Ekstatischer Pietismus: Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682-1743)
 9783666558313, 3525558317, 9783525558317

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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus

Herausgegeben von Martin Brecht, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader

Band 46

Vandenhoeck & Ruprecht

Isabelle Noth

Ekstatischer Pietismus Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743)

Mit 3 Abbildungen und 2 Karten

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Ulrich und Salome, Hannes, Christine und Magdalena Luz in Dankbarkeit

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-55831-7 Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Umschlagabbildung: Die Ronneburg, Zeichnung von Joseph Prestele um 1850 (Museum of Amana History in Amana, Iowa [USA]) © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

»Herodot sah in den Geschichtsschreibern die Wächter der Erinnerung und verstand darunter das Gedächtnis rühmenswerter Taten. Ich sehe im Historiker lieber den Wächter beunruhigender Fakten, den Wächter der Anomalien im Gehäuse des sozialen Gedächtnisses.« (Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth [Hg.], Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, 289–304, hier 301f.)

»Jhr könt die Narren doch ja sonsten wol vertragen: Warum dann diese nicht / die euch die Wahrheit sagen [. . .]?« (Eberhard Ludwig Gruber, J. J. J. Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen INSPIRATION [. . .], o. O. 1716, 2)

Vorwort

Vorwort

Vorwort Die vorliegende um weiteres Quellenmaterial ergänzte und zum Druck überarbeitete Untersuchung wurde im Wintersemester 2003 von der Christkatholisch- und Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen. Ich danke meinem Vorgesetzten Prof. Dr. Rudolf Dellsperger, der mich zu Beginn meiner Assistenzzeit am Institut für Historische Theologie auf die Inspirationsgemeinden und Ursula Meyer erstmals aufmerksam gemacht und mir verschiedene Archivreisen in Deutschland und Studienaufenthalte in Marburg ermöglicht hat. Besonders danken möchte ich auch Prof. Dr. Hans Schneider, der diese Arbeit als ausgewiesener Spezialist auf dem Gebiet des radikalen Pietismus stets ermutigend begleitet und als Korreferent begutachtet hat. Mit ihrem wertvollen Rat zur Seite gestanden haben mir Pfrn. Angela Römer, Prof. Dr. Benedikt Bietenhard, Dr. Johannes Burkardt, Prof. Dr. Martin George, Prof. Dr. E. Axel Knauf, Prof. Dr. Karénina Kollmar-Paulenz, Peter Küffer, Pfrn. Astrid Maeder, Prof. Dr. Dr. Christoph Morgenthaler, Pfr. Markus Schärer, Prof. Dr. Hans-Jürgen Schrader, Prof. Dr. Silvia Schroer und Berchtold Weber. Ich danke dem Frauenfonds des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds und den Reformierten Kirchen Bern–Jura–Solothurn, die mir nach der Pfarramtszeit mit einem Promotionsstipendium weiterhalfen, bevor ich ab dem Wintersemester 1999 als Assistentin an der Universität Bern tätig sein konnte, und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, insbesondere den Herausgebern der Reihe Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Für Druckkostenzuschüsse danke ich dem Schweizerischen Nationalfonds, den Reformierten Kirchen Bern–Jura–Solothurn, der Burgergemeinde Bern und der Burgergemeinde Thun. Wem ich mich seit zwei Jahrzehnten herzlich verbunden fühle und wer mit beharrlicher Zuversicht das Zustandekommen dieser Untersuchung maßgeblich befördert hat, sagt die Widmung. Bern, im Herbst 2004

Isabelle Noth

Inhalt

Inhalt

Einleitung

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13

1. 2. 3. 4.

Thema und Methode Begriffsklärung . . . Forschungsstand . . . Quellenbasis . . . .

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13 21 25 34

I.

Biografische Grundlegung: Die ersten dreißig Lebensjahre Ursula Meyers in der Schweiz (1682–ca. 1711/12) . . . . . . . . . . .

38

1. 2. 3. 4.

