Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 9783845280998, 9783958320956

Die Elemente des Antisemitismus sind das vorletzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W

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Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno
 9783845280998, 9783958320956

Table of contents :
Cover
Vorwort
Einleitung
Erster Teil Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung
Zweiter Teil Kommentare
These I. Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus
These II. Die Liquidierung des Gedankens an Glück
These III. Sündenböcke des Kapitalismus
These IV. Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus
These V. Mimesis und Antisemitismus
These VI. Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion
These VII. Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken
Dritter Teil Interpretationen
I. Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung
1. Die Entstehung der Elemente
2. Die »Schicksalsfrage der Menschheit«
3. »Dialektik« oder »Grenzen« der Aufklärung
II. Kritische Theorie des Antisemitismus
1. Die funktionalistische Deutung und ihre Aporien
2. Die archaischen Wurzeln des Antisemitismus
3. Kritik und Genealogie
III. Aufklärung und Herrschaft
1. Gesellschafts- und Vernunftkritik
2. Die Entzauberung der Welt
3. Geschichte als Naturgeschichte
IV. Mimesis und Zivilisation
1. Nachahmung
2. Mimesis
3. Mimetischer Materialismus
4. Antisemitismus und falsche Mimesis
5. Exkurs: Horkheimer und Adorno im Gespräch über Mimesis, Verdrängung, Wut und Antisemitismus
6. Der Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus
V. Die Aporien der Elemente des Antisemitismus
1. Warum die Juden?
2. Vernunftkritik
3. Horkheimer: Religion ohne Gott
4. Adorno: Märchenlösungen
Epilog Adorno und Horkheimer in der Bundesrepublik oder: Über die Leerstelle politische Theorie
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Helmut König

Elemente des Antisemitismus Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

VELBRÜCK WISSENSCHAFT https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Helmut König Elemente des Antisemitismus

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Helmut König Elemente des Antisemitismus Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

VELBRÜCK WISSENSCHAFT https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen University.

Erste Auflage 2016 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2016 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-095-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Erster Teil Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung Der vollständige Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Zweiter Teil Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 These I.

Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus . . 55

These II. Die Liquidierung des Gedankens an Glück . . . . . 68 These III. Sündenböcke des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . 96 These IV. Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus . . . . . 108 These V. Mimesis und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . 118 These VI. Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion . . 143 These VII. Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken . . . . . 175

Dritter Teil Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 I. Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Die Entstehung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Die »Schicksalsfrage der Menschheit« . . . . . . . . . . . 204 3. »Dialektik« oder »Grenzen« der Aufklärung . . . . . . 215

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II. Kritische Theorie des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Die funktionalistische Deutung und ihre Aporien . . 220 2. Die archaischen Wurzeln des Antisemitismus . . . . . 232 3. Kritik und Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 III. Aufklärung und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Gesellschafts- und Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Die Entzauberung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3. Geschichte als Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 262 IV. Mimesis und Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 1. Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Mimetischer Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4. Antisemitismus und falsche Mimesis . . . . . . . . . . . . 290 5. Exkurs: Horkheimer und Adorno im Gespräch über Mimesis, Verdrängung, Wut und Antisemitismus . . . 294 6. Der Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 V. Die Aporien der Elemente des Antisemitismus . . . . . . . 305 1. Warum die Juden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Vernunftkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Horkheimer: Religion ohne Gott . . . . . . . . . . . . . . . 327 4. Adorno: Märchenlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Epilog Adorno und Horkheimer in der Bundesrepublik oder: Über die Leerstelle politische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

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Vorwort Fasziniert war ich von den Elementen des Antisemitismus schon in der Zeit meines Studiums in den 1970er Jahren an der Freien Universität Berlin. Viele Sätze des Textes erschienen mir bei meiner ersten Lektüre einigermaßen schleierhaft, und ihre Enträtselung wollte mir trotz größter Anstrengung nicht vollständig gelingen. Ich gehöre zu jener Generation, die sich als Studenten über die damals überall erhältlichen Raubdrucke mit den Texten der Kritischen Theorie leicht versorgen konnte, mit Horkheimers Dämmerung, »erschienen 1972 bei Edition Max«, wie auch mit den beiden Bänden der Horkheimer-Aufsätze aus den 1930er Jahren, die 1968 endlich in einer Verlagsausgabe erschienen und sogleich auch als Raubdrucke, »ed. Marxismus Kollektiv«, für wenig Geld zur Verfügung standen. Dass auch die Dialektik der Aufklärung 1968 als »Schwarze Reihe Nr. 5« im »Verlag de Munter« herauskam, verlieh ihr, wie den anderen Raubdrucken, den Nimbus des Subversiven. Später standen bei mir andere Themen und theoretische Interessen in den Vordergrund. Aber die Elemente blieben ein Stachel, und immer wieder kehrte ich zu ihnen zurück. Unabweisbar der Eindruck, dass das ein Schlüsseltext der Kritischen Theorie war und dass ich erst dann, wenn ich ihn enträtselt hätte, den Anspruch erheben dürfte, einigermaßen verstanden zu haben, worum es in dieser Theorie geht und was von ihr bleibt. Das Interesse an den Texten von Adorno und Horkheimer ist sehr stark zurückgegangen, und viele meiner gleichaltrigen Freunde und Kollegen haben ihre Studien zur Kritischen Theorie längst vorgelegt. Daran gemessen erscheinen meine Kommentare und Interpretationen zur Kritischen Theorie etwas spät. Aber andererseits: Wann ist der richtige Zeitpunkt für das Erscheinen eines Textes? Für mich schließt sich jedenfalls ein Kreis. Und mein Vorteil besteht darin, dass ich heute aus größerer Entfernung auf diesen Text schauen kann. Der Abstand erlaubt es mir, auch die Aporien, Einseitigkeiten und Grenzen der Kritischen ­Theorie von Adorno und Horkheimer deutlicher zu sehen und andere Perspektiven einzunehmen. Ich danke den studentischen Teilnehmern meiner Vorlesungen und Seminare über die Kritische Theorie, und ich danke den Teilnehmern meines Freitags-Colloquiums, mit denen ich über die Jahre hinweg bei den unterschiedlichsten Themen immer wieder auch über die Kritische Theorie diskutieren konnte. Besonders aber danke ich meinen Mitarbeitern Maike Weißpflug und Jürgen Förster für viele anregende Gespräche in den letzten Jahren, für ihre Bitte, bei allen berechtigten Einwänden nicht 7 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

zu hart mit den großen Meistern der Kritischen Theorie umzuspringen, und für die umgekehrte Aufforderung, deutlich zu machen, dass es auch anderswo, vor allem in der reichen Ideengeschichte des politischen Denkens, die bei Horkheimer und Adorno so sehr vernachlässigt wird, viele Schätze gibt, die zu entdecken und zu bergen sich lohnt. Aachen/Berlin im April 2016

8 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung (1) Die Elemente des Antisemitismus sind das fünfte und vorletzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Das Kapitel ist ein Schlüsseltext der Kritischen Theorie – in mehrfacher Hinsicht. Erstens nimmt es innerhalb des Buches eine herausragende Stellung ein. Der Antisemitismus ist der zentrale Wahn des Nationalsozialismus, und die Dialektik der Aufklärung ist der Versuch, wie es in der Vorrede heißt, zu verstehen, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaften menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (DA 16). Zum zweiten markiert die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, wie sie in den Elementen verdichtet entfaltet wird, die Zäsur, die die frühe Kritische Theorie der 1930er Jahre von ihrer späteren Gestalt trennt. Drittens sind die in den Elementen vorgetragenen Überlegungen von wegweisender Bedeutung für das spätere Werk von Horkheimer und Adorno. Die Erfahrung des totalitären Antisemitismus ist für die Autoren der Dialektik der Aufklärung nicht nur lebensgeschichtlich, sondern auch theorie- und werkgeschichtlich einschneidend. Die Elemente bieten keine stringente und bis in alle Einzelheiten hinein ausgearbeitete Theorie des Antisemitismus. Der Terminus Elemente macht nicht nur deutlich, dass verschiedene Schichten des Antisemitismus erörtert werden, sondern weist auch darauf hin, dass die Erörterung selbst einen unfertigen Charakter hat. Überlegungen von großer Klarheit stehen neben unfertigen Gedanken und Assoziationen, die nicht bis ins Einzelne durchgearbeitet sind und eher Entwurfscharakter haben. Die Elemente enthalten eine unendliche Fülle von Anspielungen und Bezügen: auf Marxismus, Psychoanalyse, Religionswissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Philosophie, Evolutionstheorie, Biologie. Die Bezüge werden meistens nicht eigens genannt und ausgeführt, ihr Verhältnis zueinander ist oft unklar, und es wäre vermessen zu glauben, dass man sie alle sichtbar machen könnte. Einigen Hinweisen und Überlegungen, die Horkheimer und Adorno nur andeuten, versuche ich dadurch nachzugehen, dass ich andere Texte von ihnen gleichsam neben die Elemente lege und daraufhin durchsehe, ob sich die Ausführungen gegenseitig erhellen und wie der eine Text im anderen Korrespondenzen oder Resonanzen wachruft. Meine Studie ist mehrstufig aufgebaut. Im Ersten Teil ist der gesamte Text der Elemente abgedruckt. Im Zweiten Teil, »Kommentare«, folge ich den Elementen in einer sehr engen Lektüre, die These für These, Absatz für Absatz und zum Teil Satz für Satz vorangeht und kurze Erläuterungen, Informationen, Kommentare und Zusammenfassungen 9 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

anbietet, inhaltliche Querverweise und Bezüge herstellt und gelegentlich auch übergreifende und vertiefende Perspektiven und Fragen in den Blick nimmt. Im Dritten Teil, »Interpretationen«, gehe ich auf den Entstehungsprozess der Elemente ein und versuche, ihren Ort in der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno näher zu bestimmen. Darüber hinaus untersuche ich ausführlicher einige Aspekte, die in den Elementen und im gesamten Werk von Horkheimer bzw. Adorno eine große Rolle spielen, vor allem das Verhältnis von Aufklärung und Herrschaft und den Begriff der Mimesis. Schließlich gehe ich den Einseitigkeiten und Aporien nach, in die die Überlegungen der Elemente münden, und diskutiere die Suche nach Auswegen aus diesen Aporien, die Horkheimer und Adorno auf je unterschiedliche Weise in ihrem späteren Werk unternommen haben. Im Epilog beleuchte und kommentiere ich kurz das Wirken und die Wirkungsgeschichte von Adorno und Horkheimer in der Bundesrepublik. Meine Kommentare und Interpretationen liefern keinen Beitrag zur Analyse gegenwärtiger Erscheinungsformen des Antisemitismus. Ich interpretiere die Elemente vor allem im Kontext der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer. Das heißt zugleich, dass die Beschäftigung mit der Kritischen Theorie in meinen Augen auf die Frage bezogen werden muss, welche Bedeutung ihre Protagonisten der Erfahrung der totalen Herrschaft und der Vernichtung der europäischen Juden einräumen und welche Folgerungen sie aus dieser Erfahrung ziehen. Warlam Schalamow, dem wir die eindringlichsten Schilderungen der Hölle des Archipel Gulag verdanken, bezeichnete die Lager als absolute Negativität. Hannah Arendt sprach im Blick auf die totale Herrschaft von dem »absolut Bösen« (bevor sie diese Aussage angesichts des Eichmann-Prozesses revidierte und es dann vorzog, von der »Banalität des Bösen« zu sprechen). Beide wollten mit diesen Bezeichnungen festhalten, dass wir es mit Geschehnissen zu tun haben, die nicht in den Kosmos des Verständlichen aufgenommen werden können und sich der Möglichkeit, dass wir uns irgendwann mit ihnen abfinden, grundsätzlich entziehen. Es sind Geschehnisse, die man nicht wirklich in eine menschliche Sprache übersetzen kann und in denen sich nichts verkörpert und mitteilt, woran sich Hoffnungen und Aussichten knüpfen ließen. Wie sollen wir in der Unmenschlichkeit der Lager noch eine verzerrte Menschlichkeit erkennen, aus der wir etwas lernen könnten und die unsere Erfahrungen bereichert? Die Elemente des Antisemitismus entwickeln die Überzeugung, dass wir, wenn wir den Antisemitismus verstehen wollen, die Geschichte der menschlichen Zivilisation in einer ganz neuen und ganz veränderten Perspektive betrachten müssen. Auf die Elemente des Antisemitismus trifft in ganz besonderem Maße zu, was Adorno allgemein im Blick auf Texte und Theorien konstatierte: dass sie einen »Zeitkern« (Adorno 1963a: 284) haben und keineswegs 10 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung

als etwas Absolutes verstanden werden sollten. In ihrer Vorrede zur Neuausgabe des Buches im Jahre 1969 sprechen die Autoren selber davon, dass sie ihrer Theorie einen Zeitkern zusprechen, »anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Bewegung entgegenzusetzen« (DA 13). Die Dialektik der Aufklärung ist von jüdischen Intellektuellen im amerikanischen Exil zu einem Zeitpunkt geschrieben worden, als der europäische Kontinent in einem unsagbar schrecklichen Abgrund von Krieg, Mord und Menschenvernichtung versank. Wir sind von diesem Text heute durch eine Zeitspanne von 70 Jahren getrennt. Und der Respekt gegenüber dem Text wird dadurch nicht geringer, dass wir ihn im Lichte der seither gemachten theoretischen Anstrengungen und Erfahrungen lesen, kommentieren und kritisieren. (2) Die Elemente des Antisemitismus bestehen ursprünglich, in der ersten Fassung im Jahre 1944, aus sechs Thesen, für die erste Buchausgabe 1947 haben Horkheimer und Adorno eine weitere These, die siebte, hinzugefügt. Zur besseren Orientierung habe ich im Kommentarteil des Buches jeder These und jedem Absatz jeweils eine Überschrift beigegeben, die meistens aus einem Zitat besteht und mehr oder weniger plakativ die jeweiligen Inhalte und Schwerpunkte zusammenfasst. Die zentrale Aussage der Elemente besteht darin, dass es am Ende nur eine psychische Energie sein kann, die den Antisemitismus antreibt. Eng rational, politisch oder ökonomisch ist er jedenfalls nicht zu erklären. Daraus folgt, dass man den Antisemitismus nur entschlüsseln kann, wenn man seine Funktion für die Antisemiten in den Blick nimmt. Diese Funktion besteht vor allem darin, das verachtete eigene Innere nach außen zu legen und es dort zu bekämpfen. Hinter dem Antisemitismus steht mithin eine Mischung aus Abwehr und Projektion. Die erste These spricht diesen Mechanismus sofort an: In dem, was die Faschisten den Juden vorwerfen, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Der zweiten These zufolge ist es im Kern die Sehnsucht nach Glück ohne Macht, die die Antisemiten abwerten. Die dritte These ergänzt diese Behauptung mit der Aussage, dass der Antisemit das eigene Selbstgefühl abwehrt, ein Parasit und Versager zu sein. Der Antisemitismus ist im Kern Selbsthass, und der Selbsthass wird zum Fremdenhass. Die vierte These erweitert die Perspektive, indem sie auf eine tiefliegende religiöse Quelle des Antisemitismus hinweist. Die Ahnung, dass die Selbstvergessenheit, die das Christentum fordert, einen trügerischen Zug hat und nicht hält, was sie verspricht, wird durch die Zerstörung derjenigen abgewehrt, die durch ihre eigene Religion zeigen, dass die Ahnung des Betrugs zurecht besteht. Der fünften These zufolge wird im Antisemitismus die Erinnerung an die eigene animalische Natur, der mimetische Impuls, als unerträglich abgewehrt, und in der Verfolgung der Juden wird die Unterdrückung erneut bestätigt. Die sechste These macht den Mechanismus der 11 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Paranoia zum Thema und zeigt die Affektverwandlung, die mit ihm verbunden ist. Das Ersehnte wird zum Verhassten und der Unterdrückung ausgesetzt. In der siebten These schließlich wird der Antisemitismus mit dem kulturindustriell erzeugten Ticketdenken in Verbindung gebracht, das den Verlust der Erfahrungsfähigkeit bewirkt und zur Wut auf jedwede Art von Differenz führt. Abwehr und Projektion sind die eine Seite des Antisemitismus. Die zweite Seite besteht darin, dass im Akt der Abwehr das Abgewehrte enthalten ist und wiederkehrt – aber wiederkehrt in einer Form, die es in einen Komplizen der Abwehr verwandelt. Die Faschisten lassen das Unterdrückte durchaus zu, aber nur, wenn und indem es auf die Seite der Unterdrückung übertritt. In dieser eigentümlichen Mischung aus Repression und Befriedigung besteht der zutiefst diabolische Charakter, den der »totalitäre Antisemitismus« (Horkheimer/Adorno 1959: VI) annimmt. Der Antisemitismus ist sowohl Natur, Unmittelbarkeit und Trieb wie zugleich Herrschaft, Macht und Unterdrückung. Aufklärung und Natur, avancierte Technik und losgelassener Trieb gehen zusammen. In der ersten These wird gezeigt, dass die Antisemiten sich selber zu dem machen, was sie den Juden zuschreiben: Sie sind ausbeuterisch, übermächtig und rücksichtslos. Die zweite These stellt dar, wie die Sehnsucht nach Glück zu ihrem Gegenteil wird und sich in die perverse Lust an Zerstörung alles Fremden und allen Glücks verwandelt. Die dritte These zeigt, wie die geblendeten Antisemiten es schaffen, sich nicht als Parasiten, Schmarotzer und eigennützige Betrüger zu sehen, sondern als Diener einer großen schöpferischen Sache. Der vierten These zufolge verstehen sich die Judenfeinde als Missionare im Dienst der christlichen Heilsbotschaft, die der Welt die Erlösung bringt. In der fünften These wird der Mechanismus der Wiederkehr des Verdrängten auf Seiten der Verdrängung direkt zum Thema gemacht. Die Abwehr der Mimesis, der Sehnsucht nach Berührung, Anschmiegen und Vereinigung geschieht ihrerseits mit Techniken, in denen mimetische Elemente der Angleichung an die Natur eine zentrale Rolle spielen. Klage, Protest und Unmittelbarkeit werden zu Mitteln der Zurichtung und der Herrschaft. Die Antisemiten bekämpfen die Verlockung, indem sie ihr nachgeben. Der verpönte Trieb tritt in den Dienst seiner Ausrottung. Das Verbotene wird autoritär freigegeben, die mimetische Nachahmung darf praktiziert werden, aber nur, um sie zu zerstören. Rebellion gegen die Herrschaft wird selber zu einer Form von Herrschaft. Die sechste These zeigt, wie die abgewehrte Rebellionslust in die Identifikation mit Herrschaft und autoritärer Unterdrückung mündet. Die Antisemiten werden von der ungelösten Ambivalenz aus autoritären und rebellischen Neigungen angetrieben. Die siebte These schließlich zeigt die Zeitgemäßheit des Antisemitismus. Der Antisemitismus wird zur auswechselbaren Spielmarke in einem von Stereotypen und Tickets bestimmten Weltbild. 12 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung

Der Antisemitismus ist ein vielschichtiges Phänomen. Ökonomische, politische, religiöse, rassistische und kulturelle Motive gehen in ihm eine häufig nur schwer entwirrbare Mischung ein. Die Schichten werden in den Elementen über die verschiedenen Thesen verteilt oder in einzelnen Thesen konzentriert zur Sprache und zur Analyse gebracht. Die ökonomische Schicht, in der die Juden als Wucherer und Betrüger, als Schmarotzer und Parasiten, als Spekulanten und Ausbeuter stigmatisiert werden, ist vor allem in der dritten These das Thema. Die Unterscheidung der Nazis zwischen schaffendem und raffendem Kapital folgt sehr genau diesem Wahrnehmungsklischee. Die politische Schicht wird besonders in der zweiten These angesprochen. Mit ihr ist die Vorstellung verbunden, dass die Juden eine universal agierende mächtige Gruppe sind, die überall ihre Hände im Spiel hat und mit den Mitteln von Verschwörung und Konspiration die Unterwerfung der ganzen Welt vorbereitet. Wenn man in der kritischen Analyse die ökonomischen und politischen Motive des Antisemitismus ins Zentrum rückt, gelangt man zu der Aussage, dass die antisemitischen Verhaltensweisen im Kern politische und ökonomische Zwecke verfolgen. Mithilfe des Antisemitismus kann man Juden von der politischen Macht fernhalten, die eigene Macht sichern und einen lästigen Konkurrenten im Wirtschaftsleben ausschalten. Dass man den Antisemitismus auf diese Weise zureichend erklären kann, wird in den Elementen jedoch gerade bestritten. Das Argument von Horkheimer und Adorno lautet, dass sich der totalitäre Antisemitismus durch die Bestimmung möglicher politischer oder ökonomischer Ziele nicht erklären lässt, weil damit sein wesentliches Merkmal: die vollkommene Sinnlosigkeit, die jenseits aller Zweck-Mittel-Logik liegt, übergangen wird. Die religiöse Feindschaft des Christentums gegen die Juden und damit die historisch früheste Schicht des Phänomens wird in der vierten These erörtert. Die rassistische Schicht ist in der ersten These sogleich das Thema. Indem die Juden zur Rasse gemacht werden, können sie ihrem Schicksal nicht mehr entgehen. Mit dem Rassismus werden Gesellschaft und Geschichte generell zurück in ein natürliches Geschehen verwandelt. Die kulturelle Schicht schließlich, in der die Juden wegen ihrer Erscheinungs- und Lebensweise als Angriff auf die eigene Identität erscheinen, wird vor allem in der fünften und sechsten These behandelt. Die fünfte These konzentriert sich auf die affektiv bestimmte, vorgeblich natürliche Aversion gegen die angeblich unzivilisierten Juden, die in ihrer Erscheinungsweise und in ihrem befremdlichen Habitus eine tief verankerte Abwehrreaktion auf Seiten der Antisemiten hervorrufen. Die sechste These zeigt die hemmungslose Projektion, mit der die Antisemiten die Juden überziehen. Die kulturelle Schicht schlägt sich in der Geschichte des Antisemitismus in einer Fülle von Phantasien, Bildern, Vorurteilen und Stereotypen nieder. Diese werden an verschiedenen Stellen der Elemente aufgegriffen und dechiffriert, und zwar stets so, dass sie gleichsam als 13 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Wegweiser genutzt werden, die den Zugang zu den psychischen Energien des Antisemitismus ermöglichen. (3) Einige Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte der Dialektik der Aufklärung und der Elemente des Antisemitismus: Die erste Fassung des Buches aus dem Jahre 1944 wurde in mimeographierter Form unter dem Titel Philosophische Fragmente in einer Auflage von 500 Stück gezielt an Mitarbeiter und Nahestehende verteilt. Sie war mit der Widmung für Friedrich Pollock, dem engen Freund von Horkheimer und jahrelangen Verwaltungsleiter des Instituts für Sozialforschung »zum 50. Geburtstag am 22. Mai 1944« versehen. In dieser nur halb-öffentlichen Form der Publikation war die Dialektik der Aufklärung natürlich einer breiteren Diskussion nicht zugänglich. Überliefert ist, dass einige der Empfänger der Schrift aus dem engeren Kreis des Instituts damit wenig anfangen konnten und ratlos waren (vgl. Wiggershaus 1986: 383). Die erste Verlagsausgabe bei Querido in Amsterdam, die 1947 in einer Auflag von 2000 Exemplaren erschien, fristete über Jahre hinweg ein Schattendasein. Bis 1961 war sie im Buchhandel erhältlich, wurde aber nur im Verlagsverzeichnis und nicht in deutschen Bibliographien angezeigt (vgl. Albrecht et al. 1999: 251f). 1961 regte der Fischer-Verlag eine Neuauflage des Buches an. Herbert Marcuse, der 1944 noch zurückhaltend auf die mimeographierte Ausgabe reagiert hatte, war nun ganz begeistert und schrieb am 31. August 1962 an Horkheimer und Adorno: »Obgleich ihr es eh schon wisst, möchte ich es euch sagen: ein ungeheures Buch, das in den beinahe zwanzig Jahren seit es geschrieben wurde nur noch ungeheurer geworden ist. Aber auch nichts was inzwischen von den Herren sotzoologen pschikologen (sic!) publiziert worden ist kommt auch nur an eine Fußnote des Buches heran… Also: Neuauflage! (sic!) Und ein dediziertes Exemplar der Neuauflage für mich.« (HGS 18: 533) Horkheimer und Adorno hielten eine Neuauflage nicht für eine gute Idee und versagten ihr die Zustimmung. Dass jedoch mit einer Verzögerung von zwei Jahrzehnten die »aufsehenerregende Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte« (Müller-Doohm 2003: 835) des Buches einsetzte, konnten sie damit nicht verhindern. Die Dialektik der Aufklärung fand in Form von Raubdrucken weite Verbreitung und avancierte zu einem viel gelesenen und viel diskutierten Text. Erst 1969 erschien dann eine neue Ausgabe des Buches im Fischer-Verlag (vgl. Jäger 2003: 272). In der akademischen und allgemein publizistischen Öffentlichkeit erfuhr das Buch bis Ende der 1960er Jahre keine nennenswerte Resonanz. Görtzen (1987) zählt in seiner Literaturübersicht für den Zeitraum bis zum Erscheinen der Neuauflage zehn deutsche Titel auf, die sich auf das Buch beziehen. Hinzu kommen sechs Titel, die anlässlich der 1966 publizierten italienischen Ausgabe veröffentlicht wurden. Die Mehrzahl dieser Texte besteht aus kleinen Rezensionen in Zeitungen. Eine inhaltliche 14 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung

Auseinandersetzung mit dem Buch fand nicht statt. Klaus Heinrich (1964), der in seinem Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen in eine kritische Diskussion mit den Autoren der Dialektik der Aufklärung eintritt und sofort die grundlegende Frage nach dem Ort stellt, von dem aus Adorno und Horkheimer argumentieren, ist eine rühmliche Ausnahme. Seit den 1970er Jahren stieg das wissenschaftliche Interesse an der Frankfurter Schule, ihrer Geschichte und ihrem Selbstverständnis sichtbar an. Martin Jay legte 1973 die erste Gesamtdarstellung vor und eröffnete damit die Geschichtsschreibung über die Frankfurter Schule. Jüngere Sozialwissenschaftler versuchten seit den späten 1970er Jahren, das Potential der frühen Kritischen Theorie für die kritische Analyse der eigenen Gegenwart zu erschließen. Sie wurden freilich in der Dialektik der Aufklärung mit einer Schrift konfrontiert, die sich in dieses Ansinnen nur schwer einbauen ließ, und machten deswegen den Versuch, das Buch auf Distanz zu bringen. Axel Honneth (2000) unterscheidet drei Phasen dieser zunehmend kritisch werdenden Rezeption der Dialektik der Aufklärung. Zunächst wurde das Buch historisiert, indem man es in die historische Epoche von Faschismus und Stalinismus hineinstellte und zeigte, wie sehr es der vollkommenen Verdüsterung des politischen und gesellschaftlichen Horizonts der 1940er Jahre verhaftet war (vgl. Dubiel 1978, 1983). Auf der zweiten Stufe der kritischen Rezeption wurde dem Buch nachgewiesen, dass seine Erklärungen den Standards der akademischen Fachdisziplinen nicht genügen und deswegen fragwürdig sind (vgl. Bonß/Honneth 1982; Honneth 1986; ähnlich jüngst Abromeit 2011, dessen Darstellung der theoretischen Entwicklung von Horkheimer bis 1941 explizit darauf hinausläuft, die Bedeutung der Dialektik der Aufklärung zu relativieren). Auf der dritten Stufe der kritischen Rezeption stand schließlich die Feststellung im Zentrum, dass die Dialektik der Aufklärung in einen Selbstwiderspruch mündet, indem sie mit ihrer totalisierenden Perspektive auch die Möglichkeit der eigenen vernünftigen Kritik der Vernunft in Frage stellt. Das ist der Tenor einer Reihe von Texten, in denen sich Habermas (1981, 1985, 1986) in den 1980er Jahren mit der Dialektik der Aufklärung auseinandersetzt. In eine ähnliche Richtung zielt Reemtsma, der das Paradox betont, dass die Dialektik der Aufklärung das Systemdenken der Philosophie kritisiert und der Aufklärung vorhält, das Inkommensurable wegzuschneiden, aber zugleich ihrerseits jedem Phänomen seinen Ort zuweist, Kontingenz nicht anerkennt und in eine Art negatives Systemdenken verfällt (vgl. Reemtsma 1995: 94, 106). Die drei kritischen Einwände haben sicher ihre Berechtigung. Kein Zweifel, dass die Dialektik der Aufklärung vor dem Hintergrund von Faschismus und Stalinismus gesehen werden muss. Kein Zweifel auch, dass die Analysen des Buches einer fachwissenschaftlichen Überprüfung etwa durch die Geschichtswissenschaft oder durch methodisch abgesicherte 15 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Datenerhebungen nicht standhalten. Und eben so wenig dürfte zu bestreiten sein, dass die kritische Philosophie der Vernunft, die das Buch verfolgt, unvermeidlich in nicht aufhebbare Aporien mündet. Aber mit diesen Einwänden ist das Buch nicht erledigt. Die Erfahrung von Faschismus und Stalinismus wirkt bis heute nach und ist in ihrer Bedeutung für unser Verständnis von Geschichte, Moral und Politik keineswegs zureichend durchdacht. Die Dialektik der Aufklärung zählt nach wie vor zu den ganz wenigen diskussionswürdigen Reaktionen, die diesen Einschnitt, der alle überlieferten Gewissheiten radikal in Frage stellt, zu begreifen versuchen. Dass es, um diesem Bruch standzuhalten und ihn zu verstehen, nicht ausreicht, sich auf die methodischen Standards der Einzelwissenschaften zu verlassen, gehört allerdings zu den Grundvoraussetzungen und Grundannahmen dieses Buches – wenngleich Horkheimer und Adorno in ihrer Vorrede und in späteren Stellungnahmen gerne auf den »unmittelbaren Zusammenhang« (DA 22) ihrer Überlegungen mit den empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung hinweisen. Und dass die Autoren ganz unbekümmert um die Aporien der Vernunftkritik ihre Überlegungen vortragen, sollten wir vielleicht doch in erster Linie damit in Verbindung bringen, dass es ihnen weitaus wichtiger war, mit ihren begrifflichen und theoretischen Mitteln dem Entsetzen einen Ausdruck zu geben als sich Rechenschaft über den Ort zu geben, von dem aus sie das tun. Insofern liegt das Problem weniger in der Dialektik der Aufklärung als vielmehr darin, dass sich Horkheimer und Adorno auch in ihren späteren Schriften stets im Inneren dieser Aporie bewegen und sich aus ihrem Bann nicht mehr lösen können. Auch diese Tatsache freilich darf man durchaus noch darauf beziehen, dass wir es bei der Vernichtung der europäischen Juden mit einer Vergangenheit zu tun haben, die nicht vergeht und deren absolute Negativität bei denen, die mit Verfolgung und Vernichtung bedroht waren, lang anhaltende und tief sitzende Unsicherheit und Angst bewirkt hat. Ich mache den Versuch, die Einwände gegen die Dialektik der Aufklärung so aufzunehmen, dass ich sie auf die Frage nach der Bedeutung des Antisemitismus für die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno beziehe. In der Rezeption ist die grundlegende Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus für die Entwicklungsgeschichte der Kritischen Theorie eher vernachlässigt worden. Zwar kommt das Thema Antisemitismus in den Abhandlungen über die Frankfurter Schule durchaus vor, spielt aber keine herausragende Rolle, weder bei Jay (1973) und Wiggershaus (1986), die eine umfassende Gesamtdarstellung bieten, noch bei Dubiel (1978), Söllner (1979) oder Gangl (1987), die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit der Kritischen Theorie beschäftigen. Wilson, der Das Institut für Sozialforschung und seine Faschismusanalysen (1982) zum Thema macht, geht auf die Frage nach dem Antisemitismus irritierenderweise gar nicht ein. Die Studien, die sich 16 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung

dezidiert auf die Antisemitismusforschungen des Instituts für Sozialforschung konzentrieren, haben dann wiederum mit den Elementen ihre liebe Mühe. Cramer (1979) konzentriert sich auf die ungelöste Spannung zwischen objektiven gesellschaftlichen und subjektiven psychologischen Faktoren in den Antisemitismusanalysen des Instituts und übersieht im Eifer des Gefechts, dass die Elemente in diese Spannung eine Reihe neuer Perspektiven und Gesichtspunkte eintragen. Jay (1979) behandelt in einem knappen Aufsatz das Verhältnis der Frankfurter Schule zum Judentum, begnügt sich aber mit einem kurz gehaltenen Referat der Inhalte, die in den Elementen verhandelt werden. Rensmann (1998: 156–174) geht auf die Elemente nur in einem »Exkurs« ein, Ziege (2009: 95–135), die die Bedeutung der (unveröffentlichten) Studie Antisemitism among American Labor ins Zentrum ihrer Untersuchung stellt, widmet den Elementen ein eigenes Kapitel, gleitet aber über deren Inhalte und Tiefen allzu elegant hinweg. Rensmann und Ziege lesen die Elemente sehr eng auf dem Hintergrund der empirischen Forschungen des Instituts und müssen ihnen schon deswegen äußerlich bleiben. Ähnlich ist es bei Wheatland (2009: 256), der die Frankfurt School in Exile zum Thema macht und für den die Dialektik der Aufklärung kaum mehr ist als die Quelle von empirisch zu testenden Hypothesen. In Wirklichkeit aber ist gerade die Dialektik der Aufklärung ein für sich stehendes Werk – und das gilt, trotz der gegenteiligen Beteuerung der Autoren, zweifellos auch für die Elemente des Antisemitismus. Niemals reduzieren Horkheimer und Adorno die Rolle von Philosophie und Theorie darauf, Hilfestellung bei der Formulierung von Hypothesen zu formulieren, die dann von den Einzelwissenschaften verifiziert oder falsifiziert werden sollen. In der Rezeption der Dialektik der Aufklärung sind die Elemente nie ein wichtiges Thema gewesen. Die Studien und Aufsatzbände, die sich 40 Jahre nach seinem Erscheinen gezielt mit dem Buch auseinandersetzen, schenken den Elementen des Antisemitismus keinerlei Aufmerksamkeit. Das gilt z.B. für die Beiträge in den Sammelbänden von Reijen/Schmid Noerr (1987), Kunneman/De Fries (1989) und Gangl/Raulet (1998). Anders ist es bei Rantis, der den Elementen ein ganzes Kapitel seines Buches widmet. Da er aber vor allem an der Bedeutung der Psychoanalyse für die Dialektik der Aufklärung interessiert ist, entgeht ihm wiederum die Bedeutung jener Überlegungen, in denen z.B., wie in der vierten These, die religiöse Motivierung des Antisemitismus erörtert wird, und selbst die fünfte These, in der Denkmotive der Psychoanalyse von großer Bedeutung sind, aber gleichwohl der Begriff der Mimesis, der in der Psychoanalyse wiederum überhaupt nicht vorkommt, im Zentrum steht, wird nicht angemessen in den Blick genommen (vgl. Rantis 2001: 113ff). Zu den wenigen Ausnahmen, die die Bedeutung der Elemente wirklich würdigen, gehört eine kurze Betrachtung von Jan Philipp Reemtsma (1995: 100), der die Dialektik der Aufklärung insgesamt »als Bestandteil 17 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

jüdischer religiöser Tradition« versteht und eine Reihe hoch anregender Gesichtspunkte zu ihrer Deutung beiträgt. Einen ähnlichen Zuschnitt haben die Analysen von Anson Rabinbach (1999, 2000: 166ff), der sich aber stärker auf die Entstehungsgeschichte der Elemente konzentriert und vor allem die Bedeutung des Mimesisbegriffs betont, ohne allerdings dessen materialistische Implikationen zu sehen und ohne auf seine Rolle für die Theorieentwicklung Adornos einzugehen. Dan Diner (1988) zeichnet präzise die gedankliche Entwicklung von der funktionalen Erklärung der Judenfeindschaft in Horkheimers Aufsatz Die Juden und Europa (1939) zu den Elementen nach, die die vollkommene Irrationalität und Sinnlosigkeit des Antisemitismus herausstellen. Micha Brumlik (2011: 267) betont, dass die Elemente eine »Pionierarbeit« darstellen, weist aber dann einschränkend vor allem darauf hin, dass Adorno und Horkheimer weder Historiker noch Judaisten waren und ihnen sowohl die vielfältigen Formen des Judenhasses in Antike und Mittelalter wie die Realgeschichte der Juden fremd waren. Alles in allem lasse der »starke theoretische Zugriff jeden Bezug auf konkrete historische Lagen vermissen …, vom belastbaren Bezug auf historische Quellen ganz zu schweigen« (Brumlik 2011: 268). Worin dann aber die genuine theoretische und analytische Qualität der Elemente insgesamt noch bestehen soll, wird von Brumlik eigentümlich in der Schwebe belassen. Gelegentlich werden in der Sekundärliteratur einzelne Begriffe, die in den Elementen eine wichtige Rolle spielen, aufgegriffen und sowohl in ihrer Bedeutung für die Analyse des Antisemitismus wie in ihrer Bedeutung für die weitere Theorieentwicklung von Adorno und Horkheimer genauer untersucht. Das gilt insbesondere für Mimesis und Idiosynkrasie (vgl. z.B. Plug 2002). Der Begriff der Mimesis hat auch in übergreifenden Darstellungen größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er bestimmend in die ästhetische Theorie Adornos eingegangen ist (vgl. Cahn 1984, Früchtl 1986, Schultz 1990). Aber die Konfusion über den Bedeutungsgehalt dieses Begriffs ist nach wie vor groß. Eine Sammelrezension von Veröffentlichungen zum 100. Geburtstag von Adorno unter dem Titel »Mimesis als Lebensform und Theorieverhalten« (Ziege 2004) versteht unter diesem Begriff nur noch die Begabung Adornos, sich in fremden Umgebungen und Themen zurechtzufinden, in fremde Rollen zu schlüpfen oder sich an das Denken eines anderen, in diesem Fall an das Denken und Schreiben Horkheimers anzugleichen. Damit wird aber die Bedeutung des Mimesisbegriffs vollkommen unterschätzt (vgl. unten das vierte Kapitel meiner Interpretationen). Die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung greift die Arbeiten der Frankfurter Schule zwar immer wieder auf, aber aus naheliegenden und verständlichen Gründen eher die empirischen Studien, insbesondere The Authoritarian Personality, und nicht die Elemente, die mit ihren weitreichenden Spekulationen für die empirische Forschung 18 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Einleitung

kaum anschlussfähig sind (vgl. Bergmann 2004). Wo dagegen, wie z.B. bei Salzborn (2010), sozialwissenschaftliche Theorien über Antisemitismus in vergleichender Perspektive zum Thema gemacht werden, rangiert die Dialektik der Aufklärung als ein Ansatz neben vielen anderen, aus dem man wie aus einem Werkzeugkasten vielleicht Anregungen für empirische Untersuchungen entnehmen kann, dessen spezifische Bedeutung und dessen Wahrheitsgehalt aber gar nicht erst in den Blick genommen werden. In den geschichtswissenschaftlich orientierten Arbeiten zu Vergangenheit und Gegenwart des Antisemitismus wiederum kommen theoretische und prinzipielle Überlegungen so gut wie gar nicht vor oder spielen nur eine ganz untergeordnete Rolle (vgl. z.B. Greive 1983, Jochmann 1988, Berding 1988). Das gilt sogar für die Studie Rehearsal for Destruction von Paul W. Massing (1949), die in der von Horkheimer und Flowerman herausgegebenen fünfbändigen Reihe Studies in Prejudice erschienen ist und eine ganz traditionelle Untersuchung antisemitischer Bewegungen im deutschen Kaiserreich bietet. Eine Ausnahme unter den historischen Analysen ist Rürup (1975: 115ff), der für eine Kombination sozialwissenschaftlicher und historischer Zugänge plädiert. Eine weitere Ausnahme ist Claussen (1987), der schon im Titel seiner Studie (»Grenzen der Aufklärung«) den Untertitel der Elemente des Antisemitismus zitiert, sich dann aber weder mit der Spannung dieses Titels zur Rede von der »Dialektik« der Aufklärung auseinandersetzt noch in eine differenzierte Erörterung der Elemente eintritt, sondern in leicht überorthodoxer Art die »gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus« (Claussen 1987: 3) mit der Kritik der Kulturindustrie und der Massenmedien verbindet (ähnlich auch Claussen 2003: 198). Traverso (1990: 197f) hingegen, der die Geschichte der marxistischen Debatte über die jüdische Frage zwischen 1843 und 1943 behandelt, meint, dass die Elemente des Antisemitismus zwar den Ökonomismus hinter sich lassen, doch nur um an dessen Stelle eine andere monokausale Position zu setzen: den Psychologismus – eine Behauptung, die angesichts der Vielfalt der Motive und Schichten, die in den Elementen erörtert werden, schlicht unhaltbar ist. (4) Zum Formalen und zur Zitierweise: Im Zweiten Teil des Buches kommentiere ich jede These der Elemente nacheinander jeweils in einem eigenen Kapitel. Die Thesen sind, wie im Originaltext, durchnummeriert und werden jeweils mit den römischen Zahlen I – VII ausgewiesen. Zusätzlich habe ich die einzelnen Absätze nummeriert und jeweils mit arabischen Zahlen versehen. Die Kombinationen aus römischer und arabischer Zahl, die sich in den Kommentaren jeweils als Teilüberschriften finden, bezeichnen also einen bestimmten Absatz in einer bestimmten These. I: 1 ist der erste Absatz der ersten These, I: 2 der zweite Absatz der ersten These und so fort. Wenn ich in den Kommentaren einzelne 19 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Zitate ohne weiteren Nachweis verwende, stammen sie aus dem in der Überschrift markierten jeweiligen Absatz. Wenn ich in den Kommentaren mit anderen Zitaten arbeite, werden sie eigens nachgewiesen. Bei Verweisen auf Briefe, die in den Gesammelten Schriften von Horkheimer erschienen sind, benutze ich das Kürzel HGS mit Angabe der Bandund Seitenzahl. Für die Zitatnachweise aus der Dialektik der Aufklärung benutze ich die Abkürzung DA mit Seitenzahl. Wenn ich Stellen aus den Elementen zitiere, gebe ich neben der Seitenzahl zusätzlich die These und den Absatz an, aus der das Zitat stammt. Die Dialektik der Aufklärung zitiere ich nach der Ausgabe in den Gesammelten Schriften (Bd. 5) von Max Horkheimer.

20 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Erster Teil Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung

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Der vollständig wiedergegebene Text folgt wortgetreu dem entsprechenden Kapitel in: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1987. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Für die Kommentierung der einzelnen Absätze der »Elemente des Antisemitismus« im Zweiten Teil des hier vorliegenden Buches wurde eine Nummerierung der Absätze hinzugefügt, die nicht im Originaltext angegeben ist.

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I 1 Der Antisemitismus heute gilt den einen als Schicksalsfrage der Menschheit, den anderen als bloßer Vorwand. Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen. Extrem entgegengesetzt ist die These, die Juden, frei von nationalen oder Rassemerkmalen, bildeten eine Gruppe durch religiöse Meinung und Tradition, durch nichts sonst. Jüdische Kennzeichen bezögen sich auf Ostjuden, jedenfalls bloß auf noch nicht ganz Assimilierte. Beide Doktrinen sind wahr und falsch zugleich. 2 Die erste ist wahr in dem Sinn, daß der Faschismus sie wahr gemacht hat. Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk. Während es der Herrschaft ökonomisch nicht mehr bedürfte, werden die Juden als deren absolutes Objekt bestimmt, mit dem bloß noch verfahren werden soll. Den Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die Neger will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall. Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können. 3 Die andere, die liberale These ist wahr als Idee. Sie enthält das Bild jener Gesellschaft, in der nicht länger Wut sich reproduziert und nach Eigenschaften sucht, an denen sie sich betätigen kann. Indem aber die liberale These die Einheit der Menschen als prinzipiell bereits verwirklicht ansetzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden. Der Versuch, durch Minoritätenpolitik und demokratische Strategie die äußerste Bedrohung abzuwenden, ist zweideutig wie die Defensive der letzten liberalen Bürger überhaupt. Ihre Ohnmacht zieht den Feind der Ohnmacht an. Dasein und Erscheinung der Juden kompromittiert die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung. Das unabänderliche Festhalten an ihrer eigenen Ordnung des Lebens brachte sie zur herrschenden in ein unsicheres Verhältnis. Sie erwarteten, von ihr erhalten zu werden, ohne ihrer doch mächtig zu sein. Ihre Beziehung zu den Herrenvölkern war die der Gier und der Furcht. Wann immer jedoch sie die Differenz zum herrschenden Wesen preisgaben, tauschten die Arrivierten den kalten, stoischen Charakter dafür ein, den die Gesellschaft bis heute den Menschen aufzwingt. Die dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung, das die Juden bei den großen Aufklärern wie den demokratischen Volksbewegungen zu fühlen bekamen, zeigt sich auch im Wesen der 23 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Assimilierten selbst. Die aufgeklärte Selbstbeherrschung, mit der die angepaßten Juden die peinlichen Erinnerungsmale der Beherrschung durch andere, gleichsam die zweite Beschneidung, an sich überwanden, hat sie aus ihrer eigenen, verwitterten Gemeinschaft vorbehaltlos zum neuzeitlichen Bürgertum geführt, das schon unaufhaltsam zum Rückfall in die bare Unterdrückung, zu seiner Reorganisation als hundertprozentige Rasse vorwärts schritt. Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv. Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Juden sich bekannten, mußten sie zuletzt als die der Volksgemeinschaft an sich selbst erfahren. Sie meinten, der Antisemitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit ohne Entstellung der Menschen nicht leben kann. Die Verfolgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt, ist von solcher Ordnung nicht zu trennen. Deren Wesen, wie sehr es sich zu Zeiten verstecke, ist die Gewalt, die heute sich offenbart.

II 1 Der Antisemitismus als Volksbewegung war stets, was seine Anstifter den Sozialdemokraten vorzuwerfen liebten: Gleichmacherei. Denen, die keine Befehlsgewalt haben, soll es ebenso schlecht gehen wie dem Volk. Vom deutschen Beamten bis zu den Negern in Harlem haben die gierigen Nachläufer im Grunde immer gewußt, sie würden am Ende selber nichts davon haben als die Freude, daß die andern auch nicht mehr haben. Die Arisierung des jüdischen Eigentums, die ohnehin meist den Oberen zugute kam, hat den Massen im Dritten Reich kaum größeren Segen gebracht als den Kosaken die armselige Beute, die sie aus den gebrandschatzten Judenvierteln mitschleppten. Der reale Vorteil war halbdurchschaute Ideologie. Daß die Demonstration seiner ökonomischen Vergeblichkeit die Anziehungskraft des völkischen Heilmittels eher steigert als mildert, weist auf seine wahre Natur: es hilft nicht den Menschen, sondern ihrem Drang nach Vernichtung. Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv. Je weniger sonst herauskommt, um so verstockter hält man sich wider die bessere Erkenntnis an die Bewegung. Gegen das Argument mangelnder Rentabilität hat sich der Antisemitismus immun gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus. 2 Seine Zweckmäßigkeit für die Herrschaft liegt zutage. Er wird als Ablenkung, billiges Korruptionsmittel, terroristisches Exempel verwandt. Die respektablen Rackets unterhalten ihn, und die irrespektablen üben ihn aus. Die Gestalt des Geistes aber, des gesellschaftlichen wie des individuellen, die im Antisemitismus erscheint, die urgeschichtlich-geschichtliche Verstrickung, in die er als verzweifelter Versuch des Ausbruchs gebannt bleibt, ist ganz im Dunkel. Wenn einem der Zivilisation so tief innewohnenden Leiden sein Recht in der Erkenntnis nicht wird, vermag es auch der Einzelne in der Erkenntnis nicht zu beschwichtigen, 24 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung

wäre er auch so gutwillig wie nur das Opfer selbst. Die bündig rationalen, ökonomischen und politischen Erklärungen und Gegenargumente – so Richtiges sie immer bezeichnen – vermögen es nicht, denn die mit Herrschaft verknüpfte Rationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens. Als blind Zuschlagende und blind Abwehrende gehören Verfolger und Opfer noch dem gleichen Kreis des Unheils an. Die antisemitische Verhaltensweise wird in den Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen werden. Was sie tun, sind – für die Beteiligten – tödliche und dabei sinnleere Reaktionen, wie Behavioristen sie feststellen, ohne sie zu deuten. Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde. In ihnen wird die Ohnmacht dessen demonstriert, was ihnen Einhalt gebieten könnte, der Besinnung, des Bedeutens, schließlich der Wahrheit. Im läppischen Zeitvertreib des Totschlags wird das sture Leben bestätigt, in das man sich schickt. 3 Erst die Blindheit des Antisemitismus, seine Intentionslosigkeit, verleiht der Erklärung, er sei ein Ventil, ihr Maß an Wahrheit. Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt. Es gibt keinen genuinen Antisemitismus, gewiß keine geborenen Antisemiten. Die Erwachsenen, denen der Ruf nach Judenblut zur zweiten Natur geworden ist, wissen so wenig warum, wie die Jugend, die es vergießen soll. Die hohen Auftraggeber freilich, die es wissen, hassen die Juden nicht und lieben nicht die Gefolgschaft. Diese aber, die weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten kommt, haßt ohne Ende; sie will keine Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt. So ist es in der Tat eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt. Sie ziehen aus, um zu plündern, und machen eine großartige Ideologie dazu, faseln von der Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Menschheit. Da sie aber die Geprellten bleiben, was sie freilich insgeheim schon ahnten, fällt schließlich ihr erbärmliches rationales Motiv, der Raub, dem die Rationalisierung dienen sollte, ganz fort und diese wird ehrlich wider Willen. Der unerhellte Trieb, dem sie von Anfang an verwandter war als der Vernunft, ergreift von ihnen ganz Besitz. Die rationale Insel wird überschwemmt, und die Verzweifelten erscheinen einzig noch als die Verteidiger der Wahrheit, als die Erneuerer der Erde, die auch den letzten Winkel noch reformieren müssen. Alles Lebendige wird zum Material ihrer scheußlichen Pflicht, der keine Neigung mehr Eintrag tut. Die Tat wird wirklich autonomer Selbstzweck, sie bemäntelt ihre eigene Zwecklosigkeit. Immer ruft der Antisemitismus erst noch zu ganzer Arbeit auf. Zwischen Antisemitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang. Blindheit erfaßt alles, weil sie nichts begreift. 4 Der Liberalismus hatte den Juden Besitz gewährt, aber ohne Befehlsgewalt. Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist. Weil die betrogenen Massen ahnen, daß dies Versprechen, als 25 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

allgemeines, Lüge bleibt, solange es Klassen gibt, erregt es ihre Wut; sie fühlen sich verhöhnt. Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr er an der Zeit ist. Wo immer er inmitten der prinzipiellen Versagung als verwirklicht erscheint, müssen sie die Unterdrückung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt. Was zum Anlaß solcher Wiederholung wird, wie unglücklich selbst es auch sein mag, Ahasver und Mignon, Fremdes, das ans verheißene Land, Schönheit, die ans Geschlecht erinnert, das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider. Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre. Das Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, steht als Zeichen eingeborener Ohnmacht, das gute Leben als Zeichen von Glück. Dazu gesellt sich das Bild des Intellektuellen; er scheint zu denken, was die anderen sich nicht gönnen, und vergießt nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft. Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient.

III 1 Die heutige Gesellschaft, in der religiöse Urgefühle und Renaissancen ebenso wie die Erbmasse von Revolutionen am Markte feilstehen, in der die faschistischen Führer hinter verschlossenen Türen Land und Leben der Nationen aushandeln, während das gewiegte Publikum am Radioempfänger den Preis nachrechnet, die Gesellschaft, in der noch das Wort, das sie entlarvt, sich eben damit als Empfehlung zur Aufnahme in ein politisches Racket legitimiert: diese Gesellschaft, in der nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft ist, sondern das Geschäft die ganze Politik – sie entrüstet sich über das zurückgebliebene Händlergebaren des Juden und bestimmt ihn als den Materialisten, den Schacherer, der dem Feuergeist derer weichen soll, die das Geschäft zum Absoluten erhoben haben. 2 Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion. Waren in früheren Epochen die Herrschenden unmittelbar repressiv, so daß sie den Unteren nicht nur die Arbeit ausschließlich überließen, sondern die Arbeit als die Schmach deklarierten, die sie unter der Herrschaft immer war, so verwandelt sich im Merkantilismus der absolute Monarch in den größten Manufakturherrn. Produktion wird hoffähig. Die Herren als Bürger haben schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt. Arbeit schändet nicht, sagten sie, um der der andern rationaler sich zu bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem. Der Fabrikant wagte und strich ein wie Handelsherr und Bankier. Er kalkulierte, disponierte, kaufte, 26 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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verkaufte. Am Markt konkurrierte er mit jenen um den Profit, der seinem Kapital entsprach. Nur raffte er nicht bloß am Markt sondern an der Quelle ein: als Funktionär der Klasse sorgte er dafür, daß er bei der Arbeit seiner Leute nicht zu kurz kam. Die Arbeiter hatten so viel wie möglich abzuliefern. Als der wahre Shylock bestand er auf seinem Schein. Auf Grund des Besitzes der Maschinen und des Materials erzwang er, daß die andern produzierten. Er nannte sich den Produzenten, aber er wie jeder wußte insgeheim die Wahrheit. Die produktive Arbeit des Kapitalisten, ob er seinen Profit mit dem Unternehmerlohn wie im Liberalismus oder dem Direktorengehalt wie heute rechtfertigte, war die Ideologie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des Wirtschaftssystems überhaupt zudeckte. 3 Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird. Der Fabrikant hat seine Schuldner, die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und kontrolliert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können: der kleinste Magnat kann über ein Quantum von Diensten und Gütern verfügen wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minimum. Nicht genug daran, daß sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, preist der Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten können. Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird. Mit ihrem Lohn nahmen sie zugleich das Prinzip der Entlohnung an. Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die andern auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein. 4 Die Juden hatten die Zirkulationssphäre nicht allein besetzt. Aber sie waren allzu lange in sie eingesperrt, als daß sie nicht den Haß, den sie seit je ertrugen, durch ihr Wesen zurückspiegelten. Ihnen war im Gegensatz zum arischen Kollegen der Zugang zum Ursprung des Mehrwerts weithin verschlossen. Zum Eigentum an Produktionsmitteln hat man sie nur schwer und spät gelangen lassen. Freilich haben es die getauften Juden in der Geschichte Europas und noch im deutschen Kaiserreich zu hohen Stellungen in Verwaltung und Industrie gebracht. Immer jedoch hatten sie es mit doppelter Ergebenheit, beflissenem Aufwand, hartnäckiger Selbstverleugnung zu rechtfertigen. Man ließ sie heran nur, wenn sie durch ihr Verhalten das Verdikt über die andern Juden stillschweigend sich zueigneten und nochmals bestätigten: das ist der Sinn der Taufe. Alle Großtaten der Prominenten haben die Aufnahme des Juden in die Völker Europas nicht bewirkt, man ließ ihn keine Wurzeln schlagen und schalt ihn darum wurzellos. Stets blieb er Schutzjude, abhängig von Kaisern, Fürsten oder dem absolutistischen Staat. Sie alle waren einmal ökonomisch avanciert gegenüber der zurückgebliebenen Bevölkerung. Soweit sie den Juden als Vermittler brauchen 27 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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konnten, schützten sie ihn gegen die Massen, welche die Zeche des Fortschritts zu zahlen hatten. Die Juden waren Kolonisatoren des Fortschritts. Seit sie als Kaufleute römische Zivilisation im gentilen Europa verbreiten halfen, waren sie im Einklang mit ihrer patriarchalen Religion die Vertreter städtischer, bürgerlicher, schließlich industrieller Verhältnisse. Sie trugen kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen den Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten. Um des wirtschaftlichen Fortschritts willen, an dem sie heute zu Grunde gehen, waren die Juden von Anbeginn den Handwerkern und Bauern, die der Kapitalismus deklassierte, ein Dorn im Auge. Seinen ausschließenden, partikularen Charakter erfahren sie nun an sich selber. Die immer die ersten sein wollten, werden weit zurückgelassen. Selbst der jüdische Regent eines amerikanischen Vergnügungstrusts lebt in seinem Glanz in hoffnungsloser Defensive. Der Kaftan war das geisterhafte Überbleibsel uralter Bürgertracht. Heute zeigt er an, daß seine Träger an den Rand der Gesellschaft geschleudert wurden, die, selber vollends aufgeklärt, die Gespenster ihrer Vorgeschichte austreibt. Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied. Auf das Bündnis mit der Zentralgewalt blieb der Jude auch im neunzehnten Jahrhundert angewiesen. Das allgemeine, vom Staat geschützte Recht war das Unterpfand seiner Sicherheit, das Ausnahmegesetz sein Schreckbild. Er blieb Objekt, der Gnade ausgeliefert, auch wo er auf dem Recht bestand. Der Handel war nicht sein Beruf, er war sein Schicksal. Er war das Trauma das Industrieritters, der sich als Schöpfer aufspielen muß. Aus dem jüdischen Jargon hört er heraus, wofür er sich insgeheim verachtet: sein Antisemitismus ist Selbsthaß, das schlechte Gewissen des Parasiten.

IV 1 Der völkische Antisemitismus will von der Religion absehen. Er behauptet, es gehe um Reinheit von Rasse und Nation. Sie merken, daß die Menschen der Sorge ums ewige Heil längst entsagt haben. Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden vorzuwerfen, sie seien verstockte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie. Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben. Das Bündnis von Aufklärung und Herrschaft hat dem Moment ihrer Wahrheit den Zugang zum Bewußtsein abgeschnitten und ihre verdinglichten Formen konserviert. Beides kommt zuletzt dem Faschismus zugute: die unbeherrschte Sehnsucht wird als völkische Rebellion kanalisiert, die Nachfahren der evangelistischen Schwarmgeister werden nach dem Modell der Wagnerschen Gralsritter in Verschworene der 28 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Blutsgemeinschaft und Elitegarden verkehrt, die Religion als Institution teils unmittelbar mit dem System verfilzt, teils ins Gepränge von Massenkultur und Aufmärschen transponiert. Der fanatische Glaube, dessen Führer und Gefolgschaft sich rühmen, ist kein anderer als der verbissene, der früher die Verzweifelten bei der Stange hielt, nur sein Inhalt ist abhanden gekommen. Von diesem lebt einzig noch der Haß gegen die, welche den Glauben nicht teilen. Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus. 2 Das Christentum ist nicht bloß ein Rückfall hinter das Judentum. Dessen Gott hat beim Übergang von der henotheistischen in die universale Gestalt die Züge des Naturdämons noch nicht völlig abgeworfen. Der Schrecken, der aus präanimistischer Vorzeit stammt, geht aus der Natur in den Begriff des absoluten Selbst über, das als ihr Schöpfer und Beherrscher die Natur vollends unterwirft. In all seiner unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit, die ihm solche Entfremdung verleiht, ist er doch dem Gedanken erreichbar, der eben durch die Beziehung auf ein Höchstes, Transzendentes universal wird. Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen, das nicht bloß für ihren blinden Kreislauf einsteht wie alle mythischen Götter, sondern aus ihm befreien kann. Aber in seiner Abstraktheit und Ferne hat sich zugleich der Schrecken des Inkommensurablen verstärkt, und das eherne Wort Ich bin, das nichts neben sich duldet, überbietet an unausweichlicher Gewalt den blinderen, aber darum auch vieldeutigeren Spruch des anonymen Schicksals. Der Gott des Judentums fordert, was ihm gebührt, und rechnet mit dem Säumigen ab. Er verstrickt sein Geschöpf ins Gewebe von Schuld und Verdienst. Demgegenüber hat das Christentum das Moment der Gnade hervorgehoben, das freilich im Judentum selber im Bund Gottes mit den Menschen und in der messianischen Verheißung enthalten ist. Es hat den Schrecken des Absoluten gemildert, indem die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet: der göttliche Mittler wird mit einem menschlichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen Tod. Seine Botschaft ist: Fürchtet euch nicht; das Gesetz zergeht vor dem Glauben; größer als alle Majestät wird die Liebe, das einzige Gebot. 3 Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Christentum den Bann der Naturreligion fortnimmt, bringt es die Idolatrie, als vergeistigte, nochmals hervor. Um soviel wie das Absolute dem Endlichen genähert wird, wird das Endliche verabsolutiert. Christus, der fleischgewordene Geist, ist der vergottete Magier. Die menschliche Selbstreflexion im Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das proton pseudos. Der Fortschritt über das Judentum ist mit der Behauptung erkauft, der Mensch Jesus sei Gott gewesen. Gerade das reflektive Moment des Christentums, die Vergeistigung der Magie ist schuld am Unheil. Es wird eben das als geistigen Wesens ausgegeben, was vor dem Geist als natürlichen Wesens sich erweist. Genau in der Entfaltung des Widerspruchs gegen solche Prätention von Endlichem besteht der Geist. So muß das schlechte Gewissen den Propheten als Symbol empfehlen, die magische Praxis als Wandlung. Das macht das Christentum zur Religion, in gewissem Sinn zur einzigen: zur gedanklichen Bindung ans gedanklich Suspekte, zum kulturellen 29 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Sonderbereich. Wie die großen asiatischen Systeme war das vorchristliche Judentum der vom nationalen Leben, von der allgemeinen Selbsterhaltung kaum geschiedene Glaube. Die Umformung des heidnischen Opferrituals vollzog sich weder bloß im Kultus noch bloß im Gemüt, sie bestimmte die Form des Arbeitsvorganges. Als dessen Schema wird das Opfer rational. Das Tabu wandelt sich in die rationale Regelung des Arbeitsprozesses. Es ordnet die Verwaltung in Krieg und Frieden, das Säen und Ernten, Speisebereitung und Schlächterei. Entspringen die Regeln auch nicht aus rationaler Überlegung, so entspringt doch aus ihnen Rationalität. Die Anstrengung, aus der unmittelbaren Furcht sich zu befreien, schuf beim Primitiven die Veranstaltung des Rituals, sie läutert sich im Judentum zum geheiligten Rhythmus des familiären und staatlichen Lebens. Die Priester waren zu Wächtern darüber bestimmt, daß der Brauch befolgt werde. Ihre Funktion in der Herrschaft war in der theokratischen Praxis offenbar; das Christentum aber wollte geistlich bleiben, auch wo es nach der Herrschaft trachtete. Es hat die Selbsterhaltung durchs letzte Opfer, das des Gottmenschen, in der Ideologie gebrochen, eben damit aber das entwertete Dasein der Profanität überantwortet: das mosaische Gesetz wird abgeschafft, aber dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben. Die weltliche Obrigkeit wird bestätigt oder usurpiert, das Christliche als das konzessionierte Heilsressort betrieben. Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die Nachahmung Christi wird verordnet. So wird die aufopfernde Liebe der Naivität entkleidet, von der natürlichen getrennt und als Verdienst gebucht. Die durchs Heilswissen vermittelte soll dabei doch die unmittelbare sein; Natur und Übernatur seien in ihr versöhnt. Darin liegt ihre Unwahrheit: in der trügerisch affirmativen Sinngebung des Selbstvergessens. 4 Die Sinngebung ist trügerisch, weil zwar die Kirche davon lebt, daß die Menschen in der Befolgung ihrer Lehre, fordere sie Werke wie die katholische oder den Glauben wie die protestantische Version, den Weg zur Erlösung sehen, aber doch das Ziel nicht garantieren kann. Die Unverbindlichkeit des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische und negative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie und schließlich noch die Kirche relativiert ist, wird vom naiven Gläubigen im stillen fortgewiesen, ihm wird das Christentum, der Supranaturalismus, zum magischen Ritual, zur Naturreligion. Er glaubt nur, indem er seinen Glauben vergißt. Er redet sich Wissen und Gewißheit ein wie Astrologen und Spiritisten. Das ist nicht notwendig das Schlechtere gegenüber der vergeistigten Theologie. Das italienische Mütterchen, das dem heiligen Gennaro für den Enkel im Krieg in gläubiger Einfalt eine Kerze weiht, mag der Wahrheit näher sein als die Popen und Oberpfarrer, die frei vom Götzendienst die Waffnen segnen, gegen die der heilige Gennaro machtlos ist. Der Einfalt aber wird die Religion selbst zum Religionsersatz. Die Ahnung davon war dem Christentum seit seinen ersten Tagen beigesellt, aber nur die paradoxen Christen, die antioffiziellen, von Pascal über Lessing und Kierkegaard bis Barth machten sie zum Angelpunkt ihrer Theologie. In solchem Bewußtsein waren sie nicht bloß die Radikalen sondern auch die Duldsamen. Die anderen aber, die es verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, 30 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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mußten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten. Das ist der religiöse Ursprung des Antisemitismus. Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die, welche es besser wissen. Es ist die Feindschaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den Geist. Das Ärgernis für die christlichen Judenfeinde ist die Wahrheit, die dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren und die Idee der unverdienten Seligkeit gegen Weltlauf und Heilsordnung festhält, die sie angeblich bewirken sollen. Der Antisemitismus soll bestätigen, daß das Ritual von Glaube und Geschichte recht hat, indem er es an jenen vollstreckt, die solches Recht verneinen.

V 1 »Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiß das nicht so leicht«, sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie. Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes. Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die sich nicht durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen geläutert hat, der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fortschritt der Jahrhunderte sich sedimentiert, wirkt penetrant und fordert zwangshaften Abscheu heraus. 2 Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig. Für Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur. Indem aber das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltetere Leben bloßer Natur sich nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne, Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch Angleichung ans Tote. 3 Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die 31 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte Mimesis wird verfemt. Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist selbst das Sinnbild solchen Fortschritts. Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bildverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden. Durch seine Konstitution vollzieht sich der Übergang von reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion. Anstelle der leiblichen Angleichung an Natur tritt die ›Rekognition im Begriff‹, die Befassung des Verschiedenen unter Gleiches. Die Konstellation aber, unter der Gleichheit sich herstellt, die unmittelbare der Mimesis wie die vermittelte der Synthesis, die Angleichung ans Ding im blinden Vollzug des Lebens wie die Vergleichung des Verdinglichten in der wissenschaftlichen Begriffsbildung, bleibt die des Schreckens. Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als gesellschaftliche Herrschaft über die Natur. Wissenschaft ist Wiederholung, verfeinert zu beobachteter Regelmäßigkeit, aufbewahrt in Stereotypen. Die mathematische Formel ist bewußt gehandhabte Regression, wie schon der Zauber-Ritus war; sie ist die sublimierteste Betätigung von Mimikry. Technik vollzieht die Anpassung ans Tote im Dienste der Selbsterhaltung nicht mehr wie Magie durch körperliche Nachahmung der äußeren Natur, sondern durch Automatisierung der geistigen Prozesse, durch ihre Umwandlung in blinde Abläufe. Mit ihrem Triumph werden die menschlichen Äußerungen sowohl beherrschbar als zwangsmäßig. Von der Angleichung an die Natur bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig. Die Schutz- und Schreckfarbe heute ist die blinde Naturbeherrschung, die mit der weitblickenden Zweckhaftigkeit identisch ist. 4 In der bürgerlichen Produktionsweise wird das untilgbar mimetische Erbe aller Praxis dem Vergessen überantwortet. Das erbarmungslose Verbot des Rückfalls wird selber zum bloßen Verhängnis, die Versagung ist so total geworden, daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt. Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut.1 Es ist die ansteckende Gestik der von Zivili1 Vgl. Freud, Das Unheimliche. Gesammelte Werke. Band XII. S. 254, 259 u.a.

32 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen. Sie scheinen die längst verdinglichten menschlichen Beziehungen wieder in persönliche Machtverhältnisse zurückzuübersetzen, indem sie den Käufer durch Schmeicheln, den Schuldner durch Drohen, den Gläubiger durch Flehen zu erweichen suchen. Peinlich wirkt schließlich jede Regung überhaupt, Aufregung ist minder. Aller nichtmanipulierte Ausdruck erscheint als die Grimasse, die der manipulierte – im Kino, bei der Lynch-Justiz, in der Führer-Rede – immer war. Die undisziplinierte Mimik aber ist das Brandzeichen der alten Herrschaft, in die lebende Substanz der Beherrschten eingeprägt und kraft eines unbewußten Nachahmungsprozesses durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt, vom Trödeljuden auf den Bankier. Solche Mimik fordert die Wut heraus, weil sie angesichts der neuen Produktionsverhältnisse die alte Angst zur Schau trägt, die man, um in ihnen zu überleben, selbst vergessen mußte. Auf das zwangshafte Moment, auf die Wut des Quälers und des Gequälten, die ungeschieden in der Grimasse wieder erscheinen, spricht die eigene Wut im Zivilisierten an. Dem ohnmächtigen Schein antwortet die tödliche Wirklichkeit, dem Spiel der Ernst. 5 Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun, lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht. Aber Ausdruck ist der schmerzliche Widerhall einer Übermacht, Gewalt, die laut wird in der Klage. Er ist stets übertrieben, wie aufrichtig er auch sei, denn, wie in jedem Werk der Kunst, scheint in jedem Klagelaut die ganze Welt zu liegen. Angemessen ist nur die Leistung. Sie und nicht Mimesis vermag dem Leiden Abbruch zu tun. Aber ihre Konsequenz ist das unbewegte und ungerührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das Baby-Gesicht der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen, Generaldirektoren und Racketeers. Die heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte zeigt die Kehrseite desselben gesellschaftlichen Sachverhalts. Das Geheul ist so kalt wie das Geschäft. Sie enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik. Ihr Gebrüll ist fürs Pogrom, was die Lärmvorrichtung für die deutsche Fliegerbombe ist: der Schreckensschrei, der Schrecken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des Opfers, der zuerst Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das die Opfer meint: Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich absichtlich in die Verzweiflung von Verfolgten versetzen, die zuschlagen müssen. Sie sind das falsche Konterfei der schreckhaften Mimesis. Sie reproduzieren die Unersättlichkeit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles soll gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des anderen ist das Ärgernis. Jeder andere »macht sich breit« und muß in seine Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Grauens. Was Unterschlupf sucht, soll ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach alle süchtig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Nomaden und Gauklern hat man seit je das Heimatrecht verwehrt. Was einer fürchtet, wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll keine sein. Die Verwüstung der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er selbst. Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu 33 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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vertreiben. Am Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, entzündet endlos sich Gewalt. Getilgt soll werden, was bloß vegetieren will. In den chaotischregelhaften Fluchtreaktionen der niederen Tiere, in den Figuren des Gewimmels, in den konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherrschen läßt: der mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv vorgibt. 6 Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die Vorwände, in denen Führer und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt. Das sind immer selbst mimetische Chiffren: die argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall, wie er unabhängig vom Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Gefühl malt, die Nase, das physiognomische principium individuationis, ein Schriftzeichen gleichsam, das dem Einzelnen den besonderen Charakter ins Gesicht schreibt. In den vieldeutigen Neigungen der Riechlust lebt die alte Sehnsucht nach dem Unteren fort, nach der unmittelbaren Vereinigung mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm. Von allen Sinnen zeugt der Akt des Riechens, das angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu werden. Darum ist Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes – beide werden eins im Vollzug – mehr Ausdruck als andere Sinne. Im Sehen bleibt man, wer man ist, im Riechen geht man auf. So gilt der Zivilisation Geruch als Schmach, als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer Rassen und unedler Tiere. Dem Zivilisierten ist Hingabe an solche Lust nur gestattet, wenn das Verbot durch Rationalisierung im Dienst wirklich oder scheinbar praktischer Zwecke suspendiert wird. Man darf dem verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt. Das ist die Erscheinung des Spaßes oder des Ulks. Er ist die elende Parodie der Erfüllung. Als verachtete, sich selbst verachtende, wird die mimetische Funktion hämisch genossen. Wer Gerüche wittert, um sie zu tilgen, »schlechte« Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat. Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. Um den Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen. Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter. Je grauenvoller Anklagen und Drohungen, je größer die Wut, um so zwingender zugleich der Hohn. Wut, Hohn und vergiftete Nachahmung sind eigentlich dasselbe. Der Sinn des faschistischen Formelwesens, der ritualen Disziplin, der 34 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Uniformen und der gesamten vorgeblich irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten zu ermöglichen. Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis. Der Führer mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der andrehbaren Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet stellvertretend und im Bilde, was allen anderen in der Realität verwehrt ist. Hitler kann gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen wie ein Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den er zu ermorden empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heiland, dessen Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut vergossen werde. Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen strebt. 7 Dieser Mechanismus bedarf der Juden. Ihre künstlich gesteigerte Sichtbarkeit wirkt auf den legitimen Sohn der gentilen Zivilisation gleichsam als magnetisches Feld. Indem der Verwurzelte an seiner Differenz vom Juden die Gleichheit, das Menschliche, gewahrt, wird in ihm das Gefühl des Gegensatzes, der Fremdheit, induziert. So werden die tabuierten, der Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in konformierende Idiosynkrasien umgesetzt. Die ökonomische Position der Juden, der letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie, bietet dagegen keinen zuverlässigen Schutz. Da sie zur Erzeugung jener seelischen Induktionsströme so geeignet sind, werden sie zu solchen Funktionen willenlos bereitgestellt. Sie teilen das Schicksal der rebellierenden Natur, für die sie der Faschismus einsetzt: sie werden blind und scharfsichtig gebraucht. Es verschlägt wenig, ob die Juden als Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen, die böse Ansteckung bewirken, oder ob sie jeweils unterschoben werden. Haben die ökonomischen Machthaber ihre Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter erst einmal überwunden, so stellt sich den Juden gegenüber die Harmonie der Volksgemeinschaft automatisch her. Sie werden von der Herrschaft preisgegeben, wenn diese kraft ihrer fortschreitenden Entfremdung von Natur in bloße Natur zurückschlägt. Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindermorde und sadistischen Exzesse, der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung zurück. Ist es einmal so weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als die blutige Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne – Totenschädel und gerädertes Kreuz in einem 35 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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– entrollt; daß einer Jude heißt, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht. 8 Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt. Die Juden selber haben daran durch die Jahrtausende teilgehabt, mit Aufklärung nicht weniger als mit Zynismus. Das älteste überlebende Patriarchat, die Inkarnation des Monotheismus, haben sie die Tabus in zivilisatorische Maximen verwandelt, da die anderen noch bei der Magie hielten. Den Juden schien gelungen, worum das Christentum vergebens sich mühte: die Entmächtigung der Magie vermöge ihrer eigenen Kraft, die als Gottesdienst sich wider sich selber kehrt. Sie haben die Angleichung an Natur nicht sowohl ausgerottet als sie aufgehoben in den reinen Pflichten des Rituals. Damit haben sie ihr das versöhnende Gedächtnis bewahrt, ohne durchs Symbol in Mythologie zurückzufallen. So gelten sie der fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm. Sie werden dessen schuldig gesprochen, was sie, als die ersten Bürger, zuerst in sich gebrochen haben: der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und Erde, des Bilderdienstes. Weil sie den Begriff des Koscheren erfunden haben, werden sie als Schweine verfolgt. Die Antisemiten machen sich zu Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.

VI 1 Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer. Dem gewöhnlichen Paranoiker steht dessen Wahl nicht frei, sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit. Im Faschismus wird dies Verhalten von Politik ergriffen, das Objekt der Krankheit wird realitätsgerecht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht. Der Mechanismus, den die totalitäre Ordnung in Dienst nimmt, ist so alt wie die Zivilisation. Dieselben geschlechtlichen Regungen, die das Menschengeschlecht unterdrückte, wußten bei Einzelnen wie bei Völkern in der vorstellungsmäßigen Verwandlung der Umwelt in ein diabolisches System sich zu erhalten und durchzusetzen. Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen. Die Rationalisierung war eine Finte und zwangshaft zugleich. Der als Feind Erwählte wird schon als 36 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Feind wahrgenommen. Die Störung liegt in der mangelnden Unterscheidung des Subjekts zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material. 2 In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren. Die Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der Absicht des Objekts. Projektion ist im Menschen automatisiert wie andere Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden. So konstituiert sich seine gegenständliche Welt, als Produkt jener »verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden« 2. Das System der Dinge, das feste Universum, von dem die Wissenschaft bloß den abstrakten Ausdruck bildet, ist, wenn man die kantische Erkenntniskritik anthropologisch wendet, das bewußtlos zustandekommende Erzeugnis des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf, jener selbsttätigen Projektion. In der menschlichen Gesellschaft aber, wo mit der Herausbildung des Individuums das affektive wie das intellektuelle Leben sich differenziert, bedarf der Einzelne steigender Kontrolle der Projektion, er muß sie zugleich verfeinern und hemmen lernen. Indem er unter ökonomischem Zwang zwischen fremden und eigenen Gedanken und Gefühlen unterscheiden lernt, entsteht der Unterschied von außen und innen, die Möglichkeit von Distanzierung und Identifikation, das Selbstbewußtsein und das Gewissen. Um die in Kontrolle genommene Projektion und ihre Entartung zur falschen zu verstehen, die zum Wesen des Antisemitismus gehört, bedarf es der genaueren Überlegung. 3 Die physiologische Lehre von der Wahrnehmung, die von den Philosophen seit dem Kantianismus als naiv realistisch und als Zirkelschluß verachtet wurde, erklärt die Wahrnehmungswelt als die vom Intellekt gelenkte Rückspiegelung der Daten, die das Gehirn von den wirklichen Gegenständen empfängt. Nach dieser Ansicht erfolgt die Anordnung der aufgenommenen punktuellen Indizes, der Eindrücke, durch Verstand. Beharren auch die Gestaltleute darauf, daß die physiologische Substanz nicht bloß Punkte sondern schon Struktur empfange, so haben Schopenhauer und Helmholtz trotz und gerade wegen des Zirkels doch mehr von der verschränkten Beziehung von Subjekt und Objekt gewußt als die offizielle Folgerichtigkeit der Schule, der neupsychologischen wie der neukantischen: das Wahrnehmungsbild enthält in der Tat Begriffe und Urteile. Zwischen dem wahrhaften Gegenstad und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den von diesen 2 Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage. Werke. Band III. S. 180 f.

37 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt. In einem Prozeß, der geschichtlich erst mit den entfalteten Kräften der menschlichen physiologischen Konstitution sich vollziehen konnte, hat es als einheitliche und zugleich exzentrische Funktion sich entfaltet. Auch als selbständig objektiviertes freilich ist es nur, was ihm die Objektwelt ist. In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf. Nur in der Vermittlung, in der das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist, und andererseits der Gedanke vorbehaltlos dem übermächtigen Eindruck sich hingibt, wird die kranke Einsamkeit überwunden, in der die ganze Natur befangen ist. Nicht in der vom Gedanken unangekränkelten Gewißheit, nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an. Die Unterscheidung geschieht im Subjekt, das die Außenwelt im eigenen Bewußtsein hat und doch als anderes erkennt. Daher vollzieht sich jenes Reflektieren, das Leben der Vernunft, als bewußte Projektion. 4 Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin. Indem das Subjekt nicht mehr vermag, dem Objekt zurückzugeben, was es von ihm empfangen hat, wird es selbst nicht reicher sondern ärmer. Es verliert die Reflexion nach beiden Richtungen: da es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion den andern zu. Es schwillt über und verkümmert zugleich. Grenzenlos belehnt es die Außenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie belehnt, ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte bloße Mittel, Beziehungen, Machenschaften, die finstere Praxis ohne den Ausblick des Gedankens. Herrschaft selber, die, auch als absolute, dem Sinn nach immer nur Mittel ist, wird in der hemmungslosen Projektion zugleich zum eigenen und zum fremden Zweck, ja zum Zweck überhaupt. In der Erkrankung des Individuums wirkt der geschärfte intellektuelle Apparat des Menschen gegen Menschen wieder als das blinde Feindwerkzeug der tierischen Vorzeit, als das bei der Gattung er gegen die ganze übrige Natur zu funktionieren nie aufgehört hat. Wie seit ihrem Aufstieg die species Mensch den anderen sich zeigt, als die entwicklungsgeschichtlich höchste und daher furchtbarste Vernichtung, wie innerhalb der Menschheit die fortgeschritteneren Rassen den primitiveren, die technisch besser ausgerüsteten Völker den langsameren, so tritt der kranke Einzelne dem anderen Einzelnen gegenüber, im Größen- wie im Verfolgungswahn. Beide Male ist das Subjekt im Zentrum, die Welt bloße 38 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gelegenheit für seinen Wahn; sie wird zum ohnmächtigen oder allmächtigen Inbegriff des auf sie Projizierten. Der Widerstand, über den der Paranoiker bei jedem Schritt wahllos sich beklagt, ist die Folge der Widerstandslosigkeit, der Leere, die der sich Abblendende rings erzeugt. Er kann nicht aufhören. Die Idee, die keinen festen Halt an der Realität findet, insistiert und wird zur fixen. 5 Indem der Paranoiker die Außenwelt nur perzipiert, wie es seinen blinden Zwecken entspricht, vermag er immer nur sein zur abstrakten Sucht entäußertes Selbst zu wiederholen. Das nackte Schema der Macht als solcher, gleich überwältigend gegen andere wie gegen das eigene mit sich zerfallene Ich, ergreift, was sich ihm bietet, und fügt es, ganz gleichgültig gegen seine Eigenart, in sein mythisches Gewebe ein. Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen eingelöst. Er schafft alle nach seinem Bilde. Keines Lebendigen scheint er zu bedürfen und fordert doch, daß alle ihm dienen sollen. Sein Wille durchdringt das All, nichts darf der Beziehung zu ihm entbehren. Seine Systeme sind lückenlos. Als Astrologe stattet er die Sterne mit Kräften aus, die das Verderben des Sorglosen herbeiführen, sei es im vorklinischen Stadium des fremden, sei es im klinischen des eigenen Ichs. Als Philosoph macht er die Weltgeschichte zur Vollstreckerin unausweichlicher Katastrophen und Untergänge. Als vollendet Wahnsinniger oder absolut Rationaler vernichtet er den Gezeichneten durch individuellen Terrorakt oder durch die wohlüberlegte Strategie der Ausrottung. So hat er Erfolg. Wie Frauen den ungerührten paranoiden Mann anbeten, sinken die Völker vor dem totalitären Faschismus in die Knie. In den Hingegebenen selber spricht das Paranoische auf den Paranoiker als den Unhold an, die Angst vor dem Gewissen aufs Gewissenlose, dem sie dankbar sind. Sie folgen dem, der an ihnen vorbeisieht, der sie nicht als Subjekte nimmt, sondern dem Betrieb der vielen Zwecke überläßt. Mit aller Welt haben jene Frauen die Besetzung großer und kleiner Machtpositionen zu ihrer Religion gemacht und sich selbst zu den bösen Dingen, zu denen die Gesellschaft sie stempelt. So muß der Blick, der sie an Freiheit mahnt, sie als der des allzu naiven Verführers treffen. Ihre Welt ist verkehrt. Zugleich aber wissen sie wie die alten Götter, die den Blick ihrer Gläubigen scheuten, daß hinter dem Schleier Totes wohnt. Im nicht paranoischen, im vertrauenden Blick werden sie jenes Geistes eingedenk, der in ihnen erstorben ist, weil sie draußen bloß die kalten Mittel ihrer Selbsterhaltung sehen. Solche Berührung weckt in ihnen Scham und Wut. Der Irre jedoch erreicht sie nicht, selbst wenn er wie der Führer ihnen ins Antlitz blickt. Er entflammt sie bloß. Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue, indem er sie in die fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert. Sie werden verraten: die Frauen weggeworfen, 39 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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die Nation ausgebrannt. So bleibt der Verschlossene das Spottbild der göttlichen Gewalt. Wie ihm in seiner souveränen Gebärde das schaffende Vermögen in der Realität ganz abgeht, so fehlen ihm gleich dem Teufel die Attribute des Prinzips, das er usurpiert: eingedenkende Liebe und in sich ruhende Freiheit. Er ist böse, von Zwang getrieben und so schwach wie seine Stärke. Wenn es von der göttlichen Allmacht heißt, sie ziehe das Geschöpf zu sich, so zieht die satanische, eingebildete alles in ihre Ohnmacht hinein. Das ist das Geheimnis ihrer Herrschaft. Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück, von dessen ihm selbst einwohnendem Grund es doch in seiner Reflexionslosigkeit abgeschnitten ist. Daher sind die Produkte der falschen Projektion, die stereotypen Schemata des Gedankens und der Realität, solche des Unheils. Dem Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, werden die Gegenstände zu Allegorien des Verderbens, in denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt. 6 Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr. Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art. Aus Angst vor der Kastration wurde der Gehorsam gegen den Vater bis zu deren Vorwegnahme in der Angleichung des bewußten Gefühlslebens ans kleine Mädchen getrieben und der Vaterhaß als ewige Ranküne verdrängt. In der Paranoia treibt dieser Haß zur Kastrationslust als allgemeinem Zerstörungsdrang. Der Erkrankte regrediert auf die archaische Ungeschiedenheit von Liebe und Überwältigung. Ihm kommt es auf physische Nähe, Beschlagnahmen, schließlich auf die Beziehung um jeden Preis an. Da er die Begierde sich nicht zugestehen darf, rückt er dem anderen als Eifersüchtiger oder Verfolger auf den Leib, wie dem Tier der verdrängende Sodomit als Jäger oder Antreiber. Die Anziehung stammt aus allzu gründlicher Bindung oder stellt sich her auf den ersten Blick, sie kann von den Großen ausgehen wie beim Querulanten und Präsidentenmörder oder von den Ärmsten wie beim echten Pogrom. Die Objekte der Fixierung sind substituierbar wie die Vaterfiguren in der Kindheit; wohin es trifft, trifft es; noch der Beziehungswahn greift beziehungslos um sich. Die pathische Projektion ist eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs, dessen Reizschutz Freud zufolge nach innen unendlich viel schwächer als nach außen ist: unter dem Druck der gestauten homosexuellen Aggression vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung, und erfährt jene Aggression als den Feind in der Welt, um ihr besser gewachsen zu sein. 7 Dieser Druck aber lastet auch auf dem gesunden Erkenntnisvorgang als Moment von dessen unreflektierter und zur Gewalt treibender Naivität. Wo immer die intellektuellen Energien absichtsvoll aufs Draußen konzentriert sind, also überall, 40 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wo es ums Verfolgen, Feststellen, Ergreifen zu tun ist, um jene Funktionen, die aus der primitiven Überwältigung des Getiers zu den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung sich vergeistigt haben, wird in der Schematisierung leicht vom subjektiven Vorgang abgesehen und das System als die Sache selbst gesetzt. Das vergegenständlichende Denken enthält wie das kranke die Willkür des der Sache fremden subjektiven Zwecks, es vergißt die Sache und tut ihr eben damit schon die Gewalt an, die ihr später in der Praxis geschieht. Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst. In jenem Abgrund der Ungewißheit, den jeder objektivierende Akt überbrücken muß, nistet sich die Paranoia ein. Weil es kein absolut zwingendes Argument gegen materialfalsche Urteile gibt, läßt die verzerrte Wahrnehmung, in der sie geistern, sich nicht heilen. Jede Wahrnehmung enthält bewußtlos begriffliche, wie jedes Urteil unaufgehellt phänomenalistische Elemente. Weil also zur Wahrheit Einbildungskraft gehört, kann es dem an dieser Beschädigten stets vorkommen, als ob die Wahrheit phantastisch und seine Illusion die Wahrheit sei. Der Beschädigte zehrt von dem der Wahrheit selbst immanenten Element der Einbildung, indem er es unablässig exponiert. Demokratisch besteht er auf der Gleichberechtigung für seinen Wahn, weil in der Tat auch die Wahrheit nicht stringent ist. Wenn der Bürger schon zugibt, daß der Antisemit im Unrecht ist, so will er wenigstens, daß auch das Opfer schuldig sei. So verlangt Hitler die Lebensberechtigung für den Massenmord im Namen des völkerrechtlichen Prinzips der Souveränität, das jede Gewalttat im anderen Lande toleriert. Wie jeder Paranoiker profitiert er von der gleißnerischen Identität von Wahrheit und Sophistik; ihre Trennung ist so wenig zwingend, wie sie doch streng bleibt. Wahrnehmung ist nur möglich, insofern das Ding schon als bestimmtes, etwa als Fall einer Gattung wahrgenommen wird. Sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, Gedanke in der verführerischen Kraft der Sinnlichkeit. Subjektives wird von ihr blind in die scheinbare Selbstgegebenheit des Objekts verlegt. Einzig die ihrer selbst bewußte Arbeit des Gedankens kann sich diesem Halluzinatorischen wieder entziehen, dem Leibniz’schen und Hegelschen Idealismus zufolge die Philosophie. Indem der Gedanke im Gang der Erkenntnis die in der Wahrnehmung unmittelbar gesetzten und daher zwingenden Begriffsmomente als begriffliche identifiziert, nimmt er sie stufenweise ins Subjekt zurück und entkleidet sie der anschaulichen Gewalt. In solchem Gange erweist sich jede frühere Stufe, auch die der Wissenschaft, gegenüber der Philosophie noch gleichsam als Wahrnehmung, als ein mit unerkannten intellektuellen Elementen durchsetztes, entfremdetes Phänomen; dabei zu verharren, ohne Negation, gehört der Pathologie der Erkenntnis zu. Der naiv Verabsolutierende, und sei er noch so universal tätig, ist ein Leidender, er unterliegt der verblendenden Macht falscher Unmittelbarkeit. 8 Solche Verblendung aber ist ein konstitutives Element jeglichen Urteils, ein notwendiger Schein. Jedes Urteil, auch das negative, ist versichernd. Wie sehr auch ein Urteil zur Selbstkorrektur seine eigene Isoliertheit und Relativität hervorkehren möge, es muß den eigenen wenn auch noch so vorsichtig formulierten 41 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Inhalt, das Behauptete, als nicht bloß isoliert und relativ behaupten. Darin besteht sein Wesen als Urteil, in der Klausel verschanzt sich bloß der Anspruch. Die Wahrheit hat keine Grade wie die Wahrscheinlichkeit. Der negierende Schritt über das einzelne Urteil hinaus, der seine Wahrheit rettet, ist möglich nur, sofern es sich selbst für wahr nahm und sozusagen paranoisch war. Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren, in der Unfähigkeit des Gedankens zu solcher Negativität, in welcher entgegen dem verfestigten Urteil das Denken recht eigentlich besteht. Die paranoische Überkonsequenz, die schlechte Unendlichkeit des immergleichen Urteils, ist ein Mangel an Konsequenz des Denkens; anstatt das Scheitern des absoluten Anspruchs gedanklich zu vollziehen und dadurch sein Urteil weiter zu bestimmen, verbeißt der Paranoiker sich in dem Anspruch, der es scheitern ließ. Anstatt weiter zu gehen, indem es in die Sache eindringt, tritt das ganze Denken in den hoffnungslosen Dienst des partikularen Urteils. Dessen Unwiderstehlichkeit ist dasselbe wie seine ungebrochene Positivität und die Schwäche des Paranoikers die des Gedankens selbst. Die Besinnung nämlich, die beim Gesunden die Macht der Unmittelbarkeit bricht, ist nie so zwingend wie der Schein, den sie aufhebt. Als negative, reflektierte, nicht geradeaus gerichtete Bewegung entbehrt sie der Brutalität, die dem Positiven innewohnt. Wenn die psychische Energie der Paranoia aus jener libidinösen Dynamik stammt, welche die Psychoanalyse bloßlegt, so ist ihre objektive Unangreifbarkeit in der Vieldeutigkeit begründet, die vom vergegenständlichenden Akt gar nicht abzulösen ist; ja, dessen halluzinatorische Gewalt wird ursprünglich entscheidend gewesen sein. In der Sprache der Selektionstheorie ließe sich verdeutlichend sagen, es hätten während der Entstehungsperiode des menschlichen Sensoriums jene Individuen überlebt, bei denen die Kraft der Projektionsmechanismen am weitesten in die rudimentären logischen Fähigkeiten hineinreichte, oder am wenigsten durch allzu frühe Ansätze der Reflexion gemindert war. Wie noch heute praktisch fruchtbare wissenschaftliche Unternehmungen der unangekränkelten Fähigkeit zur Definition bedürfen, der Fähigkeit, den Gedanken an einer durchs gesellschaftliche Bedürfnis designierten Stelle stillzulegen, ein Feld abzugrenzen, das dann bis ins kleinste durchforscht wird, ohne daß man es transzendierte, so vermag der Paranoiker einen durch sein psychologisches Schicksal designierten Interessenkomplex nicht zu überschreiten. Sein Scharfsinn verzehrt sich in dem von der fixen Idee gezogenen Kreis, wie das Ingenium der Menschheit im Bann der technischen Zivilisation sich selbst liquidiert. Die Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis. 9 So verhängnisvoll wohnt die Bereitschaft zur falschen Projektion dem Geiste ein, daß sie, das isolierte Schema der Selbsterhaltung, alles zu beherrschen droht, was über diese hinausgeht: die Kultur. Falsche Projektion ist der Usurpator des Reiches der Freiheit wie der Bildung; Paranoia ist das Symptom des Halbgebildeten. Ihm werden alle Worte zum Wahnsystem, zum Versuch, durch Geist zu besetzen, woran seine Erfahrung nicht heranreicht, gewalttätig der Welt Sinn zu geben, die ihn selber sinnlos macht, zugleich aber den Geist und die Erfahrung zu diffamieren, von denen er ausgeschlossen ist, und ihnen die Schuld 42 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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aufzubürden, welche die Gesellschaft trägt, die ihn davon ausschließt. Halbbildung, die im Gegensatz zur bloßen Unbildung das beschränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert, kann den ins Unerträgliche gesteigerten Bruch von innen und außen, von individuellem Schicksal und gesellschaftlichem Gesetz, von Erscheinung und Wesen nicht aushalten. In diesem Leiden ist zwar ein Element von Wahrheit enthalten gegenüber dem bloßen Hinnehmen des Gegebenen, auf das die überlegene Vernünftigkeit sich vereidigt hat. Stereotyp jedoch greift Halbbildung in ihrer Angst nach der ihr jeweils eigenen Formel, um bald das geschehene Unheil zu begründen, bald die Katastrophe, zuweilen als Regeneration verkleidet, vorherzusagen. Die Erklärung, in welcher der eigene Wunsch als objektive Macht auftritt, ist immer so äußerlich und sinnleer, wie das isolierte Geschehen selbst, läppisch zugleich und sinister. Die obskuren Systeme heute leisten, was dem Menschen im Mittelalter der Teufelsmythos der offiziellen Religion ermöglichte: die willkürliche Besetzung der Außenwelt mit Sinn, die der einzelgängerische Paranoiker nach privatem, von niemand geteiltem und eben deshalb erst als eigentlich verrückt erscheinendem Schema zuwege bringt. Davon entheben die fatalen Konventikel und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und zugleich Gedanken abschneiden: Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde, Eurhythmie, Abstinenzlertum, Yoga und zahllose andere Sekten, konkurrierend und auswechselbar, alle mit Akademien, Hierarchien, Fachsprachen, dem fetischisierten Formelwesen von Wissenschaft und Religion. Sie waren, im Angesicht der Bildung, apokryph und unrespektabel. Heute aber, wo Bildung überhaupt aus ökonomischen Gründen abstirbt, sind in ungeahntem Maßstab neue Bedingungen für die Paranoia der Massen gegeben. Die Glaubenssysteme der Vergangenheit, die von den Völkern als geschlossen paranoide Formen ergriffen wurden, hatten weitere Maschen. Gerade infolge ihrer rationalen Durchgestaltung und Bestimmtheit ließen sie, wenigstens nach oben, Raum für Bildung und Geist, deren Begriff ihr eigenes Medium war. Ja sie haben in gewisser Weise der Paranoia entgegengewirkt. Freud nennt, hier sogar mit Recht, die Neurosen »asoziale Bildungen«; »sie suchen mit privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand«3. Die Glaubenssysteme halten etwas von jener Kollektivität fest, welche die Individuen vor der Erkrankung bewahrt. Diese wird sozialisiert: im Rausch vereinter Ekstase, ja als Gemeinde überhaupt, wird Blindheit zur Beziehung und der paranoische Mechanismus beherrschbar gemacht, ohne die Möglichkeit des Schreckens zu verlieren. Vielleicht war das einer der großen Beiträge der Religionen zur Selbsterhaltung der Art. Die paranoiden Bewußtseinsformen streben zur Bildung von Bünden, Fronden und Rackets. Die Mitglieder haben Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben. Projizierend sehen sie überall Verschwörung und Proselytenmacherei. Zu anderen verhielt sich die etablierte Gruppe stets paranoisch; die großen Reiche, ja die organisierte Menschheit als ganze haben darin vor den Kopfjägern nichts voraus. Jene, die ohne eigenen Willen von der Menschheit ausgeschlossen 3 Freud, Totem und Tabu. Gesammelte Werke. Band IX. S. 91.

43 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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waren, wußten es, wie jene, die aus Sehnsucht nach der Menschheit von ihr sich selbst ausschlossen: an ihrer Verfolgung stärkte sich der krankhafte Zusammenhalt. Das normale Mitglied aber löst seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns. Der horror vacui, mit dem sie sich ihren Bünden verschreiben, schweißt sie zusammen und verleiht ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt. 10 Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. Sie hatte die Paranoia in die dunklen Winkel von Gesellschaft und Seele gedrängt. Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt sich auf die Erfassung des isoliert Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen. Das Entwicklungsmoment im Gedanken, alles Genetische und Intensive darin, wird vergessen und aufs unvermittelt Gegenwärtige, aufs Extensive nivelliert. Die Lebensordnung heute läßt dem Ich keinen Spielraum für geistige Konsequenzen. Der aufs Wissen abgezogene Gedanke wird neutralisiert, zur bloßen Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten und zur Steigerung des Warenwerts der Persönlichkeit eingespannt. So geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia entgegenarbeitet. Schließlich ist unter den Bedingungen des Spätkapitalismus die Halbbildung zum objektiven Geist geworden. In der totalitären Phase der Herrschaft ruft diese die provinziellen Scharlatane der Politik und mit ihnen das Wahnsystem als ultima ratio zurück und zwingt es der durch die große und die Kulturindustrie ohnehin schon mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten auf. Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben zu erhalten. Nur Verfolgungswahnsinnige lassen sich die Verfolgung, in welche Herrschaft übergehen muß, gefallen, indem sie andere verfolgen dürfen. 11 Ohnehin ist im Faschismus, wo die von bürgerlicher Zivilisation mühsam gezüchtete Verantwortung für Weib und Kind hinter dem dauernden Sichausrichten jedes Einzelnen nach dem Reglement wieder verschwindet, das Gewissen liquidiert. Es bestand – anders als Dostojewskij und deutsche Innerlichkeitsapostel sich vorstellten – in der Hingabe des Ichs an das Substantielle draußen, in der Fähigkeit, das wahre Anliegen der anderen zum eigenen zu machen. Diese Fähigkeit ist die zur Reflexion als der Durchdringung von Rezeptivität und Einbildungskraft. Indem die große Industrie durch Abschaffung des unabhängigen ökonomischen Subjekts, teils durch Einziehung der selbständigen Unternehmer, teils durch Transformation der Arbeiter in Gewerkschaftsobjekte unaufhaltsam der moralischen Entscheidung den wirtschaftlichen Boden entzieht, muß auch die Reflexion verkümmern. Seele, als Möglichkeit zu dem sich selber offenen 44 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gefühl der Schuld, zergeht. Gewissen wird gegenstandslos, denn anstelle der Verantwortung des Individuums für sich und die Seinen tritt, wenn auch unter dem alten moralischen Titel, schlechtweg seine Leistung für den Apparat. Es kommt nicht mehr zum Austrag des eigenen Triebkonflikts, in welchem die Gewissensinstanz sich ausbildet. Statt der Verinnerlichung des gesellschaftlichen Gebots, die es nicht nur verbindlicher und zugleich geöffneter macht, sondern auch von der Gesellschaft emanzipiert, ja gegen diese wendet, erfolgt prompte, unmittelbare Identifikation mit den stereotypen Wertskalen. Die vorbildliche deutsche Frau, die das Weibliche, und der echte deutsche Mann, der das Männliche gepachtet hat, wie ihre anderwärtigen Versionen, sind Typen konformierender Asozialer. Trotz und wegen der offenbaren Schlechtigkeit der Herrschaft ist diese so übermächtig geworden, daß jeder Einzelne in seiner Ohnmacht sein Schicksal nur durch blinde Fügsamkeit beschwören kann. 12 In solcher Macht bleibt es dem von der Partei gelenkten Zufall überlassen, wohin die verzweifelte Selbsterhaltung die Schuld an ihrem Schrecken projiziert. Vorbestimmt für solche Lenkung sind die Juden. Die Zirkulationssphäre, in der sie ihre ökonomischen Machtpositionen besaßen, ist im Schwinden begriffen. Die liberalistische Form des Unternehmens hatte den zersplitterten Vermögen noch politischen Einfluß gestattet. Jetzt werden die eben erst Emanzipierten den mit dem Staatsapparat verschmolzenen, der Konkurrenz entwachsenen Kapitalmächten ausgeliefert. Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild, als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhaßten machen. Das gelingt ihnen mittels der pathischen Projektion, denn auch der Haß führt zur Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung. Er ist das Negativ der Versöhnung. Versöhnung ist der höchste Begriff des Judentums und dessen ganzer Sinn die Erwartung; der Unfähigkeit zu dieser entspringt die paranoische Reaktionsform. Die Antisemiten sind dabei, ihr negativ Absolutes aus eigener Macht zu verwirklichen, sie verwandeln die Welt in die Hölle, als welche sie sie schon immer sahen. Die Umwendung hängt davon ab, ob die Beherrschten im Angesicht des absoluten Wahnsinns ihrer selbst mächtig werden und ihm Einhalt gebieten. In der Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt, könnte sich erst die Idee verwirklichen, die bislang unwahr blieb, daß der Jude ein Mensch sei. Es wäre der Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft, die den Juden wie die andern in die Krankheit treibt, zur menschlichen. Solcher Schritt erfüllte zugleich die faschistische Lüge, als deren eigenen Widerspruch: die Judenfrage erwiese sich in der Tat als Wendepunkt der Geschichte. Mit der Überwindung der Krankheit des Geistes, die auf dem Nährboden der durch Reflexion ungebrochenen Selbstbehauptung wuchert, würde die Menschheit aus der allgemeinen Gegenrasse zu der Gattung, die als Natur doch mehr ist als bloße Natur, indem sie ihres eigenen Bildes innewird. 45 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft ist die Gegenbewegung zur falschen Projektion, und kein Jude, der diese je in sich zu beschwichtigen wüßte, wäre noch dem Unheil ähnlich, das über ihn, wie über alle Verfolgten, Tiere und Menschen, sinnlos hereinbricht.

VII 1 Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten. Die altkonservative Distanz des Adels und der Offizierskorps von den Juden war im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bloß reaktionär. Zeitgemäß waren die Ahlwardts und Knüppelkunzes. Sie hatten zur Gefolgschaft schon das Menschenmaterial des Führers, aber ihren Rückhalt bei den boshaften Charakteren und Querköpfen im ganzen Land. Wurde antisemitische Gesinnung laut, so fühlte sie sich als bürgerlich und aufsässig zugleich. Das völkische Schimpfen war noch die Verzerrung von ziviler Freiheit. In der Bierbankpolitik der Antisemiten kam die Lüge des deutschen Liberalismus zum Vorschein, von dem sie zehrte und dem sie schließlich das Ende bereitete. Wenn sie auch gegen Juden ihre eigene Mittelmäßigkeit als Freibrief für das Prügeln geltend machten, das schon den universalen Mord in sich hatte, so sahen sie ökonomisch doch noch genug vor sich selber, um das Risiko des Dritten Reichs gegen die Vorteile einer feindseligen Duldung einstweilen abzuwägen. Der Antisemitismus war noch ein konkurrierendes Motiv in subjektiver Wahl. Die Entscheidung bezog sich spezifisch auf ihn. In der Annahme der völkischen These freilich war immer schon das ganze chauvinistische Vokabular mitgesetzt. Seit je zeugte antisemitisches Urteil von Stereotypie des Denkens. Heute ist diese allein übrig. Gewählt wird immer noch, aber einzig zwischen Totalitäten. Anstelle der antisemitischen Psychologie ist weithin das bloße Ja zum faschistischen Ticket getreten, dem Inventar der Parolen der streitbaren Großindustrie. Wie auf dem Wahlzettel der Massenpartei dem Wähler von der Parteimaschine die Namen derer oktroyiert werden, die seiner Erfahrung entrückt sind und die er nur en bloc wählen kann, so sind die ideologischen Kernpunkte auf wenigen Listen kodifiziert. Für eine von ihnen muß man en bloc optieren, wenn nicht die eigene Gesinnung einem selbst als so vergeblich erscheinen soll wie die Splitterstimmen am Wahltag gegenüber den statistischen Mammutziffern. Antisemitismus ist kaum mehr eine selbständige Regung, sondern eine Planke der Plattform: wer irgend dem Faschismus die Chance gibt, subskribiert mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden. Die wie sehr auch verlogene Überzeugung des Antisemiten ist in die vorentschiedenen Reflexe der subjektlosen Exponenten ihrer Standorte übergegangen. Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielen. Es hat sich tatsächlich gezeigt, daß der Antisemitismus in judenreinen Gegenden nicht weniger Chancen hat als selbst in Hollywood. Anstelle von Erfahrung tritt 46 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das Cliché, anstelle der in jener tätigen Phantasie fleißige Rezeption. Bei Strafe rapiden Untergangs ist den Mitgliedern jeder Schicht ihr Pensum an Orientierung vorgeschrieben. Orientieren müssen sie sich sowohl im Sinn des Wissens ums neueste Flugzeug wie im Sinn des Anschlusses an eine der vorgegebenen Instanzen der Macht. 2 In der Welt als Serienproduktion ersetzt deren Schema, Stereotypie, die kategoriale Arbeit. Das Urteil beruht nicht mehr auf dem wirklichen Vollzug der Synthesis, sondern auf blinder Subsumtion. Hat auf einer historisch frühen Stufe Urteilen einmal im raschen Unterscheiden bestanden, das den giftigen Pfeil sogleich in Bewegung setzte, so hatten inzwischen Tausch und Rechtspflege das Ihre getan. Urteilen war durch die Stufe des Abwägens hindurchgegangen, das dem Urteilssubjekt gegen die brutale Identifikation mit dem Prädikat einigen Schutz gewährte. In der spät-industriellen Gesellschaft wird auf den urteilslosen Vollzug des Urteils regrediert. Als im Faschismus die beschleunigte Prozedur das umständliche Gerichtsverfahren im Strafprozeß ablöste, waren die Zeitgenossen ökonomisch darauf vorbereitet; sie hatten gelernt, besinnungslos die Dinge durch die Denkmodelle hindurch zu sehen, durch die termini technici, welche beim Zerfall der Sprache jeweils die eiserne Ration ausmachen. Der Wahrnehmende ist im Prozeß der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig. Er bringt die tätige Passivität des Erkennens nicht mehr auf, in der die kategorialen Elemente vom konventionell vorgeformten »Gegebenen« und dieses von jenen neu, angemessen sich gestalten lassen, so daß dem wahrgenommenen Gegenstand sein Recht wird. Auf dem Felde der Sozialwissenschaften wie in der Erlebniswelt des Einzelnen werden blinde Anschauung und leere Begriffe starr und unvermittelt zusammengebracht. Im Zeitalter der dreihundert Grundworte verschwindet die Fähigkeit zur Anstrengung des Urteilens und damit der Unterschied zwischen wahr und falsch. Sofern nicht Denken in höchst spezialisierter Form noch in manchen Sparten der Arbeitsteilung ein Stück beruflicher Ausrüstung bildet, wird es als altmodischer Luxus verdächtig: »armchair thinking«. Man soll etwas vor sich bringen. Je mehr die Entwicklung der Technik körperliche Arbeit überflüssig macht, desto eifriger wird diese zum Vorbild der geistigen erhoben, welche nicht in Versuchung kommen darf, eben daraus die Konsequenzen zu ziehen. Das ist das Geheimnis der Verdummung, die dem Antisemitismus zugutekommt. Wenn selbst innerhalb der Logik der Begriff dem Besonderen nur als ein bloß Äußerliches widerfährt, muß erst recht in der Gesellschaft erzittern, was den Unterschied repräsentiert. Die Spielmarke wird aufgeklebt: jeder zu Freund oder Feind. Der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt macht es der Verwaltung leicht. Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer. 3 Die Gleichgültigkeit gegens Individuum, die in der Logik sich ausdrückt, zieht die Folgerung aus dem Wirtschaftsprozeß. Es wurde zum Hemmnis der Produktion. Die Ungleichzeitigkeit in der technischen und menschlichen Entwicklung, das »cultural lag«, über das sich die Soziologen aufhielten, beginnt zu verschwinden. Ökonomische Rationalität, das gepriesene Prinzip des kleinsten Mittels formt 47 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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unablässig noch die letzten Einheiten der Wirtschaft um: den Betrieb wie den Menschen. Die je fortgeschrittenere Form wird zur vorherrschenden. Einmal enteignete das Warenhaus das Spezialgeschäft alten Stils. Der merkantilistischen Regulierung entwachsen, hatte dieses Initiative, Disposition, Organisation in sich hineingenommen und war, wie die alte Mühle und Schmiede, zur kleinen Fabrik, selbst zur freien Unternehmung geworden. In ihm ging es umständlich, kostspielig, mit Risiken zu. Daher setzte dann Konkurrenz die leistungsfähigere zentralisierte Form des Detailgeschäfts durch, eben das Warenhaus. Dem psychologischen Kleinbetrieb, dem Individuum ergeht es nicht anders. Es war entstanden als Kraftzelle ökonomischer Aktivität. Von der Bevormundung auf früheren Wirtschaftsstufen emanzipiert, sorgte es für sich allein: als Proletarier durch Verdingung über den Arbeitsmarkt und fortwährende Anpassung an neue technische Bedingungen, als Unternehmer durch unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus. Die Psychoanalyse hat den inneren Kleinbetrieb, der so zustandekam, als komplizierte Dynamik von Unbewußtem und Bewußtsem, von Es, Ich und Über-Ich dargestellt. In Auseinandersetzung mit dem Über-Ich, der gesellschaftlichen Kontrollinstanz im Individuum, hält das Ich die Triebe in den Grenzen der Selbsterhaltung. Die Reibungsflächen sind groß und die Neurosen, die faux frais solcher Triebökonomie, unvermeidlich. Dennoch hat die umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel der Subjekte ermöglicht, in dem die Marktwirtschaft bestand. In der Ära der großen Konzerne und Weltkriege aber erweist sich die Vermittlung des Gesellschaftsprozesses durch die zahllosen Monaden hindurch als rückständig. Die Subjekte der Triebökonomie werden psychologisch expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben. Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen. Für den Menschen als Erwerbstätigen wird durch die Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung entschieden, in der Privatsphäre durchs Schema der Massenkultur, das noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt. Als Ich und Über-Ich fungieren die Gremien und Stars, und die Massen, selbst des Scheins der Persönlichkeit entäußert, formen sich viel reibungsloser nach den Losungen und Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur. Gehörte im Liberalismus Individuation eines Teils der Bevölkerung zur Anpassung der Gesamtgesellschaft an den Stand der Technik, so fordert heute das Funktionieren der wirtschaftlichen Apparatur die durch Individuation unbehinderte Direktion von Massen. Die ökonomisch bestimmte Richtung der Gesamtgesellschaft, die seit je in der geistigen und körperlichen Verfassung der Menschen sich durchsetzte, läßt die Organe des Einzelnen verkümmern, die im Sinne der autonomen Einrichtung seiner Existenz wirkten. Seitdem Denken ein bloßer Sektor der Arbeitsteilung wurde, haben die Pläne der zuständigen Experten und Führer die ihr eigenes Glück planenden Individuen überflüssig gemacht. Die Irrationalität der widerstandslosen und emsigen Anpassung an die Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft. Wenn vordem Bürger den 48 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zwang als Gewissenspflicht sich selbst und den Arbeitern introjiziert hatten, so wurde inzwischen der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression. Im Fortschritt der Industriegesellschaft, die doch das von ihr selbst gezeitigte Gesetz der Verelendung hinweggezaubert haben soll, wird nun der Begriff zuschanden, durch den das Ganze sich rechtfertigte: der Mensch als Person, als Träger der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn um. 4 Der Wahnsinn ist zugleich einer der politischen Realität. Als dichtes Gewebe neuzeitlicher Kommunikation ist die Welt so einheitlich geworden, daß die Unterschiede der Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks und Persien als nationales Timbre erst ausgesonnen werden müssen und die nationale Eigenart vornehmlich an den nach Reis hungernden Millionen erfahren wird, die durch die engen Maschen gefallen sind. Während die Fülle der Güter, die überall und zur gleichen Zeit produziert werden könnten, den Kampf um Rohmaterialien und Absatzgebiete stets anachronistischer erscheinen läßt, ist doch die Menschheit in ganz wenige bewaffnete Machtblöcke aufgeteilt. Sie konkurrieren erbarmungsloser als je die Firmen anarchischer Warenproduktion und streben der wechselseitigen Liquidierung zu. Je aberwitziger der Antagonismus, desto starrer die Blöcke. Nur indem die totale Identifikation mit diesen Machtungeheuern den in ihren Großräumen Anbetroffenen als zweite Natur aufgeprägt wird und alle Poren des Bewußtseins verstopft, werden die Massen zu der Art absoluter Apathie verhalten, die sie zu den Wunderleistungen befähigt. Sofern den Einzelnen Entscheidung noch überlassen scheint, ist diese doch wesentlich vorentschieden. Die von den Politikern der Lager ausposaunte Unversöhnlichkeit der Ideologien ist selber nur noch eine Ideologie der blinden Machtkonstellation. Das Ticketdenken, Produkt der Industrialisierung und ihrer Reklame, mißt den internationalen Beziehungen sich an. Ob ein Bürger das kommunistische oder das faschistische Ticket zieht, richtet sich bereits danach, ob er mehr von der roten Armee oder den Laboratorien des Westens sich imponieren läßt. Die Verdinglichung, kraft deren die einzig durch die Passivität der Massen ermöglichte Machtstruktur diesen selbst als eiserne Wirklichkeit entgegentritt, ist so dicht geworden, daß jede Spontaneität, ja die bloße Vorstellung vom wahren Sachverhalt notwendig zur verstiegenen Utopie, zum abwegigen Sektierertum geworden ist. Der Schein hat sich so konzentriert, daß ihn zu durchschauen objektiv den Charakter der Halluzination gewinnt. Ein Ticket wählen dagegen heißt die Anpassung an den zur Wirklichkeit versteinerten Schein vollziehen, der durch solche Anpassung sich unabsehbar reproduziert. Eben deshalb wird schon der Zögernde als Deserteur verfemt. Seit Hamlet war den Neueren das Zaudern Zeichen von Denken und Humanität. Die verschwendete Zeit repräsentierte und vermittelte zugleich den Abstand zwischen Individuellem und Allgemeinem, wie in der Ökonomie die Zirkulation zwischen Konsum und Produktion. Heute erhalten die Einzelnen ihre Tickets fertig von den Mächten, wie die Konsumenten ihr Automobil von den Verkaufsfilialen der Fabrik. Realitätsgerechtigkeit, Anpassung an die Macht, ist nicht mehr Resultat eines dialektischen Prozesses zwischen Subjekt und Realität, sondern wird unmittelbar vom Räderwerk der 49 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Industrie hergestellt. Der Vorgang ist einer der Liquidation anstatt der Aufhebung, der formalen anstatt der bestimmten Negation. Nicht indem sie ihm die ganze Befriedigung gewährten, haben die losgelassenen Produktionskolosse das Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten. Eben darin besteht ihre vollendete Rationalität, die mit ihrer Verrücktheit zusammenfällt. Das auf die Spitze getriebene Mißverhältnis zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen vernichtet die Spannung, aber der ungetrübte Einklang zwischen Allmacht und Ohnmacht ist selber der unvermittelte Widerspruch, der absolute Gegensatz von Versöhnung. 5 Mit dem Individuum sind daher nicht auch seine psychologischen Determinanten, seit je schon die innermenschlichen Agenturen der falschen Gesellschaft, verschwunden. Aber die Charaktertypen finden jetzt im Aufriß des Machtbetriebs ihre genaue Stelle. Ihr Wirkungs- wie ihr Reibungskoeffizient sind einkalkuliert. Das Ticket selbst ist ein Zahnrad. Was am psychologischen Mechanismus von je zwangshaft, unfrei und irrational war, ist präzis darauf eingepaßt. Das reaktionäre Ticket, das den Antisemitismus enthält, ist dem destruktiv-konventionellen Syndrom angemessen. Sie reagieren nicht sowohl ursprünglich gegen die Juden, als daß sie eine Triebrichtung ausgebildet haben, die erst durch das Ticket das adäquate Objekt der Verfolgung empfängt. Die erfahrungsmäßigen »Elemente des Antisemitismus«, außer Kraft gesetzt durch den Erfahrungsverlust, der im Ticketdenken sich anzeigt, werden vom Ticket nochmals mobilisiert. Als bereits zersetzte schaffen sie dem Neo-Antisemiten das schlechte Gewissen und damit die Unersättlichkeit des Bösen. Eben weil die Psychologie der Einzelnen sich selbst und ihre Inhalte nur noch durch die gesellschaftlich gelieferten synthetischen Schemata herstellen läßt, gewinnt der zeitgemäße Antisemitismus das nichtige, undurchdringliche Wesen. Der jüdische Mittelsmann wird erst ganz zum Bild des Teufels, nachdem es ihn ökonomisch eigentlich nicht mehr gibt; das macht den Triumph leicht und noch den antisemitischen Familienvater zum verantwortungsfreien Zuschauer der unaufhaltsamen geschichtlichen Tendenz, der nur zugreift, wo es seine Rolle als Angestellter der Partei oder der Zyklonfabriken erfordert. Die Verwaltung totalitärer Staaten, die unzeitgemäße Volksteile der Ausrottung zuführt, ist bloß der Nachrichter längst gefällter ökonomischer Verdikte. Die Angehörigen anderer Sparten der Arbeitsteilung können mit der Gleichgültigkeit zusehen, die der Zeitungsleser angesichts der Meldung über Aufräumungsarbeiten am Schauplatz der Katastrophe von gestern nicht verliert. Die Eigenart, um derentwillen die Opfer erschlagen werden, ist denn auch selber längst weggewischt. Die Menschen, die als Juden unters Dekret fallen, müssen durch umständliche Fragebogen erst eruiert werden, nachdem unter dem nivellierenden Druck der spät-industriellen Gesellschaft die feindlichen Religionen, die einst den Unterschied konstituierten, durch erfolgreiche Assimilation bereits in bloße Kulturgüter umgearbeitete worden sind. Die jüdischen Massen selber entziehen sich dem Ticketdenken so wenig wie nur irgend die feindlichen Jugendverbände. Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt gewissermaßen erst erfinden. Die Paranoia verfolgt ihr Ziel nicht mehr auf Grund der 50 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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individuellen Krankengeschichte des Verfolgers; zum gesellschaftlichen Existential geworden, muß sie es vielmehr im Verblendungszusammenhang der Kriege und Konjunkturen selbst setzen, ehe die psychologisch prädisponierten Volksgenossen als Patienten sich innerlich und äußerlich darauf stürzen können. 6 Daß, der Tendenz nach, Antisemitismus nur noch als Posten im auswechselbaren Ticket vorkommt, begründet unwiderleglich die Hoffnung auf sein Ende. Die Juden werden zu einer Zeit ermordet, da die Führer die antisemitische Planke so leicht ersetzen könnten, wie die Gefolgschaften von einer Stätte der durchrationalisierten Produktion in eine andere überzuführen sind. Die Basis der Entwicklung, die zum Ticketdenken führt, ist ohnehin die universale Reduktion aller spezifischen Energie auf die eine, gleiche, abstrakte Arbeitsform vom Schlachtfeld bis zum Studio. Der Übergang von solchen Bedingungen zum menschlicheren Zustand aber kann nicht geschehen, weil dem Guten dasselbe wie dem Bösen widerfährt. Die Freiheit auf dem progressiven Ticket ist den machtpolitischen Strukturen, auf welche die progressiven Entscheidungen notwendig hinauslaufen, so äußerlich wie die Judenfeindschaft dem chemischen Trust. Zwar werden die psychologisch Humaneren von jenem angezogen, doch verwandelt der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets am Ende in Feinde der Differenz. Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt. Jene Wut auf die Differenz, die ihr teleologisch innewohnt, steht als Ressentiment der beherrschten Subjekte der Naturbeherrschung auf dem Sprung gegen die natürliche Minderheit, auch wo sie fürs erste die soziale bedrohen. Die gesellschaftlich verantwortliche Elite ist ohnehin weit schwieriger zu fixieren als andere Minderheiten. Im Nebel der Verhältnisse von Eigentum, Besitz, Verfügung und Management entzieht sie sich mit Erfolg der theoretischen Bestimmung. An der Ideologie der Rasse und der Wirklichkeit der Klasse erscheint gleichermaßen bloß noch die abstrakte Differenz gegen die Majorität. Wenn aber das fortschrittliche Ticket dem zustrebt, was schlechter ist als sein Inhalt, so ist der Inhalt des faschistischen so nichtig, daß er als Ersatz des Besseren nur noch durch verzweifelte Anstrengung der Betrogenen aufrecht erhalten werden kann. Sein Grauen ist das der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge. Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe, von der die Urteilslosen einzig durch die volle Einbuße des Denkens getrennt zu halten sind. Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen.

51 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zweiter Teil Kommentare

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These I Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus I: 1 Die »Schicksalsfrage der Menschheit« Der erste Absatz der These benennt in aller Kürze zwei extrem entgegengesetzte Haltungen zum Antisemitismus bzw. zu den Juden, zum einen die Doktrin der Faschisten, zum andern die Doktrin der Liberalen. Für die Faschisten sind die Juden die »Gegenrasse«, das »negative Prinzip« schlechthin, und der Antisemitismus ist ihnen zufolge die »Schicksalsfrage der Menschheit«. Das »Glück der Welt« hängt in dieser Sicht der Dinge daran, dass die Juden ausgerottet werden. Die Doktrin der Liberalen besagt demgegenüber, dass die Juden eine Gruppe von Menschen sind, die sich lediglich »durch religiöse Meinung und Tradition« von anderen Menschen und Gruppen unterscheidet. Danach sind die Juden weder eine eigene Rasse noch eine eigene Nation – es gibt überhaupt keine Merkmale, die die Juden gleichsam von Natur aus charakterisieren und sie von anderen Menschen unterscheiden. Typisch jüdische Kennzeichen findet man nach Meinung der Liberalen allenfalls bei der zurückgebliebenen Gruppe der Ostjuden. Diese sind der Inbegriff derjenigen, die sich nicht assimiliert haben. In den Augen der Liberalen ist aber auch deren Angleichung an ihre Umgebung nur eine Frage der Zeit. Bei den Ostjuden handelt es sich dieser Auffassung nach nur um »noch nicht ganz Assimilierte«. Der Prozess der Modernisierung, so glauben die Liberalen, wird auch die Ostjuden unweigerlich zur Anpassung führen und die bei ihnen noch vorhandenen Reste vormoderner Einstellungen und Besonderheiten beseitigen. Die Ostjuden werden dann, wie alle Juden, ohne Rest in der modernen Gesellschaft aufgehen und sich allenfalls noch dadurch von anderen Gesellschaftsmitgliedern unterscheiden, dass sie einer eigenen Religion anhängen. Der Begriff der Assimilation bezeichnet die Vorstellung der modernen Gesellschaft, der der Liberalismus anhängt: eine Gesellschaft, in der Gegensätze und Widersprüche in einfache und belanglose Unterschiede verwandelt werden und alle Sprengkraft verloren haben. In der liberalen Idee werden Differenzen zwischen den Menschen durchaus nicht geleugnet, sondern vielmehr als Medium gesellschaftlicher Integration und 55 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

als Antreiber fortschreitenden Veränderungen in Anspruch genommen. Unterschiede untergraben der liberalen Weltsicht zufolge den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht, sondern befördern ihn. Die Integration der Gesellschaft verlangt nicht die Herstellung von Homogenität, sondern die Gesellschaft realisiert ihre integrative Kraft dadurch, dass Unterschiede und Divergenzen freigelassen werden, dass sie sich frei entfalten dürfen und gerade auf diese Weise der Zusammenhalt und der Wohlstand der Gesellschaft befördert wird. Den Liberalen gilt der Antisemitismus deswegen als »bloßer Vorwand«, hinter dem sich ganz andere Interessen und Motive verbergen. In diesem ersten Absatz der Elemente wird noch nicht weiter ausgeführt, welche Interessen und Motive der liberalen Auffassung zufolge den Antisemitismus in Wirklichkeit antreiben. Offenbar ist die Vermutung, dass der Antisemitismus in den Augen der Liberalen keine genuinen eigenen Motive hat, sondern nur dazu benutzt wird, um die moderne Gesellschaft und den liberalen Traum von Differenzierung und Integration zu diskreditieren und eigene reaktionäre politische und gesellschaftliche Vorstellungen durchzusetzen. Der erste Absatz endet mit der Behauptung, dass beide, die faschistische wie die liberale Doktrin über den Antisemitismus, »wahr und falsch zugleich« sind. Was soll das heißen? Was vor allem soll und kann an der faschistischen Doktrin »wahr« sein?

