuerdings verstärkt auf die „Vitalität autochthoner Kulturmuster" und die vielfältigen Akkulturationsprozesse hingewiesen, die bei der Modernisierung derartiger Gesellschaften stattfinden. 3 7 In diesem Sinne erhellt die Betrachtung von Lebensstilen die Rolle jener Überlieferungen, die dem soziokulturellen Wandel Venezuelas seine spezifische Prägung gaben und die folglich auch bei der Beurteilung politischer Modernisierungsprozesse zu berücksichtigen sind. So prägen die überlieferten Werte und Verhaltensmuster des Caudillismus die Figur des modernen populistischen Führers und weisen auf ein personalistisches Machtverständnis hin, das als wesentlicher Bestandteil der politi-

34

Vgl. Waldmann, Peter, Caudillismo als Konstante der politischen Kultur Lateinamerikas?, in: Jahrbuch für die Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, 15 (1978), S. 1 9 1 - 2 0 9

35

Britto Garcia, a.a.O., S. 2 0 0 ff.

36 37

Uslar Pietri, De una a otra Venezuela, a.a.O., S. 29, 68 Reimann a.a.O., S. 3 5 8 ff.; Eisenstadt, a.a.O., S. 132 ff., 147 ff.

278

sehen Realität Lateinamerikas verstanden werden m u ß . Abweichungen vom europäischen oder nordamerikanischen Weg dürfen dabei nicht länger ausschließlich als Versagen, als mißlungener Versuch der Rationalisierung von politischen Strukturen gewertet werden. Die Entwicklung folgte vielmehr einer eigenen Rationalität, einer mehr oder weniger unbeirrbaren Logik der Tradition, die möglichst u n v o r e i n g e n o m m e n zur Kenntnis g e n o m m e n u n d analysiert werden muß, u m zu angemessenen, eigenständigen Lösungen für die vielfältigen gesellschaftlichen Probleme zu gelangen, mit denen Venezuela sich am Ende des 20. Jahrhunderts konfrontiert sieht. Als eklatanten Ausdruck überlieferter „irrationaler" Verhaltensweisen, die sich einer Modernisierung n a c h dem Vorbild der Industrienationen widersetzen, hat m a n auch jenes P h ä n o m e n der „Prosperität o h n e Produktivität" interpretiert, dessen fatale Konsequenzen das von einer tiefen Strukturkrise erschütterte Erdölland heute zu tragen hat. Die mangelnde Leistungsfähigkeit u n d die „Mentalität der V e r s c h w e n d u n g " 3 8 , die m a n bei der venezolanischen U n t e r n e h m e r s c h a f t festgestellt h a b e n will, ist nicht zuletzt auf die u n a n g e f o c h t e n e Gültigkeit jener feudalen „Ethik der Verschwendung" zurückgeführt worden, die die traditionelle Elite in ihre Verbindung mit der neuen Bourgeoisie einbrachte u n d die für alle bürgerlichen Aufsteiger zum Leitbild geworden sei. 39 Die U n t e r s u c h u n g des Lebensstils hat jedoch gezeigt, daß das Leistungsdenken der Moderne in dem sich verbürgerlichenden Venezuela der J a h r h u n d e r t w e n d e durchaus Fuß zu fassen begann, aber mit dem Vordringen des American way of life u n d seinem Leitbild von u n b e g r e n z t e m Konsum u n d Freizeitvergnügen im Lauf des 20. J a h r h u n d e r t s wieder in den Hintergrund gedrängt wurde. Am Maßstab der Entwicklung der Industrienationen gemessen, scheinen die Venezolaner die enthaltsame Phase des Aufbaus weitestgehend übersprungen zu haben, u m gleichsam über Nacht in das Zeitalter des Konsums einzutreten 4 0 - u n d wünschen nun, wie es nahezu überall in der Welt der Fall ist, an dessen Annehmlichkeiten möglichst uneingeschränkt teilzuhaben. In der Tat m u ß das technokratische Fortschrittsverständnis der venezolanischen Elite n u r als folgerichtiges Resultat einer globalen kulturellen Umorientierung gelten, in deren Verlauf sich der Fortschrittsbegriff z u n e h m e n d auf das Ideal der technischen Naturbeherrschung u n d des materiellen Wohlstands verengt hatte. Dabei wäre es verfehlt, den „Hunger nach Komfort u n d Statussymbolen", den die v o n ihrem Reichtum verwöhnten Venezolaner angeblich an d e n Tag legen, als Symptom der korrumpierenden Wirkung des Kulturimperialismus zu werten, als 38 39 40