Thun (1682–1686) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bern (1686–ca. 1700/02) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thun (ca. 1700/02–ca. 1711/12) . . . . . . . . . . . . . . . . Die frühe pietistische Bewegung in Bern und im Berner Oberland 4.1 Der Brief Samuel Schumachers an August Hermann Francke vom 22. März 1695 und die Anfänge des Pietismus in Bern – eine Quellenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der weitere Verlauf der pietistischen Bewegung und der Versuch ihrer Unterdrückung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Pietistische Zirkel im Berner Oberland . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 45 48 54

71 76 81

II. Entstehung und Blütezeit der »wahren Inspirations-Gemeinden« (1714–1719) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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57

1. Religionspolitischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1.1 Gewissensfreiheit im Ysenburgischen und das Büdinger Toleranzpatent vom 29. März 1712 . . . . . . . . . . . . . 84 1.2 Cevennenprophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1.2.1 Ursprung der Cevennenprophetie . . . . . . . . . . . 92 1.2.2 Missionarische Erfolge der Inspirés in Deutschland und Auseinandersetzungen im Halle August Hermann Franckes 96 2. Die Blütezeit: 1714–1719 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.1 Die Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse von 1715 . 102 2.2 Organisation und Ausbau der »wahren InspirationsGemeinden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

10

Inhalt

III. Vom Prophetenwort zu den gedruckten Inspirationssammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Zum Verlauf der Aussprachen und ihren Erscheinungsformen . . 1.1 Zwei Augenzeugenberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Bericht aus dem Nachlass von Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Bericht des Pfarrers Konrad Schlierbach von Dodenau (1658–1731) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Inspirations-Ekstase aus der Sicht der Inspirierten . . . . 2. (Religions-)Psychologische Deutungen zum Entstehen der Bewegungen und Aussprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die schriftliche Aufzeichnung der Aussprachen und ihre Veröffentlichung im Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 116 116 122 126 134 145

IV. Textanalyse: J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .] . . . . . . . 155 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Liste der Aussprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Itinerar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Thematische Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Das »Feuer des Zorns« und das »Meer der Liebe« oder: Das Tausendjährige Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Jesus Christus oder: Die ewige Liebe . . . . . . . . . . . 4.2.1 Jesus Christus als Wiederbringer . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Jesus-Liebe: Aussprache Nr. 1 . . . . . . . . . . 4.2.3 Vertiefung der Jesus-Liebe zur erotischen Christusund Brautmystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Christus in nobis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Laodiceische Kirche oder: »sectirische Wälle und Mauern« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die »Werkzeuge« als Propheten und die Lehre vom inneren Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ergebnis und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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155 158 161 161 182 185 186 187 210

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214 233 233 236

. 245 . 249 . 253 . 259 . 264

Inhalt

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V. Die Drucklegung des Himmlischen Abendscheins 1781 im Kontext der Geschichte der Inspirationsgemeinden . . . . . . . . . . . . 271 1. Abriss der Geschichte der Inspirationsgemeinden von 1720–1749 . 1.1 Zeit des Übergangs: 1720–1728/29 . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Auseinandersetzung mit den Herrnhutern und ihre Folgen: 1730–1749 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Zinzendorf und Rock in der Wetterau . . . . . . . . . 1.2.2 Aufnahme der Edition der EXTRACTA . . . . . . . . 1.2.3 Intensivierung der Missionstätigkeit im Bernerland . . . 1.3 Auszug aus einem Brief Ursula Meyers an eine unbekannte Schwester vom 13. Februar 1738 . . . . . . . . . . . . . . 2. Abriss der Geschichte der Inspirationsgemeinden ab 1750 und die Drucklegung des Himmlischen Abendscheins . . . . . . . . . . . 2.1 Die Gemeindehistoriographien von 1772 und 1776 . . . . . 2.2 Das Berner Oberland im Spannungsfeld konkurrierenden Wettstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Heimberger oder Oberländer Brüder . . . . . . . 2.2.2 Die Herrnhuter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Himmlische Abendschein im Dienst radikalpietistischer Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272 273 286 286 290 292 296 302 303 307 308 312 316