I: 2 »Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus.« Der zweite Absatz erörtert die Doktrin der Faschisten. In großer Dichte, aber auch noch sehr ungeordnet und unausgeführt, werden Überlegungen ins Spiel gebracht, die im späteren Verlauf der Argumentation in den Elementen wieder aufgegriffen und genauer entfaltet werden: die ökonomische und politische Erklärung des Antisemitismus, die psychodynamische Erklärung, die vor allem mit dem Begriff der Projektion arbeitet, und schließlich die Opfer- bzw. Religionstheorie des Antisemitismus. Die Doktrin der Faschisten, so behauptet der erste Satz dieses zweiten Absatzes, ist wahr, weil »der Faschismus sie wahr gemacht hat«. Der unbezweifelbare Erfolg, den die faschistischen Bewegungen bei der Verfolgung und Ausrottung der Juden in Europa verzeichnen können, macht den Antisemitismus tatsächlich zur »Schicksalsfrage der Menschheit«. Die Antisemiten sind erfolgreich dazu übergegangen, ihren Worten und Vorurteilen die Taten der Ausrottung folgen zu lassen. Damit ist der Antisemitismus aus einer Marginalie zu einem Ereignis geworden, das über den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidet. Die Juden 56 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus

sind eigentlich alles andere als eine »Gegenrasse«, sie sind auch von sich aus keineswegs die »Schicksalsfrage der Menschheit«. Aber die Faschisten sind mit ihrem wahnhaften Antisemitismus so erschreckend erfolgreich und wirkungsvoll geworden, dass man nicht mehr umhin kann, im Schicksal der Juden den Schlüssel für das Schicksal der Menschheit zu sehen. Nicht die Juden, sondern die Antisemiten sind die »Schicksalsfrage der Menschheit«. Und es kann deswegen schlechthin niemanden mehr geben, den das Thema des Antisemitismus gleichgültig lässt. Auch diejenigen also, die sich niemals vorstellen mochten, dass dem Unsinn der antisemitischen Wahngebilde irgendeine ernsthafte Bedeutung zukommt, müssen sich nunmehr mit ihm beschäftigen, wenn sie etwas zum Verständnis der Welt und der in ihr herrschenden Zustände beitragen wollen. Diese Aussage gilt auch für Adorno und Horkheimer selber, wie ich später im Dritten Teil in den »Interpretationen« genauer zeigen werde. Denn auch sie haben erst nach langem Zögern und nach einer Reihe von Umwegen den Antisemitismus ins Zentrum ihrer theoretischen Arbeit gerückt und nicht länger, wie die Liberalen, die Augen vor ihm verschlossen. Der zweite Satz des zweiten Absatzes wirft dann zum ersten Mal eine Frage auf, die in den Überlegungen der Elemente immer wieder aufgegriffen wird. Die Juden werden als die Gruppe charakterisiert, »die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht«. Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt – sie enthält die Behauptung, dass die Juden den Vernichtungswillen keineswegs durch ihr reales Verhalten hervorrufen. Sie ziehen vielmehr Aggressionen auf sich, die anderswo entstehen und ganz andere Ursachen haben. Diese Behauptung befreit nicht von der Aufgabe zu erklären, warum ausgerechnet die Juden und nicht andere religiöse oder ethnische Gruppen und Minderheiten zum Objekt der Verfolgung werden. Wo der Vernichtungswille seinen Entstehungsort hat, spricht der sich anschließende Relativsatz aus: Es ist ein Vernichtungswille, »den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert«. Damit sind zwei Ebenen der Erklärung und der Analyse formuliert. Zum einen ist es offenbar so, dass wir es beim »Vernichtungswillen« nicht mit persönlichen Affekten zu haben, für die eine individual-psychologische Erklärung zuständig sein könnte. Der Ursprung des Vernichtungswillens liegt in der gesellschaftlichen Ordnung – sie ist es, die ihn entstehen lässt. Was das im Einzelnen und im Detail heißt, bedarf natürlich der genauen Analyse und Erklärung. Wir werden später die entsprechenden Überlegungen von Horkheimer und Adorno kennenlernen. Die zweite, davon durchaus getrennte Ebene besteht darin, dass es die Juden sind, die den gesellschaftlich bedingten und erzeugten Vernichtungswillen auf sich ziehen. Der Vernichtungswille würde auch dann existieren, wenn es die Juden nicht gäbe, und man könnte sich vorstellen, dass er 57 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sich dann andere Ziele und Objekte suchen würde. Es wird sich zeigen, dass die einfache Frage, warum ausgerechnet die Juden zum Objekt der wahnhaften Verfolgung werden, auf ein zentrales Problem der theoretischen und empirischen Erforschung des Antisemitismus führt. Und es wird sich zeigen, dass die Antwort, die Horkheimer und Adorno geben, viele Fragen offen lässt. Die beiden hier unterschiedenen Ebenen spielen in den Elementen eine große Rolle. Die allgemeine Gesellschaftsanalyse muss die Entstehung des Vernichtungswillens erklären, die spezifische Antisemitismusanalyse muss erklären, wieso sich der Vernichtungswille auf die Juden richtet und nicht auf irgendwelche anderen Gruppen und Minoritäten. An vielen Stellen lassen sich die Ebenen nicht säuberlich voneinander trennen, sondern gehen ineinander über. Die dann folgenden Sätze beziehen sich zunächst auf die Frage, warum die Juden »heute« das bevorzugte Objekt des Vernichtungswillens sind, aber auch die allgemeine Frage nach der Entstehung des Vernichtungswillens selber kommt sofort wieder mit ins Spiel. Die Juden werden »vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt«. Die absolut Bösen, oder, wie es ein wenig verdinglichend heißt: das absolut Böse brandmarkt die Juden. Sie tun das offenbar ganz frei – sie wählen die Juden als die absolut Bösen aus, hätten aber ihre Vernichtungsenergie durchaus auch auf andere Bevölkerungsgruppen richten können. Warum es die Juden trifft, wird hier nicht weiter erklärt. Da die Juden ausgewählt werden, sind sie nun »in der Tat das auserwählte Volk«. Mit dieser Formulierung kommt ein religiöses Motiv ins Spiel. Der hebräischen Bibel zufolge hat Jahwe das Volk der Juden als sein Volk auserwählt, als das Volk, mit dem er große Pläne hat, dem er einen Bund anbietet und für dessen Treue und Unterwerfung er ihm ein Land verspricht, in dem Milch und Honig fließen und eine reiche Nachkommenschaft entstehen wird. Aber die Frage nach den religiösen Wurzeln des Antisemitismus wird in der ersten These nicht weiter verfolgt, sondern erst in der vierten These genauer erörtert. Ganz unvermittelt kommt in der ersten These eine ganz andere Überlegung, eine ganz andere Perspektive ins Spiel, nämlich die Frage nach den ökonomischen und politischen Ursachen des Antisemitismus. »Ökonomisch«, so lautet die Aussage zunächst, bedürfte es der Herrschaft »nicht mehr«. Gerade in dieser Situation aber werden die Juden als »deren absolutes Objekt bestimmt«. Dem Satz liegen Annahmen aus dem Historischen Materialismus zugrunde. Die Behauptung ist, dass sich Herrschaftsverhältnisse in früheren Epochen tatsächlich aus den ökonomischen Zuständen herleiten ließen und aus ökonomischen Motiven heraus notwendig und gerechtfertigt gewesen sind. Durch die Entfesselung der Produktivkräfte, die der Kapitalismus zuwege gebracht hat und die in der Lehre von Marx und Engels als historische Mission 58 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der kapitalistischen Produktionsweise charakterisiert wird, ist diese Phase der Geschichte aber nun vorbei. Die Produktivkräfte, die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt worden sind, haben einen Grad erreicht, der die Herrschaft von Menschen über Menschen überflüssig macht. Obwohl sich die Überlegungen der Dialektik der Aufklärung von dieser Position weit entfernen, wird an der zitierten Stelle noch einmal die Gültigkeit einer Zentralbehauptung des Historischen Materialismus unterstellt und für die eigene Argumentation übernommen. Der Gedanke führt zu der Aussage, dass es eine ökonomisch gar nicht mehr begründete und insofern ganz und gar willkürliche Herrschaft ist, die hinter dem Antisemitismus steckt. Gemessen am Stand der Produktivkräfte und am Entwicklungsgrad der Ökonomie ist Herrschaft vollkommen überflüssig. Aber nach wie vor gibt es sie, und sie erweist ihre Existenz und ihre Notwendigkeit gerade daran, dass sie die Juden als ihr »absolutes Objekt« bestimmt. Sofort taucht damit wieder die Frage auf, warum es ausgerechnet die Juden sind, die von der Herrschaft als Objekt ausgewählt werden. Und noch einmal wird ganz im Geist der marxschen Theorie argumentiert und behauptet, dass es eigentlich auch im Antisemitismus doch auf die Arbeiter »abgesehen ist« – ist es doch am Ende immer das Proletariat, auf dessen Unterdrückung die Herrschaft im Kapitalismus angewiesen ist. Aber ihm sage es »aus guten Gründen keiner ins Gesicht«. Die Arbeiter sind nämlich im Unterschied zu den Juden für die Aufrechterhaltung und Weiterführung der kapitalistischen Produktion nach wie vor unverzichtbar, und sie sind, ebenfalls im Unterschied zu den Juden, keineswegs ohnmächtig, sondern verfügen über Organisationen, die so leicht nicht zu unterwerfen sind. Schließlich werden die Juden von den ›Negern‹ abgegrenzt, bei denen man sich damit begnügt, sie dort zu halten, »wo sie hingehören«. Damit wird der Vergleich zu der Gruppe gezogen, die in den USA, wo die Elemente geschrieben wurden, das bevorzugte Objekt der Unterdrückung war. Diese vergleichenden Hinweise werden aber nicht weiter verfolgt, sondern dienen eigentlich nur dazu, das besondere Schicksal der Juden herauszustellen. Sie nämlich sollen nicht nur kontrolliert und unterdrückt werden, sondern von ihnen »soll die Erde gereinigt werden«, sie sollen »wie Ungeziefer« ausgerottet werden. Die Überlegungen des zweiten Absatzes gehen sodann über zu einem anderen Motiv, nämlich zur psychologischen Erklärung des Antisemitismus. In dem, was die Antisemiten den Juden als Wesenszüge zuschreiben, so lautet das Argument, »drücken sie ihr eigenes Wesen aus«. Der Mechanismus der Projektion, der hier erstmals ins Spiel gebracht wird, wird später, in der sechsten These der Elemente, ausführlich zum Thema gemacht. Diese erste These führt den Gedanken nur noch mit einem weiteren Satz etwas aus und benennt einige Motive, die die Antisemiten den 59 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Juden zuschreiben, aber eben in Wirklichkeit ihr eigenes Wesen zum Ausdruck bringen: »ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis«. Es ist aber damit eine der wichtigsten Argumentationsfiguren benannt, mit der in den Elementen vorzugsweise gearbeitet wird: Das Bild, das die Faschisten von den Juden zeichnen, ist in Wirklichkeit das Bild des eigenen Wesens. Wer also etwas über das Wesen der Antisemiten wissen und erfahren will, muss sich ansehen und analysieren, was sie über die Juden sagen. Ihre Bilder und Phantasien von den Juden sagen nichts über die Juden, sondern sind Aussagen über sich selbst. Die Juden sind, so will es das antisemitische Klischee, grenzenlos gierig auf Reichtum und Macht, und sie kennen, wo es um deren Steigerung und Ausdehnung geht, kein Pardon. In Wirklichkeit charakterisieren diese Attribute nicht die Juden, sondern diejenigen, die sie den Juden zuschreiben, also die Antisemiten. Statt einer Weiterführung dieses Gedankens bringt der letzte Satz des Absatzes noch einmal eine Anspielung auf die religiöse Schicht des Antisemitismus und auf das Sündenbock-Motiv ins Spiel. Die Antisemiten laden den Juden ihre Schuld auf, sie werden »ans Kreuz« geschlagen und »als Herrscher verhöhnt«. Die Juden werden geopfert wie Jesus geopfert wurde. Weil die Antisemiten aber an die Kraft dieses Opfers »nicht glauben können«, müssen sie es endlos wiederholen und immer weitere Juden opfern und in den Tod schicken. Dieses Argument enthält eine deutliche Abwendung von der Erklärung und Kritik des Antisemitismus aus dem Geist des Marxismus. Die Kategorie des Opfers mit ihrer christlichen Anspielung und ihren psychologischen Implikationen ist weit von ökonomischen und politischen Erklärungen entfernt. Den Juden wird die Gier nach Macht und Besitz als Schuld angelastet, und mit dieser Schuld beladen werden sie, wie Jesus Christus, gekreuzigt, sie werden verhöhnt als diejenigen, die so überaus mächtig sein wollen und so unendlich reich, und die nun erfahren, dass sie vollkommen ohnmächtig sind. Das löst höhnische Reaktionen aus, wie auch Christus am Kreuz sie erfahren hat: Das ist der König der Juden, der angeblich so mächtige und starke, jetzt zeigt sich, er ist nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen. Der Hohn ist die Reaktion auf die Ohnmacht der angeblich Mächtigen, darauf, dass man es geschafft hat, die angeblich Mächtigen in real Ohnmächtige zu verwandeln. Zugleich erscheinen die Juden, wie Christus, als das Opfer, das gebracht wird, um die Opfernden von Schuld und schlechtem Gewissen zu befreien. Das Glücksversprechen, das mit dem Opfer verbunden ist, wird jedoch enttäuscht. Die Opfernden machen die Erfahrung, dass die Spannung nicht weicht und die Schuld nicht verschwindet. Deswegen muss das Opfer endlos wiederholt werden. Die Kreuzigung und das Verjagen des mit Schuld beladenen Bocks in die Wüste kann man als rituelle Pendants der Projektion verstehen. Bei 60 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Projektionen, Bildern und Phantasien handelt es sich um Bewusstseins­ phänomene. Über Rituale werden sie in praktisches Handeln umgesetzt. Was es heißt, den Antisemitismus als Opferritual zu verstehen, wird im Fortgang der Argumentation noch eine große Rolle spielen.

I: 3 »Dasein und Erscheinung der Juden kompromittiert die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung.« Im dritten Absatz der ersten These wird die liberale Doktrin aufgegriffen. Sie ist »wahr als Idee«, sie enthält das Bild einer Gesellschaft, »in der nicht länger Wut sich reproduziert«. Das wäre, wenn wir die Gegenüberstellung von oben aufgreifen, die wahre Gesellschaft. In der ersten Fassung der Dialektik der Aufklärung aus dem Jahre 1944 folgte dann noch der Satz. »Das wäre die klassenlose Gesellschaft« – das ist der Tribut an die marxistische Linie der Interpretation. Tatsächlich ist es so, dass in der ersten Verlagsausgabe des Buches im Jahre 1947 die Anklänge an den Marxismus terminologisch in den Hintergrund gedrängt werden (vgl. Reijen/Bransen 1987). Wenn wir den Satz in den Gang der Argumentation zurückholen, wird klar, dass die klassenlose Gesellschaft hier als die Verwirklichung der liberalen Gesellschaftsidee ausgegeben wird. Zugleich enthält der Satz über die wahre und richtige Gesellschaft noch einmal den Hinweis auf das grundlegende Problem, das oben schon benannt worden ist. Es ist die Rede davon, dass die falsche Gesellschaft die Wut reproduziert und »nach Eigenschaften sucht, an denen sie sich betätigen kann«. Die falsche gesellschaftliche Ordnung produziert und reproduziert die Wut und den Vernichtungswillen, aber es ist offenbar ein zweiter Schritt, jene Eigenschaften und jene Gruppen auszuwählen, an denen sich diese Wut und dieser Vernichtungswille entladen. Die Affekte werden erzeugt und reproduziert, und sie sind gleichsam immer auf der Suche nach Gruppen, nach Objekten, auf die sie sich richten können. »Betätigen« ist für das, was hier gemeint ist, eigentlich zu schwach gesagt, denn wenn es stimmt, was im letzten Satz des zweiten Absatzes angesprochen wird, dass es ums Opfern geht, dann ist die Betätigung, von der hier die Rede ist, eine Opferpraxis, mit der das Versprechen der Erlösung verbunden ist. Die liberale Doktrin enthält jedenfalls in sich offenbar die Idee einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Wut und Vernichtungswille keinen Platz haben und in der die Praxis des Opferns überflüssig geworden ist. Aber die liberale These ist wahr nur als Idee, und ihre Falschheit besteht 61 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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darin, dass sie diese Idee als »als prinzipiell bereits verwirklicht« ausgibt. Weil sie unterstellt, dass die »Einheit der Menschen«, in der die »Harmonie« vorherrscht und alle ihren ihnen angemessenen Platz gefunden haben, im Prinzip bereits Wirklichkeit ist und ihr Eintreten durch den Antisemitismus nur aufgehalten, nicht aber grundsätzlich in Frage gestellt werden kann, indem sie also allenfalls eine zeitliche Verzögerung beim Eintreten in diesen wahren gesellschaftlichen Zustand zugesteht, übersieht und verharmlost sie die Bedeutung des Antisemitismus. Dieser ist aber keine Verzögerung, kein nicht weiter zu beachtender Umweg, dessen Folgen alsbald vergessen sein werden, sondern eine Katastrophe, die die Prinzipien der gesamten menschlichen Zivilisation grundlegend in Frage stellt. Dafür fehlt der liberalen Idee jegliches Verständnis, und deswegen ist sie nichts als die »Apologie des Bestehenden«. Auch mit seinen politischen Maßnahmen und Programmen ist der Liberalismus gescheitert. Er hat keine Mittel gefunden, um die Frage der Minoritäten, die nach dem Ersten Weltkrieg die europäischen Mächte herausforderten, zu entschärfen und zu lösen. Tatsächlich war die »Minoritätenpolitik« nach dem Ersten Weltkrieg die Herausforderung, vor der die europäischen Demokratien hilflos kapituliert haben. Für das Konzept der nationalen politischen Ordnung, auf der die Demokratien aufbauen, erweist sich der Umgang mit den Minoritäten als ein unlösbares Dilemma. Nationen verlangen homogene Bevölkerungen, und sie haben für die Herstellung dieser Homogenität immer nur zwei Lösungen und Umgangsweisen: Assimilation oder Vertreibung. Die Assimilationserwartung ist die liberale Lösung, Verfolgung, Vertreibung und Auslöschung sind die totalitären Reaktionen. Die liberale Minoritätenpolitik ist angesichts der äußersten Bedrohung so hilflos und so »zweideutig« wie das Verhalten der »letzten liberalen Bürger« generell. Ihre Haltung steht von vornherein unter dem Vorzeichen der »Defensive«, und sie beschränken sich darauf, das Schlimmste verhindern zu wollen. Zweideutig ist diese Haltung deswegen, weil die liberale Minoritätenpolitik zwar Pogrome, Vernichtung und Vertreibung ablehnt und verabscheut, aber über diese Position der Schadensbegrenzung hinaus selber keine wirkliche Antwort auf das dahinter stehende Problem entwickeln kann. Das Scheitern der liberalen Idee einer alle Minoritäten assimilierenden Gesellschaft legt ihre Schwachstelle und ihre Ohnmacht offen. Das führt zum einen dazu, dass der »Feind der Ohnmacht«, der Faschismus, durch die Schwäche und Hilflosigkeit der Liberalen geradezu magnetisch angezogen wird. Die Faschisten haben ein außerordentlich gutes Gespür für die Stellen, an denen ihre Gegner schwach sind. Sie hassen nichts so sehr wie die Ohnmacht und verfügen deswegen über ein ausgezeichnetes Sensorium für jene Punkte, die ihnen als Hilflosigkeit ausgelegt werden können. 62 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus

Der dritte Absatz verlässt dann aber sehr schnell die politische Dimension des Liberalismus und geht über zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der liberalen Vorstellung des Umgangs mit Differenz und Fremdheit. Die liberale Gesellschaftsidee beruht auf dem Versprechen von Einheit und Gleichheit, auf der Abschaffung natürlicher Hierarchien und Privilegien, der Unterscheidung in oben und unten, bevorrechtigte und benachteiligte Schichten oder Stände. Religionszugehörigkeit, Beruf, Herkunft werden im Liberalismus zur Privatsache erklärt, die für den Eintritt in die Welt der politischen Rechte und des politischen Handelns ohne jede Bedeutung ist. Dass mit dieser Idee nicht alle Probleme aus der Welt geschafft sind, zeigt sich am Verhältnis zu den Juden. Denn die Juden kompromittieren schon durch ihr pures »Dasein« und ihre »Erscheinung« die »bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung«. Sie fügen sich also ganz und gar nicht in das Bild ein, das die Liberalen von der Gesellschaft und ihrem Fortschritt zeichnen. Die Juden unterscheiden sich nicht nur von anderen Gruppen der Gesellschaft, sie bilden nicht eine Gruppe von Menschen neben anderen Gruppen, neben Katholiken, Protestanten, Bayern, Preußen, Männern, Frauen, sondern kompromittieren die bestehende Allgemeinheit, indem sie, unfähig oder unwillig zur Assimilation, »an ihrer eigenen Ordnung des Lebens« festhalten – an einer Ordnung, die nicht zum liberalen Bild von individueller Disziplin, Arbeit und Leistung passt. Bei aller Offenheit und Bereitschaft zur Anerkennung des Fremden erwartet der Liberalismus insgeheim doch, dass der Fremde nach und nach im Prozess der Assimilation seine Fremdheit aufgibt, sich anpasst und unterwirft. Eben dazu sind die Juden offenbar nicht bereit. Im Grunde bleiben sie die unangepassten Fremden, sie hängen weiter an ihrem eigenartigen Erscheinungsbild, sie lassen nicht von ihrer Religion, sie lassen nicht von ihrer Sprache, von ihrer Kleidung, von ihren Lebensgewohnheiten, sie ordnen sich nicht ein und unter. Die Elemente liefern in den dann folgenden Passagen dieses Absatzes ein kleines Stück Realgeschichte des Judentums. Sie argumentieren nicht mehr aus der Perspektive der Antisemiten, sondern aus der Perspektive der Juden. Weil die Juden so sehr und so unnachgiebig auf ihren Gewohnheiten und Besonderheiten bestehen, geraten sie zur herrschenden Ordnung »in ein unsicheres Verhältnis«. Es ist mithin keineswegs so, dass die Besonderheit der Juden nur in der Phantasiewelt der Antisemiten besteht. Tatsächlich, so scheint es, halten die Juden an ihren Eigenheiten hartnäckig fest. Einerseits sind die Juden Bürger wie alle anderen auch, und sie wollen durch ihre rechtliche Gleichstellung mit den anderen gleichziehen. Andererseits beharren sie auf ihren Eigenheiten und sind nicht bereit, ihre eigene Ordnung des Lebens aufzugeben, sich anzupassen und zu unterwerfen. Deswegen können sie auch keine wirklich machtvollen Positionen in ihr erringen. Im Grunde bleiben sie in einer 63 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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passiven Haltung der Abhängigkeit. Sie erwarten, von der herrschenden Ordnung »erhalten zu werden« und ihre Existenz abgesichert zu sehen, aber eigentlich sind sie nach wie vor in ihr ein Fremdkörper, ohnmächtig und passiv. Trotz aller Emanzipation bleibt es dabei, dass ihre Beziehung zu ihrer Umgebung eine Beziehung zu »Herrenvölkern« ist, denen sie mit »Gier« und mit »Furcht« zugleich gegenübertreten. Sie sind sich ihrer Stellung also nicht sicher, bleiben Außenseiter und betrachten ihrerseits die Mehrheitsgesellschaft mit Skepsis. Diejenigen unter den Juden aber, die sich ohne Reserve in die bürgerliche Welt integrierten und dort reüssieren wollten, tauschen »den kalten, stoischen Charakter dafür ein, den die Gesellschaft bis heute den Menschen aufzwingt«. Damit zeigt sich an dieser Stelle deutlich die Nachbarschaft und Zusammengehörigkeit von Aufklärung und Herrschaft. Einerseits ist die Aufklärung ein Prozess der »Befreiung« und der Zurückdrängung von »Grausamkeit«. Andererseits verlangt sie auf Seiten der Subjekte den Preis der Anpassung und Disziplinierung, wodurch die Grausamkeit nicht beseitigt wird, sondern sogar neue und zusätzliche Nahrung erhält. Dieses Doppelverhältnis haben die Juden auch schon sowohl »bei den großen Aufklärern wie den demokratischen Volksbewegungen« erfahren. Als Preis der Freiheit verlangten sie Anpassung und »Selbstbeherrschung« und unterminierten damit von Anfang an ihr Versprechen. Die anpassungsbereiten Juden haben die Beherrschung durch die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, der sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, nur dadurch überwinden können, dass sie sie in Herrschaft über sich selber verwandelten. Dieses Doppelverhältnis von Fremd- und Selbstbeherrschung zeigt sich auch »im Wesen der Assimilierten selbst«, die ihre Hoffnung auf Anerkennung damit erkaufen müssen, dass sie kalt und erbarmungslos werden. Auf dem Wege der Assimilation versuchen die Juden durch ihre Unterwerfung die »peinlichen Erinnerungsmale« an ihre Herkunft zu überwinden, um nicht mehr aufzufallen und vom »neuzeitlichen Bürgertum« als gleichen Wesens anerkannt zu werden. Die aufgeklärten und assimilierungsbereiten Juden legen die Male ihrer eigenen »verwitterten Gemeinschaft« ab, sie legen den Kaftan und die jiddische Sprache ab, sie halten sich nicht mehr an die Vorschriften des jüdischen Kalenders, sie wollen nicht mehr auffallen. Zum gleichen Zeitpunkt aber sind die Bürger selber schon dabei, den »Rückfall in die bare Unterdrückung« vorzubereiten und sich als »hundertprozentige Rasse« zu etablieren. Sie nähern sich jener Barbarei, deren Heraufkunft die Juden durch ihre Assimilation zu vermeiden suchten. Das verleiht dem Prozess der Assimilation einen tragischen Charakter. Die Assimilation, mit der die Juden in das Bürgertum aufgenommen werden wollten, erfolgte zu einem Zeitpunkt, als dieses Bürgertum gar nicht mehr das vertrat, was es einmal als politisches Ziel verfolgte: die Errichtung einer politischen Ordnung der Partizipation, der Freiheit 64 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus

und Gleichheit. Aus der Sicht der Juden bestand die Selbsttäuschung der Assimilation immer schon darin, dass sie sich Illusionen über die Gesellschaft machten, zu der sie den Zugang ersehnten. Hannah Arendt (1975: 210) hat das in ihrer Studie über Rahel Varnhagen präzise festgehalten: »Es gibt keine Assimilation, wenn man nur seine eigene Vergangenheit aufgibt, aber die fremde ignoriert. In einer im großen Ganzen judenfeindlichen Gesellschaft – und das waren bis in unser Jahrhundert hinein alle Länder, in denen Juden lebten – kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.« Die Assimilation gewinnt vollends groteske Züge, wenn das Bürgertum bereits dazu übergegangen ist, die Welt wieder nach den natürlichen Gesichtspunkten der Rasse und der Hierarchie zu betrachten und die Methoden der baren Unterdrückung zum Einsatz zu bringen. So nützt den Juden ihre Anpassung gar nichts, sie zahlen den Preis, ohne den versprochenen Lohn zu erhalten. Die Bürger, die dazu übergehen, sich selber und die Juden als Rasse zu verstehen, honorieren die Anpassung nicht und erklären sie für unmöglich. Nur solange die Zugehörigkeit zur Gesellschaft keine Frage des Blutes und der Herkunft, sondern der Leistung, der Haltung, des Habitus ist, nur solange steht sie ja im Prinzip den Aufstiegs- und Assimilierungswilligen offen. Wenn Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu einer Sache des Blutes werden, dann hilft keine Assimilation und kein Konvertieren, dann gilt vielmehr: einmal Jude, immer Jude. Unter dem Vorzeichen der Rasse ist die Zugehörigkeit zum Judentum eine Frage der Natur und der natürlichen Ordnung der Dinge. Man trägt diesen Makel ein für alle Mal, man kann ihn durch keine Anstrengung mehr tilgen. So jedenfalls verstehen es die Völkischen, die behaupten, dass die Rasse »unmittelbar das naturhaft Besondere« ist. Freilich ist das ein Schein, ein Mythos. Es ist nicht die Natur, die die Einteilung der Menschheit in Rassen vorschreibt und diktiert, sondern dahinter steht die Aktivität derjenigen, die anders als in Rassezuordnungen gar nicht mehr denken können. Wer mit der Behauptung natürlicher Größen operiert, will nur verdecken, dass es eine aktiv vorgenommene »Reduktion aufs Naturhafte« ist, die er vornimmt, eine künstlich herbeigeführte Reduktion »auf bloße Gewalt«. Damit ist die »verstockte Partikularität«, auf die die Antisemiten die Juden reduzieren, »im Bestehenden gerade das Allgemeine«. Die Partikularität, die naturhafte Besonderheit, die die Völkischen der jüdischen Rasse als Bestimmung zuschreiben, ist in Wahrheit nicht das Charakteristikum der Juden, sondern das, was den Zustand der Gegenwartsgesellschaft charakterisiert und damit der Ausweis ihrer Falschheit ist. So wie angeblich die Juden sind: verstockt, partikular, naturhaft, so ist in Wahrheit der Zustand der Allgemeinheit, die meint, sich von diesen Qualitäten um Welten zu unterscheiden. 65 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Die liberale Gesellschaft definiert sich und ihren Zugang zur Welt im Übergang zur totalitären Gesellschaft nicht mehr in sozialen, sondern in naturalistischen Kategorien, denen zufolge die Zugehörigkeit zu Rassen alles entscheidet. Diese Wandlung wird im Text als ein Akt der »Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums« verstanden. Offenbar ist das Bürgertum also unter Druck geraten, offenbar ist die Zuflucht beim Naturalismus und Rassismus eine Reaktion auf Bedrohungen und Ängste. Hinter diesen Annahmen steckt die Diagnose, dass die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der Gesellschaft die dominante Stellung des Bürgertums unterminiert hat. Vom Strukturwandel der bürgerlichen Gesellschaft und seinen Auswirkungen auf die Stellung der Juden wird später noch ausführlicher die Rede sein, besonders in der dritten These. In der ersten These begnügen sich Horkheimer und Adorno mit der Feststellung, dass die bürgerliche Klasse unter dem Druck, dem sie ausgesetzt ist, zum Mittel der Regression greift. Sie gibt ihre Liberalität auf und ordnet sich dem »barbarischen Kollektiv« unter. Von diesem letzten Stadium des liberalen Bürgertums aus fällt ein sehr kritisches Licht auf seine Hochphase. Die liberale Lehre, so lautete zu Anfang der These die zentrale Aussage, sieht die eigene Gegenwartsgesellschaft als das aufgelöste Rätsel der Geschichte an, als vollendete Harmonie und Einheit der Menschheit. Nun, in den letzten Sätzen der ersten These, wird festgestellt, dass die Harmonie der Gesellschaft, an die auch die liberalen Juden geglaubt haben, im Grunde doch nur die gewaltsame Harmonie der »Volksgemeinschaft« ist, die sich auf die Gemeinschaft der Arier beschränkt und keinerlei Abweichung und Differenz erlaubt. Die »liberalen Juden« sind der gleichen Illusion und Fehlwahrnehmung erlegen wie die liberale Doktrin generell. Sie meinen, dass der Antisemitismus nur eine unerfreuliche Begleiterscheinung eines gesellschaftlichen Zustands ist, der im Kern über derartige Probleme und Konflikte bereits weit hinaus ist und keinen Grund dazu bietet, grundlegende Zweifel an der Richtigkeit und Zuverlässigkeit der liberalen Verheißungen zu äußern. »In Wahrheit« aber sei die Lage eine ganz andere: Die liberale Ordnung steht in ihrem Kern und von Anfang an unter dem Vorzeichen der Entstellung und Zurichtung der Menschen. Mit der liberalen Gesellschaft ist die »Verfolgung der Juden« und »Verfolgung überhaupt« unablösbar verbunden. Das »Wesen« dieser Ordnung »ist die Gewalt«. Und in den Phasen der Geschichte, in denen es weniger gewaltsam zuging als in der eigenen Gegenwart unter der Vorherrschaft der Faschisten, hat sich dieses gewalttätige Wesen nur unsichtbar gemacht. Mehr als eine Atempause war das nicht. Im Kern war es immer die Gewalt, die alles bestimmte. Das ist die provozierende Behauptung dieser These: Zunächst scheint es so, als würden sich die faschistische und die liberale Doktrin mit ihren 66 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Liberalismus, Faschismus und Antisemitismus

Aussagen über den Antisemitismus radikal voneinander unterscheiden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der totalitäre Antisemitismus im Grunde nur die Konsequenz des Liberalismus ist. Die liberale Harmonie der Gesellschaft beruht nicht auf Freiheit, sondern auf Herrschaft, Verfolgung und Ausgrenzung. Die Behauptung der Aufklärung, dass doch auch der Jude ein Mensch ist, war in Wahrheit immer mit der Anforderung verbunden, dass das nur dann der Fall ist, wenn er seine jüdischen Besonderheiten negiert und aufgibt. Und auch die Liberalen wissen schon insgeheim, dass die Juden diese Verleugnung ihrer eigenen Natur weder vollziehen können noch vollziehen wollen. Dann aber ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt zum Übergang in totalitäre Lösungen. Im Antisemitismus offenbart sich somit das Wesen dieser liberalen harmonischen Ordnung: Es ist die Gewalt.

67 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These II Die Liquidierung des Gedankens an Glück II: 1 Für das Volk ist der Antisemitismus ein Luxus. Die zweite These nimmt nicht den Umweg über die Analyse einer liberalen oder faschistischen oder anderen Doktrin, sondern geht auf direktem Wege der Frage nach Gründen und Hintergründen, nach Motiven und Zwecken des Antisemitismus nach. Aber auch hier wird noch einmal das Problem behandelt, in welchem begrifflichen Rahmen und Kontext, in welcher Theoriesprache der Antisemitismus erklärt werden kann. Im Zentrum steht die Frage, ob sich der Antisemitismus aus der ökonomischen Logik des Kapitalismus und den ihr zugehörigen politischen Formen der Klassenherrschaft heraus erklären lässt oder nicht. Die Antwort lautet, dass Erklärungen dieses Zuschnitts zu kurz greifen, weil wir es im Antisemitismus nicht mit einem Instrument ökonomischer oder politischer Herrschaft zu tun haben, sondern mit einem Wahnsystem, das aus einem fundamentalen Defekt der menschlichen Zivilisation heraus entsteht. Der erste Absatz der zweiten These stellt die einfache Frage, ob es die Aussicht auf materiellen Nutzen ist, der die Antisemiten antreibt. Wenn das so wäre, könnte man den Antisemitismus problemlos in der Weltsicht jenes Denkens unterbringen, das dem Modell des homo oeconomicus zugrunde liegt und die Vorstellungswelt des ökonomischen Liberalismus seit Adam Smith beherrscht. Dann wären es die materiellen Anreize, die Aussichten auf Bereicherung, die dem Antisemitismus den Erfolg bescheren. Den Elementen zufolge greift es aber viel zu kurz, den Antisemitismus durch den Hinweis auf den materiellen Nutzen, der etwa aus der Arisierung des jüdischen Eigentums entspringt, erklären zu wollen. Es ist nicht die Aussicht auf materiellen Zugewinn, die dem Antisemitismus die große Anhängerschaft einbringt. Der Antisemit ist kein Nutzenmaximierer, den die Aussicht auf die Aneignung der jüdischen Reichtümer zu seiner Haltung und zu seinen Taten antreibt. Nicht um Bereicherung geht es der »Volksbewegung« des Antisemitismus, sondern, wie gleich der erste Satz der These es ausdrückt, um »Gleichmacherei«. Es gehört zu den typischen antisemitischen Klischees, dass die Juden mit ihrem grenzenlosen Reichtum ein üppiges Leben führen. Der Gedanke liegt nahe, dass es den Antisemiten darum geht, sich 68 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

diesen Reichtum anzueignen, getrieben von dem Wunsch nach einem vergleichbar luxuriösen Leben, wie sie es den Juden in ihrer Phantasie zuschreiben. Aber es ist in Wahrheit ein ganz anderes Motiv, das die Antisemiten antreibt. Kurz und zugespitzt gesagt: Die Antisemiten wollen nicht selber in Luxus und Wohlstand leben, sondern sie wollen verhindern, dass andere in Luxus und Wohlstand leben. Es soll und darf niemandem besser gehen als dem gemeinen Volk. Dass sich die antisemitische Volksbewegung für diesen Affekt die Juden aussucht, wird hier erneut, wie in der ersten These, damit in Verbindung gebracht, dass diese »keine Befehlsgewalt haben«, dass sie, mit anderen Worten, wehrlos sind und man vor ihnen keine Angst haben muss. »Gleichmacherei« meint: Es soll den Juden »ebenso schlecht gehen wie dem Volk«. Das Ziel ist Gleichheit auf dem niedrigsten Niveau, verbunden mit der Genugtuung, dass es anderen mit Sicherheit nicht besser geht als einem selbst. Es kommt nicht so sehr darauf an, dass man selber gut lebt, sondern vor allem darauf, dass kein anderer besser lebt. Der Neid auf die, die über Wohlstand verfügen, setzt sich bei den Antisemiten nicht in den Wunsch um, ihrerseits genau so leben zu wollen, sondern erzeugt nur das destruktive Bestreben, den anderen ihre Lust und ihr Glück zu verderben. Auf den ersten Blick sind es Neid und Eifersucht, die die Antisemiten antreiben. Neid kann man definieren als das Verlangen »nach dem, was die anderen haben, weil sie es haben«, während Eifersucht darin besteht, »das zu begehren, was die anderen haben und was man selbst nicht hat« (Dubet 2006: 118). Die Eifersucht lässt sich beilegen und abstellen, sie hört auf, wenn das Begehren erfüllt wird. Der Neid lässt sich dagegen nicht so leicht besänftigen. Für beides aber, für den Neid wie für die Eifersucht gilt, dass hinter ihnen normalerweise das Verlangen nach dem steht, was die anderen besitzen. Das ist aber bei den Antisemiten gerade nicht der Fall. Bei ihnen verwandeln sich Neid und Eifersucht in den destruktiven Wunsch nach »Gleichmacherei«. Gleichmacherei bedeutet, wie Freud (1921: 134) mit dem Blick auf die Massenbildung bzw. den »Herdentrieb« darlegt, »daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen, oder was dasselbe ist, es nicht fordern können«. Diese Art der negativen Gleichheit, der Gleichheit auf niedrigstem Niveau, ist nach Freud typisch für die Massenbildung: »Wenn man schon selbst nicht der Bevorzugte sein kann, so soll doch wenigsten keiner von allen bevorzugt werden.« (Freud 1921: 133). Das ist zweifellos ein erschreckender Befund. Er drückt etwas Ähnliches aus wie das, was Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1933) an den Arbeitslosen von Marienthal Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts beobachteten: die Unfähigkeit zu wünschen. Die Diagnose lautet, dass sogar die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben verlorengegangen ist. Der Gedanke ans Glück wird so unerträglich, dass 69 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

er nicht mehr zugelassen werden kann und unterdrückt werden muss. Nicht bei den Arbeitslosen von Marienthal, die von Jahoda/Lazarsfeld/ Zeisel (1933: 55) als »müde Gemeinschaft« beschrieben werden, wohl aber bei den Antisemiten tritt an die Stelle der Sehnsucht nach Glück die Aggression gegen die Juden, die glücklich zu sein scheinen. Das ist die zentrale Behauptung der zweiten These der Elemente. Es ist nicht die Verheißung des Glücks, sondern umgekehrt die Liquidierung des Gedankens, dass es Glück und Erfüllung überhaupt geben könnte, die die Antisemiten antreibt. Der Antisemit hasst die Juden nicht, weil er so glücklich werden möchte, wie sie es angeblich sind, sondern er hasst sie, weil er nicht ertragen kann, dass überhaupt irgendjemand glücklich ist. Es ist das Glück selber, das der Antisemit unerträglich findet. Das ist die Quintessenz dieser zweiten These, nachdem sich die ökonomische und politische Erklärung des Antisemitismus als unhaltbar erwiesen haben. »Gleichmacherei« steht freilich hinter jeder Art von Volksbewegung, sie ist ein die Klassen und Schichten übergreifendes allgemeines Phänomen. Sie eint den »deutschen Beamten«, der sich den Nazis anschließt, mit den »Negern in Harlem« und anderen »gierigen Nachläufer(n)«. Die »Freude, daß die anderen auch nicht mehr haben«, ist offenbar der stets naheliegende gemeinsame Nenner, auf den sich diese Bewegungen gleichsam intuitiv und wie von selbst verständigen können. In all diesen Bewegungen ist es mithin nicht die Habgier, diese uralte und neben der Ruhmsucht und der Ehrsucht am meisten in der Geschichte gescholtene menschliche Leidenschaft, die sie motiviert, sondern der destruktive und aggressive Wunsch, dass es anderen unter keinen Umständen besser gehen darf als einem selber. Nicht im Sinne einer empirischen Beweisführung, aber doch mit einer Reihe von Überlegungen und Hinweisen versuchen Horkheimer und Adorno dann in einem ersten Schritt ihrer Gedankenführung die Behauptung von der materiellen Nutzlosigkeit des Antisemitismus einsichtig zu machen und zu belegen. Es sei ganz offensichtlich, so meinen sie, dass die Antisemiten auch dann noch bei ihrer Überzeugung bleiben, wenn sie feststellen müssen, dass sie materiell davon gar nichts haben. Sie haben »im Grunde immer gewusst«, dass sich der Antisemitismus materiell gesehen nicht rentiert. Der materielle Gewinn, wenn er überhaupt anfällt, wird von der antisemitischen Elite abgeschöpft, die »Massen« dagegen gehen leer aus, sie werden abgespeist mit einer mehr oder weniger »armselige(n) Beute«, die ebenso kläglich ist wie die geraubten Güter, die die Kosaken in früheren Zeiten »aus den gebrandschatzten Judenvierteln mitschleppten«. Der Hinweis auf die Kosaken und ihre Pogrome gilt historischen Ereignissen, die für die Westbewegung der Juden ausschlaggebend gewesen sind. Im 17. Jahrhundert ermordeten Kosakenhorden unter der Führung ihres Heerführers Bogdan Chmelnizki im Zuge ihres Aufstands 70 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

gegen die polnisch-litauische Herrschaft und unter breiter Beteiligung der christlichen Bevölkerung etwa 300.000 Juden. Sie lösten damit eine breite Fluchtbewegung in den Westen aus. Viele Juden siedelten sich in der Folge dieser Westbewegung in Mitteleuropa, vornehmlich im deutschen Kulturraum an (vgl. Haumann 1990, 2001; Hessing 2010: 74). Schon bei den Kosaken-Pogromen des 17. Jahrhunderts, so lautet also die Behauptung der zweiten These der Elemente, ging es im Grunde nicht um die Beute, die ohnedies armselig war. Man kann sie jedenfalls nicht ernsthaft unter der Rubrik des realen Vorteils verbuchen. Sie ist kaum der Rede wert, und die Antisemiten wissen das auch, jedenfalls ahnen sie es und haben es immer geahnt. Das Versprechen, dass sich der Antisemitismus materiell lohnt, sei »halbdurchschaute Ideologie«. Unter dem rein ökonomischen Gesichtspunkt der Bereicherung am Besitz der Juden ist der Antisemitismus nicht lukrativ, und seine »ökonomische Vergeblichkeit« ist im Grunde allen bekannt. Das führt aber keineswegs dazu, dass den Antisemiten nun Zweifel an der Feindschaft gegen die Juden kommen, sondern umgekehrt steigert die Ahnung von der mangelnden materiellen Ausbeute sogar noch die Energie und die Attraktivität des Antisemitismus. Die Antisemiten können von sich im Brustton hehrer Überzeugung behaupten, dass es ihnen um materiellen Zugewinn, um egoistische Bereicherung gar nicht zu tun ist, sondern um Höheres geht. Die Antisemiten sind, zugespitzt und im landläufigen Sinn gesprochen, keine Materialisten, sondern Idealisten. Mit dieser Aussage werden zugleich große Fragezeichen hinter eine anti-antisemitische Aufklärungsstrategie gesetzt, die sich vor allem auf die Information stützt, dass die Antisemiten von der Verfolgung der Juden doch gar keinen materiellen Nutzen haben, und schon mit diesem Hinweis die Hoffnung auf eine heilsame Wirkung verbindet. Nach der Überlegung, die die Elemente vertreten, sind derartige Informationen wirkungslos, oder schlimmer, sie steigern womöglich noch die Heftigkeit, mit der die Antisemiten wüten, sie machen die »Anziehungskraft des völkischen Heilmittels« eher noch größer. Denn dieses völkische Heilmittel besteht gar nicht in erster Linie in materiellen Vorteilen, nicht in Bereicherung, nicht in der Aussicht und dem Versprechen auf ein glückliches Leben im Wohlstand. Es muss etwas anderes sein, das den Antisemitismus so attraktiv macht. Die Attraktivität der Judenfeindschaft beruht nicht auf der Aussicht auf materiellen Gewinn, sondern auf dem »Drang nach Vernichtung«, auf dem Versprechen, endlich der eigenen tief sitzenden Wut nachgeben zu können. Das sei der »eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet«: »die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv«. Es ist dieser immaterielle Nutzen, der die Antisemiten anzieht, der sie »an die Bewegung« bindet, und das umso enger und effektiver, »um so verstockter«, je mehr ihnen die materielle, ökonomische Vergeblichkeit ihrer Haltung und ihrer Taten bewusst wird. Gegen das 71 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

»Argument mangelnder Rentabilität« sind die Antisemiten »immun«. Der Antisemitismus ist ein »Luxus«, den sich das Volk leistet und den es sich so leicht nicht wieder nehmen lassen will.

II: 2 »Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation.« Der erste Absatz der zweiten These behandelte die Frage nach der ökonomischen Zweckmäßigkeit des Antisemitismus für die Antisemiten und kommt zu dem Ergebnis, dass davon nicht wirklich in nennenswertem Ausmaß die Rede sein kann. Der zweite Absatz behandelt die Frage, ob es, wenn es schon keine ökonomische Zweckmäßigkeit des Antisemitismus gibt, vielleicht eine politische »Zweckmäßigkeit« ist, die ihn antreibt und in Zweck-Mittel-Kategorien erklärbar macht. Die politische Erklärung, die die ersten drei Sätze des Absatzes in Erwägung ziehen, ist auf den ersten Blick viel plausibler als die ökonomische. Der Antisemitismus, so lautet das politische Argument, wird gezielt »als Ablenkung, billiges Korruptionsmittel, terroristisches Exempel« benutzt und eingesetzt. Der Hass auf die Juden, so erscheint es hier, dient der Aufrechterhaltung der Herrschaft, die ökonomisch gesehen längst überflüssig ist. Es ist eine kleine Herrschaftselite, die als Anstifter hinter dem Antisemitismus steckt, ihn als funktionales Mittel benutzt, ihn am Leben erhält und steuert und dafür sorgt, dass die antisemitische Glut nicht erlischt. In dieser politikkritischen Sicht ist der Antisemitismus im Grunde eine von der Herrschaftselite gesteuerte Bewegung, die es den Herrschenden erlaubt, ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten und ihre Machenschaften fortzusetzen. Im Text ist allerdings nicht von Elite die Rede, sondern von »Rackets«, von den »respektablen Rackets« einerseits, die sich mehr oder weniger im Hintergrund halten und die Drähte in der Hand halten, und den »irrespektablen« Rackets andererseits, die die Drecksarbeit erledigen. Mit dem Racketbegriff greifen Horkheimer und Adorno eine theoretische Perspektive auf, die sie Anfang der 1940er Jahre eine Zeit lang intensiv verfolgt haben (vgl. Schmid Noerr 1987: 439ff; 1998: 40ff, Gangl 1998: 173ff). Niederschläge davon finden sich in den Reflexionen zur Klassentheorie von Adorno aus dem Jahre 1942 und in On the Sociology of Class Relations von Horkheimer aus dem Jahre 1943. Beide Aufsätze wurden aber erst nach dem Krieg publiziert. In der Dialektik der Aufklärung spielt der Racketbegriff zwar keine große Rolle, aber er prägt doch die politischen und herrschaftstheoretischen Hintergrundannahmen, die 72 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

bestimmend in das Buch eingegangen sind. Insofern ist es alles andere als ein Zufall, dass der Terminus in der zweiten These an einer Stelle gebraucht wird, an der es um die politische Erklärung des Antisemitismus geht. In einem ähnlichen Kontext wird er auch im ersten Absatz der dritten These (DA 202, III: 1) noch einmal benutzt. Die Rackettheorie stellt die Behauptung auf, dass die Gesellschaft im Zeichen des Staatskapitalismus in erster Linie nicht mehr durch die Spaltung in Klassen charakterisiert ist, sondern die Auseinandersetzungen zwischen Cliquen, Gangs und Rackets die politische und ökonomische Herrschaftslage bestimmen. Das gilt nicht nur für die Gruppen, die im Faschismus das Heft in die Hand genommen haben und nun mit nackter Gewalt ihre Interessen durchsetzen, sondern auch für die nichttotalitären Gesellschaften, in denen es für jeden einzelnen von großem Vorteil ist, Mitglied eines Rackets zu sein. Die Gegenwartsgesellschaft zerfällt in dieser Sichtweise hier wie dort in eine große Zahl streng hierarchisch organisierter Gruppen, die wie Gangsterbanden nach dem Prinzip von Schutz und Gehorsam operieren. Sie orientieren sich am Vorbild der Rackets, deren Methode darin besteht, dass sie sich Privat- und Geschäftsleuten, Gruppen und Organisationen unter Androhung von Gewalt als Schutzherren aufzwingen und Abgaben von ihnen erpressen. Tonangebend in den Rackets sind stets die Skrupellosesten, und für die anderen Mitglieder bleibt nur die Rolle einer treu ergebenen und gehorsamsbereiten Gefolgschaft. Immer geht es darum, für die eigene Person bzw. Gruppe den größten Anteil an der Beute, die anderswo erwirtschaftet worden ist, zu sichern, und zwar mit allen Mitteln, legalen wie illegalen. Die Rackettheorie steht nicht isoliert, sondern ist in eine Geschichte der Herrschaft eingebettet, die in der Dialektik der Aufklärung und auch in den Elementen immer wieder zum Tragen kommt. Danach ist es so, dass in der gesamten Entwicklung der Menschheit die Formen direkter, gewaltbasierter Herrschaft bestimmend gewesen sind. Rackets, sagt Horkheimer (1939–1942: 287), sind die »Grundform der Herrschaft«. Immer sind sie es gewesen, die mit ihren Prinzipien der Gewalt und der Rücksichtslosigkeit die Lage bestimmt haben. Die Epoche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint unter diesem Blickwinkel nur als Atempause und Ausnahme. In ihr wird Herrschaft zwar nicht abgeschafft, aber doch dadurch gemildert, dass sie indirekt, d.h. vermittelt über Recht und Tausch, ausgeübt wird. Mit dem Faschismus biegt die Herrschaft dagegen wieder in ihre gewohnte Bahn zurück und wird erneut zu dem, was sie immer war: »die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Rackets« (Adorno 1942: 381). Deren Basis ist nicht der Besitz von Produktionsmitteln oder ökonomischer Erfolg, sondern Skrupellosigkeit, Überwältigung, List, Heimtücke und am Ende immer: die Gewalt. Dieses Konzept der Racket-Gesellschaft trägt der Tatsache Rechnung, dass diejenigen, die im Stadium des Staatskapitalismus das Sagen haben, 73 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

keineswegs mit einer Stimme sprechen. Im Gegenteil: Sie belauern und bekämpfen einander, wo immer sich dafür die Chance bietet. Das einzige, was sie verbindet und zusammenhalten lässt, ist die Angst, dass sie alle miteinander von den Unterdrückten dann doch irgendwann zum Teufel geschickt werden könnten. Im Blick auf das NS-Regime sind diese Annahmen sicherlich nicht ohne Plausibilität. In vielen historischen Untersuchungen ist der Eindruck einer geschlossenen und monolithischen Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus zurückgewiesen worden. In Wirklichkeit herrschte ein permanentes und nur schwer entwirrbares Durcheinander, in dem die verschiedenen Cliquen des Militärs, der SA, der SS, der Parteigruppierungen und der von ihnen jeweils beanspruchten administrativen Positionen gegeneinander antraten und um die Vorherrschaft kämpften. Aber Horkheimer und Adorno dehnen ihr Konzept weit über diese Form der totalitären Herrschaft hinaus aus und machen aus ihm ein universales Muster. In seiner Notiz Die Rackets und der Geist, die im Umfeld der vorbereitenden Arbeiten zur Dialektik der Aufklärung entstanden ist, meint Horkheimer: »Bisher hat das Racket allen gesellschaftlichen Erscheinungen seinen Stempel aufgeprägt, es hat geherrscht als Racket des Klerus, des Hofs, der Besitzenden, der Rasse, der Männer, der Erwachsenen, der Familie, der Polizei, des Verbrechens, und innerhalb dieser Medien selbst in Einzelrackets gegen den Rest der Sphäre.« (Horkheimer 1939–1942: 291) Mit einer ähnlich unspezifischen Breite hat Horkheimer den Racketbegriff auch in Texten nach dem Ende des Krieges weiterhin gerne benutzt, vor allem in Gesprächen, Notizen und Aufzeichnungen, die nach seinem Tod veröffentlicht worden sind. Horkheimer ist dort der Überzeugung, dass der Begriff der Clique als »Unterbegriff des Rackets – oder gleichbedeutend mit Racket« nach wie vor ein »zentraler soziologischer Begriff für die heutige Gesellschaft« ist. »Die Beispiele hierfür lassen sich häufen: ›Zusammenarbeit‹ der Ärzte und der pharmazeutischen Industrie; immer weniger Angaben werden den Patienten auf der Etikette und der Beschreibung gemacht. … Regiert wird durch die Cliquen, die Parlamente werden durch sie beherrscht, sei es, daß ihre Vertreter direkt ins Parlament gewählt werden, sei es durch die lobbies.« (Horkheimer 1950–1970: 316f) Adorno ist nicht weniger freigebig mit der Verwendung des Begriffs. So polemisiert er einmal heftig gegen die Psychoanalyse, die er an anderen Stellen so schätzt, und nennt sie die »Technik eines Spezialrackets«, die dazu dient, »leidende und hilflose Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten« (Adorno 1951a: 77). Zu einer kohärenten und stimmigen Theorie passen diese Verwendungsweisen nicht gut zusammen, und Horkheimer und Adorno haben dann auch später gar nicht mehr versucht, den analytischen Gehalt des Begriffs systematisch zu reflektieren. Die Bemühungen anderer 74 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

Wissenschaftler (vgl. z.B. Fetscher 1986; Greven 1994: 157ff), die Rackettheorie aufzugreifen und weiter zu entwickeln, sind noch weniger überzeugend. Der entscheidende Grund für die nur eingeschränkte Tauglichkeit des Racketbegriffs liegt darin, dass mit ihm das politische Handeln und die gesamte politische Sphäre generell in die Nähe des Verbrechens gerückt werden. Alles in allem zeigt der Begriff im Grunde eine große Leerstelle der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno an: Es fehlt ihr an einem tragfähigen Begriff des Politischen. Aber zurück zu den Elementen und zu den Argumenten, mit denen hier die ökonomische und die politische Erklärung des Antisemitismus diskutiert wird. Auch die politische Erklärung des Antisemitismus halten Horkheimer und Adorno für unzulänglich. Sie folgt in ihren Augen nicht weniger als die ökonomische einer ganz und gar funktionalen Sichtweise, einer Erklärung also, die den Antisemitismus ohne weiteres in das Universum einer Zweck-Mittel-Logik einbezieht und entsprechend interpretiert und analysiert. Weder die ökonomische noch die politische Erklärung reichen jedoch an das heran, was den Antisemitismus antreibt. Die »Gestalt des Geistes«, gesellschaftlich wie individuell, die in ihm zum Ausdruck kommt, bleibt durch die funktionalen Erklärungsversuche »ganz im Dunkel«. Wir haben es beim Antisemitismus nicht mit einer einfachen Begleiterscheinung politischer und ökonomischer Strukturen zu tun, sondern mit »einem der Zivilisation … tief innewohnenden Leiden«. Eine Analyse, die in der Vorstellungswelt einer funktionalen, politisch-ökonomisch ausgerichteten Analyse verhaftet ist, hat für dieses Leiden keinen Blick. Man muss für die Erklärung des Antisemitismus, das ist die Kernbehauptung der zweiten These, einen viel größeren begrifflichen und zeitlichen Horizont in Betracht ziehen. Der Judenhass weist auf eine »urgeschichtlich-geschichtliche Verstrickung« hin, er ist tief in der abendländischen Zivilisation verwurzelt. Wer den Antisemitismus erklären will, so lautet die Behauptung der Elemente, der muss Geschichte, Grundlagen und Grundfragen der Zivilisation ins Auge fassen und erhellen. Der totalitäre Antisemitismus ist keine neue politische Herrschaftstechnik, er ist kein Beute- und Raubzug, der den Juden ihre Reichtümer wegnimmt, er ist auch kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern er ist aus der abendländischen Zivilisation heraus entstanden und nur im Rekurs auf diesen Ursprung wirklich zu verstehen. Damit ist nun die Ebene erreicht, auf der sich die Analyse des Antisemitismus nach der Überzeugung der Autoren zu bewegen hat. Diesem »Leiden«, das offenbar mit der Zivilisation untrennbar verbunden ist, muss sich die Erkenntnis stellen, dieses Leiden muss zu seinem »Recht in der Erkenntnis« kommen. Nur dann, wenn das Leiden, das mit der Zivilisation untrennbar verbunden ist, zu seinem Recht kommt, nur dann gibt es die Chance, den Antisemitismus zu überwinden. Damit ist zugleich gesagt, dass sich die Erkenntnis nicht damit begnügen darf, im 75 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Antisemitismus ein Phänomen im Verhältnis zwischen der Gruppe der Antisemiten und den Juden zu sehen. Es ist kein individuelles oder soziales Vorurteil, das mit etwas gutem Willen überwunden und zum Beispiel durch das Wohlverhalten der Opfer aus der Welt geschafft werden könnte. Kein Einzelner, so heißt es im Text, kann dieses Leiden »beschwichtigen, wäre er auch so gutwillig wie nur das Opfer selbst«. Beschwichtigungen helfen nicht, obwohl sie als individuelle Reaktion so naheliegen, gerade auf der Seite der Opfer, weil ihnen in der Erfahrung einer vollkommenen Ohnmacht sonst gar nichts anderes bleibt. Es ist aber nicht die Katastrophe einer Minderheit, um die es hier geht, sondern die Katastrophe der gesamten Zivilisation. Wer den Antisemitismus analysieren will, muss sich in dieser Dimension bewegen – anders wird er die Vernichtung der europäischen Juden niemals erklären und verstehen können. Die »politischen und ökonomischen Erklärungen und Gegenargumente« bekommen jedenfalls die Grundprobleme der Zivilisation, auf die der Antisemitismus zurückgeht, nicht in den Blick. Sie greifen zu kurz. Der Antisemitismus dient nicht der Bereicherung, er ist nicht Vorwand, Ablenkung, Korruptionsmittel, terroristisches Exempel. Zwar bezeichnen alle diese Erklärungen durchaus etwas »Richtiges«, sie sind nicht vollkommen abwegig. Es sind Erklärungen und Hypothesen, die Horkheimer und Adorno zudem selber über einen langen Zeitraum hinweg mehr oder weniger explizit vertreten haben. Insofern schwingt in den Sätzen und Überlegungen, mit denen sie sich hier von der ökonomischen und politischen Erklärung des Antisemitismus distanzieren, immer ein Stück Selbstkritik mit. (Darauf komme ich im dritten Teil des Buches ausführlicher zurück.) Und wir werden sehen, dass es auch in den Elementen noch eine ganze Reihe von Stellen gibt, die diese Auffassung vertreten. Aber dennoch: Vorherrschend wird in den Elementen wie in der gesamten Dialektik der Aufklärung die Einsicht, dass es mit funktionellen Erklärungen des Antisemitismus nicht mehr getan ist. Sie prallen am Schrecken dieser Katastrophe ab, weil sie einem allzu »bündig rationalen« Denken verpflichtet sind. Die funktionellen Erklärungen operieren mit der Annahme, dass alles menschliche Verhalten und Handeln letztlich einem Kosten-Nutzen-Kalkül gehorcht und deswegen jede Erklärung darauf zielen muss, das Kalkül aufzudecken, das hinter dem menschlichen Handeln steht. Erklärungen dieser Art sind aber im Blick auf den Antisemitismus unzulänglich, weil das in ihnen zum Ausdruck kommende Denken eine »mit Herrschaft verknüpfte« Form der Rationalität ist und »selbst auf dem Grund des Leidens« liegt. Das ist noch einmal eine Steigerung des Arguments: Das zweckrationale Denken, das die Welt nach Kosten-Nutzen-Kalkülen abtastet, kann die Katastrophe nicht nur nicht erklären, sondern ist selber ein Teil dieser Katastrophe. 76 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Deswegen muss es seinerseits in die Kritik einbezogen werden. Wer sich bei der Analyse des Antisemitismus ausschließlich in den Kategorien eines zweckrationalen Denkens bewegt, wird keine Antwort finden, sondern am Ende im Grunde genauso blind sein wie die Verfolger. Verfolger und Verfolgte sind gefangen im gleichen »Kreis des Unheils«, solange sie in den Kategorien einer Rationalität denken, die dem reinen ZweckMittel-Funktionalismus gehorcht. »Zuschlagende« und »Abwehrende«, »Verfolger« und »Opfer« bleiben gleichermaßen Agenten eines undurchschauten Schicksals, wenn sie sich in diesen Kategorien einer ganz und gar instrumentell ausgerichteten Vernunft bewegen. Wie aber sollen die Antworten dann aussehen? In welchem Zusammenhang soll der Antisemitismus mit den Leiden der Zivilisation stehen? Die zweite These deutet in ersten kleinen Hinweisen und Überlegungen die Richtung an, in der die Antworten liegen. Die Antisemiten sind verblendet, sie sind ihrer »Subjektivität beraubte Menschen«, die kein Bewusstsein davon haben, was sie tun. Diese subjektlosen Subjekte werden in den antisemitischen Bewegungen gleichsam »losgelassen« und erleben Formen von Bedeutsamkeit und Befriedigung, die ihnen vorher ganz unbekannt waren. Sie können sich wie Subjekte vorkommen, die wichtig sind und sich jenen »Luxus« leisten, von dem im ersten Absatz der These die Rede war. Zugleich ist es aber so, dass die todbringenden antisemitischen Verhaltensweisen kein klares Ziel verfolgen. Sie sind keine rational und effektiv eingesetzten Aktionen und Mittel zur Erreichung eines benennbaren Zwecks. Im Gegenteil: Sie sind »sinnleere Reaktionen«, Aktionen ohne erkennbaren Grund, ohne erkennbare Aussicht auf irgendeinen Gewinn, auf Profit oder Macht. Diese sinnleeren, tödlichen Verhaltensweisen der Verfolger sind offenbar für den Antisemitismus typisch – sie sind es, die man deuten und verstehen muss, wenn man den Antisemitismus erklären will, und sie sind etwas ganz anderes als Strategien des Verhaltens von rationalen Egoisten und Nutzenmaximierern. In diesem Sinne bezeichnen die Autoren die antisemitischen Verhaltensweisen und Pogrome als »ein eingeschliffenes Schema«, als »Ritual« und »Ritualmorde«. Schema, Ritual, Ritualmorde – das sind die Gegenbegriffe gegen die Erklärungen des Antisemitismus, die ihn unter der Rubrik der materiellen Bereicherung, der Ablenkung und des politischen Machtgewinns verbuchen wollen. Der Begriff »Schema« dürfte hier im Sinne der Kognitionspsychologie zu verstehen sein. Er bezeichnet das vom menschlichen Bewusstsein gespeicherte Wissen über Gegenstände und Verhaltensweisen. Er zielt auf tief sitzende Muster, die es erlauben, aktuelle und flüchtige Informationen, die uns die Sinne liefern, in eine bereits bestehende Vorstellung einzugliedern und als einen bestimmten Gegenstand zu identifizieren. Beispielsweise haben wir das Schema Blatt gespeichert und können dann die konkreten Blätter, die wir sehen, unter diese Kategorie subsumieren, 77 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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obwohl kein einziges Blatt mit einem anderen identisch ist. Im Blick auf den Antisemitismus, um dessen Erklärung es in den Elementen geht, soll der Begriff des Schemas besagen: Im Kopf der Antisemiten hat sich ein Muster festgesetzt, das bei der Wahrnehmung bestimmter Reize sofort und reflexhaft das Klischee des gehassten und verachteten Juden auslöst. Dieses Schema der Antisemiten wird als »eingeschliffenes« charakterisiert – das bedeutet, dass es offenbar den Menschen mit Gewalt eingebläut worden ist, es sitzt tief, es widersetzt sich der Veränderung und der Auflösung, leitet und steuert die Wahrnehmung der Realität und wehrt sich gegen anderslautende Informationen. Der Begriff des Rituals zielt nicht auf die Sphäre der Erkenntnis und des Bewusstseins, sondern auf die religiöse und psychodynamische Sphäre. Riten und Rituale stehen im Kontext sakraler Handlungen. Sie dienen der Verehrung von Gottheiten und der Abwehr böser Geister. In dieser Bedeutung sind sie vor allem für archaische Gesellschaften vielfach von Religionswissenschaftlern und Ethnologen untersucht worden. Im psychoanalytischen Sinn sind sie das praktische Pendant von Rationalisierungen: Mit rituellen Handlungen versuchen die Menschen, sich gegen Bedrohungen zu wappnen und ihre Angst zu beschwichtigen, zum Beispiel in sog. Übergangsriten, die van Gennep (1909) in einer berühmten Studie untersucht hat. Der klassischen ethnologischen Definition zufolge sind Riten nichtinstrumentelle Handlungen, deren Wirksamkeit an die Akzeptanz und an den Glauben der jeweiligen Gruppe gebunden ist. Freud benutzt den Ritualbegriff eher selten und zieht es vor, von Zeremoniell und Zwangshandlungen zu sprechen. Rituale sind feststehende Zeremonien und Zwangshandlungen, die oberflächlich betrachtet kaum einen Sinn machen und keine Funktion zur Realisierung eines Zwecks haben. Wenn man sie aber, wie Freud das tut, auf unbewusste psychische Realitäten bezieht, wird ihr subjektiver Sinn als Symptom eines tiefer liegenden Konflikts sichtbar. Zwangshandlungen treten vor allem im Zusammenhang mit Neurosen auf. Sie dienen der Abwehr eines unbewussten Wunsches, zugleich kommt in ihnen aber auch die verpönte und verbotene Lust auf entstellte Weise zum Zuge. Solange und sofern diese Lust ins Ritual eingebunden ist, verliert sie ihren beängstigenden Charakter. So dienen Rituale, deren eigentlicher Sinn den Beteiligten kaum noch kenntlich ist, immer auch der Angstbewältigung. Rituale sind in der Sicht der Psychoanalyse ein Mittel gegen das Unerwartete, oder sagen wir genauer: gegen die Wiederkehr von sehr gut Bekanntem, gegen die Wiederkehr unerlaubter und zensierter Wünsche und Lüste. Gleichzeitig ist das Verdrängte in den Abwehrritualen aber auch enthalten und erlangt auf diese Weise eine zumindest partielle Befriedigung, indem es in regelmäßige Abfolge transformiert, mit allerlei Zauber beherrschbar gemacht und ihm so das Bedrohliche genommen wird. Rituale sind Kompromissbildungen. 78 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Sie bringen, wie Freud sagt (1907: 137), »immer etwas von der Lust wieder, die sie zu verhüten bestimmt sind, dienen dem verdrängten Triebe nicht minder als den ihn verdrängenden Instanzen«. Zwangshandlungen sind also als sinnvoll durchschaubar, sie spielen eine spezifische Rolle im Kampf zwischen Versuchungen und moralischen Hemmungen, verfemtem Wunsch und Buße. Diese Hinweise erklären den Hintergrund der Aussage, dass der Antisemitismus ein »Ritual der Zivilisation« ist und die Pogrome die »wahren Ritualmorde« sind. Damit wird ausgedrückt, dass der Antisemitismus keinen auf den ersten Blick erkennbaren funktionalen Sinn hat, er ist, funktional betrachtet, eigentlich sinnlos, eine sinnleere Reaktion. Aber auf den zweiten Blick, als Ritual betrachtet, offenbart der Antisemitismus seinen unbewussten Sinn. Den Antisemitismus als Ritual verstehen heißt, ihn in den Kontext von Triebwunsch und Triebverbot hineinzustellen. Die Zivilisation verordnet sozialkonformes Verhalten, Leistung und Verzicht. Sie kann die menschliche Triebnatur aber nicht vollkommen austreiben, sie hat es ständig mit dem Andringen von Triebwünschen zu tun. Hinter dem Ritual steht ein Triebkonflikt. Das Ritual sorgt dafür, dass es bei Verdrängung und Verbot bleibt, zugleich aber verschafft es auch Befriedigung und lässt das Verpönte in Grenzen zu. Was es genau heißt, dass der Antisemitismus ein Ritual ist, also in der Spannung zwischen Verdrängung und Wiederkehr der Verdrängung steht, wird in der zweiten These noch nicht ausgeführt, sondern später, in der fünften These, zum Thema gemacht. In den Pogromen werden die Rituale zu »Ritualmorde(n)«. Die Aggression gegen die verbietenden Instanzen erfährt darin eine extreme Steigerung. Aber der Triebdurchbruch, der in ihnen stattfindet, führt am Ende immer nur zur Wiederaufrichtung und Stärkung des Verbots. Rituale und Ritualmorde bewegen sich blind im Bannkreis der ewigen Wiederkehr und des ewigen Kreislaufs von Verdrängung und Wiederkehr der Verdrängung. Sie führen aus der Blindheit nicht heraus, sondern setzen sie fort. Sie demonstrieren damit zugleich die »Ohnmacht« jener Kräfte, die »ihnen Einhalt gebieten« könnten, nämlich der Kräfte »der Besinnung, des Bedeutens, schließlich der Wahrheit«. Damit sind die Vermögen, die Fähigkeiten und Potentiale bezeichnet, die in der Lage wären, den blinden Zwangszusammenhang von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten zu durchbrechen und aufzulösen. Aber sie sind ohnmächtig. Stattdessen wird das Totschlagen der Juden zum »läppischen Zeitvertreib« der ›Zivilisierten‹, die nicht wissen, was sie tun und mit ihrem Tun das »sture Leben« und den blinden Opferzwang der Zivilisation bestätigen und fortsetzen. Rituale und Ritualmorde sind Rebellionen gegen die Zurichtungen und Zumutungen der Zivilisation, in denen das Unterste zuoberst gekehrt wird und sich die Knechte als Herren aufspielen. Sie sind der mörderische Karneval der Zivilisation, in dem der 79 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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blutige und blinde Kreislauf von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten immer wieder erneuert und fortgesetzt wird.

II: 3 »So ist es in der Tat eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt.« Der dritte Absatz der zweiten These fasst im ersten Satz das Ergebnis der beiden vorigen Absätze zusammen. Man muss die »Blindheit« des Antisemitismus und seine »Intentionslosigkeit« ernst nehmen. »Blindheit« und »Intentionslosigkeit« eröffnen der Analyse den Zugang zum Kern des Antisemitismus, sie sind die charakteristischen Merkmale des Antisemitismus, und sie zeigen an, dass das funktionalistische Denken in Zweck-Mittel-Kategorien in die Irre führt und zu kurz greift. Das bedeutet nicht, dass der Antisemitismus nicht durchaus auch als »Ventil« funktioniert. Die Rede von der Ventilfunktion des Antisemitismus deutet zunächst zwar auf einen funktionalistischen Kontext der Erklärung hin, aber die Autoren verstehen die Ventilfunktion nun nicht mehr in einem funktionalen, sondern in einem zivilisations- und vernunftkritischen Erklärungskontext. Ihrer Ansicht nach gewinnt die Behauptung, der Antisemitismus sei ein Ventil, erst in diesem neuen Kontext ihre wahre Bedeutung, ihr »Maß an Wahrheit«. Durch das Ventil des Antisemitismus entweicht eine Wut, die ursprünglich und in ihrer Entstehung gar nichts mit den Juden zu tun hat, sondern aus den Zurichtungen der Zivilisation herrührt und die zivilisatorische Praxis von Entsagung und Entschädigung fortsetzt. Der Antisemitismus bietet der Wut die Objekte an, und die »Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz«. Diese beiden Bedingungen der Objektwahl müssen offenbar erfüllt sein: Abweichung und Auffälligkeit einerseits und Ohnmacht und Schutzlosigkeit andererseits. Wenn sie erfüllt sind, kann es je nach historischer Konstellation im Grunde alle treffen. Die Opfergruppen sind austauschbar: »Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken«. Mit diesem Satz und diesen Überlegungen kehren die Elemente zu der zweiten Ebene der Analyse zurück, auf die ich oben in den Überlegungen zur ersten These hingewiesen habe, nämlich zur Frage, wieso sich der Hass der Zivilisierten auf die Juden richtet, wieso ausgerechnet der Antisemitismus zum Ritual der Zivilisation wird und wieso es die Juden sind, die den Vernichtungswillen auf sich ziehen. In diesem Absatz ist expressis verbis und in aller Deutlichkeit die Behauptung, dass es mehr oder weniger zufällig ist, wen die Aggressionen treffen. In dieser großen Allgemeinheit ist die Behauptung durchaus plausibel. Es ist ja 80 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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keineswegs schwierig, im großen Buch der Geschichte jene Seiten ausfindig zu machen, die Pogrome und Verfolgungen aller möglichen Minderheiten und Außenseiter verzeichnen: Christen oder Araber, Hexen oder Heiden, Schwarze oder Gelbe. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass das Gemeinsame dieser zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften dem Hass und der Grausamkeit preisgegebenen Minderheiten in ihrer Ohnmacht und Schutzlosigkeit besteht. Beim vergleichenden Blick auf die Pogrome gegen Juden ist jedenfalls auffällig, dass sie überall dort wesentlich weniger häufig auftraten, wo die Präsenz und Autorität des staatlichen Gewaltmonopols einigermaßen gefestigt waren (vgl. Beyrau 2008: 31). Die Juden werden nun aber in der zweiten These nicht nur in eine Reihe mit anderen verfolgten Minderheiten gestellt. Es wird vielmehr zugleich von ihnen behauptet, dass sie keineswegs immer und ausschließlich Opfer sind, sondern zugleich auch Täter sein können. Die Opfer sollen demnach nicht nur untereinander, sondern auch mit den Tätern austauschbar sein. Die verfolgten Vagabunden, Juden, Protestanten oder Katholiken können im Prinzip jederzeit an die Stelle der Mörder treten und »in derselben blinden Lust des Totschlags« agieren. Eigentlich hängt es nur von historischen Zufällen ab, welche Gruppe zum Opfer und welche zum Täter wird. Wer sich auf Seiten der gesellschaftlichen »Norm« weiß und »sich mächtig fühlt«, der ist zum Täter, wer schutzlos ist und auffällt, der ist zum Opfer prädestiniert. Diese Behauptungen sind angesichts der beispiellosen Morde an den europäischen Juden gewiss provozierend. Aber bei näherem Hinsehen wird der Sinn leichter zugänglich. Einerseits folgt die Behauptung aus der zentralen Überlegung der Elemente, dass der Judenhass mit den generellen Defekten der Zivilisation zu tun hat und nicht mit irgendwelchen ethnischen Besonderheiten der jüdischen Minderheit. Der Hass auf die Juden ist das Symptom einer Krankheit, deren Ursache nicht die Juden sind, und die gleiche Krankheit kann sich auch in anderen Symptomen äußern. Zum anderen drückt die Behauptung die Tatsache aus, dass natürlich auch die jüdischen Opfer nicht ganz und gar unschuldig, tugendhaft und frei von moralischer Verderbnis und Dummheit durch das Leben gingen. Es ist, realistisch betrachtet, keineswegs so, dass diejenigen, die aus vollkommen abwegigen Motiven heraus zu Objekten von Wut und Hass werden, niemals ihrerseits ungerecht und böse sein könnten. Wenn es so wäre, dann könnte das Opfer des Rassismus niemals selber rassistisch sein, die unterdrückte Frau wäre immer voller Sanftmut und Güte, der ausgebeutete Proletarier immer einfach und edel. So zu denken, beruht auf puren Wunschvorstellungen, auf dem Glauben an höhere Gerechtigkeit und auf der Fiktion, dass irgendwann die Bösen auf jeden Fall den Guten den Platz räumen werden (vgl. Dubet 2006: 395). Das ist selber Ausdruck eines manichäischen Denkens, in dem die Welt 81 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und die Menschen in eine eindeutig gute und eine eindeutig böse Seite aufgeteilt werden. Der Gedanke, dass die Opfer durchaus nicht alle gut sind, erscheint angesichts der Vernichtung der Juden deswegen so provokant, weil schon diese einfache Feststellung als Rechtfertigung ihrer Verfolgung verstanden werden könnte. Das ist sie natürlich ganz und gar nicht. Sie soll im Gegenteil darauf aufmerksam machen, dass sich jegliche Aufteilung der Menschen in gute und böse bereits in die Fallstricke eines totalitären Denkens begeben hat. Die Aussage, dass auch unter den Opfern möglicherweise Leute sind, mit denen man lieber nichts zu tun haben wollte, ist keine Rechtfertigung ihrer Verfolgung. Aber gerade wenn es so ist, stellt sich an dieser Stelle mit großem Nachdruck erneut die Frage, warum sich der ganze Hass der von der Zivilisation in Wut und Rage versetzten Täter auf die Juden gerichtet hat. Und ferner ist die Frage, ob die »Intentionslosigkeit« und »Blindheit«, von der in dieser These im Blick auf den Antisemitismus die Rede ist, generell die Verfolgung von Minderheiten und Außenseitern in der Geschichte charakterisiert oder spezifisch mit der Judenverfolgung des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Viele Überlegungen der Elemente sprechen dafür, dass Adorno und Horkheimer das letztere annehmen und den besonderen und singulären Charakter des Antisemitismus betonen. Dann aber steht der mörderische Antisemitismus nicht einfach in einer Reihe mit einer historischen Kette von Pogromen, sondern markiert eine neue Stufe in der Geschichte der Verfolgungen und Morde. Erst das macht den Antisemitismus zur »Schicksalsfrage der Menschheit«, wie es in der ersten These hieß (I: 1). Er kann schlecht beides sein: die ›normale‹ Wut auf eine Minderheit, für die wir in der Geschichte der Menschheit eine Fülle von Beispielen finden, und zugleich ein Ereignis, das die Logik von Zweck und Mittel sprengt und eine Qualität annimmt, die jeder Zweckrationalität Hohn spricht. So scheußlich die Verfolgung von Christen, Hexen und anderen Gruppen in der Geschichte immer gewesen ist, so kann man sie doch einfügen in den Schreckenskosmos einer Demonstration von Macht und Überlegenheit, die materiell zumindest einen kurzfristigen Gewinn verspricht, Ungläubige verfolgt und ihnen mit missionarischem Eifer die Überlegenheit der eigenen Religion vor Augen führen will. Die Vernichtung der europäischen Juden im totalitären Antisemitismus des 20. Jahrhunderts trägt dagegen andere Züge. Sie ist nicht einfach in diese Reihe von Vorurteil und Ablenkung, Machtdemonstration und Unterdrückung, Bereicherung und Ausbeutung zu stellen, sondern sprengt die Logik von Zweck und Mittel, von Absicht und Effektivität. Es ist eigentümlich, dass die Elemente immer wieder zwischen beiden Behauptungen hin und her pendeln, gelegentlich sogar im gleichen Absatz. Offenbar ist Horkheimer und Adorno der Unterschied zwischen den beiden Positionen selber gar nicht wirklich zu Bewusstsein gekommen. Man kann gelegentlich den Eindruck haben, dass sich der 82 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Übergang von einer Erklärung zur anderen gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Sicherlich gibt es »keinen genuinen Antisemitismus« und »keine geborenen Antisemiten« – und diese Aussagen sollen deutlich machen, dass der Antisemitismus wie alle Verfolgungen in der Geschichte auf gesellschaftliche und historische Konflikte zurückgeführt werden muss. Zugleich aber ist die Frage, wie diese Aussage mit der Intentionslosigkeit, die den totalitären Antisemitismus charakterisiert, vereinbart werden kann. Man darf die Vermutung wagen, dass ein großer Teil der intellektuellen Herausforderung, die offenbar mit dem Schreiben der Dialektik der Aufklärung und der Elemente verbunden war, auf diesen Punkt zurückzuführen ist. In den Interpretationen werde ich darauf zurückkommen. Die Unsicherheiten in der Einordnung und Erklärung des Antisemitismus werden im dritten Absatz der zweiten These sehr deutlich. Die Behauptung der Funktionslosigkeit des Antisemitismus ist nur im Zusammenhang einer zivilisations- und vernunftkritischen Theorie sinnvoll. Im Text folgt aber ein Satz, der die Überlegungen ganz unvermittelt in eine funktionale Bestimmung des Antisemitismus zurücklenkt. Es ist plötzlich von »hohen Auftraggeber(n)« die Rede, die sehr genau »wissen«, warum sie die Juden verfolgen. Sie »hassen die Juden nicht und lieben nicht die Gefolgschaft« – was ja gar nichts anderes heißen kann, als dass sie den Hass auf die Juden wie ein probates Mittel einsetzen, um ganz andere Ziele zu erreichen, und dass sie zum Erreichen dieser Ziele eine antisemitische Gefolgschaft anheuern, mit der sie nichts verbindet und mit der sie sich nicht gemein machen wollen. Affekte scheinen überhaupt nicht beteiligt zu sein, weder Hass noch Liebe, nur die kalte Rationalität eines Kalküls, das die Zwecke genau bestimmt und die Mittel gezielt einsetzt. Dann aber kehrt der Absatz zurück zu Aspekten, die in den Umkreis der Intentionslosigkeit des Antisemitismus gehören. Die von den respektablen Rackets angeheuerte Gefolgschaft, so heißt es, kommt »weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten«, sie hasst ohne Ende, sie »will keine Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt«. Die »organisierten Raubmörder« sind durch »eine Art dynamischer Idealismus« geprägt. Das unterscheidet sie von den hohen Auftraggebern, von denen zuvor die Rede war, und die offenbar sehr genau wissen und kalkulieren, zu welchen Zwecken die antisemitische Gefolgschaft organisiert und eingesetzt wird. Dynamischer Idealismus meint, dass ein Zustand des Innehaltens, der Befriedigung und Entspannung niemals eintritt, sondern die jeweils erreichte Situation sofort zum Ausgangspunkt weiterer Grenzüberschreitungen und Anstrengungen gemacht wird. Darin steckt ein Element des Triebhaften und Getriebenen, das keine Erfüllung kennt und nie zur Ruhe kommt. Dieser dynamische Idealismus sprengt die funktionale Rationalität der Verfolgung materieller Ziele und folgt einer ganz 83 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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anderen Logik – einer Logik, die in den anschließenden Sätzen in einer irritierenden Semantik genauer beleuchtet wird. Die organisierten Raubmörder »plündern«, machen dazu eine »großartige Ideologie«, reden von der »Rettung der Familie, des Vaterlandes, der Menschheit«. Man könnte denken, dass es sich bei diesen Motiven, die sie angeben, um reine Ideologie handelt, um eine »Rationalisierung«, die das wahre Motiv der Raubmörder, ihr »erbärmliches rationales Motiv«, nämlich den »Raub«, verhüllen und unsichtbar machen soll. Wir hätten es dann gleichsam mit einem exemplarischen Fall von falschem Bewusstsein zu tun: Die Täter bilden sich ein, für hehre Ideale zu kämpfen, in Wirklichkeit geht es ihnen ausschließlich um die Verfolgung ihrer eigenen materiellen Interessen. Aber der Fortgang des Textes folgt dieser klassischen Form der Bewusstseins- und Ideologiekritik nicht, sondern dreht das Argument sogar um. Danach ist es nicht so, dass in Wirklichkeit die Aussicht auf materielle Interessen das treibende Motiv der Antisemiten ist und die hehren Ideale nur vorgeschoben sind, sondern es ist umgekehrt so, dass die materiellen Motive vorgeschoben sind und die hehren Ideale, die sie predigen, tatsächlich die Motive benennen, denen sie in ihrem Verhalten folgen. Die Antisemiten haben wirklich, wie sie es von sich sagen, keine materiellen Interessen, sondern halten es mit den großen Werten von Familie, Vaterland und Menschheit. Sie sind alles andere als Nutzenmaximierer, es geht ihnen nicht um das Materielle, das sie hinter Rationalisierungen verstecken, sondern sie sind ganz und gar vom idealistischen Verlangen nach Höherem angetrieben. Das ist eine irritierende Umkehrung der ideologiekritischen Argumentationsfigur: Der rationale Zweck, der materielle Nutzen wird gleichsam zum Vorwand für den »Idealismus«, der zum wahren Hauptmotiv avanciert. Die Aussicht auf materiellen Gewinn wird zur Ideologie und zum falschen Bewusstsein, sie verdeckt den Kern der Sache, der darin besteht, dass wir es im Antisemitismus in Wirklichkeit mit zwecklosen bzw. besser: zweckfreien Taten und Handlungen zu tun haben. Es ist nicht mehr so, wie in der klassischen Ideologiekritik, dass die Rede von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Tarnung nackter ökonomischer Interessen dient, sondern umgekehrt verdunkeln, tarnen und rationalisieren die ökonomischen Interessen eine ganz anders geartete Motivlage und Dynamik. Die Autoren argumentieren hier ganz ähnlich wie Freud, der meint, dass sich Menschen wie Völker in ihrem Verhalten weit mehr von ihren Leidenschaften als von ihren Interessen leiten lassen. »Sie bedienen sich höchstens der Interessen, um die Leidenschaften zu rationalisieren; sie schieben ihre Interessen vor, um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen zu können.« (Freud 1915: 340) Die Elemente verabschieden sich mit diesen Sätzen von der marxistisch orientierten Ideologiekritik. Und wir können diese Überlegung 84 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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verallgemeinern: Die zentralen Antriebskräfte des menschlichen Handelns sind der Dialektik der Aufklärung zufolge nicht die materiellen Interessen, die hinter der Berufung auf das »Eden der angeborenen Menschenrechte« (Marx) gleichsam unsichtbar gemacht werden sollen. Es ist nun umgekehrt so, dass die Verfolgung materieller Interessen zum Vorwand wird, hinter dem sich ein ganz anderes Drama abspielt: Im Antisemitismus und im Mord an den europäischen Juden schlägt eine von Blindheit und Besinnungslosigkeit gezeichnete Zivilisation, die seit ihren Anfängen auf diese Katastrophe zusteuert, wild um sich. Und es sind nicht die materiellen, ökonomischen Interessen und Dynamiken, sondern es ist die auf vollkommene Herrschaft über die innere und äußere Natur ausgerichtete Vernunft, die die Zivilisation antreibt und in die Barbarei umschlagen lässt. Wer über den Antisemitismus reden will, muss also nicht über den Kapitalismus reden, jedenfalls nicht so über den Kapitalismus reden, wie Marx über ihn geredet hat, sondern über Vernunft und Zivilisation, über Natur und Herrschaft, über Trieb und Verdrängung, über Opfer und Glücksversprechen. Der dynamische Idealismus der antisemitischen Verfolger wird natürlich keineswegs von Vernunft beseelt, sondern es ist der »unerhellte Trieb«, der im Antisemitismus zum Vorschein kommt und durch nichts mehr relativiert, gefiltert oder gehemmt wird. Die Vernunft wird dem Trieb gegenüber zu einer ohnmächtigen kleinen »Insel« in einem Meer von Irrationalität losgelassener Affekte, von deren Wucht sie »überschwemmt« wird. Die Antisemiten reden von hehren Idealen, von der Verteidigung der »Wahrheit«, der Erneuerung der »Erde« und der Reformierung auch noch der letzten Winkel aller Kontinente – und das ist weit furchterregender, als wenn sie es nur auf Raub und auf Vermehrung ihres Reichtums abgesehen hätten. Der antisemitische Idealismus wird von blindem Eifer angetrieben, er kennt keine Erfüllung und kein Ziel. Alles Lebendige wird ihm zum Material der Pflichterfüllung, »der keine Neigung mehr Eintrag tut«. Die antisemitischen Taten sind für die Täter ein vollkommen »autonomer Selbstzweck«, sie haben ihren Zweck nur in sich selbst und sind im Übrigen durch »Zwecklosigkeit« geprägt. Jede Benennung und Angabe realer Zwecke »bemäntelt« nur diese ihre Zwecklosigkeit. Diese Sätze enthalten nicht nur eine Umkehrung des marxistischen Paradigmas der Ideologiekritik, sondern laufen darauf hinaus, die Logik des Antisemitismus mit der Philosophie des deutschen Idealismus, besonders mit der Ethik von Kant und Fichte in Verbindung zu bringen. Das geschieht nur in Andeutungen, und weder Kant noch Fichte werden zitiert oder genannt. Aber es kann kein Zweifel sein, dass wir es dennoch mit einem Stück massiver Kritik der idealistischen Ethik und Philosophie zu tun haben. Dafür sprechen vor allem die Begriffe, mit denen die Elemente in diesem Absatz arbeiten. Was die antisemitischen Mörder 85 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

antreibt, wird in der Semantik der idealistischen Ethik beschrieben – und wir dürfen annehmen, dass das nicht zufällig, sondern mit Bedacht so und nicht anders geschrieben ist. Die Nähe zwischen dem dynamischen Idealismus der Antisemiten und der idealistischen Philosophie, die damit implizit behauptet wird, bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte. Zum einen darauf, dass beide, der Idealismus wie der Antisemitismus, stets aufs Ganze gehen und zu einem geschlossenen System werden wollen. »Zwischen Antisemitismus und Totalität bestand von Anbeginn der innigste Zusammenhang.« Jede Begrenzung, jede Grenze, jede Rücksichtnahme ist nur eine Schranke, die überwunden werden muss. Der Antisemitismus zielt auf das Ganze, er verlangt ganze Arbeit, zielt auf die völlige Vernichtung der Juden und des Judentums. In diesem Drang ins Unendliche ähnelt er dem idealistischen Begriff des Geistes, dem alles zum Material wird, das unterworfen und beherrscht werden muss. Marx beschreibt die Logik des Werts und des Kapitals ganz ähnlich als vollkommen unersättlich und grenzenlos (vgl. König 1981: 117ff). Immer ist es eine Dynamik, die keine Grenzen akzeptiert und buchstäblich bis in die letzten Winkel der Erde und des Kosmos ausgreift. Der Antisemitismus ruft zu »ganzer Arbeit« auf, er gibt sich nicht mit Halbheiten zufrieden, er kennt keine Schranken, kein Ende und kein Pardon, er kann nichts akzeptieren, was ihm opponiert oder sich ihm entzieht. Er hat einen Zug ins Totalitäre, zur »Totalität«. Die »Blindheit«, die ihn charakterisiert, legt sich auf alles. Im Abschnitt »Idealismus als Wut« hat Adorno (1966a: 33ff) später im Einleitungskapitel der Negativen Dialektik diesen Gedanken im Blick auf die idealistische Philosophie weiter entfaltet. Die Kritik Adornos richtet sich gegen jede Art von Systemdenken, weil in ihm immer der Zug in Grenzenlosigkeit und Absolutheit enthalten ist. Das System ist die »Darstellungsform einer Totalität, der nichts extern bleibt« (Adorno 1966a: 35). Adorno bringt den idealistischen Drang zum System mit dem Sprung des Raubtiers auf das Opfer in Verbindung. Auf den entwickelteren Stufen der Menschheitsgeschichte wurde Adorno zufolge dieses Verhalten der natürlichen Umwelt gegenüber dann mit der projektiven Phantasie verbunden, nach der das zu fressende Lebewesen böse und seine Überwältigung deswegen gerechtfertigt war. Analog werde in der Philosophie Fichtes alles, was nicht zum Ich gehört, alles Äußere und alles an die Natur Erinnernde zu etwas Minderwertigem, »damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens getrost es verschlingen darf« (Adorno 1966a: 33). Der Geist des Idealismus ist gefräßig und unersättlich, und er macht alles, was außerhalb seiner Sphäre liegt, zum Material seines Hungers und seiner Unersättlichkeit. »Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus.« (Adorno 1966a: 34) 86 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

Adorno verbindet in diesen Überlegungen die subtilsten philosophischen Herleitungen mit den Niederungen des animalischen Fressens und Gefressenwerdens, mit Affekten, mit Hunger und Überlebenskampf. Die tierisch-animalische Sphäre ist nach Adorno auch noch der Kern von Kants Bestimmungen der Humanität, und damit wird deren »Nimbus des Höheren und Edleren« (Adorno 1966a: 34) als Anmaßung erkennbar. Apodiktisch erklärt Adorno (1966a: 34): »Die erhabene Unerbittlichkeit des Sittengesetzes war vom Schlag solcher rationalisierten Wut aufs Nichtidentische.« Generell sei der philosophische Drang zum System das Zeichen für einen »Zwangsmechanismus« (Adorno 1966a: 32). Alles muss gleich und identisch gemacht werden. Weil das niemals bis ins kleinste gelingen kann, entwickeln die Systeme, auch die von Kant und Hegel, eine zwanghafte Pedanterie. Sie werden von einem nimmermüden und nie zur Entspannung gelangenden Bemühen um Lückenlosigkeit, Geschlossenheit, Akribie angetrieben. Kurz: »Große Philosophie war vom paranoiden Eifer begleitet, nichts zu dulden als sie selbst, und es mit aller List ihrer Vernunft zu verfolgen.« (Adorno 1966a: 33) Adorno beruft sich bei seiner Kritik auf Nietzsche, der die Anmaßungen des Idealismus durchschaute. In seiner Kant-Vorlesung aus dem Jahre 1963 hat Adorno einbekannt, dass er tatsächlich für sein eigenes Denken sehr viel von der Philosophie Nietzsches angeregt wurde. Er macht ein bemerkenswertes Bekenntnis und spricht von Nietzsche als dem, »dem ich, wenn ich aufrichtig sein soll, am meisten von allen sogenannten großen Philosophen verdanke – in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel« (Adorno 1963: 255). Tatsächlich folgt Adorno in seiner Kritik des Idealismus sehr genau dem Verfahren der Genealogie, das Nietzsche vorgebildet hat. In der genealogischen Kritik wird das Hohe, Reine, Subtile und Erhabene mit ganz banalen und schmutzigen Dingen in Verbindung gebracht, mit Trieb und Lust, mit Angst und Schrecken, mit tierischem Raub- und Schutzinstinkten, mit den vorgeschichtlichen Zeiten der Menschheit. Die Kritik der Zivilisation, die Adorno und Horkheimer praktizieren, folgt nicht der Spur der marxschen Ideologiekritik, sondern dem Verfahren der Genealogie, das auf Nietzsche zurückgeht. Für den Antisemitismus bedeutet das, dass man über die ihm zugrunde liegende Logik am ehesten dann Auskunft erhält, wenn man seiner »Urgeschichte« (DA 22) nachspürt, so wie der souveräne Geist dadurch entschleiert wird, dass man seine »Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung« (Adorno 1966a: 33) aufdeckt. (Auf das Verfahren der genealogischen Kritik gehe ich im dritten Teil des Buches ausführlicher ein.) Der zweite Aspekt der Verbindung zwischen Idealismus und Antisemitismus liegt im Rigorismus und in der Erbarmungslosigkeit, die sich gegen Neigung und Mitleid verhärten. In der zweiten These der Elemente wird dieser Punkt mit zwei Anspielungen angedeutet. Einmal mit der 87 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Rede von der »scheußlichen Pflicht, der keine Neigung mehr Eintrag tut«, zum anderen mit der Formulierung, dass der Antisemitismus als »autonomer Selbstzweck« zu verstehen ist. Mit der Spannung zwischen Pflicht und Neigung und mit den Begriffen von Autonomie und Selbstzweck befinden wir uns in der Sphäre von Kants Moralphilosophie. Deren Anspruch besteht darin, moralisches Handeln aus den Gesetzen der Vernunft heraus zu begründen und damit alle Rücksichten auf Neigung, (Mit-) Gefühl, auf Glück, Verlangen, Nutzen und Befriedigung als heteronome Elemente aus der Welt der Moral auszuschließen. Dies allerdings nicht, um der Herrschaft und der Unfreiheit das Wort zu reden, sondern im Gegenteil mit dem einzigen Zweck, die menschliche Autonomie und Freiheit über alles zu stellen. Die ungeheure und fast unmenschliche Härte und Strenge, mit der Kant aus seiner Moralphilosophie das Glück ausschließt, geschieht gerade um der Freiheit des Menschen willen. Der Mensch darf sich nicht abhängig machen von äußerem Material und äußeren Zielen – das wäre Heteronomie. Er darf sich nur von dem bestimmen lassen, was die eigene Vernunft vorschreibt und was mit eigener Anstrengung erreichbar ist. Darin besteht die Autonomie. Nur als autonom bestimmte ist eine Handlung frei, andernfalls ist sie abhängig von anderem, von Natur, Kausalität oder Zufall. Der Mensch ist nur dort autonom, unabhängig und frei, wo er sich diesen Mächten nicht unterwirft. Das würde er aber, wenn er sich von sinnlichen Trieben, Neigungen und Sympathien antreiben ließe oder wenn er nach Glück, Nutzen und Befriedigung verlangte. Autonomie und Freiheit gibt es deswegen nach Kant nur dort, wo der Mensch sich ausschließlich von sich selbst und der ihm eigenen Vernunft anleiten lässt. Deswegen darf es auch keine Rücksicht und keine Beziehung auf den äußeren Effekt oder das Ergebnis einer Handlung geben. Effekt und Ergebnis hängen immer und unvermeidlich von empirischen Zufällen ab, über die der Mensch nicht wirklich mächtig sein kann. Für Adorno ist das Ergebnis der kantschen Moralphilosophie paradox und ein Musterbeispiel dafür, wie die extreme Steigerung eines Gedankens in sein Gegenteil umkippt. Vermöge ihres eigenen formalen Charakters überwiege bei Kant schließlich das repressive Moment gegenüber dem Moment der Freiheit. Heteronom und unfrei ist der Mensch nach Kant überall dort, wo er sich in seinen Handlungen von sinnlichen Neigungen und materiellen Absichten und Interessen leiten lässt, weil er sich dann immer im Reich der Naturkausalität bewegt, also durch Anreize, die von außen auf ihn einströmen, bestimmt ist. Frei ist der Mensch nur dort, wo das nicht der Fall ist. Damit führt die Idee der Freiheit und der Autonomie des Handelns in die Notwendigkeit der Unterdrückung eines jeglichen natürlichen Impulses und in die Unterdrückung der Impulse der Neigung und der Sympathie. Triebe, Neigungen und Interessen werden von Kant mit einer »theoretisch sehr grausamen Härte« (Adorno 88 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

1963: 108) unterdrückt. Das Plädoyer für Freiheit und Autonomie geht auf vertrackte Weise in Unterdrückung und Unfreiheit über. In die Philosophie der Freiheit von Kant gerät so ein durch und durch autoritäres Moment hinein, ein Moment der Repression, durch die Freiheit in Pflichterfüllung, Unterwerfung und Reinigung umschlägt. Nun darf aber freilich der Punkt der Differenz zwischen Kant und der totalitären Moral nicht unterschlagen werden. Es gehört zu den bestimmenden Elementen von Kants Moraltheorie, dass der Mensch niemals als Mittel, sondern immer als Zweck behandelt werden muss. Daraus folgt, dass niemand auf dem Altar eines wie auch immer bestimmten externen Zwecks oder Gesamtinteresses geopfert werden darf. »In diesem Sinn … ist die Kantische Moralphilosophie trotz ihres immer wieder berufenen Formalismus … mit der Gestalt der totalitären Moral, die ja nur gleichsam den mehr spielerischen Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, in blutigen Ernst übersetzt, mit der totalitären Umwendung der Moral unvereinbar.« (Adorno 1963: 214) Und deswegen bleibt es auch dabei, dass der Idealismus der Nazis und die Berufung Eichmanns auf Kants kategorischen Imperativ eine groteske Verdrehung ist. (Auf die Auseinandersetzung Adornos mit Kants Moralphilosophie komme ich in den »Interpretationen« im Kontext des Naturbegriffs und der Mimesis noch einmal zurück.) Am Anspruch der Menschen auf sinnliches Glück halten die Elemente nachdrücklich fest. Kant hatte diesen Anspruch aufgrund theoretischer Überlegungen und eines alles überstrahlenden Freiheitsbegriffs aus der Moralphilosophie verbannt. Der letzte Absatz der zweiten These der Elemente, dem ich mich nun zuwende, konstatiert für die Antisemiten, dass ihnen schon der pure Gedanke an das Glück ungeheuerlich geworden ist und ausgeschaltet werden muss.

II: 4 »Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil er überhaupt erst Glück wäre.« Immer noch geht es darum, die neue, präzedenzlose Qualität und Eigenschaft des Antisemitismus, seine »Zwecklosigkeit« zu begreifen und zu analysieren. Die Bezüge zum Idealismus herauszustellen, den Antisemitismus in der Sprache des Idealismus zu beschreiben, ist soz. der erste Versuch, der in diese Richtung zielt. Ein zweiter Versuch der Erklärung, ganz unverbunden mit dem ersten, wird im vierten Absatz der zweiten These vorgetragen. Der Absatz beginnt damit, dass ein Gedanke aus der ersten These über den Liberalismus noch einmal aufgegriffen wird. Der 89 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Liberalismus, so lautet die Behauptung, hat den Juden zwar die Möglichkeit gewährt, zu Besitztümern zu kommen, also Geschäfte zu machen und sich ökonomisch zu betätigen, aber er hat ihnen keine »Befehlsgewalt« eingeräumt, sie vom Zugang zu politischen Ämtern und Positionen ferngehalten. Diese Halbierung der Emanzipation der Juden wird nun mit der Idee der Menschenrechte zusammengebracht. Deren Utopie bestand darin, »Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist«. Das ist in der Tat die Logik der politischen Emanzipation, wie die französische und die amerikanische Revolution sie zu verwirklichen suchte. Alle Menschen sollen unabhängig von ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Status, von ihrer gesellschaftlichen Macht oder Ohnmacht, die gleichen Rechte haben, und es besteht für alle, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt, ein »pursuit of happiness«. Damit sind sämtliche politischen Privilegien, die durch Besitz, Status und Herkunft begründet werden, für illegitim erklärt und abgeschafft. Es gilt die Gleichheit aller vor dem Gesetz, alle sind mit den gleichen subjektiven Rechten ausgestattet, und alle haben freien Zugang zu politischen Ämtern und Positionen. Den Elementen zufolge ist diese Form der Emanzipation, nicht anders als für Marx in seiner Schrift über die Judenfrage, eine gleichsam halbierte und abstrakt bleibende Emanzipation. Von den »Massen« werde das »Versprechen« der Menschenrechte und des Glücks ohne Macht als Betrug, Lüge und Hohn erlebt, solange diese politische Emanzipation nicht durch eine andere ergänzt und vervollständigt wird. Diese zweite Emanzipation, die Marx (1844: 370) als »menschliche Emanzipation« bezeichnet, hat zu ihrer Voraussetzung, dass die ökonomische Spaltung der Gesellschaft in »Klassen« aufgehoben wird. Solange die liberale Halbierung der Emanzipation fortbesteht, solange es bei der Behauptung bleibt, dass die liberale Emanzipation bereits das Versprechen des Glücks einlöst, führt sie zu Enttäuschung und »Wut«. Der springende Punkt der Argumentation ist nun, dass diese Wut, die aus der Enttäuschung resultiert, nicht gegen die gerichtet wird, die die umfassende menschliche Emanzipation und die Aufhebung der Klassen mit allen Mitteln verhindern wollen. Der Text bemüht auch nicht das Argument des Sündenbocks, nach dem die Herrschenden es verstehen, die Wut, die eigentlich ihnen gilt, auf die Juden um- und abzulenken. Das wäre ja noch einmal ein Argument im Sinne des Funktionalismus, also ein Argument, das in einem instrumentellen Sinn mit dem Hinweis auf den handgreiflichen politischen Nutzen des Antisemitismus arbeitet. Stattdessen bringt der Text nun einen ganz anderen Gedanken ins Spiel – einen Gedanken, der aus dem Ideenhorizont der Psychoanalyse stammt und mit der Verdrängungshypothese argumentiert. Die betrogenen Massen, so lautet die Überlegung, kämpfen nicht im Namen des ganzen und unbegrenzten Glücks gegen die Halbierung der Emanzipation, sondern sie geben statt dessen die 90 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

Idee des Glücks preis, ja sie können nicht einmal mehr den Gedanken ertragen, dass es so etwas wie Glück überhaupt geben könnte. Sie müssen diesen Gedanken »immer aufs neue verdrängen« und »verleugnen«, und zwar »um so wilder, je mehr er an der Zeit ist«. Es ist offenbar so, dass den Antisemiten gerade ihre eigene größte »Sehnsucht« unerträglich wird und verdrängt und verleugnet werden muss. Das ist eine paradoxe und erklärungsbedürftige Überlegung. Im Kontext einer Theorie des Antisemitismus kann der Gedanke nur bedeuten, dass der realen Unterdrückung und Vernichtung der Juden auf Seiten der antisemitischen Verfolger die Unterdrückung der eigenen Sehnsucht nach Erfüllung und Glück vorausgeht. Es sind die eigenen Träume, die Träume von Erfüllung und Glück, die die Verfolger als unrealistisch diskreditieren und verachten. Diese Träume ins Bewusstsein treten zu lassen, würde bedeuten, die gewaltsamen Einschränkungen und Zurichtungen, denen die Antisemiten ihrerseits ausgesetzt waren, in Frage zu stellen und damit den gesamten eigenen Lebensentwurf dem Verdacht des Scheiterns und der Vergeblichkeit auszusetzen. Wenn die eigene Sehnsucht nach Glück zur Bedrohung wird und unbedingt in der Verdrängung gehalten werden muss, muss auch alles das, was in der Erfahrung der Welt an sie erinnern kann, ausgeschaltet werden. Was immer in der Außenwelt den Anschein gelebten Glücks mit sich führt, muss gemieden werden, weil es die Möglichkeiten eines anderen Lebens wachruft, von dem auch die noch so Verhärteten einmal geträumt haben und denen dieser Traum in einem langen und gewaltsamen Prozess ausgetrieben wurde. Mit anderen Worten, und das ist die zentrale Erklärung, die nun in den Vordergrund tritt: Hinter dem Judenhass steckt, dass den Antisemiten der Gedanke an Glück und an ihre eigenen besseren Möglichkeiten unerträglich geworden ist. Schon die Erinnerung an das Versprechen des Glücks löst bei ihnen eine massive Bedrohung des eigenen Gleichgewichts aus, und alles, was die Fortdauer der Verdrängung in Frage stellt, ist ihnen unerträglich. Wo immer das Versprechen des Glücks »inmitten der prinzipiellen Versagung als verwirklicht erscheint«, müssen deswegen die betrogenen Massen wie in einem Automatismus, also reflexhaft, in der Außenwelt »die Unterdrückung wiederholen, die der eigenen Sehnsucht galt«. Am logischen Anfang des Antisemitismus steht mithin nicht die Unterdrückung der Juden, sondern die Unterdrückung der eigenen Wünsche. Dieser Gedanke macht auf radikale Weise mit der Wendung auf das Subjekt ernst, die für die Psychoanalyse charakteristisch ist. Man kann den Antisemitismus nur begreifen, wenn man die psychische Dynamik und Logik der Antisemiten versteht. Der Antisemitismus hat im Kern nichts mit den realen Juden zu tun. Seine Ursache liegt vielmehr in der Selbstverstümmelung der Antisemiten, in ihrer vollkommenen Indifferenz gegenüber den eigenen Wünschen. Es ist die Beschädigung und Tabuisierung der eigenen Sehnsüchte, die dazu 91 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

führt, dass außen alles liquidiert werden muss, was an diese Wünsche nach Glück erinnert. Die Entleerung und Verhärtung des eigenen Seelenlebens setzt sich in dem Bestreben fort, dass es auch in der äußeren Welt so leer und kalt zugehen soll wie im eigenen Inneren. Die Wut der Antisemiten richtet sich auf alles, was an die eigene Sehnsucht nach Glück »erinnert«, gleichgültig wie »unglücklich selbst es auch sein mag«. Die Erinnerung, die hier in Gang gesetzt wird, hat mithin wenig mit den realen Eigenschaften und Qualitäten der Objekte zu tun. Die Juden mögen selber ganz und gar unglücklich sein, dennoch lösen sie offenbar in den Antisemiten reflexhaft die Erinnerung an die eigenen Versagungen und Sehnsüchte aus, die zu zwanghaftem Abscheu und zur Vernichtungs- und Unterdrückungswut führen. Es »erscheint« diesen Antisemiten so, dass die Juden einen Zustand des Glücks verwirklicht haben, und diesen Schein nehmen sie für das Wesen. Der Gedanke an Glück schon bedroht das ganze Schema der Selbsterhaltung durch Unterdrückung. Was ans Glück erinnert, ist unerträglich und löst den zwanghaften Drang nach Vernichtung aus. Der Text zählt einige Beispiele dafür auf, was bei den zwanghaft Verfolgenden die Wiederholung der Verdrängung und im Extremfall die Liquidierung der Erinnerungsauslöser bewirkt. »Ahasver und Mignon, Fremdes, das ans verheißene Land, Schönheit, die ans Geschlecht erinnert, das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt« – diese Symbole eines Glücks, das nicht an Leistung, Herrschaft, Unterwerfung und Macht geknüpft ist, ziehen »die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich«. Ahasver ist eine Figur aus mittelalterlichen christlichen Legenden, die für die bis zum Jüngsten Gericht andauernde Ruhelosigkeit und Wanderschaft, für Nichtsesshaftigkeit und Fremdheit steht, auch für das Geniale, das Degenerierte und die Dekadenz (vgl. Bein 1980, Bd. 1: 77f; Körte/Stockhammer 1995). Er verkörpert sowohl die »Unsterblichkeit als Fluch« (Mayer 1975: 314) wie das Glück desjenigen, der sich niemals festlegen muss, den Preis für das Sesshaftwerden nicht zahlt und das nichtreglementierte und triebhafte Leben vorzieht. – Mignon ist eine Figur aus Goethes Roman Wilhelm Meisters theatralische Sendung (1777/1785). Sie stammt aus Italien, und in ihrem berühmten Lied »Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n« gibt sie der Italiensehnsucht und der Liebe zu ihrem Retter Wilhelm einen beredten Ausdruck. Die Herkunft der Kindfrau Mignon verweist auf ungezügelte Erotik. Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass der geistig verwirrte Harfner ihr Vater ist. Harfner hat sie, ohne es zu wissen, im Inzest mit seiner Schwester gezeugt. Mignon wird, vor allem dank der Übernahme der Figur in eine Oper gleichen Namens von Ambroise Thomas (1866), gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff unschuldig naiver, lieblicher, weiblicher Reize, mit deutlichen Anspielungen auf die herausfordernde 92 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

Sexualität eines reizenden Mädchens und einer Frau mit kindhaften Zügen (vgl. Wetzel 1999). Die Zerstörungswut der »Zivilisierten« gegen alles, was ans Fremde, an Schönheit und Geschlecht erinnert, führen die Elemente darauf zurück, dass diese Zivilisierten den »schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten«, also im Grunde nur halb zivilisiert sind. Das ist die Paraphrase einer Überlegung von Freud, der in seiner Untersuchung Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) die Judenfeindschaft der Christen darauf zurückführt, dass sie »schlecht getauft« sind. Freud beschäftigt zunächst die Tatsache, dass der Antisemitismus vor allem bei jenen Völkern verbreitet ist, die erst spät und mit Gewalt zum Christentum bekehrt wurden. Das lege die Folgerung nahe, dass diese Christen den Juden, den ersten Monotheisten, ihre eigene Bekehrung nicht danken, sondern zum Vorwurf machen. Die christlichen Antisemiten, so meint Freud (1939: 198), sind im Grunde geblieben, »was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam.« (Auf religiöse Motive des Antisemitismus geht die vierte These der Elemente ausführlicher ein, und dort spielt, wie wir noch sehen werden, das Verhältnis von Christentum und Judentum eine entscheidende Rolle.) Die in diesem Sinne nur Halbzivilisierten und Schlechtgetauften sind dann »krampfhaft« damit beschäftigt, die Herrschaft über ihre Triebnatur aufrechtzuerhalten. Sie stehen unter einer großen inneren Spannung, denn die von ihnen beherrschte und unterdrückte Natur spiegelt ihnen noch als »gequälte« »aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider« – sie erscheint ihnen also wie eine Verkörperung des Glücks ohne Macht, dem ihre ganze Abscheu und ihr ganzer Widerwille gilt. Glück ohne Macht ist den Antisemiten unerträglich, »weil es überhaupt erst Glück wäre«. Schon der pure Gedanke, dass es Glück überhaupt geben könnte, ist für die halb Zivilisierten unerträglich. Man hat ihnen mit Gewalt, »oft durch blutigen Zwang« (Freud 1939: 198), eingebläut, dass vor dem Glück die Anstrengung, die Unterdrückung und die Pflichterfüllung stehen. In der Realität ist davon dann nur noch der Zwang geblieben, und das Versprechen des Glücks hat sich als hohl erwiesen. Wenn diese halb Zivilisierten bei anderen die Realisierung des unverstellten Glücks wahrzunehmen meinen, dann entsteht in ihnen eine unerträgliche innere Spannung. Sie glauben, einem Betrug und einer großen Ungerechtigkeit aufgesessen zu sein, und können dieses Gefühl nur noch dadurch beruhigen, dass sie zu Verfolgung und Vernichtung derjenigen übergehen, die ihnen als Verkörperung des Glücks erscheinen. Dass in den Augen der Antisemiten die Juden das Glück ohne Macht verkörpern, davon zeugen die Bilder und Phantasien, die sie mit ihnen 93 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

in Verbindung bringen und als »Zeichen von Glück« deuten. Hier hinein gehört zum Beispiel das »Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren«. Das »gute Leben«, das die Antisemiten in diesen Phantasien den Juden zuschreiben, löst in ihnen eine automatisierte Abwehrreaktion aus. Gleiches gilt für das »Bild des Intellektuellen«. Der Intellektuelle »scheint zu denken, was die anderen sich nicht gönnen, und vergießt nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft«. So wird er, wie der jüdische Bankier, zum Inbegriff des Traums vom unverstellten Glück, das die halb Zivilisierten an die eigenen Versagungen und Entbehrungen gemahnt, deswegen unerträglich wird und abgrundtiefen Hass provoziert. Im letzten Satz der zweiten These wird dieser Gedanke dicht und präzise zusammengefasst: »Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient.« Der Satz führt die ökonomischen, politischen und zivilisationstheoretischen Ebenen, auf denen sich die Analyse bislang bewegt hat, zusammen. Die ökonomische Ebene kommt im Begriff der Zirkulation, der hier zum ersten Mal in den Elementen fällt, ins Spiel. Der Bankier und der Intellektuelle werden als Exponenten der Zirkulation des Kapitals, als Exponenten von Geld und Geist apostrophiert. Die Frage nach der Zirkulation und ihrer Bedeutung für die Analyse des Antisemitismus wird in der dritten These im Einzelnen entfaltet und ausgeführt, und sie wird uns dort ausführlich beschäftigen. Auf der zivilisationstheoretischen Ebene ist die psychoanalytisch inspirierte Deutung des Antisemitismus angesiedelt, die ihn auf die Verdrängung und Verleugnung des Wunsches nach Glück zurückführt. Dieses Argument bewegt sich im großen Feld der Zivilisations- und Vernunftkritik, die sich nicht in den Begriffen von Produktion und Zirkulation, Gewinn und Verlust, Mehrwert und Profit artikuliert, sondern in deren Zentrum das Verhältnis der Menschen sowohl zur eigenen inneren wie zur äußeren Natur steht. In diesem Argument, das den Kern der Elemente ausmacht, geht es nicht um Ausbeutung, Profit und Klassenkampf, sondern um die Zurichtung und Verstümmelung der Menschen als Folge ihres Verhältnisses zur Natur. Auch die dritte Ebene, die politische kommt hier noch einmal ins Spiel, in dem funktionalistischen Gedanken nämlich, dass »die Herrschaft« das, was sie den »Verstümmelten« angetan hat, für ihre eigene Stabilisierung einsetzt und sich ihrer für die Perpetuierung der Herrschaft »bedient«. In der Perspektive der Kampfsemantik und des Klassenkonflikts würde man erwarten, dass sich die Unterdrückten wehren und sich gegen ihre Unterdrücker wenden. Dass es einen Mechanismus gibt, der die Unterworfenen und Verstümmelten auf die Seite der Herrschenden zieht und dadurch die Unterdrückung auf unabsehbare Zeit stabilisiert, macht die Herrschaft total. Sie ist offenbar in 94 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Liquidierung des Gedankens an Glück

der Lage, ihre »Verewigung« zu betreiben. Damit aber ist ein Ende des Schreckens vollkommen unabsehbar. Die Indienstnahme der Rebellion gegen die Herrschaft für die Zwecke der Herrschaftsstabilisierung ist später das Thema der fünften These.

95 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These III Sündenböcke des Kapitalismus III: 1 Das »zurückgebliebene Händlergebaren des Juden«. Die dritte These beginnt mit der Beschreibung einer eigentümlichen Paradoxie: Die Gegenwartsgesellschaft ist durch und durch vom Handeln und Geschäftemachen bestimmt, der Geist des Ökonomischen hat sich universalisiert und über die gesamte Gesellschaft ausgebreitet. Ausgerechnet diese vollkommen von Handel und Produktion, vom Denken in den Kategorien von Verlust und Gewinn geprägte Gesellschaft entrüstet sich nun aber darüber, dass die Juden etwas vom Geschäftemachen verstehen. Wieso um alles in der Welt macht eine Gesellschaft, die das Streben nach Geld und Gewinn zur obersten Maxime erhebt, den Juden genau das zum Vorwurf, was sie sich selber auf ihre Fahnen geschrieben hat? Die »heutige Gesellschaft« dreht sich ums Geschäft, »religiöse Urgefühle und Renaissancen ebenso wie die Erbmasse von Revolutionen« macht sie zu Waren, die auf dem Markt zum Kauf feilgeboten werden. Auch das politische Handeln wird in ein Geschäft verwandelt. Es ist eine Gesellschaft, in der die »faschistischen Führer hinter verschlossenen Türen Land und Leben der Nationen aushandeln«. Niemand wehrt sich gegen das politische Geschäftemachen, jedenfalls solange es sich für die eigenen Interessen rentiert. Das Publikum begnügt sich damit, dass es »den Preis nachrechnet«, es betrachtet die Sache also ebenfalls unter dem Gesichtspunkt des ökonomischen Nutzens. Sogar noch »das Wort, das sie entlarvt«, gilt in dieser Gesellschaft als Ware und als Empfehlung für die Aufnahme in ein »politisches Racket«. Kritik läuft mithin ins Leere, sie wird integriert und neutralisiert. Alles in allem zeichnen die ersten Sätze der These das Bild einer Welt, die nicht nur das Politische als Geschäft, sondern das Geschäftliche als »ganze Politik« versteht. Die Unterschiede zwischen Ökonomie und Politik, Markt und Staat sind hinfällig geworden. Wieso also, um die Frage zu wiederholen, macht ausgerechnet diese Gesellschaft, die sich so sehr dem Ökonomischen verschrieben hat, »das zurückgebliebene Händlergebaren des Juden« zum Stein des Anstoßes und der Verfolgung? Dabei liegt der Akzent zunächst nicht so sehr auf der Zurückgebliebenheit, sondern auf dem »Händlergebaren« bzw. darauf, dass das Händlergebaren 96 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

per se in dieser durch und durch kommerzialisierten Gesellschaft als zurückgeblieben gilt. Die Juden werden als unzeitgemäße »Materialisten« und »Schacherer« stigmatisiert und sollen dem »Feuergeist« derer weichen, »die das Geschäft zum Absoluten erhoben haben«. Haben also die Juden das Geschäft noch nicht zum Absoluten erhoben, und ist das der Grund dafür, dass ihnen solcher Hass entgegenschlägt? Nein, das ist nicht das Argument. Sind die Juden zurückgeblieben, und werden sie als zurückgebliebene Konkurrenten zum Objekt des Hasses und der Vernichtung? Nein, auch das ist nicht das Argument, obwohl es später in der These einen Gedankengang gibt, der dieses Verständnis nahelegen könnte. Die Argumentation der dritten These ist vielmehr die folgende: Die Juden führen mit ihrem angeblich zurückgebliebenen Händlergebaren den Geschäftemachern das Prinzip ihrer eigenen Existenz vor Augen, für das diese sich insgeheim selber verachten. Sie verfolgen in den Juden mithin das, was sie für sich selber zum obersten Gesetz erhoben haben, wofür sie sich aber zugleich hassen. Dieser Gedankengang arbeitet erneut mit einer psychoanalytischen Argumentationsfigur, nämlich mit dem Argument der Projektion und der projektiven Entlastung, das dann im Einzelnen erst später, in der sechsten These, ausführlich zum Gegenstand gemacht und durchdacht wird.

III: 2 »Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion.« Der zweite Absatz gibt einen »spezifisch ökonomischen Grund« für den bürgerlichen Antisemitismus an: »die Verkleidung der Herrschaft in Produktion«. Diese Behauptung führt zum Kern der dritten These. Was mit ihr genau gemeint ist, wird in einer historischen Perspektive, die sich auf die Geschichte der Herrschaft, der Arbeit und der Produktion bezieht, näher erläutert. In der Tat ist es in aller Verdichtung ein Stück Herrschaftsgeschichte, die dem Leser nun präsentiert wird. In »früheren Epochen«, so beginnt die historische Überlegung, waren die »Herrschenden unmittelbar repressiv«. Das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten war von direkter Unterwerfung geprägt, es war im Kern immer ein Verhältnis, das auf Gewalt beruhte, auch wenn die Herrschenden sich vieler Mittel zur Legitimation ihrer Privilegien bedienten, z.B. der Religion oder der Herkunft. Mit diesem Typus der vorbürgerlichen Herrschaft ging ein bestimmtes Verständnis der Arbeit einher. Das Arbeiten wurde den Unteren überlassen und galt als 97 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

»Schmach«. Und umgekehrt war es der Ausweis einer hohen Stellung in der Gesellschaft, dass man nicht zur Arbeit gezwungen war, sondern sich der Muße hingeben und von den Abgaben der Untertanen gut leben konnte. Dieser Stand der Dinge änderte sich mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Arbeit zum wichtigsten Prinzip aufstieg. Alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft müssen und wollen arbeiten. Es ist die Arbeit, die nun über den Status und den Rang, den der einzelne in der Gesellschaft einnimmt, entscheidet, nicht mehr Geburt oder Herkunft oder die Nähe zu Gott. Diese Periode der Geschichte setzte Adorno und Horkheimer zufolge mit dem Merkantilismus ein. In ihm ist der »absolute Monarch« nicht mehr der oberste Repräsentant einer müßigen Gesellschaft, sondern verwandelt sich in eine Instanz, die selber ökonomisch denken und handeln und sich mit der Frage beschäftigen muss, woher der Reichtum kommt und wie er vermehrt werden kann. Zwar ist der Landesherr nach wie vor von Gott eingesetzt und legitimiert, aber er wird mehr und mehr zum »größten Manufakturherrn« und muss sich entsprechend verhalten. Arbeiten, Produzieren und Handeln werden »hoffähig«. Die aristokratische Geisteshaltung der gesamten vormodernen Zeit, die das Arbeiten verachtete und als niedere Tätigkeit verstand, geht ihrem Ende entgegen und wird von der bürgerlichen Epoche abgelöst, in der die Herrschenden »schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt« haben. Von nun an gilt das Prinzip, dass Arbeit nicht schändet, sondern die ehrenvollste aller Tätigkeiten ist. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit, denn es ist in diesen historischen Überlegungen nicht berücksichtigt, dass die bürgerliche Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist, in der die Chancen und Risiken der Arbeit ganz ungleich verteilt sind. Die Bürger singen das Loblied der Arbeit nur deswegen, so lautet die Argumentation der dritten These, weil sie sich die Arbeit der anderen dadurch umso leichter aneignen können. Es gibt also eine heimliche Nähe zwischen den Herren als Bürgern und den Herren als Aristokraten, zwischen den Herren in Zivil und den Herren im bunten Rock. Auch die Bürger nämlich sind, wie die Aristokraten, darauf aus, nicht selber zu arbeiten, sondern andere für sich arbeiten zu lassen und sich die Früchte der Arbeit, die die anderen tun, anzueignen. So dient die Verklärung und Sakralisierung der Arbeit am Ende doch nur dem eigenen Vorteil der Bürger, nämlich dazu, sich selber von der Arbeit freizustellen. Deswegen sind die neuen bürgerlichen Herren nicht weniger die »Raffenden« als ihre Vorgänger. In dem Bild, das sie von sich selber zeichnen, sehen sie das freilich ganz anders und reihen sich »unter die Schaffenden« ein. Die Unterscheidung zwischen Raffenden und Schaffenden, die Adorno und Horkheimer in dieser These aufgreifen, spielte in der Propaganda des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Der nationalsozialistische 98 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

Antikapitalismus hat stets das ›schaffende‹ Kapital, also das Industriekapital, von seinen Anklagen ausgenommen und sich allein gegen das ›raffende‹ Kapital, das Bankkapital gerichtet – und er war damit, wie Neumann (1942: 377) vermutet, überaus populär und erfolgreich. Neumann gibt dafür die Gründe an: Die Banken als Kreditgeber der kleinen und mittleren Geschäftsleute, die immer wieder um ihre Existenz kämpfen müssen, werden stets gehasst. Zinsen, die auf Darlehen erhoben werden, sind sicher nicht das Ergebnis produktiver Arbeit. Deswegen ist das mit dem Bankkapital identifizierte Finanzkapital »die Zielscheibe aller pseudosozialistischen Bewegungen gewesen – Bewegungen, die niemals die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft anzutasten wagten, sondern eine Reform anstrebten, die dem kapitalistischen System die Giftzähne ziehen sollte und den tiefen Widerwillen der Massen gegen Ausbeutung auf bestimmte konkrete Symbole lenkt« (Neumann 1942: 377). Hinter den Angriffen auf das Finanzkapital vermutet Neumann (1942: 377) »die Sehnsucht jedes nicht-industriellen Kapitalisten …, ein Industriekapitalist zu werden«. Tatsächlich habe es eine Phase in der Entwicklung des Kapitalismus gegeben, in der das Bankkapital ausschlaggebend gewesen ist, weil es die Industrien kontrollieren und aufkaufen konnte. Diese Entwicklungsperiode sei aber längst vorbei, weil die Industrieunternehmen nunmehr über genügend eigenes Kapital verfügten, um zu investieren und zu expandieren. Die dritte These der Elemente ist um die populäre Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital herum organisiert. Im Unterschied zu Neumann besteht die Pointe der Argumentation aber nicht darin, dass sich die nicht-industriellen Kapitalisten danach sehnen, Industriekapitalisten zu werden. Es ist nach Horkheimer und Adorno umgekehrt so, dass auch die industriellen Kapitalisten sich insgeheim für Finanzkapitalisten halten, deren Gewinn nicht auf produktiver Arbeit beruht, sondern auf Schacher und Raffgier. Wir haben es bei dieser Überlegung mit dem Echo der alten funktionalistischen These zu tun, in der ja ebenfalls die Unterscheidung zwischen Produktion und Zirkulation eine wichtige Rolle spielte. Aber nun ist überhaupt keine Rede mehr von der Liquidation der Zirkulation. Es ist nicht der Bedeutungsverlust der Zirkulation, der die Begründungslast für die Erklärung des Antisemitismus zu tragen hat, sondern in einer ähnlichen Argumentationsfigur wie in der zweiten These wird die Unterscheidung zwischen Produktion und Zirkulation nun in eine Sündenbockfigur eingebaut. Die Behauptung lautet, dass den Juden das Unrecht der gesamten bürgerlichen Klasse aufgebürdet wird und dass sie mit diesem Unrecht beladen, zur Vernichtung freigegeben werden. Die Überlegung sieht zunächst tatsächlich aus wie die weit verbreitete und früher besonders von den Sozialdemokraten vertretene Sündenbocktheorie des Antisemitismus (vgl. Silberer 1962: 206). Sie steht auch 99 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

hinter der bekannten, vermutlich von F. Kronawetter geprägten Parole, nach der der Antisemitismus der »Sozialismus der dummen Kerls« ist (vgl. Rürup 1975: 118). Diese Formel erklärt den Antisemitismus damit, dass im ersten Schritt die Abschaffung des Kapitalismus auf die Brechung der Zinsknechtschaft reduziert wird und im zweiten Schritt dann die Juden für diese Zinsknechtschaft verantwortlich gemacht werden, so dass die Verfolgung der Juden als der entscheidende Schritt in den Sozialismus erscheinen kann. Horkheimer und Adorno gehen freilich über die herkömmlichen Varianten der Sündenbockthese hinaus, indem sie hinter dem grenzenlosen Hass auf die Juden den Selbsthass der Antisemiten ausmachen, die sich auf dem Weg einer projektiven Entlastung in der Verfolgung der Juden von jenen Elementen befreien wollen, für die sie sich selber verachten. Im Grunde, so lautet das zentrale Argument der dritten These, blieb auch der Fabrikant ein Handelsherr und Bankier. Er war nicht produktiv, sondern er »wagte und strich ein«, er »kalkulierte, disponierte, kaufte, verkaufte« und »konkurrierte« am Markt. Er agierte nicht anders als die typischen Akteure, die in der Zirkulation ihr Betätigungsfeld haben. Zugleich aber ist der Fabrikant nicht nur am Markt tätig, sondern zieht den Gewinn direkt »an der Quelle ein«, d.h. in der Produktion, wo er von der Arbeit »seiner Leute« profitiert und dafür sorgt, dass die Arbeiter so viel wie irgend möglich an ihn abliefern. So ist auch der Fabrikant, ob er will oder nicht, ein »wahre(r) Shylock«, der, wie der mitleidlose und hartherzige Gläubiger in Shakespeares Kaufmann von Venedig, »auf seinem Schein«, d.h. auf dem einmal ausgestellten Schuldschein, besteht und keine Gnade kennt. Formell gesehen insistiert der Fabrikant ganz zu Recht darauf, dass andere für ihn produzieren, schließlich sind Maschinen und Material sein Eigentum. Und der Vertrag, den der Unternehmer mit den Arbeitern schließt, verletzt an keiner Stelle die Gesetze der Gleichheit – es geht formell gesehen alles durchaus mit rechten Dingen zu. Zudem versteht sich der Fabrikant selber als Produzent, der zu Recht seinen Anteil am Gewinn einstreicht. Aber insgeheim wissen die Unternehmer durchaus, dass sie von den anderen leben, die für sie die Arbeit machen – und dafür und deswegen verachten sie sich. Die Behauptung, dass die kapitalistischen Unternehmer zu den produktiven Arbeitern zu zählen sind, ist Ideologie, die nur dazu dient, »das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des Wirtschaftssystems überhaupt« zuzudecken. In diese Überlegungen gehen zweifellos wesentliche Elemente der Kapitalismusanalyse von Marx ein. Danach basiert der Kapitalismus auf dem Prinzip der Ausbeutung und ist insgesamt durch das Streben nach Mehrwertproduktion und Profitmaximierung charakterisiert. Er beruht aber, formell gesehen, nicht auf Raub und Gewalt, sondern auf dem vertragsförmig geregelten Äquivalententausch. Auch der Vertrag zwischen 100 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

dem Besitzer der Ware Arbeitskraft und dem kapitalistischen Fabrikanten verletzt nicht die Regeln der Gewaltlosigkeit und Reziprozität. Die Erzielung des Mehrwerts geht nicht auf einen ungleichen Tausch zurück. Zugleich aber ist es so, dass das System insgesamt ungerecht ist und die arbeitende Klasse übervorteilt und betrogen wird. Der Grund dafür liegt in der eigentümlichen Qualität des Tausches zwischen Arbeitskraft und Kapital, denn immer produziert der Arbeiter mehr Wert als er für die Erhaltung seiner Arbeitskraft an Lohn ausbezahlt erhält. Die Differenz zwischen diesen beiden Größen, zwischen dem Wert der Ware Arbeitskraft und dem von den Arbeitern geschaffenen Wert, streicht der Unternehmer als Profit ein. Dass nicht die Zirkulation, sondern die Produktion für die Ungerechtigkeit des Kapitalismus verantwortlich ist, ist aber für den Arbeiter nur schwer durchschaubar. Die Erfahrung, dass er betrogen wird und zu kurz kommt, verbindet er normalerweise nicht mit seiner Rolle als Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft, sondern mit seiner Rolle als Käufer und Konsument auf dem Warenmarkt. Im Zentrum der kapitalistischen Produktionsweise steht die Beziehung zwischen Arbeit und Kapital. Sie entspricht dem Prinzip des Äquivalententausches und des Vertrags zwischen formell Gleichen. Die englischen Ökonomen des 18. Jahrhunderts waren die ersten, die diese vertragliche und egalitäre Seite des Arbeitsverhältnisses entdeckt und formuliert haben. Der Arbeitsvertrag regelt das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung, also den Austausch zwischen Arbeitskraft und Einkommen. Er fügt sich in einen Mechanismus ein, der Leistungen und Gegenleistungen aufgrund einer bestimmten Leistungsauffassung misst und vergleicht (vgl. Dubet 2006: 23). Jede Ware wird danach bezahlt, wieviel Arbeitszeit zu ihrer Produktion und Reproduktion nötig ist. Mit der Ausdehnung der Marktbeziehungen, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auch die Arbeitskraft ergreift, geht eine enorme Entfesselung der Produktivkräfte und der Produktivität einher, eine explosionsartige Steigerung des Reichtums. Das ist von Adam Smith und im Anschluss an ihn von Karl Marx geradezu mustergültig beschrieben worden. Nun besteht freilich die Pointe der Darstellung von Marx darin, dass das Arbeitsverhältnis im Kapitalismus zwar formell die Gesetze der Gleichheit einhält, in Wirklichkeit und in seinem verborgenen Kern aber die Elemente einer hierarchischen Struktur zeigt, also auf Herrschaft beruht und Ungleichheit voraussetzt und beständig reproduziert. Marx zeigt, dass wir es bei den Arbeitsbeziehungen des Kapitalismus mit einer Form der Ausbeutung zu tun haben, d.h. mit einem Verhältnis, in dem sich die herrschenden Akteure und Gruppen die Arbeitsleistung anderer aneignen, daraus ein privates Gut machen und der Auffassung sind, dass das nicht auf Raub basiert, sondern ihnen zusteht (vgl. Dubet 2006: 28). Was von der Kritik der politischen Ökonomie durch Marx als Ausbeutung und Profitmaximierung beschrieben wird, schlägt sich 101 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

auf Seiten der Lohnarbeiter in dem subjektiven Gefühl nieder, dass sie eine ganz und gar undankbare Plackerei verrichten, bei der sie am Ende immer die Betrogenen sind. Die Mühen des Arbeitens werden nicht angemessen belohnt, sie sind Teil eines Systems der Ausbeutung, und die Lasten- und Nutzenverteilung ist asymmetrisch und ungerecht. Die einen machen die Arbeit, das ist die Mehrheit der Gesellschaft, und die anderen, die wenigen, profitieren davon, stecken den Gewinn in die eigenen Taschen und geben den Arbeitern nur das absolute Minimum zurück. »Diese Ausbeutung ist eine Herrschaft, die sich in einer Kette von Drohungen, Zwängen und Gemeinheiten ausdrückt. Sie ist kein bloßer Diebstahl, sie ist moralisch intolerabel, weil sie alle menschlichen Beziehungen pervertiert.« (Dubet 2006: 121) Das subjektive Gefühl der Ausbeutung auf Seiten der Arbeiter beruht auf der Diskrepanz zwischen Leistung und Gegenleistung. Weil aber formell alles mit rechten Dingen zugeht und die allgemeinen Gesetze des Äquivalententausches eingehalten werden, ist es sehr schwierig, diesem Gefühl angemessenen Ausdruck zu geben und seine Ursachen und seine Begründung in der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen.