Rangel, Venezuela, país ocupado, a.a.O., S. 210 Vgl. Bonllla/Silva Michelena, a.a.O., Bd. III: The Illusion of Democracy in Dependent Nations, S. 145 Vgl. Rangel, Venezuela, país ocupado, a.a.O., S. 235

279

Ausdruck von kultureller Überfremdung und nationalem Identitätsverlust. 4 1 Der Eintritt in das Konsum- und Medienzeitalter, den das südamerikanische Land im 20. Jahrhundert zwangsläufig vollzog, steht sehr viel stärker unter dem Vorzeichen kultureller Kontinuität, als das radikal veränderte, „nordamerikanisierte" Erscheinungsbild des modernen Venezuela zunächst vermuten lassen möchte. In einem vielschichtigen Zusammenspiel von Überlieferung und Innovation hat das Land zu einem eigenen, spezifisch venezolanischen Weg in die Kultur der Moderne gefunden. Sicherlich war gerade die Oberschicht, die ihre kulturellen Leitbilder seit den Tagen der spanischen Herrschaft außerhalb des eigenen Landes zu suchen pflegte, sozusagen schon von Haus aus besonders anfällig für eine bedenkenlose Übernahme fremder Lebensstilmuster. Im Gegensatz zu den Behauptungen all jener Kulturkritiker, die allzu ausschließlich das Vordringen der „Kultur des Erdöls" für einen angeblich fortschreitenden Traditionsverlust verantwortlich gemacht haben, hatte die Auslandsorientierung der venezolanischen Elite ihren ersten Höhepunkt schon nach der Unabhängigkeit von Spanien gefunden, als man in dem Bestreben, sich von einer als rückständig empfundenen Vergangenheit zu lösen, einen radikalen Bruch mit scheinbar obsolet gewordenen Gepflogenheiten forderte und die zivilisierten Nationen Westeuropas zum uneingeschränkt bewunderten Vorbild erhob. Vor allem die Theorien des europäischen Positivismus, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den gebildeten städtischen Eliten weite Verbreitung gefunden hatten, waren damals zur Grundlage einer kritischen Selbstanalyse geworden, bei der man zu einer negativen Einschätzung all jener „anachronistischen" Eigenheiten gelangte, die sich der Verwirklichung des neuen Ideals von Zivilisation und Fortschritt widersetzten. Doch wenn auch dieses gebrochene Verhältnis zur heimischen Tradition bis heute spürbar geblieben ist, so hatte sich gleichzeitig bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts eine allzu einseitige Ausrichtung auf ausländische Modelle als unbefriedigend erwiesen. Ohne den Anspruch auf einen an internationalen Maßstäben orientierten Lebensstandard aufzugeben, begannen sich die Venezolaner der Wurzeln einer kulturellen Identität zu besinnen, die gerade angesichts des immer massiveren Vordringens fremder Einflüsse nach einer zeitgemäßen, eigenständigen Definition verlangte. Indem der Lebensstilwandel in diesem Sinn als Instrument und Ergebnis der Verarbeitung veränderter Lebensbedingungen untersucht worden ist, hat sich gezeigt, daß die vielbeschworene Kluft zwischen elitärer und volkstümlicher Kultur in struktureller Hinsicht keineswegs so tief ist, wie die augenfälligen sozialen Gegensätze nahelegen, die die verschiedenen Schichten der venezolanischen Bevölkerung voneinander trennen:

41

Q u i n t c r o , a.a.O., S. 113

280

In der neuen Ära des Massenkonsums und der Medienkultur mit denselben kulturellen Umbrüchen konfrontiert, ist es zu vergleichbaren Verarbeitungs- und Assimilationsprozessen gekommen. So hat der moderne städtische Kulturmarkt jener bewußten Traditionspflege Raum zur Entfaltung geboten, die als Folklore zu einem kulturellen Genre geworden ist, das entsprechend wechselnder historischer Bedürfnisse immer wieder zu neuen schöpferischen Ausdrucksformen findet. Gerade die Medien, die so oft als Werkzeug einer identitätszersetzenden, transnationalen Standardisierung von Kultur kritisiert worden sind, 4 2 haben zu einer zukunftsweisenden kulturellen Annäherung an die lateinamerikanischen Nachbarn beigetragen, wobei etwa auf dem Gebiet der modernen südamerikanischen Unterhaltungsmusik, die zu einem bedeutungsvollen Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses der Lateinamerikaner geworden ist, nicht zuletzt die Vereinigten Staaten eine befruchtende Vermittlerrolle gespielt haben. Obwohl sie einerseits als Wegbereiter der sich international angleichenden Lebensweisen der modernen Konsumgesellschaft fungieren, erweisen sich die Medien - in den letzten Jahrzehnten allen voran das Fernsehen - durchaus als Plattform eigenständiger kultureller Ausdrucksformen. Aber auch da, wo gänzlich „fremde" Lebensstilelemente übernommen wurden, erweist es sich als wenig sinnvoll, ausschließlich von Imitation und von kultureller Auslandshörigkeit zu sprechen. Deutlich geworden ist nicht nur, daß die Übern a h m e fremder Kulturmuster spezifisch venezolanischen