Rückschau und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

Anhang Briefe 1. Briefwechsel zwischen Samuel von Rodt und Niklaus von Rodt, 1699 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Samuel von Rodt an seinen Bruder Niklaus von Rodt, 20. Juni 1699 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Niklaus von Rodt an seinen Bruder Samuel von Rodt, Juli 1699 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey, 23. September 1715 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Brief des Dr. Johann Jakob Reich an Nicolay Bartmann, 25. März 1718 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Brief des Nicolay Bartmann an Johann Friedrich Rock, 1718

323 323 324 331 340 342

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Inhalt

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . 1. Handschriftliche Quellen . . . . . . . . . . . . . 2. Gedruckte Quellen und andere Literatur . . . . . a) Drucke der Inspirierten im 18./19. Jahrhundert b) Weitere Quellen und Sekundärliteratur . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Einleitung

Einleitung 1. Thema und Methode In der überarbeiteten deutschen Ausgabe von William James’ Klassiker The Varieties of Religious Experience (1901/02) beschreibt Peter Sloterdijk die tiefe, in seiner amerikanischen Herkunft begründete Abneigung James’ »gegen das alteuropäische Absolute«.1 Dieses »pferche alles Leben in den Käfig des Einen.«2 Die immense Vielfalt religiöser Erfahrungen und Erscheinungen lasse sich jedoch nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie erfordere methodisch vielmehr einen »Weitwinkel-Empirismus« und verpflichte zu einer offenen, respektvollen Haltung. Das »Gebot des empiristischen Anstands« bedinge aber – so Sloterdijk – »eine gewisse Tapferkeit vor dem Ungewöhnlichen, eine Bereitschaft, vor dem Seltenen, dem Exzessiven, dem Pathologischen auszuhalten.«3 Genau darum bemühe ich mich in der vorliegenden Untersuchung: mit Respekt auszuhalten vor einer spezifischen oppositionellen Gruppierung aus der europäischen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts, die sich selber als die »wahren Inspirations-Gemeinden«4 bezeichnete, zum »bunten Völkchen von Phantasten und skurrilen Sonderlingen«5 aus dem Kreise des radikalen Pietismus zählte und heute in der so genannten »Amana Church Society« im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Fortsetzung findet.6 Die bewusste Verwendung des Begriffs Kirchenge1 Peter Sloterdijk, Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt im Anschluß an einige Motive bei William James, in: William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers. v. Eilert Herms u. Christian Stahlhut, Frankfurt a. M./Leipzig 1997, 11–34, hier 25. Die bibliografischen Angaben erfolgen nur bei der erstmaligen Nennung vollständig. Für sämtliche Angaben sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. den Titel des ersten Bandes aus dem Jahre 1736 der insgesamt 42 sog. EXTRACTA bzw. Sammlungen umfassenden Hauptquelle zur Geschichte der Inspirationsgemeinden: J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen DIARIO, Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinden im Isenburgischen / dé Anno 1733 & 1735. Auf Verlangen guter Freunden / und aus besondern Ursachen herausgegeben, Von einem Liebhaber der Wahrheit. [. . .], o. O. 1736; Hans Schneider, Art. Inspirationsgemeinden, in: RGG4 4 (2001), 175. 5 Hans Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, in: PuN 8 (1982), 15–42, hier 15. 6 Vgl. Bertha M. H. Shambaugh, Amana That Was and Amana That Is, Iowa City 1932 (Reprint: New York 1976); Diane L. Barthel, Amana. From Pietist Sect to American Community, Lincoln, Neb./London 1984; Jonathan G. Andelson, Art. Amana Society, in: RGG4 1 (1998), 387.