III: 3 Dem Juden wird »das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet«. Wie kommen die gesellschaftlichen Ungleichheiten zustande? Wer trägt die Schuld an ihnen? Die Antwort der Antisemiten ist eindeutig: Es liegt an den Juden. »Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden.« Der Jude soll derjenige sein, der den Arbeitern das, was ihnen vorenthalten wird, wegnimmt und stiehlt. Für die Antisemiten ist der Jude der Inbegriff des raffenden Kapitals. Er wird damit tatsächlich zum »Sündenbock … in dem umfassen Sinn, dass ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird«. Das klingt zwar noch wie eine weitere Umdrehung der Instrumentalisierungsbehauptung, die ja insgesamt mit der Sündenbockterminologie verbunden ist. Hier steht aber nicht die gezielte Strategie, das Drahtziehen, die bewusste Ablenkung im Zentrum, sondern Adorno und Horkheimer wollen in dieser These den Antisemitismus aus der strukturellen Logik des Kapitalismus herleiten. Und es handelt sich nicht mehr um die funktionalistische Erklärung des Antisemitismus aus dem ökonomischen Motiv der Konkurrenz oder dem politischen Motiv der Ablenkung, sondern um die Herleitung des Antisemitismus aus der Differenz zwischen industriellem und ›raffendem‹ Kapital. 102 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

Es gehört zur Logik des Kapitalismus, dass beim ›schaffenden‹ Kapital, also in der Sphäre der Produktion, in der Fabrik, alles mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Der Fabrikant hat »seine Schuldner, die Arbeiter«, »unter den Augen«. Die realen Arbeitsbeziehungen in der Fabrik tragen Züge eines fast direkten, persönlichen Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung, das anonyme Tauschgesetz des Kapitalismus verwandelt sich in eine Beziehung zwischen Personen. Freilich: »In Wirklichkeit« geht auch in der Fabrik etwas ganz anderes vor. Die Gewichte im Verhältnis zwischen den kapitalistischen Unternehmern und den Arbeitern sind ganz ungleich verteilt – am Ende sind immer die Arbeiter die Leichtgewichte. Dass der Produktionsprozess in Wirklichkeit ein Prozess der Ausbeutung ist, in dem die Arbeiter den Kürzeren ziehen, ist aber am Ort der Produktion, in der Fabrik, nicht sichtbar und erfahrbar. Was vorgeht, bekommen die Arbeiter »erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können«. Sie erfahren die Ausbeutung, der sie ausgesetzt sind, also erst in ihrer Rolle als Konsument. Erst dort sehen sie, wie wenig sie für ihren Lohn an Waren bekommen und »was sie sich nicht leisten können«. Sie bekommen kaum mehr als »das sogenannte kulturelle Minimum«. Oder, in der Sprache der politischen Ökonomie gefasst: »Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird.« Nun wird den Arbeitern die Rechnung präsentiert, deren Existenz sie zwar ahnten, deren ganze Dimension ihnen aber erst jetzt vor Augen geführt wird. Nicht im Produktionsprozess, sondern hier, in der »Zirkulationssphäre«, erfahren die Arbeiter die Ungleichheit und die Ausbeutung, der sie ausgesetzt sind. Der Kaufmann erscheint nun als derjenige, der ihnen ihren Anteil vorenthält. »Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die andern auf sich. Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.« Für die Erklärung des Antisemitismus ist der springende Verbindungspunkt zu dieser ökonomischen Analyse, dass die Juden diejenigen zu sein scheinen, die die Zirkulation in ihren Händen halten. Das muss zunächst durchaus nicht heißen, dass das tatsächlich der Fall ist, sondern nur, dass die Antisemiten und die Völkischen mit Erfolg das Bild verbreiten, dass es so ist. In seinem Essay Die Juden und Europa hat Horkheimer, wie ich in meinen Interpretationen später noch ausführlich zeigen werde, die Behauptung vertreten, dass die Juden tatsächlich die Sphäre der Zirkulation beherrschen. Der Antisemitismus wird dort von Horkheimer in einem Kurzschluss darauf zurückgeführt, dass durch die Logik der kapitalistischen Entwicklung die Zirkulationssphäre überflüssig gemacht wird und damit auch die in dieser Sphäre tätigen Personen, nämlich die Juden, zu einer überflüssigen Population werden, die man zur Liquidierung freigeben kann. 103 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Die dritte These der Elemente operiert ebenfalls mit ökonomie- und kapitalismuskritischen Überlegungen. Aber an die Stelle der Behauptung vom Bedeutungsverlust der Zirkulation tritt nun die Behauptung, dass der Markt der Ort ist, an dem etwas in Erscheinung tritt, das eigentlich in der Produktion seinen Entstehungsort hat: Das Element des Betrugs, das unausweichlich mit dem Kapitalismus verbunden ist, obwohl in ihm formell alles mit rechten Dingen zugeht. Und da die Juden in dieser Sphäre die dominierende Gruppe zu sein scheinen, werden sie als Betrüger wahrgenommen und verfolgt. Vollständig wird das Argument aber erst, wenn man es mit den Überlegungen aus dem ersten und zweiten Absatz der These verbindet, also mit der Behauptung, dass die Industrieherren sich selber insgeheim ebenfalls für Betrüger halten, diese Tatsache aber abspalten, den Juden in die Schuhe schieben und sie für etwas verfolgen, das in Wahrheit zu ihnen selber dazugehört.

III: 4 »Antisemitismus ist Selbsthass, das schlechte Gewissen des Parasiten.« Im dritten Absatz dieser These war der Antisemitismus aus der Perspektive der Arbeiter das Thema. Im vierten Absatz wird nun der Antisemitismus der Bürger in den Blick genommen. Der Absatz widmet sich zunächst der realen Rolle der Juden in der Sphäre der Zirkulation. Die Juden hätten die Zirkulationssphäre zwar »nicht allein besetzt«, aber sie waren »allzu lange in sie eingesperrt«, weil ihnen andere Berufe nicht offenstanden. Der Zugang zum »Ursprung des Mehrwerts«, also zur Produktion, war ihnen »weithin verschlossen«, man hat sie zum Eigentum an Produktionsmitteln »nur schwer und spät gelangen lassen«. Diese Tatsache ist nicht ohne Wirkung geblieben. Sie hat dazu geführt, dass die Juden den Hass, der ihnen als Vertretern der Zirkulationssphäre aus den vorher benannten Gründen entgegengebracht wurde, »durch ihr Wesen zurückspiegelten«. Mit anderen Worten: Die Juden sind tatsächlich ein Stück weit so geworden, wie es die Antisemiten behaupten. Diese Charakterzüge sind aber durch eine lange Geschichte der Einsperrung in die Zirkulationssphäre erst hervorgerufen worden und kommen den Juden keineswegs von Natur aus zu. Die Überlegung lautet, dass vielleicht doch nicht alles, was die Antisemiten den Juden zuschreiben, auf purer Projektion beruht und überhaupt kein fundamentum in re hat, wobei freilich die Antisemiten etwas in die Natur verlegen, was in Wirklichkeit historische Bedingungen und Hintergründe aufweist und das Resultat einer Geschichte von Herrschaft und Unterdrückung ist. Was die Antisemiten 104 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

den Juden vorwerfen, ist etwas, was sie selber durch eine Jahrhunderte währende Unterdrückung aus ihnen gemacht haben. Zwar haben es die »getauften Juden« in der Geschichte Europas und noch im deutschen Kaiserreich gelegentlich weit gebracht und »hohe Stellungen in Verwaltung und Industrie« eingenommen, aber, »das ist der Sinn der Taufe«, sie mussten das immer mit »doppelter Ergebenheit« bezahlen, mit »beflissenem Aufwand, hartnäckiger Selbstverleugnung«. Was Horkheimer und Adorno hier festhalten, ist bei Konvertiten immer wieder beobachtet worden. Sie neigen dazu, das, was sie hinter sich lassen, zu verleugnen, sie sind überangepasst an ihren neuen Status und suchen sich auf diese Weise immer wieder zu bestätigen, dass sie mit ihrer Konversion richtig gehandelt haben. Aber alle Bemühungen und Anstrengungen sind für den Juden am Ende erfolglos geblieben. Sie haben seine Aufnahme »in die Völker Europas« nicht zustande gebracht: »man ließ ihn keine Wurzeln schlagen und schalt ihn darum wurzellos«. Die Juden blieben immer ›Schutzjuden‹, »abhängig von Kaisern, Fürsten oder dem absolutistischen Staat«. Diese benutzten ihrerseits die Juden für ihre Zwecke, und sie schützten die Juden, solange sie sie brauchen konnten, »gegen die Massen, welche die Zeche des Fortschritts zu zahlen hatten«. Die Juden waren diejenigen, die als »Kolonisatoren des Fortschritts« und als »Vertreter städtischer, bürgerlicher, schließlich industrieller Verhältnisse« die modernen kapitalistischen und bürgerlichen Existenzformen »in die Lande« trugen und dadurch den Hass derer auf sich zogen, die die Verlierer dieser Modernisierung waren, vor allem also der Handwerker und der Bauern. Gegenüber diesen waren die Juden die Vertreter des »wirtschaftlichen Fortschritts«. Nun aber schreitet der wirtschaftliche Fortschritt, dessen avancierte Vertreter die Juden ehedem waren, über sie selber hinweg, macht sie nutzlos und scheidet sie als Überflüssige aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben aus. Jetzt erweist sich an ihnen, was sie selber früher gegenüber den Handwerkern und Bauern exekutiert haben, nämlich dass das kapitalistische Wirtschaftssystem einen »ausschließenden, partikularen Charakter« hat. Es ist unschwer zu erkennen, dass hier noch einmal die alte Hypothese von der Liquidation der Zirkulation ins Spiel kommt und damit zugleich die Behauptung, dass nun eben die Juden, die in dieser Sphäre ihre ökonomische Basis hatten, überflüssig geworden sind. Die Juden, die in der Zirkulationssphäre ihre Erfolge hatten, lebten immer schon in »hoffnungsloser Defensive«, bis heute, wo sogar der »jüdische Regent eines amerikanischen Vergnügungstrusts« sich keineswegs sicher fühlen kann. Die neueste Gesellschaft braucht die Kolonisatoren des Fortschritts, die die Juden einmal waren, nicht mehr. Sie rechnet sie nun zu den »Gespenstern ihrer Vorgeschichte«, die sie nicht mehr benötigt und an die sie als frühes Stadium ihrer Entwicklung auch nicht mehr erinnert werden möchte. 105 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Mit ihrer beherrschenden Rolle in der Zirkulation ging einher, dass die Juden in der Ideengeschichte immer zu denen gehörten, die »den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten«. Sie sind mithin diejenigen, die auf dem Gebiet der geistigen, rechtlichen und politischen Entwicklung stets zu den Protagonisten der spezifisch modernen und fortschrittlichen Bewegungen zu rechnen sind. Sie standen auf der Seite der Abstraktion. Im Bericht über das Antisemitismusprojekt des Instituts ist etwas ausführlicher entwickelt, was in den Elementen hier nur sehr kurz und in einigen Stichwörtern angedeutet ist. Dort wird der römische Ursprung des Zivilrechts mit der Rolle der Gläubiger in Verbindung gebracht. Das Zivilrecht ziele auf den Schutz des Eigentums und sei damit gegen den Schuldner gerichtet. Und weil sich die Juden aufgrund ihrer Funktion als Bankiers und Kaufleute stets in der Rolle des Gläubigers befanden, standen sie gewöhnlich auf der Seite des Vernunftrechts, während ihre Feinde für ein vages Naturrecht eintraten, das den gesunden Menschenverstand für sich in Anspruch nahm (vgl. Horkheimer 1941: 402). Auch das besondere Vermögen zur Abstraktion hat in seinen Ursprüngen mit der Handels- und Finanzfunktion, mit der Abstraktionsqualität des Geldes zu tun. Die Warenwirtschaft behandelt alle Teilnehmer als gleiche und macht keinen Unterschied nach Geburt oder Religion. Es kommt nicht darauf an, wer die Menschen sind, sondern nur darauf, mit welcher Ware sie handeln und was sie zu bieten haben. Darin liegt der Ursprung der Abstraktion. »Die abstrakte Vorstellung vom Ding als einer Ware entspricht der abstrakten Vorstellung vom Menschen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man Kunstwerke, Baumwolle oder Gewehre verkauft.« (Horkheimer 1941: 402) Und tatsächlich sei nicht zu leugnen, dass die Juden, historisch gesehen, »schon immer einen Hang zum kühnen abstrakten Denken« hatten. Das habe auch zu tun mit der »Idee eines Gottes…, der alle Menschen als Gleiche betrachtet« (Horkheimer 1941: 403). Damit seien die Juden generell die Vorreiter einer aufgeklärten Denkungsart, die »die menschlichen Beziehungen und Dinge von ihren Tabus« befreit und sie »in die Sphäre der Vernunft« hebt. »Daher kommt es, daß die Juden im Kampf um Demokratie und Freiheit schon immer in vorderster Linie gestanden haben.« (Horkheimer 1941: 403) Gerade die Juden also, die immer an der Spitze des fortschrittlichen Denkens standen, werden nun in einer vollkommenen Regression wieder zu einer »Spezies« gemacht und unter »der Jude, ohne Unterschied« subsumiert. Daran erweist sich die ganze Kraftlosigkeit der Entwicklung der Individualisierung und des modernen Rechts, deren avancierte Vertreter die Juden in der historischen Entwicklung waren. Und es ­erleichtert den Verfolgungsdrang der Antisemiten, dass die Juden nicht in die zentralen Stellen der politischen Macht vordringen konnten. Auch noch im 19. Jahrhundert waren die Juden ohnmächtig und 106 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sündenböcke des Kapitalismus

zu ihrem Schutz immer auf die »Zentralgewalt« des Staates angewiesen. Ihr Status blieb gesellschaftlich prekär, und die Angst vor Ausnahmezustand und Ausnahmegesetz war ihr »Schreckbild«. Die Juden waren stets »Objekt« und der »Gnade ausgeliefert«, niemals waren sie im vollen Besitz und in der vollen Sicherheit der Garantien des Rechts. Was Horkheimer und Adorno in diesen dichten Ausführungen ansprechen, lässt sich durch die Rolle der Juden beim spannungsreichen und über lange Zeiträume andauernden Übergang des dynastischen in den modernen bürokratischen Staat bestätigen. Während sich die dynastische Logik an der Reproduktion des Hauses und der Familie orientiert, wird die Verteilung der Positionen im modernen Staat nach dem Gesichtspunkt der fachlichen Qualifikation und Leistung vergeben, die über das Schulsystem verläuft. In der Reproduktion der Bürokratie spielen immer wieder Außenseiter und Fremde eine wichtige Rolle, deren Vorzug gerade darin besteht, dass sie in keinerlei verwandtschaftlicher Beziehung zu den Landesbewohnern stehen. Ferner ist es für die Durchsetzung der bürokratischen Logik wichtig, dass das Fachbeamtentum den Geist des Amtes pflegt und verinnerlicht hat. Beide Bedingungen werden von den Juden auf herausragende Weise erfüllt. Sie waren bekannt »für ihre berufliche Verlässlichkeit, ihre Fähigkeit, präzise Dienste zu leisten und eine bestimmte Ware zu einem bestimmten Datum zu liefern« (Bourdieu 2012: 461). Der dafür zu entrichtende Preis war hoch. Eifersüchtig wurde darüber gewacht, dass die Juden nicht zu mächtig wurden. Sie mussten »militärisch und politisch machtlos gehalten werden, damit man ihnen Werkzeuge an die Hand geben konnte, die in anderen Händen für den, der sie ihnen anvertraute, gefährlich gewesen wären« (Bourdieu 2012: 461; vgl. Gellner 1983: 153ff). Die letzten drei Sätze der These springen ohne Übergang noch einmal zurück in die Frage der Zirkulation und die Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital. Zunächst wird noch einmal darauf verwiesen, dass Handel und Finanzen nicht der »Beruf« der Juden waren, sondern ihr »Schicksal«. Die Juden haben diese Sphäre nicht freiwillig gewählt, sie wurden in sie hineingezwungen. Sie haben dann allerdings die Rollen, die die Welt der Zirkulation ihnen aufnötigte, sehr gut gespielt, waren erfolgreich und haben nach und nach die Charakterzüge ausgebildet, die in dieser Sphäre verlangt werden. Nun werden sie gehasst, weil sie mit Handeln etwas tun, was das »Trauma des Industrieritters« ist, »der sich als Schöpfer aufspielen muss«. Und weil die Juden in ihrem Habitus, in ihrem »Jargon« den Industrieritter an diese Sphäre des Raffens und des Schachers erinnern, der die Fabrikherren sich selber insgeheim doch ihrerseits zurechnen müssen, deswegen hasst der Fabrikant die Juden: »sein Antisemitismus ist Selbsthass, das schlechte Gewissen des Parasiten.« 107 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These IV Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus IV: 1 Die »unbeherrschte Sehnsucht wird als völkische Rebellion kanalisiert«. Die vierte These hat das Verhältnis von Antisemitismus und Religion zum Thema, genauer: die christlichen Motivierungen des Antisemitismus. Sie beginnt mit dem Hinweis auf das Selbstverständnis des völkischen und rassistischen Antisemitismus, in dem die Religion keine Rolle mehr spielt. Der völkische Antisemitismus beruft sich nicht auf Fragen des Glaubens, sondern auf die »Reinheit von Rasse und Nation« und auf die Wissenschaft. Offiziell also verzichtet der moderne Antisemitismus auf jede Art religiöser Begründung. Generell sei es so, dass Religionsfragen kaum noch jemanden interessieren. Die »Sorge ums ewige Heil« kümmert niemanden mehr, aus der Religion ist ein Kulturgut geworden. Weil alle Religion antiquiert ist, könne man auch »keine Masse mehr in Bewegung setzen«, wenn man den Juden vorwirft, sie seien »verstockte Ungläubige«. Aber Horkheimer und Adorno sind durchaus nicht bereit, diesem Selbstverständnis zu folgen. Die »religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb« kann ihrer Vermutung nach nicht einfach erloschen und spurlos verschwunden sein. Gerade der »Eifer«, mit dem die völkischen Antisemiten religiöse Ursachen und Begründungen ihres Verhaltens von sich weisen und als antiquiert ausgeben, weckt ihre Skepsis. Adorno und Horkheimer sind ohnedies der Überzeugung, dass die Religion in der modernen Gesellschaft nur »als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben« worden ist. »Aufgehoben« wäre sie, wenn ihr Wahrheitsgehalt und ihr Versprechen aufgegriffen und in neuer Gestalt lebendig geblieben wären. Durch die Eingliederung der Religion als »Kulturgut« sind nur ihre »verdinglichten Formen« weitergetragen, aber das »Moment ihrer Wahrheit« ist vergessen und vom »Zugang zum Bewusstsein abgeschnitten« worden. Dafür ist das »Bündnis von Aufklärung und Herrschaft« verantwortlich. Denn die aufklärerische Religionskritik hat zwar den Betrugscharakter der Religion herausgearbeitet und kritisiert, aber damit zugleich die »unbeherrschte Sehnsucht« verraten, die in der Religion zum Ausdruck kommt. Von beidem, vom Absperren des Moments der Wahrheit der Religion wie von ihrer 108 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus

Eingliederung in verdinglichter Gestalt, profitiert der Faschismus. Jene unbeherrschte Sehnsucht, die sich in der Religion nicht mehr artikulieren kann und dort keinen legitimen Ort mehr findet, wird zur Antriebskraft der faschistischen Bewegung und »als völkische Rebellion kanalisiert«. Mit dieser Formulierung unterstreichen Horkheimer und Adorno, dass der Faschismus von rebellischer, anti-autoritärer Energie angetrieben wird, aber es zugleich versteht, diese Energie so zu kanalisieren, dass sie am Ende zur Stabilisierung von Herrschaft und Unterdrückung eingesetzt werden kann. Diese eigentümliche Dynamik, die die seelische Energie des Faschismus charakterisiert, wird später in der fünften These der Elemente ausführlich erörtert. Die vierte These begnügt sich zunächst damit, den Antisemitismus auf religiöse Motive hin zu befragen. Sie greift dazu Phänomene auf, die auch andere am Faschismus beobachtet und unter der Rubrik politische Religion abgehandelt haben. Die »Verschworene(n) der Blutsgemeinschaft und Elitegarden«, also die Angehörigen der verschiedenen bündischen Gemeinschaften der faschistischen Bewegungen, sind die Wiedergänger der christlichen »Schwarmgeister« und Ekstatiker. Die »Wagnerschen Gralsritter« liefern dafür das »Modell«. Wagner hat in seinen Musikdramen die Kunst in die Nähe der Religion gerückt – im Parsifal waren die Gralsritter die erkennbaren Wiedergänger der zwölf Apostel, und der tumbe Tor Parsifal ist der Erlöser und Heilsbringer der Menschheit des 19. Jahrhunderts. Auch die Faschisten stellen das Politische unter die Vorzeichen von Heilsgeschehen, Opfer und Erlösung, und die Person des Führers erscheint ihnen als der neue Messias. Die Heilserwartung, über Jahrhunderte hinweg mit der Religion verbunden und in Wagners Kunstreligion zum Kern der Musik erklärt, ist nach Horkheimer und Adorno tatsächlich als mächtige Triebkraft in den Faschismus eingegangen. Die kultisch-rituelle Seite der Religion dominiert, »ins Gepränge von Massenkultur und Aufmärschen transponiert«, das äußere Erscheinungsbild der faschistischen Bewegungen. Hinzu kommt, dass auch die Kirchen, die »Religion als Institution«, ganz direkt und unmittelbar mit dem totalitären System »verfilzt« sind. Der »fanatische Glaube«, der früher die christlichen Glaubensgemeinschaften auszeichnete und »die Verzweifelten bei der Stange hielt« – von ihm existiert nur noch die Form des Fanatismus, der Führer und Gefolgschaft in den faschistischen Bewegungen und in der Volksgemeinschaft zusammenschweißt. Aber vom »Inhalt« des christlichen Glaubens und seiner Botschaft ist nichts übrig geblieben außer dem puren »Hass gegen die, welche den Glauben nicht teilen«, also der Aufspaltung der Menschen in diejenigen, die der eigenen (Bluts-)Gemeinschaft angehören, und diejenigen, die außerhalb stehen und damit von vornherein des Teufels sind. Genauso verhält es sich bei der protestantischen Bewegung 109 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

der »deutschen Christen«, bei denen von der »Religion der Liebe« nur die Kehrseite übrig blieb, der Hass auf die Juden.

IV: 2 »Der Gott des Judentums fordert, was ihm gebührt… Demgegenüber hat das Christentum das Moment der Gnade hervorgehoben«. Nach diesem Einstieg folgen drei Absätze mit komplizierten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. Diese Überlegungen sind zum Teil religionsgeschichtlicher, zum Teil systematischer Art. Sie verfolgen allesamt die Absicht, im Verhältnis der Religionen zueinander die Motive für die Feindschaft gegen die Juden ausfindig zu machen, die auch im völkischen Antisemitismus noch untergründig am Werke sind. Das Christentum, so lautet der erste Satz, ist »nicht bloß ein Rückfall hinter das Judentum« – woraus immerhin zu schließen ist, dass es durchaus auch ein Rückfall ist. Auf diesen Gesichtspunkt wird später ausführlicher eingegangen. Um das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum näher zu bestimmen, stellen Horkheimer und Adorno zunächst dar, wodurch der Gott der Juden charakterisiert ist. Sie kombinieren das mit einem Stück realer Religionsgeschichte, die im Judentum den Übergang vom Henotheismus in den Monotheismus sieht. Den Begriff des Henotheismus hat der Indologe Friedrich Max Müller (1880) in die Religionswissenschaft eingeführt und damit den Sachverhalt gekennzeichnet, dass eine Gottheit absolut gesetzt wird, ohne dass damit zugleich andere Gottheiten geleugnet und ihre Verehrung verboten worden wäre. Müller hatte das zunächst auf die indische Religionsgeschichte bezogen. Aber es ist in der Religionswissenschaft üblich geworden, den Henotheismus generell als eine Zwischenstufe in der Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus zu betrachten (vgl. Bauks 2007). Das Alte Testament, die Bibel der Juden, zeigt in den Charakterisierungen Jahwes die Züge dieses Übergangs. Adorno und Horkheimer behaupten, dass der »universale«, also der monotheistische Gott der Juden, die »Züge des Naturdämons noch nicht völlig abgeworfen« hat. Tatsächlich gibt es eine Reihe entsprechender Stellen im Alten Testament, die dafür als Beleg herangezogen werden können. So wird dem Mose kurz vor seinem Tod von Jahwe ein Lied offenbart, in dem von der Halsstarrigkeit und Widergesetzlichkeit des Volkes Israel die Rede ist und davon, dass Jahwe zu schrecklichen Vergeltungsmaßnahmen greifen wird: »In meiner Nase ist Feuer entbrannt. Es lodert bis in die unterste 110 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus

Totenwelt, verzehrt die Erde und was auf ihr wächst und schmilzt die Fundamente der Berge. Immer neue Not bürde ich ihnen auf, ich setze gegen sie alle meine Pfeile ein. Sie werden ausgemergelt durch den Hunger, verzehrt durch die Pest und die verheerende Seuche. Den Zahn der Raubtiere lasse ich auf sie los, das Gift der im Staube Kriechenden.« (Die Bibel: Dtn 32: 22–24) In der präanimistischen Phase der Menschheit ging der »Schrecken« von der Natur aus. In der hebräischen Bibel wird der Schrecken dann gleichsam personifiziert. Jahwe, der Gott der Juden, wird zum »Schöpfer und Beherrscher«, der die Natur unterworfen hat. Damit wird er zugleich aber auch zum Inbegriff von Absolutheit und Allmacht. Er ist von einer »unbeschreiblichen Macht und Herrlichkeit« und in dieser Qualität sehr weit von den Menschen entfernt. Aber bei aller »Entfremdung« gegenüber den Menschen ist der Gott der Juden zugleich doch immerhin »dem Gedanken erreichbar«, und durch die Beziehung auf dieses Höchste und Transzendente wird das Denken seinerseits universal und aufgewertet. So ist Jahwe nicht nur ein Naturdämon, sondern zugleich »Gott als Geist« und tritt in dieser Qualität der Natur »als das andere Prinzip entgegen«, als das Versprechen, aus dem »blinden Kreislauf« der Natur, aus dem bloßen Wechselspiel von Werden und Vergehen herauszuführen. Erreichbarkeit und Geistigkeit sind nur die eine Seite des jüdischen Gottes. Neben dem Versprechen, aus dem Kreislauf der Natur herauszuführen, bleibt Jahwe »in seiner Abstraktheit und Ferne« doch ein Gott voller Schrecken, der nichts neben sich duldet. Er ist der Inbegriff »unausweichlicher Gewalt«, gegen dessen autoritäre Setzung des »Ich bin« weder Zweifel noch Einspruch erlaubt sind und keinerlei Spielraum bleibt. Während der »Spruch des anonymen Schicksals« vieldeutig war und ein Ausweichen zuließ, ist der jüdische Gott eindeutig, gnadenlos und unerbittlich. Er duldet keine Macht neben sich, verlangt völlige Unterwerfung, »fordert, was ihm gebührt, und rechnet mit dem Säumigen ab«. »Schuld und Verdienst« sind die einzigen Maßstäbe, nach denen er das Verhalten der Menschen bewertet und einstuft. Das Christentum unterscheidet sich von der Strenge, Unnachgiebigkeit und Absolutheit des jüdischen Gottes dadurch, dass es dem »Moment der Gnade« und des unverdienten Lohns eine deutlich größere Rolle einräumt. Nach Horkheimer und Adorno nimmt das Christentum damit ein Element auf, das im jüdischen »Bund Gottes mit den Menschen und in der messianischen Verheißung enthalten ist«. Das ist ein Beleg für die Aussage, dass das Christentum auch ein Fortschritt gegenüber dem Judentum ist. Ich lasse die Frage auf sich beruhen, ob diese Interpretation der Bundesidee wirklich tragfähig ist. Man könnte einwenden, dass Jahwe die Erfüllung seiner Versprechen an die strikte Einhaltung strenger Bedingungen auf Seiten der Israeliten knüpft. Ihre Nichteinhaltung, etwa beim Tanz um das Goldene Kalb, also beim Rückfall in 111 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

die Zeiten des Götzendienstes, wird mit unnachgiebigen Strafen geahndet. Da kennt Jahwe durchaus keine Gnade. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass die Figur des Bundes in der Religionsgeschichte und in der Geschichte des politischen Denkens von weitreichender Bedeutung ist. Gerade im Übergangsfeld zwischen Religion und Politik spielt sie eine herausragende Rolle, wie Michael Walzer (1985) gezeigt hat. Ferner steht sie im Hintergrund der Vertragsidee, mit der im 17. Jahrhundert das neuzeitliche politische Denken beginnt, und zeitigt in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts bedeutsame praktische Konsequenzen (vgl. König 2008: 193ff). Den politischen Konsequenzen der Figur des Bundes gehen Horkheimer und Adorno nicht nach. Sie begnügen sich mit der Feststellung, dass mit der christlichen Betonung der unverdienten Gnade der »Schrecken des Absoluten« deutlich gemildert wird. Im Christentum nimmt Gott in seinem Sohn menschliche Züge an und wird selber zum Menschen. Das heißt zugleich, dass »die Kreatur in der Gottheit sich selbst wiederfindet«. Gottes Sohn wird mit einem »menschlichen Namen gerufen und stirbt einen menschlichen Tod«. »Fürchtet Euch nicht« – diese Aufforderung des Weihnachtsevangeliums wird zur zentralen Botschaft der christlichen Religion, und damit ist der Schrecken sowohl der übermächtigen Natur wie des Gottes Jahwe gebrochen. Das strenge und unnachgiebige »Gesetz« des alttestamentlichen Gottes »zergeht vor dem Glauben«, und nur ein einziges Gebot, das »größer als alle Majestät« ist, bleibt bestehen: »die Liebe«. Gnade und Liebe sind für das Christentum die entscheidenden Glaubenselemente, und mit ihnen unterscheidet es sich von der Glaubenslehre der Juden, in der sich der Glaube im Kern in der Einhaltung der Gesetze unter Beweis stellt.

IV: 3 »Aber kraft der gleichen Momente, durch welche das Christentum den Bann der Naturreligion fortnimmt, bringt es die Idolatrie, als vergeistigte, nochmals hervor.« Auf dem Weg, auf dem das Christentum die naturreligiösen Züge der jüdischen Religion hinter sich gelassen hat, reproduziert es nun allerdings zugleich eine andere Form der Unterwerfung. Sie besteht nicht mehr in der Unterwerfung unter eine ferne, unerreichbare und streng herrschende Gottheit, sondern in einer Idolatrie, die das Christentum »als vergeistigte« selber erzeugt und hervorbringt. Der Bann, der das Christentum charakterisiert, ist nicht mehr der Bann der Natur, sondern 112 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus

die Idealisierung des Endlichen und der profanen Realitäten. Einerseits vermenschlicht das Christentum das Absolute, es verleiht ihm irdische, endliche Züge, macht es dadurch zugänglich und ermöglicht die Bearbeitung des Schreckens und die Vorstellung seines Endes. Andererseits aber führt genau diese Veränderung dazu, dass das Irdische und Endliche »verabsolutiert« wird und damit eine Aufwertung erfährt, die ihm gar nicht zukommt. Horkheimer und Adorno konstatieren im Christentum also einen eigentümlichen Doppelcharakter: Gott wird vermenschlicht, das Wort wird Fleisch, das Absolute endlich. Im gleichen Zug aber wird das Endliche verabsolutiert, vergeistigt, aufgewertet und damit auf eine Weise dem Unendlichen und Göttlichen angenähert, die ganz voreilig und unangemessen ist. Die Aufwertung ist das Werk von Jesus Christus. In ihm wird der absolute Gott zu Fleisch und wohnt unter den Menschen, aber er erhöht und vergottet damit die Welt und wird zum »Magier«. Darin steckt ein Element des Betrugs – Horkheimer und Adorno sprechen vom »proton pseudos«, vom ersten Betrug, der mit der »Vermenschlichung Gottes durch Christus« herbeigeführt wird. Mit der Behauptung: Der Mensch Jesus ist Christus, werden die Menschen verraten, weil damit zugleich gesagt ist, dass dem schlechten Endlichen bereits die Qualität des Heiligen und Geistigen zukommt. So beruht der »Fortschritt über das Judentum«, den das Christentum herbeigeführt hat, auf Betrug und verwandelt die Religion zurück in Magie. Magier versprechen, dass sie Macht über die Natur haben und die Welt verändern können, indem sie eingebildete Wirkungszusammenhänge und Kausalbeziehungen in ihrem Sinne beeinflussen. Magische Praktiken bedienen sich der Kontiguität, d.h. dass sie mit der Berührung von Stoffen und Materialien arbeiten. Wer dem Feind dauerhaft schaden will, benötigt dazu Dinge, die mit ihm in Verbindung stehen (z.B. Haare oder Kleider), gegen die er seine Wut und seine Aggression richten kann. Diese kontagiösen magischen Praktiken sind nach Adorno und Horkheimer im Christentum durchaus von der »Vergeistigung« abgelöst worden. Ihre Mittel sind nun von stofflichen Elementen frei und bestehen stattdessen aus Wort, Schrift, Zeichen, Gesten, und vor allem bestehen sie aus dem Glauben an die erlösende, versöhnende und verwandelnde Kraft des Opfers. Darauf kommen Horkheimer und Adorno im weiteren Verlauf dieses Absatzes noch genauer zu sprechen. Es bleibt auch bei diesem Fortschritt des Christentums und seiner Differenz zur Magie. Zugleich aber konstatieren sie doch auch den Rückfall auf die magische Stufe, zwar nicht mehr so sehr in der kontagiösen Praxis, aber darin, dass das Christentum in einer Art Geisterbeschwörung die Welt bereits erlöst zu haben meint. Und darin besteht der Mangel des Christentums, dass in ihm die Welt bereits als erlöst und geheiligt ausgegeben wird, während die Aufgabe des Geistes umgekehrt darin zu bestehen hätte, die endlichen 113 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Verhältnisse als unzulänglich und begrenzt in Frage zu stellen. Diese Haltung zum Christentum wird in den beiden zentralen Sätzen des dritten Absatzes bündig zusammengefasst: »Es wird eben das als geistigen Wesens ausgegeben, was vor dem Geist als natürlichen Wesens sich erweist. Genau in der Entfaltung des Widerspruchs gegen solche Prätention von Endlichem besteht der Geist.« Das aber hat weitreichende Wirkungen. Der Betrug führt zu einem »schlechte(n) Gewissen« und bewirkt, dass die Christen »den Propheten als Symbol« verstehen und damit entwerten. Gerade die Propheten des Alten Testaments sind es, die in der Deutung von Paul Tillich mit der ursprungsmythischen Bindung brechen und das Element der Zeit und der Geschichte in die Glaubenslehre einführen, indem sie sagen: Die Welt ist noch nicht erlöst, ihre Veränderung steht aus, die Zukunft ist entscheidend. Die Christen dagegen verstehen ihre »magische Praxis« bereits als wirkliche »Wandlung« und Verwandlung. Damit aber bindet sich das Christentum »ans gedanklich Suspekte« und wird zu einem »kulturellen Sonderbereich«, also zu einem Teilsystem, das isoliert neben den anderen Bereichen der Welt steht und sich auf sich selbst beschränkt. Das Christentum richtet sich nicht nur als kultureller Sonderbereich in der bestehenden Welt ein, sondern rationalisiert damit zugleich das irdische Unheil mit seinen Spannungen und Zerreißungen. Als kultureller Sonderbereich hat sich das Judentum dagegen niemals verstanden. Im Judentum ist der Glaube nicht vom Leben und von der »allgemeinen Selbsterhaltung« getrennt. Tabus, Rituale, Kulte, kurz: die »Umformung des heidnischen Opferrituals«, die die religiöse Praxis der Juden charakterisieren, sind nicht in einen Sonderbereich des Religiösen eingeschlossen, sondern bestimmen die alltägliche Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, »die Form des Arbeitsvorgangs« nicht weniger als die Vorgänge der Administration und das Essen, »die Verwaltung in Krieg und Frieden, das Säen und Ernten, Speisebereitung und Schlächterei«, und sie bestimmen auch die »Rationalität«. Bei den »Primitiven« mündete der Versuch, sich aus der »unmittelbaren Furcht« zu befreien, in die »Veranstaltung des Rituals«. Das Ritual ist ein Versuch der Angstbewältigung, in dem sich die Menschen mächtig machen wollen über Abläufe, denen sie realiter ohnmächtig gegenüber stehen. Das Judentum führt diese Angstbewältigung weiter und verwandelt sie. Die Rituale sind bei ihnen keine vom realen Leben getrennten kultischen Veranstaltungen, sondern gehen bestimmend in den »geheiligten Rhythmus des familiären und staatlichen Lebens« ein. Sie verbinden sich mit den Prozessen der Selbsterhaltung, indem sie sich in die zweckvolle und rationale Regelung des Arbeitsprozesses und der Reproduktion transformieren. Sie entwickeln sich aus einem Kult zu einem »Brauch«, über dessen Einhaltung die Priester zu wachen haben. Die Priester übernehmen in diesen Zusammenhängen bei den Juden im Rahmen der »theokratischen Praxis« 114 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus

eine sehr exponierte Position der Herrschaftsausübung. Im Christentum ist das wiederum anders. Es wollte »geistlich bleiben, auch wo es nach der Herrschaft trachtete«. Es behauptete mithin, niemals profane Herrschaftsformen und –interessen auszubilden, sondern immer nur geistliche und religiöse Anliegen im Auge zu haben. Seinem Selbstverständnis nach hat das Christentum mit der Logik der reinen »Selbsterhaltung« gebrochen. Das »letzte Opfer, das des Gottmenschen«, soll die Menschen vom stupiden alltäglichen Zwang der Lebenssicherung befreit und sie für ein wahres Leben jenseits der irdischen Zwänge geöffnet haben. Bei den Juden sind Glaube und Gesetz mit den irdischen Belangen des Lebens unmittelbar verknüpft, die Christen halten das irdische Leben auf Distanz und wenden ihre Aufmerksamkeit von ihm ab – sie wollen »geistlich bleiben«. Aber das ist, mit Hegels Logik gesprochen, eine nur abstrakte Negation. Sie wendet sich von der Immanenz der Welt ab und meint, diese dadurch bereits überwunden zu haben. In Wirklichkeit werden die irdischen Belange der Menschen damit nur ihrem unheil- und entsagungsvollen Schicksal überlassen und für unwichtig erklärt. Das »entwertete Dasein« wird »der Profanität überantwortet«, es wird zur gemeinen Welt, der man nicht trauen kann, zum Jammertal, das man nicht verändern kann, kurz: es wird so gelassen wie es ist. Das strenge »mosaische Gesetz«, das bei den Juden die Prozesse des Arbeitens und Lebens regelte, wird bei den Christen zwar abgeschafft, aber nur zugunsten einer spannungslosen Aufteilung, in der »dem Kaiser wie dem Gott je das Seine gegeben« wird. Dadurch wird einerseits die »weltliche Obrigkeit«, so wie sie ist, von den christlichen Kirchen bestätigt oder usurpiert, und andererseits wird daneben dann das Christliche als das »konzessionierte Heilsressort« betrieben. Die entbehrungsreiche und leidvolle Praxis reiner »Selbsterhaltung« soll im Christentum durch die pure Verordnung der »Nachahmung Christi«, d.h. durch Selbstaufopferung überwunden werden. Diese Form der »aufopfernde(n) Liebe« in der Nachfolge Christi wird gegen die »natürliche«, sinnliche Liebe gestellt und den Gläubigen als der einzige Weg zur Erlösung aufgetragen, ja sie wird von den Christen sogar als die ursprüngliche und unmittelbare Liebe und damit als Versöhnung zwischen »Natur und Übernatur« ausgegeben. Das ist für Horkheimer und Adorno eine zutiefst falsche und fatale Lösung. Im Erlösungsanspruch der aufopfernden christlichen Liebe »liegt ihre Unwahrheit«. Sie ist trügerisch und affirmativ, sie mündet in eine falsche »Sinngebung des Selbstvergessens«. Sie überwindet die Last des irdischen Lebens nur abstrakt und lässt sie damit so wie sie ist. Sie meint, die Not der Selbsterhaltung durch die Praxis des Selbstvergessens überwinden zu können. Das ist aber eine Illusion. Der Geist des Christentums beschränkt sich auf sich selbst, entäußert sich nicht an die Welt und lässt diese damit als unerlöstes jammervolles Dasein zurück. 115 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

IV: 4 »Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehaßt als die, welche es besser wissen.« Der letzte Absatz der vierten These zieht die Verbindung zwischen den Überlegungen zum trügerischen Wesen des Christentums und den religiösen Wurzeln des Antisemitismus. »Trügerisch« ist das Heilsversprechen des Christentums, weil es das Ziel »nicht garantieren kann«. Ob das Selbstvergessen wirklich zum Heil führt und erfolgreich ist, bleibt offen und ungewiss. Aber von Offenheit und »Unverbindlichkeit« wollen die »naiven Gläubigen« nichts wissen. Sie nehmen das geistliche Heilsversprechen vielmehr wörtlich und nähern damit den christlichen Glauben dem »magischen Ritual« und der »Naturreligion« wieder an. Sie machen damit in großer »Einfalt« die Religion erneut zu dem, was man sonst »Religionsersatz« nennt: zu Magie, Zauberei, Kult und Astrologie. Horkheimer und Adorno wollen diese naiven Praktiken und Gewissheiten nicht von vornherein verurteilen und sich über sie erheben. Für sie ist das »italienische Mütterchen, das dem heiligen Gennaro für den Enkel im Krieg in gläubiger Einfalt eine Kerze weiht«, weitaus näher an der Wahrheit des Christentums als die »Popen und Oberpfarrer, die frei vom Götzendienst die Waffen segnen«. Aber dennoch sehen sie darin eine Form des objektiven Geistes, die ihre Kritik herausfordert. In einem Christentum, das zur Naturreligion regrediert ist, wird die Spannung zwischen dem Heilsversprechen, das mit der Aufforderung zur Selbstvergessenheit verbunden ist, und dem Trügerischen, von dem die Religion selber wissen oder mindestens eine »Ahnung« haben kann, nicht ausgehalten. Nur die »paradoxen Christen, die antioffiziellen« wissen um diese Spannung und halten das Bewusstsein davon wach, z.B. Pascal, Lessing, Kierkegaard, Barth, die die Unsicherheit des Heilsversprechens zum »Angelpunkt ihrer Theologie« machen. Jene aber, die das Bewusstsein von der Ungewissheit des Heilsversprechens »verdrängten«, die die Heilslehre des Christentums »als sicheren Besitz sich einredeten« und als gefestigtes Wissen verstanden, »mussten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten«. Sie bekämpfen ihre Ahnung vom trügerischen Charakter ihres Glaubens, indem sie diejenigen zur Verfolgung freigeben, die dem Trug nicht erliegen und nicht bereit sind, ihre Vernunft aufzugeben. Genau in diesem Mechanismus liegt nach Adorno und Horkheimer »der religiöse Ursprung des Antisemitismus«: in der »Feindschaft des sich als Heil verhärtenden Geistes gegen den Geist«. Die jüdischen »Anhänger der Vaterreligion« werden von den Anhängern 116 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die religiösen Wurzeln des Antisemitismus

der christlichen Sohnesreligion gehasst, weil sie »es besser wissen«. Die Juden stehen als Anhänger des Vaters, der noch keinen Sohn und keinen Messias geschickt hat, für die noch nicht vollzogene Erlösung ein. Sie wissen und insistieren darauf, dass die natürlichen und irdischen Belange noch nicht zu ihrem Recht gekommen und erlöst worden sind. Für sie ist die Erlösung ein Ereignis der Zukunft, das noch aussteht, das noch vor den Menschen und nicht hinter ihnen liegt. Die Welt ist in ihren Augen nach wie vor erlösungsbedürftig und keineswegs, wie die Christen glauben machen wollen, durch das Opfer des Erlösers am Kreuz bereits ein für alle Mal versöhnt und verwandelt. Auf dieser Wahrheit haben die Juden immer und unnachgiebig insistiert und damit die Christen herausgefordert, die sich in ihrer Einfalt das Bewusstsein der möglichen Vergeblichkeit nicht eingestehen wollen und sich durch magische Praktiken und Wunderglauben einreden, bereits im Besitz des Heils zu sein. Für die »christlichen Judenfeinde« ist die jüdische Religion deswegen ein »Ärgernis«, weil sie »dem Unheil standhält, ohne es zu rationalisieren«. Der Antisemitismus soll mit aller Gewalt »bestätigen«, dass das Christentum mit seiner Heiligung der Geschichte und des Lebens doch Recht hat, indem er die Erde von jenen befreit, die das Unheil beim Namen nennen. Adorno und Horkheimer behaupten in dieser vierten These, dass im Zentrum des Christentums eine Rationalisierung steckt. Es nimmt für sich in Anspruch, mächtig zu sein über das Heil und die Welt, über die es in Wahrheit gar keine Macht hat. Im Grunde ist und bleibt das Christentum einer magischen Praxis verhaftet. Die Vergeblichkeit und Ohnmacht ihrer Magie wird den Christen als Faktum der Negativität von den Juden immer wieder vor Augen geführt. Die Spannung, die dadurch entsteht, können die Christen nur noch dadurch abführen, dass sie diejenigen, die ihnen die eigene Ahnung von der Ungewissheit des Heils und der Offenheit der Geschichte vor Augen führen, verfolgen und der Vernichtung preisgeben.

117 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These V Mimesis und Antisemitismus V: 1 »Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie.« Der Antisemitismus ist, seinem Selbstverständnis nach, eine idiosynkratische, natürliche und spontane Reaktion, eine Äußerung unwillkürlicher Abscheu. »Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiß das nicht so leicht« – mit diesem Satz Siegfrieds zu Mime aus Richard Wagners Siegfried (1. Aufzug, 1. Szene) beginnen Horkheimer und Adorno die fünfte These. In ihr wird die Natur des antisemitischen Affekts, der sich aller weiteren Herleitung mit dem Hinweis auf seinen idiosnykratischen Ursprung entziehen möchte, einer eingehenden Erörterung unterzogen. Idionsynkrasie ist eine affektive, unwillkürliche Reaktion, die »biologisch fundamentalen Reizen« (V: 2) gehorcht und sich der bewussten Kontrolle entzieht. Die Haltung dahinter ist: So ist es eben, ich kann Dich nicht leiden, da kann ich gar nichts machen. Horkheimer und Adorno nehmen dieses Selbstverständnis überaus ernst und behaupten, dass von seiner Aufklärung die Überwindung des Antisemitismus abhängt. »Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab.« Mit diesem Versprechen machen sie sich daran, die idiosynkratischen Wurzeln des Antisemitismus aufzuhellen und das, was sich als natürliche Abneigung ausgibt, auf ihre gesellschaftlichen und historischen Ursprünge zu beziehen. Die erste Überlegung besteht darin, dass es das »Besondere« ist, was die idiosynkratische Reaktion auslöst. Dieses Besondere ist, näher betrachtet, das, was sich nicht »in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt«, was nicht »zum Zweckvollen sich geläutert hat«, alles, was im gnadenlosen Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung nicht mitgekommen, was zurückgeblieben, fremd, antiquiert und ungleichzeitig ist. Mit einigen Hinweisen und Beispielen erläutern Adorno und Horkheimer, was sie hier meinen: »der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fortschritt der Jahrhunderte sich sedimentiert, 118 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

wirkt penetrant und fordert zwangshaften Abscheu heraus.« Offenbar steht hinter der idiosynkratischen Reaktion die bedingungslose Identifikation mit dem Fortschritt, die sich voller Abscheu gegen alles wendet, was auf der Strecke bleibt und nicht mitkommt, an das Unsaubere, Animalische, Unvollkommene.

V: 2 »Die Motive, auf die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft.« Der zweite Absatz führt diesen Gedanken weiter. Die Phänomene, die die idiosynkratische Reaktion bewirken, haben mit der »Herkunft« zu tun. Die Erinnerung an die Herkunft darf im Fortschrittsglauben keine Bedeutung haben, sie ist in gewisser Weise sein Gegenmodell und Gegenprinzip. Gerade deswegen aber wird es erhellend sein, diesem Gesichtspunkt nachzugehen, so wie es für die psychoanalytische Kur immer am besten ist, den besonders heftigen Äußerungen des Widerstands beim Patienten nachzugehen. Sie sind gleichsam der Wegweiser, der es erlaubt, den zentralen Konflikten und Problemen auf die Spur zu kommen. In der spontanen, automatisierten Reaktion der Abscheu, die von den zitierten Phänomenen des Zurückgebliebenen und Unzivilisierten bewirkt wird, meldet sich eine Reaktionsform der »biologischen Urgeschichte«. Es sind ganz unvermittelte körperliche Reaktionen auf äußere Gefahren, ohne Kontrolle durch Bewusstsein und Willen, die hier in den Vordergrund drängen. »In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen.« Sehr tief sitzende und unkontrollierbare körperliche Reaktionen bestimmen das Geschehen – Reaktionen, die sich dem Willen, dem »Ich« des Subjekts entziehen und in der unwillkürlichen »Erstarrung von Haut, Muskel, Glied« mit Macht zum Ausdruck drängen. Man könnte meinen, dass darin ein Stück unverstellter Lebendigkeit und natürlicher Spontaneität der Menschen seine Ansprüche anmeldet. Aber dieser Annahme widersprechen Horkheimer und Adorno entschieden. Um ihren Argumentationsgang zu verstehen, muss man zwischen lebendiger, vielgestaltiger, reicher, beseelter Natur einerseits und unbewegter, toter, »bloßer« Natur andererseits unterscheiden. Die Menschen, die idiosynkratisch reagieren, stehen nicht für »das entfaltetere Leben«, sondern werden zu »bloßer Natur«. Sie vollziehen »die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur«, sie werden etwas Unbewegtes und Unbewegbares, starr und verkrampft, von einer Art Schockstarre befallen, sie werden zum seelen- und reflexionslosen Ding, der lebendigen Natur 119 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

gegenüber ganz »entfremdet«. Im Augenblick »höchster Erregung« werden die lebendigen Menschen in der idiosynkratischen Reaktion wieder zum Ding, so wie der griechischen Mythologie zufolge Daphne auf der Flucht vor den erotischen Nachstellungen Apollos, allerdings auf ihre eigene Bitte hin, von ihrem Vater in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. Wer idiosynkratisch reagiert, wird in ein Stück unlebendiger Natur verwandelt und ist dann nur noch »der äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig«. Diese nur räumliche Beziehung ist die »absolute Entfremdung«. Im Raum stehen die Dinge erstarrt, beziehungslos und äußerlich nebeneinander. Das räumliche Nebeneinander ist die Topologie einer toten, unbeseelten Natur. »Wo Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungsreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch Angleichung ans Tote.« In diesen letzten drei Sätzen des Absatzes wird die Idiosynkrasie in die Nähe der Regression und der Mimikry gerückt, in der sich die Menschen in Form einer instinktiven Schutzreaktion gegen die Natur in ihrer lebendigen Qualität verhärten und sich in ein Stück unbelebter Natur verwandeln. Die Rede von den archaischen Schemata weist darauf hin, wie im vorigen Absatz die Rede von der biologischen Urgeschichte, dass wir es der fünften These zufolge bei den antisemitischen Reaktionsweisen mit einer Schicht im Menschen zu tun haben, die weit in die Vor- und Frühgeschichte der Zivilisation zurückreicht. Im mörderischen Antisemitismus, im ungezügelten Judenhass entziffern Adorno und Horkheimer Reaktionsweisen, die mitten in der ausgeklügelten Zivilisation des 20. Jahrhunderts an die Anfänge der Menschheit, an Stufen jenseits von Bewusstsein, Wissenschaft, Organisation, Ordnung und Arbeit anschließen und deswegen in ihrer Naturgewalt, mit der sie die Menschen heimsuchen, nur erklärt werden können, wenn man sich die Logik dieser archaischen Stufe der Menschheitsgeschichte vor Augen führt. Zum ersten Mal in den Elementen werden in dieser These die Begriffe Mimikry und Mimesis ins Spiel gebracht. Mimikry ist nach Adorno und Horkheimer die Verhaltensweise, die für die Menschen auf der archaischen Stufe ihrer Entwicklung typisch ist. Es ist eine Reaktion des Schutzes gegen die übermächtige Natur, in der sich die Menschen in etwas Totes und Unbelebtes verwandeln. Durch die Angleichung an das Unbelebte bestehen die Menschen die ihnen von der Natur drohenden Gefahren und sichern ihr Überleben. Sie müssen dafür aber einen hohen Preis entrichten. Sie werden zu dem, was sie gerade nicht sein wollen: unbewegte, tote Natur, in der das Leben erstarrt. Nur in dieser Angleichung an das Unlebendige kann das Leben überhaupt fortexistieren. Diese eigentümliche Dialektik von Leben und Tod: dass das Leben die Form 120 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

seines Gegenteils annehmen muss, um weiter existieren zu können, entfalten Adorno und Horkheimer ausführlich an der mythologischen Figur des Odysseus im zweiten Kapitel der Dialektik der Aufklärung, und es liegt ihrem Buch insgesamt als zentrales Gedankenmotiv zugrunde. (Darauf komme ich in den Interpretationen zurück.) In den beiden ersten Absätzen der fünften These ist die Verbindung zwischen Idiosynkrasie, Mimikry, Dialektik von Leben, Tod und Selbsterhaltung mit der Frage nach dem Antisemitismus noch nicht in den Blick gekommen. Diese Verbindung aufzuweisen, ist die Aufgabe der folgenden Absätze.

V: 3 »Unbeherrschte Mimesis wird verfemt.« Im dritten Absatz der fünften These schreiben Adorno und Horkheimer eine kleine Geschichte der Naturbeherrschung. Sie stellen damit den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Antisemitismus und der zentralen Denkfigur her, die der Dialektik der Aufklärung insgesamt zugrunde liegt. Die ersten beiden Sätze des Buches führen gleich in diese zentrale Denkfigur ein: »Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.« (DA: 25) Anfang und Ende der gesamten Zivilisationsgeschichte werden hier in äußerster Dichte zusammengerückt. Ziel und Versprechen der Aufklärung bestanden immer schon in der Überwindung der Furcht. Die Aufklärung tritt damit das Erbe der Religionen an, deren Kern nach Adorno und Horkheimer ebenfalls, wie wir in der vorigen These gesehen haben, in der Botschaft des »Fürchtet Euch nicht« besteht. Am Endpunkt des Prozesses ist die Erde zwar aufgeklärt, aber die vollkommene Aufklärung ist identisch mit dem vollkommenen Unheil. Das triumphale Unheil zeigt sich in der Verfolgung und Vernichtung der Juden. Dieses Ende steht mit dem Anfang und mit dem gesamten Prozess der Aufklärung in einer untergründigen Verbindung. Es ist dieser Zusammenhang von Ende und Anfang, der nach Adorno und Horkheimer entschlüsselt werden muss, wenn man den Antisemitismus und die Barbarei, die der Faschismus über die Welt gebracht hat, verstehen will. Vom barbarischen Ende aus blicken Adorno und Horkheimer auf die Geschichte der Zivilisation zurück. Der Inhalt der Zivilisationsgeschichte besteht im Kern in der Anstrengung, die Herrschaft über die übermächtige Natur zu erringen und die Macht der Natur zurückzudrängen. Nun wird zwischen mehreren Phasen der Naturbeherrschung 121 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

unterschieden. Die erste Phase bestand im »mimetischen Verhalten(.)« gegenüber der Natur, d.h. in der »organischen Anschmiegung ans andere«. Damit ist der Begriff eingeführt, der die gesamte weitere Argumentation dieser fünften These leiten wird: der Begriff der Mimesis. Der Mimesisbegriff der Dialektik der Aufklärung entstammt nicht der ästhetischen Theorie von Platon und Aristoteles, mit der er in der Geschichte der Philosophie zumeist in Verbindung gebracht wird, sondern der Biologie. In ihr bezeichnet er die besonders bei Insekten beobachtbare Technik der Verstellung und Nachahmung zum Zweck der Tarnung. In der Welt niederer Tierarten ist es eine verbreitete Erscheinung, dass sie die Gestalt und Farbe ihrer Umgebung annehmen, um sich von ihr ununterscheidbar zu machen. Auf diese Weise machen sie es ihren Feinden unmöglich, sie zu identifizieren und zu verfolgen. Es handelt sich also um eine Technik des Sich-Verbergens durch die Angleichung an die Umgebung. Den gleichen Zweck verfolgt jene Art der Metamorphose, mit der sich die niederen Tierarten in furchterregende Wesen verwandeln, um damit ihren Feinden, die sie fürchten, ihrerseits Furcht einzuflößen. Adorno und Horkheimer übertragen diese in der Welt der Tiere beobachtbaren mimetischen Verhaltensweisen auf die frühe Phase der Menschheitsgeschichte. Ihre Annahme lautet, dass sich die Menschen wie die niederen Tiere gegen die Übermacht der Natur schützen, indem sie zu einem Stück lebloser Natur werden oder die Gestalt schreckenerregender Wesen imitieren. Die nächste Stufe der Entwicklung besteht in der »magischen Phase«. Sie ist durch die »organisierte Handhabung der Mimesis« charakterisiert. Mit ihr ist die Vorgeschichte abgeschlossen. Mimetische und magische Praxis sind eng miteinander verwandt. Während die mimetischen Reaktionen ursprünglich spontan und ungefiltert stattfinden, werden sie in der Magie kalkuliert und organisiert eingesetzt. Die Magie geht aber auch insofern über die mimetische Praxis hinaus, als sie nicht mehr nur in passiven und defensiven Schutzreaktionen auf Gefahren besteht, sondern die natürliche Umwelt durch rituelle Veranstaltungen und Inszenierungen aktiv und vorausschauend zu einem bestimmten Verhalten veranlassen möchte. Mimesis wie Magie dienen der Selbsterhaltung. Die mimetische Reaktion besteht in der Technik der »organischen Anschmiegung ans andere«. In ihr überhebt sich der Mensch nicht herrschaftlich über die Natur, sondern schützt sich gegen seine Angst, indem er sich als Teil der Natur versteht und einbekennt. Wenn Adorno und Horkheimer von Mimesis sprechen, muss man immer auch mitdenken und mithören, dass darin eine Reaktionsform angesprochen wird, in der ein versöhntes Verhältnis der Menschen zur Natur aufscheint – eine Naturbeziehung, die die unglückliche herrschaftliche Zurichtung der Natur zurücknimmt und in der die Menschen einbekennen, dass sie selber ein Teil der Natur sind und immer bleiben werden. Mimesis ist der Begriff, der dafür steht, dass die Menschen sich als 122 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

Teil der Natur verstehen müssen und verstehen dürfen, dass sie die Natur nicht als ihren Erzfeind begreifen sollten, dass sie weder ihrer eigenen inneren Natur noch der äußeren Natur mit den Mitteln der Herrschaft und Unterwerfung begegnen müssen. Mimesis ist ein Verhältnis zur Natur, das nicht auf Herrschaft beruht. Sie bezeichnet die Utopie eines Naturverhältnisses, in dem der Mensch den natürlichen und sinnlichen Verlockungen nachgeben darf, ohne sich in Natur aufzulösen. (Auf den Begriff der Mimesis und seine Bedeutung im Denken Adornos komme ich unten im vierten Kapitel der Interpretationen ausführlich zurück.) In den verschiedenen Stufen des menschlichen Verhältnisses zur Natur bezeichnet Magie das Stadium der vorausschauenden Praxis in der Beeinflussung der Umwelt. Nicht erst im Augenblick der Gefahr und gleichsam instinktiv und unwillkürlich reagieren die Menschen, wie das in der Mimesis der Fall ist, sondern Magie ist bereits ein geplantes, vorausschauendes, absichtsvolles Verhalten zur Erreichung weiter entfernt liegender Ziele. Mimetische Praktiken sind eher Spiegelungen der Natur und Annäherungen an sie, magische Praktiken spielen gleichsam Theater, sie spielen der Natur etwas vor, um sie entweder zur Nachahmung zu animieren oder um ihr Schrecken einzujagen und sie gefügig zu machen. In der »historischen« Phase schließlich tritt an die Stelle von Mimesis und Magie die »rationale Praxis, die Arbeit«. In dieser letzten Phase, die auch unsere eigene Gegenwart noch bestimmt, wird die unbeherrschte Mimesis »verfemt«, ausgegrenzt, tabuisiert und verdammt. Dieser Gedanke, dass die rationale Praxis der Naturbeherrschung gegen die mimetische Verhaltensweise durchgesetzt wird, ist für diese fünfte These der Elemente und für die gesamte Argumentation der Dialektik der Aufklärung von tragender Bedeutung. Horkheimer und Adorno sehen darin einen Vorgang wie die Vertreibung aus dem Paradies: »Der Engel mit dem feurigen Schwert, der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts trieb, ist selbst das Sinnbild solchen Fortschritts.« Aller »Fortschritt« der menschlichen Geschichte ist von diesem Schlag. Ähnlich wie die Genealogien, mit denen Nietzsche und Freud arbeiten, betonen Adorno und Horkheimer in diesen Passagen den Gewalt- und Zurichtungscharakter im Prozess der Zivilisation. Sie erheben auch hier nicht den Anspruch, ein Stück Geschichtsschreibung realer Zivilisierungsprozesse zu geben, sondern bieten eine Konstruktion, die die zentralen Elemente des Vorgangs zum Ausdruck bringen soll. Die mimetische und magische Phase der Menschheitsgeschichte ist von vergleichsweise paradiesischem Zuschnitt. Rationale Praxis, Arbeit, technischer Fortschritt erscheinen dagegen unter den Vorzeichen von Zumutung, Strafe, Verdammung und Zwang. Von nun an müssen die Menschen im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen und ihr Leben fristen. Mit dem Einsatz von Feuer und Schwert müssen sie dazu gezwungen werden, den Weg des technischen Fortschritts zu gehen und 123 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

auf ihm zu bleiben – so verlockend ist dem »eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen« der »Rückfall in mimetische Daseinsweisen«. Die rationale Praxis der Arbeit und des Fortschritts ist gekennzeichnet durch triebferne Kälte, Kalkulation und »Strenge«, durch das Ende von Spontaneität und spielerischer Unbekümmertheit, die für die Mimesis charakteristisch sind. Der Prozess der Zivilisation ist ein Prozess der Zurichtung und des Triebverzichts, »angefangen vom religiösen Bilderverbot über die soziale Ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein«. »Erziehung« ist Verstümmelung, die nur den einen Zweck verfolgt, den Menschen die »objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden« anzutrainieren und ihnen den Wunsch auszutreiben, sich dem »Auf und Nieder der umgebenden Natur« zu überlassen. »Abgelenktwerden« und »Hingabe« werden sanktioniert, weil sie »einen Zug von Mimikry« haben, in der die Differenz zwischen den Menschen und der sie umgebenden Natur eingezogen und relativiert ist. Der Begriff der Mimikry wird von Adorno und Horkheimer hier eher unspezifisch gebraucht und steht, wie der Begriff der Mimesis, für die Sehnsucht des Menschen nach Angleichung an die natürliche Umgebung, für seinen Wunsch, dieser Verlockung nachzugehen. In der »Verhärtung« gegen diese Verlockung ist »das Ich geschmiedet worden«. Mit dieser Formulierung wird erneut der gewaltsame Zug in der »Konstitution« des funktions- und arbeitstüchtigen Ich betont. Das Ich muss sich hart machen, es wird geschmiedet wie ein Stück Metall und ist dem Hammer und dem Feuer des Schmieds ausgesetzt. Die Betonung der drastischen Mittel, die hier zum Einsatz kommen, zeigt, wie weit und wie gewaltsam der Weg von »reflektorischer Mimesis zu beherrschter Reflexion« ist. Reflexhaft, ungefiltert, organisch, impulsiv geben die Menschen in der Mimesis ihren natürlichen Regungen nach. Reflexion dagegen beruht auf methodischer Strenge, Exaktheit, Disziplin, Selbstbeherrschung. Sie vollzieht sich nicht in der »leiblichen Angleichung an Natur«, sondern besteht, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft sagt, in der »Rekognition im Begriff« (Kant 1781/1787: A 103) bzw., wie Horkheimer und Adorno sagen, in der Subsumtion »des Verschiedenen unter Gleiches«. Die bisherigen Sätze dieses Absatzes können die Vermutung nahelegen, dass die mimetische Phase der Menschheitsentwicklung für Horkheimer und Adorno in beinahe romantischer Verklärung als paradiesischer Kontrast zum Gewalt- und Zurichtungscharakter der Zivilisation erscheint. Diese Auffassung wird nun, in der zweiten Hälfte dieses dritten Absatzes, ihrerseits kritisiert. Beide, sowohl die mimetische Reaktionsweise wie die Rationalität der beherrschten Reflexion werden als Varianten einer subsumierend verfahrenden Logik charakterisiert, die stets nur zu Formen abstrakter Identität führt und Unterschiede leugnet. 124 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

Insofern sind Mimesis wie Rationalität eine Form von Herrschaft. In beiden wird Gleichheit auf abstrakte und gewaltsame Weise hergestellt, in der Mimesis auf »unmittelbare« und reflexhafte Weise, in der »Synthesis«, die nach Kant die Erkenntnisleistungen konstituiert, auf »vermittelte«, begriffliche Weise. In der mimetischen Praxis vollziehen die Menschen die »Angleichung ans Ding im blinden Vollzug des Lebens«, die Menschen machen sich zum Ding, sie machen sich der umgebenden Natur gleich. In der »wissenschaftlichen Begriffsbildung«, in der das Heterogene unter ein und denselben Begriff gezwungen wird, herrscht die Praxis der »Vergleichung des Verdinglichten«, in der alles, was nicht in dieser Zwangslogik des Gleich um Gleich aufgeht, weggeschnitten wird. Beide Verfahren stehen unter dem Oberzeichen des »Schreckens«, beide Verfahren suchen den Schrecken zu bannen, bleiben ihm aber ausgeliefert und setzen ihn fort. Die »drohende Natur« geht über in den »dauernden, organisierten Zwang«, der die gesellschaftliche Ordnung bis in die feinsten Kapillarien durchdringt und sich »in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung« reproduziert. Der Herrschaft der Menschen gegen die animalisch-triebhafte Seite ihres eigenen Inneren korrespondiert die »gesellschaftliche Herrschaft« über die äußere Natur, in der der Naturzwang »auf die Natur zurückschlägt« und die äußere Natur unter ihr Diktat zwingt. Der Gesellschaft, die den Menschen genauso streng und unnachgiebig gegenübertritt wie vormals die Natur, korrespondiert das Paradigma der rationalen Wissenschaft. Wissenschaft ist sture »Wiederholung«, »Regelmäßigkeit, aufbewahrt in Stereotypen«, sie verfährt im Grunde nicht anders als der »Zauber-Ritus« und ist eine moderne »Betätigung von Mimikry«, mithin, wie die »mathematische Formel« und die Technik offenbar machen, eine »Anpassung ans Tote«. Darin ähnelt sie der Magie, die »durch körperliche Nachahmung der äußeren Natur« die »Selbsterhaltung« zu sichern suchte. Naturwissenschaft und Technik, die für die moderne Gesellschaft typisch sind, vollziehen die Anpassung ans Tote dadurch, dass sie sich dem Zwang der »Automatisierung« unterwerfen und die geistigen Prozesse in »blinde Abläufe« umwandeln. Die geistigen Prozesse, die Formeln, mit denen die Wissenschaften operieren, ähneln in den Augen von Horkheimer und Adorno vorrationalen Beschwörungen. Mit ihnen werden die »menschlichen Äußerungen« »sowohl beherrschbar als zwangsmäßig«. Sie vollziehen die »Verhärtung« gegenüber der Natur – und werden damit der Natur wiederum gleich. In den Zeiten der Mimesis und der Mimikry praktizierten die Menschen die Angleichung an die Natur auf dem Wege der Imitation, der Nachahmung und der Anschmiegung. Jetzt, im rationalen, wissenschaftlichen Zeitalter, ist an deren Stelle die Herrschaft über die Natur getreten, in der Technik und Wissenschaft in sich selbst die Züge der toten und unbewegten Natur reproduzieren. Das Übernehmen einer »Schutz- und Schreckfarbe«, 125 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

wie es für Mimesis und Mimikry zum eigenen Schutz und zur Bewältigung des Schreckens charakteristisch war, ist heute durch »blinde Naturbeherrschung« ersetzt, die die Natur dem Gesetz der »Zweckhaftigkeit« unterwirft. Für sie wird alles zum Fall, zum gleichgültigen Material. Sie ist blind für die Unterschiede, blind für die animalische Triebnatur des Menschen, und sie ist schließlich nicht weniger unfrei als jene mimetische Praxis der Reaktion auf den Schrecken. Die gesamte Geschichte der Naturbeherrschung, von der Mimesis bis zur rationalen Wissenschaft, steht nach Adorno und Horkheimer unter einem Bann. Hier wie dort kann der Schrecken nicht überwunden werden. Die Angleichung an die Natur ist so falsch und unbefriedigend wie die Herrschaft über sie.

V: 4 »Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut.« Im Blick auf die dritte Etappe, die Etappe der rationalen Praxis, der Wissenschaft, der »bürgerlichen Produktionsweise«, kommt aber noch eine wichtige Dimension hinzu, ohne die das Bild nicht vollständig ist. Die organische Anschmiegung ans andere, also die mimetische Praxis, unterliegt hier dem »Vergessen« – besser wäre es wohl zu sagen: der Verdrängung. Die bürgerliche Gesellschaft verhängt über diese frühen Praktiken der Anschmiegung ans Organische, der Lust, der Hingabe das »erbarmungslose Verbot des Rückfalls«. Und die »Versagung«, auf der sie beruht, »ist so total geworden«, dass sie den Menschen gar nicht mehr zu Bewusstsein kommt. In diesem Absatz wird zunächst wieder die Verheißungs- und Erfüllungsseite der Mimesis herausgestellt und nicht der Herrschaftsaspekt. Horkheimer und Adorno sind mithin der Auffassung, dass bei aller Nähe der Mimesis zu Zwang und Blindheit doch auch ein Moment der Verheißung in ihr immer enthalten ist und dass gerade diese verlockende und anziehende Seite der Mimesis in der Zivilisation unter ein Tabu gestellt wird. Und es gehört zu dieser Annahme hinzu, dass die Mimesis zwar unter ein Tabu gestellt, aber nicht ausgerottet und ihre Anziehungskraft nicht beseitigt werden kann. Das »mimetische Erbe aller Praxis« ist »untilgbar«, heißt es gleich im ersten Satz dieses Absatzes. Die Zivilisierten sind jedoch so sehr geblendet und das mimetische Tabu, dem sie unterworfen sind, ist so streng, dass sie die mimetischen Züge, die auch sie noch an den Tag legen, bei sich selber gar nicht mehr wahrnehmen wollen und wahrnehmen können. Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis und Selbstreflexion ist ihre Sache nicht. Bei anderen Menschen allerdings bemerken sie diese Züge und registrieren sie »an manchen Gesten und Verhaltensweisen« mit großer Sensibilität und Empfänglichkeit, als 126 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

»isolierte Reste« und als »beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt«. Es gibt mithin Gesten und Verhaltensweisen, von denen die Geblendeten und Verhärteten ihrerseits angezogen und verführt werden wie einst ihre Vorfahren in der Urgeschichte der Zivilisation. Und es sind vorzugsweise die Fremden, die »ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge« zu verkörpern scheinen. Ja, es ist geradezu die Definition des Fremden, das Eigene, wohl Vertraute zu verkörpern, das nur deswegen zum Fremden und Bedrohlichen geworden ist, weil es der Verdrängung unterlag. »Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut«, so fassen Horkheimer und Adorno diese Überlegung bündig zusammen und verweisen auf Freuds Schrift Das Unheimliche (vgl. Freud 1919: 254, 259). Tatsächlich haben wir es hier mit einem genuin psychoanalytischen Gedanken und mit einem wesentlichen Element der Verdrängungslehre Freuds zu tun. In den darauf folgenden Sätzen wird sehr anschaulich mit einer Reihe von Beispielen und Materialien erklärt, worin dieses Fremde besteht, das nur allzu vertraut ist und das gerade deswegen so abstoßend wirkt und zugleich so verlockend, weil es im Prozess der Zivilisation der Tabuisierung unterlag: »Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden.« Das sind jene »Regungen«, die im rationalen Zeitalter als ganz und gar anstößig und unzeitgemäß erscheinen. Wie »Schmeicheln«, »Drohen«, »Flehen« unterlaufen sie »die längst verdinglichten menschlichen Beziehungen« und setzen an ihre Stelle »persönliche Machtverhältnisse«, in denen nicht die objektivierte Macht des Geldes regiert, sondern der »nicht-manipulierte«, unmittelbar gestische Ausdruck. In einer Welt, die sich unter dem Diktat der Rationalität alle triebhaften und animalischen Regungen versagen muss, wirken derartige leibliche Ausdrucksformen nur peinlich und anstößig und erscheinen als »Grimasse«. Der Begriff der Grimasse dient eigentlich als Bezeichnung manipulativ gesteuerter Ausdrucksformen, wie sie »im Kino, bei der Lynch-Justiz, in der Führer-Rede« in Erscheinung treten. Unter dem Druck der Verdrängung nehmen die Verdrängenden auch jene Ausdrucksformen noch als Grimasse wahr, die tatsächlich nicht-gesteuerten und nicht-manipulierten Ursprungs sind. Die persönlichen, leiblich unmittelbaren Regungen des Schmeichelns, Drohens und Flehens werden von Horkheimer und Adorno nun bestimmten Verhaltensweisen zugeordnet, die typisch sind für das Handeltreiben, also für die Sphäre der Zirkulation. Umschmeichelt wird der Käufer, gedroht wird dem Schuldner, durch Flehen wird der Gläubiger zu erweichen versucht. Diese Zuordnung verbindet die allgemeinen zivilisationskritischen Überlegungen mit dem Antisemitismus. Der Prozess der Zivilisation grenzt die mimetischen Regungen und die ungefilterten menschlich-animalischen Ausdrucksformen als anstößig aus. Wo 127 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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die »undisziplinierte Mimik« in der modernen Welt noch in Erscheinung tritt, lässt sie sich leicht der Zirkulationssphäre zuordnen. Diese aber, so haben wir in der dritten These der Elemente erfahren, ist der bevorzugte Arbeits- und Aufenthaltsort der Juden. Somit ist es ein leichtes, die Juden mit diesen Verhaltensformen und Ausdrucksweisen zu identifizieren und sie als typisch jüdisch zu qualifizieren. Die Juden also sind es, die schmeicheln, drohen, flehen, die Juden sind es, die gestikulieren, Grimassen ziehen, klagen und jammern. Aber so wenig die Juden den Ort der Zirkulation als ihr Betätigungsfeld in freiwilliger Entscheidung gewählt haben, so wenig ist das reiche Repertoire ihrer körperlichen Ausdrucksweisen eine freie Form des Verhaltens und des Ausdrucks. Es ist vielmehr das Resultat eines Zwangs, das »Brandzeichen der alten Herrschaft«, der Tatsache also, dass die Juden mit Gewalt in die Sphäre der Zirkulation eingesperrt worden sind und ihnen die Betätigung in anderen Berufen versagt wurde. Das Brandzeichen wirkt auch nach dem Ende jener Einsperrung weiter, es wird »kraft eines unbewussten Nachahmungsprozesses durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt, vom Trödeljuden auf den Bankier«. An dieser Stelle kommt die Annahme ins Spiel, dass es über die Generationen hinweg so etwas gibt wie die Vererbung erworbener Eigenschaften. Diese Annahme ist in der Evolutionstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts besonders von Lamarck vertreten worden und wurde später von Freud aufgegriffen. Horkheimer übernimmt den Gedanken auch in anderen Texten und erklärt mit seiner Hilfe das eigentümliche Phänomen, dass sich Verhaltensund Reaktionsweisen in bestimmten Bevölkerungsgruppen über die Generationen hinweg fortsetzen – was die Naturalisten und Rassisten als Vererbung titulieren, was aber Horkheimer zufolge in Wirklichkeit leicht auf das psychologische Gesetz der Nachahmung zurückgeführt werden kann. (Ich gehe auf diesen Aspekt im Mimesiskapitel im dritten Teil des Buches ausführlicher ein.) Die spezifische »Mimik«, die die Juden durch die intergenerationelle Weitergabe der Nachahmung bis heute charakterisiert, ist aber kein Ausdruck von Freiheit, sondern Ausdruck von Herrschaft und »Angst«. Sie ist damit ihrerseits eine Art von Mimikry, eine Nachahmung des Schreckens, in der die Angst nicht versteckt, sondern gezeigt und beinahe demonstrativ und ungemildert ausgestellt wird. Gerade das ist es, was auf Seiten der Antisemiten zu Aggression und »Wut« führt. Der Grund dafür liegt darin, dass die Juden mit ihrer Mimik jener Angst Ausdruck verleihen, die auch die Antisemiten ihrerseits nur zu gut kennen, die sie aber, um in den »neuen Produktionsverhältnissen« »überleben« zu können, nicht selber ausdrücken dürfen, sondern »vergessen« müssen. Was den Juden möglich ist: auf die Erfahrung von Übermacht und Schrecken mimetisch zu reagieren, also impulsiv und affektvoll, das ist den Antisemiten versagt. Ihnen ist im langen und gewaltsamen Prozess der 128 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zivilisierung antrainiert worden, auf die Zumutungen von Übermacht und Angst nicht impulsiv, affektgeladen und mimetisch zu reagieren, sondern mit Härte, Kälte, Rationalität und Arbeit. Insgeheim aber möchten auch sie so mimetisch reagieren dürfen, wie die Juden es ganz selbstverständlich praktizieren und in ihren Habitus aufgenommen haben. Auch hier also gilt wieder die psychoanalytische Erkenntnis: Was die Antisemiten als Fremdes, als impulsiver Habitus der Juden abstößt, ist ihnen selber nur allzu vertraut. Sie kennen die Angst so gut wie die Juden die Angst kennen, und sie kennen auch die Gestik und Mimik und das mimetische Verhalten, mit der die Juden auf die Angst reagieren. Die »Zivilisierten« haben es sich aber, und das unterscheidet sie von den Juden, in einem langen Prozess der Disziplinierung und Verdrängung angewöhnen müssen, ihre Angst zu verleugnen und die mimetischen Impulse zu unterdrücken. Wenn sie dann jedoch bei anderen und durch andere, durch die Juden und generell durch die »Grimasse«, an ihre alte Angst und an ihren alten Wunsch nach mimetischem Verhalten erinnert werden, reagieren sie darauf mit Abscheu, Widerwillen und Wut. Und sie antworten dann auf den »ohnmächtigen Schein« und das verführerische »Spiel« der Mimesis mit einem tödlichen »Ernst«, der keine Gnade und keinen Spaß kennt.

V: 5 Die Antisemiten »enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik«. Der Absatz greift zunächst die Gesichtspunkte des vorigen Absatzes auf und führt sie weiter: Grimasse, Spiel, Arbeit, Leiden. Die ersten beiden Sätze lauten: »Gespielt wirkt die Grimasse, weil sie, anstatt ernsthaft Arbeit zu tun, lieber die Unlust darstellt. Sie scheint sich dem Ernst des Daseins zu entziehen, indem sie ihn fessellos eingesteht: so ist sie unecht.« Dass die undisziplinierte Mimik den Antisemiten als gespielte Grimasse erscheint, hat also damit zu tun, dass sie sich dem Ernst des Daseins zu entziehen scheint und statt Strebsamkeit und Arbeit zu signalisieren die Entbehrungen und Leiden ungefiltert und unmittelbar zum Ausdruck bringt. Sie zeigt damit ganz unverhohlen die Unlust und reagiert beinahe spielerisch auf unlustbereitende Drohungen, statt gegen sie mit Arbeit und Disziplin anzugehen. In den Augen derjenigen, die nicht mit den Mitteln der Mimik auf den Schrecken reagieren, sondern mit Arbeit, Askese und Leistung, erscheint sie als unecht. Für jemanden, der sich alle spielerischen Elemente abgewöhnen musste, ist das Grimassenschneiden eine einzige Provokation, auf die er nur noch aggressiv und mit Vernichtungswillen reagieren kann. 129 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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In einer ähnlichen Argumentationsfigur wie im vorigen Absatz weisen Horkheimer und Adorno dann aber sofort darauf hin, dass das, was den Antisemiten als gespielt und spielerisch erscheint, in Wirklichkeit der »Ausdruck« einer Gewalterfahrung ist, der »schmerzliche Widerhall« von »Übermacht« und »Gewalt«, eine Form der »Klage«. Zur Klage wie zu Kunstwerken gehört, dass sie immer als »übertrieben« erscheinen. In »jedem Klagelaut« scheint stets »die ganze Welt zu liegen«. In den Interpretationen im dritten Teil des Buches werde ich später zeigen, dass sich Adorno im Vorfeld der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung mit theoretischen Fragen der Kunst und der Kunstwerke auseinandergesetzt hat und in der Gegenüberstellung von Kunst als der Sphäre von Ausdruck, Klage, Lust und Spiel auf der einen Seite und Herrschaft, Rationalität und Arbeit auf der anderen Seite die zentrale Spannung der modernen Welt gesehen hat. Es ist diese Spannung, in die die fünfte These der Elemente mit den Begriffen von Mimesis und Rationalität den Antisemitismus einträgt. Die Welt der Klage, der Mimik, der Grimasse, der Kunst und des Spiels, kurz: die Mimesis wird der Sphäre von Leistung, Rationalität, Arbeit und Effektivität gegenübergestellt. Aus der Perspektive der Zeitgemäßen und Zivilisierten ist »nur die Leistung« angemessen, nur sie und nicht Mimesis ist danach in der Lage, das »Leiden« zu wenden. Die Aussage, dass nur Leistung und Disziplin weiterhelfen und nicht die Klage und das Spiel, bringt das Selbstverständnis und die Botschaft des bürgerlichen Zeitalters zum Ausdruck. Es ist dieses Selbstverständnis des bürgerlichen Zeitalters und die Vorherrschaft von Rationalität und Leistung, gegen die Horkheimer und Adorno in den dann folgenden Sätzen ihren Einspruch erheben. Die Konsequenz der Leistung »ist das unbewegte und ungerührte Antlitz, schließlich am Ende des Zeitalters das Baby-Gesicht der Männer der Praxis, der Politiker, Pfaffen, Generaldirektoren und Racketeers«. Diese physiognomischen Beobachtungen klingen alles andere als dramatisch und weitreichend. Aber das Unbewegte und Ungerührte ist nicht auf den Gesichtsausdruck begrenzt, sondern charakterisiert die Signatur des gesamten »Zeitalters«: seine Starrheit und Kälte, seine Erbarmungs- und Gnadenlosigkeit. Hinzu kommt aber vor allem, dass Kälte und Ungerührtheit eine »Kehrseite« haben: die »heulende Stimme faschistischer Hetzredner und Lagervögte«. Dies ist gleichsam die heiße Seite, die Seite des Exaltierten und Ungezügelten. Freilich ist diese Seite von einer eigentümlichen Dialektik gekennzeichnet. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als wenn darin jener Klagelaut und jene Qualität des Ausdrucks, von denen in den früheren Sätzen die Rede war, eine neue Verkörperung gefunden hätten. Aber in Wirklichkeit ist dieser Ausdruck in sich selber von seinem Gegenteil, von Kälte und Gnadenlosigkeit durchdrungen. »Das Geheul ist so kalt wie das Geschäft.« So treten Ausdruck und Klage, das 130 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Affektive und Mimetische, die Elemente, die als Formen der Mimesis gegen Zurichtung und Disziplinierung protestieren, in der totalitären Herrschaft auf die Seite der Kälte und der Herrschaft über. Die Faschisten »enteignen noch den Klagelaut der Natur und machen ihn zum Element ihrer Technik«. Das ist das wahrhaft Perfide an der faschistischen Herrschaft, dass sie sich auch ihr Gegenteil noch einverleibt, also das, was gegen sie gerichtet war: die Klage, in der die Angst gezeigt und ausgedrückt werden konnte. Dass die Formen des Protests und des Widerstands, der Opposition und des Einspruchs in der faschistischen Herrschaft instrumentalisiert und zum Bestandteil ihrer Technik gemacht werden, ist das zentrale Argument dieser fünften These. Die Mimesis, die Elemente, die genuin auf die Seite des Protestes und Widerstands, der Freiheit und des spielerischen Ausdrucks gehören, werden von den Faschisten in Dienst genommen und für die Zwecke der Herrschaft eingesetzt. Heulen, Brüllen, Schreien sind eigentlich die Ausdrucksformen des Opfers und der Verfolgten, sie sind Schreie des Schreckens, der Angst und des Entsetzens. Im Faschismus aber brüllen und heulen die Verfolger und Quäler, die die Pogrome veranstalten und die Opfer in die Vernichtungsstätten schicken. »Ihr Gebrüll ist fürs Pogrom, was die Lärmvorrichtung für die deutsche Fliegerbombe ist: der Schreckensschrei, der Schrecken bringt, wird angedreht. Vom Wehlaut des Opfers, der zuerst Gewalt beim Namen rief, ja, vom bloßen Wort, das die Opfer meint: Franzose, Neger, Jude, lassen sie sich absichtlich in die Verzweiflung von Verfolgten versetzen, die zuschlagen müssen. Sie sind das falsche Konterfei der schreckhaften Mimesis.« Die Verfolger machen sich im Gebrüll und Geheul zu denjenigen, die selber verfolgt werden und aus reiner Notwehr zurück schlagen. Dieser Mechanismus ist bekannt. Wer sich von Verfolgern umzingelt sieht, wer sich selbst als wehrloses Objekt von Verschwörungen und Machenschaften wahrnimmt, der hat jederzeit vor sich selber und anderen das Recht, sich nicht in sein Schicksal zu ergeben, sondern sich zu schützen und zu wehren. Dann ist Angreifen nur eine Verteidigung. Adorno und Horkheimer verfolgen diesen Mechanismus hier bis in die Feinheiten des Ausdrucks und in die menschliche Triebdynamik hinein und bringen ihn in Verbindung mit einer Theorie des Kunstwerks. Das Konterfei der Verfolger und Quäler trägt die Züge mimetischer Reaktion auf den Schrecken – aber es ist selber der Inbegriff dieses Schreckens. Die Argumentationsfigur der Projektion, die bei dieser Überlegung im Hintergrund steht, wird auch in den folgenden Sätzen und Gedanken in Anspruch genommen. Die Verfolger projizieren ihr inneres Wesen auf die Außenwelt und besiedeln sie mit den Figuren und Bildern, die ihr eigenes Inneres charakterisieren – und umgekehrt reproduzieren sie in sich, wovon sie sich distanzieren. Sie »fürchten« sich vor der »Unersättlichkeit der Macht« und »reproduzieren« sie zugleich in sich, sie werden in ihrem 131 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Machthunger ihrerseits so unersättlich wie sie es anderen unterstellen. Sie nehmen die Juden als diejenigen wahr, die alles gebrauchen und besitzen wollen. In Wirklichkeit gilt das für sie selbst. Die faschistischen Verfolger sind von jener unbegrenzten Gier besessen, die sie den Juden und anderen Gruppen unterstellen. Sie glauben, dass die Juden nichts anderes und niemanden neben sich dulden wollen und von Grund auf expansiv sind. Tatsächlich aber sind es die Antisemiten selber, die niemanden neben sich ertragen können, die alles besitzen und allen anderen Schrecken einjagen wollen. »Alles soll gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des anderen ist das Ärgernis. Jeder andere ›macht sich breit‹ und muss in seine Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Grauens.« Auch das Motiv, nach dem die Antisemiten in den Juden das verfolgen, wonach sie sich selber sehnen, wird hier noch einmal aufgenommen und mit dem verwandten Motiv verbunden, dass alles, was es an Schrecklichem gibt, und alles, was die Menschen fürchten, den Juden angetan wird. »Was Unterschlupf sucht, soll ihn nicht finden; denen, die ausdrücken, wonach alle süchtig sind, den Frieden, die Heimat, die Freiheit: den Nomaden und Gauklern hat man seit je das Heimatrecht verwehrt. Was einer fürchtet, wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll keine sein. Die Verwüstung der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er selbst. Die Vertriebenen erwecken zwangshaft die Lust zu vertreiben. Am Zeichen, das Gewalt an ihnen hinterlassen hat, entzündet endlos sich Gewalt.« Friede, Ruhe, Heimat, Freiheit – das sind jene Gedanken des Glücks, die die Antisemiten nicht mehr aushalten können und deswegen in den Personen bekämpft werden, die sie zu verkörpern scheinen. Die Juden, so heißt es, geben keine Ruhe, und sie sind in alle Welt verstreut, sie sind überall. In Wirklichkeit ist es so, dass die Antisemiten keine Ruhe geben – nicht einmal den Toten auf den Friedhöfen. Und gerade diejenigen, die immer wieder in ihrer Geschichte vertrieben worden sind, deren Los das Exil ist – gerade sie werden immer wieder und bis in alle Ewigkeit vertrieben. Was selber bereits das Resultat von Unterdrückung und Gewalt ist, also das Unstetige und Umhergetriebene, aber auch die darauf reagierende Sehnsucht nach Heimat, Zugehörigkeit und Freiheit – alle diese Elemente, die die Antisemiten den Juden zuschreiben, sind für sie eine fortgesetzte Provokation, der sie mit Gewalt und Unterdrückung begegnen. Die idiosynkratische, spontane, emotional tief sitzende impulsive Reaktion der Antisemiten ist ihrerseits eine Reaktion auf den unkontrollierten und unkontrollierbaren mimetischen Impuls, der selbst im Todeskampf noch aufscheint und den die Antisemiten bei ihren Opfern auch dort noch wahrnehmen, wo diese schon ganz in ihrer Gewalt sind. »Getilgt soll werden, was bloß vegetieren will. In den chaotisch-regelhaften Fluchtreaktionen der niederen Tiere, in den Figuren des Gewimmels, in 132 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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den konvulsivischen Gesten von Gemarterten stellt sich dar, was am armen Leben trotz allem sich nicht ganz beherrschen lässt: der mimetische Impuls. Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv vorgibt.« Nach Adorno und Horkheimer entzieht sich der mimetische Impuls grundsätzlich der Herrschaft und der Unterdrückung. Er zeigt sich im Verhalten der Tiere auf der Flucht und in Panik so gut wie in den krampfartigen Gesten von Gemarterten und Gefolterten, die ganz und gar vom Physischen, Organischen und Animalischen her determiniert sind, ohne dass sie den Weg über das Bewusstsein und den Willen genommen hätten. Dieses Element des Vitalen ist untilgbar. Noch am äußersten Ende des Lebens wird sichtbar, dass das Leben nicht auf tote Materie reduzierbar und deswegen totale Herrschaft niemals ganz möglich ist. Offenbar ist es dieser unzerstörbare mimetische Impuls, so spekulieren Horkheimer und Adorno, der aufreizend und provokativ auf die Verfolger wirkt, ihre selbstgewisse Zerstörungswut durchkreuzt und gerade dadurch nur noch umso heftiger eine automatisierte Aggression auslöst – eben jene idiosynkratische, also ihrerseits biologisch und organisch determinierte Gegenreaktion. Die Verfolger reagieren idiosynkratisch, impulsiv, unbeherrscht, blind auf das, was sich der Herrschaft entzieht, auf das biologische Urverhalten, das im mimetischen Impuls zum Ausdruck kommt.

V: 6 »Man darf dem verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt.« Im sechsten Absatz der fünften These wird die Idiosynkrasie als Motiv des Antisemitismus mit Hilfe der Einsichten der Psychoanalyse analysiert und aufgeklärt. Die Idiosynkrasie, die den Antisemitismus speist, wird als »seelische Energie« bezeichnet, freilich dann sogleich mit dem Adjektiv »rationalisierte« Idiosynkrasie versehen. Schon das macht deutlich, dass diese Idiosynkrasie nicht als unvermittelte, ursprüngliche Reaktion des Körperlich-Organischen verstanden werden kann, sondern auf eine Vorgeschichte verweist und im Faschismus zweckhaft und absichtsvoll in Dienst genommen wird. Was das genau bedeutet, wird in den dann folgenden Sätzen und Überlegungen entfaltet. Der zentrale Gedanke ist, dass »Führer und Gefolgschaft« »in Ehren« der »mimetischen Verlockung« nachgeben, dass sie sich also selber genau so verhalten wie sie es bei den verfolgten Juden zutiefst verabscheuen und ablehnen. »Sie können den Juden nicht leiden 133 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.« Diese Aussagen zielen auf die äußeren Erscheinungsformen der antisemitischen Verfolger und nehmen diese Erscheinungsseiten ganz ernst. Sie werden als »mimetische Chiffren« gedeutet: die »argumentierende Handbewegung«, der »singende Tonfall«, die Neigungen der »Riechlust« – diese Verhaltensweisen legen die Antisemiten unentwegt an den Tag. Besonders die Bedeutung, die die Antisemiten der Nase, dem physiognomischen »principium individuationis« zumessen, ist aufschlussreich. Das Riechen steht für die »Sehnsucht nach dem Unteren, nach unmittelbarer Vereinigung mit umgebender Natur, mit Erde und Schlamm«. Das Riechen ist der Sinn, der die Menschen am deutlichsten mit ihrer natürlichen Umgebung verbindet, der sie anzieht und dazu verleitet, so zu werden wie ein Stück animalischer Natur. Zudem ist die Riechlust aufs engste mit der Sexualität verknüpft. Das Riechen ist deswegen »mehr Ausdruck als andere Sinne«. Die Nase ist der Inbegriff einer unkontrollierten und stark organisch geprägten Reaktionsform des Menschen. »Im Sehen bleibt man, wer man ist, im Riechen geht man auf.« Das Auge wahrt die Distanz zum Gesehenen, das Sehen ist über größere Entfernungen hinweg möglich und lässt das wahrgenommene Objekt, wo es ist, und auch das Subjekt kann dort bleiben, wo es ist. Über das Schließen der Augen kann sich der Mensch zudem in sich zurücknehmen. Beim Riechen dagegen verändern sich die Menschen. Sie reagieren sehr viel schneller mit emotionalen Äußerungen der Distanzierung und Abwehr oder der Anziehung. Beim Riechen zeigen sie ganz ungeniert die Verhaltensweisen vieler Tiere, denen man, wenn sie den Kopf vorne und nicht oben tragen, eine besonders intensive Riechlust zuschreiben darf. Das gilt besonders für das Schnüffeln und Schnauben der Schweine. Wenn man einen anderen nicht riechen kann, ist das ein überaus affektiv gefärbtes Urteil, das von tiefem Widerwillen zeugt und kaum revidierbar ist. Nach Freud (1909: 462) ist mit der »Abkehrung des Menschen vom Erdboden«, also mit dem aufrechten Gang, und mit dem Fortschreiten der Zivilisation generell die »organische Verdrängung der Riechlust« und in eins damit der Sexualität verbunden. Ganz ähnlich argumentieren Adorno und Horkheimer. Der Geruch gilt ihnen zufolge den Zivilisierten »als Schmach, als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer Rassen und unedler Tiere«. Im Stadium fortgeschrittener Zivilisation ist die Lust am Riechen verächtlich und verpönt. Die Zivilisierten verstoßen gegen ein Tabu, wenn sie sich ihr hingeben. Nur wenn es höheren Zwecken dient, dürfen sie sich die Lust gestatten, die mit dem Riechen immer noch verbunden ist. »Dem Zivilisierten ist Hingabe an solche Lust nur gestattet, wenn das Verbot durch Rationalisierung im Dienst wirklich oder scheinbar praktischer Zwecke suspendiert wird.« Und in der Zuspitzung dieses Gedankens folgt daraus: 134 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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»Man darf dem verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, daß es seiner Ausrottung gilt.« Erneut begegnet uns hier das zentrale Argument dieser fünften These. Die Mimesis tritt auf die Seite derjenigen über, denen alle mimetischen Impulse ein Gräuel sind und deren Mission und Obsession darin besteht, die unkontrollierten und unkontrollierbaren mimetischen Impulse auszurotten. Die Mimesis wird in den Dienst ihrer Ausrottung gestellt. In der Form der Negation darf man dem Verpönten und Verdrängten Zutritt erlauben, und die Form nimmt selber das auf, was sie negiert. Die Antisemiten sind in ihrem Verhalten vollkommen von den Triebimpulsen bestimmt, die ihren Hass herausfordern und die sie bei den Juden mit Vernichtungswut überziehen. Auch die dann folgenden Sätze führen diese Argumentationsfigur weiter. Zunächst wird »die Erscheinung des Spaßes oder des Ulks« damit in Verbindung gebracht. Wir kennen das, was Adorno und Horkheimer hier im Blick haben, aus vielen Bildern und Schilderungen. Immer wieder ist das Drangsalieren, Schikanieren und Quälen der Juden als ein großes Gaudi angelegt und wahrgenommen worden. Die Verfolger empfinden unbändigen Spaß dabei, wenn sie ihre Opfer erniedrigen und martern können. Das ist die »elende Parodie der Erfüllung«, die »mimetische Funktion« wird »hämisch genossen«. Und das ist in allem das Gegenteil der Erfüllung, die sich in befreitem und befreiendem Lachen niederschlagen kann. Die Häme zeigt an, dass die Mimesis, die an diesem Geschehen beteiligt ist, der Verachtung unterliegt und dass diejenigen, die ihr nachgeben, sich dafür immer auch selber verachten. Häme ist stets ein Zeichen der Entstellung und der Beimengung von Verdrängung in der Lust. Sie verrät, dass der Genuss auf Kosten anderer geht, sie macht die Verzerrung, Zurichtung und Entstellung deutlich, die der Triebwunsch durchlaufen hat, bevor er befriedigt wird. Das gilt auch für das Riechen, das im Text nun noch einmal aufgegriffen wird. »Wer Gerüche wittert, um sie zu tilgen, ›schlechte‹ Gerüche, darf das Schnuppern nach Herzenslust nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude hat. Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweisen.« Die verpönten Regungen behalten auch und gerade im Zustand der Versagung ihren verführerischen Charakter. Der Verlockung, die von ihnen ausgeht, darf man nachgeben, wenn von vornherein klar ist, dass dadurch die Versagung selber nicht rückgängig gemacht, sondern im Gegenteil bestätigt und verstärkt, wiederholt und stabilisiert wird. Diese Konstellation führt zum Lachen, genauer: zum hämischen Lachen. Eine Regung wird zugelassen und genossen, die eigentlich einem Tabu unterliegt. Nur unter der Bedingung kann sie durchgelassen und befriedigt 135 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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werden, dass sie auf keinen Fall rehabilitiert und in den Kreis des Erlaubten aufgenommen wird. Die Lösung dieser paradoxen Anforderung besteht darin, dass die Versagung, der die Verlockungen unterliegen, dadurch bestätigt wird, dass man ihnen nachgibt. Das allgemeine »Schema der antisemitischen Reaktionsweisen« hat sein Fundament in eben dieser »autoritären Freigabe des Verbotenen«. Dafür ist das Auftreten im »Kollektiv« und in der »Gemeinschaft der Artgenossen« unverzichtbar. Für sich allein kann der Antisemit diesen Schritt nicht machen. In der Gruppe dagegen werden alle Beteiligten zu Komplizen dieses kalkulierten Aktes der mimetischen Hingabe. Gemeinsam kann man sich erlauben, was sonst verboten ist, und ein jeder wird dadurch zum Bestandteil einer verschworenen Gemeinschaft der Vernichtung des Impulses, dem man selber nachgibt. Die Überschreitung der zivilisatorischen Grenzen und Versagungen zum Zwecke ihrer Bestätigung ist das Medium der Vergemeinschaftung, in der sich die Antisemiten zu Banden zusammenschließen. Das »Getöse«, das »organisierte Gelächter«, ist die Reaktion auf die Überschreitung, die mit der Bestätigung des Verbots in eins fällt. Mit der Steigerung der »Anklagen und Drohungen« steigen »Wut« und »Hohn« in ungeahnte Höhen. Auch sie gehören unter die Rubrik der Wiederkehr verdrängter Mimesis, sie sind »vergiftete Nachahmung«, in der der Protest gegen die Herrschaft auf die Seite der Herrschaft und der Verfolger übertritt. Im höhnischen Gelächter besiegeln die marodierenden Banden ihre Gemeinschaft und bestätigen sich die Freigabe des Verbotenen, die seiner Ausrottung dient. Das ist der psychodynamische Hintersinn der »Ästhetisierung der Politik« (Walter Benjamin), die den Faschismus charakterisiert. Sie ermöglicht mimetisches Verhalten und macht damit zugleich die Mimesis zur Herrschaftstechnik. Die folgenden Sätze fassen diesen Gedanken verdichtet zusammen: »Der Sinn des faschistischen Formelwesens, der ritualen Disziplin, der Uniformen und der gesamten vorgeblich irrationalen Apparatur ist es, mimetisches Verhalten zu ermöglichen. Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis.« Die äußere Seite der faschistischen Bewegungen zeigt in dieser Interpretation ihre wahre Bedeutung. Sie ist kein Zufall, sie ist nicht einfach irrational, oberflächlich und entbehrlich, sondern gehört zum Wesen der Sache hinzu. Sie trägt die Züge einer ausgeklügelten Inszenierungstechnik. Es sind lauter mimetische Verhaltensweisen, die zum Erkennungszeichen des Antisemitismus und der autoritären Bewegungen geworden sind. »Der Führer mit dem Schmierengesicht und dem Charisma der andrehbaren Hysterie führt den Reigen. Seine Vorstellung leistet stellvertretend und im Bilde, was allen anderen in der Realität verwehrt ist. Hitler 136 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

kann gestikulieren wie ein Clown, Mussolini falsche Töne wagen wie ein Provinztenor, Goebbels geläufig reden wie der jüdische Agent, den er zu ermorden empfiehlt, Coughlin Liebe predigen wie nur der Heiland, dessen Kreuzigung er darstellt, auf daß stets wieder Blut vergossen werde.« Der letzte Satz dieses langen Absatzes fasst dann das Ergebnis der Überlegungen zusammen und enthält die Quintessenz der psychoanalytisch-sozialpsychologischen Theorie der Herrschaft des Nationalsozialismus. »Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen strebt.« Die faschistischen Bewegungen sind deswegen zu Recht als totalitär zu charakterisieren, weil sie den Antipoden jeglicher Herrschaft, die rebellischen und antiautoritären Impulse, zum Instrument ihrer Perfektionierung und Stärke machen. Die totalitäre Herrschaft ist beides: Herrschaft und Rebellion gegen die Herrschaft, protestierender, antiautoritärer Sohn und zugleich versagender, autoritärer Vater.

V: 7 »Es verschlägt wenig, ob die Juden als Individuen wirklich noch jene mimetischen Züge tragen.« Der siebte Absatz beginnt mit der Behauptung: »Dieser Mechanismus bedarf der Juden.« Dieser apodiktische Satz ist aber hier tatsächlich eher eine Behauptung als das Resultat der bisherigen Überlegungen. Wir haben bereits an verschiedenen Stellen gesehen, dass Horkheimer und Adorno in den Elementen immer wieder vor der Schwierigkeit stehen, die Verfolgung und Vernichtung der Juden mit den allgemeinen Überlegungen zum Unterdrückungscharakter der menschlichen Zivilisation plausibel zu verbinden. Wir haben es in diesem Absatz mit einem weiteren Versuch der Lösung dieser Schwierigkeit zu tun. Die Juden, so heißt es im nächsten Satz, wirken auf »den legitimen Sohn der gentilen Zivilisation« wie ein »magnetisches Feld«, das sie in ihren Bann zieht. Es handelt sich freilich um eine »künstlich gesteigerte Sichtbarkeit«, der die Juden unterworfen werden. Diese Formulierung weist darauf hin, dass die eigentümliche Attraktion, die die Juden auf die Antisemiten ausüben, immer schon das Resultat einer gezielten Aktivität ist und nichts Ursprüngliches. Der »Verwurzelte«, also der Angehörige der gentilen Zivilisation, erfährt an den Juden zugleich seine »Gleichheit« wie seine »Differenz«. Er muss diese Erfahrung der Gleichheit, »das Menschliche«, das ihn mit den Juden verbindet, mit aller Macht abwehren und die Position des »Gegensatzes, der Fremdheit« zu ihnen aufrechterhalten. Der daran sich anschließende Satz hält noch einmal den Mechanismus der 137 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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psychologischen Totalisierung der Herrschaft präzise fest: »So werden die tabuierten, der Arbeit in ihrer herrschenden Ordnung zuwiderlaufenden Regungen in konformierende Idiosynkrasien umgesetzt.« Diese ersten Sätze des siebten Absatzes sind nur sehr lose miteinander verbunden. Sie bieten durchaus noch keine plausible Erklärung und Begründung für die apodiktische Behauptung des ersten Satzes, nach dem die mimetische Herrschaftspraxis der Juden bedarf. Warum die Juden wie Magneten auf die Verfolger wirken, ist damit noch nicht beantwortet. Dann folgt die Anspielung auf die Verwurzelten und die Wurzellosen. Damit ist die Überlegung verbunden, dass die Verwurzelten durch die wurzellosen Juden an ihre eigene Wurzellosigkeit erinnert werden, diese Erinnerung nicht ertragen und sie deswegen abspalten. Diesen Mechanismus kennen wir bereits aus der zweiten These. Dann schließt der zusammenfassende Satz an, der erneut die psychoanalytische Totalitarismustheorie ins Spiel bringt und noch einmal festhält, dass der Faschismus die tabuierten Regungen in konformierende Idiosynkrasien übersetzt. Der Gedankengang ist durch diese Sätze aber nicht wirklich vorangekommen. Nun wechselt der Text auf die Seite der Juden und nimmt deren Perspektive ein. Die Aussage lautet, dass die »ökonomische Position der Juden« gegen ihre Verfolgung und gegen die auf sie gerichteten Projektionen der Antisemiten keinen Schutz bietet. Die Juden bleiben immer die Wurzellosen, die Dreckigen, die Sinnlichen und damit diejenigen, die sowohl bedrohlich wie verlockend sind. Dass die Juden die »letzten betrogenen Betrüger der liberalistischen Ideologie« sind, fasst die Argumentation der ersten und dritten These der Elemente dann noch einmal bündig zusammen, bringt die Überlegungen aber ebenfalls nicht wirklich weiter. Dann folgt ein Satz, der wiederum eher eine Behauptung aufstellt, statt zu argumentieren: Da die Juden »zur Erzeugung jener seelischen Induktionsströme so sehr geeignet sind, werden sie zu solchen Funktionen willenlos bereitgestellt«. Hier wird, ähnlich wie im ersten Satz dieses Absatzes, das, was eigentlich erklärt werden sollte, selber bereits als Erklärung in Anspruch genommen. Die Frage, warum die Juden »zur Erzeugung jener seelischen Induktionsströme so sehr geeignet sind«, bleibt aber nach wie vor offen. An dem Faktum selber kann kein Zweifel bestehen, aber es ist damit noch keineswegs verständlich und einsichtig gemacht worden. Zweifellos wirken die Juden aufreizend auf die Geblendeten. Ob das aber etwas mit dem realen Verhalten der Juden zu tun hat, ist bislang genauso unklar geblieben wie die Frage, ob die Juden in dieser ›Funktion‹ durch andere Bevölkerungsgruppen ersetzbar sind. Die Aussage, dass die Juden als Objekt des Hasses »bereitgestellt« werden, transportiert die Annahme einer Zielrichtung und einer bewussten Intention. Im Kontrast dazu steht die Behauptung, dass das »willenlos« geschieht. Das Wort »willenlos« kann sich nur auf die Verfolger 138 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

beziehen und meint im Kontext des Satzes offenbar, dass die Bereitstellung der Juden als Objekte des Hasses und der Verfolgung von unbewussten Prozessen gesteuert wird und nicht der Logik einer rationalen Wahl folgt. Die Bestimmung der Juden als Opfer der Gewalt geschieht also »blind« und »scharfsichtig« zugleich. »Blind« ist sie, weil sie ganz unreflektiert und affektbestimmt vonstattengeht, »scharfsichtig« ist sie, weil die den Juden von den Verfolgern zugedachte Rolle und Funktion als Inbegriff der »rebellierenden Natur« ausgezeichnet zu den über die Jahrhunderte hinweg entwickelten antisemitischen Vorurteilen passt. Damit ist nun tatsächlich eine Annäherung an die Frage erreicht, warum ausgerechnet die Juden zum absoluten Feind erklärt worden sind. Die Klischees, die über die Juden immer schon im Umlauf waren, eignen sich wie sonst nichts für die mimetische Herrschaftspraxis. Deswegen kann der Hinweis auch wenig ausrichten, dass »die Juden als Individuen« in Wirklichkeit vielleicht gar nicht mehr die »mimetischen Züge tragen«, die ihnen von den Antisemiten zugeschrieben werden. Die Aufforderung zur Differenzierung ist gegen die Gewalt seelischer Energien machtlos. Gegen eine Aufklärung, die damit argumentiert, dass die Juden ihren Klischees nicht mehr entsprechen, erweist sich der Antisemitismus durchaus als immun. Sie setzt Erfahrungsfähigkeit und Zugänglichkeit gegenüber Argumenten voraus – Qualitäten und Eigenschaften, die aber den Antisemiten längst abhandengekommen sind. Es folgt im Text dann eine kleine Reprise der funktionalistischen und ökonomischen Antisemitismustheorie. Die »ökonomischen Machthaber« werden erneut ins Spiel gebracht, die ihre »Angst vor der Heranziehung faschistischer Sachwalter« überwinden und untereinander gleichsam »automatisch« die »Harmonie der Volksgemeinschaft« gerade in der Wendung gegen die Juden herstellen. Die in diesem Satz anklingende funktionalistische Überlegung, dass eine gezielte Strategie hinter dem Antisemitismus steckt, wird im darauf folgenden Satz dann freilich bereits implizit wieder zurückgenommen. Die Juden, so heißt es dort, werden »von der Herrschaft preisgegeben, wenn diese kraft ihrer fortschreitenden Entfremdung von Natur in bloße Natur zurückschlägt«. Hier geht es nicht um die Rolle der Juden in der Sphäre der Zirkulation, sondern um Naturherrschaft und Entfremdung. Die voranschreitende Beherrschung der Natur nähert sich dem an, wogegen sie gerichtet ist und wird wieder »bloße Natur«. Damit biegt die Argumentation auf die Ebene zurück, die das Gesicht dieser fünften These bestimmt. Und sie wird erneut mit dem Thema der Projektion verbunden, das in der nachfolgenden sechsten These dann ausführlich aufgegriffen und durchdacht werden wird. »Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüst der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ.« Was 139 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

die Verfolger den Juden vorwerfen, ist, »verkleidet als Anklage«, der Inbegriff ihrer eigenen Lust und Praxis. Die Juden hängen magischen und blutigen Ritualen an, so behaupten die Antisemiten. In Wahrheit sind sie es, die der »mimetischen Opferpraxis« huldigen und sie den Juden gegenüber praktizieren. Die restlichen Sätze des Absatzes widmen sich der weiteren Ausführung dieses Gedankens. »Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr.« Die blutigen Rituale der Vorzeit werden den Juden als andauernde Praxis zugeschrieben. Das dient den Antisemiten dazu, sich das Grauen dieser Praktiken ihrerseits zu eigen zu machen und es, als »rationales Interesse« an der Ausrottung dieses Grauens der Vorzeit verkleidet, gegen die Juden zum Einsatz zu bringen und fortzusetzen. So kann das Grauen »real vollstreckt werden«, und die Wirklichkeit der »Vollstreckung des Bösen« ist noch weitaus schlimmer als der »Inhalt der Projektion«. Was die Antisemiten den Juden unterstellen: die Praxis der »Kindermorde und sadistischen Exzesse, der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung«, ist beinahe harmlos im Vergleich zu dem, was die Verfolger in blindem Vernichtungswahn an den Tag legen. Schon »das bloße Wort Jude« genügt, um das Bild einer »blutige(n) Grimasse« heraufzubeschwören. In der Hakenkreuzfahne sehen Adorno und Horkheimer das Abbild dieser blutigen Grimasse: »Totenschädel und gerädertes Kreuz in einem«. Sie signalisiert und drückt damit das aus, was den Juden bevorsteht. »Daß einer Jude heißt, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht«, es wirkt als Aufforderung, ihn blutig zu schlagen, ihn zu rädern, aufzuhängen und in einen Totenschädel zu verwandeln.

V: 8 »Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt.« Der erste Satz dieses letzten Absatzes der fünften These ruft noch einmal die zentrale Aussage in Erinnerung, die der Dialektik der Aufklärung insgesamt zugrunde liegt. »Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt.« Der zweite Satz behauptet, dass die Juden am Prozess der Naturbeherrschung maßgeblich beteiligt gewesen sind, »mit Aufklärung nicht weniger als mit Zynismus«. Damit wird ein Gesichtspunkt wieder aufgenommen, der in der dritten These bereits ausführlicher behandelt worden ist. Die Juden waren in ihrer Geschichte die Vorreiter der zivilisatorischen Vernunft und der Aufklärung, und sie haben mit Zynismus und Achselzucken auf die 140 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Antisemitismus

Opfer herabgeschaut, die in diesem Prozess auf der Strecke geblieben sind. So sind die Juden in diesem Prozess der Zivilisation Opfer und Täter zugleich. Diese eigentümliche Zwischenstellung der Juden im Prozess der Zivilisation wird in den folgenden Sätzen weiter ausgeführt. Sie war ja bereits in der vierten These, in der die religiösen Motive des Antisemitismus erörtert wurden, von großer Bedeutung. Einige Argumente aus der vierten These werden nun erneut aufgegriffen. Das Judentum ist das »älteste überlebende Patriarchat« und die »Inkarnation des Monotheismus«. Es hat die Tabus und magisch-animistischen Praktiken der Vorzeit in »zivilisatorische Maximen« verwandelt. Damit waren die Juden die Vorreiter einer fortschrittlichen Entwicklung von Aufklärung und Rationalität, »als die anderen noch bei der Magie hielten«. Das gilt auch für das Christentum, dem es nicht gelungen ist, die magische Praxis zu überwinden. Die Juden dagegen, das hat die vierte These ausführlich zu zeigen versucht, haben die magische Praxis hinter sich gelassen, indem sie sich deren »eigene(.) Kraft« zunutze gemacht und gegen die Magie gerichtet haben. Der jüdische »Gottesdienst« überwindet die Magie, indem er sich mit der rationalen Praxis der Bewältigung des Alltags verbindet und sich nicht, wie im Christentum, auf einen kulturellen Sonderbereich beschränkt. In den »reinen Pflichten des Rituals« haben die Juden die magische »Angleichung an die Natur« auch nicht »ausgerottet«, wie es im rationalen Zeitalter von Wissenschaft und industrieller Produktion geschieht. Sie haben die Natur nicht gewaltsam negiert oder liquidiert, sondern sie »aufgehoben«, d.h. in eine Praxis transformiert, in der die Natur und die Angleichung an sie zugleich negiert, aufgenommen und weitergeführt wird. Damit bewahren die Juden der Natur »das versöhnende Gedächtnis«, denn die Natur ist für sie immer mehr als nur das Objekt von Herrschaft und kalkulierender Rationalität. Im jüdischen Ritual wird die Natur nicht gebrochen und unterworfen, sondern als kostbares Gut aufgehoben und bewahrt, »ohne durchs Symbol in Mythologie zurückzufallen«, wie das im Christentum der Fall ist, das die Welt und die Natur durch das freiwillige Opfer von Jesus bereits als erlöst begreift. Für die Juden ist die Natur weder ein Stück tote Materie, die der Herrschaft unterworfen werden muss, noch etwas bereits Erlöstes. Sie ist unerlöst, und in der Spannung, in der sie zur menschlichen Praxis steht, ist sie eine stetige Herausforderung. Diese eigentümliche Position der Juden prädestiniert sie dafür, zum Inbegriff vollkommen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Zuschreibungen zu werden. Sie gelten »der fortgeschrittenen Zivilisation für zurückgeblieben und allzu weit voran, für ähnlich und unähnlich, für gescheit und dumm«. Als zurückgeblieben gelten sie, weil sie hartnäckig an ihren vormodernen Ritualen und Angewohnheiten festhalten. Weit voran scheinen sie zu sein, weil sie der Aufklärung verpflichtet sind, sich mit 141 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

dem Monotheismus eine große Strenge des Verhaltens auferlegten und sich mit der Schrift den Kontinent abstrakter Rationalität und Geistigkeit zugänglich machten. Für das eine wie für das andere werden sie gehasst und verfolgt. Sie waren »die ersten Bürger« und haben als erste im Monotheismus den animalischen Verlockungen der Triebnatur widerstanden. Jetzt aber werden sie von ihren antisemitischen Verfolgern gerade »der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und Erde« für schuldig befunden. Sie haben »den Begriff des Koscheren erfunden« und werden nun »als Schweine verfolgt«. So machen sich die Antisemiten paradoxerweise zu »Vollstreckern des alten Testaments«. Die Juden haben vom »Baum der Erkenntnis gegessen« und das Stadium der vorzivilisatorischen Naturverfallenheit überwunden. Die Antisemiten spielen sich auf als Gott, der nach dem Sündenfall der Erkenntnis bei der Vertreibung aus dem Paradies zugleich den Fluch ausgesprochen hat, dass Adam Staub ist und zum Staub zurückkehren muss.

142 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These VI Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion VI: 1 »Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion.« Die sechste These, die in der ersten Fassung der Dialektik der Aufklärung die letzte war, ist die längste These der Elemente. In ihr wird explizit zum Gegenstand gemacht, was auch in den früheren Thesen immer wieder bereits angesprochen worden ist: die Projektion. Der erste Satz der These springt gleich in das Thema hinein: »Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion.« Irritierend und neu daran ist das Adjektiv »falsch«. Es unterstellt, dass es ja auch so etwas geben könnte wie eine richtige Projektion. Dass Horkheimer und Adorno tatsächlich diese Auffassung vertreten, werden wir später sehen. Der erste Absatz dieser These stellt zunächst nur die Beziehung zur Mimesis her, die der Gegenstand der vorherigen These war, und erklärt auf sehr allgemeine Weise, was unter Projektion zu verstehen ist. Projektion ist das »Widerspiel zur echten Mimesis«, sie steht also in enger Beziehung zur Mimesis, ist aber auch ihr Gegenteil, genauer betrachtet ist sie »vielleicht« das Resultat und der Niederschlag verdrängter Mimesis. Die Verdrängung des mimetischen Impulses bewirkt offenbar die besondere Bereitschaft und Neigung zum falschen Projizieren. Mimesis und falsche Projektion ähneln einander darin, dass sie auf jeweils entgegengesetzte Weise die Differenz zwischen Ich und Umwelt negieren und Gleichheit zwischen ihnen herstellen. Sie schlagen eine falsche Brücke zwischen innen und außen, lösen die Spannung einseitig auf, so dass zwischen dem eigenen und dem fremden Anteil an der Erkenntnis nicht unterschieden werden kann. In der Mimesis macht sich das Ich »der Umwelt ähnlich«, in der falschen Projektion macht umgekehrt das Ich »die Umwelt sich ähnlich«. Es geht mithin um das Verhältnis zwischen innen und außen. In der Mimesis schmiegt sich das Innen dem fremden Außen wie etwas Vertrautem an, in der falschen Projektion wird das »sprungbereite Innen«, eine innen lauernde aggressive Bereitschaft zur Überwältigung, ins Äußere »versetzt«, und alles, was außen ist, auch das Vertrauteste noch, wird auf diese Weise zum »Feind«. Dahinter steht ein Mechanismus der Verdrängung, der im dann folgenden Satz näher gefasst und beschrieben wird. Nach außen wird projiziert, was innen, als eigene Regung vom Subjekt als zu bedrohlich nicht akzeptiert werden 143 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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konnte und deswegen verdrängt werden musste. Diese Regungen sind durch die Verdrängung jedoch nicht ausgeschaltet oder wirkungslos gemacht worden, sondern erhalten sich, werden im Unbewussten gespeichert und machen sich immer wieder in Form von Symptomen oder in Form von verzerrter Wahrnehmung, als Mechanismus der falschen Projektion geltend. Im individuellen Krankheitsbild ist die Projektionsfläche durch die Krankheit selber determiniert und »gehorcht« ihren »Gesetzen«. Im Faschismus dagegen wird das »Objekt«, das sich die Projektion als Fläche ihrer Tätigkeit aussucht, »von Politik ergriffen«, kalkuliert und »realitätsgerecht« bestimmt, und das »Wahnsystem (wird) zur vernünftigen Norm in der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht«. Die eigentlich naheliegende Frage, wer diese Wahl vornimmt und steuert und warum sie die Juden trifft, wird hier zunächst nicht gestellt. Horkheimer und Adorno bedienen sich vielmehr einer Formulierung des täterlosen Passivs. Sie legen den Akzent nicht auf die Klärung, wer Subjekt und wer Objekt ist, sondern wenden sich dem »Mechanismus« zu, der dabei am Werke ist. Die »totalitäre Ordnung« hat diesen Mechanismus nicht erfunden, sondern nur »in Dienst« genommen. Der Mechanismus selber, also die Projektion, ist »so alt wie die Zivilisation«. Die dann folgenden Sätze wenden sich nicht der Frage der Entstehung der totalitären Ordnung, ihren Entstehungs- und Erfolgsbedingungen zu, sondern suchen diesen alten Mechanismus der Zivilisation zu erläutern. Falsche Projektion ist immer die Folge von Unterdrückung verpönter Triebregungen. Unterdrückt werden die »geschlechtlichen Regungen«. Sie sind durch den Akt der Unterdrückung bzw. Verdrängung nicht einfach verschwunden und wirkungslos gemacht, sondern werden gerade dadurch erhalten und konserviert. Bei den »Einzelnen« wie bei den »Völkern« kann man das daran erkennen, dass die verdrängten geschlechtlichen Regungen auf dem Wege der Projektion nun der Umwelt zugeschrieben werden. Auf diesem Wege der Zuschreibung werden sie allerdings zugleich mit diabolischen und aggressiven Vorzeichen versehen. Das Verdrängte, das auf dem Weg der Projektion nach außen verlegt wird, erscheint in diesen äußeren Zuschreibungen als Aggressor und »Verfolger«. Auf diese Weise erklären Horkheimer und Adorno den auffälligen Zug, dass die totalitären Verfolger und Mörder die Opfer ihrer Mordlust als bedrohliche und beängstigende Gruppe wahrnehmen, sich selber dagegen in der Rolle des Bedrohten sehen und auf diese Weise ihre todbringenden Aggressionen als »Notwehr« verstehen, die nur gegen eine »unerträgliche Bedrohung vorgeht«. Diese eigentümliche Verkehrung wird im nächsten Satz als »Rationalisierung« bezeichnet, die »eine Finte« und zugleich »zwangshaft« ist. Das Wort Finte weist auf den kalkulierenden, gewollten, gezielten Prozess der Verkehrung hin, also darauf, dass die Juden absichtlich und in bewusster Wahl zur allmächtigen Bedrohung gemacht wurden, bevor man sie verschleppte und ermordete. 144 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Das »zwangshaft« weist auf den unkontrollierten Automatismus hin, der in dieser Verkehrung der ohnmächtigen Opfer in aggressive und mächtige Täter am Werke ist. Einerseits werden die Juden bewusst zum Feind gestempelt, andererseits werden sie immer schon im Voraus und reflexhaft »als Feind wahrgenommen«. Was das genau heißt und wie die Relation zwischen dem bewussten und dem automatischen Anteil genau aussieht, wird nicht weiter erläutert. Wir haben es an dieser Stelle mit der Schwierigkeit zu tun, die uns schon wiederholt begegnet ist, mit der Frage nämlich, plausibel zu machen, warum es die Juden sind, die zum bevorzugten Objekt der Projektionen gemacht werden. Stattdessen konzentrieren sich Horkheimer und Adorno auf den Mechanismus der Projektion selber und versuchen, seine Logik und seine Genese zu erläutern. Was generell das Typische in der falschen Projektion ist und auch den verzerrten Wahrnehmungen der Antisemiten zugrunde liegt, wird im letzten Satz dieses Absatzes präzise festgehalten. Es ist eine »Störung«, die darauf beruht, dass das wahrnehmende Subjekt nicht mehr »zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material« unterscheiden kann, dass es ihm, mit anderen Worten, an der Fähigkeit der Selbstreflexion mangelt.

VI: 2 »In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren.« Der erste Absatz dieser These behandelte die falsche Projektion. Der zweite Absatz nun beginnt mit der Behauptung, dass es auch eine richtige Projektion gibt, ja dass in »gewissem Sinn« sogar »alles Wahrnehmen Projizieren« ist. Es erwartet uns nun ein Stück Erkenntnistheorie, die aber sofort und wie in den früheren Thesen mit einer weit zurückreichenden evolutionsbiologischen bzw. naturgeschichtlichen Perspektive verbunden wird. Projizieren sei ein »Vermächtnis der tierischen Vorzeit«, also etwas, das von dort auf die Menschen übergegangen ist. In der Welt der Tiere ist die Projektion ein »Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß«, ein »Organ der Kampfbereitschaft«, das dem Überleben dient, indem es auf jede Art von Bewegung stets sprungbereit reagiert. In diesem Projizieren spielt die »Absicht des Objekts« keine Rolle, es geht nicht um Erkenntnis, sondern ums Überleben. Wenn die Wahrnehmung bzw. die Projektion diesem Zweck dient, hat sie ihre Aufgabe erfüllt, auch wenn sie auf einem Irrtum beruht. Was Adorno und Horkheimer hier im Blick haben, wird von der gegenwärtigen Evolutionsbiologie sehr ähnlich gesehen. Es ist vorstellbar, dass bestimmte Geräusche ein anschleichendes Raubtier verraten, und falls nun z.B. ein Hase dieses bedrohliche Rascheln nicht vollkommen 145 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

zuverlässig identifizieren kann, wird er dennoch gut daran tun, auf der Hut zu sein, auch wenn sich dann herausstellt, dass die Situation ganz harmlos war. So kann man das Verhalten der sprichwörtlichen Angsthasen verstehen, die das Weite auch dann suchen, wenn die Lage eigentlich ganz ungefährlich ist. Der Angsthase ›projiziert‹ vorsichtshalber immer, dass die Geräusche, die er hört, bedrohlich sind – das mag häufig unberechtigt sein, weil die Geräusche ganz harmlos sind, aber es gilt die Devise, dass es besser ist, hundertmal zu ängstlich zu reagieren als einmal, wenn es darauf ankommt, zu vertrauensselig. »Geht es um Leben und Tod, so gilt es vorsichtshalber auch mit Ereignissen zu rechnen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreten. Für eine kleine Eidechse ist es ratsam, vor einem Schatten stets zu flüchten, obwohl der nur selten einen Angriff ankündigt.« (Klärner 2008) Den Tieren fehlt es in diesen Beispielen an Unterscheidungs- und Differenzierungsvermögen. Sie haben immer Angst oder sind immer auf dem Sprung nach Beute – und unter diesem Vorzeichen von Schutz und Fressen ist das Projizieren das Beste, was sie machen können. Auch die Menschen unterstellen mitunter kausale Beziehungen, wo keine existieren. Die Evolutionsbiologie neigt freilich dazu, dieses menschliche Verhalten mit dem Hinweis auf ihr biologisches Erbe zu verstehen, damit für gerechtfertigt zu erklären und es dabei zu belassen. Zurück zu den Elementen. Auch in ihnen wird behauptet, dass die Projektion das Verhalten der Menschen bestimmt und dass sie »automatisiert« funktioniert, wie »andere Angriffs- und Schutzleistungen, die Reflexe wurden«. Die Menschen sichern sich das Überleben, indem sie eine Umwelt gleichsam kreieren, in der sie sich behaupten können. Horkheimer und Adorno bringen die automatisierten Abläufe der Projektion in Verbindung mit der »verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden«. Das ist ein oft zitierter Satz aus Kants Kritik der reinen Vernunft (Kant 1781/1787: B 180f), und wir dürfen den damit hergestellten Zusammenhang so verstehen, dass die ›verborgene Kunst‹, von der Kant spricht, nach Horkheimer und Adorno in der evolutionsbiologischen Erbschaft des Projizierens begründet ist. Das ist jedenfalls die Behauptung des auf das Zitat folgenden Satzes, nach dem das »System der Dinge«, das »feste Universum«, das durch die wissenschaftliche Erkenntnis erzeugt wird, eigentlich ganz bewusstlos zustande kommt, d.h. das Resultat einer »selbsttätigen Projektion« ist und sich von den Ergebnissen »des tierischen Werkzeugs im Lebenskampf« nicht unterscheidet. Diese Engführung von Überlegungen Kants und der im Tierreich vorherrschenden und gleichsam blinden Projektion hat natürlich den kritischen Gehalt zu behaupten, dass auch die wissenschaftliche Erkenntnis auf Projektion beruht, dass sie aus dem Kampf um Selbsterhaltung hervorgegangen ist und dass es mithin auch bei den 146 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Menschen immer noch so zugeht wie im Tierreich, wo das Fressen oder Gefressenwerden die einzige Alternative ist, die zählt. Hier wie dort ist das Verhalten »bewußtlos«, hier wie dort herrscht der identische Mechanismus der Projektion. Freilich unterschlagen Adorno und Horkheimer durchaus nicht, dass die menschliche Erkenntnis doch zugleich etwas anderes ist als die automatisierte Projektion der Tierwelt. Mit der »Herausbildung des Individuums« »differenziert« sich das »affektive wie das intellektuelle Leben«, und die Menschen bedürfen »steigender Kontrolle der Projektion«, indem sie sie »zugleich verfeinern und hemmen lernen«. Der nächste Satz macht für diese Entwicklung den »ökonomischen Zwang« der modernen Gesellschaft verantwortlich, der die Menschen dazu nötigt, »zwischen fremden und eigenen Gedanken und Gefühlen« zu unterscheiden. Es würde nicht von allzu großer Geschäftstüchtigkeit zeugen, wenn man nicht klar zwischen den eigenen Interessen und den Interessen des anderen, des Konkurrenten oder Geschäftspartners unterscheiden könnte. Hinzu kommt, dass das hemmungslose Projizieren, ökonomisch gesehen, auch deswegen ineffektiv ist, weil es viele Energien absorbiert und z.B. auch dort noch zu Schutz- und Abwehrmaßnahmen führt, wo gar keine Bedrohung vorliegt. Wenn man Gefahren sieht, wo in Wirklichkeit gar keine bestehen, ist das auf die Dauer misslich – es absorbiert große Energiemengen und verursacht unverhältnismäßig hohe Kosten. Das widerspricht dem allgemein in der bürgerlichen Gesellschaft akzeptierten ökonomischen Prinzip, dass man den erstrebten Nutzen mit möglichst sparsam eingesetzten Mitteln erreichen sollte. Die Herausbildung des Individuums ist daran geknüpft, dass man »zwischen fremden und eigenen Gedanken und Gefühlen unterscheiden lernt« und dass »der Unterschied von außen und innen und die Möglichkeit von Distanzierung und Identifikation, das Selbstbewußtsein und das Gewissen« entsteht. Das ist die verdichtete Beschreibung des Individuums, das Horkheimer und Adorno mit der Hochphase der bürgerlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft von freien, gleichen und unabhängigen Eigentümern in Verbindung bringen. Und es ist dann von diesem Typus aus gesehen natürlich die Frage, warum die in der Geschichte der Zivilisation bereits einmal erreichte kontrollierte Form der Projektion, wie sie zu aller Erkenntnis dazu gehört, vollkommen verlorengeht und die falsche Projektion des mörderischen Antisemitismus die Dominanz gewinnt. Um das zu verstehen, so heißt es im letzten Satz dieses Absatzes, »bedarf es der genaueren Überlegung«.