Auslesemechanismen

folgte und allein aufgrund dieser Selektivität zu charakteristischen Ergebnissen kommen mußte. Indem die übernommenen Lebensstilelemente innerhalb des venezolanischen Kontextes eine andere kulturelle Bedeutung erhielten, nahmen sie sozusagen eine andere Gestalt an, auch wenn man es ihnen äußerlich nicht immer „ansehen" mochte. Nur jedoch wenn man den Ergebnissen dieser vielschichtigen und oft unmerklich verlaufenden Akkulturationsprozesse größeren kulturellen Eigenwert zugesteht, als es bisher geschehen ist, kann man auf die Dauer zu einer konstruktiven, differenzierten Bestandsaufnahme jener unverwechselbaren Version von alltagskultureller Modernität gelangen, auf der die Zukunft Venezuelas beruht.

42

Steger, a.a.O., S. 1 5 7

281

Quellen und Literatur Interviews Die vorliegende Arbeit stützt sich in weiten Teilen auf die mündliche Befragung von Angehörigen der venezolanischen Elite. Die freien Interviews folgten einem Fragenkatalog mit den Schwerpunkten Familiengeschichte, W o h n e n , Eßkultur, häusliche Festlichkeiten, Reisen inner- und außerhalb Venezuelas, kulturelle Interessen (Theater, Kino, Musik, Lektüre), Mode, Clubzugehörigkeit sowie sportliche Aktivitäten. Zu den befragten Personen gehören:

Oberst Juan J. Aguerrevere

Klaus Heufer

Enrique Aristeguieta Gramcko

Alicia Larralde

Julio de Armas

Virgilio Lovera Herrera

Emily Blohm

Guillermo Machado Mendoza

Dirk Bornhorst

Iván Darío Maldonado

Alfredo Boulton

Mario Matute Bravo

Margot Boulton

Pedro Monsanto Barrios

Antonio Julio Branger

Oberst Tomás Pérez Tenreiro

Ignacio Branger

Oberst Carlos Pulido Barreto

Analuisa Braun de Planchart

María Jesus Silva

Elena Bueno de Vallenilla

Julio Sojo Bianco

Adelaida Capriles Ayala

Giuseppe de Stefano

Carlos Capriles Ayala

Harald Valentiner

General Celis Noguera

General Valero Martínez

José Farage

Marisa Vannini de Gerulewicz

Lepoldo Fontana

Julio Velutini

José A. Giacopini Zárraga

Ana Cecilia Wallis O.

Klaus Goetz

Desiderio Weisz

Florencio Gómez

Arnold Zingg

Francisco Gutiérrez

282

Zeitungen und Zeitschriften Billiken El Cojo Ilustrado Elite La Esfera El Farol El Heraldo Hipismo Nacional El Nacional Nos-Otras El Nuevo Diario Páginas Panorama (Maracaibo) Progreso y Cultura Revista de las Fuerzas Armadas Revista Shell El Sport en Venezuela El Universal Venezuela Gráfica

Literatur Acevedo, Javier P. de, Dos años en Venezuela bajo la dictadura de Gómez. Impresiones y recuerdos, La Habana 1940 Alonso, América und Farías, Daniel (Hg.), Rafael Guinand. Apuntes para que no se pierda una memoria. Con el texto completo de su saínete "Yo también soy candidato", Caracas 1978 Alvarado, Aníbal Lisandro, Menú—Vernaculanismos, Caracas/Madrid 1953 Alvarez Quintero, Serafín und Alvarez Quintero, Joaquín, Amores y amoríos, Buenos Aires 1965 Araujo, Orlando, Narrativa venezolana contemporánea, Caracas 1988 Arcaya, Pedro Manuel, Estudios de sociología venezolana, Madrid, o . J . Ders., Memorias, Caracas 1983 Arcila Farías, Eduardo, Historia de la ingeniería en Venezuela, Caracas 1961

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