147 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

VI: 3 »Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält.« Jetzt geht es in die Details der Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie. Zuerst wird die »physiologische Lehre von der Wahrnehmung« behandelt. Sie behauptet, dass »das Gehirn von den wirklichen Gegenständen« bestimmte »Daten« empfängt und Erkenntnis als »Rückspiegelung« dieser Daten zu verstehen ist. Der Verstand macht dann nichts anderes als für die »Anordnung der aufgenommenen punktuellen Indizes, der Eindrücke« zu sorgen. Diese empiristische Auffassung wird allerdings von den Philosophen seit Kant »als naiv realistisch und als Zirkelschluß verachtet«. Und auch Adorno und Horkheimer sind der Auffassung, dass das eine verfehlte Beschreibung für das ist, was in der Erkenntnis passiert. Schon »die Gestaltleute«, d.h. die Anhänger der Gestaltpsychologie und Gestalttheorie, betonen, dass das Gehirn nicht nur Punkte passiv empfängt und anordnet, sondern dass es von vornherein »Strukturen« und Ganzheiten aufnimmt. Die Gestalttheorie, zu deren bekanntesten Vertreten Max Wertheimer und Wolfgang Köhler zählen, bildete sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts heraus und fand besonders in der Psychologie großen Anklang. Sie entfaltete eine breite Wirkung, in den 1930er Jahren auch in den USA. Im Kern ist ihre Behauptung, in vielen Experimenten nachgewiesen und erprobt, dass die Menschen nicht einfach Teile wahrnehmen, die sie dann zu Ganzheiten gleichsam addieren, sondern dass die Wahrnehmung immer sogleich Ganzheiten erfasst, die gerade nicht aus Bestandteilen und Elementen zusammengesetzt sind. Horkheimer und Adorno waren mit dieser Auffassung seit ihren Studententagen im Frankfurt der 1920er Jahre wohl vertraut, weil dort die Gestalttheorie in Psychologie und Philosophie die vorherrschende Lehre war. Die Position der Gestalttheorie im Streit mit dem Empirismus geht Horkheimer und Adorno jedoch nicht weit genug. Sie machen einen weiteren Schritt und schlagen sich auf die Seite von Schopenhauer und Helmholtz, die mehr »von der verschränkten Beziehung von Subjekt und Objekt gewußt« haben als die »neupsychologischen« und »neukantischen« Schulen, die beide trotz aller Bemühungen die Erkenntnis immer noch zu sehr als eine Zusammenfügung von an sich getrennten Akten verstehen. Dagegen setzen die Elemente die apodiktische Behauptung: »das Wahrnehmungsbild enthält in der Tat Begriffe und Urteile«. Damit wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass im Erkenntnisund Wahrnehmungsprozess alles von der Aktivität des Subjekts abhängt. 148 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Diese eigene Sicht auf das, was beim Wahrnehmen und Erkennen geschieht, wird dann im Text weiter ausgeführt. Zwischen dem äußeren Gegenstand und dem, was die Sinne wahrnehmen, »zwischen innen und außen« besteht demnach ein »Abgrund«, der nur durch Aktivitäten von Seiten des Subjekts überbrückt werden kann, auch auf die »Gefahr« hin, dass diese Aktivität des Brückenschlagens scheitert. Erkenntnis ist nie das passive Registrieren der Gegenstände durch das Subjekt, sondern immer gleichsam ein Zuschussunternehmen, in dem das erkennende Subjekt eine aktive und dynamische Rolle spielt. Das Subjekt muss immer mehr tun als nur den Spiegel anzubieten, in dem die Sinneseindrücke festgehalten werden. Erkenntnis ist für Horkheimer und Adorno ein Prozess, in dem das Subjekt »die Welt außer ihm« nicht passiv registriert, sondern geradezu selber »schafft«. Die Transformation von »mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen« in die »Einheit des Dinges« ist ein aktiver und produktiver Prozess. Erkenntnis ist zudem ein Prozess, in dem nicht nur die außerhalb des Subjekts liegenden Dinge wahrgenommen und erkannt werden, sondern auch und zugleich ein Prozess, in dem das Ich zwischen außen und innen zu unterscheiden und den »inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt«. Auch dieses Ich wird im Text als ein Produkt, als das »späteste« Produkt der Projektion apostrophiert, und seine Herausbildung ist an die Entwicklung einer bestimmten physiologischen Ausstattung gebunden. Im Zentrum aller dieser Überlegungen steht das Bemühen, die Relation zwischen dem Ich und der Welt der Objekte so zu denken, dass sie nicht voneinander getrennt, sondern eng aufeinander bezogen sind. Die äußere Welt der Objekte und das Ich des Subjekts existieren nicht unabhängig voneinander, sondern sind ineinander verschränkt und aufeinander verwiesen. Nur in dieser wechselseitigen Verschränkung bildet sich die Welt heraus, die Objekt und Subjekt umfasst. »In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts.« In der Betonung dieser wechselseitigen Verwiesenheit aufeinander besteht der entscheidende Kern der Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie von Horkheimer und Adorno. Die dann im Text vorgetragenen Überlegungen konzentrieren sich auf die Folgen einer Störung dieser Korrespondenz zwischen dem Ich und der Welt der Objekte. »Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.« Die Auflösung der wechselseitigen Verwiesenheit ist identisch mit der Verdinglichung der Welt und des Ich gleichermaßen. Einen deutlichen Indikator für die Verdinglichung sehen Horkheimer und Adorno in der positivistischen Erkenntnistheorie. In ihr wird das Ich auf das »Registrieren von Gegebenem« begrenzt, und die aktive, gebende Seite des Subjekts wird ignoriert. Dadurch »schrumpft« das Ich zum »Punkt«, zu einer nichtigen Größe, auf die es nicht mehr ankommt. Auf dem philosophischen Gegenpol, 149 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

dem absoluten Idealismus, entwirft das Ich »die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst« und erschöpft sich damit »in sturer Wiederholung«. Positivismus und absoluter Idealismus sind auf diese Weise beide gefangen in einer Logik der Vermittlungslosigkeit, der Dualität und der Einsamkeit. In beiden Fällen gibt das Subjekt »den Geist auf« und damit sich selber. Die entscheidende Aussage der gesamten sechsten These besteht in der Behauptung, dass sich das Ich nicht von der Welt der Objekte abspalten darf. Wenn das geschieht, erkrankt und verarmt das Subjekt, und die Welt wird zum subjekt- und leblosen Ding. Was Horkheimer und Adorno dem entgegensetzen, ist die »Vermittlung«. Mit ihr ist gemeint, dass »das nichtige Sinnesdatum den Gedanken zur ganzen Produktivität bringt, deren er fähig ist«. Das ist etwas anderes als das Registrieren, auf das der Positivismus die Erkenntnis reduziert. Und es ist auch etwas anderes als das reine und sinnenlose Spekulieren, das der absolute Idealismus unter Erkenntnis versteht. In der Vermittlung treten Denken und sinnliche Eindrücke in eine spannungsreiche und produktive Beziehung zueinander, in der beide sich entfalten und von der beide profitieren. Das Ich entfaltet sich nicht in der Abspaltung von der Sinnenwelt, sondern nur in Beziehung zu ihr, wie auch umgekehrt die Welt zu ihrer eigenen Entfaltung auf menschliche Tätigkeit und Aktivität angewiesen ist. Die sinnlichen Eindrücke bringen den Gedanken zur Produktivität, die Gedanken geben sich »dem übermächtigen Eindruck« der sinnlichen Welt hin. Durch diese Vermittlung wird die Isoliertheit des Ich wie die »kranke Einsamkeit« der Gegenstandswelt überwunden. Der Gedanke verfälscht den Sinneseindruck nicht, und die Sinneseindrücke verfälschen nicht die Reinheit der Gedanken. Nur in der Beziehung beider aufeinander kommt zustande, was den Namen Erkenntnis verdient. Nicht in der Ausblendung des Denkens und im Durchstreichen des Begreifens, »nicht in der vorbegrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand« liegt das Geheimnis der Erkenntnis. Es kommt vielmehr darauf an, beide Elemente »in ihrem reflektierten Gegensatz«, in dem sie zueinander stehen und aufeinander verwiesen sind, zu begreifen. Wo das gesehen und reflektiert wird, »zeigt die Möglichkeit von Versöhnung sich an«. Versöhnung ist keine differenzlose Einheit, kein Zustand der Spannungslosigkeit. Die letzten beiden Sätze des Absatzes kehren zurück zum Thema der Projektion. Die vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass Erkennen niemals als passives Registrieren äußerer Eindrücke angemessen verstanden werden kann, sondern immer mit der aktiven Betätigung des Ich zu tun hat. Insofern, und das ist die Quintessenz dieses Absatzes, ist jede Erkenntnis auf Projektion geradezu angewiesen. Der springende Punkt und der Unterschied zur falschen Projektion besteht darin, dass die Vernunft in der Lage ist, sich über diese Tatsache Rechenschaft abzugeben, dass sie mithin der Selbstreflexion fähig ist. Dadurch 150 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

wird aus dem Vorgang der Projektion, der aller Erkenntnis zugrunde liegt, »bewußte Projektion«.

VI: 4 »Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.« Wodurch unterscheidet sich die falsche Projektion von der Projektion, die zu jeder Erkenntnis unabdingbar dazugehört? Im ersten Satz des vierten Absatzes wird diese Frage präzise beantwortet: es ist »der Ausfall der Reflexion«. Das gilt in beide Richtungen, sowohl in die Richtung des Objekts wie des Subjekts. Das Subjekt gibt dem Objekt nicht mehr zurück, was es von ihm empfangen hat. Dahinter steht vielleicht ein wörtliches Verständnis von »Reflexion« als Zurückgeben, Zurückwerfen, Zurücklenken. Das Subjekt verliert seinen Realitätssinn und damit den Kontakt und den Austausch mit der Welt der Objekte, wie sie sind, lässt sich von ihnen nicht mehr ansprechen, korrigieren und bereichern. Wenn das Subjekt diesen Kontakt mit den Objekten verliert und überall nur noch sich selbst sieht, wird es aber in Wirklichkeit »nicht reicher(,) sondern ärmer«. Es mangelt ihm dann an der Fähigkeit, sensibel und angemessen zu erkennen was ist, und im gleichen Zug »reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz«. Diese Fähigkeit, Unterschiede zu machen, zu erkennen und auszuhalten, ist die entscheidende Fähigkeit des entwickelten Subjekts. Immer wieder beobachten Horkheimer und Adorno, dass diese Fähigkeit abhandenkommt – darin besteht ihre Kritik sowohl am Positivismus wie am Idealismus. Wenn der lebendige Austausch zwischen innen und außen verloren geht, geht damit der ganze Reichtum der Wahrnehmungen und der Welt im Einerlei des Immergleichen unter. Eben das ist bei den Antisemiten der Fall. Horkheimer und Adorno verlassen ohne Übergang die abstrakten Überlegungen zur Erkenntnisund Wahrnehmungstheorie und fassen ganz unvermittelt nun wieder das Subjekt ins Auge, das sich dem Antisemitismus überantwortet hat. »Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion den andern zu.« Wer Stimmen hört, kann nicht mehr zwischen innen und außen unterscheiden und leidet an Verfolgungsphantasien. Die Fähigkeit zur Wendung nach innen, zur Wahrnehmung der eigenen Wünsche, Affekte und Ängste ist zutiefst beschädigt. Was in der eigenen Innenwelt nicht wahrgenommen werden 151 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

kann, wird nach außen verlagert und anderen zugeschrieben. Das ist der Mechanismus der falschen Projektion, für den an dieser Stelle die berühmten Protokolle der Weisen von Zion angeführt werden. Dieser Mechanismus der falschen Projektion wird nun weiter beschrieben. Das Subjekt »schwillt über und verkümmert zugleich«. Es »schwillt über«, indem es sich ins Unendliche ausbreitet und überall nur noch sich selbst sieht, also die Welt nach dem eigenen Bilde zurechtschneidet. Wer aber überall nur noch sich selber sieht, verkümmert zugleich, weil Fülle und Reichtum der Welt zwanghaft ignoriert werden müssen und alles eins wird. »Grenzenlos« projiziert der Antisemit in die Außenwelt, was in ihm selber ist, und das »ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte bloße Mittel, Beziehungen, Machenschaften, die finstere Praxis ohne den Ausblick des Gedankens«. Die Welt wird nach dem Schema wahrgenommen, das das eigene Innen beherrscht. Und am Ende dreht sich dann alles nur noch um die Frage, ob man oben oder unten ist, ob man selber zu den Herrschenden oder zu den Beherrschten gehört. »Herrschaft« wird »in der hemmungslosen Projektion« zum »Zweck überhaupt«, neben dem alles andere zur Irrelevanz herabsinkt. Der menschliche Intellekt wird wieder, wie in der »tierischen Vorzeit«, das »blinde Feindwerkzeug«, das darauf reduziert ist, die Umwelt unter dem Aspekt von Fressen oder Gefressenwerden abzutasten und in jedem einen potentiellen Feind zu sehen. So setzt die Gesellschaft den in der Natur vorherrschenden erbarmungslosen Kampf ums Überleben fort, den sie gegenüber der Natur ohnedies nie überwunden hatte. Die »species Mensch« betreibt immer schon die »furchtbarste Vernichtung« jeder anderen, ihr unterlegenen natürlichen species, innerhalb der Menschheit unterdrücken die fortgeschrittenen und überlegenen Völker und Rassen die zurückgebliebenen, und der »kranke Einzelne« tritt den »anderen Einzelnen« mit Größen-, Verfolgungs- und Vernichtungswahn gegenüber. In all diesen Fällen steht »das Subjekt im Zentrum«, die Welt ist nur noch die »bloße Gelegenheit für seinen Wahn« und wird »zum ohnmächtigen oder allmächtigen Inbegriff des auf sie Projizierten«. Es sind dies die beiden Seiten der gleichen Angelegenheit: Die maßlose Selbsterhöhung des Subjekts zum allmächtigen Zentrum der Welt geht einher mit der vollkommenen Diskreditierung und Einebnung der Welt, die zur reinen Projektionsfläche wird. Die Welt wird leer und setzt dem hemmungslos projizierenden Subjekt keinerlei Widerstand mehr entgegen. Zugleich aber beklagt sich »der Paranoiker« ohne Unterlass über den »Widerstand«, den er überall vermutet. Er »kann nicht aufhören« damit, die gesamte Welt nur noch unter dem Vorzeichen des Widerstands und der Feindschaft wahrzunehmen, und er kennt nur den einen Weg, dieser Bedrohungsangst zu entgehen, nämlich dadurch, dass die Welt in eine ohnmächtige, knetbare Masse verwandelt wird. Die Vorstellung, dass die Welt grundsätzlich feindlich ist und gewaltsam zum willenlosen 152 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Material der eigenen Größe gemacht werden muss, wird zur »fixen« Idee, die umso unnachgiebiger behauptet wird, weil sie an der Realität »keinen festen Halt« findet und weil es ihr von vornherein an der Bereitschaft und Fähigkeit mangelt, sich der Realität auszusetzen und sich von ihr korrigieren oder bestätigen und bereichern zu lassen.

VI: 5 »Das zwangshaft projizierende Selbst kann nichts projizieren als das eigene Unglück.« Es gehört zum Krankheitsbild der Paranoia, dass in ihr die Außenwelt immer so wahrgenommen wird, wie es die inneren Strukturen des Paranoikers zwanghaft vorschreiben und diktieren. Insofern ist der Paranoiker im wahrsten Sinne des Wortes blind. Er sieht wie in einer »abstrakten Sucht« überall nur sich selbst, er verformt die Außenwelt in seinen Wahrnehmungen nach seinen »blinden Zwecken« und erstarrt im Wiederholungszwang. Damit verfängt sich der Paranoiker in einem »mythische(n) Gewebe«, das er selber erzeugt hat und in das er alles, was ihm begegnet, »gleichgültig gegen seine Eigenart«, also vollkommen nivelliert und aller eigenständigen Qualitäten beraubt, einfügt. Die Logik, mit der der Paranoiker die Welt überzieht, ist das »nackte Schema der Macht als solcher«, d.h. das Schema von Herrschaft und Unterwerfung. Es ist die Logik des »Immergleichen«, die im Paranoiker regiert und ihm eine vollkommene »Allmacht« suggeriert – die Einlösung des Versprechens, das die Schlange den ersten Menschen machte: »ihr werdet sein wie Gott«. Der Paranoiker erschafft tatsächlich, wie Prometheus, alles nach seinem Bilde. Er hält sich für unabhängig und allmächtig, er benötigt niemanden und nichts, er bedarf »keines Lebendigen«, höchstens insofern, als »alle ihm dienen sollen«. Er setzt seinen Willen absolut und macht alles zum Material seiner Herrschaft, er überzieht die Welt mit einem unverrückbaren System, das »lückenlos« alles und alle erfasst. Und damit ist er erfahrungsunfähig und zu wirklicher Wahrnehmung der Welt nicht mehr in der Lage. Horkheimer und Adorno unterscheiden sodann verschiedene Stufen und Erscheinungsformen der Paranoia. Als »Astrologe« stattet der Paranoiker die Sterne mit Kräften aus, die »das Verderben des Sorglosen herbeiführen«. Als »Philosoph« macht er die Geschichte zur »Vollstreckerin unausweichlicher Katastrophen und Untergänge«. Und als »vollendet Wahnsinniger oder absolut Rationaler« geht er dazu über, die »Gezeichneten durch individuellen Terrorakt oder durch die wohlüberlegte Strategie der Ausrottung« zu vernichten. In dieser Form macht er das in der Außenwelt selber wahr, was er in sie hineinprojiziert hat. Paranoia, 153 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Allmachtsglaube und rationales Kalkül gehen in der Vernichtung der europäischen Juden zusammen und bewirken eine beispiellose Katastrophe der Zivilisation. Der Wahnsinn bestimmt das Ziel: die Vernichtung der Juden, die Rationalität wählt die Mittel der Durchführung und Umsetzung. Ohne Überleitung gehen Horkheimer und Adorno nun zu den Frauen über, die »den ungerührt paranoiden Mann anbeten«. Dieses Thema bildet den Inhalt des gesamten restlichen Absatzes. Der Zweck der Überlegungen besteht darin, zu verstehen, wieso die »Völker vor dem totalitären Faschismus in die Knie« sinken, es geht mithin darum, den »Erfolg« der Paranoiker zu verstehen. Die Frauen wie die Völker beten die starke Macht an, die sie bricht. Der ungerührt paranoide Mann hat Erfolg bei den Frauen, so wie der totalitäre Faschismus erfolgreich ist und anderen Völkern unterwürfigen Respekt einflößt und Verehrung hervorruft. Hier spielen Horkheimer und Adorno offensichtlich mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau, die, so will es das Klischee, die Position der Unterlegenen nicht nur widerwillig akzeptiert, sondern geradezu herbeiwünscht. Die erste Erklärung des Textes lautet: »In den Hingegebenen selber spricht das Paranoische auf den Paranoiker als Unhold an, die Angst vor dem Gewissen aufs Gewissenlose, dem sie dankbar sind.« Die Völker und Frauen, die sich den Paranoikern hingeben, haben selber ein Element des Paranoischen. Sie sprechen deswegen auf den Unhold an und lassen sich von ihm faszinieren, weil dieser die eigene paranoide Erwartung von der Welt bestätigt. Der Paranoiker hat Angst vor dem Gewissen. Das strenge Über-Ich sorgt dafür, dass das Subjekt sich den eigenen aggressiven und libidinösen Impulsen nicht gewachsen fühlt und sie verdrängt. Aber zur Ruhe kommt es dadurch nicht. Die latent Paranoiden sind den manifest gewissenlosen Unholden dankbar, weil sie ihnen die Angst nehmen und Entlastung vermitteln. Deswegen folgen die Frauen wie die Völker nur zu gerne und ohne große Reserve dem, »der an ihnen vorbeisieht, der sie nicht als Subjekte nimmt, sondern dem Betrieb der vielen Zwecke überläßt«. Sie erwarten förmlich, verachtet zu werden, weil sie sich selber gering achten. Wer ihnen die kalte Schulter zeigt, dem wenden sie sich zu und in dessen Obhut begeben sie sich, weil sie nun realiter auch von anderen so schlecht behandelt werden, wie sie sich selber behandeln. Sie identifizieren sich mit dem, was ihnen angetan worden ist. Das entspricht ihren Erwartungen und reduziert die inneren Spannungen. Und zugleich erlaubt es ihnen, selber auf die Seite der Herrschaft überzutreten, also teilzuhaben an der »Besetzung großer und kleiner Machtpositionen«. Ein »Blick, der sie an Freiheit mahnt«, eine Begegnung auf Augenhöhe und mit Liebe und Respekt, wird von ihnen als allzu naiv wahrgenommen, als eine Form von Weichheit und Verführung, der sie widerstehen, weil sie nur von Härte und Verachtung angezogen werden. Ihre 154 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Welt ist »verkehrt«. Zugleich aber »wissen sie«, dass »hinter dem Schleier Totes wohnt«, sie durchschauen, dass die Ungerührtheit der Paranoiker nichts Lebendiges ist, sondern aus dem Reich der Toten kommt. So sind sie doch noch erreichbar und zugänglich für den »nicht paranoischen«, den »vertrauenden Blick«, der sie an ihre besseren Möglichkeiten gemahnt und erinnert. Ein Blick, der sie wirklich berührt, so heißt es im Text, »weckt in ihnen Scham und Wut«. Der »Irre«, der Paranoiker erreicht sie dagegen nicht wirklich – er »entflammt« sie zwar, aber bleibt ihnen doch äußerlich, und er raubt ihnen die Individualität, indem er sie »fixiert« und ihnen die Freiheit der Entfaltung nimmt. Dieser paranoide und kalte »Blick ins Auge«, der die Frauen trifft, ist ganz und gar einseitig, er sperrt sie in die »fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person« ein, er zieht sie »vorweg zur Verantwortung« und führt dazu, dass das »Subjekt ausgelöscht« wird. »Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert. Sie werden verraten: die Frauen weggeworfen, die Nation ausgebrannt.« In den nächsten Sätzen wechselt der Text wieder auf die Seite der paranoiden, verschlossenen Männer. Sie sind »das Spottbild der göttlichen Gewalt«, weil sie unfähig sind, produktiv zu sein und etwas hervorzubringen. Ihnen geht »das schaffende Vermögen« vollkommen ab. Der »Verschlossene« ähnelt nicht der göttlichen Gewalt, sondern der teuflischen. Ihm fehlt, was das Göttliche auszeichnet: »eingedenkende Liebe« und »in sich ruhende Freiheit«. Der Paranoiker ist nicht gütig, sondern »böse«, nicht frei, sondern »von Zwang getrieben«, nicht wirklich stark, sondern »schwach« und ohnmächtig. Der »göttlichen Allmacht« eignet die Fähigkeit, die Menschen zu verwandeln und in ihnen ihre besseren Möglichkeiten zu wecken. Die »satanische, eingebildete« Allmacht dagegen hat diese Verwandlungsfähigkeit nicht, sondern verfügt nur über die Macht der Destruktion, die alles in den Abgrund reißt. Darin besteht »das Geheimnis ihrer Herrschaft«, die sich in der unentwegten und immer wiederkehrenden Projektion des eigenen Unglücks ausdrückt. Die Reflexion ist die einzige Möglichkeit, darüber hinaus zu kommen und die Projektion als das zu erkennen und zu benennen, was sie ist. In diesem Sinne beruht die falsche Projektion auf »Reflexionslosigkeit«. Sie ist abgeschnitten vom Gedanken und produziert in stupider Stereotypie die immer gleichen Schemata des Unheils, zuerst in der Phantasie und dann in der Wirklichkeit. Alle »Gegenstände« werden in der Wahrnehmung der Paranoiker zu »Allegorien des Verderbens«. Die absolute Macht, die der Paranoiker gegenüber der Welt für sich in Anspruch nimmt, führt in den Untergang.

155 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

VI: 6 »Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art.« In diesem Absatz wird die »psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion« zum Thema gemacht. Sie läuft auf die Aussage hinaus, dass hinter der – falschen – Projektion »die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt« steht. Wir haben diesen Mechanismus bereits an früheren Stellen kennengelernt, ohne dass dort der Bezug auf Freud expressis verbis hergestellt wurde. In diesem Absatz nun wird deutlich, dass sich die Überlegungen zu Paranoia, Projektion und Aggression tatsächlich auf die Psychoanalyse stützen. Der erste Schritt der Argumentation besteht in der Behauptung, dass das Ich die »gefährlichen Aggressionsgelüste«, die vom Es ausgehen, unter dem Druck des Über-Ichs in die Außenwelt verlegt. Der Konflikt, an dem im Innern des Subjekts die drei Instanzen des Ich, Es und Über-Ich beteiligt sind, wird damit in eine Auseinandersetzung verwandelt, deren wesentlicher Akteur in der bedrohlichen und bösen Welt außerhalb des Subjekts platziert ist. Attraktiv ist diese Verlegung der Konfliktakteure und Konfliktursachen, weil es für das Subjekt generell leichter ist, einen durch äußere Instanzen verursachten Konflikt zu bewältigen als sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ein naheliegender und kurzfristig kaum mit Kosten verbundener Weg der Lösung eines solchen Konflikts liegt darin, dass sich das Subjekt in der Phantasie mit dem »angeblichen Bösewicht«, der in der Außenwelt existiert, identifiziert und damit selber zu einem Teil des Bösen wird. Die andere Strategie, nicht in der Phantasie, sondern »in der Wirklichkeit«, ist die »angebliche Notwehr«. Hier wird die Außenwelt zum bedrohlichen und gefährlichen Verfolger, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. Aus dieser Strategie resultiert der Hauptanteil der seelischen Energie, die hinter dem Antisemitismus und der Vernichtung der Juden steht. Die Verfolger sehen sich in der Rolle der Verfolgten und damit zugleich in der Rolle derjenigen, die gegen einen als übermächtig phantasierten finsteren Gegner zur Notwehr greifen müssen. Paranoia und Projektion werden von Horkheimer und Adorno sodann mit dem Thema der Homosexualität in Verbindung gebracht. Auch darin folgen die Elemente den Hinweisen von Freud, der seit seiner Beschäftigung mit den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Daniel Paul Schreber immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, dass hinter dem Allmachts-, Verfolgungs- und Eifersuchtswahn der Paranoiden in den meisten Fällen die Abwehr homosexueller Wünsche die zentrale 156 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Rolle spielt (vgl. Freud 1911: 295ff; 1922: 195ff). Ganz in diesem Sinne erklären Horkheimer und Adorno: »Das in Aggression umgesetzte Verpönte ist meist homosexueller Art.« Hinter der Aggression steht mithin ein Wunsch, in diesem Fall die libidinöse Besetzung eines gleichgeschlechtlichen Objekts, die aber vom Ich nicht zugelassen werden kann und verdrängt wird. Die »Angst vor der Kastration« durch den Vater, dem die homosexuell getönte Liebe zunächst gilt, führt zu »Gehorsam« und Unterwerfung. Dadurch geht der Knabe der Konkurrenz mit dem Vater aus dem Weg. Er vollzieht stattdessen die »Angleichung des bewussten Gefühlslebens ans kleine Mädchen«, unterwirft sich, wird passiv, erlebt sich real bereits wirklich als kastriert und gibt seine aktive männliche Rivalität mit dem Vater auf. Freilich ist der »Vaterhass« durch diesen Akt der Verdrängung nicht einfach verschwunden. Er breitet sich fortan als »ewige Ranküne«, als Rachsucht, Groll und gereizte Feindschaft über alle Beziehungen hinweg aus. In den Symptomen der Paranoia, vor allem im Verfolgungswahn bzw. im Kampf gegen die übermächtigen Verfolger, wird die Aggression manifest und treibt »zur Kastrationslust als allgemeinem Zerstörungsdrang«. Die Angst vor der Kastration, die im Hintergrund von Groll und Wut steht, schlägt damit um in die »gegensätzliche Phantasie, den Vater selbst zu kastrieren, ihn zum Weib zu machen« (Freud 1923: 336). Diese Kastrationslust ist dann aber nicht mehr nur auf die Person des Vaters gerichtet, dem sie eigentlich gilt, sondern bezieht sich auf die gesamte Außenwelt, die gleichsam das Erbe des Vaters angetreten hat und mit einem allgemeinen Zerstörungsdrang überzogen wird. Liebe und Hass bzw. »Überwältigung« geraten dabei in enge Nachbarschaft zueinander. Es kommt nur noch auf »physische Nähe, Beschlagnahmen« und auf »Beziehung um jeden Preis« an. Wie sich im Eifersuchts- und Verfolgungswahn zeigt, können diese Wünsche nicht nur über Liebe und Zärtlichkeit, sondern auch auf dem Wege von Aggression und Verfolgung realisiert werden (vgl. Freud 1923a: 268ff; 1922: 195ff). Auch die negative Beziehung ist noch eine Form von Beziehung. Wie Freud in seiner Herleitung der Paranoia zeigt, liegt den verschiedenen Formen des Wahns jeweils ein verpönter und versagter Liebeswunsch zugrunde. Wenn die Liebe nicht zum Ziel kommen kann, wird sie zuerst in Verfolgungsangst und dann in Hass und Verfolgungslust verwandelt. Auf diesem Weg kann dann immerhin noch ein Teil des ursprünglichen Wunsches, nämlich die körperliche Nähe und Berührung, realisiert werden. Wie an vielen anderen Stellen der Elemente und besonders in der vierten These unterstreichen Horkheimer und Adorno auch hier das Moment der Befriedigung, das die Symptome, wie verzerrt und verstellt auch immer, tatsächlich realisieren. So verhält es sich z.B. auch in dem Fall, in dem »der verdrängende Sodomit als Jäger oder Antreiber« den Tieren dann doch noch, negativ, auf den Leib rücken kann. 157 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Der Paranoiker richtet seine Ranküne und seine Aggression auf Objekte und Personen der Außenwelt. Die negative »Anziehung« stammt entweder aus »allzu gründlicher Bindung« – dann ist sie durch große Nähe, die plötzlich in Ablehnung und Hass umschlägt, lange vorbereitet. Oder sie »stellt sich her auf den ersten Blick« – dann ist sie spontan und scheinbar ganz unbegründet. Sie kann ausgehen »von den Großen«, wie »beim Querulanten und Präsidentenmörder« oder »von den Ärmsten wie beim echten Pogrom«. Mit dem realen Verhalten der Personen steht das in keinerlei Korrespondenz: »wohin es trifft, trifft es«. Die »Objekte«, die den Hass des Paranoikers auf sich ziehen, treten gleichsam das Erbe der »Vaterfiguren in der Kindheit« an. Überall wittert der Erkrankte in seinem »Beziehungswahn« nichts als Verschwörungen und Intrigen, die gezielt gegen ihn gerichtet sind. In der Sicht der Psychoanalyse ist die Projektion »eine verzweifelte Veranstaltung des Ichs«, das den Reizen, die aus dem eigenen Inneren auf es einströmen, meist wehrlos ausgesetzt ist. Der »Reizschutz« des Ich ist »nach innen unendlich viel schwächer als nach außen«. Bei Freud (1926: 121), dem Horkheimer und Adorno auch an dieser Stelle folgen, heißt es: »Reizschutz gibt es aber nur gegen äußere Reize, nicht gegen innere Triebansprüche.« Um die Unlust zu vermeiden, die das Ich in seiner Wahrnehmung mit den inneren Triebansprüchen verbunden sieht, verlegt bzw. projiziert es sie nach außen. »Daraus wird sich die Neigung ergeben, sie so zu behandeln, als ob sie nicht von innen, sondern von außen her einwirkten, um die Abwehrmittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu können. Dies ist die Herkunft der Projektion.« (Freud 1920: 29) Die Elemente wenden diese Beobachtung ins allgemeine. In der Paranoia »vergißt der seelische Mechanismus seine phylogenetisch späteste Errungenschaft, die Selbstwahrnehmung« und regrediert damit auf einen Zustand, in dem innen und außen noch nicht voneinander unterschieden werden konnten. Die Aggression, die in Wirklichkeit im eigenen Inneren liegt, wird als »Feind in der Welt« wahrgenommen. Das hat den großen Vorteil, dass man »ihr besser gewachsen« ist und sie nun mit den Mitteln, mit denen man auch sonst seine Selbsterhaltung bewerkstelligt, aktiv und tatkräftig bekämpfen kann. In Wirklichkeit aber leidet der Paranoiker nicht am Feind draußen in der Welt, sondern an seinem eigenen »Druck der gestauten homosexuellen Aggression«. Das ist allerdings eine etwas missverständliche Formulierung, weil in ihr der Ausgangspunkt des Konflikts nicht mehr enthalten ist. Der Aggression liegt ein homosexueller Wunsch zugrunde, der, aus welchen Gründen auch immer, vom Ich nicht zugelassen, sondern verdrängt und unsichtbar gemacht wird – und zwar gerade dadurch, dass der Paranoiker in die Rolle des Verfolgten schlüpft. 158 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

VI: 7 »Der unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns.« Es ist aber nicht einfach, den krankhaften eindeutig vom »gesunden Erkenntnisvorgang« zu unterscheiden. Der Druck, der hinter der pathischen Projektion steckt, ist z.B. auch »in den wissenschaftlichen Methoden der Naturbeherrschung« am Werk. Auch in ihnen besteht die Tendenz, dass das erkennende Subjekt seine eigene Tätigkeit, seine eigene Aktivität, ohne die Erkenntnis nach Adorno und Horkheimer gar nicht zu denken ist, absichtsvoll verleugnet und sich zur Selbstreflexion nicht fähig zeigt. Der naturbeherrschenden Wissenschaft geht es um das »Verfolgen, Feststellen, Ergreifen«, also um etwas, das eine große Ähnlichkeit mit jenen Techniken und Verhaltensweisen aufweist, mit denen die Tiere ihr Überleben zu sichern versuchen. Hier wie dort handelt es sich um Techniken der Nahrungs- und Überlebenssicherung. Unter dem Druck, das eigene Überleben zu sichern, unter dem Druck der Selbsterhaltung vernachlässigen die Menschen die Fähigkeit der Selbstreflexion und neigen dazu, »das System«, das sie selber errichtet haben, mit der »Sache selbst« zu verwechseln. Die Wissenschaften suchen stets nach möglichen Angriffspunkten zur Unterwerfung der Natur und übersehen dabei systematisch jene unendlich vielen Facetten und Dimensionen ihres Gegenstandes, die keineswegs darauf warten, in Regie genommen und auf quantifizierende Formeln gebracht zu werden. Insofern »vergisst« dieses »vergegenständlichende Denken« »die Sache« und tut ihr schon im Akt des wissenschaftlichen Denkens »die Gewalt an, die ihr später in der Praxis geschieht«. Der darauf folgende Satz stellt die Verbindung des allgemeinen Themas der Paranoia zum Faschismus her. Der »unbedingte Realismus der zivilisierten Menschheit«, so heißt es, kulminiert »im Faschismus«. Er sieht in der Natur nichts weiter als den qualitätslosen Stoff, der für die eigene Selbsterhaltung dienstbar zu machen ist. Für den reinen Nutzenblick auf die Welt der Natur liegt deren Existenzberechtigung nur darin, dass sie für die Zwecke ihrer Ausbeutung und Zurichtung im Dienste der menschlichen Selbsterhaltung funktionalisiert und dienstbar gemacht wird. Dieser unbedingte Realismus ist nur ein »Spezialfall paranoischen Wahns«, und zwar deswegen, weil er die äußere Natur so verfolgt und überwältigt, wie er die Menschen stets in der Rolle der von der Natur Verfolgten und Überwältigten sieht. Im Grunde ist hier die 159 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Behauptung, dass die Verfolgung der Juden durch die Antisemiten darin ihren Ursprung hat, wie die zivilisierte Menschheit mit der Natur umspringt. Wer sich der Natur gegenüber im Sinne des absoluten Realismus verhält, sie unterwirft, verdinglicht und ausbeutet, verhält sich zur Natur eigentlich nicht anders als die Antisemiten zu den Juden. Der unbedingte Realismus »entvölkert« die Natur und sieht in ihr nur eine einzige Ansammlung struktur- und geistloser Stoffmassen. Die paranoiden Antisemiten übertragen dieses Verhältnis zur Natur auf ihre Beziehung zu den Juden und entvölkern »am Ende die Völker selbst«. Dass jede Erkenntnis in der Gefahr steht, von der Paranoia heimgesucht zu werden, hat seinen Grund in dem »Abgrund der Ungewißheit, den jeder objektivierende Akt überbrücken muß«. Vom Abgrund zwischen erkennendem Subjekt und Außenwelt, zwischen innen und außen, war im dritten Absatz dieser These bereits die Rede. Niemand kann sicher sein, in seiner Wahrnehmung die Welt der Objekte wirklich als das zu erkennen, was sie ist. Darin besteht der Abgrund, darin besteht die Unsicherheit. Daraus folgt, dass es »kein absolut zwingendes Argument gegen materialfalsche Urteile gibt«. Das bedeutet zugleich, dass sich die »verzerrte Wahrnehmung« nicht durch den Hinweis auf eine unbezweifelbare Wahrheit »heilen« lässt. Es gibt kein zweifelsfreies und für jedermann nachvollziehbares Argument gegen paranoide Ängste und Phantasien. In jeder Wahrnehmung stecken immer schon »begriffliche« Elemente, so wie umgekehrt »jedes Urteil« immer schon »phänomenalistische Elemente« enthält. Also lassen sich Wahrnehmung und Urteil nicht gegeneinander ausspielen, und man kann nicht unter Berufung auf ein absolut unbezweifelbares Sinnesdatum ein Urteil als vollkommen falsch und eindeutig unzulässig charakterisieren – einfach deswegen nicht, weil die Wahrnehmung immer bereits auch aus begrifflichen, also vom Subjekt an die Gegenstände herangetragenen Anteilen besteht. Und umgekehrt ist kein Urteil so vollkommen abstrakt und abwegig, dass in ihm nicht auch Teile enthalten sind, die sich auf Bruchstücke von Beobachtung und Empirie stützen können. Zu jeder Wahrheit gehört »Einbildungskraft«, und deswegen kann die Wahrheit leicht als »phantastisch« erscheinen und die »Illusion« zur Wahrheit erklärt werden. Es gibt keine hundertprozentige Grenzlinie, die die Wahrheit von der Unwahrheit trennt. Ohne Einbildungskraft gibt es keine Wahrheit. Wo die Einbildungskraft dagegen ganz einseitig »unablässig exponiert« wird und unkontrolliert wuchert, da haben wir es nicht mehr mit Wahrheit, sondern mit Illusionen und Phantastik zu tun. Der »Wahn« hat es leicht, auf seiner quasi demokratischen »Gleichberechtigung« zu bestehen, weil tatsächlich gilt, dass »auch die Wahrheit nicht stringent ist.« Bis hierhin sind das alles Aussagen, die sich in großer Allgemeinheit auf Fragen der Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie beziehen und deutlich machen, dass es eine absolute Wasserscheide zwischen Wahn 160 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und Wirklichkeit, richtig und falsch nicht gibt. Nun kehren die Überlegungen zum Thema des Antisemitismus zurück. Zunächst wird der mehr oder weniger neutrale »Bürger« in seiner Haltung betrachtet. Er nimmt, so sagen Horkheimer und Adorno, eine betont distanzierte und neutrale Haltung ein. Er behauptet einerseits, »daß der Antisemit im Unrecht ist«, übertreibt und zu weit geht. Andererseits meint er jedoch auch, dass »das Opfer schuldig sei«, dass also den Juden tatsächlich doch nicht recht über den Weg zu trauen ist. Ganz ähnlich agiert Hitler gern »im Namen des völkerrechtlichen Prinzips der Souveränität«, d.h. des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, um damit freie Fahrt für seinen Massenmord zu haben. In beiden Fällen, bei der Haltung des Bürgers zum Antisemitismus wie bei der Frage des Souveränitätsprinzips haben wir es mit eigentlich durchaus plausiblen Aussagen und Haltungen zu tun, die aber gleichsam schleichend und unmerklich in Unwahrheit übergehen. Es ist ja durchaus richtig und ganz unbezweifelbar, dass die Juden nicht unschuldig sind – wenn man das in dem Sinne versteht, dass es menschliches Leben ohne Schuld gar nicht gibt und geben kann. Und das Souveränitätsprinzip wurde nach dem 30-jährigen Krieg in Kraft gesetzt, weil damit die Eskalation der Gewalt gestoppt werden sollte. Keineswegs aber sollte damit der inneren Gewaltanwendung Tür und Tor geöffnet werden, und keineswegs ist aus der Aussage, dass auch die Juden in gewisser Weise schuldig sind, die Folgerung zu ziehen, dass man sie dann doch auch durchaus deportieren und ermorden darf. Wer diese Folgerungen zieht, wie die Nazis das tun, »profitiert … von der gleißnerischen Identität von Wahrheit und Sophistik«. Eine »Trennung« zwischen beiden ist nicht absolut und vollkommen »zwingend«, gleichwohl gibt es sie, und es ist unverzichtbar, auf dieser Trennung auch zu bestehen. Noch einmal biegt die Argumentation dann auf die allgemeine Ebene zurück, indem erneut die unauflösbare Verschränkung von Wahrnehmung und Begriff in den Blick genommen wird. Jetzt mit dem Argument, dass man ein »Ding« nur wahrnehmen kann, wenn man es als »Fall einer Gattung« wahrnimmt, also bereits a priori weiß, dass z.B. die konkrete Brücke, die man sieht, obwohl sie ganz einzigartig und einmalig auf der Welt ist und nirgendwo sonst noch einmal vorkommt, doch wegen der allgemeinen Merkmale, die sie aufweist, unter die Gattung Brücke gehört. Ich kann nur wissen, dass die konkrete Brücke, die ich sehe, eine Brücke ist, weil ich vorab schon weiß, was unter einer Brücke zu verstehen ist. In diesem Sinne ist jede unmittelbare Wahrnehmung, jede Unmittelbarkeit eine »vermittelte Unmittelbarkeit«, deren Vermitteltheit aber ihrerseits an den Gegebenheiten und Sinnesdaten nicht abgelesen werden kann. In der scheinbaren »Selbstgegebenheit des Objekts« ist der subjektive Anteil der Erkenntnis, die das sinnlich wahrgenommene 161 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gebilde aus Pfeilern und begehbaren Wegen erst zur Brücke macht, untergegangen. Das einzige Gegenmittel gegen den Schein der Unmittelbarkeit und gegen Verdinglichung ist »die ihrer selbst bewußte Arbeit des Gedankens«. Sie wird, mit Leibniz und Hegel, als Aufgabe der Philosophie angesehen. Im Kern besteht sie darin, den gegebenen Objekten, denen man die Geschichte ihrer Entstehung und Vermittlung nicht mehr ansieht, diese Dimension zurückzugeben. Das ist sicherlich auch ein Stück Selbstbeschreibung, also die Beschreibung der Aufgabe der kritischen Reflexion, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung und generell für ihr eigenes Denken in Anspruch nehmen. Auch sie folgen dem Programm, »die in der Wahrnehmung unmittelbar gesetzten und daher zwingenden« Gegebenheiten in den Prozess ihrer Erzeugung zurück zu versetzen und sie damit der »Gewalt«, die in ihrer scheinbaren unveränderbaren Gegebenheit besteht, zu entkleiden. In dieser Reflexion wird das, was als ganz unvermittelte Wahrheit, Einheit und Gegebenheit erscheint, als vermittelt ausgewiesen und erkannt. Vor ihrem kritischen Blick erweist sich »jede frühere Stufe« der Erkenntnis und der Wissenschaft als eine Stufe der Verdinglichung, in der, ganz positivistisch, die Dinge als unveränderlich so genommen werden, wie sie erscheinen. Dabei »zu verharren«, nicht über das Gegebene und die Unmittelbarkeit der Erscheinungen hinaus weiter zu denken, also »ohne Negation« zu denken, wird der »Pathologie der Erkenntnis« zugerechnet. In ihr werden die Dinge, so wie sie nun einmal sind, »naiv« verabsolutiert. Wer so verfährt unterliegt stets »der verblendenden Macht falscher Unmittelbarkeit«.

VI: 8 »Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren.« Das Problem der Verblendung wird nun im Blick auf das Urteilen noch einmal aufgegriffen und weitergeführt. In jedem Urteil ist unvermeidlich die Verblendung durch die Macht der Unmittelbarkeit enthalten. Es ist ein »notwendiger Schein«, also offenbar unvermeidlich, dass jedes Urteil »versichernd« ist. Es ist also mit ihm immer die Behauptung verbunden, dass es so und nicht anders ist. Das gilt auch dann, wenn die Urteilenden durchaus die Bereitschaft mitbringen, ihre Wahrnehmungen und Aussagen in Frage zu stellen. Auch das Urteil, das »seine eigene Isoliertheit und Relativität« grundsätzlich eingesteht, muss das, was es behauptet, zunächst als gültig und nicht als »bloß isoliert und relativ behaupten«. Also kann die Alternative zur Paranoia nicht darin bestehen, auf das Urteilen zu verzichten und alles als gleich gültig nebeneinander stehen zu 162 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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lassen. Jeder, der es ernst meint, muss von der Richtigkeit seines Urteils überzeugt sein. Darin besteht das »Wesen« des Urteils. Es muss für sich »Wahrheit« in Anspruch nehmen, die im Unterschied zur bloßen Wahrscheinlichkeit »keine Grade« kennt. Und auch der »negierende Schritt«, die Arbeit der Negation, in der das kritische Denken besteht, muss die Aussagen, die sie überschreitet, »für wahr« und damit »sozusagen paranoisch« nehmen. Jedes Urteil muss mit aller Ernsthaftigkeit beanspruchen, die Wahrheit auszudrücken, und auch die Negation und Überschreitung dieses Urteils muss das tun. Zu dieser Ernsthaftigkeit und Entschiedenheit gehört aber auch die Bereitschaft, jedes einzelne Urteil wieder in Frage zu stellen und zu überschreiten. Insofern gilt – und das ist die zentrale Aussage dieses Absatzes und der gesamten sechsten These: »Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren, in der Unfähigkeit des Gedankens zu solcher Negativität, in welcher entgegen dem verfestigten Urteil das Denken recht eigentlich besteht.« Denken heißt also überschreiten, und erst wer unverrückbar auf seiner Position beharrt, verlässt die Gemeinsamkeit der Denkenden. In dieser Aussage ist selbstverständlich immer die Fähigkeit mit gemeint, auch das eigene Urteil stets wieder zu überschreiten. Es ist dieser Punkt, an dem sich Paranoia und Erkenntnis voneinander trennen. Das entscheidende Kennzeichen des paranoiden Denkens ist die »schlechte Unendlichkeit des immergleichen Urteils«. Denken besteht aber nicht in der sturen Behauptung der eigenen Wahrheit. Der Paranoiker scheitert an der Absolutheit seines Anspruchs auf Wahrheit, weil er unfähig ist, Denken, Erkennen und Urteilen als Prozess zu verstehen, in dem es einen unüberschreitbaren Endpunkt nicht gibt. Wer am absoluten Anspruch des Denkens festhalten will, kann das nur, indem er das Scheitern des Absolutheitsanspruchs eingesteht. Der Paranoiker verbeißt sich aber ins Partikulare, er stellt sein ganzes Denken in den »hoffnungslosen Dienst des partikularen Urteils«, dessen »Unwiderstehlichkeit« und »Positivität« er gebetsmühlenhaft behauptet und nicht in Frage stellen kann. Es zeugt von der »Schwäche des Paranoikers« und seines Denkens, dass er den Schritt über die »Unmittelbarkeit« der Erscheinungen hinaus nicht geht. Dieser Schritt der »Besinnung« ist tatsächlich riskant, er ist nicht »zwingend«, er ist jedenfalls weit weniger offensichtlich als der Augen»Schein«, der durch die Besinnung in Frage gestellt wird. Besinnung ist eine »negative, reflektierte, nicht geradeaus gerichtete Bewegung«, und sie ist damit gegen die »Brutalität« gerichtet, »die dem Positiven innewohnt«. Dann beziehen sich Horkheimer und Adorno erneut auf die Psychoanalyse, die die »psychische Energie der Paranoia« und deren »libidinöse(.) Dynamik« bloßgelegt hat, und verweisen damit auf jene Passagen des sechsten Absatzes dieser These, die ich oben bereits kommentiert habe. Jetzt aber geht es nicht noch einmal um die libidinöse Dynamik, 163 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sondern um erkenntnis- und wissenstheoretische Fragen. Da die Grenze zwischen der falschen und der unvermeidlichen, richtigen Projektion niemals in vollkommener Eindeutigkeit gezogen werden kann, erweist sich die Paranoia als objektiv unangreifbar. Das ist in der »Vieldeutigkeit« begründet, die mit jedem »vergegenständlichenden Akt«, d.h. mit jeder Erkenntnis, unabdingbar verbunden ist. Im Text ist nun sogar die Rede davon, dass die Erkenntnis eine »halluzinatorische Gewalt« enthält, die »ursprünglich entscheidend gewesen« sei. An dieser Stelle erfolgt ein weiterer Rekurs auf die Evolutions- bzw. die »Selektionstheorie« und damit auf die frühen Stadien der menschlichen Entwicklung. Während »der Entstehungsperiode des menschlichen Sensoriums«, so lautet die Annahme, haben »jene Individuen« überlebt, »bei denen die Kraft der Projektionsmechanismen am weitesten in die rudimentären logischen Fähigkeiten hineinreichte, oder am wenigsten durch allzu frühe Ansätze der Reflexion gemindert war«. Es war mithin die Fähigkeit der robusten, durch keine Zweifel angekränkelten Projektion, die dem survival of the fittest am besten diente und am ehesten das Überleben sicherte. Diejenigen, die stets mit dem schlimmsten rechneten und sich immer von Feinden umzingelt sahen, kamen am besten davon. Im Konkurrenzkampf war es stets am funktionalsten, sich hemmungslos von seinen Projektionen und paranoiden Phantasien leiten zu lassen. Und in gewisser Weise ist das bis heute der Fall, wie Horkheimer und Adorno mit einem Hinweis auf das wissenschaftliche und akademische Feld behaupten. Praktisch »fruchtbare wissenschaftliche Unternehmungen« bedürften vor allem »der unangekränkelten Fähigkeit zur Definition« – was nichts anderes bedeutet, als »den Gedanken an einer durchs gesellschaftliche Bedürfnis designierten Stelle stillzulegen, ein Feld abzugrenzen, das dann bis in kleinste durchforscht wird«. Mithin muss man das Denken einstellen, um im Wissenschaftsbetrieb erfolgreich zu sein. Die durch die Bedürfnisse des Überlebens gezogenen Grenzen dürfen nicht in Frage gestellt oder transzendiert werden. Darin unterscheidet sich der Wissenschaftler nicht vom Paranoiker, der ebenfalls »einen durch sein psychologisches Schicksal designierten Interessenkomplex nicht zu überschreiten« vermag. Innerhalb dieses streng abgegrenzten Raumes kann der Wissenschaftler wie der Paranoiker ausgesprochen scharfsinnig argumentieren. Aber über den fix gezogenen Kreis geht die Kraft des Denkens nicht hinaus. In dieser Begrenzung ist der »Bann der technischen Zivilisation« begründet, und deswegen ist die Menschheit bei all ihrem »Ingenium« dazu verurteilt, dass sie sich selbst »liquidiert«. Der Absatz mündet schließlich in die Aussage: »Die Paranoia ist der Schatten der Erkenntnis.« Die gesamte Dialektik der Aufklärung ist ein einziger Versuch, die Erkenntnis von diesem Schatten zu befreien. Und der einzige Weg, das zu bewerkstelligen, besteht in der Selbstreflexion der Erkenntnis. 164 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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VI: 9 »Falsche Projektion ist der Usurpator des Reiches der Freiheit wie der Bildung.« Noch einmal wird nun das Thema der »falschen Projektion« aufgegriffen und weitergeführt. Als das »isolierte Schema der Selbsterhaltung« ist sie der bestimmende Teil in der bisherigen Geschichte des Geistes. Sie ist darin so erfolgreich, weil sie nicht auf diese Sphäre der Selbsterhaltung begrenzt ist, sondern zunehmend dazu übergeht, auch das zu beherrschen, was außerhalb dieses Bereichs liegt: »die Kultur«. Die falsche Projektion breitet sich in alle Sphären der Gesellschaft hinein aus und wird zum »Usurpator des Reiches der Freiheit wie der Bildung«. Hier erzeugt sie das Phänomen des »Halbgebildeten«, dessen Symptom die Paranoia ist. Der Halbgebildete ist dadurch charakterisiert, dass für ihn im Kern »alle Worte zum Wahnsystem« werden. Etwas anderes kann er sich unter Sprache nicht vorstellen. In Worten sieht er den Versuch, »gewalttätig der Welt Sinn zu geben«, in der er sich selber als »sinnlos« erfährt. Zugleich diffamiert der Halbgebildete »den Geist und die Erfahrung«, von denen er »ausgeschlossen ist«. Das Charakteristische der Halbbildung besteht darin, dass sie das »beschränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert« und die grundsätzliche Unvollkommenheit einer jeden Erkenntnis nicht zu akzeptieren vermag. Sie kann »den ins Unerträgliche gesteigerten Bruch von innen und außen, von individuellem Schicksal und gesellschaftlichem Gesetz, von Erscheinung und Wesen nicht aushalten« und hypostasiert deswegen das Relative zum Absoluten. In diesem Überschuss, in diesem, wie es im vorigen Absatz hieß, Halluzinatorischen, sehen Horkheimer und Adorno zunächst gegenüber dem »bloßen Hinnehmen des Gegebenen«, wie es für den Positivismus und die ihm eigene »überlegene Vernünftigkeit« typisch ist, durchaus ein Element des Wahren. Aber die Halbbildung schafft es nicht, weiter zu kommen, und mauert sich in ihre Stereotype ein. Sie ist von »Angst« bestimmt und greift, immer in Erwartung des Schlimmsten, »nach der ihr jeweils eigenen Formel, um bald das geschehene Unheil zu begründen, bald die Katastrophe, zuweilen als Regeneration verkleidet, vorherzusagen«. Immer jedenfalls ist die Reaktion von einer Unheils- und Katastrophenerwartung geprägt. Dahinter steht aber stets der eigene aggressive Wunsch, die Welt mit Gewalt und Zerstörung zu überziehen. Die Erklärungen, die die Halbgebildeten und Paranoiker für ihre Sicht auf die Welt geben, sind demgegenüber ganz »äußerlich und sinnleer«, »läppisch und sinister«. Und die »obskuren Systeme«, die 165 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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obskurantistischen Welterklärungen, die mit allerlei subtilen, aber sinnlosen Spekulationen aufwarten, bewegen sich auf dem gleichen Niveau. Sie geben auf willkürliche und pseudorationale Weise den Ereignissen der Außenwelt einen Sinn, so wie im Mittelalter der »Teufelsmythos der offiziellen Religion« es erlaubte, Unheil und Übel in das Bild der Welt zu integrieren. Wo hier kollektiv geteilte Pseudoerklärungen das Feld bestimmten, da belehnt der »einzelgängerische Paranoiker« die Welt auf eigene Faust mit seinen Phantasien, die von niemandem geteilt werden. Es gibt aber vielfältige Vergesellschaftungsformen der einzelgängerischen paranoiden Wahrnehmungen, etwa die »fatalen Konventikel und Panazeen, die sich wissenschaftlich aufspielen und zugleich Gedanken abschneiden«, zum Beispiel »Theosophie, Numerologie, Naturheilkunde, Eurhythmie, Abstinenzlertum, Yoga und zahllose andere Sekten«. Sie alle verfügen über »Akademien, Hierarchien, Fachsprachen«, sie alle arbeiten mit dem »fetischisierten Formelwesen von Wissenschaft und Religion«. Ihre Funktion ist stets dieselbe. Sie sozialisieren die individualisierte, einzelgängerische Paranoia und machen sie zur Norm, so dass die Paranoia, indem sie zur Norm wird, gleichsam verschwindet. Es ist diese Diagnose »sozialisierter Halbbildung« (Adorno 1959: 93), die Adorno in einem Text über die Theorie der Halbbildung im Jahre 1959 aufgreift und zur Signatur des Zeitalters erklärt. In die Bestimmungen von Paranoia, Bildung und Halbbildung bringen Horkheimer und Adorno nun eine historische Dimension hinein, die wiederum eng mit ökonomischen Entwicklungen in Korrespondenz steht. In der Hochzeit des unabhängigen Bürgertums und des Geistes wurden die Pseudoerklärungen als das wahrgenommen, was sie sind: »apokryph und unrespektabel«. Das hat sich in der Gegenwart geändert. In einer Zeit, wo Bildung »abstirbt«, und zwar »aus ökonomischen Gründen«, sind »in ungeahntem Maßstab neue Bedingungen für die Paranoia der Massen gegeben«. Wer sich nicht mehr im Denken orientieren kann, sucht Zuflucht in kollektiven pseudowissenschaftlichen Welterklärungen, die auf den ersten Blick ähnlich funktionieren wie die »Glaubenssysteme der Vergangenheit«. Aber diese hatten »weitere Maschen« und ließen »Raum für Bildung und Geist«. Sie haben sogar »in gewisser Weise der Paranoia entgegengewirkt«. Neurosen waren demgegenüber sogar tatsächlich das, was Freud in ihnen sah: asoziale Bildungen. Auf dieser Stufe erfüllten die »Glaubenssysteme« eine positive Funktion und hielten etwas von jener »Kollektivität« fest, »welche die Individuen vor der Erkrankung bewahrt.« In den Glaubensgemeinden und dem in ihnen praktizierten »Rausch vereinter Ekstase« wurde »Blindheit zur Beziehung und der paranoische Mechanismus beherrschbar gemacht«. Darin hat vielleicht »einer der großen Beiträge der Religionen zur Selbsterhaltung der Art« bestanden. Die Glaubensgemeinden nämlich ließen die Einzelnen mit ihrer Angst nicht allein, sondern ermöglichten ihren 166 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gliedern, sich im Glauben an einen gemeinsamen Vatergott und in der Erwartung des Messias miteinander zu identifizieren. Immer ist es so, dass die Paranoiker die Nähe zu ihresgleichen brauchen und sich in »Bünden, Fronden und Rackets« zusammenschließen. So suchen sie einerseits die Bestätigung ihres Wahnsinns durch andere. Andererseits sehen sie »überall«, in ihren eigenen Reihen wie außerhalb, »Verschwörung und Proselytenmacherei«, Drahtzieher und Abtrünnige, Heimlichtuerei, Heuchelei und Machenschaften verborgener Feinde. In dieser Bereitschaft zu Projektion und Paranoia hat die Menschheit heute »vor den Kopfjägern nichts voraus«. Die Welt ist mit Feinden und Verfolgern bevölkert. Überall sehen sich die Paranoiker von Gefahren umstellt, während in Wirklichkeit sie es sind, die alle anderen mit Gewalt bedrohen. Der »krankhafte Zusammenhalt« der Gruppen und der Gesellschaft insgesamt lebt davon, dass es immer Personenkreise gibt, die verfolgt und gejagt werden können, gleichgültig ob sie unfreiwillig aus dem Kreis der Zugehörigen ausgeschlossen wurden oder sich selber in die Position des Außenseiters begeben haben. Durch die Teilnahme an der kollektiven Paranoia können die Mitglieder der etablierten Gruppen ihre individuelle Paranoia scheinbar überwinden. Sie gewinnen dadurch den Anschein der Normalität. Sie suchen und benötigen »die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns«, damit sie ihrem privaten Wahn nicht ins Auge sehen müssen und ihnen ihre individuelle Paranoia nicht zum Bewusstsein kommt. Das wäre für sie der »horror vacui«. Deswegen überantworten sie sich voller Verzweiflung und mit Haut und Haaren »ihren Bünden«. Das »schweißt sie zusammen« und »verleiht ihnen die fast unwiderstehliche Gewalt«, die ihnen eigen ist. Es sind mithin keine freiwilligen Assoziationen, sondern in sich selbst zutiefst gestörte und gewaltträchtige Vereinigungen, von denen diese große Attraktivität auf die Erkrankten ausgeht. Wo die traditionellen Religionen offen waren und begrenzten Raum für die Ausbildung des Geistes ließen, ist die Realitätsabdichtung dieser paranoiden Gruppen fast perfekt.

VI: 10 »Die Lebensordnung heute läßt dem Ich keinen Spielraum für geistige Konsequenzen.« In diesem Absatz geht es um die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen der Paranoia, mithin um jene gesellschaftlichen Entwicklungen, die die Paranoia befördert und ihr eine so große kollektive Bedeutung gegeben haben. Damit werden die in diese Richtung bereits zielenden Andeutungen des vorigen Absatzes aufgegriffen und fortgeführt. Das 167 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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einzige Gegenmittel gegen Paranoia wird gleich im ersten Satz apostrophiert: »Bildung«. Ihre Ausbreitung soll mit dem »bürgerlichen Eigentum« in Verbindung stehen. In der Ära der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft hat die Bildung es geschafft, »die Paranoia in die dunklen Winkel von Gesellschaft und Seele« zurückzudrängen. Horkheimer und Adorno vertreten hier erneut die Behauptung, dass es eine große Zeit der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus gegeben hat, in der die Zirkulation als Sphäre von Geld und Geist wie ein Leuchtturm strahlte und es so schien, als wenn eine versöhnte Gesellschaft tatsächlich im Bereich des Möglichen liegt. Aber sie stellen dann sofort wieder die Grenze dieser Epoche heraus, an der sie am Ende gescheitert ist. Die Emanzipation von der Paranoia, die offenbar gattungsgeschichtlich sehr tief in die menschlichen Natur eingesenkt ist, war auch in dieser großen Epoche der bürgerlichen Gesellschaft nur halbiert – sie war begrenzt auf die »Aufklärung des Geistes« und ging nicht in die »reale Emanzipation der Menschen« über. Das »gebildete Bewußtsein« und die »gesellschaftliche Wirklichkeit« entwickelten sich auseinander. Dadurch unterlag auch die Bildung noch dem »Prozeß der Verdinglichung« und wurde zur »Ware«. Sie verbreitete sich zwar, aber nur noch »informatorisch«, ohne dass sie diejenigen, die sie aufnahmen, wirklich zu »durchdringen« vermocht hätte. Somit war das Denken auch in dieser Epoche bereits »kurzatmig« und beschränkte sich positivistisch auf die »Erfassung des isoliert Faktischen«. Bemühungen, die Zusammenhänge zwischen den Dingen zu denken und herzustellen, wurden mehr und mehr »als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen«, das Moment der Entwicklung, »alles Genetische und Intensive … wird vergessen und aufs unvermittelt Gegenwärtige, aufs Extensive nivelliert«. »Alle Verdinglichung«, so heißt es an einer anderen Stelle der Dialektik der Aufklärung, »ist ein Vergessen« (DA 262), und mit diesem Vergessen wird das Denken generell beschränkt und begrenzt. Diese Begrenzung wiederum führen Horkheimer und Adorno auf die Entwicklung der »Lebensordnung« zurück, die dem Ich nach und nach »keinen Spielraum für geistige Konsequenzen« mehr lässt und einzig das Funktionieren im Dienst der Selbsterhaltung noch erlaubt. Denken wird begrenzt auf positives »Wissen«, das der »Qualifikation auf spezifischen Arbeitsmärkten« dient und die »Steigerung des Warenwerts der Persönlichkeit« bewirken soll. Das hat weitreichende Konsequenzen. Denn mit dem Zerfall der Bildung und des Denkens »geht jene Selbstbesinnung des Geistes zugrunde, die der Paranoia entgegenarbeitet«. Schon im »Spätkapitalismus« ist die »Halbbildung« bestimmend und tonangebend, d.h. »zum objektiven Geist geworden«. Der Schritt zur »totalitären Phase der Herrschaft«, in der die »provinziellen Scharlatane der Politik« ans Ruder kommen und mit ihnen »das Wahnsystem als ultima ratio«, ist dann nicht mehr groß. Nun mutiert die Herrschaft zur Praxis der Verfolgung, 168 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

die von der Herrschaft der ohnedies »durch die große und die Kulturindustrie« bereits »mürbe gemachten Mehrheit der Verwalteten« auferlegt wird. In diesem Satz fällt zum ersten Mal in den Elementen der Begriff der »Kulturindustrie«. Das Kapitel, das den Elementen vorangeht, ist unter diesem Titel dem Thema »Aufklärung als Massenbetrug« (DA 144ff) gewidmet, und die letzte These der Elemente, die ich später noch kommentieren werde, nimmt dieses Thema explizit im Blick auf den Zusammenhang mit dem Antisemitismus dann noch einmal auf. Hier jedoch fahren Horkheimer und Adorno nach dem Stichwort Kulturindustrie zunächst unvermittelt mit einem ganz anderen Gedanken fort, nämlich mit der Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung und Umwendung. Am Ende der sechsten These wird dieser Gedanke, wie wir gleich noch sehen, sogar in den Vordergrund gerückt. Jetzt heißt es zunächst nur sehr allgemein, dass der »Widersinn der Herrschaft« im Grunde für alle, die einigermaßen bei Verstand sind, ganz offen zutage liege und eigentlich »fürs gesunde Bewußtsein … einfach zu durchschauen« sei. Plausibel gemacht wird diese Behauptung mit dem eigentümlichen Argument, das aus den übermäßigen und geradezu krankhaften Anstrengungen der Gegenseite auf deren Schwäche und Antiquiertheit schließt. Weil die Überflüssigkeit der Herrschaft so offenkundig ist und ihre Abschaffung, wie eigentlich jeder weiß, unabdingbar auf der Tagesordnung steht, »bedarf« die Herrschaft »des kranken Bewußtseins«, damit sie überhaupt fortbestehen kann. Die Tatsache, dass die Herrschaft in krankhafte Verfolgung »übergehen muß« und irrsinnige Züge annimmt, wird zum Indikator dafür, dass ihre Abschaffung längst überfällig ist. Das Bewusstsein der Überflüssigkeit von Herrschaft ist so drängend, dass dagegen »Verfolgungswahnsinnige« aufgeboten werden müssen, die sich ihrerseits die Verfolgung nur noch gefallen lassen, »indem sie andere verfolgen dürfen«.

VI: 11 »Seele, als Möglichkeit zu dem sich selber offenen Gefühl der Schuld, zergeht.« Die Strukturveränderungen der Gesellschaft im Spätkapitalismus und ihr Übergang in den Faschismus werden in diesem Absatz weiter analysiert und nun vor allem auf moralische Fragen bezogen. Im Faschismus verschwindet die »von bürgerlicher Zivilisation mühsam gezüchtete Verantwortung für Weib und Kind«. An ihre Stelle tritt das »Sichausrichten jedes Einzelnen nach dem Reglement«. Durch diese Ein- und Unterordnung wird »das Gewissen liquidiert«. In diesem Satz klingt noch einmal die These vom Ende der liberalen Phase, der Liquidierung 169 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

der Zirkulation als der Sphäre von Geld, Geist und Bildung an. Was unter Gewissen zu verstehen ist, wird nun erläutert und sogleich mit dem Einspruch gegen »Dostojewskij und deutsche Innerlichkeitsapostel« verknüpft, die unter Gewissen den Kult von Innerlichkeit, Weltabgewandtheit und Tiefe verstanden. Nach Horkheimer und Adorno dagegen äußert sich das Gewissen nicht in der Einkapselung ins Eigene, sondern »in der Hingabe des Ichs an das Substantielle draußen, in der Fähigkeit, das wahre Anliegen der anderen zum eigenen zu machen«, mit anderen Worten: im Handeln. Das bedeutet zugleich, dass moralische Fragen nicht von der Fähigkeit der Erkenntnis getrennt werden dürfen. Das moralische Vermögen ist an die »Reflexion als der Durchdringung von Rezeptivität und Einbildungskraft« gebunden. Die Vermittlung von Rezeptivität und Einbildung ist eben das, was den ersten Absätzen dieser sechsten These zufolge als konstitutiv für das Erkennen gelten muss. Wir sind durch viele Andeutungen und Überlegungen darauf vorbereitet, dass Horkheimer und Adorno den dramatischen Zusammenbruch von Moral und Reflexion im Faschismus auf ökonomische und gesellschaftliche Strukturveränderungen zurückführen. Die entscheidende Aussage lautet, dass die »große Industrie« die unabhängigen ökonomischen Subjekte abgeschafft hat. Die Schicht der »selbständigen Unternehmer« gibt es nicht mehr, und die Arbeiter sind in »Gewerkschaftsobjekte« verwandelt worden. Das entzieht der »moralischen Entscheidung« wie der »Reflexion« den »wirtschaftlichen Boden«. Auch die Instanz der »Seele«, verstanden als »Möglichkeit zu dem sich selber offenen Gefühl der Schuld«, »zergeht«. Dadurch wird das Gewissen »gegenstandslos«, denn die Voraussetzung für das Vermögen des Gewissens besteht darin, dass das Individuum einen Bereich für sich reklamiert, in dem es frei und eigenständig tätig sein kann. Diesen Spielraum eigenen Handelns und Entscheidens aber gibt es nicht mehr. In der Phase der totalen Herrschaft ist an die Stelle der »Verantwortung des Individuums für sich und die Seinen« das Funktionieren getreten, die »Leistung für den Apparat«. Das geschieht zwar noch »unter dem alten moralischen Titel«, also unter dem Titel des Gewissens, hat aber mit diesem nur mehr das Wort gemein. Denn jetzt bezeichnet der Begriff des Gewissens lediglich den Sachverhalt, dass man den Anforderungen, die von außen kommen, auch den Aufforderungen zu Verbrechen, ohne Bedenken und ohne Reserven folgt. Damit stellt sich das Gewissen in den Dienst des Wahns. In einem zweiten Zugriff werden diese ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen in ihren Folgen für die Prozesse der Sozialisation und der Ich-Bildung beschrieben. Psychodynamisch betrachtet führen die Veränderungen dazu, dass es »nicht mehr zum Austrag des eigenen Triebkonflikts« kommt, in dem, nach Freud, »die Gewissensinstanz sich ausbildet«. Die »Verinnerlichung« der gesellschaftlichen Gebote, die vor allem im Vater repräsentiert sind, machte das Gewissen 170 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

zwar zu einer verbindlichen und strengen Instanz, gewährte aber dem Individuum zugleich einen Frei- und Spielraum, in dem es seine eigenen Positionen gegen die Gesellschaft zur Geltung bringen konnte. Die jüngeren ökonomischen und politischen Entwicklungen haben dagegen diesen Spielraum kassiert, indem sie »prompte, unmittelbare Identifikation mit den stereotypen Wertskalen« verlangen. Der Vater wird entwertet, und an die Stelle des Triebkonflikts, der im ödipalen Drama die Entwicklung eines eigenen Über-Ichs erlaubte, tritt der Zwang der unmittelbaren Identifikation mit den äußeren Mächten. Die komplizierten Prozesse der Gewissensbildung, wie Freud sie beschrieben hat, öffneten noch einen Raum der Distanzierung und Abgrenzung gegen die gesellschaftlichen Konformitätszwänge und ermöglichten Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Urteilens und Handelns. Die unmittelbare Identifikation dagegen vollzieht sich ohne solche Umwege und sucht immer und überall die Nähe und die Zugehörigkeit zu den stärkeren Bataillonen. An die Stelle von unabhängigen und autonomen Individuen mit einem je eigenen Gewissen, das ihnen eine eigene Orientierung ermöglicht, treten »Typen«, etwa die »vorbildliche deutsche Frau« oder der »echte deutsche Mann«. Sie erscheinen als vollkommene Konformisten ohne Eigensinn und Autonomie. Aus der Distanz betrachtet dagegen sind sie nichts weiter als asozial. Sie unterwerfen sich jeder Vorgabe, jedem Kommando und jeder »Schlechtigkeit«. Freilich ist die »Herrschaft«, der sie sich unterwerfen, so »übermächtig« geworden, dass jeder Einzelne zur »Ohnmacht« verdammt ist und ihm im Grunde nichts bleibt, als »durch blinde Fügsamkeit« zu überleben.

VI: 12 Die »Judenfrage erwiese sich in der Tat als Wendepunkt der Geschichte«. Der letzte Absatz der sechsten These wendet sich nach den verwickelten und komplizierten Ausführungen über Funktionsweisen, Geschichte, Triebgenese und gesellschaftliche Hintergründe der Paranoia nun wieder dem Zusammenhang mit dem Antisemitismus zu und greift dazu auch Überlegungen aus den früheren Thesen wieder auf. Sofort rückt die schon mehrmals erörterte Frage ins Zentrum, warum es die Juden sind, die zum bevorzugten Objekt des kollektiven Wahns gemacht werden. Im ersten Satz wird behauptet, dass wir es dabei mit »dem von der Partei gelenkten Zufall« zu tun haben. Das klingt so, als wenn die Auswahl der Gruppe, die zur Verfolgung freigegeben wird, der Beliebigkeit der Verfolger anheimgegeben wäre. Dieser Eindruck wird dann freilich sogleich wieder zurückgenommen, wenn es heißt: »Vorbestimmt für 171 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

solche Lenkung sind die Juden.« Und zur Begründung wird nun erneut, wie in der ersten und dritten These darauf verwiesen, dass die Zirkulationssphäre, in der die Juden »ihre ökonomischen Machtpositionen besaßen«, »im Schwinden« begriffen ist. Damit ist generell die »liberalistische Form« des Kapitalismus zum Untergang verurteilt, und die Juden werden nun »den mit dem Staatsapparat verschmolzenen, der Konkurrenz entwachsenen Kapitalmächten ausgeliefert«. Der Staatskapitalismus hat die liberale Epoche überwunden und macht die Juden als ökonomisch überflüssige Schicht zum Freiwild. Hier wird also noch einmal die ökonomische Erklärung des Antisemitismus resümiert, ohne dass den früher bereits entwickelten Gedanken etwas Neues hinzugefügt wird. Dann aber verlässt der Text diese ökonomische Dimension und greift Überlegungen aus der zweiten These auf, nach der der Antisemitismus mit der Liquidierung des Gedankens an Glück zusammenhängt. Was für die Antisemiten unerträglich ist, sind jene »Züge« des Glücks, die sie auf die Juden projizieren: »des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos«. Unerträglich sind ihnen diese Züge, weil sie sie »insgeheim ersehnen«. Diese irritierende Verwandlung, in der das »Ersehnte zum Verhassten« gemacht wird, wird »von der Herrschaft« bewerkstelligt und dient der Aufrechterhaltung der Herrschaft, deren Abschaffung eigentlich längst überfällig ist. Der psychische Mechanismus dieser Verwandlung besteht in der »pathischen Projektion«, die in dieser sechsten These ja ausführlich erörtert worden ist. Aufgenommen wird auch der Gedanke aus dem sechsten Absatz dieser These, demzufolge die Ungeschiedenheit von aggressiver Überwältigung und Liebe die Destruktionslust des Paranoikers antreibt. Die eigentümliche Verwandlung des Ersehnten ins Verhasste kann nur deswegen gelingen, so heißt es nun, weil sie mit der Sehnsucht einen gemeinsamen Punkt hat: Beide nämlich, die Liebe wie der Hass, führen zur »Vereinigung mit dem Objekt« – der Hass in der Zerstörung, die Liebe in der Anerkennung des Anderen und der Vereinigung mit ihm. So kann der Hass sich damit attraktiv machen, dass in ihm auch die Liebe mit ihrem Wunsch nach Nähe und Vereinigung auf ihre Kosten kommt. Damit aber ist der Hass »das Negativ der Versöhnung«. Versöhnung wiederum ist »der höchste Begriff des Judentums«, und die Erwartung dieser Versöhnung ist »dessen ganzer Sinn«. Die vierte These, die sich mit den religiösen Wurzeln des Antisemitismus beschäftigte, hat gezeigt, dass die Antisemiten die Spannung zwischen der Erwartung und Versöhnung nicht aushalten können und deswegen die Juden verfolgen, für deren Religion diese Spannung konstitutiv ist. In dieser sechsten These wird hier nun noch einmal mit der »Unfähigkeit« zu dieser »Erwartung« die »paranoische Reaktionsform« in Verbindung gebracht. Der Antisemitismus ist die Verwirklichung dieser Paranoia, die aus der christlichen Unfähigkeit zum Aushalten der 172 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Paranoia, falsche Projektion

Spannungen entsteht. Er verwandelt tatsächlich »die Welt in die Hölle« und bringt sie damit in jenen Zustand, den die Paranoiker in ihr »schon immer sahen«. Das ist die Pointe hinter dem Mechanismus der Projektion. Einerseits können sich die Antisemiten hemmungs- und reflexionslos ihren Projektionen überlassen. Andererseits aber bleibt es nicht bei der Phantasie, sondern die Paranoiker gehen daran, sobald sie die Macht dazu haben, die Welt so zuzurichten, dass sie dem Bild, das sie von ihr von Anfang an zeichnen, auf das genaueste entspricht. Sie machen ihre Projektionen wahr und geben ihnen damit eine unbezweifelbare Legitimation. In einer letzten Wendung ihrer Überlegungen, die übergangslos an den Satz mit der Verwandlung der Welt in eine Hölle anschließt, entwerfen Horkheimer und Adorno dann die Möglichkeit einer »Umwendung«, die im zehnten Absatz schon mit einer Andeutung vorbereitet worden ist. Die Umwendung, so heißt es jetzt, hängt davon ab, »ob die Beherrschten im Angesicht des absoluten Wahnsinns ihrer selbst mächtig werden und ihm Einhalt gebieten«. Freilich wird nicht angegeben, wie der Weg von jener Hölle zur »Umwendung« zustande kommen soll und an welche Bedingungen er geknüpft ist. Einzig worin sie besteht, wird näher ins Auge gefasst und beschrieben. Ihr Wesen ist die »Befreiung des Gedankens von der Herrschaft« und die »Abschaffung der Gewalt«. Damit könnte sich die Idee verwirklichen, wie Horkheimer und Adorno unter Anspielung auf die berühmte Formulierung aus Lessings Nathan der Weise sagen, »daß der Jude ein Mensch sei«. Das »wäre der Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft, die den Juden wie die anderen in die Krankheit treibt, zur menschlichen«. So könnte aus der »Schicksalsfrage der Menschheit«, zu der die Faschisten die »Judenfrage« der ersten These der Elemente zufolge gemacht haben, tatsächlich am Ende ein wirklicher »Wendepunkt der Geschichte« werden. Damit wäre die »Krankheit des Geistes« überwunden, ihrem »Nährboden« einer »durch Reflexion ungebrochenen Selbstbehauptung« wäre die Energie entzogen, und die »Menschheit« würde zur »Gattung«, die in das Bild, das sie sich von sich macht, das Wissen und das Bewusstsein ihrer eigenen Naturhaftigkeit aufnimmt. Die Bestimmung der menschlichen Einheit mit der Natur und der Differenz zu ihr, Identität und Nicht-Identität, ist ausschlaggebend für den ersehnten »Wendepunkt der Geschichte«. Ohne das Bewusstsein, dass die menschliche Gattung der Natur zugehört und »als Natur doch mehr ist als bloße Natur«, kann es die »Umwendung« nicht geben. Die »Reflexion«, die Rückwendung des Gedankens auf sich selbst und auf die Naturgrundlagen der Menschen und der Menschheit, ist die »Gegenbewegung zur falschen Projektion«. Sie macht dem Antisemitismus ein Ende, sie befreit die Juden, die dann die auf sie gerichteten falschen Projektionen »beschwichtigen« können, und sie beendet damit jegliches »Unheil«, 173 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

das »über alle Verfolgten, Tiere und Menschen, sinnlos hereinbricht«. – Das ist der letzte Satz dieser sechsten These, und in der ersten Fassung der Dialektik der Aufklärung von 1944 endete hiermit das gesamte Kapitel über die Elemente des Antisemitismus.

174 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

These VII Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken VII: 1 »Stereotypie des Denkens« Die siebte These der Elemente war in der ersten Fassung der Dialektik der Aufklärung im Jahre 1944 nicht enthalten, sondern wurde der ersten Buchausgabe der Schrift im Jahre 1947 neu hinzugefügt. Der erste Satz des ersten Absatzes sagt sogleich, warum Horkheimer und Adorno diesen Zusatz offenbar für nötig hielten: »Aber es gibt keine Antisemiten mehr.« Damit ist angekündigt, dass es um die Frage gehen soll, wie die Situation nach dem Ende der NS-Herrschaft und des totalitären Antisemitismus zu beurteilen ist. 1945 lag die Hölle, die die Nazis dem ganzen europäischen Kontinent und vor allem den Juden bereitet hatten, in ihrem ganzen Ausmaß für jedermann sichtbar vor Augen. Der Antisemitismus wurde nun kollektiv geächtet, eine Reihe von NS-Verbrechern musste sich strafrechtlich für ihre Untaten verantworten. Die Abgrenzung zum Nationalsozialismus und damit auch zum Antisemitismus wurde sodann zum konstitutiven Bestandteil im Selbstbild der jungen Bundesrepublik, und schließlich verwandelten sich mit dem augenscheinlichen politischen und ökonomischen Erfolg des neuen Staatswesens die ehemaligen Nazis beinahe im Handumdrehen in eine demokratische Bürgerschaft. Ist damit dann alles erledigt und gut? Das ist die Frage, die in dieser siebten These behandelt wird, oder sagen wir es vorsichtiger: die im Hintergrund das Thema ist, um das die These kreist. Die Antwort lautet, dass das Problem mit und nach dem Ende der NS-Herrschaft keineswegs gelöst ist. Seine tiefer liegenden Ursachen bestehen weiterhin fort. Und auch auf der manifesten Ebene, das hatte die empirische Studie des Instituts für Sozialforschung über Antisemitism among American Labor ergeben, war die Ablehnung der Juden durch den Informationen über den Völkermord auf dem europäischen Kontinent keinesfalls geringer geworden – im Gegenteil. Die gleiche Beobachtung veranlasste den Psychoanalytiker Ernst Simmel (1946: 13) in seiner Einleitung zu einem von ihm herausgegebenen Tagungs-Sammelband zum Antisemitismus zu der Frage: »Warum hat solche (antisemitische, H.K.) Propaganda in Amerika Erfolg, und warum breitet sie sich jetzt, da der Krieg vorbei ist, weiter aus?« Zum ersten Mal zeigte sich in den USA das beunruhigende Phänomen, das dann in vielen 175 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Nachkriegsuntersuchungen über den Antisemitismus eine bedeutende Rolle spielen sollte (vgl. Bergmann 2004a). Antisemitische Einstellungen und Vorurteile erhielten sich nicht trotz, sondern umgekehrt wegen der Vernichtung der europäischen Juden am Leben. Eine der Erklärungen dafür liegt in der weit verbreiteten Überzeugung, dass Opfer immer irgendwie selber die Schuld an ihrem Schicksal haben und niemals ganz unschuldig sind (vgl. Ziege 2009: 211ff). Aber auch die Abwendung der Antisemiten und Nazis von ihren früheren Überzeugungen erscheint oftmals alles andere als überzeugend und glaubwürdig. Mit dem militärischen Sieg gegen das faschistische Deutsche Reich und der Etablierung eines neuen politischen Systems ist es jedenfalls nicht getan. Die Sieger des Krieges haben zwar der Ermordung der Juden ein Ende gesetzt und den Antisemitismus geächtet, aber die Denkweisen und Bewusstseinsformen, die ihm zugrunde lagen und in dieser These unter der Bezeichnung »Ticketmentalität« zusammengefasst werden, haben sich damit keineswegs in nichts aufgelöst. Sie wuchern weiter, breiten sich über alle Bereiche der Gesellschaft aus und bilden den Humus, aus dem im Prinzip jederzeit wieder tödliche Folgen für die Juden und andere Minderheiten neu entstehen können. Nach dem ersten Satz, der die These wie ein Paukenschlag eröffnet, folgt ein kurzer Rückblick auf die Geschichte, die Logik und die sozialen Träger des Antisemitismus. Horkheimer und Adorno nehmen damit Überlegungen aus früheren Thesen wieder auf, führen sie weiter und beziehen sie auf die Lage nach dem offiziellen Ende des Antisemitismus. Zunächst geht es um die Haltung der Liberalen, die schon in der ersten These das Thema war. Dort lautete die Behauptung, dass die Liberalen dem Antisemitismus gegenüber nicht nur auf verlorenem Posten standen, sondern zu Zwecken der eigenen Selbstbehauptung nur allzu rasch bereit waren, auf die Seite des Rassismus überzutreten. In der siebten These wird diese Einschätzung mit dem Argument weitergeführt, dass die liberalen Judenfeinde nach dem Ende des NS-Regimes sehr schnell ihren Antisemitismus ablegen, indem sie ihn als eine Äußerung von Leuten ausgeben, die eben auch mal »ihre antiliberale Meinung sagen wollten«. Eine Abwendung vom Antisemitismus, die so sorglos und rasch, so gedankenlos und ohne wirkliche Selbstreflexion vollzogen wird, kann man aber nur mit Reserve und Skepsis betrachten. Derartig abrupten Wechseln der Überzeugungen ist nicht zu trauen, sie wirken alles andere als glaubwürdig und verlässlich. Man kann diese Beobachtung freilich auch noch anders und gleichsam in die umgekehrte Richtung wenden. Die rasche Abwendung vom Antisemitismus nach 1945 kann als Indikator dafür verstanden werden, dass die antisemitischen Überzeugungen vor 1945 gar nicht wirklich tief und fest verankert waren, sondern eher wie eine Spielmarke funktionierten, also eine nur oberflächlich übernommene Position markieren, die nicht 176 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

aus Überzeugung eingenommen wurde, sondern weil es eben opportun und vorteilhaft zu sein schien. Damit ist dann die Annahme verbunden, dass die von den Nazis betriebene Vernichtung der europäischen Juden gar nicht auf überzeugte und gleichsam authentische Antisemiten angewiesen war. Es reichte, funktionstüchtige und gehorsamsbereite Leute vorzufinden, die bereit waren, allen Befehlen, und seien sie noch so verbrecherisch, zu folgen. Dann hätte es nicht nur nach 1945 keine Antisemiten mehr gegeben, sondern auch vor 1945 waren die Antisemiten eigentlich nur oberflächlich gesehen vom Judenhass angetrieben, nicht aber mit Haut und Haaren, Leib und Seele. Dieser Gedanke hat enorme faschismus- bzw. totalitarismustheoretische Konsequenzen, und er ist einer der Punkte, an dem sich die Kontroverse über die Rolle Eichmanns im NS-Vernichtungssystem bzw. das Eichmann-Buch von Hannah Arendt zu Anfang der 1960er Jahre entzündete. Der Punkt steht auch vielfach im Hintergrund der sog. Täterforschung, die in den letzten Jahren mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft der Frage nachgeht, wie ganz normale Männer zu Massenmördern geworden sind (vgl. Browning 1992). Horkheimer und Adorno sprechen diese weitreichenden faschismusund gesellschaftstheoretischen Implikationen in der siebten These aber nicht direkt an. Gleichwohl sollte man sie im Kopf behalten, damit man sich die Reichweite der Überlegungen vor Augen führen kann. Die siebte These ist insgesamt nicht sehr stringent in ihrer Argumentation, sie deutet Überlegungen und Zusammenhänge eher an als sie wirklich zu durchdenken und zu entwickeln, sie ist eher ein Konglomerat von Gedanken, die in den vorhergehenden Thesen bereits eine Rolle gespielt haben, zum Teil stehen sie dazu aber auch in Widerspruch. Unverkennbar ist, dass an den meisten Stellen der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Entwicklung und der inneren Struktur der menschlichen Anthropologie behandelt wird. Die damit verbundene Diagnose, die uns auch in den vorhergehenden Thesen schon mehrmals begegnet ist und die in der siebten These immer wieder aufgegriffen wird, lautet, dass die Spielräume für die Entwicklung eines einigermaßen stabilen und für die Anforderungen der Außenwelt und die eigenen Triebwünsche offenen Ich zunehmend eingeschränkt werden. Die letzte Ursache dafür liegt in den ökonomischen Strukturveränderungen der Gesellschaft, insbesondere darin, dass die industrielle Logik der Produktion nun auch die Sphäre der Kultur in Besitz genommen hat. Das ist der Sinn der Rede von der Kulturindustrie. Nach ihrer kurzen Überlegung zu den Liberalen gehen Horkheimer und Adorno zunächst dazu über, einen Blick auf die »altkonservative Distanz des Adels und der Offizierkorps« gegen die Juden zu werfen. Diese Distanz, die am Ende des 19. Jahrhunderts gang und gäbe war, sei »bloß reaktionär« und damit schon damals eigentlich antiquiert und ohne große Wirksamkeit gewesen. »Zeitgemäß« dagegen waren bereits 177 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

zu dieser Zeit, also noch vor dem Übergang in den totalitären Antisemitismus, »die Ahlwardts und Knüppelkunzes«. Hermann Ahlwardt und Hermann Kunze waren antisemitische Demagogen, bei deren öffentlichen Auftritten es regelmäßig zu Tumulten, Skandalen und Schlägereien kam (zu Ahlwardt vgl. ausführlich Massing 1949: 88ff). Demagogen dieser Art, so heißt es im Text, hatten schon damals genau die »Gefolgschaft«, die dann später das »Menschenmaterial des Führers« wurde. Sie hatten ihren Rückhalt bei den »boshaften Charakteren und Querköpfen im ganzen Land«. In diesen Kreisen war der Antisemitismus »bürgerlich und aufsässig zugleich«. Mit dieser Charakterisierung kommen Horkheimer und Adorno auf ihre Beobachtung zurück, nach der im totalitären Antisemitismus eine antiautoritäre Rebellion mit ganz konventionellen Motiven der Orientierung an Ordnung und Stabilität zusammengeht. In dieser Doppelstruktur liegt, der fünften These zufolge, das Geheimnis der psychischen Energie, die den Antisemitismus antreibt und attraktiv macht. Am Ende des 19. Jahrhunderts war das »völkische Schimpfen« freilich vorerst nur »die Verzerrung von ziviler Freiheit« und konnte sich noch nicht wirklich an deren Stelle setzen. Die Antisemiten begnügten sich damit, eine Art »Bierbankpolitik« zu betreiben – sie behaupteten auf diese Weise zwar mehr oder weniger bereits die Oberhoheit über die Stammtische, aber noch nicht über das zivile Leben. Von Anfang an allerdings kam dabei doch schon »die Lüge des deutschen Liberalismus zum Vorschein«. Sie besteht darin, wie wir aus der ersten These wissen, dass die Liberalen eigentlich die Behauptung von der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung und ihrer ökonomischen Stellung, auch unter den strukturellen Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft schon für realisiert hielten. Von der Naivität und dem Schutz dieses wohlmeinenden naiven Liberalismus »zehrte« die antisemitische Gesinnung, die ihm dann, als sie stark genug geworden war, »schließlich das Ende« bereitete. Zum »Prügeln« fühlten sich die Antisemiten freilich immer schon stark genug, und sie machten als Legitimation dafür »ihre eigene Mittelmäßigkeit« geltend. Dieser Hinweis erinnert an den Beginn der fünften These, in der Horkheimer und Adorno zeigen, dass den Antisemiten, weil ihnen die Argumente fehlen, die »Berufung auf Idiosynkrasie« (V: 1) als Rechtfertigung für ihr Verhalten dient. Obwohl der Prügelantisemitismus um die Jahrhundertwende »schon den universalen Mord in sich« hatte, war es zu diesem Zeitpunkt doch noch so, dass die den Judenhass antreibenden Akteure eine Art Nutzenkalkül zwischen dem »Risiko des Dritten Reichs« im Vergleich mit den »Vorteile(n) einer feindseligen Duldung« der Juden anstellten und sich einstweilen für das letztere entschieden. So war der Antisemitismus noch nicht zur allgemein herrschenden Haltung geworden, sondern »ein konkurrierendes Motiv in subjektiver Wahl«. Noch also konnte und musste 178 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

man sich für oder gegen ihn wirklich entscheiden, die Alternative eines opportunistischen Mitlaufens gab es noch nicht. »Die Entscheidung bezog sich spezifisch auf ihn.« Freilich: Wer die »völkische These« wählte, wählte damit von Anfang an »das ganze chauvinistische Vokabular«, und immer schon, auch zu einer Zeit, in der der Antisemitismus noch eine Minderheitshaltung darstellte, war das antisemitische Urteil mit der »Stereotypie des Denkens« verbunden. Mit dem Wort von der Stereotypie des Denkens sind Horkheimer und Adorno im Zentrum ihrer Überlegungen in dieser siebten These angekommen. Die Aussage lautet: Es gibt zwar keine Antisemiten mehr, aber die Stereotypie des Denkens, die hinter dem Antisemitismus steckt, ist nicht nur erhalten geblieben, sondern hat sich mehr und mehr universalisiert und auch diejenigen ergriffen, die sich nicht der Feindschaft gegen die Juden verschreiben. Die Stereotypie überlebt und übersteht das Ende des Antisemitismus: »Heute ist diese allein übrig« – und sie charakterisiert sowohl die Antisemiten wie die Anti-Antisemiten. Es wird in der Gegenwart zwar immer noch bzw. wieder zwischen unterschiedlichen Überzeugungen »gewählt«, aber diese Wahl bezieht sich nur noch auf »Totalitäten«, d.h. auf große und ganz undifferenzierte Positionen bzw. Ideologien, von denen die eine wie die andere in einem wesentlichen Punkt miteinander identisch sind: sie werden beide von Stereotypien bestimmt. Während am Ende des 19. Jahrhunderts die Entscheidung für den Antisemitismus noch auf einer »antisemitischen Psychologie« beruhte, also eine spezifische Begründung und Basis im Innenleben der Antisemiten und ihren realen Erfahrungen mit Juden hatte, ist an ihre Stelle heute »weithin das bloße Ja zum faschistischen Ticket getreten«. Damit ist das zweite zentrale Stichwort der siebten These formuliert: das Ticketdenken. Der springende Punkt dabei ist, dass die Entscheidung für oder gegen verschiedene Standpunkte, Haltungen und Positionen nicht mehr differenziert und nach reiflicher Überlegung und Erwägung vorgenommen wird, sondern nur noch im Paket und pauschal. Man schlägt sich auf die Seite einer Weltanschauung wie man sich für eine Marke auf dem Markt entscheidet, von der man intuitiv und ohne weitere Überlegung weiß, dass sie zu einem passt. Das Ticket bzw. die Weltanschauung wird mit den Mitteln der Reklame aus dem begrenzten »Inventar der Parolen« angepriesen und rückt den Menschen unmittelbar auf den Leib. Hinter ihm stehen wie auf dem ökonomischen Markt die Interessen der »streitbaren Großindustrie«. Die Analogie zwischen dem ökonomischen Markt und der auf ihm üblichen Sprache der Werbung und der Suggestion wird im Text sodann im Blick auf die politischen Parteien und das Wählen fortgesetzt. Schon der Begriff des Tickets selber stammt aus dieser Sphäre, nämlich aus dem amerikanischen Wahlsystem, wo er die Einheitsliste bezeichnet, mit der sich die Parteien jeweils zur Wahl stellen. Wer das ticket einer 179 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Partei wählt, wählt damit alle Personen, die auf diesem Ticket fahren und die dem Wähler von der »Parteimaschine … oktroyiert werden«. Kein Wähler kann die Personen kennen, die er mit dem Ticket wählt, sie sind »seiner Erfahrung entrückt«, er hat keinen Einfluss darauf, wer auf dem Ticket landet, und kann sie am Wahltag schließlich nur noch »en bloc wählen«. Generell sind die »ideologischen Kernpunkte auf wenigen Listen kodifiziert«, so dass differenzierende Positionen keine Chance haben, auch nur zum Ausdruck zu kommen. Man hat nur die Wahl zwischen in sich geschlossenen Programmen und muss in Kauf nehmen, dass dort an vielen Stellen möglicherweise auch Vorstellungen enthalten sind, die keineswegs die eigene Zustimmung finden. Hinzukommt, dass das Gewicht der einzelnen Stimme angesichts der »statistischen Mammutziffern« verschwindend gering ist und die Beteiligung an Wahlen bei Lichte besehen eigentlich für jeden einzelnen aus seiner Perspektive nur als »vergeblich« charakterisiert werden kann. Nach diesem kleinen Ausflug in die Soziologie des Parteiwesens und des Wählens kehrt der Text zur Frage des Antisemitismus und zu der Aussage zurück, auf die es hier ankommt. Antisemitismus, so heißt es, »ist kaum mehr eine selbständige Regung, sondern eine Planke der Plattform«, die sich aus vielen Elementen und Teilen zusammensetzt und unter denen dann eben auch der Antisemitismus zu finden ist. Wer dem Faschismus eine Chance gibt, der unterstützt »mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und dem Kreuzzug gegen den Bolschewismus automatisch auch die Erledigung der Juden« – aber er muss dazu kein überzeugter Antisemit sein. Der Antisemitismus ist in einer Welt, die von Ticketdenken bestimmt ist, keine Sache der »Überzeugung« mehr, sondern eine Sache, der man sich, wenn sie auf dem Ticket, das einem insgesamt irgendwie zusagt, enthalten ist, einfach anschließt und man soz. mit in den Kauf nimmt. Er ist eine erfahrungs- und überzeugungsferne Angelegenheit, Teil eines Baukastens und eines vorgegebenen Sets an Attitüden und Meinungen, zwischen denen man sich immer nur en gros entscheiden kann. »Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielen.« Als Beleg für diese Überlegung weist der Text auf die vielfach und bis heute bestätigte Beobachtung hin, dass der Antisemitismus in Gegenden, wo es gar keine Juden gibt, genauso verbreitet sein kann wie in Gegenden und Milieus, in denen Juden in der Mehrheit sind. Die leibhaftige Erfahrung spielt also gar keine Rolle. »Anstelle von Erfahrung tritt das Cliché, anstelle der in jener tätigen Phantasie fleißige Rezeption.« Den »Mitgliedern jeder Schicht« ist bei »Strafe rapiden Untergangs« vorgeschrieben, woran sie sich zu orientieren haben. Und orientieren müssen sie sich sowohl »im Sinn des Wissens ums neueste Flugzeug wie im Sinn des Anschlusses an eine der vorgegebenen Instanzen der Macht«. Kurz: 180 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

Es ist der pure Opportunismus und die Anpassung an jeweils vorherrschende Strömungen, die hier die Regie übernehmen.

VII: 2 »Verdummung, die dem Antisemitismus zugutekommt« Das Thema der Stereotypie und damit verbunden der Unfähigkeit zu urteilen und Erfahrungen zu machen, steht im Zentrum der gesamten weiteren Überlegungen der siebten These. Der erste Satz des zweiten Absatzes führt über in das Thema der Kulturindustrie, mit dem die Frage der Erfahrungslosigkeit und Stereotypie auf das engste verbunden ist. Es ist die »Welt der Serienproduktion«, wie sie in der Kulturindustrie vorherrscht, die für die Vorherrschaft der Stereotypie verantwortlich ist. Das »Schema« der Serienproduktion, das die »kategoriale Arbeit« ersetzt, besteht in Stereotypie. Denken, Erkennen, Urteilen beruht eigentlich auf dem »wirklichen Vollzug der Synthesis«, also darauf, dass die sinnliche Wahrnehmung mit Begriffen zum Reden und zum Ausdruck gebracht wird. In der Gegenwart aber, so argumentieren Horkheimer und Adorno, beruht das Urteilen »nicht mehr auf dem wirklichen Vollzug der Synthesis, sondern auf blinder Subsumtion«. Und Subsumtion meint hier das mehr oder weniger automatisierte Einsortieren der Anschauungen und Wahrnehmungen unter vorweg feststehende Konzepte und Raster, von dem auch schon in der sechsten These die Rede war. Der Text macht dann einen historischen Rückblick, der weit in die Vorgeschichte zurückreicht und frühe Schichten des Verhaltens in den Blick nimmt, so wie wir das in anderen Thesen ebenfalls bereits kennengelernt haben. Auf einer »historisch frühen Stufe« war das rasche Urteilen und Unterscheiden notwendig, weil es um Leben und Tod gehen konnte, weil ad hoc und unmittelbar entschieden werden musste, ob es nötig war, »den giftigen Pfeil sogleich in Bewegung« zu versetzen oder nicht. Durch die Entwicklung der Zivilisation, durch »Tausch und Rechtspflege« vor allem, entstand jedoch die Möglichkeit, die Entscheidung und das Urteilen an »die Stufe des Abwägens« zu binden. Auf diese Weise wurde das »Urteilssubjekt«, d.h. der Gegenstand oder das Lebewesen, um dessen Einschätzung und Beurteilung es ging, »gegen die brutale Identifikation mit dem Prädikat« geschützt, mithin davor bewahrt, einer blinden und falschen Beurteilung ausgesetzt zu sein. Diese Phase, im Geschichtsbild von Horkheimer und Adorno die Epoche des bürgerlichen Eigentums und der damit verbundenen individuellen Eigenständigkeit und Selbständigkeit, ist nun aber von der »spätindustriellen Gesellschaft« abgelöst worden. Damit fällt die Entwicklung im Grunde auf das frühe Stadium mit dem »urteilslosen Vollzug des Urteils« zurück, in 181 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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dem der blinde und reflexionslose Automatismus einer sofort zuschnappenden Entscheidung wieder die Oberhand gewinnt. Dazu passt, dass im Faschismus »die beschleunigte Prozedur das umständliche Gerichtsverfahren im Strafprozeß ablöste«. Horkheimer und Adorno spitzen diese Feststellung verallgemeinernd zu und behaupten, daß die Zeitgenossen darauf durch die Vorherrschaft eines ökonomischen Denkens längst »vorbereitet« waren. In der ökonomischen Wissenschaft haben »Denkmodelle« das Sagen, die alle Dinge »besinnungslos« unter »termini technici« einordnen und damit gleichsam als Vorreiter jene Logik praktizieren, die nach und nach die gesamte Gesellschaft bestimmt. Die Subsumtionslogik ist das Gegenteil von reflektierender Erkenntnis und differenzierendem Urteil, die Horkheimer und Adorno als Ideal vor Augen stehen. Wie wir bei der Erörterung der sechsten These bereits gesehen haben, sind sie der Auffassung, dass wahre Erkenntnis an die Präsenz und an die überschießende Aktivität des erkennenden und reflektierenden Subjekts gebunden ist. Die Mischung aus der Bereitschaft, sich von den Gegenständen der Außenwelt ergreifen zu lassen und ihnen zugleich mit wacher gedanklicher Aktivität gegenüberzutreten, diese »tätige Passivität« ist die Voraussetzung wahren Erkennens, in der »dem wahrgenommenen Gegenstand sein Recht wird«. Diese Fähigkeit des Menschen verschwindet. »Der Wahrnehmende ist im Prozeß der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig.« Stattdessen werden in den »Sozialwissenschaften wie in der Erlebniswelt des Einzelnen« nur noch »blinde Anschauung und leere Begriffe starr und unvermittelt zusammengebracht«. Das ist die Perversion des Erkenntnisbegriffs, den Kant in seiner berühmten Formulierung vor Augen hatte, dass Begriffe ohne Anschauung leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Bündig und zugespitzt formulieren Adorno und Horkheimer ihr Verdikt: »Im Zeitalter der dreihundert Grundworte verschwindet die Fähigkeit zur Anstrengung des Urteilens und damit der Unterschied zwischen wahr und falsch.« Sie verkennen, dieses apodiktische Urteil relativierend, nicht, dass das Denken »in höchst spezialisierter Form noch in manchen Sparten der Arbeitsteilung ein Stück beruflicher Ausrüstung bildet«. Wo aber diese funktionale Relevanz nicht vorhanden und nachweisbar ist, wird das Denken »als altmodischer Luxus verdächtig: ›armchair thinking‹«, das zu nichts taugt und zu nichts führt. Das Denken wird unter den Imperativ des äußeren Erfolgs und der Erreichung äußerer Zwecke gestellt: »Man soll etwas vor sich bringen.« Wenn das Denken dafür nicht hilfreich ist, ist es von vornherein diskreditiert. Der Nachweis funktionaler Relevanz wird umso mehr verlangt, je mehr »die Entwicklung der Technik« die »körperliche Arbeit überflüssig macht« und damit eigentlich längst den Raum geschaffen hat, der den geistigen Tätigkeiten zugutekommen könnte. Stattdessen aber wird die körperliche Arbeit »zum Vorbild der geistigen erhoben«, und die geistige 182 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

Arbeit soll wie die körperliche ein handgreifliches und unmittelbar einsichtiges Ergebnis erzielen. Der heimliche Zweck dieser Operation und Angleichung besteht darin, wie der Text in einem Nebensatz andeutet, dass das Denken nur ja »nicht in Versuchung« kommt, aus der eigentlich auf der Hand liegenden Überflüssigkeit der körperlichen Arbeit die richtige »Konsequenz zu ziehen«, die ja nur darin bestehen könnte, den Schritt in eine befreite Gesellschaft zu vollziehen. Der kollektiv und gesellschaftsweit voranschreitende Verlust wirklichen Denkens und Urteilens, die kollektiv voranschreitende »Verdummung« ist es, »die dem Antisemitismus zugutekommt« – und zwar vor allem dem Antisemitismus ohne Antisemiten. In dem Maße wie unter dem Vorzeichen der Verdummung das Denken die Dinge nur äußerlich unter Oberbegriffe subsumiert und die Wörter, Bezeichnungen und Begriffe wie eine »Spielmarke« den Dingen »aufgeklebt« werden, muss »in der Gesellschaft erzittern, was den Unterschied repräsentiert«, müssen, mit anderen Worten, die Juden, die der Inbegriff der Differenz sind, um ihr Leben fürchten, weil sie als die Unangepassten von der Mehrheitsgesellschaft nicht ertragen werden. Wo alle »zu Freund oder Feind« gemacht werden und es ein Drittes nicht geben kann, da ist der Zustand erreicht, in dem die Menschen nur noch Objekte sind, »der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt« allgemein geworden ist und die »Verwaltung« von allem und jedem leichtes Spiel hat. »Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer.«

VII: 3 »Anpassung an die Realität wird für den Einzelnen vernünftiger als die Vernunft.« In diesem Absatz wird die »Gleichgültigkeit gegens Individuum«, die zuvor in der Logik des Urteilens und Denkens diagnostiziert wurde, auf den »Wirtschaftsprozeß« bezogen, in dem sie nach Horkheimer und Adorno ihren Ausgangspunkt hat. Im Vordergrund steht also der Versuch, der uns aus früheren Thesen, vor allem der dritten, bekannt ist, dass die treibende Kraft hinter der Entwicklung die Ökonomie ist. Wo in der dritten These aber der Versuch im Zentrum stand, die Vernichtung der Juden aus ihrer ökonomischen Überflüssigkeit herzuleiten, da geht es jetzt in der siebten These eher um die Veränderungen in der menschlichen Anthropologie, die von den neuen Strukturen der kapitalistischen Ökonomie herbeigeführt werden. Die Schlüsselaussage lautet, dass das autonome und reflektiert urteilende Individuum heute »zum Hemmnis der Produktion« geworden ist 183 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und deshalb keine Zukunft mehr hat. Die Soziologen haben gerne vom »cultural lag« gesprochen und damit die »Ungleichzeitigkeit in der technischen und menschlichen Entwicklung« gemeint, also die Behauptung, dass die Ausstattung des Menschen den Anforderungen der avancierten technischen Entwicklungen und Innovationen nicht gewachsen ist. Das ist mittlerweile antiquiert, denn der »cultural lag … beginnt zu verschwinden«. »Ökonomische Rationalität«, das Prinzip der Effizienz und des höchsten Ertrags bei möglichst geringem Mitteleinsatz, durchdringt den gesamten Bereich des Wirtschaftens, formt »den Betrieb wie den Menschen« und überantwortet alle früheren Formen des Produzierens und Handelns dem Untergang. Was den Effizienzkriterien nicht genügt, wie z.B. das »Spezialgeschäft alten Stils«, gilt als antiquiert und überflüssig. Nach dem Ende der »merkantilistischen Regulierung«, die den Versuch gemacht hatte, bis in die kleinsten Einheiten hinein das wirtschaftliche Geschehen der obrigkeitlichen Kontrolle zu unterwerfen, war die wirtschaftliche »Initiative, Disposition, Organisation« in die Hände der unteren wirtschaftlichen Einheiten, an die Kaufleute und Gewerbetreibenden übergegangen. Sie hatten sich, »wie die alte Mühle und Schmiede, zur kleinen Fabrik, selbst zur freien Unternehmung« fortentwickelt. Und in dieser Form des Wirtschaftens in der postmerkantilistischen, liberalen Ära »ging es umständlich, kostspielig, mit Risiken zu«. Es ist diese Ära, die Horkheimer und Adorno immer wieder als Epoche bürgerlicher Eigenständigkeit und Freiheit beschwören. Sie ging zu Ende, weil sich leistungsfähigere Formen des Wirtschaftens an ihre Stelle setzen. Im Bereich des Warenhandels z.B. trat an die Stelle des »Detailgeschäfts« das Warenhaus. In direkter Korrespondenz zu dieser wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung sehen Horkheimer und Adorno den Aufstieg und Untergang des Individuums, um dessen Schicksal die siebte These der Elemente kreist. Dem Individuum, das die Autoren in Analogie zur Produktionssphäre als »psychologischen Kleinbetrieb« charakterisieren, ergeht es genau wie dem »Spezialgeschäft alten Stils«: es wird von den Entwicklungen überrollt. Mit seiner relativen Autonomie war es überhaupt nur entstanden und relevant geworden, weil die gesellschaftliche Entwicklung auf diese »Kraftzelle ökonomischer Aktivität« nicht verzichten konnte. Es hatte sich aus der »Bevormundung«, der es »auf früheren Wirtschaftsstufen« ausgesetzt war, »emanzipiert« und »sorgte … für sich allein: als Proletarier durch Verdingung über den Arbeitsmarkt und fortwährende Anpassung an neue technische Bedingungen, als Unternehmer durch unermüdliche Verwirklichung des Idealtyps homo oeconomicus«. In direkter Analogie zu dieser Konstellation hat Horkheimer und Adorno zufolge die Psychoanalyse Freuds das Seelenleben als »inneren Kleinbetrieb« beschrieben, »als komplizierte Dynamik von Unbewußtem und Bewußtem, von Es, Ich und Über-Ich«, in der das Über-Ich die 184 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Rolle der »gesellschaftlichen Kontrollinstanz« spielte und das Ich die Triebe »in den Grenzen der Selbsterhaltung« hielt. Dieses komplexe Geschehen zwischen unterschiedlichen Kräften und Instanzen führte unvermeidlich zu »Reibungsflächen« und Neurosen, den »faux frais solcher Triebökonomie«, so wie es nach Marx zu Zeiten des über den Markt sich realisierenden Kapitalismus zu regelmäßigen Krisen und Einbrüchen der Produktion gekommen war. Aber alles in allem, so resümiert der Text, war es doch so, dass »die umständliche seelische Apparatur das einigermaßen freie Zusammenspiel der Subjekte ermöglicht« hat, »in dem die Marktwirtschaft bestand«. Damit ist es im staatlich regulierten und den Markt als unabhängige Größe ausschaltenden Kapitalismus nun zu Ende. An die Stelle der liberalen Eigentums- und Gesellschaftsordnung ist die »Ära der großen Konzerne und Weltkriege« getreten, und in ihr ist eine neue Form der »Vermittlung des Gesellschaftsprozesses« entstanden. Die Gesellschaft reproduziert und vermittelt sich nicht mehr »durch die zahllosen Monaden hindurch«. Vielmehr werden die »Subjekte der Triebökonomie« »psychologisch expropriiert«, sie sind also nicht mehr die unabhängigen Individuen, auf deren Kraft und Fähigkeit zur Synthese, zur Urteilsbildung, zu Initiative und Weitblick es ankommt. Der Einzelne muss nicht mehr »in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben« selber die Entscheidung darüber treffen, was er tun soll. Die »Hierarchie der Verbände bis hinauf zur nationalen Verwaltung« hat die Fäden nun zentral in der Hand und entscheidet nach eigenem Gutdünken. Die Diagnose, dass das unabhängige Individuum durch den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung überflüssig geworden ist, ist uns bereits an vielen Stellen der Elemente begegnet. Nun wird sie, ähnlich wie bereits in der sechsten These, auf die Sphäre der Kultur bezogen. Die Behauptung lautet, dass das »Schema der Massenkultur« die Vorherrschaft angetreten hat und »noch die letzten inwendigen Regungen ihrer Zwangskonsumenten in Beschlag nimmt«. Der Schematismus okkupiert die freien Spielräume, über die die Individuen unter den Bedingungen einer liberalen Gesellschaft noch verfügten, und setzt seine Logik bis in die innerseelischen Sphären der Menschen hinein durch. Die psychischen Instanzen von Ich und Über-Ich werden ersetzt durch »Gremien und Stars«, und »die Massen« funktionieren nun »viel reibungsloser nach den Losungen und Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur«. Während mit den psychischen Konflikten zwischen Es, Ich und Über-Ich eine Reihe von Reibungsflächen unvermeidbar verbunden war, ist es nun offenbar so, dass die Menschen auf ganz unmittelbare Weise wie Rädchen in die gesellschaftliche Apparatur eingebaut werden. Die komplizierten Entwicklungen der »Individuation« gehören der Phase des »Liberalismus« an, heute dagegen fordere »das Funktionieren der wirtschaftlichen 185 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Apparatur die durch Individuation unbehinderte Direktion von Massen«. So setzt sich die »ökonomisch bestimmte Richtung der Gesamtgesellschaft« auch »in der geistigen und körperlichen Verfassung der Menschen« durch. Das bedeutet für die Gegenwart, dass die ökonomische Struktur der Gesellschaft jene »Organe des Einzelnen verkümmern« lässt, »die im Sinne der autonomen Einrichtung seiner Existenz wirkten«. Das Bild, das Horkheimer und Adorno hier zeichnen, ist das Bild einer Welt, in der auf den Kommandohöhen der Wirtschaft und der Administration alle relevanten Entscheidungen getroffen und dann in Gesellschaft, Ökonomie und Kultur hinein durchgesetzt werden, so dass für das individuelle Denken und generell für die Menschen keinerlei unabhängige Handlungs- und Entwicklungsräume bleiben. Denken ist ein »bloßer Sektor der Arbeitsteilung« geworden, und »die Pläne der zuständigen Experten und Führer« haben »die ihr eigenes Glück planenden Individuen überflüssig gemacht«. Das führt zu einer »widerstandslosen und emsigen Anpassung an die Realität«. Diese Anpassung erscheint zwar von außen, aus der Beobachterperspektive, die Horkheimer und Adorno hier einnehmen, als reine »Irrationalität«, für den Einzelnen aber aus der Teilnehmerperspektive ist das »vernünftiger als die Vernunft«. In der liberalen Phase der Gesellschaft haben die »Bürger den Zwang als Gewissenspflicht sich selbst und den Arbeitern introjiziert«, inzwischen ist »der ganze Mensch zum Subjekt-Objekt der Repression« geworden. Der letzte Satz des Absatzes zieht schließlich die Verbindung dieser Überlegung zu der Behauptung, die der Dialektik der Aufklärung insgesamt zugrunde liegt. Durch den unaufhaltsamen »Fortschritt der Industriegesellschaft« wird nämlich gerade das »zuschanden«, was einstmals im Zentrum der Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft gestanden hat: »der Mensch als Person, als Träger der Vernunft«. Damit ist der Endpunkt der Entwicklung erreicht, an dem die »Dialektik der Aufklärung« »objektiv in den Wahnsinn« umschlägt.

VII: 4 »Heute erhalten die Einzelnen ihre Tickets fertig von den Mächten.« Der vierte Absatz beginnt, wie der dritte endete: mit der Behauptung des Wahnsinns: »Der Wahnsinn ist zugleich einer der politischen Realität.« Das ist eine der wenigen Stellen der Dialektik der Aufklärung, an der die politische Sphäre direkt angesprochen wird. Die damit geweckte Erwartung auf eine politiktheoretische Reflexion wird freilich sehr rasch enttäuscht. Denn in den folgenden Sätzen und im gesamten Absatz geht es in sehr allgemein gehaltenen Überlegungen nur darum, dass 186 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

die Diagnose des totalitären gesellschaftlichen Zustands, in den die Zivilisationsgeschichte eingemündet ist, nicht nur auf die eine oder andere Nation beschränkt ist, sondern für die »Welt« insgesamt gilt, die »so einheitlich« geworden ist, dass nationale und kulturelle Unterschiede keinerlei Bedeutung mehr haben. Das kann man daran erkennen, dass »die Unterschiede der Diplomatenfrühstücke in Dumbarton Oaks und Persien als nationales Timbre erst ausgesonnen werden müssen und die nationale Eigenart vornehmlich an den nach Reis hungernden Millionen erfahren wird«. So wie im Inneren der Gesellschaften die wirklichen Unterschiede von einer alles bestimmenden Stereotypie abgelöst werden, so ist es auch in der Welt zwischen den Nationen, also in der Welt der internationalen Beziehungen. Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen der »Fülle der Güter, die überall und zur gleichen Zeit produziert werden könnten«, und der an dieser Möglichkeit gemessenen vollkommen anachronistischen Einrichtung der Welt. Der »Kampf um Rohmaterialien und Absatzgebiete« ist bei Lichte besehen durch nichts mehr zu rechtfertigen, genau so wenig wie die Aufteilung der »Menschheit in ganz wenige bewaffnete Machtblöcke«. Diese setzen die Konkurrenz der »Warenproduktion« auf Weltebene fort und »streben der wechselseitigen Liquidierung zu«. Sie stehen sich umso »starrer« gegenüber, je »aberwitziger« der Antagonismus zwischen ihnen ist, will sagen: je antiquierter er, gemessen an den objektiven Möglichkeiten, erscheint. Auf der Folie der objektiven Möglichkeiten, die die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte freisetzen könnte, erscheint jede Art von Mangel und jeder politische Antagonismus objektiv als antiquiert, und ihre Ursachen können nach Horkheimer und Adorno nur noch im politischen Machthunger gesehen werden, der die kommandierenden Akteure befallen hat. Je möglicher und näher der Übergang in eine befreite Gesellschaft ist, desto mehr muss in die Aufrechterhaltung des Wahnsinns investiert werden. Mit dieser Perspektive geht die Argumentation des Textes dann weiter. Den »Massen« wird »die totale Identifikation mit diesen Machtungeheuern« »als zweite Natur aufgeprägt«, alle »Poren des Bewusstseins« werden ihnen »verstopft«, sie werden zu »absoluter Apathie« angehalten. Das ist ein Argument, das am Ende der These noch einmal aufgenommen wird und aus dem dann, wie wir gleich sehen werden, eine interessante und eigentümliche Konsequenz gezogen wird. Zuvor aber kommt noch ein Gedanke ins Spiel, der das Thema des Ticketdenkens auf die miteinander konkurrierenden Ideologien bezieht. Weil jede Entscheidung im Grunde bereits »wesentlich vorentschieden« ist, ist der Spielraum, der den Einzelnen noch überlassen bleibt, eigentlich nur noch Schein. Auch die im politischen Raum »ausposaunte Unversöhnlichkeit der Ideologien« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass 187 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

sie ihrerseits »nur noch eine Ideologie der blinden Machtkonstellation« verkörpert. Mithin verhält es sich so, dass sich die Ideologien in Wirklichkeit keineswegs so voneinander unterscheiden, wie sie es behaupten. Im Grunde und im Kern sind sie einander sehr ähnlich. In ihnen herrscht mehr oder weniger uneingeschränkt das reine Ticketdenken. Es geht in ihnen also nicht um wirkliche Überzeugungen, sondern eigentlich nur noch um Zugehörigkeit und Unterwerfung, Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht. »Ob ein Bürger das kommunistische oder faschistische Ticket zieht, richtet sich bereits danach, ob er mehr von der roten Armee oder den Laboratorien des Westens sich imponieren lässt.« Über allem liegt die dominierende Macht der »Verdinglichung«. Sie lässt die jeweilige »Machtstruktur« als »eiserne Wirklichkeit« erscheinen und macht »jede Spontaneität, ja die bloße Vorstellung vom wahren Sachverhalt notwendig zur verstiegenen Utopie, zum abwegigen Sektierertum«. Die Signatur des Zeitalters ist Ticketdenken und Verdinglichung – sie sind universal geworden, sie bestimmen die Positionen links wie rechts, oben wie unten. Alle Unterschiede und Spannungen, alle Spiel- und Freiräume bewegen sich in diesem vorweg feststehenden Rahmen und gehen nicht darüber hinaus. Im nächsten Schritt wollen Horkheimer und Adorno ihre Überlegung mit dem Argument stärken, dass die »bloße Vorstellung vom wahren Sachverhalt« im Kontext des universalen Verblendungszusammenhangs als nichts anderes erscheinen kann denn als »Sektierertum« und »Halluzination«. Das ist freilich ein schwieriges Argument, dessen Implikationen hier an Ort und Stelle und auch sonst nirgendwo wirklich von ihnen durchdacht und entfaltet werden. Die einfache Frage ist, von welchem Ort aus Horkheimer und Adorno ihre Unterscheidung zwischen Halluzination und Wahrheit vornehmen können. Die Diagnose des universalen Verblendungszusammenhangs, wenn sie ernst gemeint ist, betrifft unvermeidlich auch die Grundlagen und die Inhalte jener Theorie, die die Diagnose ausstellt. Dann aber gibt es keinen Ort außerhalb, keinen archimedischen Punkt, der es wirklich gestattete, die Unterscheidung zwischen wahr und falsch eindeutig vorzunehmen. Offenkundig setzt das Argument eine Beobachterposition voraus, die jenseits der Spannungen liegt. Die Dialektik der Aufklärung denkt aber an keiner Stelle darüber nach, ob es einen solchen Ort geben kann. So mündet der Gedankengang des Buches in eine grundlegende Aporie, die offenbar unlösbar ist und auf die Horkheimer und Adorno auch in ihren späteren Texten keine überzeugende Antwort finden. (Ich greife diese Frage im fünften Kapitel der Interpretation im dritten Teil des Buches ausführlicher auf.) Der Text kehrt sogleich zurück zu der allgemeinen Frage nach dem Schicksal des Individuums im totalitären Zeitalter. Diejenigen, die ein »Ticket wählen«, stellen damit ihre »Anpassung an den zur Wirklichkeit versteinerten Schein« unter Beweis. Im Zeitalter des Ticketdenkens 188 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

wird »schon der Zögernde« als »Deserteur verfemt«. Das Zögern und Zaudern Hamlets ist ein wichtiges »Zeichen von Denken und Humanität«. Hamlet steht für die »verschwendete Zeit« und damit dafür, dass zwischen dem »Individuellen« und dem »Allgemeinen« noch ein Raum bleibt, in dem der Einzelne zur Entfaltung kommen konnte. Und noch einmal, wie in der dritten These, wird diese Überlegung mit der Hypothese von der Liquidation der Zirkulation in Zusammenhang gebracht. Der Abstand zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen ist an den ökonomischen Zustand gebunden, in dem »die Zirkulation zwischen Konsum und Produktion« als Vermittlungsinstanz unverzichtbar war. Hier wie dort aber werden die Vermittlungen zunehmend eingezogen. Heute »erhalten die Einzelnen ihre Tickets fertig von den Mächten«, und die Konsumenten erhalten »ihr Automobil von den Verkaufsfilialen der Fabrik«. So ist dann das Ich nicht mehr das »Resultat eines dialektischen Prozesses zwischen Subjekt und Realität«, sondern wird »unmittelbar vom Räderwerk der Industrie hergestellt«. Das ist keineswegs der Übergang in eine höhere Stufe der Entwicklung, sondern das bare Gegenteil: Es ist die »Liquidation« des Ich, mit der die Menschen zu möglichst reibungslos funktionierenden Wesen herabgewürdigt werden. »Nicht indem sie ihm die ganze Befriedigung gewährten, haben die losgelassenen Produktionskolosse das Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten.« Darin liegt die »vollendete Rationalität« dieser Produktionskolosse, die objektiv mit ihrer »Verrücktheit« identisch ist. Die »Spannung« zwischen »dem Kollektiv und dem Einzelnen« wird nicht aufgehoben, sondern ganz einseitig zugunsten der Seite des Kollektivs gelöst, der gegenüber der Einzelne nicht mehr von Bedeutung ist. Die Einheit, die auf diese Weise entsteht, der »ungetrübte Einklang« zwischen der »Allmacht« der Kollektive und der »Ohnmacht« der Einzelnen ist »der absolute Gegensatz von Versöhnung«.

VII: 5 »Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt gewissermaßen erst erfinden.« Der fünfte Absatz setzt die Überlegungen zum Ticketdenken und zur ökonomischen Basis der Liquidation des Ich fort, legt aber in der Wiederanknüpfung an das Argument von der Stereotypie des Denkens nun den Akzent auf die Beziehung zur Frage nach dem Antisemitismus, um die es ja hier eigentlich durchgängig zu tun ist. Die erste Überlegung lautet, dass das Ich zwar in seiner alten, von der Psychoanalyse her bekannten Bedeutung verschwindet, die »innermenschlichen Agenturen der falschen Gesellschaft« sich dadurch jedoch nicht einfach in nichts aufgelöst 189 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

haben. An die Stelle des unabhängigen Ich mit seinen vielfältigen Beziehungen zu Es und Über-Ich sind »Charaktertypen« getreten, die »im Aufriß des Machtbetriebs ihre genaue Stelle« finden. Was Horkheimer und Adorno hier andeuten und dann genauer ausführen, hat deutliche Bezüge zu der empirischen Studie The Authoritarian Personality, die 1950 im Rahmen der fünfbändigen Studies in Prejudice erschienen ist. Adorno hatte sich an dieser Studie maßgeblich beteiligt und nicht nur wichtige Kapitel verfasst, in denen das Interview-Material interpretiert wurde, sondern sich auch an der Entwicklung der technischen Verfahren beteiligt, vor allem der Konstruktion der FaschismusSkala, mit der die Messung antidemokratischer Züge in der Charakterstruktur möglich gemacht werden sollte. Am Ende des Buches entwickelt Adorno unter dem Titel »Typen und Syndrome« eine Art von Charaktertypologie, in der die »Vorurteilsvollen« und die »Vorurteilsfreien« in mehreren Ausprägungen voneinander unterschieden werden. Dabei wird die Tatsache, dass das Interviewmaterial überhaupt die Konstruktion von Typen erlaubt und nahelegt, zum Ausweis der Fragwürdigkeit des gesellschaftlichen Zustands. »Weil die Welt, in der wir leben, genormt ist und ›typisierte‹ Menschen ›produziert‹, haben wir Anlaß, nach psychologischen Typen zu suchen.« (Adorno 1950: 307) In der Authoritarian Personality wird die Charaktertypologie aber auch mit dem Wunsch in Verbindung gebracht, möglichst angemessene »Waffen gegen die potentielle Drohung der faschistischen Mentalität zu finden« (Adorno 1950: 308). Die Elemente rücken hingegen den herrschaftskonformen Charakter der Typologie und ihre Bedeutung für das reibungslose Ineinandergreifen zwischen den Individuen und den Anforderungen der Gesellschaft in den Vordergrund. Sowohl die Wirkungen wie die Reibungen zwischen den Charaktertypen und den Anforderungen des Ganzen sind vorab »einkalkuliert« – mit ihnen wird also gerechnet, und es wird von vornherein dafür gesorgt, dass es nicht mehr zu Abweichungen oder Überraschungen kommen kann. Auch das, was am Individuum »zwangshaft, unfrei und irrational war«, wird nun in dieses Getriebe eingebaut und wie ein »Zahnrad« von einer Maschine vereinnahmt. Was dieses Ineinandergreifen und generell diese Diagnose bedeutet, wird dann am Beispiel des Antisemitismus näher beschrieben. Das »reaktionäre Ticket« beinhaltet den Antisemitismus und ist »dem destruktivkonventionellen Syndrom angemessen«. Das konventionelle Syndrom hat Adorno in der Authoritarian Personality ausführlicher charakterisiert. »Die Konventionellen sind vorurteilsvoll im eigentlichen Sinne des Wortes: sie übernehmen die geläufigen Urteile anderer, ohne sie überprüft zu haben.« (Adorno 1950: 319) Der destruktive Anteil wird in der Studie von 1950 eher dem Rebellen und Psychopathen zugeordnet (vgl. Adorno 1950: 328ff). Vielleicht passt aber doch der ›manipulative Typus‹ am deutlichsten zum Ticketdenken, das in der siebten These 190 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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behandelt wird. Der ›Manipulative‹ ist nach Adorno das potentiell gefährlichste Syndrom. »Alles Technische, alle Dinge, die als ›Werkzeug‹ benutzt werden können, sind mit Libido beladen. Die Hauptsache ist, daß ›etwas getan‹ wird, Nebensache aber, was getan wird. Zahllose Beispiele für diese Struktur gibt es unter Geschäftsleuten und in zunehmendem Maße auch in der Schicht der aufstrebenden Manager und Technologen, die im Produktionsprozeß eine Mittelstellung zwischen dem alten Typus des Unternehmers und dem des Arbeiteraristokraten einnehmen. Symbolhaft für die vielen Vertreter dieses Syndroms unter den antisemitisch-faschistischen Politikern in Deutschland ist Himmler. Ihre nüchterne Intelligenz und die fast komplette Absenz von Affekten macht sie wohl zu denen, die keine Gnade kennen. Da sie alles mit den Augen des Organisators sehen, sind sie prädisponiert für totalitäre Lösungen. Ihr Ziel ist eher die Konstruktion von Gaskammern als das Pogrom. Sie brauchen die Juden nicht einmal zu hassen, sie ›erledigen‹ ihre Opfer auf administrativem Wege, ohne mit ihnen persönlich in Berührung zu kommen. Ihr Antisemitismus ist verdinglicht, ein Exportartikel: er muß ›funktionieren‹.« (Adorno 1950: 335) In den Elementen heißt es ganz analog, dass die zum Ticketdenken passenden Antisemiten sich eigentlich nicht »ursprünglich gegen die Juden« richten, sondern »das adäquate Objekt der Verfolgung« erst vom reaktionären Ticket, dem sie sich zugehörig sehen, zugewiesen bekommen. Das »Ticketdenken« verweist generell auf »Erfahrungsverlust« und setzt die »erfahrungsmäßigen ›Elemente des Antisemitismus‹« außer Kraft. Aber als ein Bestandteil neben anderen lebt der Antisemitismus im reaktionären Ticket weiter. Und die »Neo-Antisemiten« sind durchaus nicht harmloser als die genuinen Antisemiten. Weil ihr Antisemitismus nicht auf Erfahrung beruht, entwickeln sie leichter ein schlechtes Gewissen, das dann wiederum die beängstigende »Unersättlichkeit des Bösen« bewirkt. Dadurch »gewinnt der zeitgemäße Antisemitismus das nichtige, undurchdringliche Wesen«. Der Antisemitismus wird zu einem Antisemitismus ohne Antisemiten und ohne Juden. Wo es »ihn ökonomisch eigentlich nicht mehr gibt«, wird der »jüdische Mittelsmann«, der Exponent der Zirkulation, »ganz zum Bild des Teufels«. Die Antisemiten werden »zum verantwortungsfreien Zuschauer der unaufhaltsamen geschichtlichen Tendenz«, sie können mithin für sich anführen, dass sie nur die Entwicklungstendenz, die sich ohnedies durchsetzt, gleichsam ratifizieren. Wenn der Antisemit aktiv wird, dann nur, »wo es seine Rolle als Angestellter der Partei oder Zyklonfabriken erfordert«. Mit diesem Argument erlebt eigentümlicherweise die funktionalistische Erklärung, die vor allem in der dritten These das Bild bestimmt hat, noch einmal eine Reprise. Mit aller Deutlichkeit vor allem im folgenden Satz: »Die Verwaltung totalitärer Staaten, die unzeitgemäße Volks­ teile der Ausrottung zuführt, ist bloß der Nachrichter längst gefällter 191 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ökonomischer Verdikte.« Die Angehörigen derjenigen Sparten des ökonomischen Prozesses, die es bislang nicht trifft, sehen der Vernichtung der Überflüssigen »mit Gleichgültigkeit« zu, und sie verhalten sich darin nicht anders als »der Zeitungsleser angesichts der Meldung über Aufräumungsarbeiten am Schauplatz der Katastrophe von gestern«. Beide sind Zuschauer. Wen die Vernichtung trifft, hat mit deren »Eigenart« nichts mehr zu tun. Wer überhaupt Jude ist, muss »durch umständliche Fragebogen erst eruiert werden«. Die »feindlichen Religionen« sind unter »dem nivellierenden Druck der spätindustriellen Gesellschaft« in »bloße Kulturgüter umgearbeitet worden« und haben damit die Bedeutung verloren, die Unterschiede zwischen den Menschen zu markieren und die Feindschaften zu organisieren. Diese Behauptung über die Antiquiertheit der Religionen ist insofern überraschend, als genau die gleiche Aussage in der vierten These Horkheimer und Adorno nicht daran gehindert hat, den genuin religiösen Wurzeln des Antisemitismus nachzugehen. Das fällt jetzt hier in der siebten These, in der sich alles um das Ticketdenken dreht, wieder unter den Tisch. Der Unterschied zwischen den Religionen wird durch die Vorherrschaft des Ticketdenkens so obsolet wie der Unterschied zwischen Opfer und Täter. Die »jüdischen Massen« sind vom Ticketdenken genauso okkupiert wie die »feindlichen Jugendverbände«. Weil sie sich im Grunde so ähnlich sind, muss der »faschistische Antisemitismus … sein Objekt gewissermaßen erst erfinden«. Es wird nicht mehr auf Grund der »individuellen Krankengeschichte des Verfolgers« ausgewählt, sondern »im Verblendungszusammenhang der Kriege und Konjunkturen« gleichsam bewusst gesetzt und gewählt. Die Juden werden als Objekt der Aggression freigegeben, »ehe die psychologisch prädisponierten Volksgenossen als Patienten sich innerlich und äußerlich darauf stürzen können«.

VII: 6 Im Unmaß des antisemitischen Widersinns liegt »die Wahrheit negativ zum Greifen nahe«. Der letzte Absatz der siebten These nimmt eine ganz andere Blickrichtung ein und fragt nach der Aussicht für das Ende des Antisemitismus. Die Aussicht wird zunächst damit begründet, dass der Antisemitismus nur noch als eine Position in einem Ticket enthalten ist, den genuinen Charakter also verloren hat. Der erste Satz des Absatzes lautet: »Daß, der Tendenz nach, Antisemitismus nur noch als Posten im auswechselbaren Ticket vorkommt, begründet unwiderleglich die Hoffnung auf sein Ende.« Wenn das alles ist, wäre freilich noch nicht sehr viel gewonnen. Es gibt keine Antisemiten und keinen Antisemitismus mehr, aber dafür 192 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Antisemitismus, Stereotypie, Ticketdenken

ein universales Ticketdenken, in dem gleichsam ein Antisemitismus light jederzeit, wenn es opportun ist, reaktiviert werden kann, mit wiederum unabsehbaren Konsequenzen für die Juden. Tatsächlich bezieht der Text die Antiquiertheit und Überflüssigkeit des genuinen Antisemitismus auch schon auf die Zeit des totalitären Antisemitismus und deutet damit die faschismustheoretische Implikation an, auf die ich zu Beginn des Kommentars zu dieser These hingewiesen habe. »Die Juden werden zu einer Zeit ermordet, da die Führer die antisemitische Planke so leicht ersetzen könnten, wie die Gefolgschaften von einer Stätte der durchrationalisierten Produktion in eine andere überzuführen sind.« Es wirkt eher wie ein Ausweichen vor den mit dieser Aussage verbundenen Implikationen, dass der Text dann sogleich wieder auf die ökonomischen Entwicklungen zu sprechen kommt. Wie die Arbeiter bzw. die »Gefolgschaften« von einer Fabrik in die andere versetzt werden können, so austauschbar sind die einzelnen Elemente innerhalb der jeweiligen Tickets. Die eigentliche Ursache des Ticketdenkens liegt im ökonomischen Entwicklungsgesetz der modernen Gesellschaft und der zunehmenden Abstraktheit der Arbeit: »die universale Reduktion aller spezifischen Energie auf die eine, gleiche, abstrakte Arbeitsform vom Schlachtfeld bis zum Studio«. Damit wird eine Argumentationsfigur von Marx aufgenommen, der zwischen konkreter und abstrakter Arbeit unterscheidet und als abstrakte Arbeit die allgemeine, in Zeiteinheiten messbare Verausgabung von Herz, Muskel und Nerv definiert (vgl. Marx 1867: 200ff). Die Behauptung von Horkheimer und Adorno besteht mithin darin, dass die abstrakte Arbeit sämtliche gesellschaftlichen Bereiche durchdringt und von allen besonderen und konkreten Qualitäten entleert. Aber sehen wir hier von dieser erneuten Reprise des ökonomischen Erklärungsmodells ab – die Stärke des Arguments, in dessen Zentrum die Figur des Ticketdenkens steht, liegt nicht in seiner ökonomischen Herleitung, zumal sich diese ganz offensichtlich in Widerspruch zu eigenen Überlegungen befindet, wie sie z.B. in der zweiten These enthalten sind. Die Stärke des Arguments besteht vielmehr darin, dass es eine der Grundfragen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in den Blick nimmt, nämlich wie man den kompletten moralischen Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft zu Beginn des Faschismus und die leichthändige Rückkehr zu den alten Standards nach seinem Ende verstehen und erklären kann. Von den Überlegungen der siebten These her betrachtet ist es so, dass das Ticketdenken nicht nur das Böse des Antisemitismus infiziert, sondern auch das Gute des Anti-Antisemitismus. Es kann dann zwar sein, dass unter dem Generalvorzeichen des Ticketdenkens das Böse als überflüssig und verzichtbar erscheint und unter den Tisch fällt, aber »dem Guten« widerfährt durchaus genau dasselbe. Das ist der Grund dafür, dass der »Übergang von solchen Bedingungen zum 193 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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menschlichen Zustand« nicht zustande kommt. Die »Freiheit auf dem progressiven Ticket« ist so gut eine äußerliche Spielmarke wie »die Judenfeindschaft dem chemischen Trust« äußerlich (geworden) ist. Sicherlich werden die »psychologisch Humaneren« vom progressiven Ticket und von der Freiheit »angezogen«, aber auch sie bleiben unweigerlich dem Bannkreis des Ticketdenkens verhaftet. Mithin ist es so, dass »der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets am Ende in Feinde der Differenz« verwandelt. Insofern die Feindschaft gegen die Differenz dem Antisemitismus zugrunde liegt, ist der Antisemitismus mit seinem Ende nicht wirklich beendet, sondern hat sich nur verallgemeinert. Dann gilt: »Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt.« Das ist allerdings eine durchaus missverständliche Formulierung. Denn wenn im Begriff des Antisemitismus immer die Haltung gegen die Juden gemeint ist, dann kann er nicht mit Ticketdenken einfach identisch sein. Der Kern des Ticketdenkens ist nicht der Antisemitismus, sondern die »Wut auf die Differenz«. Der Text geht denn auch noch einmal dazu über, die Frage zu durchdenken, warum es am Ende immer die Juden sind, die den Vernichtungswillen auf sich ziehen. Tatsächlich verhält es sich nach Horkheimer und Adorno so, dass das »Ressentiment«, das aus der Wut auf die Differenz folgt, immer »auf dem Sprung« ist, die »natürliche Minderheit« mit Unterdrückung und Verfolgung zu überziehen. Mit ›natürlicher Minderheit‹ sind die Juden gemeint, die über die Rasse als eine Größe bestimmt werden, die von Natur aus anders ist. Auch dort, wo zuerst die »soziale« Minderheit bedroht wird, konzentriert sich am Ende die Aggression immer auf die »natürliche« Minderheit. Der Grund dafür, dass die natürliche Minderheit der Juden die Aggressionen auf sich zieht, liegt darin, dass die »gesellschaftlich verantwortliche Elite … weit schwieriger zu fixieren« ist als »andere Minderheiten«. Es geht also an dieser Stelle nicht um den Vergleich zwischen Arbeitern und Juden, sondern um den Vergleich zwischen Juden und der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Elite der Gesellschaft. Für sie soll gelten, dass sie sich im »Nebel der Verhältnisse von Eigentum, Besitz, Verfügung und Management« mit Erfolg »der theoretischen Bestimmung« entzieht. Auch diese Überlegungen sind allerdings irritierend, zum einen, weil in der ersten These der Elemente genau umgekehrt gesagt worden ist, dass die Unterdrückung der natürlichen Minderheit eigentlich am Ende doch auf die Arbeiter zielt (vgl. DA 197, I: 2), zum andern, weil es noch im Absatz zuvor heißt, dass auch die Juden nur noch mit aufwendigen Fragebögen und Recherchen identifiziert werden können. Im Text wird die Unterscheidung zwischen der sozialen und der natürlichen Minderheit dann auch sogleich durch den Hinweis auf die generelle Vorherrschaft des Ticketdenkens wieder relativiert. Im entscheidenden Punkt ist die soziale »Klasse« von der natürlichen »Rasse« gar nicht mehr 194 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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unterschieden. Für beide gilt, dass sie »gleichermaßen bloß noch die abstrakte Differenz gegen die Majorität« darstellen, also in der Position der Minderheit sind. Wie unter dem Vorzeichen des Ticketdenkens die Differenz zwischen sozialer und natürlicher Minderheit zunehmend irrelevant wird und verschwimmt, so ergeht es auch der Differenz zwischen dem fortschrittlichen und dem reaktionären Ticket. Für das »fortschrittliche Ticket« gilt aber doch noch, dass es einem Zustand zustrebt, der »schlechter ist als sein Inhalt« – immerhin enthält es die Ziele von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Aber diese Ziele werden doch zugleich dadurch fundamental diskreditiert, dass sie nur noch im Rahmen eines Tickets angeboten werden. Auch das fortschrittliche Ticket ist im Kern ein Ticket, und das bedeutet, dass seine gut gemeinten Inhalte zu Versatzstücken und Schlagwörtern verkommen sind. Dagegen ist der »Inhalt des faschistischen« Tickets freilich von vornherein vollkommen »nichtig«. Der an sich naheliegenden Frage, welche Folgerungen aus diesem Unterschied zwischen dem fortschrittlichen und dem faschistischen Ticket vielleicht gezogen werden können, gehen Horkheimer und Adorno aber nicht weiter nach. Sie ziehen es vor, noch einmal die große Perspektive einer veränderten und versöhnten Welt einzunehmen. Den wichtigsten Beleg für deren reale Möglichkeit sehen sie darin, dass das übergroße Ausmaß von Gewalt und Vernichtung nicht der Ausdruck der Stärke von Antisemitismus, Ticketdenken und Verblendung ist, sondern umgekehrt deren Schwäche anzeigt. Wenn der negative Gesellschaftszustand »als Ersatz des Besseren nur noch durch verzweifelte Anstrengung der Betrogenen aufrecht erhalten werden kann«, dann ist seine Überwindung im Grunde nicht mehr fern. In dieser Argumentationsfigur wird der Grad der Anstrengung, der nötig ist, um die Betrogenen bei der Stange des faschistischen Tickets zu halten, zum Indikator dafür, dass die radikale Umwendung längst überfällig und jederzeit möglich ist. Nur noch mit den Mitteln »der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge« lässt sich der alte Zustand aufrechterhalten, nur durch »die volle Einbuße des Denkens« werden die Menschen daran gehindert, das zu erkennen, was eigentlich auf der Hand und vor aller Augen liegt. Im »Unmaß« des »Widersinns« dieser Verhältnisse ist »die Wahrheit negativ zum Greifen nahe«. Es bedarf eigentlich nur noch eines kleinen Schrittes, um »die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen«. Diese letzten Sätze der siebten These eröffnen wie der letzte Absatz der sechsten These die Aussicht auf das Ende des Schreckens. Die zugrundeliegende Argumentationsfigur ist an beiden Stellen gleich: Sie beschwört die Möglichkeit der »Umwendung … im Angesicht des absoluten Wahnsinns« (VI: 12). Das ist eine gewiss versöhnliche und tröstende, nicht aber unbedingt eine wirklich überzeugende Perspektive. (Ich werde sie im fünften Kapitel der Interpretationen näher beleuchten.) 195 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Dritter Teil Interpretationen

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I. Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung 1. Die Entstehung der Elemente Die Elemente des Antisemitismus, das fünfte und vorletzte Kapitel der Dialektik der Aufklärung, entstanden im Sommer 1943. Horkheimer und Adorno schrieben das Buch an der Westküste Amerikas. Horkheimer hatte sich im Frühjahr 1941 in Pacific Palisades in der Nähe von Los Angeles niedergelassen, Adorno war ihm Ende November 1941 dorthin gefolgt. Beide hatten ihren Umzug von der Ost- an die Westküste der USA mit der Absicht in die Wege geleitet, endlich die Ruhe und die Zeit für die gemeinsame Niederschrift des seit längerem geplanten Buches zu finden. Die Elemente des Antisemitismus sind in sieben Thesen unterteilt. Die ersten drei Thesen schrieben Horkheimer und Adorno gemeinsam mit Leo Löwenthal, der sich im Sommer 1943 einige Monate lang besuchsweise bei ihnen an der Westküste aufhielt. In der ursprünglichen Fassung der Dialektik der Aufklärung aus dem Jahre 1944 war die siebte These der Elemente nicht enthalten. Sie wurde in die erste Verlagsausgabe des Buches, die 1947 im Amsterdamer Exil-Verlag Querido in geringer Auflage herauskam, neu aufgenommen. Diese siebte These der Elemente war die einzige Hinzufügung der Verlagsausgabe des Buches im Vergleich zur hektographierten Fassung. Horkheimer und Adorno nahmen für die Buchausgabe allerdings eine Fülle von sprachlichen Veränderungen vor, deren Zweck neben einigen Aktualisierungen hauptsächlich darin bestand, die Nähe zur marxistischen, kapitalismuskritischen Terminologie zu tilgen. Seit Ende der 1930er Jahre hatte sich Horkheimer mit dem Gedanken getragen, ein Dialektikbuch oder eine dialektische Logik zu schreiben. In einem Brief an Walter Benjamin vom 29. Februar 1940 spricht Adorno von »den geplanten gemeinsamen Arbeiten« mit Horkheimer (Adorno/ Benjamin 1994: 420). Wenn man die Äußerungen sehr großzügig interpretiert, kann man darin die ersten Erwähnungen und Überlegungen sehen, aus denen dann die Dialektik der Aufklärung wurde. Freilich war das Vorhaben zunächst als gleichsam fachphilosophische Abhandlung gedacht, als eine Art Neufassung der Hegelschen Logik, als »materielle Kategorienlehre« (Horkheimer 1938: 156). Diese Intention ist im Hintergrund der Dialektik der Aufklärung durchaus wichtig geblieben. Ihr Herzstück ist die Kritik der Sprache und der neuzeitlichen Rationalität, die vor allem im ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung entfaltet 199 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

wird, aber auch in vielen Überlegungen der Elemente des Antisemitismus eine wichtige Rolle spielt. Mitte 1942 bekamen die weitläufigen Vorarbeiten und Anläufe für das meist unter dem Titel Dialektikbuch zwischen Horkheimer und Adorno gehandelte Projekt deutlichere Konturen. Horkheimer vermutete in mehreren Briefen aus dem Jahre 1942, dass das ganze Unternehmen noch viele Jahre in Anspruch nehmen werde. Er verstand die Arbeit am Buch als ein work in progress. Ende 1942 war dann aber das erste Kapitel des Buches bereits abgeschlossen. Weitere Teile lagen in Entwürfen vor, und Adorno hatte einen Exkurs zur Interpretation der Odyssee Homers fertiggestellt. Auch Aphorismen und Teile eines Anthropologie-Kapitels waren konzipiert und in ersten Fassungen bereits geschrieben. Eigentümlicherweise gab es nur für das Antisemitismus-Kapitel noch keine Entwürfe. Der Grund dafür liegt darin, dass die Arbeit an einer theoretischen Durchdringung des Antisemitismus von Adorno und Horkheimer anfangs gar nicht als Teil des Dialektik-Buches, sondern als Teil groß angelegter Forschungsprojekte über den Antisemitismus konzipiert war (vgl. Wiggershaus 1986: 362; Ziege 2009: 61ff). Um die Finanzierung dieser Forschungsvorhaben hatte sich das Institut intensiv bemüht, am Ende mit Erfolg. Das American Jewish Committee (AJC) sagte seine Unterstützung zu, zunächst allerdings nur für ein Jahr. Die Förderung wurde im März 1943 überraschend zugesagt, begann schon einen Monat später und erstreckte sich bis 1947/48. Im Juli 1944 übernahm Horkheimer die Leitung der neu eingerichteten Forschungsabteilung des AJC. Die Untersuchungen und Analysen zu den ökonomischen und sozialen Ursachen des Antisemitismus wurden in New York durchgeführt, hauptsächlich von Paul Massing und Arkadij Gurland, geleitet von Friedrich Pollock, unterstützt von Leo Löwenthal und eine Zeit lang von Otto Kirchheimer. Der andere Teil, in dem es um psychological research und theoretische Fragen ging, wurde an der Westküste bearbeitet und stand unter der Leitung Horkheimers, dem Adorno und weitere Helfer assistierten. Die Ergebnisse des breit angelegten Forschungsprojekts wurden 1949/1950 in einer Serie von fünf Bänden unter dem Obertitel Studies in Prejudice publiziert. Der berühmteste Einzelband ist The Authoritarian Personality, an dem Adorno maßgeblich beteiligt war. In einem weiteren empirischen Projekt erforschte das Institut etwa zur gleichen Zeit die Frage des Antisemitism among American Labor (vgl. dazu ausführlich Ziege 2009). Diese Untersuchung wurde vom Jewish Labor Committee gefördert und ging vor allem der Frage nach, welche Auswirkungen die Informationen über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa auf das Bewusstsein der amerikanischen Arbeiterschaft hatten. Im Mai 1945 war die Studie, die bis heute unveröffentlicht geblieben ist, abgeschlossen. Das Ergebnis lautete, dass der Hass auf die Juden durch die Informationen über den Völkermord auf dem 200 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung

europäischen Kontinent bei den Arbeitern in den USA noch gestiegen war – und das, wie das Institut feststellte, nicht trotz, sondern gerade wegen des Völkermords. Damit war klar, dass das Jahr 1945 keineswegs automatisch eine Zäsur für die Verbreitung des Antisemitismus darstellen und die allgemeine Verbreitung des Wissens über die Ermordung der europäischen Juden nicht das Ende des Antisemitismus bedeuten würde (vgl. Ziege 2009: 92). Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Ergebnis der Untersuchung maßgeblich zur siebten These der Elemente, die Horkheimer und Adorno 1947 ihrem Buch hinzugefügt haben, beigetragen hat. Seit Mitte 1943 nahm die Arbeit am theoretischen Teil des Antisemitismus-Projekts bei Horkheimer und Adorno einen großen Raum ein. Parallel dazu ging die Überarbeitung und Ergänzung der bereits vorliegenden Teile des Dialektikbuchs weiter. Bald kam die Idee auf, die abgeschlossenen Teile des Buches zunächst in mimeographierter Form herauszubringen und in eine solche vorläufige Fassung auch theoretische Überlegungen zum Antisemitismus aufzunehmen. Die Integration dieser Textpassagen war leicht möglich, weil das Dialektikbuch als hektographiertes Typoskript und durch seinen Titel Philosophische Fragmente, durchaus gegen die ursprüngliche Absicht der Autoren, nun einen nicht abgeschlossenen und vorläufigen Zug bekam. Am Ende der Vorrede zur hektographierten Ausgabe 1944 sprechen Horkheimer und Adorno davon, dass sie die Arbeit an den Philosophischen Fragmenten fortsetzen wollen, um das Buch zu »vollenden« (DA 23). In der Ausgabe von 1947 wurde diese Aussage gestrichen, die Fortsetzung und Vollendung des Buches unterblieb. Damit wurde das Buch zu einem eigenständigen, für sich stehenden Text, zu einem, wie Wiggershaus (1986: 364) schreibt, »fertigen Fragment, in dem niedergelegt war, was die Autoren Wesentliches zu sagen hatten«. Formal ist das Buch keine wirkliche Einheit. Es besteht aus fünf mehr oder weniger unverbundenen Kapiteln, zwei der fünf Kapitel sind mit »Exkurs« überschrieben. Die Kapitel werden durch eine Reihe kürzerer »Aufzeichnungen und Entwürfe« (DA 239ff), die sehr unterschiedliche Themen behandeln, ergänzt. Zusammengehalten werden die Teile allein durch das zentrale Ziel des Buches. Es wird in der Vorrede präzise benannt: »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.« (DA 16) Es geht den Autoren mithin um den Nachweis, dass der totalitäre Terror nicht zufällig entstanden war, sondern seine Grundlagen tief im abendländischen Denken und in der abendländischen Zivilisation verankert waren. Es ist viel darüber nachgedacht und gerätselt worden, auf welchen der beiden Autoren jeweils welche Teile des Buches zurückgehen und wie man sich die gemeinsame Arbeit am Text vorzustellen hat (vgl. z.B. 201 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Rabinbach 2000: 167ff). Adorno und Horkheimer selber haben immer herausgestellt, dass sie das Buch und damit auch die Elemente gemeinsam geschrieben bzw. diktiert haben. In der Vorrede zur Neuausgabe des Buches von 1969 heißt es: »Kein Außenstehender wird leicht sich vorstellen, in welchem Maß wir beide für jeden Satz verantwortlich sind. Große Abschnitte haben wir zusammen diktiert; die Spannung der beiden geistigen Temperamente, die in der Dialektik sich verbanden, ist deren Lebenselement.« (DA 13) Und in einem Brief an Horkheimer schreibt Adorno am 2. Juni 1949: »Lieber Max, hier erhalten Sie Abschriften von zwei kritischen Äußerungen, die mir der Verfasser, Karl Thieme aus Basel gesandt hat. Den Unsinn, daß ich der Autor der ›Elemente des Antisemitismus‹ sei, habe ich sofort berichtigt. Die Leute scheinen der Versuchung, uns auseinander zu halten, nicht widerstehen zu können, obwohl ich Thieme im Februar geschrieben hatte, daß die ­Dialektik der Aufklärung ›die gemeinsame Arbeit von Horkheimer und mir ist und zwar in dem Sinne, daß jeder Satz uns gemeinsam zugehört‹.« (zit. nach: Schmid Noerr 1987: 425) In einem Brief an seine Eltern vom 22. November 1944 berichtet Adorno (2003: 294) rückblickend über ihre Arbeitsweise: »In der Dialektik der Aufklärung, der Kulturindustrie und den ›Elementen des Antisemitismus‹ steht überhaupt kein einziger Satz, der nicht gemeinsam, oft viele Male formuliert worden wäre.« Von gemeinsamer Arbeit und intensiven theoretischen Diskussionen zwischen Horkheimer und Adorno zeugen auch Protokolle aus den Jahren 1931/1932 und 1938 bis 1946, die heute im 12. Band der Gesammelten Schriften Horkheimers zugänglich sind. Und in einem Bericht aus dem Jahre 1968, in dem Adorno auf Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika zurückblickt, formuliert er, dass »Horkheimer und ich« die Elemente des Antisemitismus »im strengsten Sinn gemeinsam verfaßten, nämlich buchstäblich zusammen diktierten« (Adorno 1968: 721). Schmid Noerr, mit Alfred Schmidt Herausgeber der Gesammelten Schriften Max Horkheimers und einer der besten Kenner des Werks von Horkheimer, bezweifelt mit guten Gründen, dass die theoretischen Orientierungen und Haltungen von Adorno und Horkheimer »wirklich im Sinn dieser Erklärung eine bruchlose Einheit darstellen« (Schmid Noerr 1987: 426). Zwar habe sich mit der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung das Denken der beiden Autoren so intensiv einander angenähert wie weder davor noch danach. Für die jeweils eigene wissenschaftliche und theoretische Entwicklung von Horkheimer und Adorno hat die Schrift jedoch ganz unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Horkheimer hatte in den 30er Jahren mit dem Institut für Sozialforschung das Projekt eines interdisziplinären Materialismus entwickelt und dabei die Idee verfolgt, die Gehalte der Philosophie in einer marxistisch inspirierten Gesellschaftstheorie aufzuheben. Ende der 1930er Jahre entfernte sich Horkheimer von den damit verbundenen Hintergrundannahmen 202 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung

und näherte sich der Vernunft- und Herrschaftskritik, die dann für die Dialektik der Aufklärung bestimmend geworden ist. Adorno hatte der einzel- und interdisziplinären Forschung immer deutlich reservierter gegenüber gestanden, und die Motive der Aufklärungs- und Vernunftkritik, der Verschränkung von Mythos und Moderne waren für ihn von Anfang an weitaus bedeutsamer als für seinen Freund Horkheimer. Hinzu kam bei Adorno ein genuines Interesse an der ästhetischen Erfahrung der Kunst, für das es bei Horkheimer kaum ein Pendant gibt (vgl. Habermas 1986: 169ff). Auch die Herstellung des Textes verlief wohl durchaus anders als die beiden Autoren es selber wahrnahmen und rückblickend behaupteten. Vieles spricht dafür, dass der Titelessay und das de Sade-Kapitel des Buches überwiegend auf Horkheimer, die Kapitel über Odysseus und die Kulturindustrie in erster Linie auf Adorno zurückgehen (vgl. Habermas 1986: 171). Und was die Arbeit an den Elementen angeht, so zeichnet Schmid Noerr in Kenntnis der Nachlässe von Adorno und Horkheimer und auf der Basis mündlicher Zeugnisse das folgende Bild: »Zu diesem Kapitel findet sich in Horkheimers Nachlass kein druckfertiges Typoskript, wohl aber sind zahlreiche Typoskript-Bruchstücke, meist mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen Horkheimers, sowie von Horkheimer handschriftlich niedergeschriebene Textpassagen erhalten. Eine dieser Niederschriften schließt unmittelbar an drei von Gretel Adorno (wohl als Diktat) beschriebene Seiten an. Dem Konvolut liegen außerdem einige wenige handschriftliche Notizen Adornos sowie ein ›Entwurf‹ überschriebenes, sechsseitiges Typoskript Adornos bei. Weiterhin finden sich dort Protokolle von Diskussionen zwischen beiden Autoren über Antisemitismus. (veröffentlicht in Horkheimer Werke 12: 587ff) Die erst für die Druckfassung von 1947 hinzugefügte siebte These des Kapitels liegt als von Horkheimer handschriftlich korrigiertes und ergänztes Typoskript in mehreren Fassungen vor. Beigefügt ist ein von Adorno verfaßtes dreiseitiges Typoskript ›Bemerkungen zu These VII‹, handschriftlich von ihm datiert mit der Angabe ›Sept. 4/46‹. Adornos Nachlaß enthält keine weiteren Materialien zu diesem Kapitel.« (Schmid Noerr 1987: 428f) Rolf Tiedemann hat Schmid Noerr gegenüber von einer mündlichen Mitteilung Adornos berichtet, nach der die Elemente von Horkheimer konzipiert wurden und Adorno sie intensiv überarbeitet hat. Zugleich weist die Vorrede von 1944 auf den erheblichen Anteil von Leo Löwenthal an der Formulierung der ersten drei Thesen des Kapitels hin (vgl. Schmid Noerr 1987: 430). Das alles läuft darauf hinaus zu sagen: Die Elemente wurden von Horkheimer konzipiert und dann von Adorno überarbeitet. Über die genaue Form der Beteiligung von Leo Löwenthal an den ersten drei Thesen gibt es offenbar nirgendwo genauere Informationen. Wenn man die Motive und Argumente der einzelnen Thesen betrachtet und zu den Autoren 203 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in Beziehung setzt, dann lässt sich die siebte These, die das Thema der Kulturindustrie aufgreift, sicherlich eher Adorno zuschreiben, ebenso die fünfte These, in der es um Mimesis und Idiosynkrasie geht. Die vierte These über die religiösen Wurzeln des Antisemitismus dürfte eher auf Horkheimer zurückgehen, ebenso die dritte These, die sich auf die Rolle der Zirkulation und auf das Verhältnis von raffendem und schaffendem Kapital bezieht. Auch die sechste These trägt stärker die Handschrift von Horkheimer, weil hier mit der Idee der Projektion ein Motiv der Idealismuskritik ins Spiel kommt, das Horkheimer auch an anderer Stelle ausführlich beschäftigt hat. Die zweite These nimmt Gedanken auf, die Adorno im Vorfeld der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung brieflich geäußert hatte, die erste These wiederum verweist eher auf Motive von Horkheimer, der sich im Rahmen der geplanten Forschungsprojekte des Instituts für Sozialforschung intensiv mit unterschiedlichen Gesichtspunkten für die Erklärung des Antisemitismus auseinandersetzte.

2. Die »Schicksalsfrage der Menschheit« In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno über das fünfte Kapitel ihres Buches: »Die thesenhafte Erörterung der ›Elemente des Antisemitismus‹ gilt der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit. Nicht bloß die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehört der Rationalität seit Anfang zu, keineswegs nur der Phase, in der jene nackt hervortritt. In diesem Sinne wird eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus entworfen. Sein ›Irrationalismus‹ wird aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt abgeleitet.« (DA 22) Diesen Sätzen zufolge ist es offenbar so, dass mit dem Antisemitismus die Wirklichkeit des Umschlags der aufgeklärten Zivilisation in die Barbarei ins Auge gefasst wird. Was in den vier Kapiteln davor in der Auseinandersetzung mit philosophischen und literarischen Texten und Überlieferungen herausgearbeitet worden war: die Tendenz der aufgeklärten Zivilisation zur Selbstvernichtung, sollte nun am realhistorischen und empirischen Material des Antisemitismus zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Und die zitierten Sätze deuten an, dass die Entstehung des Antisemitismus nicht auf die jüngere Geschichte bezogen, sondern schon mit der Anfangszeit der Rationalität und mit ihrem Begriff in Verbindung gebracht werden muss. Insofern wird keine historische Arbeit über die reale Geschichte des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert angekündigt, sondern eine »philosophische Urgeschichte«. Und in dieser Form haben die Elemente des Antisemitismus wie auch die anderen Teile der Dialektik der Aufklärung eine größere Nähe zum Kritikmodell 204 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Genealogie, das Nietzsche praktiziert hat, als zum Modell der klassischen Ideologiekritik marxistischer Provenienz. (Darauf werde ich unten zurückkommen.) Unüberhörbar präsentieren Horkheimer und Adorno die Elemente des Antisemitismus in den zitierten Sätzen ihrer Vorrede als eine Art Exempel, als Anhängsel, als Beleg für einen Zusammenhang, der zuvor auf theoretisch-begrifflichem Niveau eigentlich schon ausreichend erörtert wurde. Nach Wiggershaus (1986: 377) sahen Horkheimer und Adorno im Antisemitismus eine Verhaltensweise, die »ihre Analyse der mißlungenen Zivilisation bestätigte«. Die Herausforderung habe darin bestanden, die antisemitischen Verhaltensweisen »in einer solchen Weise zu analysieren, daß, wenn sich diese Analysen bestätigten, auch die Theorie der naturverfallenen Naturbeherrschung als Kern der mißlungenen Aufklärung zumindest gestärkt wäre« (Wiggershaus 1986: 377). Nach MüllerDoohm (2003: 426) stand im Hintergrund der Dialektik der Aufklärung »die drastisch empfundene Notwendigkeit, die Ursachen für das fortdauernde Leiden in der Geschichte aufzudecken«. Danach ist das eine, das wesentliche die Theorie bzw. der Blick auf das Leiden, das eigentlich immer schon mit der Geschichte verbunden gewesen ist, und das andere ist dann in einem zweiten Schritt gleichsam »die Anwendung dieser Theorie auf ein konkretes Thema« (Wiggershaus 1986: 358). Der Antisemitismus erscheint in dieser Sicht »als aktuelle Manifestation offensichtlicher Unvernunft« (Müller-Doohm 2003: 426). Die Architektur des Buches folgt nach Wiggershaus dem großen Vorbild Hegel: die Dialektik der Aufklärung verhält sich zum Antisemitismus »wie die Hegelsche Logik zur Hegelschen Geschichts- oder Rechts- oder Kunstphilosophie« (Wiggershaus 1986: 358). Jedenfalls wird dem Antisemitismuskapitel keineswegs eine unverzichtbare und tragende Rolle in der Gesamtanlage des Buches und des Gedankens, den das Buch entfaltet, zugeschrieben. Dieser Eindruck entspricht der Entstehungsgeschichte des Textes – darauf habe ich schon hingewiesen. Eine ganze Zeit lang liefen die Arbeiten, Lektüren und Vorbereitungen für die Analyse des Antisemitismus einerseits und die Arbeiten und Ideen für das Dialektik-Buch andererseits getrennt nebeneinander her. Das war selbst dann noch der Fall, als die Gruppe an der Westküste damit begann, sich ab April 1943 intensiver im Rahmen des vom American Jewish Committee (AJC) finanzierten Projekts um die Erforschung des Antisemitismus zu kümmern. Die Äußerungen der Autoren über die Stellung des Antisemitismuskapitels in der Dialektik der Aufklärung und die Entstehungsgeschichte des Buches sind nicht wenig irritierend. Wenn man den Text der Dialektik der Aufklärung heute liest, drängt sich unabweisbar der Eindruck auf, dass die Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit nicht nur den Elementen des Antisemitismus zugrunde lag und das Exempel für eine theoretisch hergeleitete These war, sondern 205 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das gesamte Buch entscheidend motivierte. Im ersten Satz der Elemente wird über den Antisemitismus gesagt, dass er tatsächlich, wie die Faschisten es propagieren, die »Schicksalsfrage der Menschheit« (DA 196, I: 1) ist. Der totalitäre Antisemitismus, die Vernichtung der europäischen Juden ist das triumphale Unheil, von dem der erste Satz des Buches spricht (vgl. DA 25) und dessen Wurzeln der zentralen Behauptung der Autoren zufolge im Begriff und in der Geschichte der Aufklärung von Anfang an enthalten sind. Es kann kein Zweifel daran sein, dass der Antisemitismus der zentrale Wahn des Nationalsozialismus ist. Man kann sich schlechterdings keine theoretische Reaktion auf das Versinken des europäischen Kontinents in der Barbarei vorstellen, in der die Ausrottung der Juden nicht zum zentralen Gegenstand des Nachdenkens gemacht wird. So wie der Antisemitismus auf den Nationalsozialismus und auf den Mord an den Juden verweist, so ist auch die Analyse des Nationalsozialismus ohne die Analyse des Antisemitismus unmöglich. Jäger (2003: 176) bezeichnet die Dialektik der Aufklärung wegen der Kritik und Analyse des Antisemitismus, die darin entfaltet wird, geradezu als »ein jüdisches Buch« und möchte diese Aussage zusätzlich auch noch in einem darüber hinausgehenden Sinn verstanden wissen: »Es war eine philosophische Selbstbehauptung des Jüdischen im Augenblick seiner höchsten Gefährdung.« Wie erklärt sich dann aber das lange Zögern von Horkheimer und Adorno? Wie kann man erklären, dass die Arbeit am Dialektikbuch und das Interesse für den Antisemitismus so lange unverbunden nebeneinander her liefen? Und wie kam es dann doch noch dazu, dass der Antisemitismus auch in den Augen von Horkheimer und Adorno zur »Schicksalsfrage der Menschheit« wurde und Aufnahme in die Dialektik der Aufklärung fand? Es gibt zwei Antworten auf diese Fragen. Die erste Antwort ist eher äußerlich. Sie hat mit der zeitgeschichtlichen Entwicklung und mit dem Pragmatismus der Forschungsinteressen und Forschungsförderung des Instituts für Sozialforschung zu tun. Die zweite Antwort bezieht sich auf die Theorie und den begrifflichen Horizont, in dem sich Adorno und vor allem Horkheimer bis Anfang der 40er Jahre bewegten und in dem der Antisemitismus gleichsam nicht vorgesehen und nicht unterzubringen war. Es bedurfte einer längeren Phase des Nachdenkens und der Öffnung für ein ganz anderes Paradigma der Theorie, bevor Horkheimer in der Lage war, den Antisemitismus in das Zentrum seiner Arbeit zu stellen. Wiggershaus vertritt die erste Antwort. Er erklärt das Zögern damit, dass die Beschäftigung mit der Geschichte des Judentums und der Logik des Antisemitismus die Autoren unweigerlich mit ihrer eigenen Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit konfrontierte und damit das Selbstbild einer »in splendid isolation lebenden kleinen Gruppe von Theoretikern, von Fremden über den Kulturen, die ihre Verbindung zum Judentum lediglich in der Verwandtschaft gewisser Denkmotive sahen« 206 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(Wiggershaus 1986: 397), als Illusion erweisen würde. Er vermutet, dass es erst der formelle Forschungsauftrag des American Jewish Committee war, der den Antisemitismus zum expliziten Forschungsgegenstand werden ließ und die theoretische Beschäftigung damit unabweisbar machte. Ähnlich sieht es Schmid Noerr (1998: 41), für den die überraschende Bewilligung des beantragten Forschungsprojekts über den Antisemitismus durch das AJC es für Horkheimer und Adorno »nahelegte, die damit verbundene theoretische Aufgabe mit der Thematik des Buches zu verbinden«. Tatsächlich spielte die Tatsache, dass sie Juden waren, im eigenen Selbstverständnis von Horkheimer und Adorno eigentlich nie eine große Rolle. Das war bei ihnen nicht anders als bei vielen assimilierten Juden in der Welt des Geistes, die eigentlich erst durch die Antisemiten mehr oder weniger gewaltsam auf ihre jüdische Herkunft gestoßen wurden. Vorher war die Zugehörigkeit zum Judentum in den Elternhäusern dieser Publizisten, Wissenschaftler, Künstler, Denker und Dichter ohne Bedeutung. Das gilt für Hannah Arendt, Walter Benjamin oder Sigmund Freud so gut wie für Horkheimer und Adorno. Es ist eine beliebte und oft abgehandelte Frage, ob und wie sich die jüdische Herkunft im Denken niederschlägt. Auch im Blick auf die Kritische Theorie und insbesondere auf Horkheimer und Adorno ist das gern erörtert worden. Beide entstammen assimilierten jüdischen Elternhäusern. Adorno war getauft worden und hatte sich in den USA dafür entschieden, den italienischen Namen seiner Mutter zu führen. Seine Beziehung zum Judentum war sehr schwach und kaum ausgeprägt. Einige seiner Freunde und Mitarbeiter dagegen, Siegfried Kracauer und Leo Löwenthal z.B., waren am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt beteiligt. Horkheimers Vater, königlich-bayrischer Kommerzienrat und Unternehmer einer Textilfabrik in Zuffenhausen-Stuttgart, war ein konservativer, aber kein orthodoxer Jude. Die Familie ging am Sabbath gelegentlich in die Synagoge, man beachtete die jüdischen Speisegesetze, pflegte einige jüdische Bräuche, aber von einem nachdrücklichem Bekenntnis zur jüdischen Religion und zum jüdischen Leben kann man sicherlich nicht sprechen (vgl. Traverso 1997: 181; Maier 1986: 148; Ziege 2009: 139ff). Gegen die Annahmen von Wiggershaus kann man jedoch ins Feld führen, dass es schon einige Zeit vor dem Jahre 1943, also bevor das American Jewish Committee das Forschungsprojekt des Instituts zu finanzieren begann, bei Horkheimer und Adorno eine Reihe von Annäherungen an das Thema des Antisemitismus gegeben hatte. Freilich hat man den Eindruck, dass auf jeden entsprechenden Vorstoß auch wieder ein Rückzug erfolgte. In einem eigentümlichen Wechsel von Anziehung und Abstoßung wurde das Thema in immer neuen Anläufen umkreist. Horkheimer berichtet in seinem Einleitungskapitel zu dem von dem Psychoanalytiker Ernst Simmel herausgegebenen Sammelband über den Antisemitismus, 207 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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dass ihm bereits 1930 die Dringlichkeit des Antisemitismusthemas deutlich vor Augen stand. Er habe damals oft die Antwort bekommen, »der Antisemitismus sei nur ein Propagandamittel, und Hitler würde, wäre er nur erst an der Macht, bestimmt mit diesem Unsinn aufhören« (Horkheimer 1944/1946: 364). 1939 begann das Institut für Sozialforschung damit, ein Forschungsprojekt über den Antisemitismus ins Auge zu fassen. In einem Brief vom 5. August 1940 schreibt Adorno an Horkheimer: »Oftmals kommt es mir vor, als wäre all das, was wir unterm Aspekt des Proletariats zu sehen gewohnt waren, heute in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen. Ich frage mich, ob wir nicht, ganz gleich wie es mit dem Projekt wird, die Dinge, die wir eigentlich sagen wollen, im Zusammenhang mit den Juden sagen sollten, die den Gegenpunkt zur Konzentration der Macht darstellen.« (Adorno/Horkheimer 2004: 84) Einige Wochen später, am 18. September 1940, schickt Adorno in Form einer Beilage an Horkheimer »ein paar – noch ganz unformulierte – Gedanken zur Theorie des Antisemitismus«, die er selber sogleich mit den Worten kommentiert: »Sie sind so waghalsig, daß ich sie außer Ihnen niemand zeige – andrerseits aber kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß wir mit diesen Erwägungen, wie sehr sie auch der Modifikation bedürfen mögen, an eine wirklich wichtige Stelle herangekommen sind, nämlich an eine zugleich einheitliche und nicht rationalistische Erklärung des Antisemitismus.« (Adorno/Horkheimer 2004: 99) Gleich im ersten Satz der Beilage begründet Adorno, warum ihm die »üblichen mehr oder minder rationalistischen Erklärungen des Antisemitismus als unzulänglich erscheinen« (alle Zitate nach: Adorno/Horkheimer 2004: 99–102). Man kommt mit ihnen nämlich an die »Tiefe und Hartnäckigkeit des Hasses gegen die Juden« gar nicht heran. Der »Anteil der Juden am Kapitalismus und Liberalismus« kann nicht die Ursache sein, weil der Judenhass in eine Periode zurückreicht, in der diese gleichsam rationalen Gründe noch gar nicht wirksam waren. Schon mit diesen beiden Sätzen wird die funktionalistische Begründung des Antisemitismus, wie sie Horkheimer in seinem Essay Die Juden und Europa entwickelt hatte, hinweggefegt. (Auf diesen Essay gehe ich unten noch ausführlich ein.) An die Stelle der rationalen Begründungen setzt Adorno den Hinweis auf »gewisse archaische Züge«, die er am Judenhass beobachtet. Es müssen mithin, so meint er, »sehr alte und längst zur zweiten Natur gewordene Motive dabei im Spiele sein«. Wenn man also versuchen wolle, über den »Pluralismus einzelner ›Gründe für den Judenhaß‹« hinauszugelangen zu einer »Theorie des Antisemitismus«, müsse man in diesem Sinne eine »Urgeschichte des Antisemitismus« ins Auge fassen. Dann kommt sofort Freud ins Spiel und die Abgrenzung zu dessen psychologischer Urgeschichte, die sich im Kern auf Phantasien und Konstruktionen stützt, nicht auf Realitäten. Adorno möchte demgegenüber den Versuch machen, »den Ursprung in archaischen, aber gesellschaftlich 208 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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realen Bewegungen aufzusuchen«. (Das gleiche Motiv ist einer der Gründe dafür, dass Adorno so sehr von der Theorie der Mimesis des französischen Soziologen Roger Caillois und dessen Kritik an der Psychoanalyse eingenommen ist. Darauf komme ich unten im Kapitel über die Mimesis zurück.) Adorno entwirft in diesen Sätzen eben jene Denkbewegung, die in die ersten drei Thesen der Elemente des Antisemitismus dann bestimmend eingehen wird und die Tür für die zivilisations- und religionsgeschichtlichen Spekulationen weit öffnet. Adorno greift sodann Elemente aus der Soziologie der Fremdheit und aus der Folklore auf, die deutlich machen, dass das verbreitete Bild des Juden zwar einerseits diesem Klischee entspricht, aber andererseits auch weit über die klischeehaften Züge des Fremden hinausgeht. Die typischerweise den Juden zugeschriebenen Züge »sind solche der Wanderschaft, des Uralten, des Schnorrers«. Diese den Juden angetragenen Züge könnten »nicht aus der Geschichte der Juden seit der Diaspora erklärt werden«, sondern stünden im Zusammenhang mit »einem sehr frühen Stadium der Geschichte der Menschheit«, in dem »die Juden den Übergang vom Nomadentum zur Seßhaftigkeit entweder verschmäht und an der nomadischen Form festgehalten oder diesen Übergang nur unzulänglich und scheinhaft, in einer Art von Pseudomorphose vollzogen«. Dafür, meint Adorno, gebe es Hinweise in der biblischen Geschichte, vor allem den »Auszug aus Ägypten und dessen Vorgeschichte mit dem Versprechen des Landes, wo Milch und Honig fließt«. Jedenfalls stehen die Juden für das »Festhalten der archaischen Lebensform des Nomadentums in einer seßhaften Welt«: »Die Juden sind die heimlichen Zigeuner der Geschichte.« Auf das Festhalten am Nomadentum führt Adorno auch den Monotheismus zurück, wie generell die fortschrittlichen Züge der Juden nicht auf die Epoche der Mythologie folgen, sondern älter sind als sie. »Daß die Juden sich geweigert haben, irgendwelche partiellen und lokalen Götter anzunehmen, hängt damit zusammen, daß sie sich geweigert haben, irgend eine und beschränkte Heimat anzunehmen.« Im letzten Absatz seiner Überlegungen nimmt Adorno dann den Inhalt der zweiten These der Elemente vorweg. Der springende Punkt ist die Vermutung, dass das »Aufgeben des Nomadentums eines der schwersten Opfer« war, das die Geschichte den Menschen auferlegt hat. An die Stelle des nomadenhaften und triebnäheren Lebens treten die Zumutungen der Arbeit. Und die Juden werden nun zu denen, die diesen Übergang nicht vollzogen haben. »Das Bild des Juden repräsentiert das eines Zustands der Menschheit, der die Arbeit nicht gekannt hat, und alle späteren Angriffe gegen den parasitären, raffenden Charakter der Juden sind bloß Rationalisierungen. Die Juden sind die, welche sich nicht haben ›zivilisieren‹ und dem Primat der Arbeit unterwerfen lassen. Das wird ihnen nicht verziehen und deshalb sind sie der Stein des Anstoßes 209 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in der Klassengesellschaft. Sie haben sich, könnte man sagen, nicht oder nur widerwillig aus dem Paradies vertreiben lassen.« Dazu passe die Beschreibung, dass die Juden in das Land wollen, »wo Milch und Honig fließen«. Die jüdische Utopie sei dieses »Festhalten am ältesten Bild des Glücks«. Ob die Zeit des Nomadentums wirklich eine glückliche Zeit gewesen ist, hält Adorno für irrelevant. Zentral ist die Frage, wie sie den Gegenwärtigen erscheint. Und »je mehr die Welt der Seßhaftigkeit, als eine der Arbeit, die Unterdrückung reproduzierte, um so mehr mußte der ältere Zustand als ein Glück erscheinen, das man nicht erlauben, dessen Gedanke man verbieten muß«. Das führt Adorno im letzten Satz seiner Spekulationen zu dem Schluss: »Dies Verbot ist der Ursprung des Antisemitismus, die Vertreibungen der Juden sind Versuche, die Vertreibung aus dem Paradies seis zu vollenden seis nachzuahmen.« Ein gutes halbes Jahr später, am 10. 3. 1941, schreibt Horkheimer an den britischen Politikwissenschaftler Harold Laski: »As true as it is that one can understand Antisemitism only from our society, as true it appears to me to become that by now society itself can be properly understood only through Antisemitism.” (zit. nach: Wiggershaus 1986: 347) Wenn man diese Äußerungen zusammennimmt, dann zeigt sich, dass eigentlich alles schon in die Richtung einer intensiven Beschäftigung mit dem Antisemitismus weist. Da ist zum einen die Behauptung, dass das Antisemitismusthema die alte marxistische Frage nach dem Proletariat ablöst, da ist zum zweiten mit den kühnen Spekulationen Adornos in der Beilage der Weg in die Richtung der Zivilisationstheorie, und da ist zum dritten das Argument, dass der Antisemitismus zum Schlüssel für das Verständnis der Gegenwartsgesellschaft geworden ist und alle anderen Fragen in den Hintergrund drängt. Im ersten Heft der Zeitschrift für Sozialforschung im Jahre 1941 wurde das ausführliche Programm des geplanten Forschungs-Projekts über Antisemitismus abgedruckt (vgl. Horkheimer 1941). Liest man diese Ankündigung auf dem Hintergrund der oben zitierten und diskutierten brieflich geäußerten Überlegungen, dann überraschen die Konturenlosigkeit, das Routinierte, das Summierende, das Uninspirierte dieses Textes. Das Spektrum der Fragen, die untersucht werden sollen, reicht von den Kreuzzügen bis zu den Befreiungskriegen, vom Antisemitismus in den Texten der Aufklärung und der deutschen Philosophie bis zum französischen Roman. Unter der Überschrift »Typologie heutiger Antisemiten« (Horkheimer 1941: 394) wird eine Klassifikation von neun unterschiedlichen Typen von Antisemiten ins Auge gefasst. Eine weitere Sektion des Forschungsprojekts soll sich um die »Erklärung für die Ursachen bestimmter jüdischer Charakterzüge« (Horkheimer 1941: 400) kümmern. Ferner wird eine Sektion über die Grundlagen des nationalsozialistischen Antisemitismus angekündigt, und schließlich wird mitgeteilt, dass das Institut in seinem Forschungsprojekt eine Reihe von neuen experimentellen 210 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung

Methoden einsetzen will, um die typischen Mechanismen antisemitischer Reaktionen auf diese Weise sichtbar und erforschbar zu machen. Das alles beeindruckt durch die Fülle der Gesichtspunkte und die Reichweite der historischen Perspektiven und Materialien, aber ein klares Profil ist darin kaum erkennbar, und von einer Kritischen Theorie des Antisemitismus, die im Antisemitismus den Schlüssel zur Analyse der Schrecken der Gegenwartsgesellschaft und der abendländischen Zivilisation schlechthin erkennt, ist das alles in allem weit entfernt. Im Vorwort zum zweiten Heft des IX. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung, in dem Friedrich Pollocks Beitrag über den Staatskapitalismus und andere Beiträge über die Probleme des »Übergangs vom Liberalismus zum autoritären Staat« (Horkheimer 1941a: 412) abgedruckt sind, kommt Horkheimer dann sogar nur noch ganz am Rande und reichlich unspezifisch auf die Judenfeindschaft zu sprechen: »Kann es irgendwer wagen, die Nützlichkeit der Geheimpolizei, der Konzentrationslager, der Euthanasie, des Antisemitismus und der gnadenlosen Mobilmachung des Volkes zu bezweifeln?« (Horkheimer 1941a: 416) Wiederum im vollkommenen Kontrast zu dieser eher beiläufigen Behandlung des Themas heißt es aber dann in einem Brief von Adorno an Horkheimer vom 2. 10. 1941: »Wie wäre es, wenn wir unser Buch … um den Antisemitismus sich kristallisieren ließen? Das würde die Konkretisierung und Einschränkung bedeuten, nach der wir gesucht haben! Es würde weiter einen großen Teil der Mitarbeiter des Instituts zu aktivieren vermögen, während, wenn wir etwas wie eine Kritik der Gegenwart gemessen an der Kategorie des Individuums schrieben, die Vorstellung mir einen Alptraum bereitet, daß dann Marcuse nachweisen würde, daß die Kategorie des Individuums schon seit der Frühzeit des Bürgertums progressive und reaktionäre Züge enthalte. Dann bezeichnet der Antisemitismus heute wirklich den Schwerpunkt des Unrechts, und unsere Art Physiognomik muss sich der Welt dort zukehren, wo sie ihr grauenvollstes Gesicht zeigt. Endlich aber ist die Frage des Antisemitismus die, in der, was wir schreiben, noch am ehesten in einen Wirkungszusammenhang eingehen könnte, ohne daß wir darüber etwas verrieten. Und ich könnte mir sogar ohne chimärischen Optimismus vorstellen, daß eine solche Arbeit auch nach außen so durchschlüge, daß sie uns weiterhülfe. Ich jedenfalls würde, ohne zu zögern, Jahre daran geben, es zu realisieren.« (Adorno/Horkheimer 2004: 255f) Es sind, sieht man einmal von der Spitze gegen Marcuse ab, sehr plausible Gründe, die Adorno hier ins Feld führt. Das Buch bekäme eine klarere Kontur, man könnte also der Gefahr der Uferlosigkeit begegnen, und man könnte die Institutsmitarbeiter in die Realisierung des Projekts einbinden – das sind die pragmatischen Erwägungen, die nach Adorno dafür sprechen, das Thema Antisemitismus zum Angelpunkt der geplanten Studie zu machen. Hinzu kommen inhaltliche, sachliche 211 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gesichtspunkte: Im Antisemitismus offenbare die gesellschaftliche Gegenwart ihren schrecklichen Zustand, und gerade ihm müsse sich die Analyse zuwenden. Und schließlich habe die Analyse des Antisemitismus auch noch den Vorteil, dass sich an sie sehr ernsthafte Hoffnungen auf eine praktische Wirksamkeit heften ließen, ohne dass irgendwelche theoretischen Zugeständnisse gemacht werden müssten, die Adorno so sehr zuwider waren. Trotz dieser guten Gründe, die Adorno hier klar benannte, spielte der Vorschlag dann aber von 1942 an, als es an die Arbeit des Schreibens ging, zunächst überhaupt keine Rolle mehr. Es scheint tatsächlich, wie Wiggershaus (1986: 357f) schreibt, »als schreckten Horkheimer und Adorno vor diesem Thema noch zurück oder als ließen sie es als verborgenes Zentrum seine Wirkung tun«. Wirkungen dürften vor allem die Nachrichten aus Deutschland und Europa getan haben, in denen die Verfolgung der Juden immer stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte. Schon in seinem oben bereits zitierten Brief vom 5.8.1940 hatte Adorno an Horkheimer geschrieben: »Mir geht es allmählich so, auch unter dem Eindruck der letzten Nachrichten aus Deutschland, daß ich mich von dem Gedanken an das Schicksal der Juden überhaupt nicht mehr losmachen kann.« (Adorno/ Horkheimer 2004: 84) Als Adorno dann ein gutes Jahr später in seinem Brief vom 2. 10. 1941 auf den Vorschlag zurückkommt, den Antisemitismus zum Kristallisationskern des Buches zu machen, war in Deutschland bereits für alle Juden vom 6. Lebensjahr an das Tragen des Judensterns angeordnet worden, kurz darauf wurde die Auswanderung jüdischer Bürger verboten (vgl. dazu und zum folgenden Wiggershaus 1986: 347). Am 22. Juni 1941 hatte die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen, in den besetzten Gebieten begannen sogleich die organisierten Massentötungen, Massaker und Schlächtereien, für die schon in Polen der Auftakt gemacht worden war. Nachrichten darüber drangen auch in die USA, z.B. waren sie enthalten in den vom American Jewish Committee herausgegebenen Contemporary Jewish Records in ihrer ausführlichen Rubrik Chronicles. Aber auch die großen Zeitungen brachten Berichte über die Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent. »Complete elimination of Jews from European life now appears to be fixed German policy«, schrieb die New York Times am 28. Oktober 1941. In Güterwagen würden die Juden in den Osten gebracht. Gut ein Jahr später, Mitte Dezember 1942, wurde die offizielle Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden, in der von der systematischen Verfolgung, Deportation und Hinrichtung der Juden die Rede war, der Öffentlichkeit bekannt gegeben (vgl. Friedländer 2007: 844f). Der Horizont verdüsterte sich dramatisch. Am 27. November 1942 schrieb Horkheimer an Leo Löwenthal: »Diese Tage sind solche der Trauer. Die Vernichtung des jüdischen Volkes hat Dimensionen wie noch nie zuvor in der Geschichte angenommen. Ich glaube, die Nacht im 212 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gefolge dieser Ereignisse wird sehr lang sein und könnte die Menschheit verschlingen.« (HGS 17: 385) Die theoretische Produktion von Horkheimer und Adorno war seit langem von der Reaktion auf Enttäuschungen geprägt. Die Hoffnung auf eine radikale, revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse war bereits im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg zerbrochen und dann zum Gegenstand der theoretischen und empirischen Arbeiten im Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Horkheimer in den 1930er Jahren geworden. Nun aber erreichte die Entwicklung einen neuen Höhepunkt. Statt einen Prozess des Fortschritts und der Zivilisierung zu durchlaufen, versank Europa in der Barbarei. Dass auch die Sowjetunion, auf die die Mitglieder des Instituts einst durchaus ihre Hoffnungen gesetzt hatten, nicht den Traum des Sozialismus verwirklichte, sondern in den Terror einer totalitären Herrschaft überging, war unübersehbar. Dieser schreckliche Gang der Dinge bewirkte bei Horkheimer, dass sich nach und nach sein Blick auf die Welt und auf die Geschichte grundlegend änderte. Adorno war theoretisch auf die Schrecknisse besser vorbereitet, weil er nie solche Hoffnungen in den Geschichtslauf gesetzt hatte wie Horkheimer. Kritik und Verzweiflung über den Lauf der Dinge bezogen sich nun immer stärker nicht mehr nur auf den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft oder auf die Möglichkeiten sozialistischer Neuanfänge, sondern in einem viel fundamentaleren Sinn auf die Grundlagen abendländischer Zivilisation, Vernunft und Kultur. Das Interesse von Adorno wie Horkheimer verschob sich »von der Theorie der ausgebliebenen Revolution auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation« (Wiggershaus 1986: 347). Seit 1942 und mit der Niederschrift der Dialektik der Aufklärung wurde die Erfahrung des Rückfalls der europäischen Zivilisation in die Barbarei zum zentralen Thema von Horkheimer und Adorno. Nach und nach wurde ihnen klar, dass es sich bei den Ereignissen auf dem europäischen Kontinent nicht mehr um gewöhnliche Verbrechen handelte, sondern um einen tiefen Bruch in der Menschheitsgeschichte. Die Katastrophe, so meinten sie, ziehe auch die zivilisatorischen Anfänge der Menschheit in Mitleidenschaft. Auch sie scheinen ihnen bereits unter dem Bann zu stehen, der in der Vernichtung der europäischen Juden seine schrecklichste Form annahm. So weitet sich der Blick vom Untergang der Zivilisation im 20. Jahrhundert auf die gesamte Geschichte, die nun von Anfang an die Keime der Katastrophe in sich trägt. In der Negativen Dialektik wird Adorno diese Sicht der geschichtlichen Entwicklung später am prägnantesten formulieren. »Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. … Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe. … Zu 213 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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definieren wäre der Weltgeist, würdiger Gegenstand von Definition, als permanente Katastrophe.« (Adorno 1966a: 314) Die Finanzierung des Antisemitismus-Projekts durch das AJC dürfte nicht mehr als den letzten äußeren Anstoß dafür gegeben haben, den Antisemitismus ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit zu rücken. 1943 war das Jahr, in dem sich Adorno und Horkheimer diesem Thema zuwandten, das sie von nun an nicht mehr loslassen sollte. Das bedeutet zugleich, dass der theoretisch-begriffliche Bezugsrahmen, in dem das Thema abgehandelt wurde, eine deutliche Veränderung erfuhr. Horkheimer hielt im April 1943 zwei Vorträge, die das zeigen. Die Judenfeindschaft wurde von ihm nun nicht mehr in die von Marx inspirierte Analyse der kapitalistischen Ökonomie und der entsprechenden Ideologiekritik eingebettet, sondern in eine Zivilisationstheorie, die sich eher aus der Psychoanalyse Freuds und der Kulturkritik Nietzsches speiste. Der Antisemitismus erschien nun als Inbegriff der Feindschaft gegen die Zivilisation. »Der Judenhaß ist Haß auf die Demokratie, das höchste Ziel der Zivilisation selbst.« (Horkheimer 1943b: 175) Für die Erklärung dieser Feindschaft war weitaus eher die (Sozial-)Psychologie bzw. die Psychoanalyse zuständig als die Kritik der politischen Ökonomie. Wer die Judenfeindschaft erklären will, so meinte Horkheimer (1943a: 169), muss sich mit der »Psychologie oder besser: mit der Kulturan­ thropologie des Antisemitismus« befassen. Dann zeige sich, dass die Zivilisation immer wieder von »dunkleren Kräften im Menschen … ständig gehemmt und zurückgeworfen« (Horkheimer 1943b: 174) wird. Unter der Oberfläche der Gesetzestreue und des Anstandes gebe es auch beim Zivilisierten »ein Ressentiment gegen die Gesetzestreue …, die er fortwährend an den Tag legen muß; das heißt, in ihm lauert eine heimliche Zerstörungswut« (Horkheimer 1943b: 174). »Die Zivilisation, wie wir sie kennen, hat durch ihre eigene Erbarmungslosigkeit genau die Tendenzen entfacht, die sich als ihr feindlich erwiesen.« (Horkheimer 1943b: 174) Es ist dieser neue theoretische und begriffliche Rahmen, der dann auch die Arbeit am Dialektikbuch leitet und dazu führt, dass die Erörterung des Antisemitismus in den Kontext der Dialektik der Aufklärung einbezogen werden kann. Nach dem Ende des Schreckens, des Krieges und der Judenvernichtung kommt ein weiterer Aspekt hinzu, nicht nur der praktischen Aufklärung und Verhinderung einer Wiederholung, sondern der Aspekt des Eingedenkens. Deswegen bleibt die Erfahrung des mörderischen Antisemitismus für das gesamte weitere Denken von Horkheimer und Adorno über den Einschnitt 1945 hinaus zentral. Horkheimer (1949–1969: 417) formuliert in einer Notiz, überschrieben »Nach Auschwitz«, Ende der 1960er Jahre: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Martertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe, daran mitzuwirken, daß das Entsetzliche nicht wiederkehrt und nicht vergessen wird, 214 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Elemente des Antisemitismus und die Dialektik der Aufklärung

die Einheit mit denen, die unter unsagbaren Qualen gestorben sind. Unser Denken, unsere Arbeit gehört ihnen; der Zufall, daß wir entkommen sind, soll die Einheit mit ihnen nicht fraglich, sondern gewisser machen. Was immer wir erfahren, hat unter dem Aspekt des Grauens zu stehen, das uns wie ihnen gegolten hat. Ihr Tod ist die Wahrheit unseres Lebens, ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht auszudrücken, sind wir da.« Und Adorno schreibt in der Negativen Dialektik (1966a: 358): »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« Die Einzelheiten der Veränderungen in der begrifflichen und theoretischen Orientierung, zu denen Adorno und Horkheimer im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem Antisemitismus kommen, werde ich später darlegen. Es wird sich dann zeigen, dass die Behauptung, der Antisemitismus sei nur ein »Vorwand« (DA 197; I: 1), der in der ersten These der Elemente den Liberalen zugeschrieben wird, auch die von Marx her argumentierende Theorie der Gesellschaft trifft, also auch die Autoren der Dialektik der Aufklärung selber, vor allem Horkheimer. So steckt in der Kritik, die Horkheimer und Adorno an der Vorwandthese üben, ein ganzes Stück Selbstkritik. Marxismus und Liberalismus stimmen darin überein, dass sie im Antisemitismus nichts als einen »Vorwand« sehen, ein Mittel, das es zum Beispiel erlaubt, von der Strukturkrise des Kapitalismus abzulenken, ein Mittel, das es erlaubt, die eigentlich längst antiquierte und durch nichts mehr zu begründende Unterdrückung des Proletariats fortzusetzen.

3. »Dialektik« oder »Grenzen« der Aufklärung Es gibt eine weitere Irritation, die mit der Stellung der Elemente in der Dialektik der Aufklärung zusammenhängt. Sie rührt nicht aus der Entstehungsgeschichte und aus der zitierten Einschätzung in der Vorrede her, sondern aus dem Untertitel des Antisemitismuskapitels. Er lautet: »Grenzen der Aufklärung« (DA 197). Grenzen der Aufklärung und Dialektik der Aufklärung – es sind unterschiedliche Akzente, die mit diesen beiden Begriffen gesetzt werden. Die Rede von der Grenze legt ein Verständnis nahe, nach dem der Antisemitismus ein Phänomen ist, das die Aufklärung bislang nicht erfassen und nicht aufhellen konnte, weil sie dessen Triebkräfte noch nicht angemessen verstanden hat. Das schließt aber durchaus die Vorstellung ein, dass diese Grenzen hinausgeschoben werden können und auch der Antisemitismus prinzipiell der rationalen Aufklärung zugänglich ist. Die Rede von der Dialektik der Aufklärung meint dagegen etwas anderes. Ihr zufolge ist es nicht so, dass die Aufklärung noch nicht weit genug vorgestoßen ist, sondern dass eine bereits 215 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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»vollends aufgeklärte Erde« (DA 25), wie es gleich im ersten Satz des ersten Kapitels der Dialektik der Aufklärung heißt, in die Barbarei umschlägt. Dann ist die Aufklärung nicht nur zuständig für die Überwindung des Antisemitismus, sondern sie liegt selber am Grunde dieses Leidens. Von der Dialektik der Aufklärung zu reden, bedeutet die Dialektik von Kultur und Barbarei zu betonen. Als die Bezeichnung »Dialektik der Aufklärung«, die dann später zum Titel des Buches werden sollte, das erste Mal fällt, und zwar ganz beiläufig, in einem Brief von Adorno an Horkheimer vom 10. 11. 1941, unmittelbar vor der Übersiedlung Adornos an die Westküste, wird sie sofort genau in diesen Zusammenhang hineingestellt. »Ich las noch zuletzt das Sadebuch von Gorer, und es sind mir eine Menge Dinge dazu eingefallen, von denen ich glaube, daß wir sie werden brauchen können. Sie betreffen wesentlich die Dialektik der Aufklärung oder die Dialektik von Kultur und Barbarei.« (Adorno/ Horkheimer 2004: 286) Mit der Rede von der Grenze bzw. der Dialektik der Aufklärung hängt die Frage nach der Bedeutung der Theorie für die politische, aufklärerische Praxis eng zusammen. Horkheimer und Adorno haben mit der Erforschung des Antisemitismus immer wieder die Hoffnung des praktischen Eingreifens, der Veränderung verknüpft. Eine Passage von Adorno, aus der das hervorgeht, habe ich oben bereits zitiert. Aus der Feder von Horkheimer gibt es viele ähnliche Äußerungen. Diese Hoffnung auf praktische Wirksamkeit ist eigentlich nur mit der Rede von den Grenzen vereinbar, nicht mit der Behauptung einer Dialektik der Aufklärung, die die Züge des Unausweichlichen in sich trägt. In seinem Vortrag Erziehung nach Auschwitz sagt Adorno (1966: 88): »Wenn im Zivilisationsprozeß selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desparates, dagegen aufzubegehren.« Die Gegenposition dazu formuliert der letzte Satz der Elemente: »Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen.« (DA 238, VII: 6) Ebenfalls ganz und gar nicht desparat klingen auch die Sätze, in denen Horkheimer in seinem Vorwort zur Authoritarian Personality die praktische Wirksamkeit der wissenschaftlichen Erforschung des Antisemitismus betont: »Die Voraussetzungen und Wertentscheidungen der Untersuchung sind ebenso praktisch wie theoretisch. Die Verfasser glauben nicht, daß es ein pädagogisches Patentrezept gibt, mit dem der lange und oft umständliche Weg der gewissenhaften Forschung und theoretischen Analyse zu umgehen wäre. Auch sind sie nicht der Auffassung, daß ein Problem wie die Stellung von Minderheiten in modernen Gesellschaften und insbesondere das Problem des religiösen und des Rassenhasses, sei es mit einer Propaganda für die Toleranz oder durch die apologetische Widerlegung von Fälschungen und Lügen, erfolgreich gelöst werden kann. Andererseits liegt zwischen der theoretischen Forschung und der 216 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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praktischen Anwendung keine unüberbrückbare Kluft. Ganz im Gegenteil: Die Verfasser sind fest davon überzeugt, daß die ernsthafte und systematische wissenschaftliche Aufhellung eines Phänomens von so großer historischer Bedeutung unmittelbar zur Verbesserung der kulturellen Atmosphäre beitragen kann, die von Haß erfüllt ist.« (Horkheimer 1950: 415f) Und als historische Beispiele für die heilsamen Wirkungen der wissenschaftlichen Aufklärung weist Horkheimer auf die Überwindung des Hexenglaubens im 17. und 18. Jahrhundert und auf den Einfluss der Psychoanalyse Freuds auf die moderne Kultur hin. Nach der Rückkehr aus der Emigration zeugen während der 1950er und 1960er Jahre intensive wissenschafts-, universitäts- und bildungspolitische Tätigkeiten von Adorno und Horkheimer davon, dass sie das Vertrauen in die aufklärerische Kraft der Wissenschaft keineswegs aufgegeben haben. Habermas hat deutlich gemacht, dass es in diesem Punkt eine deutliche Divergenz zwischen Adorno und Horkheimer gibt. Horkheimer gehört, plakativ gesprochen, auf die Seite der »Grenzen«, Adorno auf die Seite der »Dialektik« der Aufklärung. Adorno betont das Desparate, Horkheimer behält auch nach der negativistischen Wende der Dialektik der Aufklärung ein viel größeres Zutrauen in die heilenden und aufklärerischen Potentiale des wissenschaftlichen Denkens und Forschens. (Ich komme auf diese Punkte unten im fünften Kapitel, in dem es um die Aporien der Dialektik der Aufklärung geht, und im Epilog ausführlicher zu sprechen.) Der Gegensatz zwischen Grenze und Dialektik zeigt sich im Verhältnis der Kritischen Theorie zu den Einzelwissenschaften und zur empirischen Forschung. Und auch in diesem Punkt nimmt das Antisemitismuskapitel eine Sonderstellung ein. In der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung machen Horkheimer und Adorno aus ihrer Enttäuschung über die einzelwissenschaftliche Forschung keinen Hehl. Es gibt, so erscheint es ihnen, nirgendwo in der Wissenschaftslandschaft einen Anknüpfungspunkt für ihre eigenen theoretischen Bemühungen. Diese Äußerungen stehen in deutlichem Kontrast zu jenem Programm, das Horkheimer in seiner Antrittsrede bei der Übernahme des Direktorpostens des Instituts für Sozialforschung im Jahre 1931 entworfen hatte – dort bestand seine Idealvorstellung in einem interdisziplinären Materialismus, d.h. in dem Versuch, in Anknüpfung an die fortgeschrittenen einzelwissenschaftlichen Untersuchungen die Gesamttendenz der gesellschaftlichen Entwicklungen zu analysieren (vgl. Horkheimer 1931). Die Vorrede zur Dialektik der Aufklärung kommt einem Widerruf dieses gut zehn Jahre zuvor entworfenen Programms gleich. Es ist allerdings zugleich so, dass Horkheimer und Adorno diese Absage an die Leistungen der Einzelwissenschaften gar nicht durchhalten und sie für den Antisemitismus gleichsam wieder zurücknehmen, also gerade für jenes Phänomen, das nach ihren eigenen Äußerungen am deutlichsten den Schrecken der Zeit zum Ausdruck bringt. Kurz nach der Stelle der Vorrede, an der von der philosophischen 217 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Urgeschichte des Antisemitismus die Rede ist, die sie schreiben wollen, heißt es: die »›Elemente‹ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung« (DA 22f). Eigentümlicherweise hat sich Adorno, der von einzelwissenschaftlicher Forschung immer viel weniger erwartet hatte als Horkheimer, an diesen empirischen Studien über den Antisemitismus maßgeblich beteiligt. Den engen Zusammenhang zwischen der Theorie und den empirischen Untersuchungen betont Adorno (1968) nachdrücklich in seinem Rückblick auf Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. In dieser Perspektive erscheinen die Elemente des Antisemitismus als der geschichtsphilosophische und gesellschaftstheoretische Hintergrund zu den empirischen Untersuchungen über das Vorurteil, und diese sind dann ihrerseits der Versuch, »die Theorie in quantitative Untersuchungen umzusetzen« (Schmid Noerr 1987: 436). Entsprechend sind die Forschungsprojekte über den Antisemitismus als »Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung mit anderen Mitteln« bezeichnet worden (Werz 2001: 48) bzw. als der Versuch, »die Thesen der ›Dialektik der Aufklärung‹ empirisch zu bestätigen« (Jäger 2003: 197). Tatsächlich berichtet Adorno in einem Brief an Horkheimer am 9. November 1944 über die Arbeit im Forschungsprojekt: »Eine Anzahl der Fragen habe ich durch eine Art von Übersetzungsarbeit aus den ›Elementen des Antisemitismus‹ ausdestilliert, was mir viel Spaß machte.« (Adorno/Horkheimer 2004: 347) Dennoch kann kein Zweifel daran sein, dass für Adorno die sozialwissenschaftliche und empirische Forschung immer weitaus weniger ertragreich war als die Philosophie. Nicht von den Einzelwissenschaften und empirischer Forschung erwartete er die relevanten Einsichten in die Signatur des Zeitalters, sondern von der Philosophie und den Werken der Kunst. Die einzelwissenschaftlichen Forschungen, an die Horkheimer und Adorno anknüpfen und die sie selber in den 1940er Jahren betreiben, stammen insbesondere aus dem Gebiet der Psychologie. Man kann das zum Teil auf ein Versteckspiel gegenüber dem potentiellen Geldgeber zurückführen. Da Horkheimer und Adorno nicht so recht daran glaubten, dass das American Jewish Committee die theoretische Arbeit, die sie im Sinne hatten, fördern würde, verfolgten sie ihre Interessen unter dem Deckmantel einer psychologisch ausgerichteten Forschung. Aber das erklärt nicht alles. Zum einen reichte das Interesse von Horkheimer an der Erklärungskraft der Psychologie weit zurück in seine Anfangszeit am Institut für Sozialforschung (vgl. Horkheimer 1932). Zum zweiten war die Psychoanalyse Freuds für Horkheimer und Adorno stets von ganz besonderem Interesse, und das galt sowohl für die zivilisationstheoretischen Spekulationen Freuds wie für seine auf den Einzelnen ausgerichtete Triebtheorie. Zum dritten beteiligte sich Adorno mit großer Intensität an der psychologischen Erforschung des Antisemitismus – davon gibt die unter seiner maßgeblichen Beteiligung entstandene Studie 218 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Authoritarian Personality ein eindrucksvolles Zeugnis. Darüber hinaus wissen wir, dass sich Adorno und Horkheimer stets über den neuesten Stand der einzelwissenschaftlichen Forschungen auf dem laufenden hielten, z.B. im Bereich der Kulturanthropologie, mit deren bekanntester Vertreterin Margaret Mead das Institut für Sozialforschung auch in persönlichem Kontakt stand (vgl. Wiggershaus 1986: 398f). Aber ich will hier den Gründen für dieses widersprüchliche Verhältnis zu den Einzelwissenschaften und für die Selbsttäuschung von Horkheimer und Adorno nicht weiter nachgehen. Es soll der Hinweis genügen, dass auch in den empirischen Forschungen des Instituts über den Antisemitismus, die später in der fünfbändigen Publikationsreihe Studies in Prejudice (1949/1950) publiziert wurden, durchgehend eine andere Haltung zu den Möglichkeiten praktischer Veränderung durch Aufklärung eingenommen wurde als das in der Dialektik der Aufklärung der Fall war.

219 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Kritische Theorie des Antisemitismus 1. Die funktionalistische Deutung und ihre Aporien Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus führt Horkheimer und Adorno zu einer weitreichenden Neubestimmung der Kritischen Theorie. Diese Neubestimmung betrifft keine Marginalien, sondern die grundlegenden theoretischen Annahmen. Mit welchen Umwegen und Zögerlichkeiten der Antisemitismus überhaupt erst in den Denkhorizont von Horkheimer und Adorno eingetreten ist und dann als »Schicksalsfrage der Menschheit« ernst genommen wurde, habe ich im ersten Kapitel bereits deutlich gemacht. In diesem Kapitel zeichne ich jetzt nach, wie sich mit den Elementen des Antisemitismus die Koordinaten der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer dramatisch verändern und neu ausgerichtet werden. Sehr allgemein gesagt, geht es um die Frage, in welcher Theoriesprache der Antisemitismus interpretiert und gedeutet werden kann. Dass die Kritische Theorie mit der Dialektik der Aufklärung eine neue Gestalt angenommen hat, ist unbestritten. Meine These ist, dass es die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist, die zu dieser Neuorientierung geführt hat. Der totalitäre Antisemitismus, das ist der springende Punkt, lässt sich mit den bis dahin von Adorno und Horkheimer als gültig betrachteten Annahmen und Konzepten nicht zureichend erklären. In den Kommentaren zur zweiten These habe ich bereits deutlich gemacht, dass die Kategorien der marxschen Kritik der politischen Ökonomie nach Adorno und Horkheimer (und Löwenthal) für die Analyse des Antisemitismus nicht ausreichen. Die Position, die die Elemente einnehmen, steht am Ende eines vielschichtigen und komplizierten Denkwegs, in dem vor allem Horkheimer lange am Primat der ökonomischen Erklärung des Antisemitismus festhielt. Noch Anfang der 1940er Jahre war Horkheimer davon überzeugt, dass sich die jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen mit dem Rückgang auf die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus plausibel erklären lassen. Am deutlichsten kommt diese Position in Die Juden und Europa zum Ausdruck, einem Aufsatz, den Horkheimer 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierte und an dem Adorno, wie er selbst an Walter Benjamin schrieb, »aufs intensivste mitgearbeitet« hat (Adorno/Benjamin 1994: 408). Die gleiche theoretische Haltung bestimmte auch noch ohne jeden Vorbehalt die beiden Beiträge, in denen Horkheimer in den Jahren 1940 und 1941, ebenfalls in der Zeitschrift für Sozialforschung, die Forschungen und Überlegungen des Instituts zur Faschismustheorie und zur Erforschung des Antisemitismus vorstellte. Horkheimer erklärt die Verfolgung der Juden damit, 220 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kritische Theorie des Antisemitismus

dass die fortschreitende Entwicklung des Kapitals die Sphäre der Zirkulation obsolet gemacht hat. Dadurch werden die Juden, die traditionell in dieser Sphäre tätig waren, ökonomisch überflüssig und deswegen zum Freiwild, das beliebig verjagt und verfolgt werden kann. Die Elemente des Antisemitismus geben diese Erklärung nicht vollständig auf, aber sie stellen dann doch ganz anders gelagerte Deutungen in den Vordergrund. Ins Zentrum rücken nun Überlegungen, die mit zivilisations- und vernunftkritischen Argumenten arbeiten. Es spricht einiges für die Annahme, dass Adorno bei dieser Veränderung die treibende Kraft gewesen ist. In Die Juden und Europa trägt Horkheimer im Kern drei Behauptungen vor. (1) Der Antisemitismus lässt sich problemlos auf ökonomische und politische Ursachen zurückführen, und die Begriffe der marxschen Theorie liefern dafür das angemessene und hinlängliche Vokabular. (2) Jegliches Lamentieren der Juden, die jetzt zum Opfer der Ordnung geworden sind, der sie selber einst anhingen, ist unangebracht. Diese Haltung Horkheimers drückt sich nicht nur in den Argumenten aus, die er expressis verbis vorträgt, sondern vor allem im Ton, in der eigentümlichen »Häme«, die zu recht an diesem Text bemerkt worden ist (Diner 1988: 34). Der Aufsatz liefert mithin nicht nur eine Abrechnung mit dem Kapitalismus, sondern auch eine Abrechnung mit den Juden, die ein angemessenes Verständnis ihrer Lage vermissen lassen und dem Kapitalismus in seinem liberalen Stadium, in dem sie selber zu den Privilegierten gehörten, nachtrauern. (3) Die totalitäre Ordnung ist der Erbe der liberalen Ordnung. Beide Ordnungen sind im Grunde ein und das gleiche, oder, wie Horkheimer (1939: 309) sagt, die totalitäre Ordnung ist die »Wahrheit« der liberalen Ordnung. Diese Behauptung ist, wie wir bereits gesehen haben, in die erste These der Elemente eingegangen. (1) Die Feststellung, dass man den Antisemitismus im Rekurs auf die ökonomischen Entwicklungen zureichend erklären kann, ist gleich zu Beginn des Aufsatzes in drei zentralen Sätzen festgehalten, die dann in unterschiedlichen Varianten immer wiederholt werden. Der erste Satz des Aufsatzes lautet: »Wer den Antisemitismus erklären will, muß den Nationalsozialismus meinen.« (Horkheimer 1939: 308) Diese Aussage muss man mit dem zweiten Satz des zweiten Absatzes ergänzen, der berühmten Sentenz, die zur Zeit der 1968er Bewegung so gern zitiert bzw. skandiert wurde: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« (Horkheimer 1939: 308f) Daraus folgt, dass zur Erklärung des Antisemitismus die jüngsten Wandlungen des Kapitalismus erörtert werden müssen: »Es bedarf des Rückgangs auf die Tendenzen des Kapitals« (Horkheimer 1939: 308) – wofür wiederum die Prämissen und Begriffe der Kapitalismusanalyse von Marx vollständig ausreichen. Die ökonomische Analyse, die Horkheimer vertritt, läuft im Kern auf die Aussage hinaus, dass der Kapitalismus in eine neue Phase seiner 221 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Entwicklung eingetreten und die Sphäre des freien Marktes zugunsten staatlicher Planung und dirigistischer Eingriffe von außen liquidiert worden ist. Diese Behauptung ist das Resultat einer intensiven und sehr kontroversen Diskussion im Institut für Sozialforschung, in der sich Horkheimer und Adorno auf die Seite der ökonomischen Analysen von Friedrich Pollock schlagen (vgl. Gangl 1987: 201ff). Es fällt auf, dass in den Diskussionen des Instituts über den Nationalsozialismus die Frage nach dem Antisemitismus zunächst kaum eine Rolle spielt. Nur Horkheimer stellt diese Verbindung her und verknüpft in einem verblüffenden Kurzschluss die ökonomische Analyse mit der Verfolgung der Juden. Der Argumentationsgang ist auf den ersten Blick bestechend: Wenn die Sphäre der Zirkulation ihre ökonomische Bedeutung verliert, tritt die gesamte Gesellschaft in eine neue Epoche ein. Die Eigenständigkeit der Zirkulationssphäre ist Horkheimer zufolge der Garant für die relative Vernünftigkeit und Fortschrittlichkeit des liberalen Kapitalismus gewesen. Solange die Zirkulation ihre Eigenständigkeit behauptete, wurden die Prozesse der Akkumulation und Ausbeutung dadurch gebändigt, dass die erzeugten Produkte auf dem Markt an die Käufer gebracht werden mussten und der Kapitalismus damit insgesamt, »wenn auch blind« (Horkheimer 1939: 315), an die Befriedigung realer Bedürfnisse gebunden blieb. Schrumpfen und Wachstum des Geldkapitals waren ein Indikator dafür, in welchem Umfang die Produktion für die bestehende Gesellschaft von Nutzen war. Diese Bindung der kapitalistischen Akkumulation an die Befriedigung realer Bedürfnisse wird nun durch die Ausschaltung des Marktes über Bord geworfen. Die »herrschenden ökonomischen Gruppen« (Horkheimer 1939: 325) sind nach Horkheimers Behauptung dazu übergegangen, auf direktem Wege »über Wohlsein und Elend, Hunger und Macht« (Horkheimer 1939: 325) zu entscheiden und ihre Urteile darüber, »wie jeder leben darf« (Horkheimer 1939: 325), ohne jede Rücksicht und in grenzenloser Allmacht zu fällen. Das neue Stadium des Kapitalismus erlaubt es den Mächtigen, Positionen und Geldmengen nach eigenem Gutdünken und vollkommen frei zu verteilen. Während der Mechanismus des Marktes anonym seine Funktion erfüllte, von den konkreten Personen abstrahierte und sie nur als Besitzer einer Ware bzw. als Geldbesitzer kannte, können nun bestimmte Gruppen namhaft gemacht und auf direktem Wege von der Teilnahme an der Geld- und Warenzirkulation ausgeschlossen und dem Untergang geweiht werden. Wir haben es nach Horkheimer mit einer gravierenden Veränderung in der Struktur der Herrschaftsausübung zu tun. Im liberalen Kapitalismus war Herrschaft an den Markt und an Rechtsförmigkeit gebunden. Nach einem »hundertjährigen Zwischenspiel des Liberalismus« (Horkheimer 1939: 315) ist die Herrschaft nun jedoch wieder unmittelbar und willkürlich geworden, und die Herrschenden müssen nicht länger 222 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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bei ihren Entscheidungen die selbständige Dynamik der Ökonomie berücksichtigen: »Die Ausbeutung reproduziert sich nicht mehr planlos über den Markt, sondern in der bewußten Ausübung der Herrschaft. … Die Ökonomie hat keine selbständige Dynamik mehr. Sie verliert ihre Macht an die ökonomisch Mächtigen.« (Horkheimer 1939: 316) Damit wird Herrschaft nun auf direktem und unmittelbarem Wege ausgeübt, und ihr wesentliches Mittel wird wieder, wie in allen Epochen der Geschichte zuvor, die Gewalt. Die faschistischen Parteiapparate haben das Kommando übernommen und den Staat zum Instrument ihrer ­Interessen gemacht. »Der Begriff des Staates verliert vollends seinen Widerspruch zum Begriff einer herrschenden Partikularität, er ist der Apparat der koalierten Führer, ein privates Machtwerkzeug, und dies je mehr er sich verselbständigt, je mehr er vergottet wird.« (Horkheimer 1939: 319) Herrschaft wird unmittelbar – das heißt zugleich: Es ist die Wiederkehr des Terrors als Herrschaftsmittel, also der nackten Gewalt, die mit der liberalen Ära vorübergehend in den Hintergrund getreten war. Damit ist der Freiraum, in dem sich die Menschen unabhängig von Willkür und direkter Kon­trolle entfalten konnten, zunichte gemacht worden. »Die Existenz der Individuen wird im zwanzigsten Jahrhundert wieder bis in alle Einzelheiten kontrolliert.« (Horkheimer 1939: 315) Das bedeutet nicht, dass die Herrschenden mit einer Stimme sprechen. Hinter der Übereinstimmung und Einheit, die die Faschisten nach außen an den Tag legen, tobt Horkheimer (1939: 319) zufolge »ein Chaos von Gangsterkämpfen«. Und nur weil die Angst vor den Massen sie immer wieder zusammenbringt, »lassen sich die Unterführer schließlich vom Mächtigsten integrieren und notfalls massakrieren« (Horkheimer 1939: 320). Die Herrschaft nimmt im Faschismus die Züge der Mafia an und ähnelt dem Unwesen der Organisationen von Gangstern und Ganoven. Horkheimer und Adorno sprechen in anderen Texten dieser Zeit und auch in den Elementen davon, dass Gangs und Rackets die Herrschaft übernommen haben (vgl. DA 200, II: 2; DA 227, VI: 9). Darauf bin ich im Kommentar zur zweiten These bereits eingegangen. Durch die Abschaffung der Zirkulation wird die Herrschaft nicht nur wieder unmittelbar und gewaltsam – es kommt hinzu, dass sie fortan auch nicht mehr durch ökonomische Einbrüche in Frage gestellt wird. Im Antagonismus zwischen Produktion und Zirkulation liegt nach Marx der Grund für die Krisen, die den Kapitalismus mit der Gewalt eines Naturgesetzes in regelmäßigen Abständen heimsuchen, seine Begrenztheit und Unzulänglichkeit für jedermann sinnfällig unter Beweis stellen und am Ende seinen Kollaps herbeiführen. Wenn der Kapitalismus in der Lage ist, seine Krisenanfälligkeit unter Kontrolle zu bekommen, steht ihm dagegen eine unabsehbare Dauer bevor. »Die totalitäre Gesellschaft hat ökonomische Chancen auf lange Sicht. Zusammenbrüche stehen nicht in naher Aussicht. … Für den Faschismus als Weltsystem wäre 223 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ökonomisch kein Ende abzusehen.« (Horkheimer 1939: 315f) Mit dieser Behauptung wird die revolutionäre Pointe des Historischen Materialismus für antiquiert erklärt. Sie bildet den Hintergrund für die tiefe Verzweiflung, die Horkheimers Text bestimmt. Es ist die düstere Aussicht, dass der totalitäre Schrecken kein Ende nimmt. Aber auf diesen Aspekt und seine Konsequenzen kommt es an dieser Stelle nicht an – ich werde ihn später noch einmal aufgreifen. Hier geht es vielmehr um die Frage, was die ökonomischen Entwicklungen mit dem Antisemitismus zu tun haben, wie sie mit ihm zusammenpassen. Horkheimer sieht diese Verbindung auf direktem und unmittelbarem Wege gegeben. Die Zirkulation, deren Abschaffung auf der kapitalistischen Tagesordnung steht, war für die Juden der bevorzugte Ort ihrer ökonomischen Tätigkeit. Und weil die Juden die Zirkulationsagenten par excellence waren, haben sie nun »nichts mehr vor sich« (Horkheimer 1939: 328) – sie sind überflüssig geworden. Da sie wegen der Abschaffung der Zirkulationssphäre ökonomisch keinerlei Nutzen mehr erfüllen, hat die Gesellschaft fortan für sie keine Verwendung, und sie können getrost ihrem Schicksal überlassen werden. Zugleich ist es so, dass nach Horkheimer die Sphäre der Zirkulation »das Fundament der bürgerlichen Demokratie« und der Allgemeinheit des Rechts war (Horkheimer 1939: 325). Das wird auch von Marx so gesehen, für den der freie Markt das Eden der angeborenen Menschenrechte ist, weil sich Käufer und Verkäufer hier als freie und gleiche anerkennen müssen, während die Produktionssphäre von Ausbeutung und Herrschaft, Über- und Unterordnung bestimmt ist. Nach Horkheimer ist die freie Konkurrenz wirtschaftlich selbständiger Bürger, wie sie für den liberalen Kapitalismus typisch war, die Bedingung für die Entfaltung von Nachdenklichkeit, Geist und Individualität. Der Übergang in die totalitäre Ordnung hat alle diese Elemente zerstört und zur Illusion gemacht. Da mit der Zirkulation also zugleich die Demokratie und die Bindung an die Allgemeinheit des Rechts obsolet geworden sind, können die Mächtigen nun mit den Juden nach ihrem eigenen Gutdünken verfahren. »Im Führerstaat werden die, die leben und die sterben sollen, vorsätzlich designiert. Die Juden sind als Agenten der Zirkulation entmachtet, weil die moderne Struktur der Wirtschaft die ganze Sphäre weithin außer Kurs setzt. Sie werden als erste Opfer vom Diktat der Herrschaft getroffen, das die ausgefallene Funktion übernimmt. Die staatliche Manipulierung des Geldes, die ohnehin den Raub als notwendige Folge hat, schlägt in die brutale Manipulation seiner Repräsentanten um.« (Horkheimer 1939: 325f) So kann in den Augen Horkheimers die Verfolgung der Juden perfekt mit der jüngsten ökonomischen Entwicklung erklärt werden. Horkheimer zeigt sich in diesen Überlegungen als treuer Anhänger einer Variante des Historischen Materialismus, die mit einer simplen und 224 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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reduktionistischen Basis-Überbau-Mechanik operiert. Im Kern geht alles auf ökonomische Funktionen und Zwänge zurück, sowohl die bürgerliche Emanzipation der Juden in der liberalen Ära des Kapitalismus wie ihre Verfolgung im Übergang zur monopolistischen und staatskapitalistischen Phase. Die Emanzipation der Juden kam nur deswegen zustande, weil sie als Pioniere und Wegbereiter des Kapitalismus und der modernen Gesellschaft gebraucht wurden und in der Sphäre der Zirkulation als Kreditgeber eine unverzichtbare Rolle spielten. Da die Juden ihre ökonomische Schuldigkeit nun jedoch getan haben, sind sie überflüssig und funktionslos geworden und können wieder in den Status von Minderwertigen zurückgestuft werden. Und da schließlich auf Seiten der Mächtigen durch den gleichen ökonomischen Prozess, in dem die Juden überflüssig werden, jegliche Bindung an rechtliche Gesichtspunkte und Prinzipien unnötig geworden ist, sehen sich die Antisemiten keinerlei Beschränkungen mehr unterworfen. Die Erklärung ist auf den ersten Blick von bestechender Einfachheit. Aber sie ist zugleich kurzsichtig und wenig stichhaltig. Gershom Scholem hat kurz nach Erscheinen des Textes in einem Brief an Walter Benjamin im Februar 1940 in schonungsloser Offenheit auf die Fragwürdigkeit des Essays hingewiesen, während sich Benjamin offenbar Adorno gegenüber sehr positiv geäußert hat (vgl. Adorno/Benjamin 1994: 420). Scholem schreibt in seinem Brief über Horkheimers Aufsatz: »Der Mann erklärt gar nichts – außer einer Banalität, die in jeder jüdischen Provinzzeitung für den kleinen Mann seit Jahren zu lesen war, nämlich daß den Juden im totalitären Staat die bisherigen ökonomischen Grundlagen ihrer Existenz entzogen werden. … Juden sind ihm nicht als Juden, sondern nur unter dem Gesichtspunkt des Schicksals der ökonomischen Kategorie interessant, die sie für ihn repräsentieren – als ›Agenten der Zirkulation‹.« (Benjamin/Scholem 1980: 319) Wenn alle Personengruppen, die im Kapitalismus keine aktive Rolle spielen, der Vernichtung anheimgegeben werden, dann müsste dieses Schicksal auch die arbeitsunfähigen Alten und Kranken einer Gesellschaft ereilen. Es ist aber ganz offensichtlich so, dass das Denken in den Figuren von Rasse und Volksgemeinschaft, das die Nazis an den Tag legen, nicht mit der Rolle deckungsgleich ist, die einzelne Personengruppen in der kapitalistischen Produktion spielen. Zum andern ist die pauschale Behauptung von der Liquidation der Zirkulation empirisch kaum zu halten. Franz Neumann, der in den schon angesprochenen Diskussionen im Institut für Sozialforschung der Wortführer der Gruppe war, die sich gegen die Staatskapitalismus-Behauptung stellte, hat in seinem Behemoth mit einer Fülle von empirischem Material auf überzeugende Weise dieser Annahme und den anderen Annahmen seiner Antipoden widersprochen. Die totalitäre Ordnung, so zeigt er, hat die Widersprüche des Kapitalismus keineswegs beseitigt, sondern allenfalls bewirkt, dass sie in 225 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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neue Formen transformiert wurden. Das gilt auch für den Marktmechanismus, der so wenig einfach abgeschafft wurde wie das Finanzkapital (vgl. Neumann 1942: 360ff). Die Sphäre der Zirkulation existierte auch unter dem Nationalsozialismus weiter, sie wurde nicht ersatzlos gestrichen. Zwar wurden die Juden aus der Sphäre der Zirkulation entfernt und die jüdischen Banken »arisiert«, aber die Zirkulation selber hatte durchaus weiterhin Bestand. Es kann somit keine Rede davon sein, dass der Kapitalismus die Zirkulation als überflüssige Sphäre abschafft und darin die Ursache für die Verfolgung der Juden liegt. Freilich ist die Sache damit im Blick auf den Antisemitismus nicht erledigt. Zwar behält Neumann in seinen ökonomischen Überlegungen gegen Horkheimer recht, zugleich und paradoxerweise aber ist es so, dass Horkheimer mit der Bedeutung, die er dem Antisemitismus beilegt, am Ende der Wirklichkeit der totalitären Ordnung viel näher kommt als Neumann. Für Neumann ist eine eigenständige Bedeutung des Antisemitismus und die Ausrottung der Juden expressis verbis nicht vorstellbar. Er ist der Auffassung, dass die faschistische Volksgemeinschaft die Juden aus politischen Gründen benötigt, weil sie sich nur durch die aggressive Abgrenzung gegen sie als Volksgemeinschaft überhaupt verstehen und entwerfen kann. »Dieser innenpolitische Wert des Antisemitismus läßt deshalb eine völlige Vernichtung der Juden niemals zu. Der Feind kann und darf nicht verschwinden; er muß ständig als Sündenbock für alle aus dem soziopolitischen System hervorgehenden Übel bereitstehen.« (Neumann 1942: 163) So hat Neumann recht in Bezug auf die ökonomische Diagnose, aber unrecht, wenn es darum geht, die Irrationalität und den Wahn des Nationalsozialismus, wie er im Antisemitismus zum Ausdruck kommt, in den Blick zu nehmen. Umgekehrt ist es bei Horkheimer: Die ökonomischen Diagnosen, mit denen er operiert, sind höchst fragwürdig – das gilt auch für die Behauptung von der Liquidation der Zirkulation. Aber immerhin eröffnen sie den Weg, auf dem das Schicksal der Juden dann nach und nach angemessener in den Blick genommen werden kann. (2) Horkheimer ist von der Plausibilität seiner ökonomischen und historischen Erklärung so überzeugt, dass er jede andere Haltung mit Hohn und Spott übergießt. Das gilt insbesondere für die Juden selber. Ihnen hält er vor, dass sie sich immer noch Illusionen über die wahre Natur des Kapitalismus hingeben, seiner liberalen Phase nachtrauern und sie mit dem Wesen des Kapitalismus verwechseln. Für Horkheimer ist diese Haltung vollkommen illusionär und kurzsichtig. Er sieht sie vor allem dadurch geprägt, dass sie überhaupt nicht verstanden hat, worin die Logik der bürgerlichen Gesellschaft besteht. Die Juden »weinen der Vergangenheit viele Tränen nach. Daß es ihnen im Liberalismus besser ging, verbürgt nicht seine Gerechtigkeit. … Nicht die Ideen, sondern der Nutzen bestimmt das Bürgertum.« (Horkheimer 1939: 323) Und deswegen ist es nach Horkheimer ganz einfach: Der Kapitalismus bedient 226 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sich des Liberalismus, solange dieser seinen Zwecken nützlich ist, wenn das nicht mehr der Fall ist, lässt er den Liberalismus fallen. Und der Kapitalismus bedient sich der Juden, solange sie ihm den Weg bereiten und seinen Zwecken nützlich sind, wenn das nicht mehr der Fall ist, werden sie aussortiert und zur Vernichtung freigegeben. Horkheimer empört sich über die Verstocktheit und Scheinheiligkeit der Juden. Die Juden sind selber diejenigen gewesen, die über eine längere Phase der Geschichte als die Protagonisten jener Logik in Erscheinung getreten sind, von der sie nun begraben werden. Solange sie vom Kapitalismus profitierten, hatten sie mit dem unmenschlichen Charakter dieses Systems kein Problem. Jetzt werden sie von den Rädern zermalmt, die sie vorher selber in Schwung gesetzt haben. Sie haben sich, ohne es zu wissen und zu wollen, ihr eigenes Grab geschaufelt und sollten sich nun über ihr Los nicht beschweren. Sie haben selber ihre Abschaffung und Unterdrückung vorbereitet, indem sie an herausragenden Stellen als Vorreiter jener Logik tätig waren, die sie dann als überflüssig aus dem Kreislauf des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens ausscheidet. Auch und gerade die Juden haben die Welt vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihres ökonomischen Nutzens betrachtet. Überall da, wo es einen Widerstreit zwischen Nutzen und Idealen gab, haben sie sich auf die Seite des Nutzens geschlagen. Sie werden jetzt von den Prinzipien, die sie selber verfochten haben, eingeholt und zum Opfer gemacht. »Wer … an einer beschränkten menschlichen Ordnung teilhat, darf sich nicht wundern, wenn er gelegentlich selbst unter die Beschränkungen fällt.« (Horkheimer 1939: 329) Eigentlich haben die Juden gar keinen Grund, sich über ihr Los zu beklagen – sie haben es sich im Grunde selber zuzuschreiben. »Vernünftigkeit, die den spezifischen Verwertungsbedingungen auf der je erreichten Stufe zuwiderläuft, hat auch der jüdische Unternehmer für verstiegen oder subversiv gehalten. Diese Art von Rationalität wendet sich jetzt gegen ihn. Der Wirklichkeit, in der die Juden groß geworden sind, war eine natürliche Moral immanent, nach der sie jetzt zu leicht befunden werden, die Moral der ökonomischen Macht. Dieselbe Rationalität, nach der unterlegene Konkurrenten schon immer ins Proletariat versanken und um ihr Leben betrogen waren, … hat jetzt auch den Juden das Urteil gesprochen. … Das Resultat ist für die Juden schlecht. Sie kommen unter die Räder. Andere als sie sind heute die Tüchtigsten: die Führer der neuen Ordnung in Wirtschaft und Staat. Dieselbe ökonomische Notwendigkeit, die irrational das Heer der Arbeitslosen schuf, hat sich jetzt in Gestalt wohl abgewogener Verordnungen gegen ganze Minderheiten gewandt.« (Horkheimer 1939: 324f) Der hämische Ton dieser Passagen ist nicht zu überhören. Horkheimer spricht hier nicht aus der Position eines Beteiligten, sondern eines Beobachters, der alles immer schon besser weiß und durch die Entwicklungen selber gar nicht tangiert ist. Diese Haltung ist nicht sehr weit vom 227 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Einverständnis mit dem Schicksal entfernt, das die Juden ereilt hat, nicht weit entfernt von der Haltung, dass es den Juden recht geschieht, wenn sie, die vorher die Nutznießer waren, jetzt die Leidtragenden sind. Fast könnte man sagen, dass Horkheimer den Faschismus begrüßt, weil der nun endlich schafft, was die Theorie nicht vermocht hat, nämlich mit den Illusionen über die bürgerliche Gesellschaft gründlich aufzuräumen. In dieser Haltung Horkheimers klingt eine ungute Genugtuung mit, eine Geste, die sagt: Wir haben es immer gewusst und gesagt, aber Ihr habt es nicht glauben wollen, nun seht Ihr es endlich und nun bekommt Ihr die Quittung für Eure Naivität und Blindheit: »Wenn die Juden die Vorgeschichte des totalitären Staats, Monopolkapitalismus und Weimarer Republik, in verständlichem Heimweh verklären, so behalten die Faschisten gegen sie recht. Sie haben stets ein offenes Auge für die Hinfälligkeit jener Zustände gehabt. Die Milde gegenüber den Schäden der bürgerlichen Demokratie, das Liebäugeln mit den Mächten der Reaktion, soweit sie nur nicht zu offen antisemitisch war, das sich Einrichten im Bestehenden ist schon damals die Schuld der heutigen Refugiés gewesen. Das deutsche Volk, das den Führerglauben krampfhaft zur Schau stellt, hat ihn heute schon besser durchschaut als jene, die Hitler einen Irren nennen und Bismarck einen Genius.« (Horkheimer 1939: 330) Aber ich lasse diesen Ton und die darin ausgedrückte Haltung auf sich beruhen. Eine ausführlichere Würdigung des Aufsatzes Die Juden und Europa, den Horkheimer in den ersten Septembertagen 1939 verfasst hat, müsste berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt seiner Entstehung die Entscheidung über die Vernichtung der europäischen Juden noch nicht getroffen und die Vernichtungsmaschinerie noch nicht in Gang gesetzt worden war. Der Aufsatz reagiert also nicht auf die Shoah, und deswegen ist es ganz unangemessen, ihm den Vorwurf zu machen, er habe die Massenvernichtung der Juden nicht im Blick und nicht vorhergesehen (vgl. Diner 1988: 33). Der Aufsatz reagiert auf die bedrückende Erkenntnis, dass der Faschismus unabsehbar lange existieren und sich über die ganze Welt ausdehnen könnte, weil es ihm gelungen ist, die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus außer Kraft zu setzen. Und der Aufsatz ist »eher ein politischer Essay denn ein theoretischer Text« (Dubiel/Söllner 1981: 13). Ich wende mich noch einmal dem Sachgehalt des Aufsatzes zu. Horkheimer scheint in diesem Text den Antisemitismus mit der Realgeschichte des Judentums in Verbindung zu bringen. Der ökonomischen Rolle und Funktion der Juden in der Zirkulation wird die Bedeutung einer Schlüsselrolle für die Erklärung der grassierenden Judenfeindschaft zugesprochen. Genaueres Hinsehen macht freilich deutlich, dass das nur in einem sehr eingeschränkten Sinn der Fall ist. Beim Hinweis auf die Rolle der Zirkulation geht es ja nicht um reale Charakterzüge und Verhaltensweisen der Juden, sondern um eine bestimmte Funktion, die die Juden im kapitalistischen System spielen. Der Antisemitismus wird damit nicht in 228 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Beziehung zu jüdischen Verhaltensweisen oder zur jüdischen Religion gesetzt, sondern nur zur ökonomischen Funktion der Juden. Alles andere spielt in diesem Erklärungsansatz keine Rolle. Daraus folgt zugleich, dass sich die Juden in diesem Erklärungsversuch von anderen Minderheiten oder Gruppierungen der Gesellschaft nur durch die spezifische Rolle unterscheiden, die sie im ökonomischen Prozess spielen. Das Los, das die Juden trifft, könnte mithin auch jede andere Gruppe treffen, für die das ökonomische System keine Verwendung mehr hat, es könnte generell alle Verlierer, Unterlegenen und Überflüssigen treffen. Die Repressionslogik wäre immer die gleiche: Die »Objekte des sozialen Unrechts« (Horkheimer 1939: 326) werden nachträglich noch einmal erniedrigt, indem vorgeblich rationale Gründe für ihre Unterdrückung und Verfolgung geltend gemacht werden. So zu verfahren, gehört nach Horkheimer »zu jeder antagonistischen Gesellschaft« (Horkheimer 1939: 326). Die ökonomischen Urteile werden nachträglich rationalisiert, d.h. mit Begründungen versehen, die nichts mit der Ökonomie zu tun haben sollen, sondern angeblich aus vernünftigen Überlegungen hervorgehen. Und der Antisemitismus ist in den Augen Horkheimers nichts anderes als die Rationalisierung der Beseitigung des jüdischen Handels durch den Staatskapitalismus, der dazu übergegangen ist, die Sphäre der Zirkulation als ineffizient und überflüssig abzuschaffen. (3) Horkheimers Enttäuschung und seine ohnmächtige Empörung über die Entwicklung des Kapitalismus und über das Los und das Verhalten der Juden sind grenzenlos. Niemand will in seinen Augen die deprimierende Realität wahrhaben, gerade und besonders unter den vertriebenen Intellektuellen, die nicht nur ihres Bürgerrechts, sondern offenbar »auch des Verstandes beraubt« worden seien (Horkheimer 1939: 308). Sie preisen genau jene liberale Gesellschaft, die in Wirklichkeit nur den Faschismus vorbereitete, und sie verleugnen die Theorie, nämlich die marxistische, die immer schon wusste, dass die liberale Gesellschaft auf Gewalt gebaut ist und den Übergang in die totalitäre Ordnung als Möglichkeit stets in sich enthielt. Die Juden, meint Horkheimer, sehen nicht, dass der Liberalismus im Kern nur die Vorstufe der totalitären Ordnung, dass die totalitäre Ordnung von Anfang an im Liberalismus angelegt ist. Es gibt keinen Abgrund zwischen ihnen, sondern einen gradlinigen Übergang. Die totalitäre Ordnung bricht nicht mit der liberalen Ordnung, sondern geht aus ihr hervor. Und zwar nicht in einem bloß zeitlich gemeinten Sinn, dass in der Chronologie der Ereignisse die totalitäre Ordnung die liberale ablöst und auf sie folgt, sondern in einem inhaltlich gemeinten Sinn. Die Übereinstimmungen zwischen totalitärer und liberaler Ordnung sind weitaus größer als die Unterschiede. Beide gehorchen der Logik des Funktionalismus und des ökonomischen Nutzenkalküls, das sich immer auf die Seite der Sieger schlägt, weil es sich 229 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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andere Kriterien der Beurteilung historischer Entwicklungen und Ideen gar nicht vorstellen kann. Das ist der Grund ihrer Übereinstimmung und zugleich der Grund der Hilflosigkeit, mit der die Liberalen der Heraufkunft der totalitären Ordnung gegenüberstehen. Für Horkheimer (1939: 324) gibt es keinen Zweifel: »Die Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, trug von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich.« Im Grunde war die Freiheit, die sich die Liberalen auf ihre Fahnen schrieben, immer nur ein Mittel im Reich der Herrschaft ökonomischer Zwecke, nie ein Zweck, der der Herrschaft selber ein für alle Mal ein Ende zu setzen hätte: »Politische Freiheit für jedermann, die Gleichberechtigung der Juden und alle humanen Institutionen wurden als Mittel akzeptiert, um den Reichtum ausgiebig zu verwerten. Die demokratischen Einrichtungen förderten das Angebot billiger Arbeitskräfte, die Möglichkeit, sicher zu kalkulieren, die Ausbreitung freien Verkehrs. Mit der Änderung der Verhältnisse verlieren die Einrichtungen den utilitären Charakter, dem sie ihr Dasein verdanken.« (Horkheimer 1939: 324) So reduzieren sich die liberalen Errungenschaften und damit auch die Judenemanzipation in den Augen Horkheimers auf die Rolle, die sie bei der Optimierung der ökonomischen Entwicklungen gespielt haben. Das bedeutet immer und zugleich, dass sie abgeschafft werden, wenn sie ihre Funktion eingebüßt haben. Die politische Emanzipation der Juden folgt nur aus den Imperativen der Ökonomie. Sie ist die abhängige Variable. Wenn die Juden ökonomisch nicht mehr gebraucht werden, ist es mit der Emanzipation vorbei. Auch die Entwicklung vom relativ freien Kapitalismus der liberalen Ära zum Monopol- und Staatskapitalismus folgt ganz der Linie ökonomischer Funktionalität. Hinter ihr steht die Logik des Darwinismus: Die Starken setzen sich durch, die Schwachen verschwinden, es gibt Gewinner und Verlierer, die Gewinner haben das Recht auf ihrer Seite, die Verlierer haben keine Existenzberechtigung mehr. »Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des neunzehnten Jahrhunderts sich berufen, heißt an die Instanz appellieren, durch die er gesiegt hat. Die Parole ›freie Bahn dem Tüchtigen‹ kann der Sieger für sich in Anspruch nehmen. Er hat den nationalen Konkurrenzkampf so gut bestanden, daß er ihn abschaffen kann.« (Horkheimer 1939: 327) Und: »Wer in dieser Wirtschaft unterliegt, darf von denen, die zu ihr beten, in der Regel nichts anderes erwarten als die Anerkennung des ökonomischen Urteils, das ihn enteignet hat, des anonymen oder namentlichen. Wahrscheinlich sind die Betroffenen so schuldlos nicht. Wie sollten arrivierte Juden oder Arier draußen, die mit der Verelendung sozialer und nationaler Gruppen, mit der Massenarmut in Mutter- und Tochterländern, mit den ordentlichen Zucht- und Irrenhäusern stets sich abgefunden haben, angesichts der deutschen Juden zur Besinnung kommen?« (Horkheimer 1939: 326) Immer verhält es sich so, dass die politische 230 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Ordnung nicht mehr ist als der Vollstrecker der in der Ökonomie gefällten Urteile. Diese sachlichen Überlegungen und Zusammenhänge erklären freilich nicht den harten Ton der Herablassung, mit dem Horkheimer diejenigen behandelt, die ihre Hoffnungen nach wie vor an die liberale Ordnung heften. Verständlicher wird der Ton, wenn man berücksichtigt, dass in der Kritik an der Haltung der Juden zum Liberalismus zugleich eine gehörige Portion Selbstkritik enthalten ist. Horkheimer hatte seinerseits nicht eben selten mit der liberalen Ordnung die Perspektive auf eine bessere und solidarische Gesellschaft verknüpft. Er gehört also selber zu denen, mit denen er so hart ins Gericht geht. Anklänge daran finden sich auch noch im Aufsatz über Die Juden und Europa: »Der Liberalismus enthielt die Elemente einer besseren Gesellschaft. Das Gesetz besaß noch eine Allgemeinheit, die auch die Herrschenden betraf. Der Staat war nicht unmittelbar ihr Instrument. Wer sich unabhängig äußerte, war nicht notwendig verloren.« (Horkheimer 1939: 329) Dieser Blick auf die liberale Phase des Kapitalismus widerspricht auch nicht den Annahmen des Historischen Materialismus. Im Gegenteil. Marx gehört zweifellos zu denjenigen, die die größten Loblieder auf die Fortschrittlichkeit des Kapitalismus gesungen haben. Und die gesamte Perspektive der Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hängt daran, dass der liberale Konkurrenzkapitalismus eine Dynamik der Produktivkraftentwicklung in Gang setzt und in Gang hält, die dann schließlich den Ordnungsrahmen des Privateigentums in die Luft sprengen und eine höhere Gesellschaftsordnung herbeiführen wird. Es kann mithin auch keine Rede davon sein, wie Horkheimer (1939: 309) behauptet, dass der Faschismus die »Wahrheit der modernen Gesellschaft (ist), die von der ­Theorie von Anfang an getroffen war.« Die Pointe der marxschen Kritik der politischen Ökonomie war nicht, dass im Schoße des Kapitalismus die totalitäre Ordnung heranreift, sondern dass er der ­freien, sozialistischen Gesellschaft den Weg bereitet. Erst im Licht der etablierten totalitären Ordnung rückt für Horkheimer die liberale Ordnung nahe an die totalitäre Ordnung heran. Sie ist nunmehr »nichts anderes als ihre Vorgängerin, die ihre Hemmungen verloren hat« (Horkheimer 1939: 309). »Der gleiche und gerechte Tausch hat sich selbst ad absurdum geführt, und die totalitäre Ordnung ist dies Absurdum. Folgerecht genug hat sich der Übergang aus dem Liberalismus vollzogen.« (Horkheimer 1939: 309) Angesichts der vollkommen ausweglosen Situation sucht Horkheimer am Ende des Aufsatzes seine Zuflucht in einem Gedanken, der an die Stelle der Revolutionslogik des Historischen Materialismus das Erbe der jüdischen Religion aufgreift und beschwört. »Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen. 231 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Ihre Not heute verweist sie darauf zurück. Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung des besseren zu wenden.« (Horkheimer 1939: 331) Diese Sätze enthalten deutliche Bezüge auf die vierte These der Elemente des Antisemitismus, in der Adorno und Horkheimer die Frage nach den religiösen Wurzeln der Judenfeindschaft erörtern. Zugleich nehmen sie den Kern der Bezugnahme auf die Religion vorweg, die Horkheimer in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs praktiziert. Die Religionen befähigen zur Distanz, sie relativieren, sie erheben Einspruch dagegen, dass alles so bleibt, wie es ist, sie halten die Hoffnung wach, dass es auch ganz anders sein könnte. (Darauf komme ich im letzten Kapitel des Buches zurück.)

2. Die archaischen Wurzeln des Antisemitismus Horkheimer vertritt die ganz und gar funktionalistische Deutung des Antisemitismus, die er in Die Juden und Europa vorträgt, auch in den Folgejahren unbeirrt und vehement – er verzichtet allerdings auf den hämischen Ton (1). Die funktionalistische Deutung wird dann aber um ein historisch und psychologisch ausgerichtetes Interesse am Antisemitismus ergänzt, das sich vor allem in der Konzipierung eines Forschungsprojekts über den Antisemitismus niederschlägt (2). Nach und nach und deutlicher sichtbar seit dem Sommer 1941 gibt Horkheimer, beeindruckt von Anregungen und Ideen Adornos, die funktionalistische Deutung mehr oder weniger auf und ersetzt sie durch ganz andere Überlegungen, in denen die archaischen Wurzeln der antisemitischen Reaktionsweisen ins Zentrum rücken und zu einem Typus von Kritik führen, der nicht mehr dem Modell der Ideologiekritik verpflichtet ist, sondern, inspiriert von Freud und Nietzsche, dem Typus genealogischer Kritik (3). (1) Im Jahre 1940 veröffentlicht Horkheimer zwei Aufsätze zu eher akademischen, fachwissenschaftlichen Fragen. Von der politischen Dramatik der Zeit auf dem europäischen Kontinent ist darin kaum etwas zu spüren. In Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie wird die bereits im Jahre 1937 in Traditionelle und kritische Theorie formulierte Forderung erneuert, dass der Kern der Philosophie in der Aufgabe der Gesellschaftskritik zu bestehen hat. »Die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie liegt in der Kritik des Bestehenden« (Horkheimer 1940: 344), schreibt Horkheimer, aber er fasst an keiner Stelle näher ins Auge, was das im Blick auf die Epoche der »herannahenden Barbarei« (Horkheimer 1940: 348) genau heißen kann. Der Text ist mitnichten von dem Bemühen bestimmt, diesem Grauen theoretisch Stand zu halten und es zu erklären. 232 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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In Psychologie und Soziologie im Werk Wilhelm Diltheys, ebenfalls aus dem Jahre 1940, geht Horkheimer nicht mit einem einzigen Wort auf die Dramatik der Weltlage ein. Er erörtert eine Reihe von methodologischen Problemen, die mit Diltheys Werk verbunden sind, setzt es in Beziehung zu anderen Geschichtsbegriffen und stellt am Ende Bezüge zur Psychoanalyse Freuds her. Der Aufsatz dürfte am ehesten damit zu erklären sein, dass Horkheimer seit seiner Antrittsrede als Institutsdirektor (1931) und seit seinem Aufsatz Geschichte und Psychologie (1932) an der Frage nach der Rolle der Psychologie bei der Erklärung und Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ein starkes Interesse hat und dieses Interesse nun für die Forschungsprojekte über den Antisemitismus, die das Institut für Sozialforschung in Angriff nimmt, wieder bedeutsam wird. In Autoritärer Staat, einem Text, den Horkheimer im Frühjahr 1940 schrieb und in der Gedächtnisschrift des Instituts für Walter Benjamin 1942 publizierte, ist vom Antisemitismus ebenfalls an keiner einzigen Stelle die Rede. Der Aufsatz präsentiert noch einmal die Hypothese vom Funktionsverlust der Zirkulation, dem »Dorado der bürgerlichen Existenzen« (Horkheimer 1942: 293), betont die Unwiderruflichkeit des Übergangs von der liberalen Epoche in die Epoche des Staatskapitalismus und notiert, dass die Vorherrschaft des Nutzens die Freiheit des Denkens vollständig unterminiert. Zwei neue Themen bzw. Gedanken kommen hinzu: Zum einen unterzieht Horkheimer die Anpassung der proletarischen Organisationen an die Logik des autoritären Staates und des Staatskapitalismus einer scharfen Kritik. Zum anderen wendet sich Horkheimer gegen den Geschichts- und Fortschrittsbegriff des Historischen Materialismus, der die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft vom Stand der Produktivkräfte abhängig macht. Das Ende der Ausbeutung ist für Horkheimer »keine Beschleunigung des Fortschritts mehr«, wie es in der marxschen Theorie durchgängig der Fall ist, »sondern der Sprung aus dem Fortschritt heraus« (Horkheimer 1942: 307). Die Bindung der Umwälzung an das Vorhandensein bestimmter objektiver Bedingungen, die der Kapitalismus durch die Entwicklung der Produktivkräfte contre coeur erzeugt, ersetzt Horkheimer durch einen voluntaristischen Revolutionsbegriff: »die materiellen Bedingung sind erfüllt« (Horkheimer 1942: 317), und alles Weitere hängt nun »einzig noch vom Willen der Menschen ab« (Horkheimer 1942: 318). Auf die Unterstützung durch den Gang der Geschichte darf niemand mehr rechnen, denn, wie Horkheimer im letzten Satz des Aufsatzes sagt: »Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.« (Horkheimer 1942: 319) Beide Überlegungen, die These von der fatalen Wahlverwandtschaft zwischen den Organisationen der Arbeiterbewegung und der totalitären Ordnung wie die Abwendung vom Geschichtsbegriff des Historischen Materialismus, korrespondieren auffällig mit Überlegungen, die Walter 233 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Benjamin in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte angestellt hatte. Von der Bedeutung dieser Thesen für die Grundideen der Dialektik der Aufklärung wird später noch die Rede sein. Auch die Texte, die Horkheimer im Jahre 1941 veröffentlicht, sehen nach wie vor im Funktionsverlust der Zirkulation den Schlüssel für die Analyse des Übergangs der liberalen in die totalitäre Ordnung. Von der Ausnahme eines Projektberichts abgesehen (auf den ich gleich ausführlicher eingehen werde), kommt Horkheimer nur sporadisch auf den Antisemitismus zu sprechen. Wenn das geschieht, dominiert mit großer Selbstverständlichkeit die alte Zuordnung zur Logik des Nutzens, dem die Juden zum Opfer fallen. Horkheimer ist immer noch davon überzeugt, dass mit der Antwort auf die cui-bono-Frage die ganze Angelegenheit zureichend erklärt ist. Wenn man weiß, welchen Nutzen der Antisemitismus für Wirtschaft und Politik hat, welche Interessen hinter ihm stecken und wer von ihm besonders profitiert, ist das Rätsel im Grunde gelöst. Fraglos fügt sich die Erklärung des Antisemitismus auf diese Weise in die Logik der ökonomischen Nutzenkalküle ein. Im zweiten Heft des 9. Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung erscheint der für die Staatskapitalismusthese maßgebliche Aufsatz von Friedrich Pollock. Horkheimer schreibt ein Vorwort und fasst darin auf allgemeine Weise die Sicht Pollocks auf die Probleme des »Übergangs vom Liberalismus zum autoritären Staat« (Horkheimer 1941a: 412) zusammen – eine Sicht, der er sich vollständig anschließt. Der springende Punkt bleibt der Funktions- und Bedeutungsverlust der Zirkulation und die mit ihr verbundene Wiederkehr unmittelbarer Herrschaftsausübung. Die liberale Phase des Kapitalismus identifiziert Horkheimer mit der Zeit des 19. Jahrhunderts – es ist die Zeit der unabhängigen Unternehmer, Händler und Bankiers, die miteinander in Konkurrenz stehen. Am Ende dieser Phase geht aus der Konkurrenz eine Reihe von Monopolen hervor, die auf internationaler Ebene mit den Monopolen anderer Länder konkurrieren. Mit dem Aufstieg des Faschismus wird das Recht einem pervertierten Moralgefühl anvertraut, Ökonomie und Politik verschmelzen, die Mächtigen aus beiden Bereichen schließen sich zu einer unangreifbaren Elite zusammen, die die Wirtschaft der Planung unterwirft, den Staatsapparat für ihre Zwecke instrumentalisiert und die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus mit dem Einsatz von Planung, Kalkül und Gewalt beseitigt. Die herrschende Elite der totalitären Ordnung bildet zwar keine wirkliche Einheit – nur die Angst vor den Unterdrückten hält sie zusammen. Aber diese Einheit ist doch soweit stabil, dass alle ökonomisch-technischen Probleme, die der Geschäftswelt Sorgen bereiteten, mit autoritären Mitteln gelöst werden können. Daraus folgt für Horkheimer, dass es reines Wunschdenken ist zu glauben, der Faschismus werde wegen des Missverhältnisses von Angebot und Nachfrage, 234 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wegen der Haushaltsdefizite oder wegen der Arbeitslosigkeit unaufhaltsam seinem Ende entgegengehen. In dieses Gesamtbild der autoritären Ordnung fügt sich die Erklärung des Antisemitismus leicht ein. »Es triumphiert der abstrakte Fortschritt. Die Welt gehört den Schlauen, und den letzten beißen die Hunde – das gilt heute mehr denn je. Das Prinzip, nichts auf sich selbst beruhen zu lassen, jedermann zum Handeln anzustacheln, nichts Unnützes zu dulden, mit einem Wort: Dynamik ist die Seele des Faschismus. Moraltabus und Ideale werden verabschiedet; wahr ist, was sich als nützlich erwiesen hat. Kann es irgendwer wagen, die Nützlichkeit der Geheimpolizei, der Konzentrationslager, der Euthanasie, des Antisemitismus und der gnadenlosen Mobilmachung des Volkes zu bezweifeln? Die Faschisten haben vom Pragmatismus so manches gelernt. Selbst ihre Sätze haben schon keinen Sinn mehr, sondern nur noch einen Zweck.« (Horkheimer 1941a: 416) (2) Bereits im ersten Heft des 9. Jahrgangs der Institutszeitschrift war nun aber, wie oben schon kurz angesprochen, unter der Überschrift Zur Tätigkeit des Instituts der Bericht erschienen, in dem das »Forschungsprojekt über den Antisemitismus« (Horkheimer 1941: 373) ausführlich vorgestellt wurde. Der Projektbericht führt aus, wie auf dem Wege breit angelegter historischer, psychologischer und ökonomischer Untersuchungen ein detailliertes Gesamtbild des Antisemitismus entstehen soll, von dem vor allem ein gewichtiger Beitrag für seine praktische Bekämpfung erwartet werden kann. Theoretische Einbettungen und begriffliche, analytische Fragen treten im Bericht weitgehend in den Hintergrund. Wo sie angesprochen werden, kommt Horkheimer erneut nicht über die These von der Liquidation der Zirkulation hinaus. »Daß die Bedeutung der ökonomischen Sphären, in denen die deutschen Juden vorrangig tätig waren, im Schwinden begriffen ist, bildet die Grundlage für ihr Überflüssigwerden. Ihre ökonomische Existenz war eng mit dem liberalen Wirtschaftssystem und mit dessen rechtlichen und politischen Bedingungen verknüpft. Im Liberalismus werden, wie bereits erwähnt, die Untaug­ lichen durch die Wirksamkeit des Konkurrenzmechanismus eliminiert, und dabei spielt es keine Rolle, wie sie heißen oder welche persönlichen Qualitäten sie haben. Im totalitären System können jedoch einzelne oder ganze soziale Gruppen jederzeit aus politischen oder anderen Gründen an den Galgen gehängt werden. Die Ersetzung des Marktes durch eine Planwirtschaft der Staatsbürokratie und der Machtverfall des Finanzkapitals ermöglicht die antijüdische Politik des Dritten Reiches.« (Horkheimer 1941: 407f) Diese Passage, die ja nur noch einmal die funktionalistische Deutung zusammenfasst, steht in eigentümlichem Kontrast zu den anderen Teilen des Projektberichts. Der Abstand zwischen dieser Deutung und den empirischen Details, die im Bericht ins Auge gefasst werden, ist unübersehbar. Dieser Kontrast legt, durchaus unfreiwillig, den zentralen Mangel 235 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der funktionalistischen Deutung offen. Die spezifischen Lebens- und Glaubenssituationen der Juden haben in ihr so wenig Platz wie die Vielfalt und Details der antisemitischen Einstellungen. Im Rahmen der funktionalistischen Denk- und Erklärungsfigur ist der Blick dafür verstellt, dass es ein ganz spezifisches Schicksal ist, das die Juden unter dem Nationalsozialismus erleiden. Wenn die Juden verfolgt werden, weil sie ökonomisch überflüssig sind, dann kann dieses Los auch jede andere Gruppierung von ökonomisch Überflüssigen ereilen. Das war ja das Argument, mit dem Gershom Scholem die entsprechenden Überlegungen aus Horkheimers Die Juden und Europa in Frage gestellt hatte. Neben dem noch einmal erneuerten funktionalistischen Erklärungsansatz stehen im Rahmen des Projektberichts nun aber gerade jene Teile im Vordergrund, in denen die historischen Erscheinungsformen des Antisemitismus, seine psychische Logik und seine sozialpsychologischen Tendenzen detaillierter in den Blick genommen werden. In diesen Teilen rückt die Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die von der funktionalistischen Deutung gerade umgangen und vermieden wird, nämlich die Frage danach, wieso es ausgerechnet die Juden sind, die den Hass auf sich ziehen. Das Forschungsprojekt fragt nicht danach, wo der Nutzen liegt, der die Antisemiten antreibt, sondern: Was ist es, worauf die Antisemiten so ablehnend und wütend reagieren, und warum tun sie das? Und die nächste Frage, die sich daraus sofort ergibt, lautet: Gibt es diese Eigenschaften und Charakterzüge, auf die die Antisemiten offenbar reagieren, auf Seiten der Juden tatsächlich, oder handelt es sich um reine Projektionen? Wir haben es, kurz gesagt, in diesen Teilen mit dem Versuch zu tun, den Antisemitismus aus der realen historischen Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Antisemiten heraus zu erklären. Die Erforschung der Realgeschichte des Antisemitismus wird im Projektbericht auf eine ganz einfache und konventionelle Weise mit dem Aufklärungsanspruch und dem Versprechen praktischer Wirksamkeit bei der Bekämpfung des Antisemitismus verknüpft. Wenn man sich in die Geschichte der Juden und des Antisemitismus vertieft, so lautet die Annahme, dann stellt sich schnell heraus, dass die Züge, die die Antisemiten auf dem Konto der jüdischen Natur bzw. Rasse verbuchen, sofern sie nicht auf purer Projektion beruhen, in Wirklichkeit das Ergebnis historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen sind. Damit ist der klassische Aufklärungsanspruch verbunden, hier vor allem gewendet gegen das biologische Rassedenken, das für die Antisemiten charakteristisch ist. Dem setzt Horkheimer die Realgeschichte des Judentums, der Ökonomie und der Antisemiten entgegen und bedient sich damit im Repertoire der klassischen Ideologiekritik: etwas vorgeblich Natürliches, nämlich die Rasse, wird kenntlich gemacht als historisch und gesellschaftlich vermittelt, die ganzen den Juden zugeschriebenen Eigenschaften, die ganze antisemitische Propaganda wird konfrontiert mit der Realgeschichte 236 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Juden und soll auf diese Weise ad absurdum geführt werden. Aufklärung durch umfassende Information ist der Antrieb, der bei diesem Zugang im Hintergrund steht. Die »Zurückweisung der Rassentheorie« (Horkheimer 1941: 403) erfolgt mit den klassischen Mitteln der Ideologiekritik. Die Phänomene, die die Antisemiten den Juden als biologische Fakten zuschreiben, sind in Wirklichkeit historische Phänomene, »die vor allem durch die ökonomische Funktion, in welche die Juden gedrängt wurden, geprägt sind« (Horkheimer 1941: 404) und dann auf dem Wege der Nachahmung von Generation zu Generation weiter gereicht wurden. Und die psychologische Analyse vermag mit ihrer Konzentration auf die Bedeutung der frühkindlichen Sozialisation einerseits zu erklären, auf welche Weise sowohl auf Seiten der Juden wie auf Seiten der Antisemiten die entsprechenden Charakterzüge und Vorurteile tradiert und an die nächste Generation weitergereicht werden, und andererseits zeigt sie, in welchem Ausmaß die antisemitischen Reaktionsweisen mit der Realität der Juden gar nichts zu tun haben, sondern als automatisierte Reaktionsweisen verstanden werden müssen, deren Ursachen einzig in den Phantasien und inneren Konflikten der Antisemiten begründet sind. Für die reale Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Antisemiten listet der Projektbericht verschiedene Dimensionen und Bereiche auf. Das eine Ziel besteht darin: »Es ist unumgänglich, eine Erklärung für die Ursachen bestimmter jüdischer Charakterzüge zu suchen, auf welche der Antisemit negativ reagiert.« (Horkheimer 1941: 400) Zu diesen Charakterzügen zählt der Bericht die »jüdische Mentalität« (Horkheimer 1941: 402). Hier werden die Juden als diejenige Gruppe charakterisiert, für die das »psychische Vermögen der Abstraktion« (Horkheimer 1941: 402) typisch ist. »Tatsächlich hatten die Juden, historisch gesehen, schon immer einen Hang zum kühnen abstrakten Denken, was in der Idee eines Gottes zum Ausdruck kommt, der alle Menschen als Gleiche betrachtet.« (Horkheimer 1941: 403) Zugleich trifft freilich auch das Gegenteil zu, nämlich die Nähe der Juden zum Irrationalen, Mystischen und zum Aberglauben. Die Hinwendung zur Realgeschichte der Juden und des Antisemitismus ist zweifellos ein gewaltiger Zugewinn an Konkretion. Hier ­werden die empirischen Phänomene ernst genommen, die in der allgemeinen und abstrakten Deutung mit dem Bedeutungsverlust der Zirkulation überhaupt keine Rolle spielten. Nun kommt in den Blick, dass es eine Vielzahl antisemitischer Phantasien gibt, dass sie vielfältig und komplex sind, und vor allem, dass sie sich keineswegs umstandslos auf die Logik von Nutzenkalkülen zurückführen lassen. Es sind ja ganz phantastische ­Dinge, die den Antisemiten in Geschichte und Gegenwart zu den Juden eingefallen sind. Und sie lassen sich durchaus nicht einfach auf den Nutzen verrechnen, der im oben behandelten Vorwort noch im Zentrum stand. In 237 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ihnen zeigt sich eine ganz andere, eine archaische Dimension des antisemitischen Vorurteils. Sie haben offenbar mit den Ängsten, Träumen und Phantasien der Antisemiten viel mehr zu tun als mit der Realität des jüdischen Lebens. Man kann sie nicht mit der funktionalistischen und darwinistischen Erklärung in Übereinstimmung bringen, nach der die Letzten bzw. die Überflüssigen von den Hunden gebissen und ­zerrissen werden. Dass es zwischen den beiden Fragerichtungen eine spannungsreiche Beziehung gibt, wird von Horkheimer zu diesem Zeitpunkt aber gar nicht in den Blick genommen. Im Gegenteil. Er bleibt auch jetzt bei seiner funktionalistischen Deutung, indem er die Entstehung der typischen Charakterzüge der Juden damit erklärt, dass sie für die Tätigkeit im Handel, dem bevorzugten ökonomischen Betätigungsfeld der Juden, zweckmäßig waren. So fügt sich auch diese Frage also noch vorzüglich in den funktionalistischen Erklärungsansatz ein. Die jüdischen Charakterzüge, so erklärt Horkheimer, haben »ihre Wurzeln im ökonomischen Leben des Juden, in seiner besonderen gesellschaftlichen Funktion und in den Folgen seiner Geschäftstätigkeit« (Horkheimer 1941: 400). (3) Wenn man die Analysen und Perspektiven der Elemente des Antisemitismus und die empirischen Forschungsprojekte des Instituts über den Antisemitismus einbezieht, zeigt sich jedoch, dass die Spannung keineswegs aufgelöst wird. Auf der einen Seite stehen die empirischen Analysen, die in den Studies in Prejudice kulminieren. Auf der anderen Seite gibt Horkheimer nach und nach die funktionalistische Deutung zwar auf, aber an ihre Stelle treten Überlegungen, die von der Empirie keineswegs gedeckt werden, sondern weit in das Feld von Spekulation und Konstruktion ausgreifen. Zwar behaupten Adorno und Horkheimer an verschiedenen Stellen, die ich schon erwähnt habe, die sehr enge Beziehung zwischen den empirischen Studien und den Elementen. Aber es kann keine Rede davon sein, dass die »philosophische Urgeschichte des Antisemitismus« (DA 22), die die Elemente präsentieren, gleichsam nur die begriffliche Quintessenz dessen ist, was die empirischen Forschungen am Material und en detail darlegen. Empirische Forschungen und philosophische Urgeschichte lassen sich nicht schlüssig ineinander auflösen und übersetzen. Die Elemente folgen nicht mehr dem Modell einer aufklärerischen Ideologiekritik. Sie begnügen sich nicht damit, die angeblich in der Natur der Juden begründeten Charakterzüge auf historische und gesellschaftliche Prozesse zu beziehen, sondern orientieren sich, ohne dass das explizit zum Ausdruck gebracht wird, am Modell einer genealogischen Kritik, wie es bei Nietzsche und zum Teil auch bei Freud vorgebildet ist. Der Weg von der funktionalistischen Deutung des Antisemitismus, die sich im Rahmen der aufklärerischen Ideologiekritik bewegt, zur genealogischen Kritik ist weit. Die entscheidende Station besteht in der Einsicht, dass die Verfolgung der Juden nicht das Resultat eines Nutzenkalküls 238 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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auf Seiten der Antisemiten ist, sondern, wie es in der zweiten These der Elemente heißt, ein »Ritual« (DA 200; I: 2), in dem ein uralter Konflikt der Zivilisation zum Ausdruck kommt. Dem Antisemitismus liegen gerade keine Nutzenkalküle zugrunde, weder politische noch ökonomische. Aus der Perspektive von Nutzenkalkülen betrachtet, ist der Antisemitismus völlig irrational – er rechnet sich nicht. Seine Wurzeln können mithin nicht im Kosten-Nutzen-Denken, sondern müssen ganz woanders liegen: in einer Erbschaft, die bis in die archaischen Stufen der Zivilisationsgeschichte zurückreicht. Diese Einsicht, die Horkheimer im Laufe des Jahres 1941 nach und nach übernimmt, geht im Wesentlichen auf Anregungen und Ideen von Adorno zurück. Schon der Bericht über das Antisemitismusprojekt des Instituts enthält Überlegungen, die eine deutliche Absetzung von der funktionalistischen Deutung des Antisemitismus enthalten. Im Teil des Projektberichts, in dem »Heutige Antisemitismustheorien« (Horkheimer 1941: 379) abgehandelt werden, wird eine Gruppe unter dem Titel der »rationalistischen« Theorien zusammengefasst. Dort heißt es: »›Eigentlich gibt es überhaupt keinen Antisemitismus.‹ Das heißt, in Wahrheit existieren keine psychischen Reaktionen, die sich primär als antisemitisch einschätzen ließen. Alles, was Antisemitismus heißt, wird künstlich aufgebauscht und als ein Manöver des Massenbetrugs propagiert, sofern es nicht der Ablenkung oder der Ausplünderung dient. Die antisemitischen Reaktionen der Massen sind nichts als Erfindungen. Diese Theorie ist ihrem Wesen nach engstens mit der von vielen Aufklärern vertretenen Vorstellung verwandt, die Religion sei ein bloßer ›Priesterbetrug‹.« (Horkheimer 1941: 379) Jeder der zitierten Sätze lässt sich ohne große Mühe auf die funktionalistische Deutung beziehen, die Horkheimer zwei Jahre zuvor so vehement in Die Juden und Europa vertreten hatte. Denn in diesem Text sieht Horkheimer selber im Antisemitismus lediglich die ideologische Umhüllung und Verschleierung von ökonomischen Konkurrenzkämpfen, aus denen die Juden durch die Abschaffung der Zirkulationssphäre als Verlierer hervorgegangen sind. Im Projektbericht wird diese Haltung aber nun als »viel zu oberflächlich« (Horkheimer 1941: 379) charakterisiert. Es werde übersehen, »daß die tatsächlichen antisemitischen Reaktionen selbst eine wichtige gesellschaftliche und psychologische Funktion erfüllen. Im Kampf gegen den Antisemitismus können wir uns nicht allein damit begnügen, diesen als eine bloße Ideologie zu entlarven, sondern müssen zu den Wurzeln seiner Grundelemente vordringen. Unter diesen herrschen die offenkundig irrationalen, die idiosynkratischen vor.« (Horkheimer 1941: 379f) Der Projektbericht ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm eine Reihe von sehr unterschiedlichen Perspektiven unverbunden nebeneinander stehen und die Spannungen zwischen diesen Perspektiven nicht gesehen 239 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

und nicht ausgetragen werden. Einige Seiten nach den soeben zitierten Sätzen wird ganz unbeeindruckt die funktionalistische Hypothese vom Untergang der Zirkulationssphäre als Hintergrund und Ursache der antisemitischen Verfolgungen erneut vorgetragen. Es bedurfte offenbar einiger Umwege, bevor die funktionalistische Deutung mehr oder weniger ganz aufgegeben und durch die zivilisationskritische Deutung ersetzt werden konnte. In Neue Kunst und Massenkultur, einem Text aus dem Jahre 1941, entdeckt Horkheimer die Kunst als die Bewahrerin der Utopie von Freiheit, Individualität und Glück (Horkheimer 1941b: 421). Erneut wird die Überlegung von der Abschaffung der Zirkulation herangezogen, jetzt in der Zuspitzung, dass mit ihr das Ende der Privatheit und der Familie verbunden ist und Herrschaft sich totalisiert. Vom Antisemitismus ist nicht die Rede, der Text mündet vielmehr in die Kritik der »Kulturindustrie« (Horkheimer 1941b: 435) bzw. der »Vergnügungsindustrie« (Horkheimer 1941b: 437) – er gehört mithin in das Umfeld jenes Themas, das in der Dialektik der Aufklärung in einem anderen Kapitel unter der Überschrift Kulturindustrie zum Thema gemacht wird. Aber die Denkfigur, in der die Kunst als Statthalter der Freiheit und des Glücks figuriert und im Prozess der Herrschaftstotalisierung untergeht bzw. in billige Vergnügung pervertiert wird, ist auch im Blick auf die Erklärung des Antisemitismus relevant. Sie steht offensichtlich in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Überlegung, die die zweite These der Elemente bestimmt, nach der die Liquidierung des Gedankens an Glück die antisemitischen Verhaltensweisen motiviert. Vernunft und Selbsterhaltung, im Winter 1941/1942 geschrieben und wie Autoritärer Staat in der Gedächtnisschrift des Instituts für Walter Benjamin im Jahre 1942 erschienen, trägt dann alle Züge einer Schrift des Übergangs. Wiggershaus (1986: 350) charakterisiert sie mit Recht als »Potpourri von Gedankensplittern«. Da stehen die unterschiedlichsten Überlegungen noch ganz ungeordnet und unsortiert nebeneinander. Man hat den Eindruck, dass die Gedanken und Assoziationen in Horkheimer gleichsam gären und ausprobiert werden. Aber ähnlich wie im Aufsatz über Neue Kunst und Massenkultur lässt sich unschwer eine deutlichere Orientierung an den Themen und Argumente erkennen, die später dann in die Dialektik der Aufklärung eingehen werden. Die Kritik an einer Vernunft, in deren Zentrum die »Selbsterhaltung« steht, spielt die zentrale Rolle. Nutzen und Selbsterhaltung seien die wichtigsten Prinzipien der Vernunft in der Geschichte des bürgerlichen Denkens. In der totalitären Epoche erreicht die damit verbundene Einseitigkeit einen neuen Höhepunkt. Alles, was im Vernunftbegriff jemals über diesen Nutzenaspekt hinauswies, wird nun der Ächtung anheimgegeben und für überflüssig und illegitim gehalten. 240 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Auch das Thema der Liquidation der Zirkulationssphäre und damit des unabhängigen Subjekts, des Denkens, der Verantwortung, der Muße, des Ichs wird von Horkheimer erneut aufgegriffen. Dann aber kommen in diesem weitgehend ungeordneten brain storm auch einige Überlegungen zum Antisemitismus ins Spiel, die, ganz ähnlich dem Gedanken aus Neue Kunst und Massenkultur, eine neue Perspektive eröffnen. Zum ersten Mal taucht die Vorstellung auf, dass hinter den antisemitischen Hetzjagden auf Seiten der SA-Männer eine verborgene »Sehnsucht« steckt, »die sie sich verbieten und zerstören müssen« (Horkheimer 1942a: 346f). Die Juden verweigern sich dem »unbarmherzigen Fortschritt« und unterwerfen sich nicht der »Macht der Welt«. Deswegen gelten sie den Antisemiten als Inkorporation von »Glück«. Der Hass gegen die Juden sei im Grunde »mit der Mordlust gegen die Irren identisch«, mit dem Hass auf die »Widerstrebenden und Schweifenden, Phantasten und Utopisten« (Horkheimer 1942a: 347). Das Argument lautet also nicht mehr, dass die Juden ökonomisch überflüssig und nutzlos sind und deswegen der Verfolgung preisgegeben werden. Vielmehr verkörpern die Juden nun in den Phantasien und Vorstellungswelten der Antisemiten den Inbegriff einer glücklichen Existenz, die diese sich selber versagen mussten und deren Unterdrückung sie sich nun immer wieder dadurch bestätigen müssen, dass sie die Juden verfolgen und quälen. Die Gedankenwelt, der diese Vermutung entspringt, die Psychoanalyse Freuds, wird zwar nicht expressis verbis genannt, aber ist doch, z.B. in der folgenden Passage, ganz unüberhörbar. »Der Widerspruch zwischen dem, was sie (die Zivilisation, d. Verf.) den Menschen zumutet, und dem, was sie ihnen gewähren könnte, ist zu groß geworden, die Ideologien zu dünn, der Weg der Vermittlungen zu lange und das Unbehagen in der Kultur so groß, daß ihm wenigstens mit dem Untergang derer Genüge getan werden muß, die heute das Ärgernis bieten, Politische, Juden, Asoziale, Irre.« (Horkheimer 1942a: 348) Diesen Gedanken, in dem die Juden in eine Reihe gesetzt werden mit anderen Außenseitern und als Repräsentanten eines Glücks angesprochen werden, das von aller Zweckrationalität und Anpassung frei ist, hatte Horkheimer zum ersten Mal in einem Brief an Adorno vom 28. August 1941 ausgesprochen. Horkheimer geht in diesem Brief ausführlich auf das Manuskript Adornos Zur Philosophie der neuen Musik ein, das er gerade gelesen hatte. Horkheimer ist überaus beeindruckt. »Wenn ich je in meinem Leben Enthusiasmus empfunden habe, so war es bei dieser Lektüre.« (HGS 17: 146) Nun müsse es darum gehen, das, was Adorno für den Bereich der Kunst entwickelt habe, direkt auf die Gesellschaft zu beziehen. Adorno hatte in seinem Manuskript, das erst 1949, geringfügig modifiziert, unter dem Titel Schönberg und der Fortschritt als erster Teil der Philosophie der neuen Musik erschien, die Musik als die Sphäre charakterisiert, die »übers Reich der Intentionen« (Adorno 1949: 116) 241 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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hinausgreift, und sie in die Nähe des Weinens gerückt. »Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los. Die Sentimentalität der unteren Musik erinnert in verzerrter Gestalt, was die obere Musik in der wahren am Rande des Wahnsinns gerade eben zu entwerfen vermag: Versöhnung.« (Adorno 1949: 116) Horkheimer schließt in seinem Brief an diese Stelle des Manuskripts von Adorno einige Spekulationen an, die sich auf den Antisemitismus beziehen. Er macht vor allem die Gleichzeitigkeit von Gefährlichkeit und Unbeholfenheit, die im antisemitischen Bild des Juden enthalten sind, zum Thema. Horkheimer führt sie zurück auf die »lächerliche Treue zum Einen Gott«, die die Juden an den Tag legen. Und gleich im Anschluss an diese Gedanken rückt er die Juden in die Nähe der Irren: »Die Ermordung der Irren enthält den Schlüssel zum Juden-Pogrom.« (HGS 17: 151) Die Irren sind »dem Zwang des Gegenwärtigen entrückt« (HGS 17: 151) und stehen nicht unter dem absoluten Bann des Zwecks. Und mit aller Gewalt wird in der Ausgrenzung und Verfolgung der Irren wie der Juden immer wieder demonstriert, »daß Freiheit nicht möglich ist« (HGS 17: 151). Die Juden wie die Irren und die Wahnsinnigen werden in diesen Überlegungen zu Figuren des verlockenden Anderen und Fremden, die sich dem Prozess der Disziplinierung und Zivilisierung nicht unterworfen haben und gerade deswegen den Hass der Verfolger auf sich ziehen. Wie die Irren und wie die Menschen, die sich im Weinen und in der Musik verströmen, stellen sie das disziplinierte Leben in Frage, das in Geschäftigkeit, Selbsterhaltung und Nutzenmaximierung aufgeht. Sie leben in einer »anderen Welt, dem Zwang des Gegenwärtigen entrückt«, wie Horkheimer im gleichen Brief schreibt (HGS 17: 151). Adorno hatte in seinem Brief vom 18. September 1940, den ich oben ausführlich behandelt habe, über die Verfolgung der Juden als Repräsentanten eines einstigen glücklichen Nomadentums spekuliert. Beide Spekulationen treffen sich in der Überlegung, dass die Juden ein Prinzip verkörpern, das sich den Zwängen und Disziplinierungen der Zivilisation entzieht und sowohl Sesshaftigkeit wie Arbeit verweigert. Mit diesen Überlegungen nehmen Adorno und Horkheimer die archaischen Wurzeln des Antisemitismus in den Blick. Zwei Aufsätze von Adorno, 1941 in der Institutszeitschrift erschienen, enthalten weitere Überlegungen, die in die Arbeit an der Dialektik der Aufklärung und den Elementen eingehen. Sie beziehen sich vor allem auf das Verhältnis von Kultur und Barbarei. Damit ist ein anderer wichtiger Gesichtspunkt für die Theorie des Antisemitismus angesprochen, nämlich die Frage, ob die Judenfeindschaft auf dem Konto der Zurückgebliebenheit verbucht werden muss und im Grunde in der modernen Gesellschaft etwas 242 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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zutiefst Fremdes und Anachronistisches ist oder ob sie gerade umgekehrt in der modernen Kultur als Möglichkeit stets angelegt und enthalten ist. In Spengler nach dem Untergang löst Adorno die starre Gegenüberstellung zwischen Kultur und Barbarei auf. Es genüge nicht, »die Barbarei zu diffamieren und auf die Gesundheit der Kultur sich zu verlassen« (Adorno 1941: 80). Stattdessen komme es darauf an, »das Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen« (Adorno 1941: 80). Die Kultur ist mithin nicht das Gegenteil der Barbarei, sondern, da sie selber auf »Zwang und Opfer« (Adorno 1941: 81) beruht, ihrerseits nicht frei von den Elementen, gegen die sie sich stellt, und sie ist jederzeit davon bedroht, in Barbarei umzuschlagen. In der »Welt des gewalttätigen und unterdrückten Lebens« ist die einzige Gegenkraft, die Adorno gelten lässt, die »Dekadenz, die diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit und Erhabenheit die Gefolgschaft aufsagt«. Sie allein ist »das Refugium des Besseren« (Adorno 1941: 81). In Veblens Angriff auf die Kultur wird im Grunde das gleiche Thema abgehandelt. Veblen sieht den barbarischen Charakter der Kultur gerade in jenen Zügen der Zwecklosigkeit und Freiheit, die nach Adorno die einzigartigen Qualitäten der Welt des Geistes und der Vernunft begründen. Indem Veblen die Vernunft an der »Heiligkeit der Arbeit« (Adorno 1941a: 94) misst, jede Form von Muße als Verschwendung und Schwindel charakterisiert und im Nutzen sein Heil sucht, trägt er auf seine Weise zur Denunziation von Abweichung und Freiheit bei und verhöhnt die Menschen, »soweit sie vom Prinzip des Nutzens nicht völlig erfaßt sind« (Adorno 1941a: 99). Auch hier akzentuiert Adorno wieder den inneren Zusammenhang, die innere Verweisung von Kultur und Barbarei. »Die wahre Kritik der barbarischen Kultur aber könnte sich nicht damit begnügen, barbarisch die Kultur zu denunzieren. Sie müßte die offene, kulturlose Barbarei als Telos jener Kultur bestimmen und verwerfen, nicht aber krud der Barbarei den Vorrang über die Kultur zusprechen, nur weil sie nicht mehr lügt.« (Adorno 1941a: 107f) Wahrscheinlich gehen die Überlegungen zur Dialektik von Kultur und Barbarei auf Anregungen zurück, die Adorno und Horkheimer aus den Thesen über den Begriff der Geschichte von Walter Benjamin bezogen haben. Im Juni 1941 hatte Adorno von Hannah Arendt eine Kopie dieses philosophischen Vermächtnisses von Benjamin erhalten. Adorno schickte umgehend eine Abschrift der Thesen an Horkheimer und schrieb in seinem Begleitbrief, »daß keine von Benjamins Arbeiten ihn näher bei unseren eigenen Intentionen zeigt. Das bezieht sich vor allem auf die Vorstellung der Geschichte als permanenter Katastrophe, die Kritik an Fortschritt und Naturbeherrschung, die Stellung zur Kultur.« (Adorno/Horkheimer 2004: 144) Horkheimer greift diese Gedanken sofort auf und antwortet in seinem Brief vom 23. 6. 1941: »Mit Ihnen bin ich glücklich darüber, daß wir Benjamins Geschichtsthesen besitzen. Sie werden 243 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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uns noch viel beschäftigen und er wird bei uns sein. Die Identität von Barbarei und Kultur … hat übrigens das Thema eines meiner letzten Gespräche mit ihm in einem Café beim Bahnhof gebildet.« (Adorno/Horkheimer 2004: 155) Allerdings ist der Gedanke einer inneren Beziehung zwischen Kultur und Barbarei nicht nur Benjamin eigen, sondern spielt auch in Freuds Zivilisationstheorie eine zentrale Rolle. Und auch von dort her hat diese Idee sicher Unterstützung erfahren, trotz aller Vorbehalte von Horkheimer und Adorno gegen die Psychoanalyse. Freuds zentrale Behauptung in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) lautet ja sehr ähnlich, wenngleich der theoretische Grund anders aussieht. Freud begründet seine Vermutung mit der triebtheoretischen Hypothese, dass die fortschreitende Pazifizierung der Menschen, die Zurückdrängung des Aggressionstriebs, der Kultur zugleich die Grundlage entzieht und der Fortschritt auf diese Weise, wie es in Der Mann Moses und die monotheistische Religion heißt, »ein Bündnis mit der Barbarei geschlossen hat« (Freud 1939: 156). Es ist nach Freud gerade die Verinnerlichung des Zwangs, die dazu führt, dass sich der gewalttätige und zurichtende Charakter der Zivilisation fortsetzt. Diese triebtheoretisch fundierte Behauptung der Beziehung zwischen Zivilisation und Barbarei wird in der Dialektik der Aufklärung an vielen Stellen aufgegriffen. Auf zwei weitere Motive, die später bestimmend in die Elemente eingehen sollten, war Adorno in seiner Beschäftigung mit Richard Wagner gestoßen. (Einige Teile des Textes erschienen 1939 in der »Zeitschrift für Sozialforschung«, der gesamte Text wurde erst 1952 unter dem Titel Versuch über Wagner publiziert.) Zum einen arbeitet Adorno heraus, wie bei Wagner die »Verfemung der Lust« (Adorno 1939: 24) und die Idealisierung der »Askese« (Adorno 1939: 26) in die destruktive Einheit von »Lust und Tod« (Adorno 1939: 3) übergehen. Zum andern macht er sowohl an der Biographie Wagners wie an seinen Werken den Übergang von der Rebellion in die Unterwerfung sichtbar. Der vorherrschende Zug bei Wagner sei die »Identifikation des Widerstands mit der Herrschaft« (Adorno 1939: 29) bzw. die Tatsache, »daß der Rebell … selber zur Autorität übergegangen ist« (Adorno 1939: 32). So ist der »Konflikt zwischen Rebellion und Gesellschaft« immer schon »zugunsten der Gesellschaft vorentschieden« (Adorno 1939: 35), kurz: Wagner erscheint Adorno als der Inbegriff des »übergelaufenen Rebellen« (Adorno 1939: 37).

3. Kritik und Genealogie Damit sind nun beileibe noch nicht alle, aber doch einige wichtige Gesichtspunkte beisammen, die die Kritische Theorie des Antisemitismus 244 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in den Elementen bestimmen. Es fehlt vor allem noch der Mimesis-Begriff, der in der fünften These die zentrale Rolle spielt und dessen Hintergrund und Bedeutung ich unten im vierten Kapitel ausführlich behandeln werde. Insbesondere ist die simple funktionalistische Deutung, die den Antisemitismus aus der ökonomischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise herleitete, mehr oder weniger ad acta gelegt. Sie klingt zwar an verschiedenen Punkten der Elemente noch durch, verliert aber ihre zentrale Stellung. Generell treten die Begriffe und Deutungsfiguren aus dem Horizont des Historischen Materialismus in den Hintergrund. Die Kritik der politischen Ökonomie und der politischen Ideologie, wie Marx sie maßstabsetzend entwickelt hatte, wird durch einen ganz anderen Typus der Kritik ersetzt, durch Genealogie. An die Stelle der Orientierung an Marx tritt die Orientierung an Nietzsche und Freud. Es ist die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, die »Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit« (DA 22), die Adorno und Horkheimer dazu veranlasst, diesen Weg der Analyse und Kritik zu beschreiten. Der Antisemitismus kann aus den Tendenzen des Kapitals nicht hergeleitet werden, er ist nicht die ideologische Umhüllung der ehernen sozialdarwinistischen Gesetze der Konkurrenz, nach denen die letzten, die Überflüssigen, aus der Gesellschaft aussortiert und zur Liquidierung freigegeben werden, er ist nicht der Triumph des Nutzens, in dem die Nutzlosen keinen Platz haben können. Nun ist es gerade umgekehrt: Der Antisemitismus ist ökonomisch und politisch gesehen eigentlich nutzlos. Die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden ist der Triumph der Zwecklosigkeit. Sie bindet und absorbiert eine Unmenge an Energien und Ressourcen, die die autoritäre Ordnung an anderen Stellen dringend benötigt hätte. Sie hat ihren Zweck nur in sich selbst, und als dieser reine Selbstzweck ist sie eine vollkommen perverse Emanzipation vom Diktat des Nutzens. Sie ist, gemessen an den Rationalitätsstandards von Kosten-Nutzen-Kalkülen, irrational und sinn- und zwecklos. Rationalität und Vernunft werden in ihr Gegenteil verkehrt. Man kann diesen Antisemitismus mit seinen mörderischen Konsequenzen nicht in den Kosmos der abendländischen Rationalität und Vernunftgeschichte einordnen. Die Analyse des Antisemitismus muss sich vielmehr im Kern der Erfahrung stellen, »daß eine grundlose Vernichtung von Menschen möglich und wirklich geworden ist« (Diner 1988: 31). Wer vom Antisemitismus reden will, muss mithin nicht vom Kapitalismus reden, sondern die vollkommene Irrationalität und Zwecklosigkeit der Judenvernichtung in den Blick nehmen. Diese Abwesenheit der Zwecke aber stellt die Erklärung vor Rätsel. Die gesamte begriffliche Apparatur, die die abendländische Philosophie und Wissenschaft ausgebildet hat, versagt angesichts eines Phänomens, für das man einen Zweck gar nicht angeben kann. Man kann es nicht in den gewöhnlichen und 245 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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bekannten Entwicklungsgang der Geschichte einordnen, man kann es weder ökonomisch noch psychologisch noch soziologisch erklären. Es ist ein Ereignis von solch irrationaler Qualität, dass es sich aller Einordnung in die menschliche Vernunft und die Welt menschlicher Erfahrungen entzieht. Die Ohnmacht und Unzulänglichkeit aller rationalen begrifflichen Erklärungsversuche angesichts des Grauens auf dem europäischen Kontinent steht hinter den Spekulationen, denen sich Adorno und Horkheimer seit dem Sommer 1941 zuwenden. Die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Erklärungsversuche, auch der eigenen, lässt sie mehr und mehr dazu übergehen, statt allzu simpler ideologiekritischer Analysen die »philosophische Urgeschichte des Antisemitismus« (DA 22) ins Auge zu fassen. Deren Wahrheit bemisst sich nicht an den Kriterien einer historiographischen Darstellung, die das ABC der geschichtswissenschaftlichen Quelleninterpretation einhält, oder an den Daten und Belegen, die die Psychologie oder die Sozialwissenschaft fordern. Die »philosophische Urgeschichte« hat ferner auch mit marxistisch inspirierter Ideologiekritik nichts mehr zu tun, sie bietet keine historische Darstellung der Realgeschichte des Kapitalismus und des Judentums, sie sucht die Ursachen der Zivilisationskatastrophe des 20. Jahrhunderts nicht in den Besonderheiten der deutschen Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg, sie sucht den Grund auch nicht in psychischen Deformationen oder Charakterdefekten. Sie folgt einer ganz anderen Logik und ganz anderen Plausibilitäten. Sie ist der verzweifelte Versuch, sich der das Sagbare sprengenden Irrationalität der Judenvernichtung theoretisch zu stellen und angesichts des Grauens nicht zu versteinern. Und sie folgt bei diesem Versuch dem Modell der genealogischen Kritik – ohne dass Adorno und Horkheimer ihre Hinwendung zur Genealogie eigens ansprechen und begründen würden. Die Urschrift dieses kritischen Verfahrens ist Nietzsches Zur Genealogie der Moral (1887). In dieser Schrift fragt Nietzsche nach der »Herkunft unserer moralischen Vorurteile« (Nietzsche 1887: 209), also danach, »welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse haben« (Nietzsche 1887: 210). Nietzsche sucht die Antwort in »genealogischen Hypothesen« (Nietzsche 1887: 211), in »Herkunfts-Hypothesen« (Nietzsche 1887: 212). In ihnen geht es nicht darum, frühere oder alternative Auffassungen zu widerlegen und mit wissenschaftlicher Akribie und historischer Sorgfalt eine neue Hypothese zu entwickeln. Ihr Anliegen besteht vielmehr lediglich darin, das »Wahrscheinlichere« an die Stelle von Unwahrscheinlichem zu setzen (Nietzsche 1887: 212). Deswegen erzählt Nietzsche seine Geschichten – so die Geschichte vom Sklavenaufstand der Moral gegen die Vornehmen und Gewaltigen, der, geboren aus dem Geist des Ressentiments, vor zweitausend Jahren von den Juden ausging und im Christentum zur Vollendung kam. So die Geschichte von 246 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Geburt des Versprechens und des Gedächtnisses, die von Blut und Gewalt begleitet war, eine »ungeheure Arbeit« darstellte und die »ganze vorhistorische Arbeit« erforderte – charakterisiert von Blut, Schweiß und Tränen, von »Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus«, die aufgeboten werden mussten, damit diese Herkules-Aufgabe bewältigt werden konnte: »ein Tier heranzuzüchten, das versprechen darf« (Nietzsche 1887: 246). Denn darum ging es: »›Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem teils stumpfen, teils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit etwas so ein, daß es gegenwärtig bleibt?‹ … Vielleicht ist gar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. ›Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.‹« (Nietzsche 1887: 248) Und: »Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet.« (Nietzsche 1887: 248) Martin Saar (2007, 2009) hat das Verfahren der Genealogie einer eindringlichen und erhellenden Analyse unterzogen. Die zentralen Kennzeichen dieses kritischen Verfahrens bestehen darin, »dass die genealogischen Historisierungen grundsätzlich von der Gegenwart ausgehen und deren hypothetische, fiktive oder spekulative Vorgeschichte(n) schreiben. Das ›Problem‹, dem sie auf dem Umweg der Historisierung auf die Spur kommen sollen, ist also ein aktuelles; das Mittel zu seiner Formulierung ist die historische Distanzierung durch die Konstruktion von Ursprungs- und Herkunftsszenarien, an denen sich etwas Relevantes zeigt über das Problematische der Gegenwart.« (Saar 2009: 251) Es gehört zu den typischen Stilmitteln der Genealogie, dass sie ihre Darstellungen und Thesen in einer bestimmten »narrativ-rhetorischen, drastischen Form präsentiert« (Saar 2009: 251). Es ist alles andere als wissenschaftlich fundierte Gesellschaftsanalyse, die hier betrieben wird. Nietzsche und Foucault, auf die sich Saar bezieht, arbeiten stattdessen mit dem Verfahren der »methodischen Übertreibung« (Saar 2009: 265), sie arbeiten mit Dramatisierungen und Zuspitzungen, mit grellen Überzeichnungen und Verfremdungen. Es macht wenig Sinn, dem Typus genealogischer Kritik mit den methodischen Kriterien empirischer Wissenschaft oder dialektischer Ideologiekritik zu Leibe zu rücken und ihn daran zu messen. Schnädelbach (1989, 2008) etwa verfährt so. Er hält Adorno vor, dass er völlig unhistorisch argumentiert, der realen Geschichte viel zu wenig Beachtung 247 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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schenkt und sich stattdessen einer universalistischen Geschichtsphilosophie zuwendet, hinter der die wirkliche Geschichte vollkommen zum Verschwinden gebracht wird. Zwar weist Schnädelbach ausdrücklich darauf hin, dass Nietzsches Genealogie der Moral (und Rousseaus Zweiter Discours) dafür das Vorbild liefert, aber er vermag darin kein legitimes Verfahren der Kritik und keine Alternative zu einer wirklich historisch und wissenschaftlich ausgerichteten Gesellschaftsanalyse zu sehen. Sicherlich muss man darüber nachdenken, welche Fragen nur mithilfe einer genealogischen Kritik bearbeitet werden können und welche nicht. Man kann auf diese Frage bei Freud eine Antwort finden. Auch Freud erzählt Herkunfts-Geschichten (vgl. zum folgenden König 1992: 222ff), seine berühmteste Geschichte ist die Erzählung vom Urvatermord. Freud verbindet damit nicht den Anspruch, eine historische Realität zu beschreiben. Man würde sie aber gleichfalls missverstehen, wenn man sie als pure Phantastereien abtut. Sie erfüllen bei Freud einen durchaus benennbaren und nachvollziehbaren Zweck. Er wird sichtbar, wenn man die Herkunfts-Geschichten in den Zusammenhang der Erfahrungen stellt, die der Arzt Freud in der therapeutischen Praxis macht. Freud charakterisiert sein Verfahren nicht als Genealogie, sondern als Suche nach einem »wissenschaftlichen Mythus« (Freud 1921: 151). In der Geschichte vom Urvatermord nimmt Freud an, dass es am Anfang der Geschichte ein tyrannisches Oberhaupt gab, das alle Frauen für sich beanspruchte und die Söhne kastrierte. Nur der jüngste Sohn konnte als »Liebling der Mutter« (1921: 152) entkommen und Nachfolger des Vaters werden. Eines Tages jedoch verbünden sich die Söhne, um den Urvater zu erschlagen. Dessen Macht ist damit aber nicht zu Ende. Nach dem Mord richten die Söhne aus Schuldgefühl das Bild des Erschlagenen in ihrem Innern wieder auf und stehen damit fortan kaum weniger unter der Gewalt des Vaters als zu seinen Lebzeiten. Freud ist davon überzeugt, dass die geschilderten Ereignisse »unzerstörbare Spuren in der menschlichen Erbgeschichte hinterlassen haben« (Freud 1921: 136). Allgemeiner gesagt: Die Menschen stehen nicht nur unter dem Druck ihrer eigenen Gegenwart, sondern tragen zugleich die vorgeschichtlichen Taten, Katastrophen und Ereignisse als »archaische Erbschaft« (Freud 1921: 147) in sich. Für das Verständnis dieser Spekulationen muss man bedenken, dass sie von klinischen Zusammenhängen angetrieben werden. Freud beansprucht nicht, das Wissen über ur- und vorgeschichtliche Ereignisse zu bereichern, sondern es geht ihm um die Gegenwart und die Auflösung eines Problems, das sich ihm bei der Arbeit in der ärztlichen Praxis stellt. Freud will die Tatsache erklären, dass die Patienten immer wieder von übergroßen Schuldgefühlen geplagt werden, die sich der Zurückführung auf reale Erfahrungen hartnäckig widersetzen. Die Bösartigkeit konkreter Väter und Mütter allein kann nach Freud den Schrecken, unter dem die Patienten stehen, nicht zureichend erklären. Da es zwischen der Angst 248 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Neurotiker und der Behandlung, die sie von ihrer Umwelt erfahren haben, keine vernünftige Korrespondenz gibt, vermutet Freud, dass es übermächtige Ereignisse vom Anfang der Geschichte sein müssen, unter denen die Menschen wie unter einem Trauma leiden, das sie bis heute nicht losgeworden sind. Wenn man sie vor diesen Hintergrund stellt, wird die »philosophische Urgeschichte«, die Adorno und Horkheimer schreiben, verständlich.1 Die Annahme, die ihrem Verfahren zugrunde liegt, besteht darin, dass sich der Antisemitismus nicht aus den realen Konflikten der Gegenwart zureichend erklären lässt. Weder ist er ein Mittel im ökonomischen Konkurrenzkampf noch liegt sein Ursprung darin, dass er als Element politischer Interessen eingespannt werden kann, und schon gar nicht lässt er sich als Rache oder Verteidigungswaffe der Antisemiten gegen eine reale Bedrohung durch die Juden verstehen. Es sind vielmehr uralte und unausgetragene Konflikte der menschlichen Gattung und der Zivilisation, die in ihm zum Ausdruck und zum Ausbruch kommen. Über diese Urkonflikte muss sprechen, wer den Antisemitismus erklären will. Da aber ein gesichertes Wissen über sie nicht vorliegt, bleibt nichts anderes übrig als der Versuch, sie mithilfe von Hypothesen und Konstruktionen dem Verständnis zugänglich zu machen. Und dann geht es ganz und gar nicht darum, im konventionellen wissenschaftlichen Sinn den Anspruch auf Wahrheit zu erheben, sondern darum, wie Nietzsche schreibt (1887: 212), »an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere« zu setzen und »unter Umständen an Stelle eines Irrtums einen andern«.

1 Mit etwas anderen Akzenten hat Axel Honneth (2000, 2007) das Kritikmodell der Dialektik der Aufklärung als Genealogie charakterisiert und gegenüber anderen Wegen der Gesellschaftskritik verteidigt. In meinen Augen kommt dabei zu kurz, welche pathologischen Zustände es sind, die nach dem Typus einer genealogischen Kritik verlangen.

249 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Aufklärung und Herrschaft In der fünften These der Elemente des Antisemitismus sind die Überlegungen enthalten, die dieses Kapitel am deutlichsten mit den anderen Teilen der Dialektik der Aufklärung verbinden, vor allem mit dem ersten Kapitel, in dem es um den Begriff der Aufklärung geht. In der ersten These der Elemente haben sich Horkheimer und Adorno von den politischen und ökonomischen Erklärungen des Antisemitismus abgegrenzt. Die zweite These argumentierte mit einer psychoanalytisch inspirierten Zivilisationstheorie und deutete den Antisemitismus als Abwehr von Glücksversprechen, die den Sinn der eigenen Unterdrückung in Frage stellen und deswegen unerträglich sind. In der dritten These wurde dann doch noch einmal die ökonomische Erklärung des Antisemitismus auf dem Hintergrund der marxschen Theorie durchgespielt, und die Juden wurden zu Agenten der Zirkulation, die auf der neuen Stufe des Kapitalismus nun überflüssig geworden und zur Vernichtung freigegeben sind. Die vierte These ging den religiösen Motiven des Antisemitismus nach und stellte die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum in den Mittelpunkt. In der fünften These wird dann am deutlichsten vorgetragen, mit welchen Überlegungen, Hypothesen und Theorien Horkheimer und Adorno ihrerseits den Antisemitismus zu erklären versuchen. Sie bringen ihn in Verbindung mit dem Prozess der europäischen Aufklärung, mit der Entfaltung der wissenschaftlichen Rationalität, mit der Geschichte der Herrschaft über die Natur, mit dem abendländischen Vernunftbegriff (1). Mit dem Begriff der Mimesis stellen sie die Verbindung zur Biologie und zur Urgeschichte her (2) und platzieren damit den Antisemitismus in den Kontext einer Geschichte, die in eins eine Geschichte der Herrschaft und des Verfalls ist (3). Die Perspektive wird nun über die Geschichte der menschlichen Gattung hinaus erweitert in Spekulationen, die sich auf die biologische Urgeschichte der Menschen beziehen. Die Menschen sind animalia und trotz allem nie mehr und nie etwas Besseres gewesen. Man kann und muss die Menschen und ihre Geschichte so betrachten wie die Biologie die Tierwelt betrachtet. Die Menschen sind Tiere, nur raffinierter und listiger. Unter ihnen herrschen Notwendigkeit und Unabänderlichkeit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit.

1. Gesellschafts- und Vernunftkritik Die Dialektik der Aufklärung bringt die Barbarei des 20. Jahrhunderts in engen Zusammenhang mit dem Prozess der Aufklärung und der 250 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Aufklärung und Herrschaft

Geschichte der Wissenschaften. Die zentrale Behauptung des Buches besteht darin, dass es zwischen der organisierten Menschenvernichtung der Nazis und der Entwicklung der abendländischen Vernunft eine untergründige Verbindung gibt. Der Antisemitismus, der unter dem Nationalsozialismus seinen grausigen Höhepunkt erreichte, ist das Resultat der Aufklärung, nicht ihr Gegenteil. Wer den Antisemitismus und den Umschlag der Zivilisation in die Barbarei erklären will, muss mithin die Geschichte und den Begriff der Aufklärung zum Thema machen. Diese These ist natürlich für das Selbstverständnis von Aufklärung und Vernunft in der westlichen Tradition des Denkens äußerst provozierend. Freilich ist damit nicht gemeint, dass die Vertreter der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert dieses Ergebnis intendiert und sich auf ihre Fahnen geschrieben hätten, die Juden vom Erdboden zu vertilgen. Es ist zwar irritierend genug, dass wir bei vielen Größen der Geistesgeschichte mehr oder weniger ungeschminkte Invektiven gegen die Juden finden, und tatsächlich hatte das Institut für Sozialforschung in der Vorstellung seines Forschungsprojekts über den Antisemitismus die Absicht geäußert, die entsprechenden Äußerungen und Verlautbarungen zu dokumentieren und zu analysieren (vgl. Horkheimer 1941: 387ff). Dazu ist es nicht gekommen, und dieser Gesichtspunkt spielt in den Elementen des Antisemitismus nur noch an einer Stelle eine Rolle, an der in einem Nebensatz darauf hingewiesen wird, dass die Juden bei den »großen Aufklärern« bereits das »Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung« (DA 198, I: 3) erfahren haben. Der Begriff der Aufklärung steht nun vielmehr für die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens und Handelns seit ihren Anfängen, und es geht nicht um die antisemitischen Äußerungen dieses oder jenes Autors, sondern um den Begriff der Aufklärung, also darum, was unter Aufklärung zu verstehen ist und wie dieses Verständnis des Denkens und der Aufklärung mit dem Antisemitismus in Verbindung steht. Das macht die Provokation nicht kleiner, sondern größer und fundamentaler. Horkheimer und Adorno sehen einen Zusammenhang zwischen Elementen, die auf den ersten Blick ganz und gar nicht zusammenpassen. Aufklärung, Vernunft, Rationalität, Wissenschaft, Erkenntnis, Denken, Sprache, kurz: die Errungenschaften der abendländischen Kultur und Geschichte sollen nicht Mittel gegen den Antisemitismus sein, sondern gerade umgekehrt zu seiner Entstehung und Verbreitung beigetragen haben. Es ist also nicht so, dass hier das Unheil wütet und dort das Licht der Aufklärung strahlt, sondern vielmehr ist es so, dass gerade die vollends aufgeklärte Erde identisch mit dem Unheil ist. Der Unheilszustand ist nicht charakterisiert durch einen Mangel an Aufklärung, durch Zurückgebliebenheit, sondern durch vollendete Aufklärung. Zugleich vertreten Horkheimer und Adorno freilich nicht die Auffassung, dass die Aufklärung das Ziel hatte, Unheil über die Welt zu bringen, 251 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sondern im Gegenteil, dass sie mit dem Versprechen verknüpft war, der Angst der Menschen ein Ende zu machen. Und die Frage ist nun, wieso dieses Versprechen nicht eingelöst, sondern in sein Gegenteil verkehrt wurde, die Frage ist, wo die Gründe für diese eigentümliche Dialektik der Aufklärung liegen. Die fünfte (und sechste) These der Elemente gehen dem Zusammenhang zwischen fortschreitendem Denken und Antisemitismus nach und schließen damit direkt an das erste Kapitel des Buches an, das mit »Begriff der Aufklärung« (DA 25) überschrieben ist. In diesen Teilen ist vielleicht am deutlichsten der ursprüngliche Plan von Horkheimer und Adorno sichtbar, eine Kritik der Logik zu schreiben, der dann nach und nach und, wie ich oben ausgeführt habe, gerade unter dem Eindruck des Antisemitismus, zugunsten der Dialektik der Aufklärung aufgegeben wurde. Der dritte Satz des ersten Kapitels markiert den Horizont, in dem sich die Argumentation von Horkheimer und Adorno bewegt: »Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.« (DA 25) Und zwei Seiten später heißt es: »Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus.« (DA 27) In diesen Formulierungen ist eine deutliche Anspielung auf Max Weber enthalten, ohne dass dieser Name genannt wird. Webers Überlegungen bilden den Hintergrund für den Wissenschafts- und Aufklärungsbegriff, mit dem Horkheimer und Adorno in ihrem Buch operieren (vgl. Schmidt 1986). Weber hat schon in seinen Studien zur Religionsgeschichte mit der Metapher der Entzauberung gearbeitet und dann 1919 in seinem berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf die Abkehr der okzidentalen Moderne von allen Formen magisch-mythischer Weltorientierung als fortschreitende Entzauberung beschrieben und analysiert. Wissenschaft, meint Weber (1919: 592), wird betrieben »zu rein praktischen, im weiteren Wortsinn: technischen Zwecken: um unser praktisches Handeln an den Erwartungen orientieren zu können, welche die wissenschaftliche Erfahrung uns an die Hand gibt«. Es ist nach Weber nicht so, dass jedermann tatsächlich alle Geheimnisse der Natur und der Technik durchschaut, aber es gilt doch die Maxime, dass ihr Wesen und ihr Funktionieren nichts mit Hexerei zu tun haben, sondern prinzipiell verständlich, nachvollziehbar und berechenbar sind. Die Wissenschaft liefert »Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben, die äußeren Dinge sowohl wie das Handeln der Menschen, durch Berechnung beherrscht« (Weber 1919: 607), und dadurch wird jeder Glaube an übernatürliche Kräfte und Wesenheiten obsolet. Im Zeitalter der Wissenschaft und der Aufklärung verliert die Natur ihre Qualität als Maß und orientierende Größe, als die sie noch in der Renaissance verstanden wurde. In den Anfangs- und Frühzeiten der Forschung erschien die Naturerkenntnis noch als Weg zu Gott. Weber (1919: 597) zitiert den Ausspruch des niederländischen Naturforschers 252 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Jan Swammerdam aus dem 17. Jahrhundert: »Ich bringe Ihnen hier den Nachweis der Vorsehung Gottes in der Anatomie einer Laus.« Heute dagegen glaubt niemand mehr, dass wir über den »Sinn der Welt« (Weber 1919: 597) oder die Existenz und Absichten Gottes etwas durch die Naturwissenschaften erfahren könnten. Physik, Chemie oder Biologie sind nur dazu geeignet, »den Glauben daran: daß es so etwas wie einen ›Sinn‹ der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen!« (Weber 1919: 597). Horkheimer und Adorno schließen sich diesen Bestimmungen an. Bei ihnen heißt es: »Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.« (DA 27) Dadurch wird die Welt von Göttern und religiös verbürgten Sinnstiftungen entleert und in qualitätsloses Material verwandelt, von dem keinerlei verbindliche Gewissheit mehr ausgeht. Das Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis ist immer die technische Handhabung der Dinge zu unseren Zwecken. Weber (1919: 593) spricht von einem Prozess der Intellektualisierung und Rationalisierung, Horkheimer und Adorno sprechen von Aufklärung und Herrschaft. Wie nach Max Weber ist mit dem Prozess der Rationalisierung und Verwissenschaftlichung auch nach Horkheimer und Adorno ein gravierendes Sinnproblem verbunden. Nach Weber ist es keineswegs so, dass der endlose Zuwachs an positivem Wissen, den der Wissenschaftsbetrieb herbeiführt, »Sinn und Verstand in sich selbst hat« (Weber 1919: 592). Die Wissenschaften liefern immer nur einen Zuwachs der Mittel – wofür die Mittel eingesetzt und zu welchen letzten Zielen und Zwecken sie verwendet werden, dazu haben die Wissenschaften prinzipiell nichts zu sagen. Und keineswegs weisen sie und die auf ihre Erkenntnisse gegründete Technik den Weg zum wahren Sein, zur wahren Natur, zum wahren Gott oder zum wahren Glück (vgl. Weber 1919: 598). Mit der Frage, wie wir leben und was wir tun sollen, können die Wissenschaften nichts anfangen. Sinnfragen zu beantworten, ist stattdessen jedem Einzelnen überlassen, jeder muss »von seinen letzten Idealen aus« (Weber 1919: 601), von einer persönlichen Stellungnahme her zu einer Antwort kommen. Unvermeidlich braucht man nach Max Weber für die Beantwortung von Sinnfragen ein Stück Dezisionismus, jedenfalls handelt es sich um Entscheidungen, die nicht ihrerseits einer Intellektualisierung und Rationalisierung durch die Wissenschaften unterzogen werden können. Etwas anderes zu behaupten, erfüllt nach Max Weber den Tatbestand von Scharlatanerie und Demagogie. Die einzige Alternative, die Weber in Wissenschaft als Beruf gelten lässt, besteht zwischen einem heroischen Ertragen der großen Leerstelle an Sinn und der Rückkehr in den Schoß der Kirchen. »Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muss man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, 253 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück.« (Weber 1919: 612). Für diejenigen aber, die sich, wie Max Weber selber, der Wissenschaft verschreiben, könne nur die nüchterne Maxime gelten, dass wir »an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich« (Weber 1919: 613). Bei Schlussfolgerungen und Antworten dieser Art gehen Horkheimer und Adorno allerdings nicht mit. So wenig sie in der Dialektik der Aufklärung noch der marxistischen Perspektive der Befreiung der Produktivkräfte aus den irrationalen Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse anhängen, so wenig begnügen sie sich mit der Antwort, dass wir es mit einem Schicksal zu tun haben, das nur noch die Alternative übrig lässt, es heroisch zu ertragen oder schwächlich zu verleugnen. Der wichtigste Unterschied zu Max Weber besteht zunächst darin, dass Horkheimer und Adorno die Diagnose der Entzauberung der Welt mit einer von Freud her kommenden Perspektive der Zivilisationskritik verbinden. Dadurch gewinnen die Analysen und Überlegungen der Dialektik der Aufklärung ihre spezifische Tönung und Schärfe. Inhaltlich bedeutet das, dass der Prozess der Rationalisierung und Intellektualisierung nicht einfach nur eine Sinnlücke hinterlässt, mit der wir uns abfinden müssen. Es ist vielmehr so, dass die fortschreitende Entzauberung der Welt durch ihre eigene Logik das Gegenteil von dem bewirkt, was mit ihr an Versprechen und Hoffnungen verbunden war. Am Ende der Entwicklung steht nicht ein von Angst und Schrecken befreiter gesellschaftlicher Zustand, sondern die Barbarei. Das legt die Vermutung nahe, dass von Anfang an im Prozess der Aufklärung etwas zutiefst Fragwürdiges enthalten gewesen ist. Es ist dieser innere Zusammenhang zwischen Aufklärung und Irrationalität, Rationalisierung und Menschenvernichtung, Intellektualisierung und Barbarei, der Horkheimer und Adorno zufolge verstanden und beschrieben werden muss. Wenn wir dazu nicht in der Lage sind, dann allerdings wäre die Menschheit dem Übergang in die Barbarei vollkommen hilflos ausgeliefert. Dieser Unterschied zwischen Max Weber und den Autoren der Dialektik der Aufklärung hat sicher auch mit ihrem jeweils sehr unterschiedlichen Naturell und den unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffen zu tun, die sie vertreten. Dort der vom Neukantianismus und seiner Lehre von der Wertneutralität geprägte Nationalökonom und Soziologe Max Weber, hier die an der Hegelschen Dialektik geschulten und von Marx und Freud beeinflussten Sozialphilosophen, die nicht an der Herausarbeitung klinisch sauberer Unterscheidungen interessiert sind, sondern den untergründigen Zusammenhang von auf den ersten Blick heterogenen gesellschaftlichen Phänomenen im Blick haben. Aber sicherlich genauso wichtig ist, dass sich die Zeitumstände, auf die die Autoren jeweils reagieren, vollkommen voneinander unterscheiden. Max Weber reagiert mit seinem Vortrag auf die im Umfeld des Ersten Weltkriegs weit verbreiteten 254 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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irrationalen Sehnsüchte nach Tiefe, Gemeinschaft und Erlebnis. Das ist im Vergleich zur Menschenvernichtungskatastrophe, mit der sich Horkheimer und Adorno auseinandersetzen, beinahe normal und geradezu harmlos.

2. Die Entzauberung der Welt Wissenschaft, Technik, Aufklärung und Rationalisierung bewirken nicht nur eine Entzauberung der äußeren Welt und hinterlassen nicht nur, wie Max Weber meint, eine Sinnlücke. Der Prozess der Aufklärung, in dem ein ungeheurer Vorrat an Wissen und Technik angehäuft worden ist, hat unübersehbar Auswirkungen auch für die innere, für die anthropologische Natur des Menschen. Adorno (1951a: 307) spricht in anderen Texten davon, dass »die organische Zusammensetzung des Menschen« wächst, und er meint damit, in Analogie zur marxschen Formulierung von der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals, dass die Reglementierungen und Festlegungen, die die Menschen wie ein Korsett einschnüren, im Laufe der Geschichte immer mehr zunehmen und enger werden. In eins damit schmilzt der Raum, in dem sich die Bedürfnisse nach Spontaneität und Impulsivität, die Wünsche nach Spielerischem und Unmittelbarem entfalten können. Daraus entsteht eine tiefe Unzufriedenheit voller Gereiztheit, Angespanntheit und Nervosität. Freud diagnostiziert 1930 in seinem berühmten Essay ein mit dem Prozess der Zivilisierung stetig anwachsendes Unbehagen in der Kultur. Die Entzauberung der Welt unterwirft die Menschen einer strengen Disziplinierung und verlangt von ihnen die Unterdrückung ihrer aggressiven und libidinösen Triebe, der sie sich nur höchst widerwillig fügen. Zwar unterwerfen sie sich immer wieder dem stummen Zwang der Verhältnisse und versuchen dessen Zumutungen schön zu reden, indem sie sie mit der Perspektive verbinden, dass sie am Ende doch für die Entbehrungen belohnt werden, entweder, wenn sie gottgläubig sind, im himmlischen Jenseits oder, wenn sie die religiösen Jenseitshoffnungen durch den säkularisierten Glauben an die Geschichte ersetzt haben, eines Tages durch einen wirklichen historischen Fortschritt, von dem dann immerhin die Nachfahren, also die zukünftigen Generationen profitieren werden. Ohne solchen Trost, entweder im Transzendenten oder in der Zukunft, scheint es nicht zu gehen. Häufig scheinen die Menschen sogar gänzlich vergessen zu haben, wieviel Opfer ihnen mit dem Fortgang der wissenschaftlichen Zivilisation abverlangt worden sind. Aber ein wirkliches Vergessen dieser Entbehrungen kann es nicht geben, allenfalls werden sie verdrängt. Mit der Verdrängung steigt nicht der Grad der Freiheit und der Zufriedenheit, sondern nur der Grad der Unzufriedenheit und Verbissenheit. Horkheimer sagt in einem Vortrag aus dem Jahre 1946: »Die überwältigenden Leistungen der Vernunft sowohl bei der 255 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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physischen wie bei der psychischen Naturbeherrschung haben sie (die Menschen, d. Verf.) für die Opfer vergesslich werden lassen, die diese Leistungen forderten. Daher gehört zur heutigen Geistesverfassung und Denkstruktur, allmächtig wie sie sind, ein Element der Blindheit und des Fanatismus.« (Horkheimer 1946: 108) Adorno und Horkheimer sehen also eine enge Korrespondenz zwischen der Entzauberung der Welt und anwachsenden antizivilisatorischen Tendenzen. Jeder Fortschritt in der Beherrschung der äußeren Natur ist unabtrennbar mit einer Zunahme der Kehrseite, mit einer Zunahme an Reglementierungen und Disziplinierungen für die Menschen verbunden, und das heißt zugleich: mit einer Zunahme des Unbehagens. Aufklärung, Unterdrückung und Unbehagen sind unabtrennbar ineinander verwoben. Der enorme Anstieg der Mittel der Naturbeherrschung und der unglaubliche Erfindungsreichtum der Menschen, der wahre Wunderwerke der Technik und der Baukunst vollbringt, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen trotz allem einen Zuwachs an Glück oder auch nur, wie Kant gerne sagt, an »Glückswürdigkeit« keineswegs erreicht haben. Im Gegenteil. Die Bereitschaft zu Grausamkeit, Fanatismus und Quälerei, zu Folter, Gewaltanwendung und Schikane hält unvermindert an und zeigt sich in den nicht abreißenden kollektiven, organisierten Gewaltexzessen der Kriege und der Menschheitsverbrechen. Wenn man die zugespitzten Behauptungen und Thesen, die Horkheimer und Adorno vor allem im ersten Kapitel ihres Buches und in den Elementen formulieren, angemessen verstehen will, muss man diesen Zusammenhang zwischen Entzauberung der Welt durch fortschreitende Naturbeherrschung und wachsender antizivilisatorischer Unzufriedenheit immer mit bedenken. Die zunehmende Beherrschung der äußeren Natur geht einher mit einer wachsenden Herrschaft über die innere Natur des Menschen. Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung ergänzen einander. Stets gibt es die Korrespondenz zwischen außen und innen. Zivilisation ist Zurichtung, Unterdrückung, Ausmerzung von Lust und Spiel, sie ist direkt oder indirekt mit der Wendung gegen die Triebnatur des Menschen verbunden. Der Fortschritt in der Beherrschung der äußeren Natur führt nicht zum Fortschritt an Freiheit und Glück, sondern schränkt im Gegenteil die Glücksmöglichkeiten, den menschlichen Reichtum der Wahrnehmungen und die Spielräume der Spontaneität ein. Auf diesem Hintergrund gesehen, sind der Antisemitismus und die Vernichtung der Juden durch die Nazis das Resultat einer Unterdrückung, der die Zivilisierten ausgesetzt waren und für deren Zumutungen und Entbehrungen sie nun die Juden verantwortlich machen. Der Antisemitismus ist also gleichsam die Quittung für die Geschichte der Naturherrschaft und muss als das paradoxe antizivilisatorische Resultat der Zivilisierung des Menschen verstanden werden. 256 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Genauer betrachtet kann man drei Schichten unterscheiden, die nach Horkheimer und Adorno synchron und ineinander verschränkt die Entwicklung der Menschheit charakterisieren. Auf der ersten Ebene geht es um die Entwicklung des Denkens, des Wissens und der Technik, die zweite Ebene betrifft die innere Natur des Menschen und die Veränderungen in der Anthropologie, und die dritte Schicht bezieht sich auf die Organisationsform der Gesellschaft und ihre fortwährende Spaltung in Herrschende und Beherrschte. Es wäre ganz vergeblich und irreführend, nach einer Hierarchie und nach Abhängigkeiten zwischen diesen drei Ebenen zu suchen. Sie sind in den Beschreibungen und Analysen der Dialektik der Aufklärung so untrennbar ineinander verwoben, dass eine Unterscheidung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen unangemessen wäre. Sehr vereinfacht kann man dennoch sagen, dass der Einstieg und die Architektur des Buches es nahelegen, die Ebene des Denkens, des Wissens und der Sprache für die ausschlaggebende zu halten, von der alles andere abhängt. Diese Schicht nimmt jetzt die Stelle ein, die vormals der dritten Ebene vorbehalten war, also, mit Marx gesprochen, der Arbeit, dem Wert bzw. dem Kapital. So wie Marx die politische Ökonomie als die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft verstand, von der her sich die Gesamtheit der Verhältnisse entschlüsseln lässt, so tendieren Horkheimer und Adorno nun dazu, in den Formen der Erkenntnis und des Denkens den Schlüssel für die Analyse der Menschheitsentwicklung zu sehen. Diese besondere Akzentuierung ist in der ursprünglichen Anlage des Buches noch sehr viel deutlicher ausgeprägt gewesen. Dass der Begriff »Aufklärung« in den Titel des Buches gerückt ist, unterstreicht diese Intention. Die zweite Ebene, die Ebene der menschlichen Natur und ihrer Schicksale, kann man mit der Psychoanalyse Freuds in Verbindung bringen. Freud vertrat die Auffassung, dass es letzten Endes immer die menschlichen Triebschicksale sind, die den Lauf der Geschichte und den Zustand der Welt determinieren. Dieser Auffassung haben sich Horkheimer und Adorno zwar niemals angeschlossen, aber zugleich ist doch unübersehbar, dass die Annahmen der Psychoanalyse Freuds für den zentralen zivilisationstheoretischen Gedankengang der Dialektik der Aufklärung von unverzichtbarer Bedeutung sind. Die Dialektik der Aufklärung ist aber, wie gesagt, an der Festlegung und Fixierung von Abhängigkeiten und Hierarchien zwischen den Ebenen nicht wirklich interessiert. In welchem Ausmaß ihre Autoren stattdessen die gegenseitigen Verschränkungen herausstellen, kann man schon daran erkennen, dass sie immer wieder bestimmte Attribute, die eigentlich einer spezifischen Sphäre zugehören, zur Charakterisierung von Phänomenen der anderen Ebenen heranziehen. So sind dann nicht mehr nur das politische System und die Organisation der Gesellschaft totalitär, sondern auch das Denken: »Aufklärung ist totalitär.« (DA 28) 257 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Ihr »Ideal ist das System« (DA 29), dem nichts entgehen darf und das alles in sich enthält. Und an einer anderen Stelle heißt es ähnlich: »Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen, wie der Diktator zu den Menschen« (DA 31), in ihr wird alles zum »Substrat von Herrschaft« (DA 31). Und umgekehrt – ich habe darauf schon oben in meinen Kommentaren hingewiesen –, ist dann nicht mehr nur eine Erkenntnis richtig oder falsch, sondern auch die Gesellschaft und das Leben können falsch oder richtig sein. In einer berühmten Formulierung Adornos in Minima Moralia (1951a: 42) heißt es: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Einige Passagen des Buches lesen sich sogar wie eine simple Widerspiegelungstheorie, so z.B. die folgende Formulierung, in der über die Begriffe von Platon und Aristoteles gesagt wird, sie »spiegelten mit derselben Reinheit die Gesetze der Physik, die Gleichheit der Vollbürger und die Inferiorität von Weibern, Kindern, Sklaven wider« (DA 44f). Aber im Kern geht es doch immer wieder um die zentrale Behauptung, dass wir es auf jeder der drei Ebenen mit einer Zunahme von Herrschaft zu tun haben und dass die Entwicklungen auf allen drei Ebenen gleichermaßen zur vollkommenen Zivilisationskatastrophe in der Mitte des 20. Jahrhunderts beitragen. Auf der Ebene des Wissens äußert sich die Herrschaft darin, dass es im Prozess der Rationalisierung nicht um »Bilder« und das »Glück der Einsicht« (DA 26) geht, sondern um Allgemeinbegriffe, methodische Verfahrensweisen und Erlangung von Macht: »Macht und Erkenntnis sind synonym.« (DA 27) Auf der anthropologischen Ebene äußert sich die Herrschaft darin, dass wir es mit der fortschreitenden Unterdrückung der menschlichen Triebnatur zu tun haben. Was die Menschen gegenüber der äußeren Natur machen, das machen sie auch mit sich selbst. Also korrespondiert die Herrschaft über die äußere Natur mit der Beherrschung der eigenen Triebnatur. Die Reduktion der Mannigfaltigkeit der Natur auf die Quantität der Zahl geht einher mit der massiven Reduktion des Menschen und seiner Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit. Was anders ist, wird gleichgemacht – das gilt für die äußere Natur wie für die innere Natur. Alles, was in das Schema der Macht nicht hineinpasst, wird nivelliert. In den beiden Exkursen des Buches über die Odyssee und über de Sade spielt dieser Gedanke die entscheidende Rolle. Die Erzählung Homers über das Schicksal seines Helden Odysseus wird von Adorno und Horkheimer als Urgeschichte bürgerlicher Subjektivität einer ebenso faszinierenden wie bedrückenden Interpretation unterzogen. Die Entwicklung des Individuums ist eine Geschichte der Herrschaft und der Entsagung, das Überleben wird bezahlt mit dem Preis von Verstümmelung und Zurichtung. Und für die dritte, die gesellschaftliche Ebene gilt, dass sie von Anfang bis Ende von der »Ausnutzung der Arbeit anderer« (DA 26) durchzogen ist, von hierarchischen Verhältnissen der Abhängigkeit und der Unterdrückung – gleichgültig ob die Unterdrückung von einer ökonomischen 258 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Klasse ausgeübt wird oder von gangs und rackets. Diese dritte Schicht, also die Ebene der gesellschaftlichen Herrschaft und der ökonomischen Organisation wird nicht in einem eigenen Kapitel abgehandelt, sondern ist in verstreuten Bemerkungen des Buches immer gegenwärtig, verdichtet z.B., wie wir gesehen haben, auch in der zweiten und dritten These der Elemente des Antisemitismus. Sicherlich ist es die erste Ebene, die Kritik der Aufklärung und der Rationalisierung, von der die größte Irritation und Provokation des Buches ausgeht. Sie ist in der Tat weitgehend präzedenzlos, wenn wir von der Anknüpfung an die Entzauberungsthese Max Webers absehen. Allerdings wurde sie durch interne Diskussions- und Arbeitszusammenhänge im Institut für Sozialforschung vorbereitet und begleitet. In ihnen ging es um den Versuch, den »gesellschaftliche(n) Charakter der Denkformen« (DA 44) herauszuarbeiten, also nachzuweisen, dass die Geschichte des Denkens und die Gesetze der Logik unabtrennbar in die gesellschaftliche Praxis von Herrschaft und Unterdrückung verwoben sind. Horkheimer formulierte in einer Notiz aus dem Jahre 1939 den Gedanken, dass schon in der Sprache selber die herrschaftliche Logik der »Subsumtion«, die die Welt in eine »geschichtslose Wirklichkeit« verwandelt, unvermeidlich enthalten ist (Horkheimer 1939a: 70). In einer sich daran anschließenden Diskussion, deren Protokoll erhalten ist, äußert sich Adorno dazu aber voller Skepsis: »Ihre Theorie ist ein ungeheurer Angriff auf die Sprache. Ist das, was in der Sprache vorliegt, nicht dialektischer? Wenn ich etwas benenne, ist das stets nur eine analytische Funktion?« (Horkheimer/Adorno 1939: 495). Dennoch folgt auch die Dialektik der Aufklärung zuweilen den damit angedeuteten Wegen. Auch für sie ist es das »Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit« (DA 28), das allen Denk- und Sprechakten in der Geschichte der Menschheit zugrunde liegt. In Analogie zu Kants Redeweise vom »Schematismus der reinen Verstandesbegriffe« (Kant 1781/1787: B 176ff) sprechen Horkheimer und Adorno vom »Schema der Berechenbarkeit der Welt« (DA 29), das dem menschlichen Denken und Sprechen gleichsam a priori immer schon zugrunde gelegen hat. Der Inbegriff der Berechenbarkeit ist die Zahl, und das höchste Ziel der Aufklärung besteht darin, die Welt in zählbare Einheiten zu verwandeln: »die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung« (DA 29). Was man zählen kann, darüber ist man mächtig. Die Zahl macht das Ungleiche gleich und das Fremde zum Vertrauten. Folglich ist für Adorno und Horkheimer die Mathematik das Telos des Denkens und Wissens in der Geschichte der Aufklärung. Das Ziel ist immer und überall das gleiche: »Souveränität übers Dasein« (DA 31). »Denn Aufklärung ist totalitär wie nur irgendein System. … Sie setzt Denken und Mathematik in eins. Dadurch wird diese gleichsam losgelassen, zur absoluten Instanz gemacht. … Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen 259 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Prozess, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.« (DA 47f) Das betrifft zuallererst den wissenschaftlich verstandenen Begriff als Merkmalseinheit des darunter jeweils zusammengefassten sinnlichen Materials der Anschauung. Der »Herrschaft in der Sphäre des Begriffs« (DA 36) korrespondiert das »Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit« (DA 36). Die »begriffliche Einheit« drückt »die durch Befehl gegliederte … Verfassung des Lebens« (DA 36) aus. So wie Marx im Kapital eine Macht sah, die die ganze Welt zum Material, zum Stoff ihres unstillbaren Drangs nach Verwertung macht, so sehen Horkheimer und Adorno nun im Denken und Sprechen, generell in den rationalen Fähigkeiten des Menschen, den unersättlichen Drang danach, die ganze Erde zum Stoff seines Eroberungs- und Unterwerfungsstrebens zu machen. In den Begriffen bildet sich auch die Herrschaft von »Privilegierten« (DA 43f) ab. »Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang.« (DA 44) Die Menschheit tritt also nicht als einheitliches Subjekt gegen die Natur auf, sondern ist in verschiedene Gesellschaftsklassen gespalten – »die Macht ist auf der einen, der Gehorsam auf der anderen Seite. Die wiederkehrenden, ewig gleichen Naturprozesse werden den Unterworfenen, sei es von fremden Stämmen, sei es von den eigenen Cliquen, als Rhythmus der Arbeit nach dem Takt von Keule und Prügelstock eingebleut, der in jeder barbarischen Trommel, jedem monotonen Ritual widerhallt.« (DA 43) Die Wissenschaft spiegelt in ihren Operationen die Geschichte und Gegenwart dieser innergesellschaftlichen Herrschaft. »Wie die ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentierten, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluss der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit der Arbeitsteilung.« (DA 44) Die Logik der Denksysteme ist nicht Resultat von Solidarität, sondern von Herrschaft: »Nur freilich ist dieser gesellschaftliche Charakter der Denkformen nicht, wie Durkheim lehrt, Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, sondern Zeugnis der undurchdringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft. … Es ist diese Einheit von Kollektivität und Herrschaft und nicht die unmittelbare gesellschaftliche Allgemeinheit, Solidarität, die in den Denkformen sich niederschlägt.« (DA 44) Als gültige Beschreibung der rationalen wissenschaftlichen Prozeduren gilt der Dialektik der Aufklärung die theoretische Philosophie Kants. Die wissenschaftlichen Begriffe sind im Kern wie Instrumente und Waffen, mit denen die Menschen ihre Beute jagen und sich einverleiben. »Der Kantische reine Verstand gleicht einer Maschinerie. Er enthält die Formen, die das Subjekt dem Material aufprägt, gleichsam die Kästen und Fangarme für das Rohmaterial. Mechanistischer als sein Bild vom Werden der Natur ist auch das des physikalischen Materialismus nicht. Als 260 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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eine Art produktiver Apparatur ist die transzendentale Apperzeption … unermüdlich tätig, die Wirklichkeit, die feste Welt der Erscheinungen herzustellen. … Das Subjekt, wie sehr Kant sich bemüht, es rein von allem Inhalt zu fassen, gleicht dem arbeitenden Menschen, dem Bürger, der sich der Apparatur, der Maschinerie bedient.« (Horkheimer 1962: 166) »Die Verweisung des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro.« (DA 53) Die Herrschaftsansprüche des Denkens bestimmen nach Horkheimer und Adorno aber nicht erst die neuzeitliche Wissenschaft, sondern bereits die Anfänge der Menschheitsgeschichte, die sich im Dunkeln der Vor- und Frühzeit verlieren. Auch die magisch-mythische Weltorientierung steht also bereits im Zeichen des Versuchs, die Natur zum Objekt der Beherrschung zu machen. Die Dialektik der Aufklärung beginnt zwar in ihrem ersten Kapitel mit der Kritik des wissenschaftlichen Denkens und seiner theoretischen Begründung durch Francis Bacon, bezieht dann aber sehr rasch in ihre Überlegungen die Phasen der Magie und des Mythos mit ein. Schon in ihnen ist der Anspruch auf Herrschaft und Beherrschung enthalten. Auch Mythen, Rituale und Zauberei gehören unter die Rubrik der Aufklärung und haben teil an ihrer Dialektik. Sie stehen »im Zeichen jener Disziplin und Macht« (DA 30), die die Geschichte der Menschheit bestimmen. Die Beschwörungsrituale der Zauberer, die Opferpraktiken, von denen die Mythen berichten, die wissenschaftlichen Laboratorien der Industrie und der modernen Akademien – sie alle sind Varianten und Stufen des immer gleichen Willens zur Macht und der Unterwerfung der Natur. In jeweils unterschiedlicher Dichte und mit unterschiedlichen Erfolgen geht es in ihnen nur darum, die Vielheit der Erscheinungen auf Einheit zu reduzieren, das Inkommensurable abzuschneiden und auszuscheiden, das Unbekannte in Bekanntes zu verwandeln. Die »Fülle der Qualitäten« (DA 32), die die Welt der Natur ausmacht, wird eingegrenzt und nivelliert auf Varianten des Immergleichen. »Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären. Mit der Aufzeichnung und Sammlung der Mythen hat sich das verstärkt. Sie wurden früh aus dem Bericht zur Lehre. … Die Mythen, wie sie die Tragiker vorfanden, stehen schon im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als Ziel verherrlicht.« (DA 30) In einer weiteren und letzten Zuspitzung ist es dann schon die Sprache selbst, die nach Horkheimer und Adorno von Anfang an durch eine Verwertungs- und Unterwerfungslogik gezeichnet ist. Sprache ist Herrschaft, sie ist immer schon ein Instrument von Naturbeherrschung und Zurichtung, und die ursprüngliche Namensgebung der Dinge, so sehr sie auch von der Angst bestimmt gewesen sein mag, ist ein Akt, mit dem die Menschen ihre Herrschaftsansprüche gegenüber der Natur zur Geltung bringen. »Der Ruf des Schreckens, mit dem das Ungewohnte erfahren wird, wird zu seinem Namen.« (DA 37) Der Name »stammt aus der 261 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Angst des Menschen« (DA 37), er ist ursprünglich der »Ruf des Schreckens« und wird dann »zur Erklärung« (DA 37), mit der die Menschen den Versuch machen, die Gegenstände zu bannen, sie gefügig und handhabbar zu machen. Am deutlichsten tritt der Herrschaftscharakter der Sprache zutage, wenn sie – wie in der Lehre des Positivismus – zum reinen Zeichensystem gemacht wird (vgl. DA 39ff). Hier liegt der Kern der Sprachtheorie, die in der Dialektik der Aufklärung vertreten wird. Sie besagt, dass das Bildhafte, das einmal das Sprechen bestimmte, durch die Entzauberung der Welt immer stärker in den Hintergrund treten muss und schließlich in den Sonderbereich der Kunst und der Dichtung abgedrängt wird. Wenn man dann in der Sprache nur noch die Funktion der Bezeichnung sieht, spricht man ihr damit die Qualität ab, die sie eigentlich charakterisiert und ausmacht: die Fülle der Natur und die Vielfalt der Formen ihrer Wahrnehmungen mithilfe der menschlichen Stimme zum Ausdruck zu bringen. »Als Zeichen kommt das Wort an die Wissenschaft; als Ton, als Bild, als eigentliches Wort wird es unter die verschiedenen Künste aufgeteilt, ohne dass es sich durch deren Addition, durch Synästhesie oder Gesamtkunst je wiederherstellen ließe. Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein.« (DA 40) Sprache ist dann ein reiner Bemächtigungsund Ausgrenzungsmechanismus. Vom Subjekt bleibt nur das schematische und leere »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können« (DA 49). Damit aber werden beide, Subjekt wie Objekt, gleich nichtig und nivelliert.

3. Geschichte als Naturgeschichte Im letzten Kapitel der Dialektik der Aufklärung, überschrieben »Aufzeichnungen und Entwürfe«, findet sich eine etwas mehr als dreiseitige Notiz mit dem Titel »Zur Kritik der Geschichtsphilosophie« (DA 253– 256). In ihr wird der Geschichtsbegriff, der dem Buch insgesamt zugrunde liegt, verdichtet festgehalten. Horkheimer und Adorno drehen die Sichtweise einer zukunftsfrohen Geschichtsphilosophie, die sie Christentum, Idealismus und Materialismus gleichermaßen zuschreiben, um und tauchen die historische Entwicklung in ein tiefschwarzes Licht. Ganz und gar verstellt ist für sie die Perspektive, die Beschreibung der Geschichte an »Kategorien wie Freiheit und Gerechtigkeit« (DA 253) zu orientieren, unmöglich ist es, Geschichte weiterhin als Fortschrittsgeschichte zu verstehen, sei es, wie Marx, als Fortschritt der Produktivkräfte oder, wie Hegel, als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Die Geschichte erscheint in den Augen von Horkheimer und Adorno vielmehr als eine einzige, nur gelegentlich und nur in kurzen Phasen unterbrochene Kette von 262 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Mord und Todschlag, Terror und Unterdrückung, Verfall und Schrecken. Die Geschichte ist »nicht das Gute, sondern eben das Grauen« (DA 256). Und die irritierende und herausfordernde Behauptung der Dialektik der Aufklärung lautet, dass der Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht als Rückfall hinter den erreichten Stand der Menschheit zu sehen ist, sondern dass sich die Menschheitsgeschichte umgekehrt von Anfang an auf diese Katastrophe zu bewegt hat – eine Einsicht, die sich freilich nur retrospektiv, vom Endpunkt der historischen Entwicklung in der Mitte des 20. Jahrhunderts her formulieren und gewinnen lässt. Von diesem Endpunkt her betrachtet aber zeigt sich, dass die Leistungen der Geschichte im Grunde nie in etwas anderem bestanden haben als darin, die Mittel zur Unterjochung und Vernichtung ins Gigantische anwachsen zu lassen. Die klassische deutsche Philosophie hatte das ganz anders gesehen, und in diesem Punkt unterscheidet sich der Materialismus von Marx keinen Deut vom Idealismus seiner philosophischen Vorgänger. Übereinstimmend verlegten sie »die humanen Ideen als wirkende Mächte in die Geschichte selbst« und ließen »diese mit deren Triumph« endigen (DA 255). So wie Hegel vom »Weltgeist« sprach, der sich in der Geschichte über alle Hindernisse hinweg durchsetzt, so sah Marx im ökonomischen Bewegungsgesetz der Geschichte den Garanten dafür, dass sich am Ende gegen alle partikularen Zwecksetzungen der beteiligten Akteure die Belange des Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Vernunft realisieren und Geltung verschaffen. Da es den Tatsachen zu sehr widersprochen hätte, die Geschichte direkt als den Boden des Glücks zu apostrophieren, verfiel diese Art der rationalen Geschichtsphilosophie auf zwei gedankliche Auswege. Zum einen verlegte sie die Belohnung für die Anstrengungen und Entbehrungen in die Zukunft, und zum zweiten wurden das nicht zu verleugnende Schreckliche und Schlechte als Antriebskraft und Hebel verstanden, die in Wirklichkeit dem Guten in die Hände arbeiten. Beide Denkoperationen legen ein beeindruckendes Zeugnis von der durch nichts ins Wanken zu bringenden Zuversicht ab, mit der am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geschichte der Menschheit betrachtet wurde. Nach Kant ist es zwar befremdlich, »daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben … und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren … gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil zu nehmen«. Das sei alles in allem zwar »rätselhaft«, aber eben doch auch »notwendig«, denn schließlich seien die Menschen allesamt sterbliche Wesen, und nur die menschliche Gattung sei unsterblich, weswegen die Menschheit eben nicht hic et nunc, sondern nur im zeitlichen Verlauf die »Vollständigkeit der Entwicklung ihrer Anlagen« realisieren könne. Um den Bogen nicht zu überspannen, gleichsam als Vorsichtsmaßnahme 263 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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gegen allzu große und allzu zweifelsfreie Hoffnungen auf bessere Zeiten sprach Kant aber nicht von einem paradiesischen Endzustand der Geschichte, sondern lieber davon, dass die Menschen an »Selbstschätzung« (alle Zitate: Kant 1784: 37) gewinnen und der »Glückseligkeit würdig werden« (Kant 1793: 131) können. Das reale und vollendete Glück wirklich zu erreichen, steht nicht in der Macht der Menschen, dabei spielen zu viele Dinge eine Rolle, über die sie nichts vermögen. Was dagegen tatsächlich, und zwar jederzeit, in ihrer Macht steht, ist, sich »des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen« (Kant 1784: 37). Ob daraus ein wirklich reales Wohlbefinden und ein wirkliches Glück entstehen können, ist etwas, worüber sich Kant keineswegs so sicher ist, was jedenfalls nicht ausschließlich in der Reichweite und der Macht der Menschen steht. Dazu müsste die »Naturabsicht« (Kant 1784: 34) dem Menschen helfend zur Seite stehen. Das kann man zwar wünschen, aber sicher sein kann man sich dessen nicht. Die Geschichtsphilosophie Hegels ist von solchen vorsichtigen Vorbehalten und Reserven schon weitaus weniger bestimmt. Dass es insgesamt in der Geschichte vernünftig zugeht, daran hat Hegel viel weniger Zweifel als sein Königsberger Vorläufer. Aber auch Hegel kommt nicht ohne die Annahme einer nur indirekten Realisierung des Guten aus. Die Vernunft verwirklicht sich nicht auf direktem Wege, sondern bedient sich, wie Hegel in seinen Vorlesungen über den Begriff der Geschichte sagt, einer »List« (Werke 12: 49), die aus dem Bösen ein Instrument des Guten macht und auch Untergänge noch in Morgenröten neuer Anfänge verwandelt. Marx greift diesen Gedanken der List und des Umwegs ohne jeden Vorbehalt auf, sieht allerdings nicht mehr im Weltgeist den Motor der Geschichte, sondern in den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Voller Emphase und Zuversicht polemisiert er im Elend der Philosophie gegen die Naivitäten Proudhons, der von den dialektischen Gesetzen der Geschichte keine Ahnung hat und »im Elend nur das Elend« sieht, »ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird« (Marx 1847: 143). Das Schlechte ist in diesen Konstruktionen nur der Durchgang und Übergang zum Guten. Ohne Verlust, Unglück, Tod und Gewalt hätten die Menschen keinen Grund, jene gewaltigen Anstrengungen auf sich zu nehmen, die sie dazu treiben, alle ihre Anlagen und Potentiale zur Entfaltung zu bringen. Wer so argumentiert, ist sich des glücklichen Ausgangs der Geschichte sehr sicher. Schon zu ihrer Zeit aber tragen diese Bestimmungen die Züge einer Rationalisierung, die Züge eines eher trotzigen Beharrens darauf, dass alles gut wird. Horkheimer und Adorno, die ihrerseits bis in die 1940er Jahre hinein von dieser Haltung im Grunde noch nicht lassen wollten, sehen das aber nun vollkommen anders. Von einem segensreichen Wirken geheimnisvoller Kräfte, die alles zum Guten wenden, kann 264 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in ihren Augen gar keine mehr Rede sein. So zu argumentieren, setzt sich für sie dem Vorwurf einer Verharmlosung und Rechtfertigung des Bösen und der Unterdrückung aus. Dieser Verdacht spielte ja bereits in der vierten These der Elemente eine große Rolle, in der es um die religiösen Wurzeln des Antisemitismus und um die vorschnelle Versöhnung des Christentums mit einer ganz und gar unversöhnten Welt ging. Statt dass Rückschritte, Gewaltausbrüche, Zwang und Unterjochung in Momente des Fortschritts der Geschichte verwandelt werden, ist es für Horkheimer und Adorno nun umgekehrt so, dass alle Errungenschaften der Zivilisation, alle Kultivierung und alle Elemente der Freiheit wie durch einen Bann zu Elementen des Terrors und der Unterdrückung werden. Sie dienen nicht der Zivilisierung und Moralisierung der menschlichen Gattung, sondern nur dazu, »die Menschen zu immer weiter reichenden Bestien zu machen« (DA 254). Durch diese eigentümliche Dialektik werden die Anstrengungen der Befreiung und des Fortschritts zunichte gemacht und treten in den Dienst der Totalisierung der Herrschaft. In der Geschichtsphilosophie von Horkheimer und Adorno gibt es eine negative Teleologie, die alle Errungenschaften ins Negative wendet und alle Fortschritte in Elemente von Gewalt und Unterdrückung verwandelt. Das einzige, was durch die Geschichte hindurch anwächst, ist das Potential der menschlichen »Vernichtungsfähigkeit« (DA 255). Auch humane Ideen und Absichten, wie etwa die Befreiung der Bürger oder die Emanzipation der Frauen werden wie durch einen Sog in Mittel zur Steigerung der destruktiven Potentiale verkehrt. Und sogar für die Kritik der bürgerlichen Herrschaft und des Kapitalismus, wie sie durch Marx und Engels vorgelegt wurde, gilt, dass sie sich »wider Willen mit der Unterdrückung identifiziert, die sie abschaffen wollten« (DA 255). Wie ein »Verhängnis« (DA 256), wie ein Fluch lastet über der Geschichte das fatale Gesetz einer Unfreiheit, das sämtliche Ansätze von Emanzipation und Befreiung, sämtliche Anstrengungen, aus dem blinden Naturzwang herauszukommen, vereitelt und ins Gegenteil verkehrt. Keinesfalls ist die Geschichte noch der Ort der Realisierung des Guten – sie ist das reine Grauen. Ins Generelle gewendet, ziehen Horkheimer und Adorno aus diesen Überlegungen die Schlussfolgerung, dass sich die menschliche Geschichte im Grunde in keiner Weise von den Zuständen in der Natur unterscheidet. Was das Geschehen in der Natur mit ihren erbarmungslosen Kämpfen und Räubereien bestimmt, setzt sich in der menschlichen Geschichte, nur versehen mit anderen Vorzeichen, nahtlos fort. Das darwinsche Prinzip des survival of the fittest gilt nicht nur für die Welt der Pflanzen und Tiere, sondern determiniert vollständig auch die Verhältnisse zwischen den Menschen. Die menschliche Geschichte ist, wie die Naturgeschichte, die Geschichte des Fressens und Gefressenwerdens. Die Errungenschaften der Menschengattung, ihre »Maschinen, Chemikalien, Organisationskräfte« (DA 253) gehören zum Menschen wie die »Zähne 265 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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zum Bären« (DA 253) – mit dem einzigen Unterschied, dass die menschlichen Erfindungen »besser funktionieren« (DA 253) als die natürlichen Ausstattungen der Raubtiere. In der Weltgeschichte wird nur auf einer anderen Bühne das Drama der natürlichen Kämpfe ums Dasein erneut aufgeführt. Es ist ein Drama, in dem andere Mittel zum Einsatz kommen, aber es ist im Grunde von der gleichen Logik beherrscht. Der Naturbegriff, mit dem Adorno und Horkheimer hier arbeiten, ist ganz und gar unromantisch und enthält keinerlei Elemente einer Naturschwärmerei. Er ist von einem Verständnis inspiriert, das auch bei Marx und Engels vorherrscht – etwa, wenn sie in der Deutschen Ideologie gegen alle Arten einer »Naturmystifikation« (1845/46: 461) polemisieren und dagegen den nüchternen und illusionslosen Blick auf »die größte Konkurrenz unter Pflanzen und Tieren« und ihren »offenen Krieg« (Marx/Engels 1845/1846: 459) aufbieten. Wo aber Marx und Engels in ihrer Polemik die Naturverhältnisse mit Begriffen beschreiben, die eigentlich ihren Ort in der Gesellschaftskritik haben und damit in ideologiekritischer Absicht deutlich machen, dass der Blick auf die Natur determiniert ist von den gesellschaftlichen Verhältnissen, da ziehen Horkheimer und Adorno nun den umgekehrten Schluss. Sie sehen in den gesellschaftlichen Zuständen und den geschichtlichen Entwicklungen die Fortsetzung der Naturverhältnisse. Also ist es nicht mehr so, dass sich die Verhältnisse in der Pflanzen- und Tierwelt wie die Verhältnisse unter den Menschen darstellen und in Analogie zu ihnen als feudale und monarchische Strukturen charakterisiert werden können, wie es bei Marx und Engels der Fall ist. Es ist umgekehrt: Unter den Menschen geht es genau so brutal zu wie in der Tier- und Pflanzenwelt. Die Menschen sind Tiere, nur raffinierter, gewandter, klüger im Ausdenken und Entwickeln der Mittel, mit denen sie sich gegenseitig attackieren, unterjochen und bekriegen. Wie in der Welt der Tiere regiert auch unter den Menschen einzig das Prinzip des Überlebens und der Selbsterhaltung, auf Kosten der anderen, um jeden Preis. Technik und Wissenschaft, Vernunft und Sprache, alle Fortschritte der menschlichen Gattung dienen eigentlich nur dazu, den menschlichen Raubtieren die Mittel zu liefern, mit denen sie ihren Kampf gegeneinander immer raffinierter und effektiver zu gestalten vermögen. Noch in den ausgeklügelten Operationen der formalen Logik und den subtilsten Herleitungen der Transzendentalphilosophie steckt nichts als die Absicht der Selbsterhaltung und der Berechnung, das Interesse an sich selbst und der Sicherung einer aussichtsreichen Position im Kampf ums Überleben. Die Menschen sind Raubtiere, nur raffinierter. Ihre Geschichte unterscheidet sich von der Welt der Tiere lediglich in der höheren Effektivität gegenseitiger Bedrohung und Ausrottung. Die Menschheitsgeschichte ist Naturgeschichte, Raubtiergeschichte. Es sind immer die Rücksichtslosesten und Stärksten, die sich durchsetzen. 266 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Es ist eigentümlich, dass Adorno und Horkheimer in diesen Behauptungen und Konstruktionen nicht weniger pauschalisierend und ab­strakt argumentieren, als sie es der Aufklärung und ihrer Herrschaftsabsicht vorhalten. In ihrer Kritik des abendländischen Denkens berauben sie ihrerseits das Besondere und historisch Spezifische jeglichen Eigensinns und verwandeln es in ein Exemplar negativer Allgemeinheit. Da gibt es nur den einen und immer gleichen »herrschenden Geist von Homer bis zur Moderne« (DA 54), und »von Parmenides bis auf Russell« wird die bürgerliche Gesellschaft offenbar zu allen Zeiten und ganz unterschiedslos vom alles nivellierenden Äquivalenzprinzip beherrscht, das zum wesenlosen Schein entwertet, »was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht« (DA 30). Gewiss ist es so, dass Adorno und Horkheimer erst post festum, vom Endpunkt des totalitären Antisemitismus aus, die Geschichte als unentrinnbar schicksalhafte Naturgeschichte schreiben. Und gewiss kann man sagen, dass darin die ganze Verzweiflung über einen grauenhaften Weltzustand zum Ausdruck kommt, mit dessen Realität man sich niemals wird abfinden können. Aber das Entsetzen wird nicht unbedingt dadurch auf die einzig angemessene Weise zum Ausdruck gebracht, dass man seinen Beginn bereits an den Anfang der Geschichte verlegt. Hannah Arendt etwa teilt mit den Verfassern der Dialektik der Aufklärung den Ausgangspunkt, ja sie gehört mit ihnen zu denjenigen, die am nachdrücklichsten herausgestellt haben, dass die totalitäre Herrschaft das Selbstverständnis der abendländischen Zivilisation zutiefst erschüttert hat. Aber für den Geschichtsbegriff zieht sie die entgegengesetzte Konsequenz. Sie betont nicht die negative Kontinuität der Geschichte, sondern den Bruch, sie betont nicht die Schicksalhaftigkeit und Unentrinnbarkeit der Katastrophe, sondern die kontingenten Elemente, die zu ihr geführt haben. Für die Konstruktion der Geschichte als Naturgeschichte des Fressens und Gefressenwerdens, die Horkheimer und Adorno entwerfen, kommt hinzu, dass der in dieser Argumentation zugrunde gelegte Naturbegriff in einem deutlichen und unaufgeklärten Kontrast zu einem ganz anderen Naturbegriff steht, der in den Elementen eine wichtige Rolle spielt und in enger Verbindung mit dem Begriff der Mimesis steht. Solange die Menschen der Natur immer nur in herrschaftlicher Absicht gegenübertreten, setzt die menschliche Geschichte die Verhältnisse des Fressens und Gefressenwerdens nur fort. Auch die marxsche Theorie ist in dieser Perspektive betrachtet noch ganz im Paradigma der Naturbeherrschung befangen. Vermittelt über die rationale Arbeit setzen die Menschen ihre Herrschaftsansprüche gegen die Natur nach und nach durch und unterwerfen sie ihren eigenen Zwecken. Mit dem Begriff der Mimesis wird dagegen ein Verhältnis zur Natur anvisiert, das nicht auf Herrschaft zielt, sondern auf Versöhnung. 267 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Mimesis und Zivilisation 1. Nachahmung In den Texten von Horkheimer taucht das Thema der Mimesis zum ersten Mal im Forschungsprojekt über den Antisemitismus auf. In diesem Bericht, der 1941 in Heft 3 des Jahrgangs VIII der Zeitschrift für Sozialforschung erscheint, ist allerdings nicht wörtlich von Mimesis die Rede, sondern von »Nachahmung«. Horkheimer führt diesen Begriff ein, weil er mit ihm die Möglichkeit der Zurückweisung der biologischen und naturalistischen Rassenlehre verbindet. Das Argument lautet, dass typische Merkmale und Wesenszüge von Rassen oder Gruppen nicht auf Vererbung und genetische Codes zurückzuführen sind, wie das von den Vertretern der naturalistischen Rassenlehre behauptet wird, sondern auf dem psychologischen Mechanismus der Nachahmung beruhen. Das Forschungsprojekt, so heißt es im Bericht, stütze sich an dieser Stelle auf die »Ergebnisse der modernen Psychologie« und folge deren »Trend« (Horkheimer 1941: 404). Horkheimer betrachtet die Nachahmung als zentrale Kategorie der Lernpsychologie, besonders im Blick auf die Phase der frühen Kindheit. Auf den Antisemitismus bezogen bedeutet das: Die Verhaltensweisen und Charaktermerkmale der Juden kommen ihnen keineswegs von Natur aus zu, liegen nicht in ihren Genen, sondern werden auf psychologischem Wege, über die Prozesse der Nachahmung, von einer Generation an die nächste weitergegeben. Diese Überlegung ist auch in einen Satz aus der fünften These der Elemente eingegangen, in dem es heißt, dass die »undisziplinierte Mimik … kraft eines unbewussten Nachahmungsprozesses durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt (wird), vom Trödeljuden auf den Bankier« (DA 212, V: 4). Ähnliches gilt dem Forschungsbericht zufolge auch für die scheinbar automatisierte, quasi natürliche Reaktionsweise der Antisemiten. Diese reagieren nicht deswegen so impulsiv und instinktiv ablehnend auf Juden, weil ihnen das als Rassenmerkmal durch die Gene ins Blut untilgbar eingeschrieben ist, sondern weil sie den antisemitischen Habitus über die Gesetze der Nachahmung von ihren Vorfahren übernommen haben. Die Stelle lautet im Zusammenhang: »Wir folgen dem Trend der modernen Psychologie insofern, als wir die These akzeptieren, daß sich genau jene entscheidenden Charakterzüge, die sich im Leben des Individuums als relativ konstant erweisen, auf die Geschichte und die Erfahrungen des Kindes in seinen ersten Lebensjahren zurückführen lassen. In der Frühphase seines Lebens kommt das Kind nicht mit dem zeitgenössischen sozialen Milieu, sondern nur mit seinen nächsten Verwandten 268 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in Kontakt. Und auch sie kommunizieren weniger auf der Basis ihrer rationalen Überzeugungen mit ihm als auf der von Verhaltensweisen (Triebregungen und Impulsen), die ihnen in der Frühzeit ihres eigenen Lebens eingeprägt wurden. Allerdings läßt sich zeigen, daß es nicht die Bedeutung der Worte ist, die den größten Eindruck auf das Kind macht, sondern der Ausdruck, die Stimme und die Bewegungen der Eltern. Nachahmung ist die Seele des Lernens. Die Fähigkeit des Kindes, Ausdrucksweisen von Erwachsenen nachzuahmen, ist fast grenzenlos. Es beobachtet die unmerklichsten und feinsten Schattierungen ihrer Gesten. So kommt es dazu, daß Neigungen, Fertigkeiten und Ängste, die schon lange ihre tatsächliche Bedeutung verloren haben, ihr Zeichen in den Gesichtern und Verhaltensweisen späterer Generationen hinterlassen.« (Horkheimer 1941: 404) Die Vorstellung einer intergenerationellen Weitergabe von Gesten und Haltungen, von Mimik und Neigungen, von Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten könne, so fährt Horkheimer fort, entscheidend zur »Widerlegung der Rassentheorie« (Horkheimer 1941: 404) beitragen und ein aufklärerisches Licht nicht nur auf die Entstehung jüdischer Charakterzüge, sondern auch auf »die Entstehung deutscher, französischer und englischer« (Horkheimer 1941: 404) Merkmale werfen. Auch die Reaktionsweisen der Antisemiten, die von ihnen selber so oft als »natürliche Abneigung« (Horkheimer 1941: 405) gegen die Juden (miss-)verstanden werden, meint Horkheimer auf diese Weise aufklären zu können. Der »hausgemachte Antisemitismus einiger Teile Deutschlands vor dem Nationalsozialismus« lasse sich dadurch erklären, dass hier die »psychische Übertragung früherer historischer Bedingungen« (Horkheimer 1941: 405) vorliege. Im Lichte der Elemente des Antisemitismus gelesen, sind diese Überlegungen und Behauptungen in mehrfacher Hinsicht irritierend. Zum ersten geht Horkheimer hier ganz umstandslos davon aus, dass es tatsächlich so etwas wie typisch jüdische Charakterzüge gibt. Es ist offenbar so, dass die Annahme jüdischer Wesenszüge nicht, wie die Elemente behaupten, auf Projektion beruht, sondern einer Realität entspricht – nur dass diese Charakterzüge nach Horkheimer nicht auf genetischem, sondern auf dem psychologischen Weg der Nachahmung weitergegeben werden. Zum zweiten und in Korrespondenz zur ersten Annahme wird auch die antisemitische Reaktionsweise als ein Verhalten verstanden, das in einer früheren historischen Entwicklungsphase eine durchaus verständliche und berechtigte Reaktion auf jüdische Verhaltensmuster gewesen sein mag. Vom Antisemitismus der Gegenwart kann man das hingegen nicht mehr sagen. Ihm ist eigentlich der Gegenstand abhandengekommen, weil die Juden heute längst nicht mehr jene Züge an den Tag legen, die früher einmal eine affektive Ablehnung als verständlich und nachvollziehbar erscheinen ließen. Der irrationale Antisemitismus der 269 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Gegenwart ist dieser Erklärung zufolge dann durch die Nachahmung der früheren vergleichsweise rationalen Reaktionen erklärbar. Der psychisch-habituelle Überbau der Antisemiten hinkt heute gleichsam den realen Verhältnissen hinterher, und die psychologische Lehre von der Nachahmung liefert für diese Ungleichzeitigkeit eine plausible Erklärung. Zum dritten schließlich ist die Naivität bemerkenswert, mit der sich Horkheimer an der zitierten Stelle mehr oder weniger unbesehen und unreflektiert auf Ergebnisse und Trends der modernen Psychologie beruft. An Ort und Stelle werden zwar die Werke und Autoren nicht genannt, auf die sich Horkheimer bezieht, aber es kann sich eigentlich nur um jene Autoren handeln, die in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts den Versuch machten, soziales Verhalten mithilfe psychologischer Begriffe zu verstehen und zu erklären. Dazu zählt in erster Linie ein Buch von Gabriel Tarde (1890), das schon in seinem Titel Le Lois de l’imitation den Terminus Nachahmung enthält. Dazu zählen ferner Arbeiten von Scipio Sighele (1891) und Gustav Le Bon (1895), die sich auf das spezifische Verhalten von Menschen in Massen konzentrieren. In allen diesen Studien spielen die Begriffe Nachahmung, Ansteckung, psychische Infektion, Kontagion eine große Rolle. Der Aufstieg psychologischer Kategorien zu zentralen Kategorien der Erklärung sozialen Verhaltens war schon in der Zeit, als er stattfand, keineswegs unumstritten. Émile Durkheim zog in seiner berühmten Studie über den Selbstmord, die 1897 erschien, in einem ganzen Kapitel heftig gegen die Versuche zu Felde, das Soziale auf Nachahmung zurückzuführen (vgl. Durkheim 1897: 124ff). Knapp 25 Jahre später setzte sich dann Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) mit den einschlägigen Schriften auseinander und legte eine eigene Erklärung für das Verhalten der Massen vor, das die Zeitgenossen so sehr beschäftigte und irritierte. Die Erklärung mithilfe von Nachahmung und Ansteckung erscheint Freud als zu oberflächlich. Nachahmung ist für den Gründer der Psychoanalyse ein rein deskriptiver Begriff, der nichts erklärt, sondern eigentlich nur das Phänomen benennt, das der Erklärung bedarf. Wenn man die Phänomene, um die es geht, nicht nur benennen, sondern auch erklären will, muss man Nachahmung nach Freud als Unterkategorie von Suggestion verstehen und sie vor allem mit dem Libido-Begriff in Verbindung bringen, d.h. allgemeiner gesagt, auf Gefühlsbindungen und auf unbewusste Prozesse beziehen (vgl. Freud 1921: 96ff). Horkheimer war mit den grundlegenden Denk- und Argumentationsfiguren der Psychoanalyse bestens vertraut. Umso verwunderlicher ist es, dass in der Übernahme des Begriffs der Nachahmung die affektive und unbewusste Seite und damit die Konfliktdynamik in den Prozessen der Sozialisation, in denen nach Freud das Kind niemals nur einen passiven, sondern immer zugleich einen aktiven Part spielt, ganz unter den Tisch 270 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

fällt. Im Drama des Ödipuskomplexes hat Freud alle diese Elemente verdichtet zur Darstellung gebracht. Zwar hält Horkheimer an der zitierten Stelle immerhin fest, dass es nicht so sehr die rationalen Verhaltensund Redeweisen sind, die im Prozess der Sozialisation weitergegeben werden, sondern Impulse und Triebregungen – also mit anderen Worten eher die unbewussten als die bewussten Elemente des menschlichen Verhaltens. Aber alles in allem scheint in den Beschreibungen Horkheimers kaum etwas von der Komplexität auf, die nach Freud die kindliche Entwicklung prägt und bestimmt. Im Begriff der Nachahmung wird allenfalls die Oberfläche der Prozesse angespielt, während die gesamte emotionale Unterseite mitsamt dem Ambivalenz- und Geschlechterkonflikt, die von ausschlaggebender Bedeutung ist, entfällt. Man könnte den Bericht über das Antisemitismusprojekt als eine von taktischen Überlegungen bestimmte Anpassungsleistung an mögliche amerikanische Geldgeber verstehen, die man so dringend brauchte – dann wäre der Text und die hier erörterte Passage ein Zugeständnis an den in den USA vorherrschenden Positivismus. Indem man es nicht zu kompliziert macht und sich up to date zeigt, erhöht man die Chancen der Förderung. Dieser Annahme steht jedoch entgegen, dass Horkheimer an der Nachahmung auch in anderen Schriften festgehalten hat, vor allem in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947), aber auch noch in einer Reihe von Äußerungen in den 1960er Jahren. Allerdings steht jetzt der Begriff der Mimesis an der Stelle, an der im Forschungsbericht von Nachahmung die Rede ist. 1960 benutzt Horkheimer den MimesisBegriff im Zusammenhang von Überlegungen zu Erziehung und Sozialisation und meint, »der Mensch kommt als Echo-Apparat auf die Welt« (Horkheimer 1960: 150). In einem biographisch angelegten Gespräch mit Otmar Hersche aus dem Jahre 1969 greift Horkheimer diese Formulierung wieder auf. »Der Mensch kommt als ›Echo-Apparat‹ … auf die Welt. Er lernt, neben der bloßen Mitteilung, vor allem durch Mimesis, indem er etwa den Ausdruck seines Vaters und seiner Mutter, die Bewegungen, die ganzen Gefühle, die darin stecken, übernimmt, und nicht zuletzt die Liebesfähigkeit.« (Horkheimer 1969: 338) Horkheimer verbindet diese Überlegung mit einer biographischen Erinnerung an seine eigene Mutter und deren Blick, ohne den in seinem eigenen Leben »wahrscheinlich alles ganz anders geworden wäre« (Horkheimer 1969: 338). Die Bedeutungsgehalte, die Horkheimer in seinem Buch Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947) mit dem Mimesis-Begriff verbindet, gehen dann freilich über den lernpsychologischen und sozialisationstheoretischen Gebrauch weit hinaus. In einer Art Parallelführung wird nun die Phylogenese in ihren wesentlichen Elementen nach dem Vorbild der Ontogenese konstruiert. Das lässt darauf schließen, dass sich Horkheimer mit dem Mimesis-Begriff, der im Wesentlichen von Adorno in ihr gemeinsames Vokabular eingeführt worden ist, auf der Basis der Eignung 271 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

dieses Begriffs für die Prozesse der Sozialisation und dann in Analogie dazu für den Prozess der Zivilisation anfreundet. Horkheimer rekapituliert in seinen Ausführungen die zivilisationskritischen Überlegungen, die die Dialektik der Aufklärung charakterisieren, und übernimmt sie in seine Darstellung. Dabei wird deutlich, wie in den Elementen, dass der Antisemitismus die ausschlaggebende Erfahrung für die mit dem Begriff der Mimesis eingenommene Analyseperspektive ist. Wir haben also in der Kritik der instrumentellen Vernunft beides, sowohl die lernpsychologische wie die zivilisationstheoretische Dimension des Mimesis-Begriffs. Sie stehen nebeneinander. Zunächst argumentiert Horkheimer wie im Forschungsbericht aus dem Jahre 1941 ganz im Horizont der Lernpsychologie, mit dem einzigen Unterschied, dass jetzt nicht mehr nur mit dem Begriff der Nachahmung operiert wird, sondern ganz bedeutungsgleich der Begriff der Mimesis bzw. der mimetische Impuls ins Spiel kommt. Wie im Bericht über das AntisemitismusForschungsprojekt soll das psychologische Gesetz der Nachahmung die »Vererbung« erworbener Eigenschaften aufklären. Auch hier also haben wir wieder ein Stück Ideologiekritik, diesmal psychologischer Provenienz: Was die Rassisten zur natürlichen Größe machen, ist in Wahrheit eine Angelegenheit, die sich aus dem Zusammenspiel zwischen den Generationen gut erklären lässt. Die Stelle lautet: »Moderne Schriftsteller berichten, daß der mimetische Impuls des Kindes, sein Beharren darauf, jeden und alles nachzuahmen, einschließlich seiner eigenen Gefühle, eines der Mittel des Lernens ist, besonders auf jenen frühen und nahezu unbewußten Stufen der persönlichen Entwicklung, die den schließlichen Charakter des Individuums bestimmen, seine Reaktionsweisen, seine allgemeinen Verhaltensmuster. Der ganze Körper ist ein Organ mimetischen Ausdrucks. Über dieses Vermögen erwirbt ein Mensch seine besondere Weise zu lachen und zu weinen, zu sprechen und zu urteilen. Erst in den späteren Phasen der Kindheit wird die unbewußte Nachahmung der bewußten Nachahmung und rationalen Lernmethoden untergeordnet. Das erklärt, warum beispielsweise die Gesten, der Tonfall, der Grad und die Art der Erregbarkeit, die Gangart, kurz all die angeblich natürlichen Charakteristika einer sogenannten Rasse durch Vererbung sich zu erhalten scheinen, nachdem längst ihre Gründe in der Umwelt verschwunden sind. Die Reaktionen und Gesten eines erfolgreichen jüdischen Geschäftsmannes reflektieren die Angst, unter der seine Vorfahren lebten; denn die Eigenheiten eines Individuums sind weniger die Frucht rationaler Erziehung als atavistische Spuren, die auf mimetische Tradition zurückgehen.« (Horkheimer 1947: 124) Dabei aber bleibt es nun nicht. Horkheimer geht sofort über zu Überlegungen zur Zivilisationsgeschichte und zieht eine direkte Parallele zwischen Ontogenese und Phylogenese. Er liefert damit zugleich eine verdichtete und klare Beschreibung der Zivilisationsgeschichte, die auch 272 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

noch einmal ein erhellendes Licht auf die in der Dialektik der Aufklärung maßgeblichen Überlegungen wirft. »In der gegenwärtigen Krise ist das Problem der Mimesis besonders dringend. Die Zivilisation beginnt mit den angeborenen mimetischen Impulsen des Menschen, über die sie aber schließlich hinausgehen und die sie umwerten muß. Der kulturelle Fortschritt insgesamt wie auch die individuelle Erziehung – das heißt die phylogenetischen und die ontogenetischen Prozesse der Zivilisation – besteht weitgehend darin, daß mimetische in rationale Verhaltensweisen überführt werden. Wie die Primitiven lernen müssen, daß sie bessere Ernten erzeugen können, wenn sie den Boden richtig bearbeiten, als wenn sie Magie anwenden, so muß das moderne Kind lernen, seine mimetischen Impulse zu zügeln und auf ein bestimmtes Ziel zu lenken. Bewußte Anpassung und schließlich Herrschaft ersetzen die verschiedenen Formen der Mimesis. Der Fortschritt der Wissenschaft ist die theoretische Manifestation dieses Wandels: die Formel verdrängt das Bild, die Rechenmaschine die rituellen Tänze.« (Horkheimer 1947: 124f) Hier wird die große Linie der zivilisationsgeschichtlichen Entwicklung, wie Horkheimer sie sieht, mit ihren unterschiedlichen Etappen klar zusammengefasst. Am Anfang steht die mimetische Stufe, in der die Macht der Nachahmung vorherrscht. Die Menschen übernehmen ihre Verhaltensweisen, wie das Kind in seiner frühen Phase, aus ihrer unmittelbaren natürlichen Umgebung, sie lesen sie am Vorbild der Natur ab und adaptieren sie. Damit sind sie eigentlich noch ein Teil ihrer Umgebung und haben sich davon noch kaum abgesondert und abgetrennt. Es bleibt in der Beschreibung von Horkheimer offen, was die vorherrschenden Motive und Grundlagen dieses Verhaltens sind. Speist sich der mimetische Impuls aus Angst, sind es Schutzreaktionen, zu denen sich die Menschen der Nachahmung bedienen? Geschieht es aus Gründen der Selbsterhaltung? Bleiben die Menschen in der Nachahmung ein Stück der Natur oder entfernen sie sich bereits aus ihr? Steht alles unter dem Diktat der Selbsterhaltung oder gibt es auch bereits davon unterscheidbare Elemente von Befriedigung, Lust und Erfüllung? Ist die Nachahmung ausschließlich aus Not und Überlebensangst geboren oder ist sie auch der Ausdruck einer Sehnsucht und eines Wunsches? Wird die mimetische Stufe verlassen, weil sie ineffizient oder weil sie affektiv unbefriedigend ist, oder beides? Wie auch immer die Details aussehen mögen – klar ist nach Horkheimer, dass es zur Überwindung dieser mimetischen Stufe kommen muss. Es treten erfolgreichere und zielbewusstere Strategien an die Stelle der Mimesis. Es kommt zu bewusster Anpassung und schließlich zur Herrschaft. Es ist offenbar erfolgversprechender und effektiver, rational zu sein, d.h. zu überlegen, planvoll zu handeln, Kosten- und Nutzenkalküle anzustellen, sich zu fragen, was und wohin man will und diesem Ziel 273 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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entsprechend sich möglichst effektiv zu verhalten. Dann ist es gut zu arbeiten, zu säen und zu ernten, also vorausschauenden Ackerbau zu betreiben, statt die Dinge dem Zufall zu überlassen und wie die Vögel auf dem Felde sich darauf zu verlassen, dass der liebe Gott oder die Natur einen schon ausreichend mit Nahrung und Wohnung versorgen werden. Die Wissenschaft ist in diesem Prozess ein antreibendes Element und zugleich seine Manifestation. Nun beginnt die Herrschaft der Formel, der jegliche Mimesis und alles Bildhafte ausgetrieben ist. Die Rechenmaschine tritt an die Stelle der rituellen Tänze. Um das angemessen verstehen und würdigen zu können, muss man hinzunehmen, dass dieser Fortschritt im Verhältnis zur Natur, also die Überwindung der Mimesis, stets mit Triebrepression einhergeht, d.h. auf der affektiven Ebene unbefriedigend ist und Unlust bereitet. Oder, um im Bilde zu bleiben, die Rechenmaschine zu erfinden und zu bedienen ist weitaus weniger trieb- und körpernah, und in diesem Sinne weniger befriedigend als das Tanzen. Die Triebeinschränkungen und Zumutungen, die mit dem Prozess der Zivilisation verbunden sind, wären aber nur dann gerechtfertigt und legitimierbar, wenn sie auch wirklich einlösen würden, was sie versprechen: die Wünsche nach menschlichem Glück, Freiheit und Wohlergehen der Erfüllung näher zu bringen. Eben diese Versprechen sind jedoch bislang nicht eingelöst worden. An die Stelle wirklicher Einlösung sind Vertröstungen und verzweifelte Rationalisierungen getreten. Von ihnen spricht Horkheimer in dem an die zuletzt zitierte Passage anschließenden Absatz. Die großen Religionen, namentlich Judentum und Christentum charakterisiert er als Bemühungen, »dieser Meisterung der primitiven Triebe einen Sinn zu verleihen« und die Hoffnung auf »Erlösung und Seligkeit« mit ihnen zu verbinden (Horkheimer 1947: 125). Die Philosophie habe versucht, dieses Erbe weiterzuführen und auf eine rationalere Basis zu stellen, und schließlich sei auf politischem Gebiet in den großen Revolutionen, im Nationalismus und in Russland nach der Oktoberrevolution der Versuch gemacht worden, »die schmerzhafte Unterdrückung der natürlichen Triebe« (Horkheimer 1947: 125) mit Sinn zu verbinden und zu rechtfertigen – erfolglos. Immer wieder erlebt deswegen der »Trost des Transzendenten« (Horkheimer 1947: 125) durch die Religionen seine Wiederkehr. Wenn es dabei bleibt, so lautet die Befürchtung von Horkheimer, »wird dieser Impuls stets auf der Lauer liegen, als eine zerstörerische Kraft hervorzubrechen« (Horkheimer 1947: 126). Sollte sich also herausstellen, dass die Überwindung der Nachahmung und des mimetischen Impulses zutiefst unbefriedigend ist, dann werden die Menschen über kurz oder lang aus diesem Unternehmen aussteigen. Sicherlich könnte man dann sagen, dass das in der Logik dieses Gedankens nicht weiter schlimm ist, weil es dann eben weniger repressiv und alles in allem 274 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

befriedigender und entspannter zugeht. So aber ist es nicht. Die im Laufe der Zivilisationsgeschichte angehäufte Enttäuschung schlägt um in Verbitterung, Wut und Aggression. »Die Menschen fallen auf ihn (den mimetischen Impuls, H.K.) in einer regressiven und verzerrten Form zurück.« (Horkheimer 1947: 126) Die Spannung der Unzufriedenheit wird so stark, dass sich die Unterdrückten in einer in der Psychoanalyse wohl bekannten Weise mit dem Aggressor identifizieren und wenigstens durch diesen Umweg noch ein Stück von der Befriedigung zu erhalten hoffen, die ihnen bislang vorenthalten wurde. Genau das ist, wir wissen es aus der Lektüre der Elemente des Antisemitismus, die Konstellation des Faschismus. »Die beherrschten Massen identifizieren sich bereitwillig mit den repressiven Kräften. Und wirklich, einzig in ihrem Dienst wird ihnen freier Lauf gelassen, ihren andrängenden mimetischen Impulsen, ihrem Bedürfnis nach Ausdruck nachzugeben. Ihre Reaktion auf den Druck ist Nachahmung – ein unbezähmbarer Wunsch zu verfolgen. Dieser Wunsch wiederum wird benützt, das System aufrechtzuerhalten, das ihn erzeugt.« (Horkheimer 1947: 126) Die Identifizierung mit der Unterdrückung verschafft tatsächlich ein großes Stück Befriedigung, bei gleichzeitigem Fortbestehen des repressiven Charakters an der Sache. Die Befriedigung besteht darin, dass die Praxis der Unterdrückung der Mimesis selber auf mimetischem Wege erfolgt, dass also, um noch einmal das von Horkheimer benutzte Bild aufzugreifen, die Formel, die das Bild ersetzt, ihrerseits wieder zum Bild wird, und die Rechenmaschine, die den Tanz ersetzt, selber zu tanzen beginnt. Die Nachahmung tritt in den Dienst der Ausrottung der Nachahmung. Wenn man den Wunsch nach Naturnähe ausrotten will, darf man selber mit den Mitteln der Naturnähe, d.h. mit den Mitteln der Nachahmung operieren.

2. Mimesis Dass Mimesis zu einem Zentralbegriff der zivilisationstheoretischen und –geschichtlichen Überlegungen der Dialektik der Aufklärung wird, geht wesentlich mehr auf Adorno als auf Horkheimer zurück. Im Umfeld der Kritischen Theorie hatte zwar Walter Benjamin schon im Jahre 1933 einen kleinen Text mit dem Titel Über das mimetische Vermögen verfasst – der Text wurde aber erst 1955 publiziert, und es ist unklar, ob die Autoren der Dialektik der Aufklärung Kenntnis von ihm hatten, als sie sich Ende der 1930er Jahre für das Thema von Mimesis und Mimikry zu interessieren begannen (vgl. Tiedemann 2002: 357). Adorno arbeitet im Rahmen eines ausführlicheren und zur Veröffentlichung vorgesehenen Textes erstmals 1942, in den Reflexionen zur Klassentheorie, mit dem Begriff Mimikry, allerdings in einem noch 275 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

ganz unspezifischen und wenig nachdrücklichen Sinn (Adorno 1942: 374) – und die Reflexionen zur Klassentheorie werden erst nach dem Krieg publiziert. Die Ausführungen in der fünften These der Elemente des Antisemitismus müssen mithin als die ersten zusammenhängenden Überlegungen gelten, in denen der Mimesis-Begriff einen systematischen Stellenwert erhält. Während Horkheimer in seinen Nachkriegsschriften vergleichsweise selten auf den Mimesis-Begriff zurückgreift und ihn bezeichnenderweise genau an den Stellen benutzt, an denen er in der Zeit vor der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung auf den Begriff der Nachahmung zurückgegriffen hatte, avanciert Mimesis bei Adorno zu einer zentralen Kategorie seines Denkens, besonders in der Ästhetischen Theorie. Gleichwohl gilt auch für Adorno, dass er offenbar nirgendwo über die begriffsgeschichtlichen Hintergründe und Absichten des Mimesisbegriffs nachdenkt. In der Überlieferungsgeschichte der Philosophie ist der Mimesisbegriff an prominenter Stelle bereits in der griechischen Antike vertreten. Platon, der das Wesen der Kunst in der Mimesis sieht, unterzieht sie einer scharfen Kritik, sowohl ihren ontologischen Status wie ihre pädagogische und moralische Wirkung. Aristoteles weicht von dieser negativen Bewertung ab und hält die emotionale Wirkung der Dichtung ganz und gar nicht für schädlich, sondern für heilsam. Es ist aber nicht dieser Weg, auf dem der Mimesisbegriff Einzug hält in das Vokabular und das Denken von Horkheimer und Adorno. Sie übernehmen ihn aus ganz anderen Kontexten, nämlich aus der Biologie, und sie lernen diese Verwendungsweise des Begriffs über die Rezeption neuerer soziologisch-ethnologischer Literatur aus Frankreich kennen (zur Geschichte des Mimesisbegriffs und seinen Verwendungsweisen in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen vgl. Becker et al. 2008). In der Biologie wird nicht streng zwischen Mimikry und Mimesis unterschieden. In einem jüngeren Lexikon zur Geschichte der biologischen Terminologie erscheint Mimesis als Unterabteilung des Eintrags zu Mimikry. Das Wort Mimikry wird zuerst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den englischen Insektensammler und Forschungsreisenden Henry Walter Bates in die Wissenschaftssprache eingeführt, Charles Darwin greift es mit Bezug auf Bates in seinem Buch Die Abstammung des Menschen (1871: 947ff) auf, und es findet dann sehr rasch auch im deutschen Sprachraum Verwendung. Die biologische Definition von Mimikry lautet: »Im weiteren Sinne kann unter ›Mimikry‹ jede morphologische oder ethologische Ähnlichkeit zwischen zwei Organismen verstanden werden, die nicht durch Verwandtschaft (Homologie) oder parallele Anpassung an die anorganische Umwelt (Analogie) entstanden ist und für mindestens einen der Organismen funktional ist. Darüber hinaus kann auch die Ähnlichkeit des Verhaltens eines einzigen Organismus in einer (Modell-)Situation mit dem in einer anderen (Nachahmungs-) 276 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

Situation unter die Mimikry fallen (z.B. das Vortäuschen einer Verletzung bei Vögeln, die damit einen Räuber von ihrem Gelege weglocken, also das so genannte ›Verleiten‹ oder die ›Aristotelische Mimikry‹).« ­(Toepfer 2011/Bd. 2: 592f) Auch Adorno und Horkheimer unterscheiden nicht zwischen Mimesis und Mimikry. In der Dialektik der Aufklärung werden beide Begriffe mehr oder weniger synonym verwendet. Es ist z.B. im Blick auf Odysseus einmal von der »Mimesis … ans Tote« (DA 81) und ein anderes Mal von »Mimikry ans Amorphe« (DA 91) die Rede. Auch in seinen späteren Schriften unterscheidet Adorno nicht streng zwischen den beiden Begriffen, obwohl die Tendenz feststellbar ist, dass der Begriff Mimikry eher negativ gebraucht wird (vgl. Früchtl 1986: 38f). In die Denkwelt Adornos trat das Thema der Mimesis über die Beschäftigung mit Schriften aus der französischen Ethnologie und Soziologie der Durkheim-Schule ein, vor allem mit Roger Caillois. Auf diesen Autor und sein Buch Le Mythe et l’Homme (1938) wird zwar nicht in den Elementen verwiesen, wohl aber an einer späteren Stelle der Dialektik der Aufklärung, in den Ausführungen über eine »Theorie des Verbrechers« im Kapitel »Aufzeichnungen und Entwürfe« (vgl. DA 259). Zuvor, im Juliette-Kapitel, beziehen sich Horkheimer und Adorno ausführlich auf die Theorie des Festes von Caillois (DA 128f). Die Vermutung liegt nahe, dass Adorno von Walter Benjamin auf Caillois aufmerksam gemacht worden ist. Caillois gründete 1937 zusammen mit Georges Bataille und Michel Leiris das Collège de Sociologie, an deren Veranstaltungen auch der damals in Paris lebende Benjamin gelegentlich als Zuhörer teilnahm. In ihrem Briefwechsel kommen Benjamin und Adorno einige Male auf Caillois zu sprechen. Die ausführlichsten Bemerkungen finden sich in einem Brief Adornos vom 22. September 1937. Adorno kommentiert eine kleine, 40-seitige Schrift von Caillois mit dem Titel La Mante religieuse. Recherche sur la nature et la signification du mythe (1937), in der es um ein räuberisches Insekt, die sog. Gottesanbeterin, geht, die mit ihren Duftstoffen die Männchen zur Kopulation verlockt und sie während der Paarung verschlingt. Er habe, berichtet Adorno, den Mante »mit großer Sorgfalt« gelesen, und er fährt fort: »Es hat mich positiv berührt – positiv auch der im Übrigen mit fast prinzhornschem Leichtsinn abgewerteten Psychoanalyse gegenüber, daß Caillois die Mythen nicht in Bewußtseinsimmanenz auflöst, sie nicht durch ›Symbolik‹ verflacht, sondern auf ihre Wirklichkeit aus ist. Es ist das freilich ein Materialismus, den er mit Jung, gewiß mit Klages gemein hat. Und leider mehr als das. Nämlich die antihistorische, der gesellschaftlichen Analyse feindliche und in der Tat kryptofascistische (sic) Naturgläubigkeit, die am Schluß zu einer Art Volksgemeinschaft von Biologie und Imagination führt.« Gewiss sei es auch in ihrem eigenen Sinn, so Adorno weiter, die Verdinglichung der 277 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Sphären gegeneinander, der biologischen hier und der historisch-sozialen dort, zu sprengen. »Aber ich fürchte, daß unvermerkt gerade bei Caillois diese Verdinglichung in einiger Naivetät bestehen bleibt, indem er zwar die historische Dynamik in die Biologie hereinzieht, nicht aber ebenso diese in die historische Dynamik.« Zu bedenken sei ferner, dass die Abtrennung der Bereiche auch ihren guten dialektischen Sinn habe, weil »deren zu frühe Liquidation harmonistische Bedeutung hat.« Und gleich im Anschluss heißt es: »Mit einem Wort, die Sache ist mir zu kosmisch, und wenn schon in der Tat zwischen der Köpfe fressenden Mante und dem Menschen nur ein minimaler Unterschied besteht, während die Imagination in ihrer ganzen Tiefe in den Kosmos fällt, so möchte ich Caillois mit einem jedenfalls aufgeklärteren Franzosen nichts entgegenhalten als das alte Vive la petite différence.« Im Grunde komme bei Caillois am Ende nicht mehr als eine Banalität heraus. Und politisch würde er, Adorno, gegen Caillois nicht einwenden, dass er einer »Naturmetaphysik«, sondern dass er einem »altmodischen Vulgärmaterialismus, verkleidet durch Erudition« huldige. Schließlich und alles in allem sei es so: »der Mann gehöre auf die andere Seite« (Adorno/Benjamin 1994: 276ff). Dass Adorno dieser eigentümliche Text von Caillois sehr beschäftigt, zeigt sich auch daran, dass er ihn einer Rezension für würdig erachtet, die in Heft 3 des Jahres 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung erscheint. In dieser kurzen Besprechung werden im Wesentlichen die Argumente und Einschätzungen aus dem zitierten Brief an Benjamin wiederholt. Auch hier macht Adorno keinen Hehl aus seinem großen Interesse für die Spekulationen von Caillois. Wie im Brief an Benjamin gefällt ihm vor allem die Tendenz, »die gemeinhin durch wissenschaftliche Arbeitsteilung abgetrennten Gebiete der Biologie, der Mythenforschung und der Psychologie in Beziehung zu setzen und an einem Modell ihre bruchlose Kontinuität zu entwickeln« (Adorno 1938: 410). Das Material, an dem Caillois seine Überlegungen darlegt, ist eben die »Gottesanbeterin«, jenes Insekt mit einer höchst auffallenden Verhaltensweise: »die Weibchen verschlingen die Männchen während oder unmittelbar nach der Begattung.« Der Gottesanbeterin werde, so zeige Caillois, eine menschenähnliche Gestalt nachgesagt, und sie habe die Menschen seit je hartnäckig interessiert. »Es handelt sich dabei um die Vorstellung der dämonischen weiblichen Gestalt, die den Mann verzehrt, den sie verführt hat.« Adorno fasziniert an der Behandlung dieses Stoffes, dass Caillois die mythischen Überlieferungen und Phantasien, die die Menschen um dieses Kerngeschehen herum entwickelt haben, nicht psychologisch versteht, sondern »auf Urerfahrungen biologischer Art« zurückführt, also für ein »nachbildendes Äquivalent eines vor Zeiten real vollzogenen Aktes« hält. Für Caillois bestehe die Differenz zwischen den Menschen und den animalia nur darin, dass die biologischen Gesetze, »denen der 278 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

Mensch ›entronnen‹ ist, nicht mehr sein Handeln, sondern bloß noch seine Vorstellungswelt beherrschen«. In einer weiteren Überlegung weist Adorno dann auf die Nähe der Spekulationen von Caillois zu Freuds Lehre vom Todestrieb und zu C.G. Jungs Annahmen eines kollektiven Unbewussten hin. Mit diesem Hinweis geht Adorno zur kritischen Bewertung der Argumentation von Caillois über. Was Adorno stört, ist der »Drang« von Caillois, »durch Reduktion auf den Mythos und die Natur alle menschlichen Versuche, dem blinden Naturzusammenhang sich zu entwinden, als zufällig, isoliert und lebensfremd zu kompromittieren«. Adorno sieht bei Caillois eine Art von Ursprungsmythologie am Werk, die die Versuche der Menschen, den Bann der Natur hinter sich zu lassen, von vornherein für anmaßend und vergeblich hält und das Heil im regressiven Rückgang in den Schoß der Natur sucht. In dieses Argument ordnet Adorno schließlich auch die Kritik ein, die Caillois an Freud übt. Nach Caillois sei es so, dass Freud »um jeden Preis aus der individuellen Ätiologie der Fälle zu entnehmen trachte, was allein aus ihrem ›dynamischen Schema‹, nämlich der biologischen Vorgeschichte der Gattung verstanden werden könne« (Adorno 1938: 410f). In diesem zuletzt zitierten Satz schlägt sich Adorno auf die Seite von Freud gegen C.G. Jung und gegen die Ursprungsmythologie, die er auch bei Caillois als dominant ansieht. Tatsächlich entnimmt Freud seine Spekulationen über die Ereignisse in der Früh- und Vorgeschichte der menschlichen Gattung aus dem Material der Erzählungen und der unauflösbaren Konflikte, die ihm seine Patienten unterbreiten, und er versteht sie als Konstruktionen in kritischer Absicht, die den Zweck verfolgen, die Menschen aus dem Bann, der von vorgeschichtlichen Konflikten ausgeht, zu befreien. (Ich bin auf diesen Zusammenhang oben bereits im Kontext meiner Überlegungen zur Genealogie eingegangen.) Caillois dreht die Relation und die Intention um. Er sieht in den Ereignissen der Vor- und Frühgeschichte im Grunde ein Vorbild und Muster, das den unabänderlichen Maßstab der Menschheitsgeschichte vorgibt und dem sich die Menschen fügen sollten, statt sich dagegen zu stemmen. Damit ist Adorno ganz und gar nicht einverstanden. Aber zugleich hält er wie im Brief an Benjamin an seinem Lob für Caillois Deutung der biologischen Vorgeschichte als Realgeschichte fest: »der Versuch, psychologische Tendenzen nicht auf das Bewußtseinsleben des autonomen Individuums, sondern auf reale somatische Tatbestände zurückzuführen, bietet einen echt materialistischen Aspekt. Dieser wäre allerdings der mythisierenden Denkweise C.s [Caillois] erst abzutrotzen.« (Adorno 1938: 411) Es ist also der spezifische Materialismus, der Adorno an Caillois so sehr fasziniert. Er besteht darin, menschliche Phantasien und mythische Erzählungen nicht mit psychischen Konflikten der individuellen Lebensgeschichten in Verbindung zu bringen, sondern auf reale Ereignisse und 279 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Geschehnisse zurückzuführen. Materialistisch ist es für Adorno mithin, die Bedeutung der Natur und der Biologie in der Geschichte nicht zu unterschlagen, materialistisch ist es, gegen die Reduktion der Natur und des Somatischen auf Geist und Gesellschaft zu protestieren. Dass Adorno von Caillois sowohl angezogen wie abgestoßen ist, zeigt sich auch anlässlich einer anderen Publikation des französischen Kulturanthropologen. In diesem Fall bezieht sich sein Kommentar auf die allgemeine Haltung von Caillois. Am 2. August 1938 kommt Adorno in einem Brief an Benjamin auf den Aufsatz »l’Aridité« zu sprechen, der in der Zeitschrift Mesures erschienen war. Caillois, so Adorno, spiele sich darin einerseits »als strenger Mann auf«, andererseits schwärme er »von der Reglementierung des Gedankens«, »ohne daß auch nur recht klar würde, welche Instanz das Reglement ausgeben soll. Damit ist es natürlich klar genug.« (Adorno/Benjamin 1994: 346) Mit anderen Worten: Adorno nimmt nun die autoritäre Orientierung von Caillois aufs Korn. Andererseits aber gibt es auch hier wieder einige positive Facetten. »Dabei ist die erste Seite des Aufsatzes, mit einer Theorie der Schönheit der alpinen Landschaft, wiederum das Anzeichen einer ganz außerordentlichen Begabung. Es gibt nur ganz wenige Menschen, um die es so schade ist wie um diesen.« (Adorno/Benjamin 1994: 346) Ganz ähnlich ist der Tenor, den Benjamin in einer pseudonymen Besprechung dieses Aufsatzes von Caillois innerhalb einer Sammelrezension anschlägt, die im gleichen Heft der Zeitschrift für Sozialforschung wie Adornos Rezension der Mante erscheint. Benjamin zeiht den französischen Soziologen ganz offen und offensiv einer faschistischen Sympathie und der Nähe zur faschistischen Praxis. Aber auch er findet ein Bild, in dem bei aller Kritik seine Achtung für Caillois zum Ausdruck kommt. »Es ist traurig, einen schlammigen breiten Strom aus hochgelegenen Quellen gespeist zu sehen.« (Benjamin 1938: 550) Auch in den internen Diskussionen zwischen Horkheimer und Adorno spielt Caillois eine Rolle. In einer Diskussion am 25. 1. 1939, deren Protokoll überliefert ist, erörtern sie die Frage, »wie möglicherweise die Mythen von der Männer verzehrenden Frau zu verstehen seien« (Horkheimer/Adorno 1939a: 458). Zunächst behandelt die Diskussion die allgemeine Bedeutung der Sprache und des Denkens im Verhältnis des Menschen zur Natur. Horkheimer sieht Sprache und Denken sehr eng beieinander und hält die Entstehung der Sprache für einen wichtigen Einschnitt und eine wichtige Schwelle, die es den Menschen ermöglicht, sich von der bloßen Natur abzusetzen. Adorno betont hingegen, dass die mythischen Erzählungen »Wiedergaben der vorsprachlichen Erfahrung« sind. »Sie entstehen erst dann, wenn ein Konflikt entsteht zwischen dem identischen Menschenwesen und dem Männchen fressenden Weibchen.« (Horkheimer/Adorno 1939a: 459) Adorno betont auch in diesem Gespräch, wie sehr er an Caillois schätzt, dass er vorsprachliche, 280 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

urgeschichtliche Erfahrungen ganz ernst nimmt und sich gegen deren Herleitung aus Bewusstseins- und Gesellschaftskonflikten der eigenen Gegenwart sperrt. Im Protokoll der Diskussion heißt es resümierend: »Adorno sieht trotz aller Bedenken das Wertvolle an der Arbeit von Caillois darin, dass sie prinzipiell solche psychologischen Erklärungen ausschließt und statt dessen die Mythen auf reale Vorgänge reduziert.« (Horkheimer/Adorno 1939a: 459) Es ist dieses Moment, das Adorno in seine eigenen späteren Bestimmungen der Mimesis übernimmt. In den Briefen und Gesprächen mit Benjamin bzw. Horkheimer und in der Rezension des Mante spielen die Begriffe Mimesis und Mimikry noch gar keine Rolle. Für die neue Terminologie ist Caillois’ Buch Le mythe et l’homme von 1938 ausschlaggebend, in das der Aufsatz über die Mante integriert ist und auf das die Dialektik der Aufklärung explizit Bezug nimmt (vgl. DA 259). Caillois (1938: 100ff) verwendet dort im Kapitel Mimétisme et psychasténie légendaire, das wiederum auf einen Aufsatz aus dem Jahre 1935 zurückgeht, eine Reihe von Beispielen aus der Welt der Insekten und Kleintiere, um die »assimilation au milieu« (Caillois 1938: 127) zu exemplifizieren. Entscheidend aber ist, dass »le mimétisme« bei Caillois nicht nur tierisches, sondern auch menschliches Verhalten bezeichnet. Und entscheidend ist vor allem, dass der Begriff nicht mehr, wie in der Biologie, für ein Verhalten im Dienste der Selbsterhaltung reserviert ist, sondern eine generelle Tendenz von Organismen bezeichnet, sich an ihre Umgebung zu verlieren und in ihr aufzugehen. Mit Bezug auf die soziologische Theorie der Magie von Hubert und Mauss definiert Caillois Mimesis als »une incantation fixée à son point culminant« (Caillois 1938: 126) und als »dépersonnalisation par assimilation à l’espace« (Caillois 1938: 131). In diesen Bedeutungsschichten nehmen Horkheimer und Adorno den Mimesisbegriff in der Dialektik der Aufklärung in ihre eigenen Überlegungen auf. Le mythe et l’homme wird aber in der Zeitschrift für Sozialforschung nicht von Benjamin oder Adorno rezensiert, sondern von Raymond Aron (1938), der im Rahmen einer Sammelbesprechung dem Werk von Caillois freilich nicht einmal eine halbe Seite widmet.

3. Mimetischer Materialismus Das Interesse Adornos an Caillois gilt dessen Tendenz, die biologischen, natürlichen, will in Adornos Sprache sagen: die materialistischen Elemente des menschlichen Verhaltens und des gesellschaftlichen Lebens hervorzuheben. Für diese Dimension steht der Mimesis-Begriff. Mit ihm betont Adorno nachdrücklich, dass die Menschen triebhaft-animalische Wesen sind, aus Fleisch und Blut bestehen und mit diesen Qualitäten und Eigenschaften an der Natur teilhaben, von der sie sich zugleich 281 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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unterscheiden. Die Frage nach der Einheit des Menschen mit der Natur und nach der Differenz zu ihr rückt in der Dialektik der Aufklärung ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit. Damit ist zugleich das Interesse an der »biologischen Urgeschichte« (DA 210, V: 2) verbunden, und zwar sowohl für die Geschehnisse in der vor- und außermenschlichen Welt der niederen Tiere und Insekten wie für die Verhaltensweisen des vorzeitlichen Menschen, der in diesem Stadium seiner Entwicklung noch ganz seiner natürlichen Umgebung angehört und sich erst nach und nach und in vielen tastenden Entwicklungen von ihr zu unterscheiden beginnt und sie schließlich zu beherrschen lernt. Im mimetischen Verhalten zeigen die Menschen, dass sie Naturwesen sind. Mimesis bezeichnet immer das Anschmiegen an die natürliche Umgebung – ein Anschmiegen, das nicht auf Bewusstsein, Willen und intentionales Handeln, sondern auf ein organisches und körperliches Geschehen zurückgeht. Mimesis bezeichnet impulsive, vom Bewusstsein nicht kontrollierte und nicht kontrollierbare körperliche Regungen, die die Oberhand gewinnen und den Menschen als das Naturwesen in Erscheinung treten lassen, das er ist. Die zentrale Intention im Begriff der Mimesis, so wie Adorno ihn versteht und benutzt, wird verfehlt, wenn diese körperliche Dimension nicht betont wird (das ist z.B. bei Rabinbach 2000: 166ff der Fall). Mit Mimesis ist bei Adorno eine organische Reaktionsform, eine körperliche Metamorphose gemeint, zumindest schwingt diese Bedeutungsschicht immer mit. Mimesis ist nicht einfach nur eine Reaktion, »sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen« (DA 258f), sondern zugleich eine »dem Lebendigen tief einwohnende Tendenz« (DA 258). Die mimetische Reaktion hört nicht auf das Kommando des bewussten Ich, sie überwältigt die Menschen und entzieht sich ihrem bewussten Willen. Diese Unwillkürlichkeit wird noch einmal besonders durch den Terminus der Idiosynkrasie festgehalten, der in das Umfeld des Mimesis-Begriffs gehört. Idiosynkrasie ist eine affektiv bestimmte Reaktion der Abstoßung und Distanzierung, des Ekels und des Abscheus. Ihr Pendant ist die erotische Anziehung, die sexuelle Attraktion der Vereinigung und Verschmelzung. Beide, idiosynkratische Abstoßung wie sexuelle Attraktion, werden von tiefen animalischen Schichten des Menschen gespeist. In den sehr frühen, vorsprachlichen Stufen der Evolution, wenn die Menschen noch ganz Teil der Natur sind, erschöpft sich ihr Verhalten mehr oder weniger in mimetischen Reaktionen, wie sie am Vorbild der niederen Tiere und Insekten abgelesen werden können. Im zivilisatorischen Stadium widerrufen die Menschen im mimetischen Verhalten ihre Trennung von der Natur, werden wieder zu einem Teil von ihr und lassen sich in ihrem Verhalten von der animalischen Körperlichkeit ihres Wesens bestimmen. In der Dialektik der Aufklärung rückt der Mimesis-Begriff ins Zentrum der Analyse des Antisemitismus und der zivilisationsgeschichtlichen 282 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

Katastrophe. Damit ist die Behauptung verbunden, dass es anders nicht möglich ist, die beispiellose, barbarische Gewalt der antisemitischen Reaktionsweisen zu erklären. Der Antisemitismus hat die Gestalt einer Idiosynkrasie – er ist tatsächlich eine Naturgewalt, eine affektive Reaktion, die aus den tiefsten, bis in das Physiologische hinabreichenden Schichten menschlichen Verhaltens entspringt. Deswegen erzählen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung die Geschichte der menschlichen Unterdrückung mithilfe des Mimesis-Begriffs noch einmal ganz neu und ganz von vorn. Bestimmend in dieser Erzählung sind vier Stufen. Anfangs, auf der ersten Stufe, machen sich die Menschen durch Mimesis der natürlichen Umwelt ähnlich und gehen so gut wie völlig in ihr auf. Von dieser noch unmittelbar mimetischen Verhaltensweise schreitet die Entwicklung auf der zweiten Stufe fort zur gezielten, organisierten, absichtsvollen Handhabung der Mimesis durch Medizinmänner, Schamanen und Priester. Die dritte Stufe wird von der Ausbildung naturbeherrschender Rationalität und organisierter Arbeit bestimmt, die das mimetische Verhalten mehr und mehr zurückdrängen. Die vierte Stufe, in der die antisemitische Idiosynkrasie vorherrschend geworden ist, zeigt, dass die Sehnsucht nach mimetischem Verhalten immer erhalten geblieben ist und nun mit destruktiver Gewalt von den faschistischen Machthabern wachgerufen und instrumentalisiert wird. Sie ist die organisiert und kalkuliert eingesetzte Wiederkehr der Mimesis, die »Mimesis der Mimesis« (DA 214, V: 6). Sie steht im Hintergrund sowohl der Strahlkraft, die die antisemitische Idiosynkrasie auf die Massen ausübt, wie der Gewalttätigkeit, die als unbändige Naturkraft alle zivilisatorischen Dämme und Grenzen hinwegspült. Es ist mithin das Naturverhältnis der Menschen und der Gesellschaft, das der Dialektik der Aufklärung zufolge den Schlüssel für die Analyse der zivilisatorischen Katastrophe enthält. Das bedeutet, theoriegeschichtlich gesehen, dass die gesellschaftliche Naturgeschichte des Menschen an die Stelle der Kritik der politischen Ökonomie tritt, die bis dahin den marxistisch inspirierten Gesellschafts- und Geschichtsbegriff von Horkheimer und Adorno bestimmt hatte. Die materialistisch-ökonomische Analyse der historischen Entwicklung wird von der materialistisch-naturalistischen Analyse abgelöst. In ihrem Zentrum stehen nicht mehr die Begriffe Arbeit und Produktion, sondern die Begriffe Mimesis und Natur. Nach Marx ist Arbeiten eine ewige Naturnotwendigkeit. Im Arbeiten steuern und regulieren die Menschen ihren Stoffwechsel mit der Natur. Der Dialektik der Aufklärung zufolge ist es die Mimesis und ihr Schicksal in der Geschichte der Menschheit, die im Zentrum der materialistischen Analyse stehen muss. Der Materialismus wechselt damit von der ökonomischen auf die naturgeschichtliche Ebene und wird zum mimetischen Materialismus. Der Mensch ist nicht mehr das Arbeitstier, das über das Arbeiten die Natur unter seine Herrschaft bringt und nun 283 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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nur noch vor der Aufgabe steht, die Arbeitsprozesse rationaler zu organisieren und den entstehenden Reichtum gerecht zu verteilen, sondern das Naturwesen, das durch die Geschichte hindurch den vergeblichen Versuch unternimmt, seine eigene animalische Seite zu bezwingen, die äußere Natur zu beherrschen und damit am Ende in eine beispiellose menschliche Katastrophe hinein taumelt. In diesen Zusammenhang gehört, dass damit eine ganz andere Bestimmung von Basis und Überbau, Fortschritt und Rückschritt, und damit zugleich eine Neubewertung der Kunst verbunden ist, die dann Adornos Ästhetische Theorie motiviert. Die mimetische Verhaltensweise repräsentiert nach Adorno eine weit in die Vorgeschichte zurückreichende »biologische Schicht« (Adorno 1970: 487) im Menschen. Sie gibt dem Satz, »der Überbau wälze langsamer sich um als der Unterbau« (Adorno 1970: 487), einen neuen Sinn. In der Mimesis erhalten sich die naturwesenhaften Züge des Menschen, die von der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung überholt und unterdrückt wurden. Damit wird Mimesis zugleich zu der Instanz, auf die sich das Glücksversprechen konzentriert. Schließlich ist es die Kunst, in der die Mimesis mit ihren Versprechen dann Zuflucht findet. So rücken die mimetische und die ästhetische Reaktionsweise sehr nah aneinander. Sie avancieren zu den Bewahrern des Rückständigen und werden zur Basis wie zum Ausdruck einer unbändigen körperlichen Sehnsucht nach Glück und Intimität. In der ästhetischen Verhaltensweise, »die in der Kunst konserviert wird und deren Kunst unabdingbar bedarf, versammelt sich, was seit undenklichen Zeiten von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten, unterdrückt wurde samt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen Abgezwungenen, das wohl schon in den primären Gestalten von Mimesis sich äußert« (Adorno 1970: 487). In der Wendung des Materialismus von der Arbeit zur Natur stimmen beide Autoren der Dialektik der Aufklärung überein. Adorno aber zieht daraus weiter reichende Konsequenzen. Bei ihm rücken mit dem Mimesisbegriff die Dimensionen und Schicksale des Körpers, des Physiologischen, Fleischlichen und Somatischen ins Zentrum des Interesses. Dass der Mensch ein Naturwesen ist, bedeutet für Adorno stets, dass er ein sinnliches, körperliches und fleischliches Wesen ist. Und Adorno verbindet die Betonung der Körperlichkeit des Menschen viel stärker als Horkheimer mit dem Interesse für die biologisch-naturalistisch bestimmte Urgeschichte des Menschen und deren Fortwirken. Mimetisches Verhalten versteht Adorno immer als eine Form physiologischen Verhaltens, auch in der Ästhetischen Theorie (vgl. Adorno 1970: 172). Die Zuwendung zur Mimesis markiert einen der wichtigsten Punkte, an dem die Distanz Adornos zur Psychoanalyse Freuds zum Ausdruck kommt und greifbar wird. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass Adorno der Freud-Kritik von Caillois nachdrücklich zustimmt. In der 284 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

Tat ist ja die Frage völlig berechtigt, warum sich die Dialektik der Aufklärung und die Elemente des Antisemitismus nicht damit b ­ egnügen, die Orientierung an der Denkwelt des Historischen Materialismus von Marx durch die Orientierung an der Psychoanalyse Freuds zu ersetzen bzw. beide Theoriestränge miteinander zu verbinden. Die Entwicklungsgeschichte der Kritischen Theorie vor der Dialektik der Aufklärung ist oft, völlig zu Recht, so beschrieben worden, dass der marxistische Monismus vom Konzept eines interdisziplinären Materialismus abgelöst wurde, in dem die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse einen bedeutenden Stellenwert eingenommen haben (vgl. Dubiel 1978; Söllner 1979). Das freudsche Denken selber ist ja durchaus nicht auf die individuelle Ebene eingegrenzt, sondern enthält von Anfang an eine soziale Dimension – schon deswegen, weil, wie Freud am Anfang seiner Schrift über Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921: 73f) sagt, im Seelenleben jedes Individuums der Andere stets als Vorbild, Objekt, Helfer oder Gegner eine wesentliche Rolle spielt. In einem Aufsatz, der nach dem Krieg erscheint, verlässt sich Adorno (1951) bei der Analyse der faschistischen Propaganda denn auch ganz auf die Begriffe und Überlegungen, mit denen Freud in seiner Massenpsychologie gearbeitet hat, und greift an keiner einzigen Stelle auf die Mimesis-Semantik zurück. Es ist ferner auch keineswegs so, dass Freud Überlegungen aus der Welt der Evolution und Biologie fremd sind. Deutlich sichtbar ist das z.B. in Jenseits des Lustprinzips aus dem Jahre 1920. Freud begibt sich immer wieder gern auf hoch spekulative gedankliche Reisen in die Vorund Frühgeschichte der menschlichen Entwicklung, weil er sich von dort her Aufschluss über die Fundamente des seelischen Lebens der eigenen Gegenwart erhofft. Es kommt hinzu, dass Freud in seinen Überlegungen in Totem und Tabu vom Material her durchaus auch jene Phänomene in den Blick nimmt, die von Horkheimer und Adorno unter den MimesisBegriff gefasst werden. In den rituellen Tänzen und Praktiken, so führt Freud aus, schlüpfen die Menschen in andere Rollen, werden zu Tieren, beschwören die Dämonen, indem sie sich ihnen anverwandeln. Der Genosse eines Clans betont nach Freud seine Verwandtschaft mit dem Totem, »indem er sich ihm äußerlich ähnlich macht, sich in die Haut des Totemtieres hüllt, sich das Bild desselben einritzt u. dgl. … Tänze, bei denen alle Genossen des Stammes sich in ihren Totem verkleiden und wie er gebärden, dienen mannigfaltigen magischen und religiösen Absichten.« (Freud 1912/1913: 128) Freud rubriziert diese Phänomene der Angleichung und des SichGleich-Machens allerdings unter die Kategorie »Identifizierung mit dem Totem in Taten und Worten« (Freud 1912/1913: 128). Auch in Massenpsychologie und Ich-Analyse arbeitet Freud vor allem mit dem Begriff der Identifizierung (Freud 1921: 115ff). So sehr Adorno diesen Begriff schätzt und seinerseits in der erwähnten Analyse aus dem Jahre 1951 mit 285 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ihm argumentiert, so wenig begnügt er sich damit in seinen radikaleren Gedankengängen, die ihn immer wieder zu einer kritischen Haltung gegenüber der Psychoanalyse Freuds führen. Dann erscheint ihm Freuds Lehre zu sehr als eine Form von Psychologie und Geistphilosophie und zu wenig als Materialismus und Biologie. In seiner Auseinandersetzung mit Caillois ist Adorno von dieser Kritik an der Psychoanalyse so eingenommen, dass er daneben die Frage der Geschlechterbeziehung, die im Material von Caillois eine zentrale Rolle spielt, schlicht übersieht. Der Aufsatz von Caillois über die Mante, den Adorno, wie er im oben zitierten Brief an Benjamin sagt, »mit großer Sorgfalt« gelesen hat, enthält deutliche Anspielungen auf die männliche Angst vor der Kastrationsmacht der Frau. Für die Bedeutung dieses Phänomens, das zugleich die Annahme matriarchaler Verhältnisse nahelegt, gäbe es auf dem Hintergrund der Psychoanalyse viele Anknüpfungspunkte in der individuellen Ätiologie der Neurosen. Schon Freud selber hat aber in seinen Weiblichkeitskonstruktionen für diese Seite der Ängste und Phantasien und für die naheliegende Annahme eines Matriarchats keinen Blick gehabt (vgl. Schlesier 1981). Freud schreibt die Kastrationsmacht ausschließlich dem Vater zu – im Licht des Materials von Caillois spräche vieles dafür, in dieser Zuschreibung bereits eine Reaktion auf die Angst vor der Kastrationsmacht der Frauen zu sehen. Damit ist zugleich gesagt, dass Adornos Überlegungen zu den frühen Stufen der Evolution und zur biologischen Erbschaft der Gegenwart nicht im Sinne einer genealogisch gemeinten Kritik zu verstehen sind. Im zweiten Kapitel habe ich oben auf Freuds Konstruktionen von urund frühgeschichtlichen Ereignissen hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass er sie nicht wörtlich und nicht als Beschreibung einer historischen Realität meint, sondern als ›wissenschaftliche Mythen‹, die sich aus der analytischen Praxis heraus aufdrängen. Die Spekulationen über Ereignisse und Verhaltensweisen in der menschlichen Frühzeit haben ihren Ausgangspunkt in der individuellen Ätiologie und bleiben auf diesen Ausgangspunkt bezogen. Adorno aber verweigert sich wie Caillois dieser psychologisch-psychoanalytischen Auflösung. Die Herleitung aus dem Seelenleben steht bei ihm im Verdacht einer körperlosen Psychologisierung, die die somatische und materialistische Dimension allzu sehr vernachlässigt. Nach Adorno ist es nicht nur so, dass die Urgeschichte überdauert, überlebt und anhält, indem sie die Phantasien und Gefühlswelten der gegenwärtigen Menschen bestimmt. Es ist darüber hinaus seine Fleischlichkeit, seine animalisch-tierische Natur, die den Menschen tief mit der »biologische(n) Urgeschichte« (DA 210) und mit der vorgeschichtlichen Frühzeit verbindet. Die Menschen sind Wesen aus Fleisch und Blut geblieben, angefüllt mit Elementen des Schreckens und der Lust, mit sinnlich-animalischen Wünschen, voller Bedürftigkeit, Angst und Begierde. In diesem Sinne ist für Adorno auch der 286 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

Urvatermord keine Erzählung und kein Mythos, sondern ein reales Ereignis. Und Adorno (1951: 323) behauptet an einer Stelle sogar, auch Freud vertrete die Annahme, »dass die Ermordung des Vaters der Urhorde keine bloße Phantasie ist, sondern der vorgeschichtlichen Realität entspricht«. Die gleiche Position eines somatisch orientierten Materialismus bestimmt auch Adornos Kritik an Kants Moralphilosophie, an ihrem Rigorismus und ihrer Verbannung des Glücks. Einige Motive der Moralkritik habe ich in meinem Kommentar zum dritten Absatz der zweiten These bereits erörtert. Es handelt sich bei Adorno aber um einen auch anderen Stellen seines Werkes entwickelten Gedanken, in dessen Zentrum immer die Idee einer Versöhnung zwischen Natur und Freiheit steht. Adorno verbündet sich an dieser Stelle mit Schillers Kritik an der scharfen Kantischen Entgegensetzung zwischen natürlich-sinnlicher Neigung und moralischem Handeln. Eine einfache und schöne Fassung der Kritik Schillers am Rigorismus Kants findet sich in den Xenien unter der Überschrift: »Gewissensskrupel«: »Gerne dien ich den Freunden. Doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.« (Schiller 1960: 299) Schiller macht gegen den Rigorismus geltend, dass auch die Natur sittliche Elemente in sich trägt und die abstrakte Gegenüberstellung zwischen Natur und Autonomie, wie Kant sie vornimmt, nicht tragfähig ist. In seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie von 1963 führt Adorno aus: »Und es ist genau dieses Moment an der Kantischen Ethik gewesen, das am frühesten schon Anlaß zu Anstoß geboten hat. Wie Sie wahrscheinlich alle wissen, bezieht sich ja die Abweichung von Schiller, des Kantianers Schiller, der ja sonst ein treuer Kantianer gewesen ist, genau darauf, und es ist bei ihm nun der bei Kant nur visierte Gedanke einer Vereinigung der voneinander unterschiedenen Prinzipien der Natur und der Freiheit in dem Sinn ausgeführt – und das vollzieht sich sogar noch, wenn Sie so wollen auf Kantischem Boden, daß auch die Natur selbst, wenn der Endzweck der Natur die Freiheit sein soll, dann im sittlichen Verstande nicht das radikal Böse sein kann, daß es auch etwas wie gute Natur gibt; und daß diese gute Natur, und zwar in Gestalt der Kunst, auf die Menschen veredelnd und insofern auch sittlich wirken kann, mit anderen Worten: daß der Natur selbst auch ein Sittliches zugeschrieben wird.« (Adorno 1963: 160f) Gegen Kant, der mit der Moral zwar die Glückswürdigkeit, nicht aber das Glück in Verbindung gebracht hatte, insistiert Adorno auf der inneren Verbindung zwischen Moral und Glück. Der Formalismus von Kants Ethik ist in Adornos Augen nur die Fortsetzung des Zwangs der inneren Naturbeherrschung, die in der Dialektik der Aufklärung auf das nachdrücklichste gerade zur Kritik steht. Adorno rehabilitiert dagegen das Somatische, er bindet das Moralische an das zurück, was bei Kant in der 287 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Begründung der Ethik zur Kritik stand: an die Natur. Freiheit ist nicht das Gegenteil von Natur, sondern das »Innewerden von Natur« (Adorno 1963: 156). Die Idee der Versöhnung und des Glücks will Adorno »in dem somatischen Gehalt der Erfahrung« (Thyen 1998: 176) verankern. Freiheit realisiert sich nicht auf dem Wege der Repression und des Rigorismus gegen die Triebnatur und den Triebgrund der Wirklichkeit, sondern in der Verbindung mit ihr, Moral besteht nicht in der Negation des Animalischen, sondern in dem Versuch, »so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein« (Adorno 1966a: 294). Und dieses Bemühen wird von der Natur nicht desavouiert, sondern gestützt, mindestens gibt es »eine entfernte Absicht der Natur, … mit dem Reich der Freiheit« zu koinzidieren (Adorno 1963: 135). Kunst und Philosophie müssen der Natur »beistehen und auf der armen Erde ihr zu dem verhelfen, wohin sie vielleicht möchte« (Adorno 1970: 107). Zurück noch einmal zur Mimesis, zur Biologie und zu Caillois. Mit der Betonung der somatischen Seite des Mimesisbegriffs ist Adorno biologischer und materialistischer als die Gegenwartsbiologie, die dazu übergegangen ist, die Prozesse von Mimikry und Mimesis in der Terminologie einer körperlosen Kommunikationstheorie zu beschreiben, indem sie sie als »Signalfälschung« versteht. Charakteristisch für die Mimesis soll danach die Beziehung des »Nachahmers« zu einem »Signalempfänger« sein, der durch das mimetische Verhalten getäuscht wird. In einer Kurzformel zusammengefasst: Mimikry ist »jede Form der Signalfälschung durch Organismen« (Toepfer 2011/Bd. 2: 598). Auch Caillois, von dem Adorno wesentliche Impulse seines mimetischen Materialismus bezieht, hat sich in seinen Schriften nach dem Krieg von seiner ursprünglichen Position entfernt und den Mimesisbegriff in eine Theorie des Spiels und der Masken transformiert, in der das materialistische Element der Konzeption aus den 1930er Jahren weitgehend getilgt ist. Im 1958 erschienenen Buch Die Spiele und die Menschen wird Mimikry als eine von vier zentralen Rubriken und Merkmalen aufgeführt, die das Spiel charakterisieren. Caillois versteht unter Mimikry nun »Maskierung« (Caillois 1958: 19), in der die Menschen zu einer »illusionären Figur« werden und sich entsprechend verhalten (Caillois 1958: 28). »Der Mensch vergißt, verstellt sich, er entäußert sich vorübergehend seiner Persönlichkeit, um dafür eine andere vorzutäuschen. Um die elementare und gleichsam organische Natur dieser Bekundungen zu charakterisieren, wähle ich den Ausdruck mimicry, was im Englischen den Mimetismus umschreibt, insbesondere die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Insekten.« (Caillois 1958: 28) In diesem Satz beschreibt Caillois die Mimikry zwar noch einmal als eine elementare und organische Angelegenheit, für die die Insekten »die verwirrendsten Beispiele« (Caillois 1958: 28) liefern. Aber eigentlich ist es nun gerade die Differenz zwischen der menschlichen, spielerischen Verwandlung 288 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

einerseits und der Mimikry der niederen Tiere andererseits, die besonders herausgestellt wird. Danach ist es so, dass wir es bei den Menschen mit einer »freien, veränderlichen, willkürlichen« Verhaltensweise zu tun haben, während die Verwandlung bei den Tieren »eine absolute, organische und feststehende Modifikation« ist (Caillois 1958: 28). Mithin sind die Mimikry-Spiele des Menschen nach Caillois eine absichtsvoll und intentional herbeigeführte Verwandlung, die auch unterbleiben kann, die zu vollziehen oder zu unterlassen prinzipiell in der Macht des Menschen liegt. In diesen Bestimmungen ist das Element des Mimesis- und Mimikry-Begriffs getilgt, das Adorno so sehr interessiert hatte. In einer Fußnote distanziert sich Caillois expressis verbis von seiner früheren Studie, deren Perspektive ihm nun insgesamt als »recht phantastisch« erscheint. Damals habe er aus der Mimesis eine Trübung der Wahrnehmung des Raumes gemacht und eine universale Tendenz der Organismen, »ins Leblose zurückzukehren«. Jetzt möchte er darin nur noch eine »Äquivalenz für die Verwandlungsspiele des Menschen« (Caillois 1958: 29) sehen. Ganz auf dieser Linie rückt bei Caillois an die Stelle des Mimesisbegriffs nun der »Hang zur Imitation« und zur »physischen Ansteckung«, analog »jener Ansteckung des Gähnens, der Gangart, des Lächelns und der Art der Bewegung« (Caillois 1958: 29). Mit dieser Bestimmung wechselt Caillois gleichsam auf die Ebene, die wir bei Horkheimer im psychologischen und lerntheoretischen Verstande als das Gebiet der Nachahmung kennengelernt haben. Die folgende Passage könnte tatsächlich auch von Horkheimer stammen: »Bei den Kindern handelt es sich zunächst darum, die Erwachsenen zu imitieren. … Das kleine Mädchen spielt Mutter, Köchin, Wäscherin oder Büglerin; der Knabe tut, als wäre er ein Soldat, ein Musketier, ein Polizist, ein Pirat oder ein Krieger usw. … Aber die Verhaltensweisen der mimicry gehen weit über die Kindheit hinaus bis in das Leben der Erwachsenen. Sie umfassen gleichermaßen jede Vergnügung, der man sich maskiert oder verkleidet hingibt und die gerade darum Vergnügen ist, weil der Spieler sich maskiert oder verkleidet. … Das Vergnügen besteht darin, daß man ein anderer ist oder daß man für einen anderen gehalten wird.« (Caillois 1958: 29f) Und nur noch wie ein fernes Echo auf den früheren Materialismus klingt die Entwicklungsgeschichte, die Caillois jetzt ins Auge fasst. Danach ist es so, dass es am Anfang der Zeiten eine Phase gab, in der die Mimikry die alles andere dominierende Reaktionsweise war. Diese Zeit ging zu Ende, »seitdem der Geist zu der Konzeption des Kosmos gelangte, das heißt zu der eines festen und geordneten Universums, in dem es weder Wunder noch Metamorphosen gibt. Ein solches Universum erscheint als der Bereich von Regelmäßigkeit, Notwendigkeit und Maß, mit einem Wort, als Bereich der Zahl.« (Caillois 1958: 121) In der Terminologie der Dialektik der Aufklärung könnten wir sagen, dass auf dieser 289 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Stufe das Gebot der Quantifizierung, also das Rechnen, an die Stelle der Mimesis tritt, und damit die Entzauberung der Welt ihren Siegeszug beginnt, der sich anfangs noch an die Formen der Natur anlehnte und sich dann im Prozess zunehmender Abstraktion immer mehr von ihr entfernte. »So benutzten die ersten Pythagoräer noch konkrete Zahlen. Sie konzipierten sie, als hätten sie Form und Gestalt. Die Zahlen waren entweder dreieckig oder viereckig oder auch achteckig, das heißt, sie wurden unter Dreiecken, Vierecken oder Achtecken vorgestellt. Sie glichen zweifellos den Augen der Würfel und der Dominos mehr als den Zeichen ohne andere Bedeutung als in ihnen, den Ziffern steckt. Die Zahlen bildeten zudem Sequenzen, die durch die Beziehungen der drei musikalischen Hauptakkorde beherrscht wurden.« (Caillois 1958: 121f) Aber das erscheint nun alles im Lichte vollendeter Harmlosigkeit und des vollendeten Gelingens im Übergang von einer Stufe in die nächste. Es ist keine Unterdrückungsgeschichte mehr, es gibt keinen kritischen Stachel mehr, und es ist meilenweit von allem historischen wie biologischen Materialismus entfernt.

4. Antisemitismus und falsche Mimesis Adorno und Horkheimer verbinden mit dem Mimesis-Begriff durchaus verschiedene Akzente und Inhalte. Sie sind aber beide der Überzeugung, dass er ein Schlüssel dafür ist, die zentralen Elemente des Antisemitismus zu verstehen und aufzulösen. Damit ist von vornherein die Behauptung verbunden, dass der Nationalsozialismus nicht nur mit den Mitteln von Gewalt, Terror und Unterdrückung operiert und damit Anhänger wie Gegner einschüchtert, sondern zugleich eine durchaus verlockende, verführende und faszinierende Seite hat. Zum Verständnis des Antisemitismus gehört dann hinzu, dass man diese Bedürfnisseite in den Blick nehmen und verstehen muss. Die Bilder- und Inszenierungswelt des Nationalsozialismus ist mithin nicht nur ein schöner Schein, der die Brutalität des Regimes verdeckt, sondern zugleich eine Ebene, die weitaus mehr von der »seelischen Energie« (DA 213, V: 6) der Antisemiten verrät, als man auf den ersten Blick vermutet. Und mit seelischer Energie ist hier gemeint, dass sich der Antisemitismus nicht über die Köpfe und Körper der Menschen hinweg realisiert, sondern durch sie hindurch. Der Faschismus bietet eine mimetische Welt voller Verlockungen und Verführungen. Seine Bilder, Rituale und Symbole zielen darauf ab, die Menschen in Bann zu ziehen und für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Walter Benjamin spricht in seinem Kunstwerk-Aufsatz im Blick auf den Nationalsozialismus von der »Ästhetisierung der Politik«, in der die Massen durchaus »zu ihrem Ausdruck«, freilich aber »nicht zu ihrem Recht« kommen (Benjamin 1974: 506). Dass die Antisemiten nicht 290 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

zu ihrem Recht kommen, ahnen sie zwar von Anfang an, aber die Ästhetisierung und Inszenierung der Welt verfolgt den Zweck, diese Ahnung auf keinen Fall zum Bewusstsein kommen zu lassen und alle bei der Stange zu halten. Der Antisemitismus ist wirklich eine Idiosynkrasie, eine affektive Abneigung, die von tiefen Schichten und Energien getragen und gespeist wird, eine mimetische Verlockung, die wie ein Sog unwiderstehliche Wirkung entfaltet und der nachzugeben eine große Befriedigung bedeutet. Die Wirkung von Bildern, Texten, Filmen, Reden und Masseninszenierungen ist nur sehr schwer zu fassen. Niemand kann den Leuten und Akteuren in den Kopf hineinschauen. Die Steuerungsmacht, die mit dem Aufrufen mimetischer Verhaltensweisen operiert, ist immer indirekt – eine Art von soft power, kein Kommando, das eine konkrete Handlung gebietet und andere Handlungen untersagt. Viele Dokumente und Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus sind überliefert und greifbar, aber wir können oftmals kaum sagen, wer sie damals gelesen, gesehen, gehört hat und was das Lesen, Sehen und Hören und die Teilnahme an den Aufmärschen und Veranstaltungen bei den Lesern, Hörern, Zuschauern und Teilnehmern ausgelöst hat. Unabhängig von diesen Beschränkungen und Grenzen ist es aber immer möglich, den objektiven Gehalt der Texte, Bilder, Filme und Inszenierungen zu untersuchen, die die faschistische Ästhetisierung der Politik charakterisieren. Nach Adorno (1959a: 26) ist Propaganda die »rationale Manipulation des Irrationalen«. Die rationale Seite – das sind die Techniken, mit denen an der Erzeugung des schönen Scheins gearbeitet wird, der Aufwand, der hinter den Kulissen betrieben werden muss, die Tricks und Manipulationen, die in den verschiedenen Feldern zum Einsatz kommen. Die irrationale Seite bezeichnet das Feld der Bedürfnisse und Wünsche, die in Regie genommen und für die Zwecke der Herrschaft zugerichtet und instrumentalisiert werden. Bei genauerer Betrachtung der faschistischen Rituale und Veranstaltungen zeigt sich, dass skurrile Theatralik und absonderliche Inszenierungen das Bild bestimmen. Die Akteure und Beteiligten erlauben sich ein Verhalten, das an allerlei Hokuspokus und Zauberkram erinnert, an eine eigentlich längst der Vergangenheit angehörende Welt archaischer Beschwörungen, Kulte und Rituale, an Mummenschanz und Maskerade. Was in diesen Veranstaltungen passiert, bringt die fünfte These der Elemente unter den Begriff der mimetischen Reaktionsweise. Bis in die Einzelheiten der Beobachtungen und der Terminologie hinein wiederholt Horkheimer die in dieser These vorgetragenen Überlegungen in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft: »Wer jemals eine nationalsozialistische Versammlung in Deutschland besucht hat, weiß, dass die Redner und die Zuhörer ihr Hauptvergnügen daran hatten, gesellschaftlich unterdrückte mimetische Triebe zu 291 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

betätigen, wenn auch nur, indem sie ›rassische Feinde‹ lächerlich machten und angriffen, die angeklagt waren, in unverschämter Weise ihre eigenen mimetischen Gewohnheiten zur Schau zu stellen. Der Höhepunkt einer solchen Versammlung war der Augenblick, in dem der Redner einen Juden darstellte. Er ahmte jene nach, die er vernichtet sehen wollte. Die Darstellungen riefen dröhnende Heiterkeit hervor, weil ein verbotener Naturdrang sich ohne Angst vor Tadel geltend machen durfte.« (Horkheimer 1947: 126) Und kurz darauf heißt es im Blick auf bestimmte Züge moderner Demagogen: »Sie werden oft als Schmierenschauspieler beschrieben. Man könnte an Goebbels denken. In seiner Erscheinung war er eine Karikatur des jüdischen Händlers, für dessen Liquidation er eintrat. Mussolini erinnerte an eine provinzielle Primadonna oder an den Wachkorporal einer komischen Oper. Hitlers Trickköfferchen scheint fast von Charlie Chaplin gestohlen. … Moderne Demagogen benehmen sich gewöhnlich wie ungestüme Flegel, die sonst von ihren Eltern, Lehrern oder irgendeiner anderen zivilisierenden Instanz andauernd ermahnt oder unterdrückt werden.« (Horkheimer 1947: 127f) Was in diesen Veranstaltungen passiert, ist also etwas eigentlich Abstoßendes, für Zivilisierte ganz Unangemessenes, Absonderliches, Schamanistisches, mithin etwas, das auch für die Antisemiten normalerweise verpönt ist. Zugleich ist es aber offenkundig so, dass davon eine große Anziehungskraft ausgeht und auf Seiten der Teilnehmer damit das Erlebnis überwältigender affektiver Befriedigung verbunden ist. Dann aber kann die Schlussfolgerung nur lauten: Nicht obwohl diese Veranstaltungen so sehr aus der Zeit zu fallen scheinen, geht von ihnen eine große Attraktivität aus, sondern umgekehrt gerade deswegen, weil sie so zurückgeblieben und archaisch anmuten. An diesem Punkt der Analyse wird zunächst noch einmal deutlich, dass die Überlegungen der Elemente des Antisemitismus und insbesondere die der fünften These in enger Verbindung mit einer Fülle von materialen Studien zu sehen sind, die das Institut für Sozialforschung durchgeführt hat. Die Elemente enthalten insofern die verdichtet formulierten Ergebnisse dieser detaillierten und materialnahen Untersuchungen faschistischer Praktiken. Adorno und Horkheimer weisen auf den Zusammenhang zwischen den empirischen Forschungen und den Elementen des Antisemitismus in ihrer Vorrede zum Dialektik-Buch (DA 22f) hin. Und sicherlich verlieren die Elemente, insbesondere die fünfte These, einen Teil ihres abstrakten und spekulativen Zugs, wenn man sie in diesen Zusammenhang hineinstellt. Aber auch dann gilt immer noch, dass die Überlegungen der Dialektik der Aufklärung weit über diese empirische Datenbasis hinausgehen. Sie stellen die empirischen Befunde in den ausgreifenden theoretischen Rahmen der Zivilisations- und Kulturgeschichte hinein und suchen von 292 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

hier aus nach Erklärungen und Interpretationen. Die Katastrophe des europäischen Judentums, so lautet die Behauptung, steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte der Naturbeherrschung und der Tabuisierung der Mimesis. Der Faschismus mit seinem Zentralwahn des Antisemitismus ist eine Form der Rückkehr dieser Mimesis. Im Grunde ist es so, dass die Zivilisation die Quittung für die Erbarmungs- und Gnadenlosigkeit bekommt, mit der sie sich über die Körper und sinnlichen Qualitäten der Menschen hinweg durchgesetzt hat. Antisemitismus und Faschismus zeigen, dass sich die Massen nicht länger mit Verweisen auf die Zukunft oder Belohnungen im Jenseits vertrösten lassen. Sie wollen endlich auf ihre Kosten kommen und fordern wütend den Lohn für die Entbehrungen, die sie im Dienste der Zivilisation auf sich genommen haben. So wird am Antisemitismus der Betrugscharakter des zivilisatorischen Versprechens offenbar. Er ist der antizivilisatorische Gegenschlag der unterdrückten Natur, der freilich mit den falschen Mitteln, am falschen Objekt und in völliger Blindheit vollzogen wird. Deswegen ist der Antisemitismus selber die Fortsetzung dieses Betrugs mit anderen Mitteln. Es ist aber nicht einfach die Unmittelbarkeit einer ersten, unbeschädigten und unschuldigen Natur, die sich im Antisemitismus mit aller Eindringlichkeit wieder ins Spiel bringt, sondern eine vielfach im Prozess der Zivilisation bereits unterdrückte und zugerichtete Natur. Hinzu kommt, und das ist nicht weniger bedeutsam, dass die »Revolte der Natur«, von der Horkheimer (1947: 105ff) spricht, durch eine absichtsvolle und ausgeklügelte Herrschaftsstrategie allererst ins Leben gerufen wird – durch eine Strategie, die dafür sorgt, dass der Zweck dieser Veranstaltung, nämlich die menschliche Natur mit all ihren affektiven und mimetischen Elementen möglichst lückenlos in herrschaftliche Regie zu nehmen, niemals vernachlässigt wird. Adorno weist auf diesen Gesichtspunkt immer wieder mit großem Nachdruck hin. In dem bereits zitierten Aufsatz, in dem er die Struktur der faschistischen Propaganda mithilfe von Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse aufzuklären versucht, bezieht er den Gedanken auf die seelischen Energien und Instanzen, aus denen die faschistische Rebellion gespeist wird: »Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wiederholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst. Es ist kaum hinreichend, die Antriebe der faschistischen Rebellion nur als mächtige Es-Energien zu bestimmen, die den Druck der bestehenden Gesellschaftsordnung abwerfen, sondern diese Rebellion erhält ihre Energien zum Teil von anderen psychologischen Instanzen, die in den Dienst des Unbewußten gezwungen werden.« (Adorno 1951: 324) In den faschistischen Praktiken kehrt also nicht die Mimesis als ursprüngliches natürliches Verhalten zurück, sondern es ist die Wiederkehr der Mimesis nach ihrer Unterdrückung – es ist die »Mimesis der 293 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Mimesis« (DA 214, V: 6) und damit, wie Adorno (1951a: 320) in einem Aphorismus der Minima Moralia sagt, eine »falsche Mimesis«, die in den faschistischen Praktiken das Bild bestimmt. Als diese falsche Mimesis wird sie von den faschistischen Machthabern und Herrschern für die Zwecke ihrer Unterdrückung funktionalisiert und zur Perfektionierung dieser Unterdrückung eingespannt.

5. Exkurs: Horkheimer und Adorno im Gespräch über Mimesis, Verdrängung, Wut und Antisemitismus In einer Reihe von Gesprächsprotokollen, die sich auf Diskussionen im Umfeld und zur Vorbereitung der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung beziehen, kann man erkennen, wie Adorno und Horkheimer sich immer wieder in ihren Gesprächen um eine Klärung der für ihre Argumentation zentralen Gesichtspunkte bemühen. Es sind tastende Gedankenbewegungen, die Formulierungen sind zum Teil unklar, verworren, unpräzise, und was die Verwendungsweisen der Begriffe Mimesis, Mimikry und Idiosynkrasie angeht, durchaus nicht wirklich klar und eindeutig. Man kann bei der Lektüre dieser Protokolle etwas von dem unendlich langen und langsamen Prozess erahnen, in dem sich erst nach und nach das Profil der eigenen Argumentation herausschält. Dem Protokoll eines Gesprächs über die fünfte These der Elemente mit dem Titel Antisemitische Idiosynkrasie zufolge, einem Fragment im Umfang von nicht einmal einer Seite, ist es Adorno, der gleich von Anfang an zwischen zwei Arten von Idiosynkrasie unterscheidet. »Die erste Art ist Erstarren, Erstarren aber ist Mimikry. Die zweite Art ist die Sehnsucht nach jener Situation, in der es solche Reaktionen wie das Erstarren noch gab, also die Sehnsucht nach Mimikry.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) Danach gibt es also einmal eine Mimesis bzw. Mimikry als ursprüngliche Reaktion, in einer Umgebung, in der Mimesis die normale und vorherrschende Reaktionsweise gewesen ist. Die zweite Variante, von der die Rede ist, bezeichnet demgegenüber die Sehnsucht nach dieser Reaktionsweise zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits seit langem mit einem Bann belegt ist. Die Sehnsucht nach mimetischem Reagieren bezieht sich dann auf etwas, was eigentlich bereits nicht mehr da ist, abgedrängt, verdrängt und ausgegrenzt worden ist. Horkheimer nimmt den Faden dieser Unterscheidung zwischen zwei Varianten der Mimesis auf und bestätigt die Überlegungen von Adorno: »Das, was Idiosynkrasie auslöst, ist stets etwas, was ursprünglich einmal mit einer Reaktion beantwortet worden ist, die jetzt tabuiert ist und die man sich im Laufe der Naturgeschichte abgewöhnen mußte.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) Dann aber geht Horkheimer in seinen 294 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Überlegungen in eine andere Richtung. Er wendet sich der ursprünglichen Situation zu, in der die Mimikry zunächst die angemessene Reaktion war, schließlich jedoch als suboptimal und insuffizient nicht mehr angewandt wurde: »Die Reaktion, auf die es ursprünglich ankam, war Mimikry, Scheintod. Mimikry selber ist eine Regression. Wahrscheinlich ist das Verzweifelte die Repetition der Situation, in der man sich entschlossen hat, nicht in den Tod zurückzufallen: nein, nicht tot, sondern fliehen. Biologisch ist Mimikry insuffizient.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) Mimikry erscheint hier als eine Reaktion auf Todesängste, in der das Leben den Weg in den Scheintod einschlägt, um zu überleben. Die Reaktion des Erstarrens und der Angleichung ans Tote ist nach Horkheimer allerdings nur in begrenztem Maße funktional. Vielleicht wäre Flucht die bessere Variante. In beiden Fällen aber wird die Situation durch große Ohnmacht und übermächtige Bedrohung charakterisiert – eine dramatische Situation, die Angst und Schrecken auslöst. Adorno geht diesen gedanklichen Weg in die Dramatik der biologischen Urgeschichte an dieser Stelle aber nicht mit, sondern bleibt bei seiner Unterscheidung zwischen zwei Arten der Mimesis, mit der er das Gespräch begonnen hatte: »Die Verzweiflung in der Idiosynkrasie hängt damit zusammen, daß man die mimetische Leistung nicht mehr zustandebringt.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) Die »mimetische Leistung«, die heute nicht mehr zustande kommt, ist offenbar jene ursprüngliche Mimesis, von der am Anfang des Gesprächs schon einmal die Rede war. Ihr gilt die Sehnsucht, die aber unerfüllbar und deswegen mit Verzweiflung verbunden ist. Die Verzweiflung ist das Pendant der Anstrengung, der Sehnsucht und der Vergeblichkeit. Horkheimer wiederum bleibt bei seinen Überlegungen, dass der Scheintod eine im Grunde nicht wirklich optimale und effiziente Schutzreaktion ist. Man hat den Eindruck, dass die beiden Gesprächspartner noch nach einem Bezugspunkt suchen, auf den sie sich von ihren unterschiedlichen Voraussetzungen her beziehen können. Adornos Thema ist die Differenzierung zwischen den zwei Erscheinungsweisen der Mimesis. Horkheimers Thema sind die Techniken des Schutzes im Dienst des Überlebens, und unter dieser Perspektive betrachtet er das Phänomen der Mimesis und fragt nach den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Flucht wäre eine bessere Alternative und effizienter als der Scheintod, aber auch sie bietet keine Garantie fürs Überleben. Wer nicht schnell genug ist, wer lahmt, wird untergehen. »Ich glaube, es hängt damit zusammen, daß die Lahmsten gefressen worden sind.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) In der letzten Sequenz, die das Gesprächsprotokoll festhält, zieht Adorno dann die Verbindung zum Antisemitismus. »Antisemitismus und Idiosynkrasie sind beides Verbote von Mimikry.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590) Diese Sentenz, isoliert betrachtet, ist unverständlich und 295 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

irreführend. Verständlich wird sie nur, wenn man sie im Zusammenhang mit den anderen Sätzen Adornos in dieser Diskussion sieht. Dann müsste der Satz eigentlich lauten: Antisemitismus und Idiosynkrasie sind beides Reaktionen auf das Verbot von Mimikry. Adorno hatte ja gerade zeigen wollen, dass die Idiosynkrasie, die sich im Antisemitismus äußert, nichts Ursprüngliches ist, sondern das Resultat einer Geschichte der Zivilisation, die in unvordenklichen Zeiten begonnen hat und deren Wirkungen bis in die Gegenwart hinein anhalten. Auf diesem Hintergrund betrachtet, drückt sich im Antisemitismus eine mimetische Sehnsucht aus, die aber aus ihrer Verdrängung und Zurichtung resultiert. In einer weiteren Diskussion über die fünfte These unter der Überschrift Mimesis versuchen Adorno und Horkheimer der psychischen Logik von Agitation und demagogischen Massenveranstaltungen auf die Spur zu kommen. Horkheimer eröffnet das Gespräch, indem er das Thema der Nachahmung ins Spiel bringt. »Der Führer imitiert die Ohnmacht, den Juden. Imitation ist vielleicht eine zu formelhafte Kategorie. Man kann ihr noch einen Inhalt geben. Er imitiert die Ohnmacht deshalb, weil er selber zurückkehren will, Tendenz der Regression. Er spielt auch z.B. die Auflösung, das Chaotische.« (Horkheimer/Adorno 1943: 590f) Horkheimer wendet, sehr zu Recht, gegen den Begriff der Imitation sogleich selber ein, dass er zu inhaltsarm ist. Konkreter wird er mit dem Hinweis darauf, dass es die Ohnmacht ist, die der Führer imitiert und nachspielt. Freilich ist auch diese inhaltliche Aussage noch sehr vage und allgemein, aber vor allem ist sie auch inhaltlich fraglich, wie dann der weitere Verlauf der Diskussion zeigen wird. Horkheimer schließt zunächst zwei Sätze an, die die Imitation weiter konkretisieren und mit Inhalt füllen sollen: »In dem Ton des Agitators liegt nicht bloß Imitation sondern auch Vergewaltigung. Die Theorie, daß die Wahrheit vergewaltigt wird, muß aufrecht erhalten bleiben.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Wenn man es bei der Diagnose der Imitation beließe, hätte man noch kein weiterführendes Kriterium an der Hand, das es erlauben würde, die Frage nach Sinn und Zweck dieser Agitations-Imitations-Veranstaltungen zu beantworten. Das ändert sich mit dem Wahrheitskriterium, mit dem die Seite des Betrugs und der Lüge in die Überlegungen hineingenommen werden kann. Adorno greift diesen Aspekt in der Weiterführung des Gesprächs direkt auf und verbindet ihn mit dem Thema der Mimesis: »Besteht nicht ein Zusammenhang zwischen dem Vergewaltigen der Wahrheit und dem Mimetischen? Der Zuschauer registriert unbewußt das Moment der Unwahrheit an der Mimesis. Vermöge des Theaters vergewaltigt er die Wahrheit. Das Mimetische tritt rationalisiert auf.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Damit bringt Adorno einen zentralen Gedanken in das Gespräch ein, der für die Weiterführung des Arguments ausschlaggebend 296 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Mimesis und Zivilisation

ist. Wie schon in der oben behandelten früheren Diskussion ist es auch hier wieder Adorno, der darauf insistiert, dass wir es nicht einfach mit Mimesis zu tun haben, sondern gleichsam mit einer zweiten Auflage der Mimesis, einer Mimesis, die in den Auftritten der Agitatoren künstlich wachgerufen und zum »Theater« wird und damit einer rationalen Kalkulation unterliegt. Diese Verbindung, die Verbindung von Mimesis und Theater bzw. Kalkül markiert die Unwahrheit der demagogischen Massenveranstaltungen. Horkheimer widerspricht: »Die Hauptwirkung ist nicht das Mimetische.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Er möchte stärker den Aspekt der Wut betonen und kommt auf das Thema der Verdrängung statt auf die Mimesis. »Das Entscheidende ist, daß der Führer die Wut wieder erregt, die die Verdrängung immer dort erzeugt, wo wieder aufs neue verdrängt werden muß.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Die Hauptwirkung der Agitatoren sieht Horkheimer mithin darin, dass sie bei ihren Anhängern die Wut entzünden und schüren. Wut aber ist eine Reaktion auf Verdrängung. Sie entsteht immer dann, wenn das mit Wunsch- und Triebversagungen verbundene Versprechen eines höheren Gewinns nicht in Erfüllung geht. Die demagogischen Massenveranstaltungen schaffen es, auf der Klaviatur der Verdrängung zu spielen und die Enttäuschung über die ausbleibende Befriedigung in Wut zu übersetzen. Von diesem Gesichtspunkt aus sucht Horkheimer einen neuen Zugang zur Mimesis: »Davon ist auch die Wirkung des Mimetischen abgeleitet, er macht den Menschen vor, was sie gern tun möchten, und zwar in einer zensierten Form.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Das Mimetische erscheint nun als das Verlockende, als das, was man gerne tun möchte – ein Stück Natur werden, sich dem Animalischen, Affektiven und Triebhaften hingeben. Das macht der Demagoge den Zuhörern und der Gefolgschaft vor. Den Aspekt, den Adorno mit den Begriffen Theater und rationalisierte Mimesis benannt hatte, übernimmt Horkheimer hier und spricht nun von der zensierten Form, in der die Mimesis in Erscheinung tritt. Horkheimer fährt fort: »Die Mimesis erklärt das Einverständnis, aber nicht das Einverständnis in der Wut.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Erneut also trennt Horkheimer die Mimesis von der Wut. Mimesis erzeugt das Einverständnis zwischen Führer und Gefolgschaft. Der Führer gibt der mimetischen Verlockung nach und reißt auf diese Weise sein Publikum mit. Die Wut jedoch kann man damit nach Horkheimer nicht erklären. Freilich ist der Zusammenhang immer noch nicht wirklich klarer geworden als vorher. Horkheimer kehrt dann noch einmal zum Gesichtspunkt der Ohnmacht zurück, mit dem er die Diskussion begonnen hatte. Ohnmacht und Mimesis hängen eng miteinander zusammen. Die ursprüngliche Mimesis ist die ohnmächtige Reaktion auf die Erfahrung der angsteinflößenden Übermacht. Diese ursprüngliche Mimesis wird 297 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

von den Späteren sehnsuchtsvoll herbeigewünscht. Aber sie ist zugleich verachtet und verpönt, weil sie sich als wenig effizient erwiesen hat und von anderen und effektiveren Schutzreaktionen abgelöst worden ist. In den demagogischen Veranstaltungen wird die anfängliche Ohnmachtserfahrung nun zwar künstlich wiederbelebt, aber nur, um sie, mitsamt der mimetischen Reaktion darauf, als antiquiert und überwunden zu kennzeichnen. »Er (der Führer, d. Verf.) wiederholt die Ohnmacht, verkörpert sie aber nicht selber. Die Wut geht also notwendig auf den andern, den draußen.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Das Element der Wiederholung ist hier schon der Hinweis darauf, dass der Führer selber nicht ohnmächtig ist, er wiederholt die Ohnmacht nur, er inszeniert sie und beweist gerade dadurch, dass er der Ohnmacht nicht mehr ausgeliefert ist. Die Wut, die auf Seiten des Publikums und der hörigen Massen aus der Verdrängung entsteht, richtet er auf die Ohnmächtigen, die außerhalb stehen. In der ersten These der Elemente heißt es über die Juden: »Ihre Ohnmacht zieht den Feind der Ohnmacht an.« (DA 198, I: 3) Adorno bestätigt diese Überlegung: »Wäre er selber der Ohnmächtige, so ginge die Wut gegen den Führer. Die Mimesis hat die Funktion, das Subjekt von seiner Schwäche zu distanzieren, indem es die Schwäche spielt.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Ohnmächtig also darf der Führer nur erscheinen, nicht sein. In der Mimesis der Mimesis wird die Schwäche gespielt und erscheint gerade dadurch als Macht. Es ist dieses Element des Artifiziellen, Künstlichen und Hergestellten in der Mimesis, das ihr das Anrüchige und Verächtliche nimmt und sich über sie erhebt. Und nur wegen dieser Befehlsgewalt über den Einsatz der Mimesis ist sie dem Führer und seinem Anhang erlaubt. Aber Adorno insistiert darauf, dass das Mimetische und die Wut doch enger beieinander liegen, als es nach Horkheimer der Fall ist. »Diese Art des verdrängt Mimetischen und das Destruktive sind dasselbe – das Nicht-mehr-man-selbst-Sein.« (Horkheimer/Adorno 1943: 591) Damit führt Adorno in gewisser Weise die Elemente der Diskussion zusammen: Das Thema Mimesis, die Frage der Verdrängung, die Horkheimer ins Spiel gebracht hatte, die Wut, die unter dem Titel des Destruktiven und des Außer-sich-Seins hineinkommt. Adorno erweitert den Bedeutungsgehalt des Mimetischen, indem er unter diesem Begriff auch das fasst, was der Verdrängung unterliegt, und auch die Wut in diesen Erklärungszusammenhang mit aufnimmt. Horkheimer dagegen hatte Verdrängung und Wut einerseits und Mimesis andererseits voneinander trennen wollen. Adorno ist zu seinem zentralen Thema in diesen Gesprächen zurückgekehrt, nämlich zu der Unterscheidung zwischen den zwei Arten der Mimesis. Das Gespräch geht dann über zu Fragen der Ichbildung und zur Bedeutung von Sport und Spiel, und dann kommt Horkheimer schließlich noch einmal auf die Beziehung zwischen Mimesis und Verdrängung bei 298 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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den Agitatoren und bei der Führerrede zurück: »Der Führer regrediert vor den Augen der Zuhörer in einer durch den Zweck erlaubten Weise, im Grunde ist das schon ein Pogrom. Verdrängte Mimesis ist identisch mit kontrollierter Regression.« (Horkheimer/Adorno 1943: 592) Jetzt greift Horkheimer seinerseits auf, was bis dahin im Gespräch eher der zentrale Gesichtspunkt Adornos gewesen ist. Das so schwer entwirrbare Ineinander von Regression und Kalkül, Mimesis und Kontrolle, Erlaubnis und Verdrängung wird nun auch von ihm ins Auge gefasst. In den faschistischen Veranstaltungen kehrt das Mimetische zurück, aber immer nur auf Seiten der Herrschaft über das Mimetische. Das Mimetische ist verlockend und verboten zugleich. Der Verlockung kann nachgegeben werden, wenn das im Dienst der Verstärkung des Verbots geschieht.

6. Der Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus Man wird kaum sagen können, dass die Begriffe, mit denen Adorno und Horkheimer das Naturverhältnis der Zivilisation erschließen wollen, in der Dialektik der Aufklärung bereits wirklich durchdacht sind und entfaltet werden. Das gilt auch für die Schriften, in denen sie nach dem Krieg auf dieses Thema zurückkommen. Viele Vagheiten und Unklarheiten bleiben bestehen, und bestehen bleiben auch die unterschiedlichen Akzente, die Horkheimer und Adorno jeweils mit dem Mimesis-Begriff verbinden. Aber beide sind doch durchgehend davon überzeugt, dass nur in einer Theorie, die das Naturverhältnis der Zivilisation ins Zentrum rückt, Antisemitismus und Faschismus zureichend verstanden und auf Dauer überwunden werden können. Und einig sind beide auch in der Aufgabenbestimmung, die sie angesichts der Erfahrung der Barbarei des Faschismus inmitten des 20. Jahrhunderts für die Philosophie vorsehen. Dass die faschistische »Revolte der Natur« und die antisemitische Rückkehr der Mimesis nicht das letzte Wort der Geschichte sind, dazu beizutragen muss von nun an das vorrangige Ziel des Denkens sein. Der Faschismus ruft den mimetischen Impuls nur wach, um ihn auszurotten, so wie er sich der Sprache nur zum Zweck der Demagogie und der Destruktion bedient. Es ist für Horkheimer und Adorno von entscheidender Bedeutung, den Faschismus nicht einfach als eine neue Variante politischer und ökonomischer Unterdrückung zu verstehen, sondern die grundlegend neue Qualität in den Blick zu nehmen, die ihm zugrunde liegt und die in der Einheit von Rebellion der Natur und Unterdrückung der Natur, in der Indienstnahme der Mimesis für ihre Liquidierung besteht. In diesem Sinne ist der Nationalsozialismus totalitär. Und in dieser Qualität muss man ihn ernst nehmen, was zugleich heißt, dass man auch nach seinem Ende nicht einfach zum Status quo ante zurückkehren 299 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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kann. Man muss also ernst nehmen, dass der Nationalsozialismus eine antizivilisatorische Bewegung ist, die die Schwächen und Defizite der Zivilisation offen legt. »Fraglos war die nazistische Rebellion der Natur gegen die Zivilisation mehr als eine ideologische Fassade. … Die Revolte des natürlichen Menschen – im Sinne der rückständigen Schichten der Bevölkerung – gegen das Anwachsen der Rationalität hat in Wirklichkeit die Formalisierung der Vernunft gefördert und dazu gedient, die Natur mehr zu fesseln als zu befreien. In diesem Licht könnten wir den Faschismus als eine satanische Synthese von Vernunft und Natur beschreiben – das genaue Gegenteil jener Versöhnung der beiden Pole, von der Philosophie stets geträumt hat.« (Horkheimer 1947: 131) Stets also muss man den »verhängnisvollen engen Zusammenhang zwischen Beherrschung der Natur und Revolte der Natur« (Horkheimer 1947: 132) betonen und herausstellen. Die Philosophie hat die Aufgabe, dem scheinbar unaufhaltsamen Selbstzerstörungsprozess der Zivilisation Einhalt zu gebieten, indem sie Sprache und Natur aus der faschistischen Indienstnahme befreit und ihren wahren Intentionen zur Geltung verhilft. Horkheimer schreibt in der Kritik der instrumentellen Vernunft: »Sprache reflektiert die Sehnsüchte der Unterdrückten und die Zwangslage der Natur; sie befreit den mimetischen Impuls. Die Transformation dieses Impulses in das allgemeine Medium der Sprache anstatt in zerstörerisches Handeln bedeutet, daß potentiell nihilistische Energien im Dienst von Versöhnung stehen. Darin besteht der fundamentale und wesentliche Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus.« (Horkheimer 1947: 179) Mithin ist die Aufgabe der Philosophie, die Revolte der Natur und die mimetischen Reaktionsweisen nicht dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus zu überlassen. Der Wahn des Antisemitismus kann auf Dauer nur besiegt werden, wenn die menschliche Zivilisation in der Lage ist, ein neues Verhältnis zu ihrem Naturgrund zu entwickeln. Die Aufgabe des Denkens besteht darin, die satanische Einheit von Vernunft, Herrschaft und Natur aufzubrechen. Im Kampf der Philosophie mit dem Faschismus hängt alles daran, ein anderes Verhältnis der Zivilisation zur Natur ins Auge zu fassen. Dazu gehört im Kern, Mimesis als einen Impuls zu verstehen, der nicht der Herrschaft zugutekommen darf, sondern auf die Seite von Befreiung und Versöhnung gehört. Der mimetische Impuls darf nicht länger verleugnet und unterdrückt, sondern muss aus der Umklammerung des Faschismus befreit werden. Die Aufgabe des Denkens besteht darin, dem Faschismus die Mimesis zu entwenden und sich selber als deren Anwalt zu definieren. Mimesis darf von der Vernunft und der gesellschaftlichen Organisation nicht länger abgewiesen und als Feind betrachtet, sondern muss als Versprechen und Impuls für ein Leben begriffen werden, das ein befriedigenderes Verhältnis zu seinem 300 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Naturgrund entwickelt. Dieses Ziel wird in der Dialektik der Aufklärung als »Eingedenken der Natur im Subjekt« (DA 64) verstanden. Insofern ist der Antisemitismus tatsächlich, wie die erste These der Elemente gleich im ersten Satz formuliert, die »Schicksalsfrage der Menschheit« (DA 197, I: 1). Damit er aber auch zum »Wendepunkt der Geschichte« (DA 230, VI: 12) wird, wie es am Ende der sechsten These heißt, bedarf es der philosophischen Reflexion auf die Naturverhältnisse der menschlichen Zivilisation, für die die Dialektik der Aufklärung die Grundlagen geben möchte. Der faschistische Antisemitismus beruht darauf, die Revolte der Natur gegen die Zumutungen der unbarmherzigen Zivilisation wachzurufen und in Dienst zu nehmen. Was am Faschismus und am Antisemitismus philosophisch gesehen so überaus bedrückend ist, besteht darin, dass dieser die mimetischen Impulse und Reaktionsformen für seine Seite usurpiert und sie auf die Seite der Herrschaft zieht. Es ist nun an der Philosophie und an der menschlichen Zivilisation, sich dieser Revolte der Natur anzunehmen und ihr eine Form zu geben, die nicht, wie im Antisemitismus, auf die Intensivierung der Unterdrückung zielt, sondern auf ein neues und wirklich befriedigendes Naturverhältnis. Denn nicht die Revolte der Natur und die mimetischen Reaktionsweisen sind am Faschismus das Problem, sondern die Synthese, die sie mit der Unterdrückung und der Zurichtung des mimetischen Impulses eingehen. Das Ziel kann dann nur darin bestehen, ein neues Verhältnis zur Natur, jenseits von Unterdrückung und Ausbeutung der Natur zu entwickeln. Keineswegs darf das abendländische Denken einfach den Weg weitergehen, den es bislang beschritten und auf dem es die Natur zum Stoff entwertet und als Material der Zurichtung verstanden hat, keineswegs darf sie weiterhin den Fortschritt mit Befreiung von allem Mimetischen verwechseln. Adorno geht auch an dieser Stelle, die die Möglichkeiten und die Philosophie eines neuen Naturverhältnisses betrifft, einen Schritt weiter als Horkheimer. Während Horkheimer (1947: 125f) davon spricht, dass der mimetische Impuls überwunden werden muss, ist er für Adorno vielmehr die Basis, in der der Wunsch nach Freiheit und nach einer anderen Gesellschaft seine unaustilgbare Verwurzelung hat. Der mimetische Materialismus, den Adorno vertritt, besteht im Kern in der Behauptung, dass es im Menschen eine somatische Natur- und Triebbasis für den Wunsch nach Freiheit gibt. Seine materialistische Freiheitsposition hängt nicht im luftleeren Raum abstrakter Ideen, sondern hat ihre Verankerung im Naturgrund der Wirklichkeit, in der mimetischen Reaktionsweise, die in der Sicht von Adorno unverlierbar ist und immer wieder Einspruch gegen Zurichtung und Unterdrückung erhebt. Mimetische und idiosynkratische Reaktionsweisen sind keineswegs und von vornherein als Bündnisgänger des Konformismus zu betrachten, sondern vor allem als untilgbare Antriebe für die Transformation der Welt, als Statthalter 301 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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unbeschädigten Lebens, andauernde Begrenzung von Verdinglichung und Zurichtung. Nach Adorno kann und muss die somatische, affektive, spontane, impulsive Reaktionsfähigkeit des Menschen als materialistische Basis einer anderen Welt in Anspruch genommen werden. In dieser Qualität werden Idiosynkrasie und Mimesis von Adorno in seinen Nachkriegsschriften verstreut immer wieder angerufen, um dann vor allem in der Ästhetischen Theorie zu einem Leitmotiv zu werden, das sich durch das ganze Buch hindurchzieht. Idiosynkrasie in einem ganz positiven Sinn nennt Adorno (1951a: 15) es beispielsweise, wenn Gelehrte oder Künstler gegen die »Departementalisierung des Geistes« protestieren oder den Gebrauch bestimmter Begriffe und Termini instinktiv verabscheuen: »Idiosynkrasie sträubt sich, das Wort Synthese in den Mund zu nehmen.« (Adorno 1966a: 159; vgl. Bovenschen 1994) In einem Brief an Benjamin verleiht Adorno nachdrücklich seiner »idiosynkratischen Abneigung gegen den Begriff der echten Empirie Ausdruck« (Adorno/Benjamin 1994: 392). Das, so könnte man freilich sagen, sind eher beiläufige Äußerungen. Aber an einer bedeutsamen Stelle der Negativen Dialektik bekommt der hier zugrundeliegende Gedanke eine systematische und sehr hoch zu veranschlagende Bedeutung. Adorno bemüht sich darum, den Drang zur Freiheit in den körperlichen, somatisch-motorischen Reaktionen der Menschen zu verankern. Er insistiert darauf, dass es »vor-ichliche«, motorische Reaktionen des Menschen gibt, mithin Reaktionen, die nicht unter der Kontrolle des bewussten Ich stehen, die auf Versöhnung und Freiheit gerichtet sind. »Das dämmernde Freiheitsbewusstsein nährt sich von der Erinnerung an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls. Je mehr das Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chaotische. Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee von Freiheit nicht zu schöpfen, welche doch ihrerseits in der Stärkung des Ichs terminiert.« (Adorno 1966a: 221) Einige Seiten später wird dieser Gedanke unter dem Titel »Das Hinzutretende« weitergeführt (vgl. Goebel 1995). An Ort und Stelle argumentiert Adorno gegen die rationalistische Engführung der Freiheit und des Willens in der philosophischen Tradition, vor allem in der Philosophie Kants, und sein erklärtes Ziel ist nicht weniger als die Infragestellung des für das neuzeitliche abendländische Denken fundamentalen Cartesianischen Dualismus von res extensa und res cogitans. In den Bestimmungen tauchen unter dem Namen des Hinzutretenden nun all jene Attribute auf, die mit dem Thema der Mimesis verbunden sind: Impuls, das Somatische, Natur, das Leibhaftige. »Das Hinzutretende ist Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war… Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch 302 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte. Ihr Phantasma, das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interdependenz sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur. … Praxis bedarf auch eines Anderen, in Bewußtsein nicht sich Erschöpfenden, Leibhaften, vermittelt zur Vernunft und qualitativ von ihr verschieden.« (Adorno 1966a: 227f) In der Negativen Dialektik taucht das Thema der Mimesis zwar immer wieder auf, es ist aber alles in allem doch eher vorsichtig und defensiv gefasst als der Inbegriff des Nicht-Identischen, der sich der Reduktion auf reines Bewusstsein hartnäckig und dauerhaft entzieht. Es wird apostrophiert als »motorische Reaktionsform« und die ›zuckende Hand‹ (Adorno 1966a: 229), als »das Leibliche« (Adorno 1966a: 193) und das »somatische Moment« (Adorno 1966a: 194) – ohne dass der Begriff der Mimesis überhaupt fällt. In der Ästhetischen Theorie, dem großen nachgelassenen Werk Adornos, ist das anders. Begriff und Sache der Mimesis werden zu einem Kernelement dieses Buches. Wie in der Dialektik der Aufklärung bezeichnet Mimesis in der Ästhetischen Theorie die unwillkürlichen, körperlich-somatischen Reaktionsweisen des Menschen, die sich der herrschaftlichen Kontrolle durch den Willen und durch das Ich entziehen. Das Mimetische hat nach Adorno »etwas Rutengängerisches. Dem folgen, wohin es die Hand zieht, ist Mimesis als Vollstreckung der Objektivität.« (Adorno 1970: 175) In dieser Qualität ist Mimesis die untilgbare Einspruchsinstanz gegen Verdinglichung und Vergeistigung, die die menschlich-animalische Natur immer nur verraten, statt ihr zu ihrem Ausdruck und zu ihrem Recht zu verhelfen. Es ist das »mimetische, allem dinghaften Wesen unvereinbare Moment« (Adorno 1970: 33), das Adorno hier anruft und in einer weiteren Steigerung zum Statthalter unbeschädigten Lebens macht: »Das Subjekt, hinter seiner Verdinglichung hertappend, schränkt diese durch das mimetische Rudiment ein, Statthalter unbeschädigten Lebens mitten im beschädigten.« (Adorno 1970: 179) Damit der mimetische Impuls nicht vagabundiert und dann möglicherweise erneut von allerlei reaktionären Tendenzen okkupiert und in Dienst genommen wird, muss er seinen Ort in der Kunst finden. »Kunst ist Zuflucht des mimetischen Verhaltens« (Adorno 1970: 86) und »die zum Bewußtsein ihrer selbst getriebene Mimesis« (Adorno 1970: 384). Ohne den mimetischen Impuls wäre die Kunst eine kalte und leere Veranstaltung. Kunst und Mimesis gehören untrennbar zusammen. Über die mimetischen Verhaltensweisen ist die Kunst mit den einzelmenschlichen Erfahrungen verbunden. Der »mimetische Moment« ist »nicht anders zu erlangen … als durchs unauflöslich Idiosynkratische der Einzelsubjekte hindurch« (Adorno 1970: 68). Das allerdings verlangt und setzt die Bereitschaft voraus, Grenzen zu überschreiten und Erfahrungen zu machen. 303 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Einzig das autonome und starke Ich vermag »sich kritisch zu wenden gegen sich und seine illusionäre Befangenheit zu durchbrechen. Das ist nicht vorstellbar, solange das mimetische Moment von außen her, von einem veräußerlichten, ästhetischen Überich, unterdrückt wird, anstatt daß es in seiner Spannung zu dem ihm Entgegengesetzten in der Objektivation verschwände und sich erhielte.« (Adorno 1970: 178) Im Kunstwerk ist das Mimetische aber zugleich mit seinem Gegenteil verbunden, mit Form, Bewusstsein und Artistik. Kunst ist triebnah, aber um dem Sog des Regressiven zu entgehen, bedarf sie der Reflexion und der Bewusstheit. »Jede Idiosynkrasie lebt, vermöge ihres mimetisch-vorindividuellen Moments, von ihrer selbst unbewußten kollektiven Kräften. Daß diese nicht zur Regression treiben, darüber wacht die kritische Reflexion des wie immer auch isolierten Subjekts.« (Adorno 1970: 69) Was Adorno hier vor Augen steht und wofür ihm die gelungenen Kunstwerke das Modell und Muster bieten, ist die Einheit der Gegensätze von Mimesis und Rationalität. »Das Desiderat der Anschaulichkeit möchte das mimetische Moment der Kunst konservieren, blind dagegen, daß es nur durch seine Antithesis, die rationale Verfügung der Werke über alles ihnen Heterogene, weiterlebt. Sonst wird Anschaulichkeit zum Fetisch. Vielmehr affiziert der mimetische Impuls im ästhetischen Bezirk auch die Vermittlung, den Begriff, das nicht Gegenwärtige.« (Adorno 1970: 148) In der Kunst ist das Archaische und Älteste im Menschen, also das Mimetische, mit den jeweils avanciertesten Formen des Geistes verbunden. »Am Ende des bürgerlichen Zeitalters erinnert sich der Geist an vorweltliche Mimesis, die reflexhafte Nachahmung, die wie immer auch vergebliche Regung, aus der einmal entsprang, was anders ist als das Seiende: der Geist selber.« (Adorno 1957: 227)

304 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

V. Die Aporien der Elemente des Antisemitismus 1. Warum die Juden? Der Weg von den Naturbeziehungen der Zivilisation, die weit in die Vorgeschichte zurückreichen, zum totalitären Antisemitismus im 20. Jahrhundert ist lang, und die Verbindung zwischen ihnen plausibel zu machen, ist, wenn überhaupt, nur durch die Einbeziehung vieler vermittelnder Zwischenschritte möglich. Die Schwierigkeiten wachsen, je ausgreifender und allgemeiner die Theorie der Zivilisation wird, die den Judenhass erklären soll, weil sie sich immer weiter von den konkreten historischen Erscheinungsformen und Entwicklungen des Antisemitismus entfernt. Tatsächlich ist der Eindruck unabwendbar, dass die Elemente mit dem Mimesis- und Projektions-Begriff in eine allgemeine Gesellschafts- und Zivilisationstheorie münden, die dann nur noch sekundär mit dem Thema des Antisemitismus in Verbindung steht. Diese Schwierigkeit wird am Ende der Elemente, in der siebten und letzten These, besonders sichtbar. Denn dort ist die Behauptung, dass das eigentliche Problem gar nicht der Antisemitismus ist, sondern das von der Kulturindustrie verordnete Ticketdenken. Wie Helmut Dubiel (1978) und Alfons Söllner (1979) herausgestellt haben, reagiert die Entwicklung der Kritischen Theorie, die mit der Dialektik der Aufklärung eine markante negativistische Wende erfährt, auf drei zentrale Zeiterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: auf den Übergang der russischen Revolution in den blutigen Terror des Stalinismus, auf das Versinken der ökonomisch fortschrittlichen Gesellschaften Europas in der Barbarei des Faschismus und schließlich auf die amerikanische Erfahrung einer mit den Mitteln des Massenkonsums und der modernen Massenkultur erreichten integrierten Industriegesellschaft, die den Klassenkonflikt stillstellt und das potentiell revolutionäre Bewusstsein der Arbeiter neutralisiert. Das ist eine plausible und erhellende Annahme, die durch viele Belege gestützt werden kann. Was die Dialektik der Aufklärung angeht, so sind Hinweise auf die Entwicklung in der Sowjetunion am wenigsten zu finden. Das Kapitel über die Kulturindustrie zielt auf die massenkulturellen Erfahrungen in Amerika. Und die Elemente reflektieren am deutlichsten die Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Wenn man die drei zeitgenössischen Erfahrungen nebeneinander hält, spricht aber doch alles dafür, dass der Antisemitismus die anderen beiden Zeiterfahrungen an Bedeutung weit überragt. Im ersten und zweiten Kapitel habe 305 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

ich eine Reihe von Hinweisen zusammengetragen, die diese Behauptung mit Belegen aus der Entstehungsgeschichte des Buches plausibel machen. Unabhängig von den Einzelheiten der Entstehung kommt hinzu, dass die anderen Zeiterfahrungen, also die Entwicklung in der Sowjet­ union und in den USA, zweifellos mit einfacheren Überlegungen hätten erklärt werden können und der weitreichenden Theorierevision, die vor allem für Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung verbunden war, nicht bedurften. Die Integration der Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft und damit der Verlust des revolutionären Subjekts, wie sie am Beispiel der USA so deutlich zu beobachten waren, hätten mit revidierten Theoriemitteln des Marxismus und der psychoanalytischen Sozialpsychologie durchaus verständlich gemacht werden können. Vom Rückgriff auf die Psychologie hatte man sich ja Anfang der 1930er Jahre gerade die Erklärung dieses Phänomens versprochen. Und noch in einem Essay aus seinem letzten Lebensjahr hat Adorno die Rolle der Psychologie genau in der Aufhellung dieser Irrationalität gesehen und damit nur zum Ausdruck gebracht, was in der frühen Kritischen Theorie durchgehend Konsens war: »Anders als durch die Psychologie hindurch, in der die objektiven Zwänge stets aufs neue sich verinnerlichen, wäre weder zu verstehen, daß die Menschen einen Zustand unverändert destruktiver Irrationalität passiv sich gefallen lassen, noch daß sie sich in Bewegungen einreihen, deren Widerspruch zu ihren Interessen keineswegs schwer zu durchschauen wäre.« (Adorno 1969: 182f) Die Wissenschaftler am Institut für Sozialforschung um seinen Direktor Max Horkheimer herum hatten seit Anfang der 1930er Jahre gerade diesem Grenzgebiet zwischen Geschichte und Psychologie (Horkheimer 1932) ihre Aufmerksamkeit zugewandt, und an die Forschungen, die das Ausbleiben der sozialistischen Revolution in Mitteleuropa und den Umschlag in autoritäre Systeme zum Gegenstand hatten, konnten die empirischen Arbeiten und Forschungsprojekte im amerikanischen Exil durchaus anknüpfen. Auch für das Abdriften der russischen Revolution in den blutigen Totalitarismus hätten sich plausible und tragfähige sozial- und revolutionsgeschichtliche Gründe finden lassen – jedenfalls benötigt man dafür nicht die komplizierten und hoch spekulativen Annahmen einer Zivilisationstheorie, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung heranziehen. Deutlich anders verhält es sich mit der Erfahrung des totalitären Antisemitismus, die nicht nur alle bis dahin von der Kritischen Theorie herangezogenen historischen, ökonomischen und politischen Erklärungsversuche als unzureichend erscheinen lässt, sondern sich darüber hinaus der Erklärung auf der Basis von herkömmlichen Zweck-MittelArgumenten grundsätzlich entzieht. Abstrakt betrachtet kann es sich natürlich tatsächlich so verhalten, dass hinter allen drei Phänomenen, auf die die Dialektik der Aufklärung 306 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

reagiert, ein und dieselbe Problematik steckt. Das ist in der Tat die Position, auf die die siebte These der Elemente hinausläuft, und Adorno hat sie auch in einem Vortrag kurz vor Ende des Krieges vertreten (vgl. Adorno 1945: 413ff). Eine solche Erklärung führt aber nolens volens zu der Annahme, dass Antisemitismus, Kulturindustrie und Stalinismus prinzipiell gleichrangige Phänomene sind, deren Verbindung darin liegt, dass sie allesamt einen durch und durch defekten Zustand der Zivilisation anzeigen. Der Antisemitismus ist dann aber nicht mehr die »Schicksalsfrage der Menschheit« (DA 197, I: 1), sondern nur noch ein Anlass neben anderen, der zu der Diagnose führt, dass die Menschheitsgeschichte einen zutiefst frag- und kritikwürdigen Verlauf genommen hat. Zugleich ist dann aber der Eindruck unabweisbar, dass eine Theorie angestrebt wird, die den maßlosen Anspruch mit sich führt, alles erklären zu wollen, und damit am Ende gerade die Phänomene, um deren Analyse es eigentlich gehen sollte, durch die allzu groben Maschen fallen lässt. Das gleiche Problem ergibt sich auch auf dem Terrain der Analyse des Antisemitismus. Die mimesis- und projektionstheoretischen Erklärungen, mit denen die Elemente arbeiten, geraten in die Schwierigkeit, dass sie nicht mehr wirklich verständlich machen können, warum es ausgerechnet die Juden sind, die im Faschismus zum bevorzugten Objekt der Verachtung, des Hasses und der Vernichtung werden. Wie ich in meinen Kommentaren deutlich gemacht habe, laborieren die Elemente immer wieder an dieser Schwierigkeit. Der Grund für die Aporie ist systematischer Natur und liegt in der übergroßen Allgemeinheit der Zivilisationstheorie, mit der die Dialektik der Aufklärung operiert. Im Kern besteht sie in der Annahme, dass die Zivilisation ein antimimetisches Unternehmen der Triebversagung ist und massive Formen von Enttäuschung und Unzufriedenheit bewirkt, die jederzeit in Wut, Aggression und Gewalt gegen jene umschlagen können, die sich der Disziplinierung nicht unterworfen, sondern, wie scheinhaft auch immer, in ihrer Lebenspraxis Elemente triebnäheren Verhaltens und sinnlichen Glücks bewahrt haben. Nun ist die Geschichte des Tabus über der Mimesis aber sehr lang, wie die Dialektik der Aufklärung immer wieder deutlich herausstreicht, ja im Grunde ist sie identisch mit der Geschichte der Zivilisation. Schon Platon »verbannte die Dichtung« (DA 40) als unnütz, »Nachahmung ist bei ihm wie bei den Juden verfemt« (DA 41). Und in der gesamten Religions- und Philosophiegeschichte wird das Prinzip der Zauberei »in Acht und Bann getan« (DA 41). Diejenigen, die es »praktizieren, werden zu fahrenden Leuten, überlebenden Nomaden, die unter den seßhaft Gewordenen keine Heimat finden« (DA 41). Fortan soll die Natur »durch Arbeit beherrscht werden« (DA 41). Da aber das mit der Austreibung der Mimesis verbundene Versprechen der Erfüllung niemals eingehalten wird, ist die Bereitschaft zur antizivilisatorischen, destruktiven 307 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Entladung, in der sich die unterdrückte Natur Ausdruck verschafft, von Anfang an im Prozess der Zivilisation ein ständiger Begleiter. Und aus den Gründen, die die Elemente mit großer Plausibilität entfalten, entladen sich diese Aggressionen besonders auf jene, die die zivilisatorische Versagung nicht mitmachen. Wenn man den naturunterdrückenden Prozess der Zivilisation in dieser Allgemeinheit als Erklärung heranzieht, dann ist kaum überzeugend klarzumachen, wieso es die Juden sind, die den Vernichtungswillen in diesem besonderen Maße auf sich ziehen. Sicher bedienen auch im 19. und 20. Jahrhundert noch Teile des Judentums, vor allem die sog. Ostjuden, das Klischee der Zurückgebliebenheit und des Archaischen, des Unangepassten und Vorsintflutlichen, des Verschrobenen und des Unheimlichen, das uns nach Freuds Analyse nur allzu vertraut und gerade deswegen gut dafür geeignet ist, die Aggressionen auf sich zu ziehen (vgl. Freud 1919). Aber es dürfte nicht schwer fallen, andere Minderheiten und Gruppen aus den Randbereichen aller Gesellschaften namhaft zu machen, auf die diese Attribute kaum weniger gut zutreffen, von Kindern und Frauen bis zu Nomaden, Zigeunern, Schauspielern und Vagabunden. In der Tat sind ja alle diese Gruppen und viele andere durch die Geschichte hindurch immer wieder zu Opfern von Schikanen, Pogromen und Verfolgungen geworden, und für alle könnte wahrscheinlich nachgewiesen werden, dass sie von ihren Verfolgern in ähnlicher Weise wie die Juden mit mimetischen Reaktionsweisen in Verbindung gebracht wurden. Alle, die sich der Rationalität, dem Triebverzicht, der geregelten Arbeit verweigern und in ihrem Verhalten mimetische Elemente zu bewahren scheinen, sind dazu prädestiniert, zum Objekt von Projektionen, Hass und Verfolgung zu werden. Horkheimer gesteht dieses Faktum durchaus ein, wenn er z.B. in der Kritik der instrumentellen Vernunft (1947: 126) schreibt: »In dieser Hinsicht ist der moderne Mensch von seinem mittelalterlichen Vorfahren nicht allzu verschieden, außer in der Wahl seiner Opfer. Politisch Geächtete, exzentrische religiöse Sekten wie die deutschen Bibelforscher und auffällig Gekleidete sind an die Stelle von Hexen, Zauberern und Ketzern getreten; und dann gibt es auch noch die Juden.« Eben diese Äußerung: »und dann gibt es auch noch die Juden« bezeichnet die Aporie. Der Antisemitismus wird über das Konzept der Mimesis so sehr mit Grundfragen der Menschheitsgeschichte und der Zivilisation in Verbindung gebracht, dass seine in Raum und Zeit spezifischen und durchaus unterschiedlichen Charakteristika und Erscheinungsweisen untergehen. Es hat dann am Ende tatsächlich den Anschein, dass der Antisemitismus nur noch das Beispiel und das Material ist, an dem die Autoren der Dialektik der Aufklärung die Grundfragen und die grundlegende Falschheit der menschlichen Zivilisation erörtern wollen. Warum die Juden im 20. Jahrhundert den fanatischen Vernichtungshass der Faschisten aller Länder 308 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

auf sich ziehen, kann man damit so wenig erklären wie die unterschiedlichen historischen Erscheinungsformen des Antisemitismus, etwa den Unterschied zwischen Rassismus und Antijudaismus, zwischen christlichem Judenhass, bürgerlichem und proletarischem Antisemitismus. Das gleiche Problem zeigt sich auch an anderen Stellen. In der Dialektik der Aufklärung gibt es im zweiten Exkurs »Juliette oder Aufklärung und Moral« (DA 104 ff) längere Passagen, die das allgemeine Los und die allgemeine Lage der Frauen in der Gesellschaft in so enge Nachbarschaft zu den Juden rücken, dass auf dieser Ebene ganz offen bleiben muss, warum nicht die Frauen statt der Juden zur Vernichtung freigegeben wurden. »Die Frau aber ist durch Schwäche gebrandmarkt, auf Grund der Schwäche ist sie in der Minorität, auch wo sie an Zahl dem Mann überlegen ist. Wie bei den unterjochten Ureinwohnern in den frühen Staatswesen, wie bei den Eingeborenen der Kolonien, die an Organisation und Waffen hinter den Eroberern zurückstehen, wie bei den Juden unter den Ariern, bildet ihre Wehrlosigkeit den Rechtstitel ihrer Unterdrückung. … Die Zeichen der Ohnmacht, die hastigen unkoordinierten Bewegungen, Angst der Kreatur, Gewimmel, fordern die Mordgier heraus. Die Erklärung des Hasses gegen das Weib als die schwächere an geistiger und körperlicher Macht, die an ihrer Stirn das Siegel der Herrschaft trägt, ist zugleich die des Judenhasses. Weibern und Juden sieht man es an, daß sie seit Tausenden von Jahren nicht geherrscht haben. Sie leben, obgleich man sie beseitigen könnte, und ihre Angst und Schwäche, ihre größere Affinität zur Natur durch perennierenden Druck, ist ihr Lebenselement. Das reizt den Starken, der die Stärke mit der angespannten Distanzierung zur Natur bezahlt und ewig sich die Angst verbieten muß, zu blinder Wut. Er identifiziert sich mit Natur, indem er den Schrei, den er selbst nicht ausstoßen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt.« (DA 133f, 135f) Wie in verschiedenen Äußerungen der Elemente wird hier der Hinweis auf die Naturnähe mit der Eigenschaft des Wehrlosen und Ohnmächtigen ergänzt, die die Frauen wie die Juden gleichermaßen charakterisiert. Insofern handelt es sich um Variationen über den Satz von Nietzsche, was fällt, das soll man stoßen. Aber die Frage, warum die Juden zu der Gruppe werden, auf die sich der Ausrottungswille vorzugsweise richtet, wird dadurch der Auflösung keineswegs näher gebracht. Alle Minoritäten, die am Rande der Gesellschaft stehen, sind mehr oder weniger ohnmächtig und stehen einer geballt auftretenden Vernichtungsabsicht wehrlos gegenüber, wenn ihnen nicht der Staat oder andere mächtige Gruppen zu Hilfe kommen und ihnen Schutz gewähren. Horkheimer schreibt am 17. Juli 1943 an Herbert Marcuse: »Das Problem des Antisemitismus ist viel komplizierter als ich anfangs dachte.« (HGS 17: 465) Und mitten in der Arbeit an der sechsten These der Elemente heißt es in einem Brief an Leo Löwenthal am 17. März 1944, 309 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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indem er sich auf ein kurz zuvor geführtes Gespräch bezieht: »Vor allem wüßte ich gerne meine Antwort auf Ihre Frage, warum sich gerade die Juden so gut als Objekt der Projektion eignen. Ich glaube, ich verwies auf Mimesis, es war noch etwas andres im Spiel.« (HGS 17: 550) Damit benennt Horkheimer in der Tat die zentrale Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn man den Antisemitismus über die Psychologie der Projektion zu erklären versucht. Allgemein gesagt: Durch die Geschichte der Zivilisation hindurch gibt es das »Unbehagen in der Kultur« (Freud), das immer wieder über projizierte Aggression auch zu gewaltsamer Entladung drängt. Es gibt Unzufriedenheit, Nervosität und Gereiztheit, es gibt kollektive Erregungen, Pogrome, Rassismus, Vorurteile, Ausgrenzungen, Verfolgungen – immer wieder gegen Juden, aber nicht nur gegen Juden. Es gibt die Religionskriege zwischen den christlichen Konfessionen, es gibt Homophobie, es gibt nationalistische Rivalitäten und den Hass auf nationale Minderheiten, es gibt den Hass der Weißen auf die Schwarzen und der Schwarzen auf die Weißen usw. Man kann diese Phänomene durchaus plausibel als Indikatoren jenes allgemeinen Unbehagens werten, das der Prozess der Zivilisation bewirkt, aber man kann auf diesem Niveau der Analyse nicht erklären, warum in Deutschland und Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Juden zum Objekt einer einzigartigen Menschenvernichtung wurden. Auf der allgemeinen Theorieebene entsteht vielmehr der Eindruck, dass die Aggression, die durch den Zivilisationsprozess erzeugt wird, auf der Suche nach einem geeigneten Objekt ist, an das sie sich heften und gegen das sie sich richten kann: »und dann gibt es auch noch die Juden«, wie es Horkheimer in der zitierten Passage sagt. Unzufriedenheit und Aggression, die die unbarmherzige Zivilisation erzeugt, richten sich im 20. Jahrhundert mit nie gekannter Vehemenz, Brutalität und Gewalt gegen die Juden, sie hätten aber eigentlich auch andere treffen können. Die Juden sind so wenig wie die anderen Minderheiten die Verursacher der Aggression, die über ihnen zusammenschlägt. Die Aggressionen haben anderswo ihre Ursachen, und es ist dann offenbar eher zufällig, dass sie sich gegen die Juden richten. In den Elementen, vor allem in der fünften These, erscheinen nun allerdings die Juden in einer eigentümlichen Doppelnatur, und es könnte sein, dass diese Doppelnatur sie von den anderen Minoritäten unterscheidet und erklärt, warum die Juden nicht wie andere Minderheiten in der Geschichte behandelt werden. Die Juden sind der fünften These zufolge zum einen diejenigen, die die zurückgebliebenen mimetischen Reaktionsweisen zu verkörpern scheinen. Sie sollen aber zum anderen zugleich auch diejenigen sein, die als Vorreiter der Geistigkeit ihrerseits entscheidend an der Ächtung und Unterdrückung der Mimesis beteiligt gewesen sind. Die Überlegung hat Ähnlichkeit mit der ökonomischen Erklärung des Antisemitismus. Wie die dritte These der Elemente und vor allem 310 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

Horkheimers Aufsatz Die Juden und Europa darlegen, sind die Juden in ihrer Stellung zum Kapitalismus nicht die Opfer eines fremden Imperativs, sondern zugleich die Wegbereiter jenes Prinzips, das sie dann unter sich begräbt. Auch was die Austreibung der Mimesis angeht, sind die Juden die Vorreiter und Advokaten von Rationalität, Gesetzesglauben, Fortschritt und Geistigkeit, von denen sie dann selber, weil sie zugleich rückständig sind bzw. als rückständig erscheinen, geächtet, bedroht und unterjocht werden. In der kapitalismuskritischen Perspektive erschien es bei Horkheimer zuweilen sogar so, dass sich die Juden im Grunde ihr Schicksal selber bereitet haben und die Quittung dafür bekommen, dass sie sich dem Kapitalismus und seiner Rationalität verschrieben haben. Davon ist in den Überlegungen, die den Begriff der Mimesis ins Zentrum stellen, nichts mehr zu spüren. Aber die Schwierigkeit, die die ökonomische Erklärung des Antisemitismus charakterisiert, nämlich plausibel zu machen, warum ausgerechnet die Juden zur Vernichtung freigegeben werden, während doch auch andere gesellschaftliche Gruppen für den fortgeschrittenen Kapitalismus unter funktionalen Gesichtspunkten betrachtet schlicht überflüssig sind – diese Schwierigkeit stellt sich für die mimesistheoretische Erklärung des Antisemitismus nicht minder. Sehen wir davon ab, dass das Argument, wonach die Juden zum Opfer eines von ihnen selber vertretenen Prinzips werden, zudem eigentümlich nahe an der Vorstellung vom jüdischen Selbstass liegt. Wichtiger ist, die allgemeinen Implikationen zu benennen, die der Hinweis auf die Doppelnatur der Juden enthält. Die Behauptung der Doppelnatur geht problemlos mit der Projektionsthese des Antisemitismus zusammen, weil es zur Logik der Projektion und der Paranoia gehört, dass sie keine Mühe damit hat, vollkommen gegensätzliche Sachverhalte und Tatsachen auf einen und denselben Nenner zu bringen. Man muss zweifellos einen gewaltigen Willen zur Abstraktion und zum Ignorieren von Unterschieden aufbringen, wenn man etwa einen jüdischen Flüchtling, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs aus einem galizischen Schtetl nach Wien flieht, unter die gleiche Kategorie subsumiert wie einen jüdischen Bankier, der, längst assimiliert, mit Geschäftskunden aus aller Welt zu tun hat. Eben darin besteht freilich der Gewinn der Erfindung einer jüdischen Rasse, dass man immer behaupten kann, gänzlich verschiedene Phänomene, Tatsachen und Verhaltensweisen seien stets nur verschiedene Erscheinungsweisen eines einzigen Wesens, nämlich der Rasse. Juden sind also Juden und werden es immer bleiben, ob assimiliert oder nicht, und soziale, berufliche, nationale, lokale, religiöse und politische Unterschiede zwischen ihnen sind in den Augen des rassischen Antisemitismus nichts als Tarnung und Täuschung, auf die man nicht hereinfallen darf. Aber auch der Hinweis auf die Doppelnatur, ergänzt mit dem Hinweis auf die Ohnmacht, so triftig er sein mag, gibt keine wirklich überzeugende Antwort auf die Frage, wieso es die Juden trifft. Durchaus vorstellbar 311 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ist ja, dass sich der Hass, der sich auf die Zurückgebliebenen und die Vertreter der Geistigkeit gleichermaßen richtet, auf zwei voneinander getrennte Gruppen richtet, z.B. einerseits auf die Intellektuellen, die als Besserwisser und Schmarotzer ohnedies als Objekt von Hass und Verachtung gut geeignet sind, und andererseits auf die Gruppe der Zigeuner, deren Gebaren so naturnah und zivilisationsfern erscheint wie das der jüdischen Hausierer. Bei dem ausgesprochenen Reichtum an Phantastik und Aberglauben, der die Halbzivilisierten und ihre Bereitschaft zum Projizieren auszeichnet, dürfte es ihnen nicht sonderlich schwer fallen, Intellektuelle und Zigeuner in eins zu setzen und der Verfolgung preiszugeben. Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Wenn man, wie Horkheimer und Adorno in den Elementen, mit allem Nachdruck die zivilisations- und mimesistheoretische Erklärung des Antisemitismus ins Zentrum rückt, ist damit immer die Implikation verbunden, dass man sich mit den Antisemiten, ihren Antrieben und ihrer inneren Logik beschäftigt, nicht aber mit der Realgeschichte der Juden, ihren Konflikten und ihren Verhaltensweisen. Die Behauptung, es gebe »den« Juden schlechthin und unterschiedslos, ist zweifellos eine Kreation der rassistischen Antisemiten, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Wie die Analysen der Elemente zeigen, gehört es zur Logik von Projektionen, dass ihnen ganz sekundäre und oberflächliche Anhaltspunkte der Realität genügen, um daraus die phantastischsten Verallgemeinerungen zu ziehen. Gleich in der ersten These der Elemente wird deutlich gemacht, dass es die Antisemiten sind, die die Juden zur »Gegenrasse« (DA 197, I: 1) erklären und damit über alle Differenzen, die sie an sich selber auszeichnen, hinweggehen. Oder, wie Adorno (1951a: 141) in den Minima Moralia sagt: »Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.« Wenn man einen kleinen Schritt weitergeht, kann man schnell bei dem Argument landen, dass es tatsächlich in der Geschichte eigentlich gerade die Aggressionen der Antisemiten gewesen sind, durch die bei den Juden das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einheit erhalten geblieben ist. »Wirklich war es ja vorwiegend die Feindseligkeit der nicht-jüdischen Umwelt gewesen, die das Judentum lebendig gehalten hatte, und Isaac Deutscher meinte in den 60er Jahren, es sei makaber, aber wahr: den größten Beitrag zur Wiederbelebung der jüdischen Identität habe Hitler geleistet.« (Wiggershaus 1986: 380) Damit ist dann allerdings die Frage, woher diese Feindseligkeit rührt und wieso die Juden als »Gegenrasse« (DA 197, I: 1) zum Objekt von Hass und Vernichtung geworden sind, nicht beantwortet, sondern nur verschoben. Ferner ist dieses Argument mit der fatalen Konsequenz verbunden, den Antisemitismus als besten Förderer der Einheit des Judentums zu verstehen. Diese Konsequenz hat in der Geschichte des Zionismus, sehr zum Entsetzen von Hannah Arendt, durchaus eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Arendt 2000). 312 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Im Blick auf die Elemente ist die Beobachtung, dass sie die Sichtweise der Antisemiten übernehmen und sich zu eigen machen, nicht falsch, aber doch auch nicht die ganze Wahrheit. Richtig ist diese Behauptung, weil Horkheimer und Adorno den Antisemitismus im Kern auf pathische Projektion zurückführen, und damit ist dann unvermeidlich verbunden, die Logik, die der Projektion zugrunde liegt, in den Blick zu nehmen und zu dechiffrieren. Die Elemente zeigen nicht nur, dass die Grenze zwischen einerseits produktiver, erkenntnisfördernder und andererseits pathologischer Projektion fließend ist. Sie zeigen zugleich, dass es zum Wesen pathologischer Projektion gehört, sich mehr oder weniger zufällig an bestimmte Phänomene der Realität zu heften und von dort aus ungehemmt in den Wahn voranzugehen. Die Verkennung und Verzeichnung der Realität ist das zentrale Kennzeichen krankhafter Projektionen. Und es genügt den Projizierenden schon ein kleiner realer Anhaltspunkt für die Produktion ihres phantastischen Weltbildes. Daraus folgt, dass der faschistische Antisemitismus mit der Wirklichkeit der Juden nicht mehr das Geringste zu tun hat, sondern nur noch dechiffriert werden kann, wenn man den Blick auf die Welt und die Logik der wahnhaft Projizierenden richtet. Aber Horkheimer und Adorno haben sich immer wieder von einer ausschließlich oder vorrangig psychologischen Interpretation des Antisemitismus, des Faschismus und generell der gesellschaftlichen Verhältnisse distanziert. Ihrem Selbstverständnis zufolge ist es so, dass die psychologische Seite der Sache vor allem in den empirischen Projekten des Instituts für Sozialforschung abgehandelt wird, an denen auch Adorno beteiligt gewesen ist und deren Ergebnisse vor allem in den Studies in Prejudice niedergelegt sind. Die Elemente sollen demgegenüber die objektiv gerichtete Analyse bzw. die umfassendere und übergreifende Theorie enthalten. In seinem Rückblick auf Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika schreibt Adorno (1968: 722): Es sei ein »Mißverständnis«, dem die »›Authoritarian Personality‹ von Anbeginn sich ausgesetzt sah …: daß die Autoren versucht hätten, den Antisemitismus, und darüber hinaus den Faschismus insgesamt, lediglich subjektiv zu begründen, dem Irrtum verfallen, dies politisch-ökonomische Phänomen sei primär psychologischer Art«. Stattdessen verhalte es sich so: »Die ›Elemente des Antisemitismus‹ haben theoretisch das Rassevorurteil in den Zusammenhang einer objektiv gerichteten, kritischen Theorie der Gesellschaft gerückt. Allerdings haben wir dabei, im Gegensatz zu einer gewissen ökonomistischen Orthodoxie, uns gegen Psychologie nicht spröde gemacht, sondern ihr, als einem Moment der Erklärung, in unserem Entwurf ihren Stellenwert zugewiesen. Nie jedoch ließen wir Zweifel am Vorrang objektiver Faktoren über psychologische.« Tatsächlich enthalten die Elemente keine irgendwie gearteten individuellen Fallgeschichten von Antisemiten, ihrer Biographie und 313 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Pathologie, und insofern ist es richtig zu sagen, dass sie nicht mit psychologischem Material und mit psychologischen Erklärungen arbeiten, wie es beispielsweise bei der Untersuchung The Authoritarian Personality der Fall ist, die Adorno gemeinsam mit Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford bearbeitete und veröffentlichte. Gleichwohl ist es doch auch unübersehbar so, dass die Argumentationen der Elemente über weite Teile mit psychologischen und vor allem psychoanalytischen Überlegungen operieren. Eine unmittelbar objektive, eine ökonomische oder politische Erklärung wird expressis verbis in der ersten und zweiten These der Elemente abgelehnt. Eine Rückbindung an objektive Entwicklungstendenzen erfolgt dann allerdings indirekt immer wieder dadurch, dass die Gründe für die kollektive Zunahme und Verbreitung von pathologischer Projektion und paranoiden Wahnvorstellungen in den Strukturveränderungen der Gesellschaft gesehen werden, also darin, dass die liberale Phase des Kapitalismus mit ihrem zentralen Merkmal eines selbständigen und freien Unternehmertums abgelöst und durch den Staatskapitalismus ersetzt wird. In dieser Version besteht die auf das Objektive zielende Argumentation in der Behauptung, dass die subjektiven und innerpsychischen Veränderungen nicht durch sich selbst zustande kommen, sondern ihrerseits von objektiven gesellschaftlichen Veränderungen abhängen. Eine zweite Version der auf objektive Zustände zielenden Argumentation richtet ihr Augenmerk auf einen anderen Aspekt. Sie stellt heraus, dass die psychische Dynamik von politischen und ökonomischen Herrschaftsinteressen in Dienst genommen und bewusst und absichtsvoll für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. In dieser Sichtweise werden die Juden von den Herrschenden gleichsam durch rationale Wahl den Bevölkerungen als Objekt des Hasses angeboten und als Blitzableiter für Wut und Aggression, die anderswo ihre Ursachen haben, eingesetzt. Wir haben es dann eigentlich nicht mehr mit einer unbewussten und psychologischen Dynamik zu tun, sondern mit einer bewusst eingesetzten Technik der Herrschaft, die die innerpsychischen Triebkräfte zu Antrieben ihrer eigenen Herrschafts- und Unterwerfungszwecke umfunktioniert. So argumentiert Adorno in seinem Aufsatz Massenpsychologie und IchAnalyse und die Struktur der faschistischen Propaganda, und an einigen Stellen gibt es diese Argumentation auch in den Elementen, vor allem in der sechsten und siebten These. In der sechsten These ist davon die Rede, dass dem gewöhnlichen Paranoiker die Wahl des Objekts, dem er die Schrecken der Welt zuschreibt, nicht frei steht, im Faschismus dagegen werde »dies Verhalten von Politik ergriffen« und »das Objekt der Krankheit wird realitätsgerecht bestimmt« (DA 217, VI: 1). In der siebten These heißt es, dass die Paranoia »ihr Ziel nicht mehr auf Grund der individuellen Krankengeschichte des Verfolgers« bestimmt, sondern es im »Verblendungszusammenhang der Kriege und Konjunkturen« selbst 314 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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gesetzt werden muss, »ehe die psychologisch prädisponierten Volksgenossen als Patienten sich innerlich und äußerlich darauf stürzen können« (DA 237, VII: 5). Aber diese allgemeinen Bestimmungen, die immer wieder den Vorrang des Objektiven vor dem Subjektiven herausstellen, bleiben eigentümlich unbefriedigend und sind zudem zirkulär. Wer das Objektive absolut setzt, wird in schöner Regelmäßigkeit auf das Subjektive verwiesen und vice versa. Wenn man jedoch die Entwicklung der Kritischen Theorie insgesamt in den Blick nimmt, kann kein Zweifel sein, dass der Blick auf Gesellschaft und Geschichte zunehmend von zivilisationstheoretischen Argumenten geprägt wird, in denen psychoanalytische Annahmen und Sichtweisen eine schlechthin unverzichtbare Rolle spielen. Ich habe wiederholt zu zeigen und zu belegen versucht, dass es die Erfahrung des totalitären Antisemitismus gewesen ist, die Horkheimer und Adorno zu diesen weitreichenden Veränderungen ihrer Theorie genötigt hat. Es ist jedenfalls eindeutig so, dass die Elemente das Wesen des Antisemitismus als »Ritual der Zivilisation« (DA 200, II: 2) bestimmen und seine Ursprünge zum einen in der biologischen Urgeschichte und zum anderen in den Prozessen von Projektion und Paranoia suchen. Für beide Punkte gilt, dass in ihnen psychologisch bestimmte Überlegungen die vorherrschenden sind. In beiden geht es im Kern um die Behauptung, dass das Schicksal, das die Zivilisation der Triebnatur des Menschen bereitet, für die Entwicklung der Menschheit ausschlaggebend ist. Die mit der Entwicklung der Zivilisation verbundene Enttäuschung wird so groß, dass die Bereitschaft zu projektiven und paranoiden Wahrnehmungen und zu den entsprechenden Handlungen und Verhaltensweisen des destruktiven Fanatismus ansteigt und schließlich in die Katastrophe führt. In diesem Argument eine subjektive gegen eine objektive Sichtweise auszuspielen, macht wenig Sinn und führt nicht weiter. Wichtiger und aufschlussreicher sind zwei andere Schwierigkeiten und Mängel, die mit der zivilisationstheoretischen Erklärung des Antisemitismus verbunden sind. Zum ersten bleibt die Frage offen, warum es die Juden sind, die die gesamte Wut und Enttäuschung der Zivilisierten auf sich ziehen. Zum zweiten ist die Annahme unbefriedigend und unwahrscheinlich, dass der Antisemitismus mehr oder weniger vollkommen von der Realgeschichte der Juden und den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden abgelöst sein soll (vgl. zu diesen beiden Punkten Seymour 2000). Eine Ausflucht, die die erste Schwierigkeit umgeht, besteht in der Behauptung des ewigen Antisemitismus, also in der Behauptung, dass es den Antisemitismus immer schon gab und immer geben wird. Diese Antwort, einmal abgesehen von ihrem Fatalismus, löst die Frage aber nicht, um deren Beantwortung es geht, sondern verschiebt sie nur. Die zentrale Implikation des zweiten Punktes besteht darin, dass in dieser Sicht die Juden als vollkommen passiv und ohne alle eigenen Qualitäten und Eigenschaften erscheinen. 315 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Eigentlich gibt es in dieser Sicht die Juden als kollektive Gruppe nur noch, weil die Antisemiten sie dazu machen. Diese Implikation wird an einem anderen berühmten Text zum Antisemitismus, an Jean-Paul Sartres Nachkriegsessay Betrachtungen über die Judenfrage aus dem Jahre 1945 sehr deutlich. Sartre geht im Vergleich zu Horkheimer und Adorno noch einen Schritt weiter. Obwohl die Elemente nicht auf die Grenzen der Projektionsthese in der Erklärung des Antisemitismus eingehen, machen sie ja doch an manchen Stellen den Versuch, ein Stück Realgeschichte des jüdischen Volkes einzubeziehen. Sartre dagegen bestreitet im Grunde, dass es das Judentum außer in den Zuschreibungen und Konstruktionen der Antisemiten überhaupt gibt. »Der Jude ist der Mensch, den die anderen als solchen betrachten. … Der Antisemit macht den Juden.« (Sartre 1945: 143) Gegen die Reduktion der Juden auf den reinen Objektstatus antisemitischer Projektion hat die politische Bewegung des Zionismus vehement Einspruch erhoben. Für seine Vorkämpfer und Vordenker gab es keinen Zweifel an einer eigenständigen Identität des jüdischen Volkes. Viele Juden aus der Welt des Geistes wurden gerade deswegen zu Zionisten, weil sie erkannten, dass alle Bemühungen um Assimilation immer schon den Keim des Scheiterns in sich trugen, und weil sie sich für ihr Judentum nicht mehr entschuldigen wollten. So war es z.B. bei Gershom Scholem, der seine ganze geistige Existenz darauf richtete, die jüdische Identität zu erforschen. Er konzentrierte sich auf das Gebiet der jüdischen Mystik, auf die Kabbala, die gerade für die aufgeklärten Juden eine einzige Peinlichkeit darstellte, von der sie sich unentwegt abgrenzten (vgl. Jäger 2009). Wenn man die Schwierigkeiten und Implikationen vermeiden möchte, die mit der Projektionsthese verbunden sind, kann man den Versuch machen, den Antisemitismus in die politische Geschichte Deutschlands und Europas hineinzustellen und die jüdische Realgeschichte in diesem Raum in den Blick zu nehmen. Der Antisemitismus wird dann nicht mit der Zivilisationsgeschichte der Menschheit in Verbindung gebracht, sondern auf einer viel konkreteren Ebene mit der Geschichte und dem Wandel der gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Hannah Arendt hat diese Position vertreten und im ersten Teil ihres Buches Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951/1955) zu zeigen versucht, dass der Umschlag des gesellschaftlichen Antisemitismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts in den politischen und rassistischen Antisemitismus seit den 1870er und 1880er Jahren mit der Geschichte und dem Untergang des Nationalstaats eng verbunden ist. In dieser Sicht der Dinge wird der Antisemitismus zeitlich, räumlich und analytisch eingegrenzt und auf die politische Entwicklung bezogen. Eine bis in die Vorgeschichte ausgreifende Theorieperspektive erscheint unter diesen Vorzeichen als ganz und gar überflüssig und zugleich als vermessen. 316 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

Mit der politischen Perspektive ist zugleich verbunden, dass die Juden als Akteure ihrer eigenen Geschichte in den Blick genommen werden und nicht mehr als jene vollkommen weiße Leinwand erscheinen, auf die ihre Feinde hemmungslos ihre Projektionen richten können. Die Juden sind dann nicht immer schon die passiven Opfer, sondern eine Minderheit, die aktiv am Handeln und an der Geschichte beteiligt gewesen ist und mehr oder weniger absichtsvoll und vernünftig in sie eingegriffen hat. Hannah Arendt hat sich in diesem Sinn immer wieder vehement gegen die Reduktion der Juden auf den Opferstatus verwahrt und dagegen den Ort der Juden in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in den Vordergrund gerückt. Sie betont den Wandel vom »Antisemitismus als gesellschaftliche Idiosynkrasie« (Arendt 1951/1955: 72) zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum »Antisemitismus als politische Bewegung« (Arendt 1951/1955: 77) am Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser Übergang in den politischen Antisemitismus, der nach Arendt kein preußisches oder deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen gewesen ist, hängt ihr zufolge mit dem Übergang in das imperialistische Zeitalter zusammen, in dem der Nationalstaat zu einem antiquierten Gebilde degradiert wird. Dabei spielen Finanzkrisen eine wichtige Rolle, vor allem der Panama-Skandal in Frankreich und der sog. Gründungsschwindel in Deutschland. Die entstehenden Antisemitenparteien zielten nach Arendts Analyse nicht in erster Linie auf die Beseitigung der Juden, sondern vor allem auf »die Beseitigung des Staates, wie er im Nationalstaat verkörpert war« (Arendt 1951/1955: 83). Wenn man es so sieht, wird der Blick für die Realgeschichte der Juden frei, frei auch für den Wandel der Erscheinungsformen des Antisemitismus, der durchaus etwas mit der Stellung der Juden in der Gesellschaft und zum Staat zu tun hat. In dieser politischen Theorie des Antisemitismus spielt die Zivilisationsgeschichte und die Projektionsthese kaum eine Rolle. Aber irritierender Weise ist es auch bei Hannah Arendt am Ende so, dass die Frage, warum die Juden die bevorzugten Opfer des Vernichtungswillens geworden sind, nicht geklärt und erklärt werden kann. Die imperialistische und dann vor allem die totalitäre Spielart des Antisemitismus haben auch nach Arendt jede Basis in den realen Erfahrungen zwischen Juden und Nichtjuden verloren bzw. aufgegeben (vgl. Schulze Wessel 2006; Schulze Wessel/Rensmann 2003). Der Grund dafür liegt freilich nicht, wie bei Horkheimer und Adorno, in der Herrschaftsgeschichte der Zivilisation, sondern im Wesen der totalen Herrschaft und in der Bedeutung, die der Terror darin einnimmt. Arendt wechselt also in ihrer Analyse nicht auf das Terrain der Zivilisations- oder Projektionsthese, sondern bringt den antisemitischen Vernichtungswahn mit der Logik der totalen Herrschaft in Verbindung, in der »Ideologie und Terror« (Arendt 1951/1955: 703ff) die zentralen Rollen spielen. Zweifellos ist nach Arendt der Nationalsozialismus de facto vor allem gegen die Juden 317 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

gerichtet. Insofern hat »die Judenfrage die zweifelhafte Ehre gehabt …, die ganze teuflische Maschinerie eines totalitären Herrschaftsapparates in Gang zu setzen« (Arendt 1951/1955: 25). Aber eigentlich ist nicht die Wendung gegen die Juden das entscheidende, sondern der Terror selbst, gleich gegen wen er sich richtet. Es ist gerade die »Erfahrungslosigkeit des Judenhasses«, die den »Antisemitismus des zwanzigsten von dem des neunzehnten Jahrhunderts unterscheidet« (Arendt 1951/1955: 387). Dieser Gesichtspunkt rückt bei Arendt nach ihrer Beschäftigung mit Eichmann und dem Eichmann-Prozess noch stärker in den Vordergrund als in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft. In einem Brief vom 20. September 1963 schreibt Arendt an ihre Freundin Mary McCarthy mit Bezug auf ihr Eichmann-Buch: »Wenn man das Buch sorgfältig liest, sieht man, daß Eichmann sehr viel weniger ideologisch beeinflußt war, als ich im Buch über den Totalitarismus angenommen hatte. Den Einfluß von Ideologie auf das Individuum habe ich vielleicht überbewertet. Im Totalitarismus-Buch, im Kapitel über Ideologie und Terror, erwähne ich den seltsamen Verlust ideologischer Inhalte, der bei der Elite der Bewegung vorkommt. Die Bewegung selbst wird wichtiger als alles andere; der Inhalt des Antisemitismus beispielsweise geht in der Ausrottungspolitik verloren, denn die Ausrottung wäre nicht zu Ende gewesen, wenn kein Jude mehr zum Töten übrig geblieben wäre. In anderen Worten, Ausrottung per se ist wichtiger als Antisemitismus oder Rassismus.« (Arendt/McCarthy 1995: 234) Mithin ist der zentrale Punkt der totalen Herrschaft des Nationalsozialismus nicht mehr der Antisemitismus, sondern der Terror und die Willkür. In ihnen demonstriert der totale Staat, dass er jederzeit und vollkommen eigenmächtig über Leben und Tod aller Menschen und Menschengruppen verfügen kann. Der Terror ist nicht zielgerichtet darauf, die Juden von dieser Erde zu vertilgen, sondern er ist Selbstzweck. Er dient nur dem Ziel, zu zeigen, dass er existiert, dass die totale Herrschaft allmächtig ist, alles vermag und keinerlei Grenzen kennt. Also wäre er mit der vollkommenen Ausrottung der Juden nicht zu Ende gewesen, sondern hätte sich dann auf andere Personen und Gruppen gerichtet. So kostete die Durchsetzung und Etablierung der totalen Herrschaft zwar am Ende hauptsächlich die Juden das Leben. Aber weder ist der Antisemitismus der Entstehungsgrund und das Zentrum der totalen Herrschaft noch besteht das Ziel der totalen Herrschaft allein in der Vernichtung der Juden. Der gleiche Sachverhalt kommt in der Formulierung zum Ausdruck, mit der Arendt das Verbrechen charakterisiert, das Eichmann sich hat zuschulden kommen lassen: Es ist das »Verbrechen gegen die Menschheit …, verübt am jüdischen Volk« (Arendt 1963: 318).

318 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

2. Vernunftkritik In den Elementen des Antisemitismus werden anthropologische, soziologische, psychologische, historische, religionsgeschichtliche und ökonomische Perspektiven miteinander verknüpft. Darin spiegelt sich der Weg von der Kritik der politischen Ökonomie über die Kritik der Herrschaft, die sich in der These vom Staatskapitalismus und in der Behauptung ausdrückt, dass anstelle der bürgerlichen Klasse neuerdings gangs und rackets die Vorherrschaft übernommen haben, zur Vernunft- und Zivilisationskritik. Einige Etappen und Motive dieses Weges habe ich oben im ersten und zweiten Kapitel erörtert. Worauf immer man den Schwerpunkt legen mag – unzweifelhaft ist es so, dass sich Adorno und Horkheimer von der Behauptung eines Vorrangs der Kritik der politischen Ökonomie abwenden und sich in ihren Überlegungen von einer großen Vielfalt von Theorien und Hypothesen anregen lassen, die dann allesamt in die eine zentrale Behauptung einer Identität von Aufklärung und Herrschaft zusammenfließen. Diese Theorieentwicklung ist von großer Folgerichtigkeit. Aber sie enthält eine Fülle von Schwierigkeiten und Aporien, die auch in der Beschäftigung mit dem Antisemitismus sichtbar werden. Wenn z.B. die Juden an die Stelle des Proletariats treten, wie Adorno an Horkheimer in dem zitierten Brief vom 5. August 1940 schreibt, dann ist damit das folgenschwere Problem verbunden, dass die Juden in der Theorie des Antisemitismus nicht, wie das Proletariat in der marxistischen Theorie, die Einheit von Subjekt und Objekt der Geschichte verkörpern. Mit anderen Worten: Die Theorie des Antisemitismus ist keine Revolutionstheorie und kann dazu auch niemals werden. Mit der Abwendung von der marxschen Theorie ist dann also nicht nur die Weiterführung der Ökonomiekritik unmöglich geworden, sondern zugleich damit die Verbindung der Theorie mit Handlungsperspektiven. Nicht nur die Juden treten in der Denkwelt der Dialektik der Aufklärung an die Stelle des Proletariats, sondern auch jene anderen Bevölkerungsgruppen, die sich den Zumutungen des Zivilisationsprozesses nicht fügen und rationale Arbeit und Disziplin verweigern, die Kranken und Irren, die Verbrecher und Prostituierten, die Künstler und Nomaden, kurz: all jene, die im Prozess der Zivilisierung und Disziplinierung auf der Strecke bleiben, ihren mimetischen Impulsen die Treue halten und sich nicht auf die Bahn des besinnungslosen Fortschritts zwingen lassen. Im Unterschied zu den Arbeitern sind das offenbar die einzigen Gruppen, die von der Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft noch nicht erreicht und vereinnahmt worden sind. An die Stelle des einen großen Klassenkampfes zwischen den beiden Klassen des Proletariats und der Bourgeoisie, wie im Marxismus, tritt eine Vielfalt von Konflikten, die 319 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

den Gang der Zivilisation seit den Anfängen begleiten und »in Gestalt gesellschaftlicher Rebellionen« zum Ausdruck kommen, »wie die spontanen Bauernerhebungen des sechzehnten Jahrhunderts oder die klug inszenierten Rassentumulte unserer Tage – ebenso wie in Gestalt individuellen Verbrechens und der Geistesstörung.« (Horkheimer 1947: 107) Wie sympathisch einem die Hinwendung zu den Opfern und Außenseitern der gesellschaftlichen Entwicklung sein mag, die Hinwendung zu denen, wie Benjamin (1974a: 696) in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen sagt, »die heute am Boden liegen« – mit ihr sind doch auch eine Reihe von riskanten Implikationen verbunden. Zum einen ist der Eindruck unabweisbar, dass hier doch sehr Heterogenes: Verbrechen, Kunst und Prostitution auf einen und den gleichen Nenner der mimetischen Hingabe gebracht wird. Das ist an der Notiz zur »Theorie des Verbrechers« (DA 257–260) in den Aufzeichnungen und Entwürfen, dem letzten Kapitel der Dialektik der Aufklärung deutlich ablesbar. Zum zweiten müsste, um den Gedanken vollständig zu machen, immer die Einsicht aus der fünften These der Elemente hinzugenommen werden, der zufolge der faschistische Antisemitismus seinerseits mimetische Praktiken einsetzt und seine Modernität gerade darauf beruht, dass er die Rebellion der unterdrückten Natur instrumentalisiert und seiner Herrschaft zugutekommen lässt. Horkheimer deutet den Faschismus als Manipulation der mimetischen Revolte »durch die herrschenden Kräfte der Zivilisation selbst«. Er sieht im Faschismus »die Benutzung der Revolte als Mittel zur Verewigung eben jener Bedingungen, durch welche sie hervorgerufen wird und gegen die sie sich richtet. Zivilisation als rationalisierte Irrationalität integriert die Revolte der Natur als ein weiteres Mittel oder Instrument.« (Horkheimer 1947: 107) Diese Überlegung korrespondiert mit zentralen Aussagen der Elemente, wie wir gesehen haben, und sie korrespondiert auch mit den Ergebnissen und Überlegungen aus den empirischen Arbeiten des Instituts für Sozialforschung. Erich Fromm entdeckte in seinen Ende der 1920er Jahre durchgeführten Untersuchungen über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches den »rebellisch-autoritären« Charaktertyp, für den »die rebellischen Tendenzen und die latente Sehnsucht nach einer umfassenden Unterordnung« (Fromm 1980: 249) gleichermaßen bestimmend sind. Auch in seinem Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie, die das Institut 1936 in Paris publizierte, beschäftigte sich Fromm mit dem Typus eines »rebellischen Charakters«, hinter dessen Rebellion im Grunde doch nur die tiefe »Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung der Mächtigen« steckt (Fromm 1936: 131). Ganz ähnlich sieht Adorno (1950: 328) in der Authoritarian Personality den Typus des Rebellen dadurch charakterisiert, dass bei ihm »die autoritäre Struktur im Wesentlichen unberührt bleibt«. Wie immer man die Akzente setzt und wie immer die Einzelheiten aussehen mögen 320 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

– unabweisbar ist die Einsicht, dass es Formen der »Revolte der Natur« gibt, die in die Etablierung erbarmungsloser Herrschaft und Autorität münden und mit ihnen eine nicht leicht entwirrbare Mischung eingehen. Wenn man diese Einsicht ernst nimmt, lassen sich die passiv oder aktiv rebellierenden Gruppen der Zurückgebliebenen nicht mehr umstandslos als Verkörperungen eines anderen Lebens in Anspruch nehmen. Um die Komplizität von Mimesis und Herrschaft aufzulösen, müsste man die Projektionsthese verlassen und sich der Realgeschichte der Gruppen zuwenden, die in der Perspektive von Horkheimer und Adorno gegen den Zurichtungscharakter der Zivilisation Einspruch erheben. Nur dann wäre auszumachen, ob und wie dort Potentiale und Antriebe enthalten sind, die für das Bestreben nach einem anderen Verhältnis zur Natur anschlussfähig sind, oder ob es sich, wie beim Verbrecher, dann doch eher um eine »Negation« handelt, »die den Widerstand nicht in sich hat« (DA 259), und deswegen – als abstrakte Negation – in die Bestätigung und Verstärkung jener Position übergeht, gegen die sie eigentlich gerichtet war. Was die Juden betrifft, so müsste an dieser Stelle unbedingt die Geschichte des Zionismus einbezogen werden, der ja für den entschlossenen Versuch des jüdischen Volkes steht, als eigenständiger Akteur in den Raum des Politischen einzutreten. Die Wendung zur Realgeschichte der Juden ziehen Horkheimer und Adorno aber an keiner Stelle in Betracht. Daran hindert sie, dass sie zutiefst vom unvernünftigen Gang der Weltgeschichte und des Weltgeschehens, dem vorerst nichts und niemand Einhalt gebieten kann, überzeugt sind. Gegenüber Spuren und Elementen vernünftiger, protestierender, vorausweisender Rationalität im Gang der Welt sind sie unempfindlich. Sie haben sich stattdessen, wie Habermas (1985: 156) zugespitzt urteilt, »einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen«. Diese Vernunftskepsis äußert sich bei Horkheimer und Adorno in zwei Richtungen. Im Blick auf die Opfer und Außenseiter, auf diejenigen, die im Prozess der Zivilisation unter die Räder kommen, unterschlagen sie gelegentlich, wie in der Notiz über die Theorie des Verbrechers in der Dialektik der Aufklärung, den Konformismus und das geheime Ja, das in diesem Nein gegen die zivilisatorischen Zumutungen steckt. Die Ambivalenz der »Revolte der Natur« ist nicht nur in der Instrumentalisierung durch den Faschismus ablesbar, sondern auch an Einzelschicksalen, in denen die Selbstzerstörung am Ende die Oberhand behält gegenüber der Treue zur Mimesis. Korrespondierend dazu unterschlagen Horkheimer und Adorno bei denjenigen, die sie auf der Seite der Vernunft, der Herrschaft und der Triebunterdrückung sehen, das Element des Einspruchs und des Nein, das in diesen Formen des Ja enthalten sein kann, sie unterschlagen, dass es darin auch und zugleich ein Nein geben kann, das Kritik, Protest und Einspruch enthält. So gilt Francis Bacon im ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung als Vorreiter und geradezu als Inbegriff 321 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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einer auf das Instrumentelle und Herrschaftliche reduzierten Vernunft. In dieser Zuordnung aber geht unter, dass es, wie Klaus Heinrich (1964: 176f) gezeigt hat, auch hinter den Unternehmungen Bacons eine Schicht gibt, die nicht auf Herrschaft und Unterjochung aus ist, sondern auf Glück und Befreiung. Allgemeiner gesagt: Auch diejenigen, die sich in der Tradition des abendländischen Denkens auf den ersten Blick zu Advokaten der Forderungen nach Rationalität und Disziplin machen, erklären damit nicht von vornherein und ausschließlich ihr Einverständnis mit Unterdrückung und Repression. In ihrem Ja gibt es auch ein Nein, in dem Opfer, das sie fordern und bringen, gibt es ein Element des Versprechens auf ein Leben ohne Opfer. In diesem Versprechen nichts als Betrug zu sehen, ist nicht die produktivste Haltung zur Geschichte des Denkens und verschenkt möglicherweise Potentiale und Erkenntnisse, an die anzuknüpfen sich lohnen könnte. Nicht alles, was antibürgerlich ist und den mimetischen Impulsen folgt, steht damit schon auf der richtigen Seite der Kritik an der falschen Einrichtung der Welt. Nicht überall, wo Opfer gebracht und gerechtfertigt werden, ist alles nur Repression, und nicht überall, wo das Opfer verweigert wird, sind Repression und Verrat ausgeschlossen. Nach Horkheimer und Adorno ist das Opfer dagegen stets und untrennbar mit Betrug verbunden. Die Dialektik der Aufklärung argumentiert, in der Nachfolge Freuds, mit der Behauptung der Verinnerlichung der Unterdrückung. Das identische Ich bildet sich erst durch eine Kette von Versagungen hindurch, und die Menschen müssen, um ihr Leben zu fristen, ständig mehr geben als sie bekommen. Darin besteht der Betrug, und jeder, der opfert, wird betrogen. »Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung. Jeder Entsagende gibt mehr von seinem Leben als ihm zurückgegeben wird, mehr als das Leben, das er verteidigt. Das entfaltet sich im Zusammenhang der falschen Gesellschaft. In ihr ist jeder zu viel und wird betrogen.« (DA 79) Zwar heißt es einige Sätze später, dass diese Opfer immer auch und zugleich »Opfer für die Abschaffung des Opfers« (DA 79) sind, aber im Kontext der Argumentation gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass nicht auch dieses Versprechen auf einen Betrug hinausläuft (vgl. Heinrich 1964: 180f). Die Haltung grenzenloser Skepsis, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung an den Tag legen, ist angesichts der beispiellosen Verrohung des europäischen Kontinents in der Zeit des Faschismus nur zu gut verständlich. Dennoch enthält sie, wenn sie universalisiert wird, Elemente, die alles andere als unproblematisch sind. Sie zeigen sich auch z.B. in der Vorliebe für die »dunklen Schriftsteller des Bürgertums«, vor allem für den Marquis de Sade und Nietzsche, die »nicht wie seine Apologeten die Konsequenzen der Aufklärung durch 322 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

harmonistische Doktrinen abzubiegen getrachtet« (DA 141) haben. Die Wertschätzung, die Horkheimer und Adorno den »dunklen« Autoren entgegenbringen, und die Abneigung, mit der sie den »hellen« begegnen, beruht darauf, dass erstere illusionslos die ungeschminkte und ungemilderte Wahrheit über den Zustand der Welt und der Kultur aussprechen und letztere nichts als Schönrednerei betreiben. Die dunklen Autoren »haben nicht vorgegeben, daß die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammenhang mit der Moral als mit der Unmoral stünde. Während die hellen das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus.« (DA 141) Man kann dieses Argument mit guten Gründen für plausibel und nachvollziehbar halten. Aber auch dort noch, wo dieser »Wahrheit« (DA 141) die Züge des Zynismus und des Einverständnisses mit einer scheußlichen Realität beigemischt sind, wird sie von Adorno und Horkheimer als »Übertreibung« (DA 142) im Dienste der Wahrheit eher verteidigt als analysiert und wirklich durchdacht. Immer ist der schwärzeste Blick auf die Welt der allein gültige, nur er hat den Vorzug der Illusionslosigkeit und der Wahrheit. Weil die »mitleidlosen Lehren«, die de Sade und Nietzsche vertreten, »die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums« (DA 142f). In den Augen von Horkheimer und Adorno kann das »glückliche Dasein« in der »Welt des Grauens« immer nur als »ruchlos« (DA 142) erscheinen. Das Grauen wird »zum Wesen«, das glückliche Dasein »zum Nichtigen« (DA 142). Während das »unbeirrbare Vertrauen auf den Menschen … von aller tröstlichen Versicherung Tag für Tag verraten wird«, wird es von denen »gerettet«, die jede Art von Mitleid negieren. Gerade dort, wo die Schriftsteller die bösartigsten und gnadenlosesten Züge an den Tag legen, kommen sie der Wahrheit am nächsten. Ihr Verdienst ist es, die »Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen« (DA 142) zu haben. Damit haben sie der Wahrheit mehr gedient als jene, die, wie Kant, der Vernunft die Fähigkeit zusprachen, von den Menschen die Furcht zu nehmen. Der schwärzeste Blick auf die Welt ist dann der einzig angemessene, und immer enthält und offenbart das bittere Ende der Geschichte mit gnadenloser Unerbittlichkeit das Wesen jener Phänomene und Epochen, die ihm vorhergehen und dann nur noch Stufen des Übergangs in die Katastrophe sind. So kommt »im Faschismus … die Herrschaft zu sich selbst« (DA 142), so ist das »Wesen« liberaler Ordnung, das eine Zeit lang unsichtbar war, »die Gewalt, die heute sich offenbart« (DA 199; I: 3), so tritt als »reines Wesen des deutschen Fabrikanten … der massenmörderische Faschist hervor, nicht länger vom Verbrecher anders unterschieden als durch die Macht« 323 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

(DA 259). Jede Erscheinung ist in ihrem Wesen ein Teil der Katastrophe, nichts anderes, und nur das vollkommene Unglück kommt der Wahrheit nahe. Weil der Faschismus siegreich war, ist er es, der jetzt und unbedingt die Wahrheit und das Wesen aller Phänomene offenbart, die ihm vorausgingen. Schon der Gedanke, dass ein anderer Gang der Dinge vielleicht auch möglich gewesen wäre, wird dann zu einem Teil jener Illusion, die die Vernunftkritik der Dialektik der Aufklärung destruieren möchte. Diese Haltung ist ein nachvollziehbarer Ausdruck der vollkommenen Verdüsterung der Welt in der Zeit, als Europa im Terror des Faschismus versank. Aber zugleich ist in ihr eine Art von retrospektivem Fatalismus enthalten, die nicht weit entfernt ist von der Aussage, dass das, was sich in der Geschichte de facto durchgesetzt hat, damit auch im Recht ist und alles andere radikal entwertet wird. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem anklagenden Realismus, den diese Haltung für sich in Anspruch nimmt, und der Haltung eines zynischen Einverständnisses, die den Ausbruch der Krankheit begrüßt, weil in ihr endlich die ganze Verderbtheit der Zivilisation zum Ausdruck kommt und damit alle Ausreden und Ausflüchte verstellt werden. Dann ist der Faschismus wahrer als der Liberalismus, weil er schonungslos den erbärmlichen Zustand der Welt und die Falschheit der gesamten Zivilisation offenlegt. Wenn einmal unbezweifelbar feststeht, dass jegliche Vernunft und jegliche Aussicht auf Versöhnung aus dem Geschichtsverlauf gewichen sind, dann stehen alle Erzählungen, Manifestationen und Verkörperungen einer anderen Realität unter dem Verdacht der Illusion und der Lüge. Mit dieser Haltung aber geraten Horkheimer und Adorno in die Nähe einer Position, die beim kleinen und halbierten Glück nicht die Beschränkung auf das Kleine und Halbierte ins kritische Visier nimmt, sondern unter der Hand das Glück selber zum Gegenstand der Kritik macht. Wo Elemente und Anzeichen einer anderen Praxis und eines guten Lebens aufscheinen, sehen sie nur die Gefahr der Verblendung, des Betrugs und der Illusion. Die Annahme, dass etwas glücken könnte, gerät in den Verdacht der Schönfärberei. Das betrifft auch die Kunst. Wenn in ihr etwas gelingt, wird sie »Komplize der Ideologie« und »täuscht vor, Versöhnung wäre schon« (Adorno 1970: 203). Überall und a priori vermutet Adorno »das Moment des Verklärenden« (Adorno 1956: 156), kein Bild kann gelingen, es muss immer als Schrift dechiffriert werden und hat damit Teil an der Entfremdung. Wer auf die Möglichkeiten und den Spielraum politischen Handelns hinweist, webt nur mit am »Schleier der Personalisierung, daß verfügende Menschen entscheiden, nicht die anonyme Maschinerie« (Adorno 1962a: 415). Wer meint, etwas ändern zu können, »hegt die Illusion, die entscheidende Veränderung sei nicht versperrt« (Adorno 1970: 373). Die Einseitigkeiten und Fragwürdigkeiten der Dialektik der Aufklärung verweisen auf die zentrale Aporie, in die das Buch mündet. Sie 324 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Die Aporien der Elemente des Antisemitismus

besteht, kurz gesagt, darin, dass die radikale und totalisierende Vernunftkritik auch ihre eigene Möglichkeit untergräbt und etwas in Anspruch nimmt, was es der Diagnose zufolge gar nicht mehr geben kann. Das Buch diagnostiziert, dass die Vernunft von ihren ersten Anfängen bis in die Gegenwart hinein im Kern immer nur das Instrument herrschaftlicher Interessen gegenüber der äußeren wie inneren Natur gewesen ist und der totalitäre Antisemitismus auf diese Herrschaftsgeschichte zurückgeführt werden muss. Wenn das Wesen der Vernunft in Herrschaft besteht, dann resultiert daraus nicht nur die fundamentale Skepsis gegenüber allen Spuren und Anzeichen einer anderen Praxis, einer anderen Vernunft und einer anderen Gesellschaft. Das wird von Horkheimer und Adorno immer wieder betont. Aber das gleiche Argument unterminiert doch auch das eigene kritische Unterfangen und die eigene philosophische Position, auf der die Dialektik der Aufklärung beruht. Und diese Implikation ihrer Vernunftkritik greifen sie nicht auf. Mit welchem Argument jedoch könnte plausibel gemacht werden, dass die Kritik am Herrschaftscharakter der Vernunft nicht ihrerseits zutiefst durch das in Mitleidenschaft gezogen ist, was sie diagnostiziert, und sei es nur, indem sie durch ihre bloße Existenz suggeriert, dass so etwas wie kritische Vernunft überhaupt noch möglich ist und damit doch eigentlich aussagt, dass der Schrecken nicht total ist? Wäre der Schrecken wirklich total, könnte er nicht einmal mehr diagnostiziert werden. Die Tatsache, dass die Dialektik der Aufklärung geschrieben werden konnte, widerruft den Sachverhalt, den sie diagnostiziert. Obwohl also die Vernunft immer der Herrschaft zugearbeitet und sich als Instrument von Zurichtung und Naturunterdrückung verstanden haben soll, ist sie offenbar doch immerhin dazu in der Lage, über das, was sie angerichtet hat, Rechenschaft zu geben. »Die eigene Fragwürdigkeit konkret zu bezeichnen freilich hat Denken stets wieder ausgereicht.« (DA 60) Trotz aller Nähe zum Identifizieren, Herrschen und Zurichten hat sie die Fähigkeit der Selbstreflexion behalten. Damit aber ist sie mehr und kann sie mehr, als zu sein und zu können sie behauptet. Sie kann das Verdikt über ihren eigenen Zurichtungscharakter nur fällen, weil sie vom Inhalt dieses Verdikts nicht ganz und gar getroffen wird. Indem die Vernunft das Verdikt über sich selber fällt, straft sie es zugleich der Unvollständigkeit und Unwahrheit. Im Augenblick der kritischen Selbstreflexion macht die Vernunft von einem Vermögen Gebrauch, das es eigentlich dem Inhalt der Diagnose nach gar nicht mehr geben kann. Auf dem Boden des Vernunftbegriffs der Dialektik der Aufklärung ist ein Ausweg aus diesem performativen Widerspruch, in dem der Akt der Aussage ihren Inhalt widerruft, schlechterdings nicht möglich. Horkheimer und Adorno argumentieren stets im Bannkreis des Widerspruchs und bewegen sich in seinem Inneren. Die kritische Vernunft erhält sich am Leben, indem ihre Unmöglichkeit ein ums andere Mal entfaltet wird. 325 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Das ist ein zutiefst paradoxes und zugleich auch tragisches Unternehmen, in das die eigene Vergeblichkeit unentrinnbar eingebaut ist. Vor allem Adorno wird zum Virtuosen einer negativen Dialektik, vor deren kritisch-sezierendem Blick jeder Anspruch auf weiterführende Bestimmung und Theorie in Ideologie aufgelöst wird. Habermas hat in seinen Auseinandersetzungen mit Horkheimer und Adorno die Aporie der Vernunftkritik und den performativen Widerspruch, der sie charakterisiert, wiederholt herausgestellt (vgl. Habermas 1981: 489–534; 1985: 130–157; 1986). Er zieht daraus die Konsequenz, dass es bei der »aporetischen Situation« (Habermas 1985: 155), aus der Horkheimer und Adorno keinen Ausweg finden, nicht bleiben muss. Die Aporie, so zeigt er, beruht auf dem fragwürdigen Vernunftbegriff einer monologisch verfassten Bewusstseinsphilosophie, die unter Vernunft immer nur die Erkenntnis von natürlichen Tatsachen und das Eingreifen in die Welt als Gesamtheit von Sachverhalten kennt. Dieser Vernunftbegriff steht tatsächlich unter dem Imperativ der Selbsterhaltung, der Herrschaft und der Zweckrationalität. Aber die Vernunft erschöpft sich darin nicht. In der Sprache und in der Fähigkeit zur Kommunikation haben wir es mit einer Vernunft zu tun, die immer schon den Anspruch auf Solidarität, Versöhnung und Herrschaftsfreiheit in sich enthält. Diese Vernunft ist nicht das Instrument zur Beherrschung der äußeren und inneren Natur, sondern folgt dem Paradigma einer unversehrten Intersubjektivität und einer auf gegenseitige Anerkennung beruhenden Verständigung. Bei Horkheimer und vor allem bei Adorno markiert, wie wir gesehen haben, der Begriff der Mimesis die Schranke der naturbeherrschenden Rationalität. Mimesis ist eine von tiefen animalischen Schichten gespeiste Reaktionsform, die als unbeherrschbare Natur die Hoffnung auf ein neues und versöhntes Naturverhältnis nährt. Aber mehr als eine Hoffnung, die freilich untilgbar ist, wird von Adorno damit nicht verbunden. Das Paradigma einer kommunikativen Rationalität, das Habermas entwirft, tritt dagegen mit dem expliziten Anspruch auf, den vernünftigen Kern des mimetischen Impulses, den Adorno eher beschwört als einlöst, theoretisch einzuholen und zu begründen. Habermas folgt der Idee des mimetischen Impulses, verändert sie aber in zweierlei Hinsicht. An die Stelle der somatischen Fundierung der Mimesis tritt bei Habermas die Fundierung in der Sprache, und an die Stelle eines bei Adorno immer wieder nur beschworenen Impulses, der sich aller näheren Bestimmung entzieht, tritt eine ausgeführte Theorie des kommunikativen Handelns. »Aber an den mimetischen Leistungen läßt sich der vernünftige Kern erst freilegen, wenn man das Paradigma der Bewußtseinsphilo­ sophie, nämlich ein die Objekte vorstellendes und an ihnen sich abarbeitendes Subjekt, zugunsten des Paradigmas der Sprachphilosophie, der intersubjektiven Verständigung oder Kommunikation aufgibt und den 326 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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kognitiv-instrumentellen Teilaspekt einer umfassenderen kommunikativen Rationalität einordnet.« (Habermas 1981: 523) Die »wortlose Klage« (Habermas 1981: 512) der instrumentalisierten Natur wird in eine andere Theoriesprache überführt und setzt ihre Potentiale erst in dieser anderen Perspektive wirklich frei. Der Begriff der Mimesis, so wie Horkheimer und Adorno ihn verwenden, ruft nach Habermas »Assoziationen hervor, die beabsichtigt sind: Nachahmung, Imitation bezeichnen ein Verhältnis zwischen Personen, bei dem sich die eine der anderen anschmiegt, sich mit ihr identifiziert, in sie einfühlt. Angespielt wird auf eine Beziehung, in der die Entäußerung des einen an das Vorbild des anderen nicht den Verlust seiner selbst bedeutet, sondern Gewinn und Bereicherung. Weil sich das mimetische Vermögen der Begrifflichkeit von kognitiv-instrumentell bestimmten Subjekt-Objektbeziehungen entzieht, gilt es als das bare Gegenteil der Vernunft, als Impuls.« (Habermas 1981: 522) Habermas will mithin in seiner Theorie aufhellen, freisetzen und entfalten, was Adorno nur angespielt hat. Wenn man den mimetischen Impuls im Lichte der Theorie des kommunikativen Handelns betrachtet, zeigt sich, dass er mehr enthält als nur die vage Hoffnung des ganz Anderen und den immer wieder trügerischen Vorschein eines Zustandes von Versöhnung und Freiheit. Was Adorno mit dem Begriff der Mimesis benennen und festhalten wollte, verweist auf die Strukturen einer Vernunft, »die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang miteinander ebenso ermöglicht wie die Identität eines sich zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums – Vergesellschaftung ohne Repression« (Habermas 1981: 524). Es soll hier nicht diskutiert werden, ob sich Habermas mit seinem Theorieentwurf zu recht auf Adornos Mimesisbegriff berufen kann, ob er also zu recht behaupten kann, das weitergeführt und zu sich selbst gebracht zu haben, was Adorno im Mimesisbegriff gemeint und intendiert hat. Unbestreitbar ist, dass Horkheimer und Adorno diesen Ausweg nicht sehen. Zwar versuchen auch sie auf je spezifische Weise in ihren Nachkriegsschriften der aporetischen Situation zu entkommen, aber ihre Lösungen sind, wie wir im Folgenden sehen werden, alles andere als überzeugend.

3. Horkheimer: Religion ohne Gott (1) Die Dialektik der Aufklärung bleibt für das gesamte weitere Werk von Horkheimer und Adorno der maßgebliche und unhintergehbare theoretische Deutungshintergrund. Das gilt auch für die Aporien, in die dieses Buch mündet und aus denen seine Autoren keinen Ausweg sehen. Ein Rückgriff auf das Programm des interdisziplinären Materialismus, das 327 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Horkheimer für die Frankfurter Schule in den 1930er Jahren entworfen hatte, wäre nur um den Preis des expliziten Widerrufs der Vernunft- und Zivilisationskritik der 1940er Jahre möglich gewesen. Dieser Schritt kam weder für Horkheimer noch für Adorno in Frage. Beide sehen nach der Dialektik der Aufklärung aber auch keine Möglichkeit mehr, eine systematisch ambitionierte neue Gesellschaftstheorie zu erarbeiten. Ihre Gesellschaftskritik nimmt nun eher die Form von Essays und punktuellen Interventionen an, die sich nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen. Die großen Studien von Adorno sind philosophischen, ästhetischen, musiktheoretischen Fragen gewidmet. Adorno greift darin Themen, Sujets und Denkfiguren auf, die ihn auch schon in der Zeit vor der Dialektik der Aufklärung beschäftigt hatten, und bearbeitet sie in einem weit ausholenden und eigenwilligen Zugriff. In Adornos Werk stellt das Dialektikbuch eigentlich keinen wirklichen Einschnitt dar, sondern markiert eher eine Stufe in einer ganz folgerichtigen und von größeren Brüchen freien Denkentwicklung. Anders verhält es sich bei Horkheimer. In seinem Werk ist das Dialektikbuch eine tiefe Zäsur, und man kann, wie es Habermas (1986: 172) getan hat, die »merkwürdig unentschiedene Produktivität« von Horkheimer seit dem Ende des Krieges und seiner Rückkehr nach Deutschland auch als eine Form von Ratlosigkeit nach diesem Einschnitt deuten. Der Großteil seines Werkes besteht seit Anfang der 1950er Jahre aus einer Reihe kleinerer Texte ohne systematischen Anspruch und vor allem aus privaten Notizen, die erst nach seinem Tod 1973 veröffentlicht wurden. So unterschiedlich die Denkentwicklung bei Horkheimer und Adorno nach dem Ende des Krieges auch verlaufen ist, in einem zentralen Gesichtspunkt, den sie beide aus der Philosophie des deutschen Idealismus und aus dem Historischen Materialismus übernehmen, stimmen sie überein, in der Überzeugung nämlich, dass der kritische Blick des Denkens immer auf das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sein muss. Mit dieser totalisierenden Intention hatte Horkheimer den Kritikbegriff bereits in seinem berühmten Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) verbunden und damit die kritische von der traditionellen Theorie, die sich kleinteilig bei dieser oder jeder Einzelheit aufhält, unterschieden (vgl. Bittner 2009). Die kritische Theorie kann sich nach Horkheimer nicht damit begnügen, nur Teilbereiche und Details in Frage zu stellen und hier und da Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, sondern zielt stets auf die Gesamtheit der Zustände. Diese Perspektive bleibt auch nach der Dialektik der Aufklärung bestimmend. Da aber nach dem berühmten Wort von Adorno (1951a: 57) feststeht, dass das Ganze das Unwahre ist, kann nichts mehr von diesem umfassenden Urteil ausgenommen werden. Die einzige Veränderung, die wirklich zählen würde, wäre die Umwälzung der gesamten Lebensverhältnisse. Solange 328 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das Ganze nicht vollkommen anders wird, kann nichts besser werden. Bevor nicht alles gut ist, ist nichts gut. Nach der radikalen Vernunft- und Zivilisationskritik der Dialektik der Aufklärung kann sich der Anspruch, auf das Ganze zu zielen, nicht mehr mit dem Vernunftbegriff der Philosophie oder dem Geschichtsbegriff des Historischen Materialismus verbinden. Bei Horkheimer tritt an deren Stelle die Nähe zur Religion. Der »Standpunkt der Erlösung« (Adorno 1951a: 333), auf dem Adorno beharrt, hat auf den ersten Blick ebenfalls eine religiöse Dimension. Adorno bringt ihn aber nicht mit religiösen Bezügen in Verbindung, sondern, wie ich später zeigen werde, mit Bildern aus der Welt der Märchen und Mythen. (2) Schon Walter Benjamin hatte in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte dem Historischen Materialismus die Theologie zu Hilfe geschickt. Benjamin formuliert darin zwar nicht expressis verbis eine Kritik am Historischen Materialismus, sondern nur an den von den Epigonen verschuldeten Vulgarisierungen und Dogmatisierungen. Aber ganz unzweifelhaft ist es zugleich so, dass der Kern seiner Überlegungen darin besteht, auch die genuine Gestalt des Historischen Materialismus für ergänzungsbedürftig zu halten. Ergänzt werden muss er in seinen Augen mit theologischen Elementen, er muss in die Theologie eingebettet werden, weil ihm nur von dorther die Antriebskräfte für eine revolutionäre Umgestaltung der Gegenwart noch zuwachsen können. Darin steckt für die Anhänger des Historischen Materialismus fraglos eine gewaltige Provokation. Während nach Marx alle Kritik mit der Kritik der Religion beginnt und der Schlüssel für die Kritik »metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken« (Marx 1867: 85) in der Wertformanalyse liegt, meint Benjamin nun umgekehrt, dass sich der Historische Materialismus mit der Religion verbinden soll – und das keineswegs aus taktischen oder strategischen, sondern aus systematischen Gründen. Benjamin reagiert mit seiner Idee der Verbindung von Historischem Materialismus und Theologie darauf, dass die Überzeugungskraft und das analytische Potential der Kritik der politischen Ökonomie angesichts der totalitären Herrschaftssysteme dramatisch abgenommen und sich alle Hoffnungen auf eine revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse angesichts des Hitler-Stalin-Pakts vollkommen zerschlagen haben (vgl. Ryklin 2009). Die theologische Denkfigur des Messianismus, die Benjamin in seinen Thesen ins Spiel bringt, tritt genau in diese Leerstelle ein. Im Unterschied zum marxistischen Revolutionsglauben ist der Messianismus nicht fortschrittsorientiert, er hat mit dem Stand der Produktivkräfte nichts zu tun, die Quelle seiner Dynamik liegt nicht in den Widersprüchen der kapitalistischen Akkumulation – der Messianismus bezieht seinen Auftrag und seine Kraft vielmehr aus der Erinnerung, d.h. aus der Verpflichtung, die die lebende Generation von den untergegangenen Generationen mit auf den Weg bekommen hat. Und die Umwälzung 329 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Verhältnisse ist nicht an einen bestimmten Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung gebunden, sondern prinzipiell immer möglich. Horkheimer steht vor einem ganz ähnlichen Problem wie Benjamin. Auch er rückt in den 1940er Jahren von der materialistischen Geschichtsauffassung ab und gibt die Perspektive auf, der zufolge sich der Wunsch nach einer freien Gesellschaft auf mächtige geschichtliche und gesellschaftliche Tendenzen stützen kann. Die gesellschaftliche Entwicklung, so lautet die Diagnose nun, ist im Gegenteil von allen progressiven Elementen völlig verlassen. Ein Ausweg angesichts dieser Lage könnte darin bestehen, die Potentiale einer moralisch fundierten Kritik zu reaktivieren, in der die geschichtliche Entwicklung nicht mehr, wie im Historischen Materialismus, mit ihren eigenen Möglichkeiten konfrontiert, sondern mit den Maßstäben einer universalistischen Vernunft gemessen und beurteilt wird. Das wäre der philosophiegeschichtliche Rückgang von Hegel bzw. Marx zu Kant. Aber dieser Weg ist mit der Dialektik der Aufklärung ebenfalls grundlegend versperrt, weil in ihr ja gerade die Vernunft ins Zentrum der Kritik geraten und der Nachweis geführt worden war, dass sie in der Geschichte des Abendlandes stets auf der Seite der Herrschaft stand und es nichts als Illusion ist, aus ihr moralische Prinzipien für eine menschliche, solidarische und freie Gesellschaft ableiten zu wollen. Angesichts dieser verzweifelten Lage wendet sich Horkheimer verstärkt religiösen Motiven zu. Aber das geschieht bei ihm nicht, wie bei Benjamin, in Form der Aufnahme des Messianischen, in dem das Kontinuum der Geschichte unvermutet und unvorhersehbar aufgesprengt wird und das ganz Andere plötzlich in Erscheinung tritt. Im Kern des religiösen Interesses von Horkheimer steht vielmehr die im Vergleich zum Messianismus noch einmal deutlich ins Defensive zurückgenommene Ansicht, dass die Religion die Kraft ist, in der der unversöhnte Zustand der Welt seinen Ausdruck findet. Es ist die Distanz zur Welt, die Horkheimer an der Religion schätzt, die Behauptung, dass das, was ist, niemals alles sein kann, dass die Welt der Erlösung bedarf und der Erlösung harrt. In der vierten These der Elemente haben Horkheimer und Adorno die unversöhnte Haltung gegen die Welt als spezifische Qualität der jüdischen Religion diagnostiziert und demgegenüber am Christentum die apologetische Tendenz herausgestellt, die mit den empörenden Zuständen der Welt vorschnell ihren Frieden macht. Hoffnung knüpft die jüdische Religion, so heißt es auch schon im ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung, »einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Der Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns.« (DA 46) 330 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Mit dem neu erwachten Interesse für die Religion gibt Horkheimer die Haltung der Negativität keineswegs auf. Aber er sieht sie nun nicht mehr nur im Judentum enthalten, sondern betrachtet sie generell als den eigentlichen Kern jedweder Form des Religiösen. So avanciert das jüdische Erbe in den Augen Horkheimers gleichsam zum Wesen aller Religion, jedenfalls soweit sie sich nicht der Magie verschreibt. Auch das Christentum verkörpert nun die Haltung, die Horkheimer so schätzt und für die er offenbar Anhaltspunkte nur noch in der Religion finden zu können meint: die Haltung, dass man niemals mit dem Endlichen und Vorfindlichen seinen Frieden machen darf. Es ist dieser distanzierende, die Welt auf Distanz haltende Impuls, der Horkheimer anspricht und sein Interesse für die Religion weckt. Wenn man das einen Augenblick lang mit dem mimetischen Impuls vergleicht, den Adorno beschwört, wird sofort der gravierende Abstand zwischen diesen Positionen deutlich. Bei Adorno hat der mimetische Impuls seine Basis im Körperlichen und Somatischen, Horkheimer dagegen setzt auf einen spirituellen Impuls, der alle Nähe zu materialistischen Positionen weit hinter sich gelassen hat. Es ist aber keineswegs ein positiver Glaube, zu dem Horkheimer in seinem späteren Werk Zuflucht sucht. Was er von der Religion aufnimmt, ist nicht ihre Glaubensgewissheit oder ihr kanonisches Lehrgebäude, sondern nur der Impuls des Neinsagens und des Einspruchs gegen den durch und durch verwerflichen Zustand der Welt. Horkheimer glaubt weder an das Jüngste Gericht, noch an die Auferstehung, noch an das ewige Leben. Im Grunde ist es eine negative Religion, eine Religion ohne Gewissheit und ohne Gott, die seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nicht als Verkünderin einer Gewissheit, sondern als Inbegriff des Zweifels und der Sehnsucht nach dem ganz Anderen nimmt er sie in Anspruch. Gott ist nicht darstellbar, weder im Bild noch im Wort, Gott ist nur der Name, den wir unserer »Sehnsucht« geben, »dieses irdische Dasein möge nicht absolut, nicht das Letzte sein« (Horkheimer 1970: 392). Theologie im Sinne einer Wissenschaft von Gott hält Horkheimer für vollkommen unmöglich. Er verbindet mit der Religion die »Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit« (Horkheimer 1970: 393), nicht die Gewissheit der Existenz Gottes. Mit diesem Blick auf die Religion schließt Horkheimer unmittelbar an Auffassungen des protestantischen Theologen und Philosophen Paul Tillich an, mit dem er seit Ende der 1920er Jahre bekannt und befreundet war. Was Horkheimer an der Theologie Tillichs anzieht, ist das gleichsam jüdische Christentum, das dieser vertritt. Wie die Juden hütet sich Tillich, den Namen Gottes auszusprechen. »Seine Überzeugung war, daß man Gott nicht adäquat benennen kann.« (Horkheimer 1967: 279) Immer sei es Tillich in seinem Verständnis von Religion darum gegangen, sich auf gar keinen Fall mit der bestehenden Einrichtung der Welt abzufinden (vgl. Horkheimer 1961: 265). Tillich hatte schon in seiner berühmten 331 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Schrift Die sozialistische Entscheidung aus dem Jahre 1933 dafür plädiert, religiöse Antriebskräfte in die Bestimmung des Sozialismus aufzunehmen und sich dabei vor allem auf die prophetischen Traditionen des Alten Testaments bezogen. Tillich rückt das Christentum entschieden in die Nähe des Judentums. Nach schweren Kämpfen habe das Christentum »den Geist des Judentums zur eigenen Grundlage gemacht«, indem es das geschichtliche Denken gegen die ursprungsmythischen Sehnsüchte aufnahm und stark machte. Allerdings hat dann aber doch der Ursprungsmythos vom Christentum erneut Besitz ergriffen, einerseits durch die »Entstehung eines christlichen Priestertums«, das »die urchristliche ›Spannung nach vorn‹ in Hinwendung zum Gegebenen, zur heiligen Tradition umwandelte«, und andererseits »durch das Eingehen des Christentums in die Völkerwelt und ihre mannigfachen ursprungsmythischen Lebensformen«. Dadurch »kehrten die von der Prophetie gebrochenen Mächte des Bodens, des Blutes, der Gruppe und des Standes wieder. Das Seinsmächtige wurde als solches im Namen des Christentums heilig gesprochen.« (alle Zitate: Tillich 1933: 30) Das klingt in weiten Teilen wie eine Vorwegnahme der Position, die Horkheimer und Adorno in den Elementen im Blick auf die christlichen Wurzeln des Antisemitismus vertreten. Nach Tillich besteht in der Übernahme des romantischen Ursprungsglaubens freilich nicht das Wesen des Christentums, sondern nur seine Verfallsform. Seinem Kerngehalt nach gehöre das Christentum dagegen eindeutig auf die Seite der jüdischen Errungenschaften. Es enthält den »prophetischen Protest gegen jede neu entstehende ursprungsmythische Bindung«, und es steht dafür, »der Zeit, der unbedingten Forderung, dem Wozu zum Sieg zu verhelfen gegen den Raum, das bloße Sein und das Woher.« (Tillich 1933: 30) An diese Auffassung knüpft Horkheimer gerne an. Nie habe Tillich »der Rationalisierung des Grauens dieser Welt eine Konzession gemacht« (Horkheimer 1961: 266), immer stellte er »das Negative, die Einsamkeit, die Verlassenheit im Gang der Welt« heraus (Horkheimer 1961: 266), stets brachte er die »Ratlosigkeit« zum Ausdruck, »in die wir versetzt sind« (Horkheimer 1950–1970: 352). »Der Verzweifelte ist ihr, der Religion, näher als derjenige, der sie einfach gleichsam als eine Routine akzeptiert. Zweifel gehört heute, nach Tillichs Ansicht, zum religiösen Leben.« (Horkheimer 1967: 281) Horkheimer nimmt mithin die Religion als eine Kraft wahr, die die Verzweiflung zum Ausdruck bringt und ihr Raum gibt. Darin besteht ihr Kern. In der Religion »sind die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen niedergelegt« (Horkheimer 1970: 393). Es ist nicht so, dass die Verzweifelten in der Religion Trost, Erbauung und Erfüllung finden sollen, sondern die Religion ist Ausdruck der Tatsache, dass es Verzweiflung gibt, und Verzweiflung ist der einzig legitime Gemütszustand angesichts der verheerenden Gegenwart. Nur so weit Religion die 332 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Verzweiflung nicht mildert, nicht zudeckt, nicht wegschlägt, sondern ihr Raum und Ausdruck gibt, erfüllt sie ihre Aufgabe. Und umgekehrt: Wer die Verzweiflung ernst nimmt und sie, in welcher Form auch immer, artikuliert, bewegt sich im Grunde bereits im Raum der Religion. Die Religion, so wie Horkheimer sie versteht, gibt keine Antworten, sondern stellt Fragen und ist eine einzige Frage. Sie garantiert keine Gewissheiten und keine positiven Glaubenssätze, sondern lebt aus dem Zweifel und der Verzweiflung. Es gibt keinen Himmel, dessen Existenz verbürgt ist, weder einen irdischen noch einen überirdischen. Für die kritische Theorie wie für die Theologie ist nach Horkheimer die Einsicht zentral, »daß der Himmel, zu dem man den Weg weisen kann, keiner ist« (Horkheimer 1974: 253). So stehen die kritische Theorie und die Religion auf der gleichen Seite, und Horkheimer fordert beide zu äußerster Zurückhaltung auf, wenn es um die Aussichten und die Realisierungsmöglichkeiten einer besseren Welt geht. Theorie und Religion halten die Hoffnung und die Perspektive lebendig, dass die gegebene Welt nicht die beste aller möglichen ist, aber sie können und sollen nicht das Blaue vom Himmel versprechen. Diese Bestimmungen stehen am Ende einer langen Beschäftigung von Horkheimer mit der Religion, in der man verschiedene Etappen unterscheiden kann. In den 1930er Jahren, als für Horkheimer das Programm des Historischen Materialismus mit der realistischen Perspektive auf die Einrichtung einer besseren Welt bestimmend gewesen ist, richtet er sich mit kritischer Verve und offensiver Angriffslust gegen die haltlosen Versprechungen der Religion. Er wendet sich gegen die illusionären Hoffnungen, die die Religion macht, indem sie unendlich viel verspricht – aber immer nur für das Jenseits, und zugleich das Diesseits sich selbst überlässt. Die materialistische Geschichts- und Gesellschaftstheorie setzt nach Horkheimer hier an und dreht die Perspektive um. Sie setzt alle Energie in die Veränderung der irdischen Verhältnisse und überlässt den Himmel den Göttern und den Pfaffen. Sie tritt damit zugleich das Erbe der Religion an, weil auch in ihr im Grunde eine kritische Haltung der Welt gegenüber zum Ausdruck kam. Aber während die Religion die Veränderung der irdischen Verhältnisse von vornherein für unmöglich erklärt und schon das Streben danach für eitel und hochmütig hält, rücken die sozialen Emanzipationsbewegungen die innerweltlichen Veränderungen und Verbesserungen ins Zentrum und verbinden damit die Überzeugung, dass sich die himmlischen Fragen dann von selbst erledigen und alle Religionen überflüssig werden. Dahinter steht ein großes Selbstbewusstsein, voller Zuversicht und Stärke, überzeugt von den großen Potentialen der menschlichen Vernunft und der menschlichen Arbeit. Die Religion mit ihren Illusionen wird sich überlebt haben, wenn die Einrichtung der Welt zur Zufriedenheit aller geregelt ist, und die Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu liegen auf 333 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Hand. Niemand ist auf kindische und haltlose Versprechungen für das Jenseits angewiesen, wenn er hier und heute ein befriedigendes Leben führen kann. Horkheimers offensiver Materialismus ist davon überzeugt, dass die vernünftige menschliche Praxis das reale Leben soweit transformieren kann, dass damit das Bedürfnis nach Religion hinfällig wird und sich von selbst erledigt. In einem kurzen Text Gedanke zur Religion aus dem Jahre 1935 schreibt Horkheimer: »Im Gottesbegriff war lange Zeit die Vorstellung aufbewahrt, daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen. Aus der Unzufriedenheit mit dem irdischen Schicksal schöpft die Anerkennung eines transzendenten Wesens ihre stärkste Kraft. Wenn die Gerechtigkeit bei Gott ist, dann ist sie nicht im selben Grade in der Welt. In der Religion sind die Wünsche, Sehnsüchte und Anklagen zahlloser Generationen niedergelegt.« (Horkheimer 1935: 326) Aber im Grunde richten sich diese Wünsche immer auf die vernünftige Einrichtung der Welt und speisen sich aus dem »Ringen um vernünftigere Formen des gesellschaftlichen Lebens« (Horkheimer 1935: 326). Damit steht der »Übergang der religiösen Sehnsucht in die bewußte gesellschaftliche Praxis« (Horkheimer 1935: 326) auf der Tagesordnung und »der gute Wille, die Solidarität mit dem Elend und das Streben nach einer besseren Welt haben ihr religiöses Gewand abgeworfen« (Horkheimer 1935: 327). »Die Haltung der Märtyrer ist nicht mehr das Dulden, sondern die Tat, ihr Ziel nicht mehr ihre eigene Unsterblichkeit im Jenseits, sondern das Glück der Menschen, die nach ihnen kommen, und für das sie zu sterben wissen.« (Horkheimer 1935: 327) Kurz: Die Versprechen der Religion gehen ohne Rest in die emanzipatorischen sozialen Bewegungen über und werden von ihnen aufgegriffen und eingelöst. »Ein Teil der Triebe und Wünsche, die der religiöse Glaube bewahrt und wachgehalten hat, werden aus ihrer hemmenden Form gelöst und gehen als produktive Kräfte in die gesellschaftliche Praxis ein. Und selbst die Maßlosigkeit der zerstörten Illusion gewinnt in diesem Prozeß eine positive Form und wandelt sich in Wahrheit um.« (Horkheimer 1935: 328) In dieser optimistischen Variante übernehmen die Emanzipationsbewegungen die progressiven Impulse und Versprechungen der Religion und setzen sie so um, dass nichts für sie zu tun übrig bleibt. Es ist also ein reiner Zugewinn an Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein, wenn die Religion endlich erledigt ist. Im Grunde ist sie nur noch ein lästiger und irreführender Ballast, sie beruht auf Falschheit, Trug und Illusion, sie bremst und absorbiert die revolutionären Tendenzen und Antriebe, die auf eine andere Gesellschaft zielen. In einer zweiten, schon deutlich weniger zuversichtlichen Variante stellt Horkheimer das Verhältnis zwischen Religion und sozialer Emanzipation so dar, dass es Sehnsüchte gibt, die auch durch eine gerechte 334 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Einrichtung der Welt nicht wirklich erfüllt und eingelöst werden können. Das ist aber beileibe kein Grund, den Versprechungen der Religion auf den Leim zu gehen. Es ist vielmehr die Aufgabe des Materialismus, darüber aufzuklären, dass es Wünsche und Träume gibt, die schlechthin unerfüllbar sind, weil sie auf Illusionen beruhen, und auf denen zu bestehen immer nur in Enttäuschung und in böses Erwachen münden kann. Horkheimer hat hier einen ähnlichen Blick wie Kant: Unvermeidlich ist es so, dass die Menschen die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit stellen und beantwortet haben wollen. Niemals werden sich diese Fragen erübrigen, sie sind unabweisbar. Aber sie können vom menschlichen Verstand niemals verlässlich beantwortet werden. Und die Aufgabe der kritischen Aufklärung besteht angesichts dieser Lage genau darin, die Unvermeidlichkeit der Fragen und die Unmöglichkeit der Antworten gleichermaßen herauszustellen. Horkheimer meint: Der »Antrieb zu diesem gedanklichen Hinausgehen über das Mögliche, zu dieser ohnmächtigen Rebellion gegen die Wirklichkeit gehört zum Menschen, wie er geschichtlich geworden ist« (Horkheimer 1935: 327). Die religiös motivierte, ohnmächtige Rebellion gegen die Schwerkraft der Wirklichkeit ist also unvermeidlich. Es wäre anmaßend und überheblich, wenn der Historische Materialismus behaupten würde, die dahinter stehenden Wünsche erfüllen zu können. »Nicht etwa die Ablehnung dieses Bildes unterscheidet den fortschrittlichen Typus vom zurückgebliebenen, sondern die Erkenntnis der Grenzen seiner Erfüllbarkeit.« (Horkheimer 1935: 327) Man kann mithin die grenzenlosen Versprechen der Religion nicht dadurch beruhigen, dass man ihre Einlösung zu einer realistisch von der sozialen Revolution zu erledigenden Angelegenheit erklärt. Auch in der gerechten Gesellschaft gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung, auch das Paradies hat seine Grenzen. Und man muss diese Grenzen nüchtern und realistisch ins Auge fassen und mit ihnen leben. Das ist allemal besser und angemessener, als falsche Hoffnungen zu wecken. Es ist diese Haltung einer gleichsam heroischen Aufklärung gegenüber Allmachtsversprechen aller Art, die Horkheimer in seiner Auseinandersetzung mit einer Schrift von Theodor Haecker Der Christ und die Geschichte aus dem Jahre 1936 zum Ausdruck bringt. Am Ende seiner Besprechung des Buches unterscheidet er zwischen einem gesellschaftlichen und einem natürlichen Grund von Schwermut und Melancholie. Der natürliche Grund der Schwermut ist der Tod. Der religiöse Jenseitsglaube verspricht, ihn zu überwinden und damit alle Melancholie aus der Welt zu schaffen. Das hält Horkheimer für eine Illusion. »Der religiöse Glaube an die Neuerschaffung der Welt nach ihrem Untergang geht im Bekämpfen der Schwermut um eine Spanne zu weit.« (Horkheimer 1936a: 101) Aber in dieser Sicht der Dinge ist die realistische bzw. materialistische Einsicht in die Unaufhebbarkeit des Todes kein wirklicher Nachteil 335 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und keine Schwäche gegenüber der Religion. Denn die vernünftige Einrichtung der Welt hat so viel zu bieten und ist so erfüllend, dass demgegenüber die Wünsche, die auch sie nicht wird einlösen können, nicht ins Gewicht fallen und gut zu ertragen sind. Der Verzicht auf Illusionen fällt nicht schwer, wenn die Gesellschaft die Wünsche, die hienieden in Erfüllung gehen können, auch tatsächlich erfüllt und allen ein gutes und befriedigendes Leben ermöglicht. Und es ist allemal besser, sich einzugestehen und sich klarzumachen, dass es unerfüllbare Wünsche gibt, als in Täuschung und Illusion zu verharren. In einem Brief an Walter Benjamin vom 16. März 1937 hat Horkheimer diese Position geltend gemacht. Horkheimer vertritt dort die Ansicht, dass vergangenes Unrecht durch nachträgliche Bemühungen nicht mehr korrigiert werden kann und als unabänderbares Faktum hingenommen werden muss. »Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen.« Wer gegen diese Abgeschlossenheit aufbegehrt, so meint Horkheimer, und im Ernst die Idee der Unabgeschlossenheit der Geschichte vertritt, muss »an das jüngste Gericht glauben« (zit. nach: Benjamin 1982: 589). Benjamin dagegen will sich keineswegs damit abfinden, dass die Vergangenheit unwiederbringlich vergangen und vorüber ist, und er holt sich für diesen Gedanken Unterstützung und Hilfe bei der Theologie und spricht von der verwandelnden Kraft des Eingedenkens. Er insistiert darauf, »daß die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ›festgestellt‹ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie.« (Benjamin 1982: 589) Für Horkheimer dagegen kann das vergangene Unrecht nicht wirklich wieder gut gemacht werden. Diese Grenze ihrer Möglichkeiten und Fähigkeiten müssen die Menschen akzeptieren. Alles andere wäre, wie Horkheimer in seinem Text Gedanke über Religion schreibt, im Grunde ein kindischer und »blöder Optimismus«: »In einer wirklich freiheitlichen Gesinnung bleibt jener Begriff des Unendlichen als Bewußtsein der Endgültigkeit des irdischen Geschehens und der unabänderlichen Verlassenheit der Menschen erhalten und bewahrt die Gesellschaft vor einem blöden Optimismus, vor dem Aufspreizen ihres eigenen Wissens als einer neuen Religion.« (Horkheimer 1935: 328) Und »selbst wenn eine bessere Gesellschaft die gegenwärtige Unordnung ablöst und sich entfaltet haben wird, ist das vergangene Elend nicht gutgemacht, und die Not in der umgebenden Natur nicht aufgehoben.« (Horkheimer 1935: 327) Die dritte Version der Beziehung zwischen Religion und sozialer Emanzipation, die man bei Horkheimer findet, ist noch einmal vorsichtiger. Sie geht davon aus, dass das Ende der Religion eine Leere hinterlässt, 336 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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die im Grunde unzumutbar und unerträglich ist. Die großen Sehnsüchte und Wünsche der Menschen können weder durch gesellschaftsverändernde Praxis eingelöst noch durch materialistische Aufklärung beruhigt werden. Ohne Religion, so erscheint es Horkheimer nun, ist das Leben eigentlich nicht zu ertragen. In Gedanke zur Religion heißt es: »Die Menschheit verliert auf ihrem Wege die Religion, aber dieser Verlust geht nicht spurlos an ihr vorüber.« (Horkheimer 1935: 328) Horkheimer ist in diesem Text allerdings noch der Überzeugung, dass der Verlust verkraftet werden kann. Nach und nach aber erscheint ihm die Lage der Dinge in einem anderen Licht. Immer stärker gewinnt er offenbar den Eindruck, dass das, was verloren geht, wenn es mit der Religion zu Ende geht, an Gewicht und Bedeutung zunimmt und nicht ausgeglichen, kompensiert oder aufgeklärt werden kann. Derjenige, der nicht, wie die Positivisten, mit »Stumpfheit« (Horkheimer 1936a: 100) der Welt gegenüber steht, wird nach Horkheimer nun nicht mehr beseelt von Optimismus und Zuversicht für die veränderte Einrichtung der Welt, sondern ist vom »Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit des Menschen durchdrungen« (Horkheimer 1936a: 100) und wird durch eine untilgbare »metaphysische Trauer« (Horkheimer 1936a: 100) niedergedrückt. Wo vormals »das Bewußtsein der Vergänglichkeit und die Bitterkeit des Endes« (Horkheimer 1936a: 100) dazu führen sollte, die »Erfahrung von der Unwiederbringlichkeit des Glücks« (Horkheimer 1936a: 100) aufzunehmen und in eine Bedeutungssteigerung der irdischen Angelegenheiten umzuwenden, da legt sich in diesen Passagen bei Horkheimer der Hauch der Vergeblichkeit über alles Irdische und über alle menschlichen Bemühungen. Es sind nur Nuancen, an denen die veränderte Einschätzung sichtbar wird. Aber sie sind doch unübersehbar. »Bedarf es nicht immer der Religion, weil die Erde, auch wenn die Gesellschaft in Ordnung wäre, das Grauen bleibt?« (Horkheimer 1974: 325) Diese Sentenz ist mit einem Fragezeichen versehen, aber es handelt sich nur noch um eine rhetorische Frage, deren Antwort für Horkheimer feststeht. Wenn die Erde immer das Grauen sein wird, auch wenn alles getan ist, sie zu verändern und sie in Ordnung zu bringen, dann ist die Erlösung im Jenseits die einzige Hoffnung, die noch bleibt. Die Welt ist dann wirklich und unvermeidlich das Jammertal, von dem man sich nur mit Entsetzen und Trauer abwenden kann. Es ist dann nicht mehr so, dass es Elend in der Welt gibt, das zu beseitigen die Menschen aufgerufen und befähigt sind, sondern die Welt erscheint selber als das Elend, von dem wir erlöst werden müssen. Gelegentlich wird von Horkheimer die Lösung der jüdischen Religion ins Spiel gebracht. Danach ist es so, dass sich das Versprechen der Überwindung des Todes nicht auf die individuelle Existenz bezieht, sondern auf die Fortexistenz des jüdischen Volkes, das die Toten in das eigene Dasein einbezieht und ihnen über die Erinnerung das ewige Leben 337 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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schenkt (vgl. z.B. Horkheimer 1950–1970: 340f). Aber es ist keineswegs so, dass Horkheimer diese Lösung wirklich aufgreift, durchdenkt und ernst nimmt.

4. Adorno: Märchenlösungen In der Dialektik der Aufklärung bringen Horkheimer und Adorno ihre gemeinsame Überzeugung im Blick auf das Erbe der jüdischen Religion für ihr eigenes Denken auf folgende eindringliche Formulierung: »Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpfte sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. … Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.« (DA 46) Während sich Horkheimer angesichts dieser Situation an die Religion hält, wendet sich Adorno vor allem der Kunst zu. Die Kunst ist für ihn der Ort, an dem die mimetische Praxis fortexistiert und die Hoffnung aufrechterhalten wird, dass alles einmal ganz anders werden kann. Zugleich hält sie das Andenken an die Geschichte des Elends, der Unterdrückung und der Opfer wach und ist damit zugleich eine spezifische Form memorialer Geschichtsschreibung (vgl. König 2008: 149ff). Kunstwerke und Memoria verweisen aufeinander. »Ohne geschichtliches Eingedenken wäre kein Schönes.« (Adorno 1970: 102) Die Kunstwerke leben von der Erinnerung an das, was noch nicht ist, und konkretisieren die Utopie glückenden Lebens um den Preis seiner Realität (vgl. Adorno 1970: 200). Kunst ist die Erinnerung an das Mögliche gegen das Wirkliche (vgl. Adorno 1970: 204) und stellt ihre Kraft in den Dienst dessen, was ganz anders wäre. Die Kunst ist eine Form »bewußtloser Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen« (Adorno 1970: 384). So enthält die Kunst beides: das »Gedächtnis des akkumulierten Leidens« (Adorno 1970: 384) und zugleich das »Bild von Seligkeit« (Adorno 1970: 412) – das letztere aber nicht als ausgemalte positive Utopie, sondern immer nur in der Form der Negation. Die Suche nach Auswegen aus den Aporien der Vernunftkritik führt Adorno aber auch noch zu anderen Motiven und Bestimmungen, die freilich nirgendwo die vergleichsweise geschlossene Form der Ästhetischen Theorie annehmen, sondern über das gesamte Werk verstreut sind. Vor allem Motive aus der Welt der Märchen drängen sich wie unwillkürlich und unbeabsichtigt immer wieder in die Texte und Abhandlungen hinein. Der Kraftquell, der von den Märchen ausgeht, beruht darauf, dass die Gewalt, von der sie erzählen, vorbei ist. An einer bedeutsamen 338 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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und anrührenden Stelle der Dialektik der Aufklärung, am Ende des Odysseus-Exkurses, wird dieses Motiv formuliert. Die Grausamkeit des homerischen Berichts über die Hinrichtung der treulosen Mägde und die Verstümmelung des Ziegenhirten Melanthios nach der Heimkehr des Odysseus sehen Horkheimer und Adorno an dieser Stelle durch die »tröstende Hand im Eingedenken von Es war einmal« (DA 103) gemildert. In der kaum erträglichen Genauigkeit der Beschreibungen dieser Grausamkeit liegen die Züge, in denen das Epos auf den Roman und damit auf das Märchen vorgreift: Denn »als Roman geht das Epos ins Märchen über« (DA 103). Die Märchen versprechen, dass die Gewalt der Vergangenheit angehört, sie trösten, aber sie verklären nicht, sie drücken die Wehmut und den »Wahn« aus, wie Adorno in den Minima Moralia (1951a: 157) sagt, »dass aus den Figuren des Scheins einmal doch, scheinlos, die Rettung hervortrete«. Die Stimme, die aus ihnen spricht, teilt uns mit, dass die Hoffnung auf Rettung eigentlich vergeblich ist, und doch und zugleich ist sie es, »die ohnmächtige, allein, die überhaupt uns erlaubt, einen Atemzug zu tun« (Adorno 1951a: 157). Vielleicht geht die Inanspruchnahme des Märchens durch Adorno auf Überlegungen von Benjamin zurück. In seinem Aufsatz Der Erzähler (1936) entwickelt Benjamin einige Gedanken, die den Märchengeist mit der Befreiung von der Not des Mythos in Verbindung bringen und damit genau das Motiv ansprechen, das die Dialektik der Aufklärung an der zitierten Stelle verwendet. Nach Benjamin spricht aus den Märchen das Vertrauen auf eine Natur, die auf der Seite des Menschen steht, die ihm hilft, die Konflikte, in die er gerät, zu bestehen und den Bann, der auf ihm liegt, zu lösen. »Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln. Es zeigt uns in der Gestalt des Dummen, wie die Menschheit sich gegen den Mythos ›dumm stellt‹; es zeigt uns in der Gestalt des jüngsten Bruders, wie ihre Chancen mit der Entfernung von der mythischen Urzeit wachsen; es zeigt uns in der Gestalt dessen, der auszog das Fürchten zu lernen, daß die Dinge durchschaubar sind, vor denen wir Furcht haben; es zeigt uns in der Gestalt des Klugen, daß die Fragen, die der Mythos stellt, einfältig sind, wie die Frage der Sphinx es ist; es zeigt uns in der Gestalt der Tiere, die dem Märchenkinde zu Hilfe kommen, daß die Natur sich nicht nur dem Mythos pflichtig, sondern viel lieber um den Menschen geschart weiß. Das Ratsamste, so hat das Märchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es noch heute die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt mit List und mit Übermut zu begegnen. … Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen.« (Benjamin 1936: 458) 339 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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List und Übermut sind Adornos Sache sicherlich nicht. Aber dass sich die Natur als Bündnispartner des Menschen erweist und seine Hoffnung auf Befreiung trägt und unterstützt, so wie umgekehrt die Menschen vermöge ihres mimetischen Impulses und der Philosophie der armen Natur dazu verhelfen, »wohin sie vielleicht möchte« (Adorno 1970: 107), das korrespondiert sehr genau mit den Vorstellungen und Intentionen, die Adorno in seinem Denken verfolgt und für die der Begriff der Mimesis eine zentrale Rolle spielt. Märchenhafte Züge trägt auch die Figur des Umschlags vollendeter Negativität, die Adorno immer wieder aufbietet. In ihr geht das Motiv des guten Ausgangs auf dem Höhepunkt des Schreckens eine eigentümliche Verbindung mit dem dialektischen Prinzip des Umschlags und der Umwendung ein. Die Extreme berühren sich und gehen ineinander über. Am äußersten Punkt der Entwicklung eines Geschehens wendet sich alles doch noch auf geheimnisvolle Weise in sein Gegenteil und zum Guten um. Es ist auffällig, dass besonders häufig am Ende von Kapiteln, Texten oder Sinnabschnitten dieses Motiv angeführt wird und damit immer wieder wie eine tröstliche Geste wirkt, dass doch noch nicht alles verloren ist. Ein Beispiel dafür ist das Ende der sechsten These der Elemente, mit der in der ursprünglichen Ausgabe von 1944 das gesamte Kapitel abschloss. Dort wird die »Umwendung … im Angesicht des absoluten Wahnsinns« (DA 229f, VI: 12) beschworen und mit der Perspektive verbunden, dass der »Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft« (DA 230, VI: 12) jetzt möglich ist und der totalitäre Antisemitismus damit zum »Wendepunkt der Geschichte« (DA 230, VI: 12) werden kann. Die siebte These der Elemente, die 1947 hinzugefügt wurde, bietet das gleiche Argument auf. Im »Unmaß seines Widersinns« ist »die Wahrheit negativ zum Greifen nahe« und die reale Möglichkeit unabweisbar, »die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen« (DA 238, VII: 6). Ein ähnliches Motiv bringt auch bereits das Ende des ersten Kapitels der Dialektik der Aufklärung ins Spiel. Hier wird dem Geist, wenn er nur unbeirrbar genug ist, die Kraft zugesprochen, am scheinbaren Endpunkt der Aufklärung ihre Umwendung zuwege zu bringen. »Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt. … Der Geist solcher unnachgiebigen Theorie vermöchte den des erbarmungslosen Fortschritts selber an seinem Ziel umzuwenden.« (DA 65) Die Aufklärung »vollendet sich und hebt sich auf« (DA 66), sie transzendiert sich, wie von selbst oder wie von Geisterhand, und geht in ihr Gegenteil, eine befreite Gesellschaft über. Die Vollendung der Aufklärung wird identisch mit ihrer Aufhebung und Umwendung. Diese von Adorno immer wieder herangezogene Figur der Umwendung am äußersten Pol der negativen Entwicklung ist nicht frei von der 340 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Gefahr, dass der gesellschaftliche Zwang als notwendiges Übel erscheint und gerechtfertigt wird. Es ist dann ähnlich wie im Christentum, das die Auferstehung an den Untergang und an die Verdüsterung des Karfreitagsgeschehens bindet. Das Argument der Umwendung »an seinem Ziel« (DA 65) liegt zu nahe an der düster-resignativen Vorstellung, dass alles erst ganz schlimm werden muss, bevor es gut werden kann. Dieser Gedankengang enthält das erhebliche Risiko, dass sich in ihm auf unaufgehellte Weise eine eigentümliche Sehnsucht nach der Katastrophe breitmacht. Der Messianismus Benjamins versuchte, sich von solchem Denken in den Geschichtskategorien der Notwendigkeit und des Vertrauens in den am Ende sinnvollen Gang der Entwicklung freizumachen. Weil der Autor der Thesen Über den Begriff der Geschichte den Fatalismus sehr deutlich wahrnahm, der mit dem Historischen Materialismus, besonders in der zur Zeit der sog. Zweiten Internationale vorherrschenden Form, verbunden war, setzte er den Messianismus dagegen, für den die Revolution eigentlich immer möglich ist und nur von der Tatkraft der beteiligten Akteure abhängt. Adorno verbindet das Motiv der Umwendung am äußersten Extrem mit der Vorstellung, nach der der manipulative Aufwand, die Härte und die Anstrengung, die die Gegenseite aufbringen muss, um den Zustand der Negativität aufrechtzuerhalten, im Grunde überdeutlich indizieren, dass die große Veränderung längst an der Zeit ist. Mit letzter Mühe und Gewalt, so erscheint es ihm, wird die rettende Umwendung der Dinge zu verhindern gesucht. Die Gewaltsamkeit, die nötig ist, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten, ist dann kein Zeichen der Stärke, sondern der Schwäche, und sie zeigt, dass der Akt der Befreiung unabweisbar auf der Tagesordnung steht, überfällig und keine große Sache mehr ist. Das Schnipsen mit dem kleinen Finger, »ein Winziges« (Adorno 1951a: 334) scheint auszureichen, um den Bann der Negativität als Spuk kenntlich zu machen und zu vertreiben. Die siebte These der Elemente endet mit der Aussage, dass der Schrecken »nur noch durch verzweifelte Anstrengung der Betrogenen aufrecht erhalten werden kann« (DA 238, VII: 6) und dass gerade das anzeigt, wie sehr die Wahrheit eigentlich schon für alle greifbar ist. In seinem Beitrag zur Ideologienlehre (1954: 477) schreibt Adorno, auch da wieder am Ende des Textes, es bedürfe »nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zugleich allmächtigen und nichtigen Schein von sich zu werfen.« Und am Ende der Minima Moralia (1951a: 334) heißt es über das erlösende Licht, in das die Erkenntnis die Wirklichkeit tauchen soll: »Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt.« Auch am Ende des Aufsatzes über Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda bringt Adorno ein ganz ähnliches 341 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Argument. Es ist im Grunde nicht die Natur der Massen, die im Faschismus triumphierte, sondern das Technische, das Künstliche, das Inszenierte und Gemachte. Die Anstrengung, der Aufwand und der erbarmungslose Zug, die die faschistische Propaganda charakterisieren, sind nach Adorno das beste Argument dafür, dass das Falsche und Fiktive dieser ganzen Veranstaltung doch eigentlich auf der Hand liegen und von jedermann insgeheim geahnt werden. Ein kurzes Innehalten schon würde alles verändern und die ganze falsche Inszenierungswelt zum Einsturz bringen: »Wahrscheinlich ist es die Ahnung des fiktiven Charakters ihrer eigenen ›Massenpsychologie‹, was faschistische Massen so erbarmungslos und unansprechbar macht; denn hielten sie nur für eine Sekunde um der Vernunft willen inne, müßte die ganze ›Show‹ zusammenbrechen, und sie wären der Panik überlassen.« (Adorno 1951: 340f) Das »Moment des Unechten«, die »Institutionalisierung des Bannes«, »das Moment der Inszenierung« sind, so gesehen, allesamt Zeichen dafür, dass die »Unechtheit der begeisterten Identifizierung und der ganzen herkömmlichen massenpsychologischen Dynamik ungeheuer angewachsen ist« (Adorno 1951: 341). Und die letzten Sätze des Aufsatzes lauten: »Es ist durchaus denkbar, daß dies zu einem plötzlichen Erkennen der Unwahrheit des Zaubers führt und schließlich in dessen Zusammenbruch kulminiert. Die vergesellschaftete Hypnose entwickelt in sich selbst die Kräfte, die den Spuk der ferngesteuerten Regression hinwegfegen und die, die ihre Augen geschlossen halten, obwohl sie nicht mehr schlafen, endlich aufwecken werden.« (Adorno 1951: 341) Das märchenhafte Motiv der Umwendung findet auf irritierende Weise sein Pendant in Adornos Haltung zur Psychoanalyse, die, wie Christian Schneider (2010) herausgestellt hat, ausgesprochen widersprüchlich und ambivalent ausfällt. Adorno schwankt zwischen der Idealisierung der psychoanalytischen Theorie, die in seinen Augen einen großartigen Beitrag zur radikalen Selbstkritik des bürgerlichen Bewusstseins geleistet hat, und der völligen Entwertung der psychoanalytischen Praxis, die er bezichtigt, »leidende und hilflose Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten« (Adorno 1951a: 77). In seinem Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit beharrt Adorno darauf, dass der Hass auf die Psychoanalyse »unmittelbar eins mit dem Antisemitismus« ist, und zwar »keineswegs bloß weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt« (Adorno 1959a: 25). Der psychoanalytischen Therapie aber wirft Adorno immer wieder vor, dass sie auf schändliche Weise das Lustprinzip zugunsten oberflächlicher Anpassung, Genuss- und Leistungsfähigkeit verrät. Er setzt ihr die »kathartische Methode« (Adorno 1951a: 74) des frühen Freud entgegen, die für ihn die »Psychoanalyse in ihrer authentischen und geschichtlich bereits überholten Gestalt« (Adorno 1955: 83) 342 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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darstellt. Ihre »Wahrheit« besteht Adorno zufolge darin, dass sie dem »Bericht von den Mächten der Zerstörung, die inmitten des zerstörenden Allgemeinen im Besonderen wuchern« (Adorno 1955: 83), breiten Raum gibt. Es ist der ganz und gar ungeschönte und unversöhnliche Bericht, der »die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen« (Adorno 1951a: 74) bringt und damit die kathartische Umwendung vorbereitet. Adorno hat die kathartische Methode, also die Herbeiführung einer reinigenden Affekt- und Triebabfuhr, immer für die einzig angemessene und sinnvolle Technik der Psychoanalyse gehalten und damit ihre Weiterentwicklung und Veränderung durch Freud konsequent und ohne die Gründe dafür zur Kenntnis zu nehmen ignoriert. Was Adorno an der Katharsis so sehr anzieht, ist die Vorstellung, dass das Aussprechen der Wahrheit über den erbärmlichen Zustand der Welt gleichsam automatisch eine befreiende Wirkung hat. Insofern die psychoanalytische Therapie den Raum bereitstellt, in dem sich das Leiden unverstellt und ungeschönt zum Ausdruck bringen kann, ist sie für Adorno auf dem richtigen Weg. Ihre befreiende und heilende Wirkung hängt an der Radikalität der Berichte, die in ihr zu Gehör gebracht werden. Adorno erhofft sich die Befreiung durch die reinigende Abfuhr der Affekte, die durch die ungeschönte Vergegenwärtigung der Leiden, die der abscheuliche Zustand der Welt hervorruft, ausgelöst wird. Die kathartische Methode ist damit bei Adorno das therapeutische Pendant zum Märchenmotiv der Umwendung am Pol extremer Negativität. Es ist aber auffällig, dass Adorno damit die Erfahrung abwehrt, die Freud dazu bewogen hat, die kathartische Methode aufzugeben und an ihre Stelle die Technik der freien Assoziation, der Übertragung, des Widerstands und des Durcharbeitens zu setzen – also das, was als das Konzept der genuin psychoanalytischen Therapie zu verstehen ist. Die Erfahrung bestand vor allem darin, dass der therapeutische Erfolg der kathartischen Methode, die Freud im engen Zusammenhang mit Hypnose und Suggestion praktiziert hatte, oft von der persönlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient abhing und deswegen nicht von Dauer war (vgl. Jones 1953: 286ff). Das ist der Grund dafür, dass die Übertragungsanalyse nach und nach zum Kernstück der Therapie wurde. Diese Neubestimmung wird von Adorno heftiger Kritik unterzogen, er hält sie für den Sündenfall der Psychoanalyse, ohne dass er die Gründe für sie wirklich prüft und erörtert. Sein immer wieder erhobener Pauschalvorwurf lautet, dass damit der eilfertigen Anpassung an die schlechte Welt das Wort geredet wird. Die in der psychoanalytischen Therapie für eine kritische Theorie enthaltenen Potentiale, wie sie etwas Klaus Heinrich (1993) herausgearbeitet hat, werden dagegen von Adorno vollkommen übersehen. 343 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zur Fragwürdigkeit der von Adorno idealisierten kathartischen Methode und zu seiner Ablehnung der psychoanalytischen Technik passt es, dass er schließlich bei der Suche nach Auswegen aus den Aporien der Vernunft- und Zivilisationskritik das genuin religiöse Motiv der Erlösung beschwört. Es ist wahr: Erlösung und vollkommene Umwendung kann die Psychoanalyse nicht bieten. Mit weniger aber will sich Adorno nicht begnügen. Am deutlichsten wird diese Haltung, die den absoluten Versöhnungsgedanken und das Postulat des vollendeten Einsseins von Natur und Geist beschwört, im letzten Aphorismus der Minima Moralia (1951a: 333f) zum Ausdruck gebracht: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« In diesen Passagen ist Adorno weitaus religiöser gestimmt als es sonst den Anschein hat. Und natürlich stellt sich sofort die Frage, wer denn hienieden für sich in Anspruch nehmen dürfte, die Dinge so darstellen zu können, wie sie im Lichte der Erlösung erscheinen. Das Einnehmen einer Erlösungsperspektive ist unvermeidlich damit verbunden, dass man von sehr weit außerhalb auf die Welt blickt und dort etwas sieht, was andere nicht sehen. Diesem Eindruck, den auch Adorno selber offenbar mit der Erlösungsidee verbindet, versucht er mit einigen Erläuterungen zu begegnen. Die Erlösungsperspektive soll »ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus« (Adorno 1951a: 334) gewonnen werden können. Damit allerdings erscheint sie dann doch wieder als »das Allereinfachste«, weil »die vollendete Negativität« ihr Gegenteil der Erlösung im Grunde bereits enthält (Adorno 1951a: 334). Adorno nimmt damit den Gedanken der Umwendung am extremen Pol der Entstellung wieder auf, den wir bereits kennengelernt haben. Dann aber deutet er doch noch einmal an, dass Erlösung mehr ist als Umwendung. Sie ist zugleich »das ganz Unmögliche« (Adorno 1951a: 334), weil ja auf Erden nichts »dem Bannkreis des Daseins« (Adorno 1951a: 334) zu entkommen vermag. Damit aber ist sie wiederum nur ein Teil der Negativität, die alles und damit auch die Anstrengung, sie zu überwinden, unvermeidlich entstellt und ihrerseits der Erlösung bedarf. Aus dieser Zwickmühle, aus diesem Bann der Immanenz, gibt es keinen Ausweg. Es bleibt nur, dass sich der Gedanke immer wieder über das eigene Scheitern Rechenschaft ablegt. »Selbst seine eigene Unmöglichkeit muss er noch begreifen um der Möglichkeit willen.« (Adorno 1951a: 334) Damit aber beginnt eigentlich alles nur wieder von vorn in einem unendlichen Kreislauf von Erlösungswunsch und Erlösungsenttäuschung. Über dem unendlichen und ermüdenden Zyklus von Wunsch und Enttäuschung wird, wie Adorno im letzten Satz der Minima Moralia 344 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sagt, »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig« (Adorno 1951a: 334). Diese Auskunft freilich ist allzu nahe an der unbefriedigenden und resignativen Geste, der alles in der Welt eins und gleich nichtig ist und der damit am Ende die Welt selber als das Falsche erscheint, dem man nicht trauen darf.

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Epilog Adorno und Horkheimer in der Bundesrepublik oder: Über die Leerstelle politische Theorie (1) Adorno hält im Wintersemester 1949/1950 in Vertretung von Horkheimer, der sich noch in den USA aufhält, die ersten Lehrveranstaltungen an der Frankfurter Universität ab, ein Seminar über transzendentale Dialektik bei Kant und Hegel, eine Vorlesung zur Grundlegung von Kategorien des bürgerlichen Bewusstseins, insbesondere der aristotelischen Politik. Die Veranstaltungen stoßen auf große Resonanz. Etwa 100 Studenten nehmen an den ersten Sitzungen teil. Adorno ist überrascht und begeistert. In einem Brief vom 12. November 1949 an Horkheimer äußert er sich ganz beglückt über die Bereitschaft und Fähigkeit der Studenten, sich auf äußerst anspruchsvolle philosophische Texte einzulassen (vgl. Adorno/Horkheimer 2005: 320). In einem kleinen Aufsatz, der im Mai 1950 in den Frankfurter Heften erscheint, klingt es allerdings dann schon weitaus vorsichtiger und skeptischer. Zwar schwärmt Adorno noch einmal davon, dass die Studenten eine »leidenschaftliche Teilnahme … an den sachlichen Fragen« an den Tag legen, »die den Lehrer beglücken muß«, und er ist immer noch beeindruckt davon, daß sich die Studenten auf »Unterscheidungen äußerster Subtilität« (Adorno 1950a: 469) einlassen. Aber dann kommt er rasch auf die Kehrseite zu sprechen, nämlich darauf, dass die Formen der Kultur und die Gestalten des Geistes, nach denen sich die Studenten verzehren, im Grunde antiquiert und anachronistisch sind. Adorno wittert im Nachkriegsdeutschland die generelle Gefahr, dass man sich in der angeblichen Größe der eigenen geistigen und kulturellen Tradition einrichtet und über die Zivilisationskatastrophe hinwegrettet. »Sobald das Zurückgebliebene sich verstockt und als das Bessere selbst aufwirft, also gleichsam seine Unschuld verloren hat, nimmt es bereits als handlicher Herzenswärmer ein Element der Unwahrheit an. … Wer heute auf die ewigen Werte der Kultur sich berufen wollte, der wäre schon in Gefahr, eine Art von neuem ›Blut und Boden‹ daraus zu machen.« Die auf den ersten Blick erfreuliche »geistige Leidenschaft« habe in Wirklichkeit nur wenig »mit den eigentlichen Fragen« zu tun, »an denen eine Neuorientierung sich bewähren könnte«. Sie erfüllt vielmehr die Funktion, »das geschehene Grauen und die eigene Verantwortung vergessen zu machen und zu verdrängen. Als isolierter Daseinsbereich, bar einer genauen Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit taugt Kultur dazu, den Rückfall in die Barbarei zu vertuschen.« (Adorno 1950a: 471, 474) Im Grunde, so Adorno, ist die Berufung auf die Kultur ein Alibi. 346 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Epilog

In dieser hellsichtigen Kritik scheint bereits das große Verdienst auf, das sich Adorno mit seinem Werk für die Geistesgeschichte der Bundesrepublik erworben hat. Immer wieder hat er bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1969 die überaus fragwürdigen Traditionsbestände der deutschen Geistes- und Literaturgeschichte seziert und sie der Verwendung als billige Ausrede, die über die große Zivilisationskatastrophe hinweghilft, entzogen. Habermas (1994) hat diesen Aspekt in seiner Besprechung des Briefwechsels zwischen Adorno und Walter Benjamin deutlich benannt und darauf hingewiesen, dass sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen Adorno und Benjamin in den 1930er Jahren im Kern bereits auf die Möglichkeiten und Perspektiven einer Kritik der Moderne bezogen. Schon in dieser Auseinandersetzung erwies sich Adorno als immun gegen jede Art der Verklärung von Ursprung und Tiefe, für die Benjamin anfällig war. Für Adorno ist das Archaische und Mythische, das Benjamin gerne idealisiert, ohne Rest in die historische Entwicklung einbezogen. Deswegen gilt, wie er in den Minima Moralia (1951a: 118) sagt: »Nur Fremdheit ist das Gegengift gegen Entfremdung.« Es ist diese »Kritik des Falschen im Eigenen« (Habermas 1994), mit der Adorno in der intellektuellen Entwicklung der Bundesrepublik so wichtig wird. Adorno steht dafür, dass die Aneignung der geistigen Überlieferung nicht ohne die unnachgiebige Kritik ihrer Fragwürdigkeiten, ihrer eskapistischen und verdrängenden Elemente auskommen kann. Wie kein anderer hat er die Zweideutigkeiten der deutschen geistigen Überlieferungen ans Licht gebracht und zugleich damit dem Umschlag aus den Höhen des Geistes in die Irrationalität einer nicht minder abstrakten und realitätsfern-eskapistischen Kulturkritik den Weg versperrt. Im Blick auf den Antisemitismus formuliert Adorno (1962: 382f) diesen Gesichtspunkt in einem Vortrag sehr einfach und klar: »Der Respekt vor dem sogenannten kulturellen Erbe sollte nicht verwehren, es von nahe zu besehen. Der Antisemitismus ist nicht erst von Hitler von außen her in die deutsche Kultur injiziert worden, sondern diese Kultur war bis dorthinein, wo sie am allerkultiviertesten sich vorkam, eben doch mit antisemitischen Vorurteilen durchsetzt.« Dass Adorno mit dieser deutschen Geistestradition, die er so heftig und hellsichtig in Frage stellt, zugleich aber die Missachtung und Geringschätzung des politischen Handelns teilt, steht auf einem anderen Blatt – und ich werde darauf unten zurückkommen. (2) Ein Mangel an Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die spezifische Dimension des Politischen zeigt sich auch in den Äußerungen von Horkheimer und Adorno, in denen sie das Thema des Antisemitismus nach dem Ende der nationalsozialistischen Barbarei aufgreifen. In ihnen kommt durchgehend eine Tendenz zur Universalisierung des Antisemitismus zum Ausdruck, die fragwürdige Implikationen hat. In der VII. 347 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

These, die 1947 den Elementen des Antisemitismus hinzugefügt wurde und die ich oben bereits ausführlich kommentiert habe, zeigt sich das bereits sehr deutlich. Es gibt zwar nun keine Antisemiten mehr, wie der erste Satz dieser These behauptet, zugleich aber soll die Epoche ganz im Zeichen des Ticketdenkens stehen – und dieses Ticketdenken ist die Gestalt, in der der Antisemitismus zum universalen Prinzip geworden ist. Der Antisemitismus ist kein isoliertes und spezifisches Phänomen, sondern »Teil eines ›Tickets‹, eine Planke in einer Plattform« (Adorno 1962: 361). Damit wird er überall dort »gleichsam automatisch mitgeliefert« (Adorno 1962: 361), wo wir es in der Gesellschaft mit kulturindustriell erzeugten verzerrten Wahrnehmungen und Vorurteilen zu tun haben. In einer Welt, die mehr und mehr von Kräften bestimmt wird, die das Irrationale instrumentalisieren statt es bewusst zu machen und aufzuarbeiten, ist der Antisemitismus nur noch ein Anwendungsfall unter anderen. Mit diesem Gedanken ist die Folgerung verbunden, dass der Kampf gegen den Antisemitismus schon mit der Aufklärung über die manipulativen Techniken der Werbung beginnt. »Der Antisemitismus, könnte man sagen, ist so etwas wie die Ontologie der Reklame. Deshalb, meine ich, muß man sich gegen alles Reklameähnliche wehren.« (Adorno 1962: 367) Das antisemitische Potential lauert in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Adorno entwickelt eine beeindruckende und zugleich bedrückende Meisterschaft darin, noch in den Gewöhnlichkeiten des Alltags den Keim des Schreckens von Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung ausfindig zu machen. Fremdwörter werden zu »Juden der Sprache« (Adorno 1951a: 141), die Beurteilung von Bewerbern bei Stellenbesetzungen, das »Schema aller Administration und ›Personalpolitik‹, tendiert bereits von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf ausschließende Tickets, zum Faschismus« (Adorno 1951a: 171), in den Bewegungen, die die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, »liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen« (Adorno 1951a: 43). Natürlich sieht Adorno den Unterschied zwischen einem wahnhaften Antisemitismus, der zur Staatsräson geworden ist, und der Nachkriegssituation in Deutschland, in dem es zwar nach wie vor Antisemitismus gibt, aber im kulturellen und politischen öffentlichen Raum judenfeindliche Äußerungen und Verhaltensweisen nirgendwo geduldet werden. Adorno spricht deswegen nun vom »Potential« (Adorno 1962: 361) und von der latenten Bereitschaft der Menschen zu autoritätshörigem Verhalten. Auch in den Studien zum autoritären Charakter, die in den USA durchgeführt wurden, mithin in einem Land, das das nationalsozialistische Deutschland in einem verlustreichen Krieg bekämpfte, stand »das potentiell faschistische Individuum« (Adorno 1950: 1) im Mittelpunkt des Interesses – es ging also nicht um Personen, die erklärtermaßen Faschisten waren, sondern solche, »deren Anschauungen verrieten, daß sie 348 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Epilog

den Faschismus bereitwillig akzeptieren würden, falls er sich zu einer starken und respektablen Bewegung entwickeln sollte« (Adorno 1950: 1). Nach 1945 war die Lage in Deutschland ähnlich. Der Antisemitismus erfuhr nun zwar eine pauschale Ächtung, aber er löste sich damit natürlich nicht über Nacht in nichts auf, sondern wurde zunächst nur gleichsam in die Position der Latenz zurückgedrängt. Dadurch entstand das »Phänomen des versteckten Antisemitismus«, ein »Krypto-Antisemitismus«, der eine Funktion der Autorität ist, »die hinter dem Verbot offener antisemitischer Manifestationen steht« und ein »gefährliches Potential« darstellt (Adorno 1962: 363). Nun ist an diesem Sachverhalt gar nicht zu zweifeln. Und er ist der maßgebliche Ausgangspunkt für jede ernsthafte sozialwissenschaftliche Erforschung des Antisemitismus in der Bundesrepublik (vgl. Bergmann/ Erb 1991). Ähnlich verhält es sich mit der Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Antisemitismus, die Adorno von Peter Schönbach (1961), einem Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, übernimmt (vgl. Adorno 1962: 362). Der sekundäre Antisemitismus ist ein Antisemitismus ohne Juden – er hat sich also von konkreten Erfahrungen im Umgang mit den Juden vollkommen abgelöst und ist, wie Adorno gerne sagt, zum »Gerücht über die Juden« (Adorno 1951a: 141; 1962: 363) geworden. Auch schon in den Elementen war die Frage, warum ausgerechnet die Juden den Vernichtungswillen auf sich ziehen, immer wieder aufgetaucht und nicht wirklich befriedigend beantwortet worden. Ich habe das in meinen Kommentaren und Interpretationen ausführlich zu zeigen versucht. Nach dem Krieg und unter dem Vorzeichen der Universalisierung des Antisemitismus erhält die Frage noch einmal eine spezifische Färbung und Dynamik. Auch jetzt aber, unter den Bedingungen der Nachkriegssituation, fehlen Adorno und Horkheimer die Begriffe und Konzepte, mit dieser Frage befriedigend zurechtzukommen. Das kann man schon daran erkennen, dass Adorno eigentümlich schwankt, ob durch die Vorherrschaft des sekundären Antisemitismus die Bekämpfung der Judenfeindschaft eigentlich leichter oder schwieriger ist. Einerseits ist es schwieriger, wie Adorno bei Gelegenheit der Besprechung eines Buches über die Psychologie des Antisemitismus bemerkt: »Die Abhebung des ›sekundären‹, eigentlich schon gar nicht mehr spontanen und darum doppelt unversöhnlichen Antisemitismus vom älteren, noch nicht durchorganisierten ist unbedingt geboten, wenn man nicht dem Grauen von heute allzu harmlose Begriffe entgegensetzen möchte. Die psychologische, ›beseelende‹ Auffassung hat selber, gegenüber dem administrativ durchgeführten Mord, etwas von solcher Harmlosigkeit.« (Adorno ca. 1952: 385) Andererseits erscheint es aber zugleich auch leichter, weil die »Kenntnis der paar unverwüstlichen Propagandatricks« (Adorno 1959a: 27), mit denen sich die Herrschenden die Beherrschten unterwerfen und 349 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

gefügig machen, im Grunde ohne viel Aufwand von allen erworben werden kann. Unbefriedigend sind diese Überlegungen deswegen, weil sie den Unterschied zwischen einer Situation, in der der Antisemitismus zur Staatsräson geworden war, und der Situation, in der es keine Antisemiten mehr gibt, zwar nicht unterschlagen, aber theoretisch und analytisch nicht angemessen in den Blick nehmen und durchdenken. Sicherlich ist der Antisemitismus nicht einfach verschwunden, und sicher gibt es das, was Adorno und Horkheimer als Ticketdenken bezeichnen. Aber zugleich ist es doch auch ganz unzweifelhaft so, dass ohne die totale Herrschaft, die die Vernichtung der Juden zur Staatsräson erklärte, das Unsägliche nicht möglich geworden wäre. Es macht eben einen riesigen Unterschied, ob der Antisemitismus zur Staatsdoktrin eines totalen Staates erhoben wird und eine barbarische Vernichtungspraxis in Gang setzt, oder ob sich der falsche Zustand der Welt darin äußert, dass die Menschen es verlernt haben, leise und behutsam eine Tür zu schließen (vgl. Adorno 1951a: 42). So gut wie in der Beseelung des Antisemitismus eine Verharmlosung stecken mag, wie Adorno in der oben zitierten Passage mutmaßt, so gut steckt eine Verharmlosung auch in der Universalisierung. Das Problem besteht im Kern darin, dass Adorno mit einem institutionslosen Gesellschaftsbegriff arbeitet und damit die Gesellschaft als vorpolitische Größe begreift. (3) In den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik sind Horkheimer und Adorno sowohl einflussreiche und bedeutende Akteure im Bereich der Universitäts-, Bildungs- und Erziehungspolitik wie intellektuell maßgebliche Stichwortgeber in den Selbstverständigungsdebatten seit Ende der 1950er Jahre. Nicht ohne Grund hat man von der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik durch die Frankfurter Schule gesprochen (vgl. Albrecht et al. 1999). Horkheimer ist von Anfang an im Bereich der Universitäts- und Bildungspolitik tätig, Adorno hält sich in den 1950er Jahren eher im Hintergrund, wird dann aber im darauf folgenden Jahrzehnt derjenige, der vor allem für die Fragen der pädagogischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit die zentralen Beiträge liefert. Dass Horkheimer und Adorno in der Bundesrepublik zu Fürsprechern bildungspolitischer und pädagogischer Maßnahmen und Praktiken werden, ist durchaus überraschend. In den Aufsätzen der 1930er Jahre, in denen Horkheimer das Programm der Kritischen Theorie entwickelt, deutet nichts auf eine derartige Perspektive hin. Die Dialektik der Aufklärung, die dann Mitte der 1940er Jahre den großen Richtungswechsel in den theoretischen Überlegungen von Horkheimer und Adorno markiert, rekonstruiert ein zivilisationsgeschichtliches Unheil und macht an keiner einzigen Stelle auch nur das geringste Zugeständnis, dass dagegen eine irgendwie geartete universitäre, erzieherische oder 350 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Epilog

schulische Maßnahme etwas ausrichten könnte. Nun aber, vor allem seit den 1960er Jahren, wartet besonders Adorno mit einer Fülle von kleineren Aufsätzen, Vorträgen und Gesprächen auf, mit denen er rasch zu einer überaus prominenten Autorität im Bereich der pädagogisch-intellektuellen Debatte der Bundesrepublik wird. Die Sammlung von Aufsätzen und Gesprächen mit dem programmatischen Titel Erziehung zur Mündigkeit, die 1970 posthum erscheint, avanciert zum meistverkauften Buch Adornos und erreicht bis 1990 eine Auflage von 100.000 Exemplaren (vgl. Albrecht at al. 1999: 388). Neben den erzieherischen Ratschlägen und Empfehlungen vertritt Adorno aber unbeirrt auch weiterhin die Diagnose, dass die Weltgeschichte im Ganzen einer katastrophalen Tendenz der Verhärtung und Barbarisierung folgt. Dadurch werden die pädagogischen Empfehlungen in ein eigentümliches Licht von Vergeblichkeit und Verzweiflung getaucht. Beide Positionen stehen bei Adorno unvermittelt nebeneinander: Einerseits die zum Teil das Harmlose und Banale streifenden pädagogischen Empfehlungen, andererseits der Hinweis darauf, dass alle erzieherischen Anstrengungen am Ende nichts nutzen werden und vergeblich sind. Paradoxerweise wird die Behauptung, dass man den schlechten Lauf der Welt nicht wirklich stoppen kann und jede weltverändernde Praxis auf lange Zeit verstellt ist, bei Adorno nach dem Krieg zur Begründung dafür, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die in der eigenen Reichweite liegen, und davon abzusehen, ob sie im Großen etwas bewirken. Die »Kräfte, gegen die man angehen muß«, sind »solche des Zuges der Weltgeschichte« (Adorno 1966: 93) und eigentlich übermächtig. Deswegen sind die Versuche, die Wiederkehr von Auschwitz zu verhindern, aber keineswegs obsolet, sondern werden nur »notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt« (Adorno 1966: 94) und müssen sich auf »die Psychologie der Menschen, die so etwas tun« (Adorno 1966: 94), konzentrieren. Die »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1966: 94; 1959a: 27) ist offenbar trotz und wegen der düsteren Weltlage das einzige, was übrigbleibt. In den Studien zum autoritären Charakter und seinen sozialpsychologischen Überlegungen zum Faschismus hat Adorno immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die Sehnsucht nach dem Aufgehen und der Geborgenheit im Kollektiven eine der wirksamsten und bedrohlichsten Sehnsüchte im Seelenleben der Vorurteilsvollen darstellt. Daraus zieht er in seinen Erziehungsprogrammen die Konsequenz, dem individuellen Selbstbewusstsein beizuspringen und die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen zu stärken. Der Antisemitismus ist keine Frage der unzureichenden Information, und deswegen ist es nicht damit getan, die Propagandalügen über die Juden auf der Ebene der Information zurechtzurücken. Vielmehr kommt alles darauf an, die Argumentation auf die Subjekte zu 351 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

beziehen, zu denen man redet. »Ihnen wären die Mechanismen bewußt zu machen, die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch von dessen selbst.« (Adorno 1959a: 27) »Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.« (Adorno 1966: 97) Das klingt durchaus anspruchsvoll, wird aber von Adorno immer wieder auch mit recht einfach anmutenden Maßnahmen verbunden. Um den verbreiteten Klischees gegen die Intellektuellen zu begegnen, die »oft nur leise verschleierte Stereotype des Antisemitismus« sind, sollte man, so empfiehlt Adorno, »bei der Filmindustrie vorstellig werden, daß sie derlei anti-intellektuelle Stereotype wegen jener Implikationen vermeidet« (Adorno 1962: 382). In der Schule sei darauf zu achten, daß sich keine Cliquen bilden und niemand ausgegrenzt wird, denn dieses Phänomen sei »prinzipiell gleich gebaut wie das antisemitische.« Als Gegenmittel wäre es gut, »individuelle Freundschaften zu ermutigen und nicht, wie es sicherlich oft noch in der Schule geschieht, sie zu ironisieren und herabzusetzen« (Adorno 1962: 375). Das sei deswegen so wichtig, weil »Kinder, die besonders zur Bildung solcher Cliquen tendieren, und unter ihnen wieder die Cliquenführer, … vielfach auch zum Antisemitismus neigen« (Adorno 1962: 376). Manchmal scheint die Aufgabe, die Bevölkerungen gegen autoritäre Unterwerfung zu immunisieren und dieses »Projekt politischer Aufklärung« (Adorno 1958: 389) zu realisieren, sogar ganz trivial und eine rein medizinisch-technische Angelegenheit zu sein. Adorno schlägt »mobile Erziehungsgruppen und –kolonnen von Freiwilligen« vor, die »aufs Land fahren und in Diskussionen, Kursen und zusätzlichem Unterricht versuchen, die bedrohlichen Lücken auszufüllen« (Adorno 1966: 99). Er möchte eine Art »Serum für die stets noch Anfälligen« (Adorno 1958: 389) entwickeln, im Sinne einer »Schutzimpfung«, die die Bevölkerung gegen die »paar unverwüstlichen Propagandatricks« (1959a: 27), mit denen die autoritären Regime üblicherweise arbeiten, immunisiert. Wichtig ist für Adorno daneben aber auch, an die unmittelbaren eigenen Interessen der Menschen zu appellieren. Man muss die Vorurteilsvollen darauf hinweisen, so meint er, »wohin das Ganze führt, und was ihnen selber unter einem erneuerten Ganz- oder Halbfaschismus aller Wahrscheinlichkeit nach passieren wird. … Man muß ihnen demonstrieren, daß der gesamte Geist des Antisemitismus, wie es in dem berühmten Zitat heißt, tatsächlich der Sozialismus der dummen Kerle ist, daß er ihnen aufgeschwätzt wird, um sie in Objekte der Manipulation zu verwandeln. … Überzeugt man sie davon, daß sie das Gegenteil dessen erreichen, was sie eigentlich erwarten, dann wäre das ganz fruchtbar.« 352 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Epilog

(Adorno 1962: 380f) Da im Prinzip alle von Verfolgungen bedroht sind, nicht nur die Juden, sondern auch die Intellektuellen oder die Alten oder irgendwelche anderen abweichenden Gruppen, sei es vielleicht tatsächlich das Effektivste, das Interesse der Selbsterhaltung ins Zentrum der Aufklärungsarbeit zu rücken. »Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe.« (Adorno 1966: 109) Vielleicht verfange das nichts bei den Schreibtischtätern und Ideologen, aber bei denen ganz unten, die am Ende immer die Zeche zahlen müssen und als Knechte die Drecksarbeit zu verrichten haben, »läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein weniges unternehmen« (Adorno 1966: 109). Wenn diese Mittel versagen und wenn alle Erziehungsmaßnahmen zu spät kommen, müssen dann nach Adorno auch ganz autoritäre, strenge und unnachgiebige Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Dann sei es geboten, sehr energisch und streng einzuschreiten, ohne Angst und ohne Zögern. »Begegnet man expliziten und fixierten Vorurteilen, so ist auf eine Art Schocktherapie zu vertrauen. Man muß die allerschroffsten Gegenpositionen beziehen. Schock und moralische Kraft gehen dabei zusammen. Schlecht ist das Zurückweichen. … Man muß sowohl im Verhalten wie in der Argumentation darauf achten, daß man nicht das Stereotyp der Schwäche auslöst, das den Vorurteilsvollen zur Hand ist gegen die, welche anderen Sinnes sind als sie selber.« (Adorno 1962: 380) Wohl durchdacht und kohärent wirken alle diese Vorschläge und Überlegungen nicht, und es ist dann kein Wunder, dass Adorno sie seinerseits auch immer wieder durch die Hinweise auf ihre Wirkungslosigkeit selber dementiert. »Die Gefahr ist objektiv; nicht primär in den Menschen gelegen.« (Adorno 1959a: 24) Auch wenn es gelinge, die Menschen zu mehr Selbstbesinnung anzuhalten, »besteht die Gefahr fort«. Denn die Vergangenheit wäre erst dann wirklich aufgearbeitet, »wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« (Adorno 1959a: 29) Und die Ursachen sind nicht subjektiver, sondern objektiver Natur. (4) Im Vergleich zu Adorno, der auf eigentümliche Weise zwischen Allmachtsvorstellungen und Ohnmachtsängsten, zwischen einem Anspruch, der auf die Umwendung des Ganzen zielt, und der ohnmächtigen Wendung auf das Subjektive schwankt, liegt Horkheimers Position durchaus anders und eigentlich näher an einer spezifisch politischen Perspektive. Es fällt auf, dass Horkheimer in den 1950er Jahren weitaus stärker im öffentlichen und politischen Raum der Bundesrepublik präsent ist als Adorno, zugleich aber verhält er sich, was die Frage der von Adorno so genannten Aufarbeitung der Vergangenheit angeht, sehr viel 353 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

defensiver und vorsichtiger. Er warnt sogar expressis verbis davor, in Deutschland zu viel von Antisemitismus und von der Vernichtung der europäischen Juden zu sprechen. Daraus entsteht ihm zufolge nichts wirklich Gutes. Die Schuldfrage und die daran anschließende Rede von der Bewältigung der Vergangenheit sind ihm verdächtig, weil sie eher Ressentiments nähren statt politische Aufklärung zu befördern. Wie Adorno vertritt Horkheimer nach dem Ende des Krieges weiterhin die Überzeugung, dass alle gesellschaftlichen Tendenzen in Richtung einer totalitären Ordnung weisen, in der die Möglichkeiten des Individuums und seine Freiheitsräume eingeengt und abgeschafft werden. Horkheimer malt ein überaus düsteres Bild der weltgeschichtlichen Entwicklungen, seine Prognosen und Erwartungen sind voller Angst und Bitterkeit. Die Bedingungen für die Entstehung und Vorherrschaft von Vorurteilen, so meint er, haben sich nicht verringert, sondern vermehrt, das erneute erfolgreiche Aufleben totalitärer Tendenzen sei jederzeit denkbar, die Macht des Faschismus und seiner Geheimpolizei immer noch virulent, die Möglichkeit eines weltweit beherrschenden Staatenbundes der reaktionären Mächte liege förmlich in der Luft, eigentlich halten die Militärs überall die Macht in ihren Händen, die demokratischen Systeme seien in der ganzen Welt auf das höchste bedroht und, was das reibungslose Funktionieren angeht, ohnedies immer gegenüber den totalitären Regimen im Nachteil (vgl. Horkheimer 1961a: 199; 1962a: 159). Gelegentlich bricht sogar, ähnlich wie im Aufsatz Die Juden und Europa aus dem Jahre 1939, ein Zynismus durch, der auf die Aussage hinausläuft, dass die Welt nichts Besseres als ihren Untergang verdient hat. So hält Horkheimer in einer Notiz vom 22. Mai 1958, zwei Tage nach einer großen Kundgebung der Anti-Atombewegung auf dem Frankfurter Römer, fest: »Als ob es um die Gefährlichkeit der Atome ginge! Wenn sie die Erde verwüsten, hat niemand mehr Kopfweh.« (Horkheimer 1988: 83) Genauso irritierend wie der Inhalt dieser Prognosen und Ahnungen ist die Tatsache, dass sie sich sämtlich nur in privaten und internen Äußerungen finden, nicht jedoch in Horkheimers Veröffentlichungen, Reden und Vorträgen. Und während Adorno neben seine Unheilserwartung ein mehr oder weniger durchdachtes erzieherisches Gegenprogramm der Aufklärung über den Faschismus und seine Bedingungen setzt, verfolgt Horkheimer die Strategie, weder seine Skepsis über den Lauf der Welt noch die barbarische Vergangenheit der Deutschen in der Öffentlichkeit zum Thema zu machen. Seiner Ansicht nach hilft es beim Kampf gegen die autoritären Mächte wie z.B. die Sowjetunion und den ägyptischen bzw. arabischen Nationalisten Nasser nichts, die Schwächen, blinden Flecken und Unzulänglichkeiten der eigenen Gesellschaft zum Thema zu machen. Eine Diskussion über die deutsche Schuld zu führen oder die Frage nach dem Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Vergangenheit und dem Antisemitismus offensiv in die Öffentlichkeit, die Schulen 354 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Epilog

und Universitäten zu tragen, würde, meint Horkheimer, die Deutschen eher kränken und das, man zu bekämpfen vorgebe, nur bestärken. Wer allzu viel über den Antisemitismus rede, tue »ihm wahrscheinlich auch den Gefallen, ihn aufs neue zu erwecken« (Horkheimer 1971: 241). Im Grunde traut Horkheimer dem demokratischen Frieden in der Bundesrepublik ganz und gar nicht. Und sein Verhalten zielt darauf ab, auf keinen Fall dazu beitragen, dass die schlafenden Hunde des Antisemitismus wieder geweckt werden. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Horkheimer eigentlich am Tabu über dem Antisemitismus und dem Beschweigen des Nationalsozialismus kräftig mitwirken möchte. Im Land der Henker und Judenhasser vom Strick zu reden, hält er nicht für einen Akt der Aufklärung, sondern eher für den Ausdruck von Ressentiment (vgl. Albrecht et al.: 387ff). Diese Haltung bestimmt auch Horkheimers Äußerungen zu Fragen der politischen Bildung und des politischen Unterrichts in den Schulen. Statt die Einzigartigkeit der Nazi-Verbrechen zu betonen, was das Selbstbewusstsein der Deutschen eher beschädigen als stärken würde, hält Horkheimer es für angemessener, sie in eine relativierende Beziehung zu anderen Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu stellen. In einem Brief an Klaus von Dohnanyi vom 4. 2. 1963 plädiert er dafür, »daß im Unterricht vom Nazireich so gesprochen werden sollte, daß dem Selbstbewußtsein der Schüler kein Harm geschieht. … Ich halte es für falsch, Schuldgefühle bei Menschen zu wecken, die keine Schuld tragen. Das zeitigt, wie wir wahrlich sehen, Ressentiments.« (zit. nach: Albrecht et al. 1999: 402) Ganz ähnlich argumentiert Horkheimer in einem Brief an Eugen Gerstenmaier vom 10. 6. 1963, der allerdings nicht abgesandt wurde, sondern nur als Durchschlag an den Hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung, Ernst Schütte ging: »Ich halte nicht viel davon, die sogenannte jüngste Vergangenheit auf Kosten der anderen dunklen Perioden der blutigen Geschichte allzu­sehr herauszustellen.« (HGS 18: 551) Und in einem Artikel Bewältigung der Vergangenheit für eine Schülerzeitung schreibt Horkheimer 1967: »Zur Erkenntnis dessen, was im Dritten Reich geschah, bedarf es nicht der kollektiven Schuldbekenntnisse, sondern ehrlicher gesellschaftlich-historischer Aufklärung nicht nur über das Hitlerreich, sondern über Geschichte schlechthin.« Horkheimer zählt dann die Gräuel des Weltlaufs auf und verbindet damit das Lernziel, dass die Schüler die Taktiken der Demagogen zu allen Zeiten analysieren und entlarven können. »Demagogie ist eines der Themen, deren Erörterung nicht nur dem Unheil im eigenen Lande, sondern auch jenseits der Grenzen zumindest in bescheidenem Maß vorzubeugen vermöchte. Dabei geht es um Bewältigung der Zukunft, mehr noch als der Vergangenheit – und nicht zuletzt um ein wahres Selbstbewußtsein, im Gegensatz zur heute sogenannten Bewältigung, die das 355 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Elemente des Antisemitismus

Selbstbewußtsein verletzt.« (zit. nach: Albrecht et al. 1999: 402f; vgl. Horkheimer 1960: 153f) Sehr deutlich legt Horkheimer seine betont defensive Haltung vor allem auch dort an den Tag, wo er Entscheidungen zu treffen hat, die das Institut für Sozialforschung betreffen. Immer wieder ist er darauf bedacht, das Institut nicht zu sehr als Stätte der offensiven Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Deutschen zu exponieren. Um beinahe jeden Preis will er es vermeiden, diejenigen zu verprellen, auf die er für den Bestand des Instituts angewiesen zu sein glaubt. So erscheint im Jahre 1955 die erste empirische Arbeit des Instituts nach seiner Wiedereröffnung in Frankfurt unter dem wenig aussagekräftigen Titel Gruppenexperiment (Pollock 1955). Ihr Inhalt ist eigentlich eher ein Sprengsatz – immerhin zeigt die Studie, dass der Antisemitismus in der Bundesrepublik noch weit verbreitet ist, besonders unter Akademikern und auf dem Land. Ähnlich defensiv geht Horkheimer vor, als der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich Anfang 1953 um die Aufnahme ins Institut bittet. Das Ansinnen stößt bei ihm auf Vorbehalte, weil er Angst hat, wie er in einem Brief vom 16. 2. 1953 an Adorno schreibt, dass Mitscherlichs Zugehörigkeit zum Institut »die offenen Attacken auslösen wird, denen wir bis jetzt entgangen sind. Die Rachsucht der Völkischen ist wahrhaft alttestamentarisch, bis ins dritte und vierte Glied.« (Adorno/Horkheimer 2006: 141) Begründet ist diese Angst darin, dass Mitscherlich gemeinsam mit Fred Mielke den Nürnberger Ärzteprozess dokumentiert und sich damit die vehemente Ablehnung in der deutschen Öffentlichkeit und besonders der Standesvereinigung der deutschen Ärzteschaft eingehandelt hatte. Das defensive Verhaltensmuster wiederholt sich im Brief an Adorno vom 27. September 1958, in dem Horkheimer nachdrücklich für die Entfernung des Adorno-Assistenten Jürgen Habermas aus dem Institut plädiert, weil sich dieser in seinen Veröffentlichungen zu sehr in die Traditionslinie des Marxismus hineingestellt hat und damit nach Horkheimers Auffassung die Existenz des Instituts bedroht. »Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus öffentlichen Mitteln dieser … Gesellschaft lebt, sind unmöglich.« (HGS 18: 448) Und im Dezember 1966, zu Zeiten der Großen Koalition, rät Horkheimer seinem Freund und Mitstreiter Adorno, eine seit langem geplante Kritik des Godesberger Programms der SPD lieber zu unterlassen (vgl. HGS 18: 629ff). Auf dem Hintergrund der biographischen Erfahrungen mag die Angst Horkheimers durchaus verständlich sein. In systematischer und analytischer Sicht ist aber dennoch aufschluss- und folgenreich, dass Horkheimer den Intuitionen und Spekulationen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung, die er immer wieder äußert, nicht nachgeht und sie nicht zum Ausgangspunkt anspruchsvollerer politischer 356 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Überlegungen und Reflexionen macht. Auch bei Horkheimer folgt daraus also nicht die Hinwendung zu den spezifischen Gegenständen und Ebenen politischen Denkens und politischer Theorie. Trotz aller Unterschiede zu Adorno teilt er mit ihm dieses Defizit. (5) An der großen Bedeutung und Resonanz, die Horkheimer und Adorno in der Bundesrepublik, vor allem in den 1960er Jahren erfahren, kann kein Zweifel sein. Ihre Texte und Überlegungen prägen mehrere Studentengenerationen, ihre Mitarbeiter und das interessierte Publikum. Frühere Studenten reiben sich heute gelegentlich verwundert die Augen und fragen sich, was sie vor allem bei Adorno eigentlich so faszinierend fanden (vgl. z.B. Koschorke 2015: 7ff). Im Blick auf das hier behandelte Thema ist die Frage, was an der spezifischen Haltung von Adorno und Horkheimer zum Antisemitismus und zum Nationalsozialismus so attraktiv gewesen ist. Verschiedene Zeugnisse legen die Vermutung nahe, dass die jüngere Generation davon überzeugt war, mit ihrem Unbehagen an ihren Eltern und an der deutschen Gesellschaft bei den Frankfurter Vertretern der Kritischen Theorie ernstgenommen zu werden und dafür eine Sprache zu finden. Von dieser Erfahrung berichtet z.B. Lerke Gravenhorst, die ihr Studium um 1960 herum in Frankfurt begann. Für sie war ausschlaggebend, »daß die Gedanken von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Resonanz boten für genau mein Thema NS«. Die Kritische Theorie, so berichtet sie, bot ihr die Hilfe bei ihrer Auseinandersetzung mit der NaziIdeologie ihres Vaters, die sie so sehr benötigte. Nach eigenem Bekunden hat sie Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, die ­Dialektik der Aufklärung und Minima Moralia »fast wie Versprechungen gelesen, meine Eltern – und besonders meinen Vater –, ihre Unterstützung des NSSystems und meine Beziehungen zu ihnen einmal begreifen zu können«. Glaubwürdig ist die Frankfurter Schule für sie deswegen, weil »Horkheimer und Adorno jüdische Emigranten aus NS-Deutschland waren, die nach 1945 wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren« (Gravenhorst 1990: 375f). Es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass die Erfahrung, von der Gravenhorst berichtet, kein Einzelfall, sondern für die Kriegskindergeneration der Jahrgänge 1938–1948 durchaus typisch ist. Auch der Berliner Verleger Peter Gente, der von Heinz Bude für sein Porträt der 68er-Generation interviewt wurde, nennt als Motiv seiner obsessiven Adorno-Lektüre in den 1960er Jahren, dass Adorno der einzige war, bei dem das Thema des Faschismus und des Antisemitismus überhaupt zur Sprache kam und einen angemessenen Ausdruck fand (vgl. Bude 1995: 219). Die Wendung aufs Subjekt, die Adorno fordert, erwies sich offenbar für die Austragung des Konflikts gegen die Elterngeneration als sehr nützlich, und die Einbeziehung von Geschichte und Gesellschaft, die 357 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Formulierung und Beanspruchung einer großen Theorie, für die Adorno gleichermaßen stand, verlieh dem Lebensgefühl der jungen Generation die nötige radikale Tiefendimension und förderte den Zug ins große Ganze und Prinzipielle. Die Minima Moralia sind für die Mischung aus Konzentration aufs Subjektive, auf die kleinen individuellen Erfahrungen und die gleichzeitige Thematisierung des großen Ganzen von Geschichte und Gesellschaft das zentrale Buch, das von vielen Vertretern dieser Generation geradezu verschlungen und wie ein heiliger Text behandelt wurde (vgl. Bude 1995: 221; vgl. Felsch 2015: 23ff). Verstärkend kommen der tragische Ton und die Haltung der Vergeblichkeit und Ohnmacht hinzu, die bei Adorno immer wieder durchschlagen und offenbar ebenfalls auf große Gegenliebe der jungen Generation in den 1960er Jahren stießen. Eigentlich ist die Prognose des Scheiterns und der Vergeblichkeit nicht sonderlich attraktiv, aber das Besondere bei Adorno besteht darin, dass sie durch ihn eine Art höhere Weihe und heroische Größe erhält. Es ist, wie es in einer berühmten Sentenz der Minima Moralia (Adorno 1951: 67) heißt, eine »fast unlösbare Aufgabe …, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen«, und sicher sind nur sehr wenige dieser Aufgabe gewachsen. Dazu gehört, dass die »Einsamkeit die einzige Gestalt ist«, die Anspruch darauf erheben darf, dem Unmenschlichen standzuhalten (Adorno 1951a: 22). Ausschlaggebend für das attraktive Identifikationsangebot, das die Kritische Theorie für die junge Generation in den 1960er Jahren bedeutete, dürfte aber vor allem der Ort gewesen sein, von dem aus Adorno und Horkheimer im Nachkriegsdeutschland ihre Stimme erheben. Der Anspruch, im Namen der Ermordeten und Verfolgten zu sprechen, verleiht den Vätern der Kritischen Theorie in den 1960er Jahren und weit darüber hinaus eine bei ihren Anhängern unanfechtbare Autorität. Horkheimer und Adorno waren ja selber Verfolgte, und ihre Überlegungen erfahren durch ihre Biographie, durch die erzwungene Emigration und die Zugehörigkeit zum Judentum eine überzeugende Beglaubigung. Sie nehmen damit im Nachkriegsdeutschland eine eigentümliche Zwischenstellung ein: Als Emigranten, die in das Land ihrer Verfolger zurückgekehrt waren, gehören sie zwar zur deutschen Gesellschaft dazu, sind und bleiben in ihr aber doch zugleich auch Fremde. Der Status der Verfolgung und der Fremdheit bei gleichzeitigem Dazugehören verleiht ihnen in den Augen der jungen Generation, die ihrerseits an der eigenen Herkunft leidet und sich verloren, fremd und ausgestoßen fühlt, ein Erkenntnisprivileg und eine besondere Legitimation. Im Umkehrschluss wird die 68er-Generation dann von ihren geistigen Vätern in die Gruppe der Verfolgten und der Juden aufgenommen. Adorno schreibt im November 1968 in einem Brief an Günter Grass: »So genau ich weiß, daß die Studenten eine Scheinrevolte betreiben und das eigene Bewußtsein 358 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Unwirklichkeit ihres Treibens durch ihre Aktionen übertäuben, so genau weiß ich auch, daß sie, und die Intellektuellen überhaupt, auf der Plattform der deutschen Reaktion die Rolle der Juden übernommen haben.« (zit. nach: Kraushaar 1991: 61) So produktiv und bedeutsam es ist, dass Adorno und Horkheimer die Erfahrung des Faschismus zur Sprache bringen und damit die Leere und Verlorenheit der Kriegskindergeneration auffangen, so fragwürdig sind zugleich die Inanspruchnahme der Opferposition und die immer schon vorweggenommene Vergeblichkeit. Dass man in dieser Welt nur scheitern kann und dass derjenige, der nicht scheitert, sich damit a priori verdächtig macht, weil er den Aufstieg nur über Anpassung und Unterwerfung erreichen konnte, ist eine Vereinfachung, die das Scheitern zum Muster und Maß der Dinge erhebt. Diese Denkfigur verklärt die eigene Ohnmacht und macht sie auf ungute Weise verlockend und attraktiv, indem sie sie als Bestätigung der Überzeugung ausgibt, dass die Welt falsch und ungerecht ist und abgelehnt werden muss. Dann ist es nicht mehr so, dass es in der Welt auch Böses und Ungerechtes gibt, sondern dass die Welt selber zum Inbegriff des Bösen wird, von dem wir erlöst werden müssen, und dass sich erst das Ganze ändern muss, bevor sich überhaupt irgendetwas ändern kann. Zugleich markiert dies eine gleichsam archimedische Opferposition, die mit exterritorialer Unangreifbarkeit und einer Aura von Heiligkeit und Radikalität verbunden ist. Auch in der Geste der vorweggenommenen Vergeblichkeit schwingt ein Element der Opferidentifikation mit. So vergeblich jeglicher Widerstand gegen den Nazi-Terror auf der Seite der Juden gewesen ist, so vergeblich ist offenbar der Versuch, nach dem Ende des Terrors in der Bundesrepublik am Lauf der Welt wirklich etwas zu ändern. Auch das Scheitern stellt sich dann noch als ein Akt der Solidarität und Identifikation mit den jüdischen Opfern dar. Und wie schwer es vielen Studenten dann wurde, gegenüber der autoritativen Position von Horkheimer und Adorno eine eigene Stimme und Haltung zu finden, kann man an Texten wie dem von Burkhardt Lindner (1998) sehen, die immer noch im Bann dieser Logik stehen. Zwischen verzweifelter Ohnmacht und dem hoffnungsvollen Wunderund Märchenglauben an das ganz Andere scheint es bei Horkheimer und Adorno etwas Drittes nicht zu geben. Darin besteht unter den hier behandelten Gesichtspunkten der große Mangel ihrer Theorie. Dieses Dritte wäre der Ort, an dem die Frage nach dem Eigensinn, den Möglichkeiten und Grenzen der Politik und des politischen Handelns hätte zur Sprache kommen müssen. So sehr Adorno die Wiederauferstehung einer abstrakten und zur Schmerzbetäubung eingesetzten Kultur kritisiert, bleibt er doch an diesem Punkt ganz und gar der konventionellen Geistes- und Philosophietradition verhaftet, in deren vorherrschender Linie das Politische keine Aufmerksamkeit erhält, sondern geradezu als eine 359 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Angelegenheit der Menge, des Pöbels, der Emporkömmlinge, als minderen Rangs und als schmutziges Geschäft abgewertet und verachtet wird. Das gilt nicht zuletzt für den deutschen Idealismus und für den Marxismus, in deren Tradition sich Horkheimer und Adorno sehen. Hegel und Marx verbindet bei aller Gegensätzlichkeit, dass sie politisches Handeln für vollkommen sekundär halten und durch eine spekulative Geschichtsphilosophie ersetzen. Horkheimer und Adorno sehen das genauso, ergänzen allerdings diese Haltung mit einem negativen geschichtsphilosophischen Vorzeichen. Sie meiden das Terrain des Politischen, sie kümmern sich nicht um die Frage, was politische Ordnung und politische Tugend ist, welche Bedeutung die Öffentlichkeit, das Recht und die Institutionen haben und was eine politisch verstandene Freiheit ist. Sie reihen sich damit in die antipolitische Unterströmung der gesamten philosophischen und insbesondere der deutschen Überlieferung ein. Die rebellische Studentengeneration, die sich so entschlossen gegen die Zustände in ihrem Land stemmt, trifft gerade an diesem Punkt, an dem sie so dringend begriffliche und gedankliche Unterstützung hätte gebrauchen können, auf eine einzige große Leerstelle. Adorno hält politisches Handeln auf lange Sicht für unmöglich. In Engagement, seiner Auseinandersetzung mit Sartre, und an vielen anderen Stellen spricht er expressis verbis von der »Verstelltheit wahrer Politik hier und heute« (Adorno 1962a: 430). Damit begründet er, nicht anders als Platon im Höhlengleichnis, die Hinwendung zu einer Philosophie, die weit außerhalb der realen Weltprobleme die Wahrheit ergründet, um dann, ausgerüstet mit unverstellter Erkenntnis, zu gegebener Zeit der Umwendung der Welt den Weg zu weisen oder sich über sie zu erheben. »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« (Adorno 1966a: 15) Dahinter steht dann aber die Vorstellung politischen Handelns als Weltveränderung in einem absoluten Sinn der Welterlösung. (6) Eine spezifisch politische Theorie hätte die rebellische Studentengeneration der 1968er bei Hannah Arendt finden können. Auch Arendt war durch ihre Biographie beglaubigt, wie Adorno und Horkheimer gehört sie zum Judentum und zum Kreis der Verfolgten und Emigranten. In ihrer Kritik an der Bundesrepublik und deren erschütternder Nachsichtigkeit mit den NS-Verbrechern steht sie den Vorbehalten von Adorno und Horkheimer gegen die deutsche Nachkriegsgesellschaft in nichts nach. Sie legt früh eine der fundiertesten Studien über die Mechanismen totaler Herrschaft vor, mit ihrem Eichmann-Buch löst sie Anfang der 1960er Jahre den ersten großen Streit über die Deutung des Nationalsozialismus aus, sie formuliert eine anspruchsvolle politische Theorie der Freiheit, der Revolution, der Institutionen (vgl. Förster 2009) und des Rechts (vgl. Volk 2010), sie entwirft, indem sie zwischen Arbeiten, 360 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Herstellen und Handeln unterscheidet, eine weit ausgreifende Sozialphilosophie, sie nimmt mit dem Konzept des »Perlentauchens« und des »story-tellings« ein Verhältnis zur Tradition und zur Überlieferung ein, das dem Traditionsbruch des Nationalsozialismus Rechnung trägt, sie bezieht sich in ihren Analysen immer wieder auch auf literarische Texte, die sie nicht als Dekoration oder Illustration versteht, sondern als besondere Art der Explikation dessen, was die Welt ist und was in der Welt geschieht (vgl. Weißpflug 2016). Allerdings war Arendt nicht nach Deutschland zurückgekehrt, sondern in den USA geblieben. Das allein kann jedoch nicht das vollkommene Desinteresse erklären, auf das Arendt bei den deutschen Studenten und Kriegskindern in den 1960er und 1970er Jahren stieß, denn auch Herbert Marcuse hatte es vorgezogen, in den USA zu bleiben, avancierte aber dann trotzdem zu einem der großen theoretischen Väter der Protestbewegung. Für die weitgehende Abwesenheit von Arendt in den intellektuellen Debatten der Zeit dürfte vielmehr ausschlaggebend gewesen sein, dass es bei ihr die tragische Haltung der Vergeblichkeit, die Identifikation und das Einnehmen der Opferposition und die damit verbundene Inanspruchnahme eines exterritorialen Ortes außerhalb nicht gibt. Sie vertritt in all diesen Punkten das Gegenteil: Sie begegnet dem Nazi-Verbrecher Eichmann mit einer Art von lachendem Mut, der ihr von ihrem Freund Gershom Scholem den Vorwurf einbringt, dass es ihr an Liebe zum jüdischen Volk und an Respekt für die jüdischen Opfern fehlt. Sie hält generell das Lachen und die Haltung der Unerschrockenheit für eine durchaus angemessene und zugleich befreiende Reaktion auf die Zumutungen in der Welt (vgl. Weißpflug 2016: 131ff). Sie spricht nicht im Namen der Opfer und Verfolgten, die zwar selbstverständlich allen Schutz und alle Unterstützung verdienen, denen aber nicht von vornherein ein privilegierter Zugang zur Wahrheit zukommt. Nicht minder suspekt ist ihr die Position des absolut Guten, die immer in der Gefahr steht, in Gewalt umzuschlagen. Die Sehnsucht nach einer jenseitigen Erlösungsposition hält sie für eine anmaßende, irreführende und ganz und gar antipolitische Haltung, die allerdings ihrer Ansicht nach in weiten Teilen den Gang der abendländischen Philosophiegeschichte bestimmt hat. Im Unterschied zu den in dieser philosophischen Tradition vertretenen Wahrheitsansprüchen zieht sie es vor, von den Phänomenen und Gegenständen aus zu denken. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, die eigene Ohnmacht und die Macht der anderen als Ausweis eigener Wahrheit zu verstehen. Auch der Wunsch, sich eines mächtigen historischen Wärmestroms zu versichern, der am Ende die Arbeiterklasse, die Ausgebeuteten und Entrechteten zu ihrem Ausdruck und zu ihrem Recht bringen wird, findet bei Arendt keine Nahrung. Es sollte bis in die 1980er Jahren hinein dauern, bevor diese Art des spezifisch politischen Denkens in der 361 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Bundesrepublik auf eine breitere Resonanz traf, den Horizont der theoretischen Diskussionen veränderte und um neue Perspektiven ergänzte.

362 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Elemente des Antisemitismus

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Elemente des Antisemitismus

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Personenregister Nicht im Register enthalten sind die Namen Adorno und Horkheimer und die Personen, die im oben abgedruckten Text der Elemente vorkommen.

Abromeit, John 15 Ahlwardt, Hermann 178 Albrecht, Clemens 14, 350f., 355, 356 Arendt, Hannah 10, 65, 177, 207, 243, 267, 312, 316–318, 360f. Aristoteles 122, 258, 276 Aron, Raymond 281 Bacon, Francis 261, 321f. Barth, Karl 116 Bataille, Georges 277 Bates, Henry Walter 276 Bauks, Michaela 110 Becker, Andreas 276 Bein, Alex 92 Benjamin, Walter 136, 199, 207, 220, 225, 233f., 240, 243f., 275, 277–281, 286, 290, 302, 320, 329f., 336, 339, 341, 347 Berding, Helmut 19 Bergmann, Werner 19, 176, 349 Beyrau, Dietrich 81 Bismarck, Otto von 228 Bittner, Rüdiger 328 Bonß, Wolfgang 15 Bourdieu, Pierre 107 Bovenschen, Silvia 302 Bransen, Jan 61 Browning, Christopher 177 Brumlik, Micha 18 Bude, Heinz 357f.

Cahn, Michael 18 Caillois, Roger 209, 277–281, 284, 286, 288–290 Chaplin, Charlie 292 Chmelnizki, Bogdan 70 Claussen, Detlev 19 Coughlin, Charles Edward 137 Cramer, Erich 17 Darwin, Charles 276 Deutscher, Isaac 312 Dilthey, Wilhelm 233 Diner, Dan 18, 221, 228, 245 Dohnanyi, Klaus von 355 Dostojewskij, Fjodor 170 Dubet, Francois 69, 81, 101f. Dubiel, Helmut 15f., 228, 285, 305 Durkheim, Émile 260, 270, 277 Eichmann, Adolf 10, 89, 177, 318, 361 Engels, Friedrich 58, 265f. Erb, Rainer 349 Felsch, Philipp 358 Fetscher, Iring 75 Fichte, Johann Gottlieb 85f. Flowerman, Samuel H. 19 Förster, Jürgen 7, 360 Foucault, Michel 247 Frenkel-Brunswik, Else 314 Freud, Sigmund 69, 78f., 84, 93, 123, 127f., 134, 156–158, 166, 170f., 184, 207f., 214, 217f., 232f., 238, 241, 244f., 248f., 254f., 257, 270f., 279, 284–287, 293, 308, 310, 322, 342f. Friedländer, Saul 212 Fries, Hent De 17 Fromm, Erich 320 Früchtl, Josef 18, 277

377 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Personenregister

Gangl, Manfred 16f., 72, 222 Gellner, Ernest 107 Gennep, Arnold van 78 Gente, Peter 357 Gerstenmaier, Eugen 355 Goebbels, Joseph 137, 292 Goebel, Eckart 302 Goethe, Johann Wolfgang von 92 Görtzen, René 14 Grass, Günter 358 Gravenhorst, Lerke 357 Greive, Hermann 19 Greven, Michael Th. 75 Gurland, Arkadij 200 Habermas, Jürgen 15, 203, 217, 321, 326–328, 347, 356 Haecker, Theodor 335 Haumann, Heiko 71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 87, 115, 162, 199, 205, 254, 262–264, 330, 346, 360 Heinrich, Klaus 15, 322, 343 Helmholtz, Hermann von 148 Hersche, Otmar 271 Hessing, Jakob 71 Himmler, Heinrich 191 Hitler, Adolf 136, 161, 208, 214f., 228, 292, 312, 329, 347 Homer 200, 258, 267 Honneth, Axel 15, 249 Hubert, Henri 281 Jäger, Lorenz 14, 206, 218, 316 Jahoda, Marie 69f. Jay, Martin 15–17 Jochmann, Werner 19 Jones, Ernest 343 Jung, Carl Gustav 277, 279 Kant, Immanuel 85, 87–89, 124f., 146, 148, 182, 256, 259–261, 263f., 287, 302, 323, 330, 335, 346, 352 Kierkegaard, Sören 116

Kirchheimer, Otto 200 Klages, Ludwig 277 Klärner, Diemut 146 Köhler, Wolfgang 148 König, Helmut 86, 112, 248, 338 Körte, Mona 92 Koschorke, Albrecht 357 Kracauer, Siegfried 207 Kraushaar, Wolfgang 359 Kronawetter, Ferdinand 100 Kunnemann, Harry 17 Kunze, Hermann 178 Lamarck, Jean-Baptiste de 128 Laski, Harold 210 Lazarsfeld, Paul 69f. Le Bon, Gustav 270 Leibniz, Gottfried Wilhelm 162 Leiris, Michel 277 Lessing, Gotthold Ephraim 116, 173 Levinson, Daniel J. 314 Lindner, Burkhardt 359 Löwenthal, Leo 199f., 203, 207, 212, 220, 309 Maier, Joseph 207 Marcuse, Herbert 14, 211, 309, 361 Marx, Karl 58, 85f., 90, 100f., 185, 193, 214f., 221, 223f., 231, 245, 254, 257, 260, 262–266, 283, 285, 329f., 360 Massing, Paul W. 19, 178, 200 Mauss, Marcel 281 Mayer, Hans 92 McCarthy, Mary 318 Mead, Margaret 219 Mielke, Fred 356 Mitscherlich, Alexander 356 Müller, Friedrich Max 110 Müller-Doohm, Stefan 14, 205 Mussolini, Benito 137, 292 Nasser, Gamal Abdel 354

378 https://doi.org/10.5771/9783845280998 Generiert durch Universität Siegen, am 27.03.2020, 22:16:08. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Personenregister

Neumann, Franz 99, 225f. Nietzsche, Friedrich 87, 123, 205, 214, 232, 238, 245–249, 309, 322f. Parmenides 267 Pascal, Blaise 116 Pollock, Friedrich 14, 200, 211, 222, 234, 356 Platon 122, 258, 276, 307, 360 Plug, Jan 18 Proudhon, Pierre-Joseph 264 Rabinbach, Anson 18, 202, 282 Rantis, Konstantinos 17 Raulet, Gérard 17 Reemtsma, Jan Philipp 15, 17 Reijen, Willem van 17, 61 Rensmann, Lars 17, 317 Rousseau, Jean-Jacques 248 Rürup, Reinhard 19, 100 Russel, Bertrand 267 Ryklin, Michail 329 Saar, Martin 247 Sade, Marquis de 258, 322f. Salzborn, Samuel 19 Sanford, R. Nevitt 314 Sartre, Jean-Paul 316, 360 Schalamow, Warlam 10 Schiller, Friedrich 287 Schlesier, Renate 286 Schmidt, Alfred 202, 252 Schmid Noerr, Gunzelin 17, 72, 202f., 207, 218 Schnädelbach, Herbert 247f. Schneider, Christian 342 Schönbach, Peter 349 Schönberg, Arnold 241 Scholem, Gershom 225, 236, 316, 361 Schopenhauer, Arthur 148 Schreber, Daniel Paul 156 Schütte, Ernst 355 Schultz, Karla L. 18

Schulze Wessel, Julia 317 Seymour, David 315 Shakespeare, William 100 Sighele, Scipio 270 Silberer, Edmund 99 Simmel, Ernst 175, 207 Smith, Adam 68, 101 Söllner, Alfons 16, 228, 285, 305 Spengler, Oswald 243 Stalin, Josef 329 Stockhammer, Robert 92 Swammerdam, Jan 253 Tarde, Gabriel 270 Thieme, Karl 202 Thomas, Ambroise 92 Thyen, Anke 288 Tiedemann, Rolf 203, 275 Tillich, Paul 114, 331f. Toepfer, Georg 277, 288 Traverso, Enzo 19, 207 Varnhagen, Rahel 65 Veblen, Thorstein 243 Volk, Christian 360 Wagner, Richard 109, 118, 244 Walzer, Michael 112 Weber, Max 252–255, 259 Weißpflug, Maike 7, 361 Wertheimer, Max 148 Werz, Michael 218 Wetzel, Michael 93 Wheatland, Thomas 17 Wiggershaus, Rolf 14, 16, 200f., 205–207, 210, 212f., 219, 240, 312 Wilson, Michael 16 Zeisel, Hans 69f. Ziege, Eva-Maria 17f., 176, 200f., 207

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