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Einleitung

schichte soll kenntlich machen, dass die Beschäftigung mit dem Radikalpietismus7 im allgemeinen und den Inspirationsgemeinden im besonderen trotz ihrer außer- bzw. gegenkirchlichen Verortung zur Aufgabe der Kirchengeschichte zu rechnen ist. Der Grund dafür liegt in ihrer expliziten Beteiligung am Widerstreit um die Definitionsmacht über das Christliche.8 Als sich der ehemalige Berner Theologiestudent Nikolaus Tscheer (1682–1748),9 der seine Heimatstadt nach dem Aufsehen erregenden Pietistenprozess 1699 freiwillig verlassen hatte, im Jahre 1718 brieflich an seine Schweizer Freunde wandte, um sie über den gegenwärtigen »Zustand der Pietistischen Gemeinden in Teutschland« in Kenntnis zu setzen, unterschied er »drey Haubt-parteyen«.10 Vor der »Societat [sic] von H. Gichtel, und Überfeld«11 und den »Schwartzenauwischen Wieder Täuffer[n]«12 führte er als erste Partei die so genannten »Inspirierte[n]«13 auf. Sie seien es, die »die meiste Unruh und lärmen in der Welt machen« und »in großem eiffer und Feuer-Trieb, stätt und länder durchlauffen, verkündigen gottes gericht, vermahnen die Menschen zur Buß, ruffen nun neue oeconomias14 deß H[eiligen] gäists auff [sic], und wann man’s endtlich recht grundlich einsieht, so bestehet ihr gantzes werck in einigen seltsammen gebärden, und krafftlosen Wortten«.15 7 Zur Terminologie vgl. unten S. 21ff.: 2. Begriffsklärung. 8 Damit nehme ich Albrecht Beutels Definition auf, der in der »Inanspruchnahme des Christlichen« das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zum Aufgabengebiet der Kirchengeschichte sieht. Ders., Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: ZThK 94 (1997), 84–110, hier 88. 9 Zur »hochinteressante[n] Gestalt« Nikolaus Tscheer, der 1718 eine beachtenswerte BöhmeAnthologie herausgab, vgl. Rudolf Dellsperger, Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien (AGP 22), Göttingen 1984, 123–129, hier v. a. 126 (Anm. 31); Johannes Burkardt/Michael Knieriem, Vier Briefe Gerhard Tersteegens an die Gräfin Hedwig Sophie zu Sayn-WittgensteinBerleburg aus den Jahren 1733–1737, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 96 (2001), 105–120, hier 109; Michael Knieriem/Johannes Burkardt, Die Gesellschaft der Kindheit JesuGenossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742, Hannover 2002, 46 (Anm. 43). 10 Die Edition einer Kopie dieses Briefes besorgte Ulrich Bister, Nicolaus Tscheer – Briefe und andere Vermächtnisse, in: Reiner Braun/Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit, FS Gustav Adolf Benrath (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 6. Sonderveröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Ev. Landeskirche in Baden, Bd. 2), Darmstadt/Kassel 2001, 89–101, hier 93–98. 11 Ebd., 96. Zum Spiritualisten und Böhmeschüler Johann Georg Gichtel (1638–1710) vgl. Gertraud Zaepernick, Art. Gichtel, Johann Georg, in: RGG4 3 (2000), 924. Zum Gichtelschüler Johann Wilhelm Überfeld (†1732) vgl. Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, Reg. 12 Bister, Tscheer, 97. Zu dieser weiteren radikalpietistischen Gruppierung vgl. Kap. II.1.1. 13 Ebd., 94. 14 Der Terminus »oeconomia« hat eine längere Traditionsgeschichte und bezeichnet im Radikalpietismus allgemein einzelne heilsgeschichtliche Phasen. Vgl. unten S. 223. 15 Ebd., 94.

Einleitung

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Dass die Inspirierten16 mit ihrem ausgeprägten Sendungsbewusstsein, mit ihren Missionsreisen, die sie durch halb Europa führten, und vor allem mit ihren in ekstatischem Zustand hervorgestoßenen so genannten »Aussprachen«17 sehr großes Aufsehen erregten, wird vom Befund der Quellen gestützt. Dass die Worte der Inspirierten hingegen kraftlos gewesen seien, wie Nikolaus Tscheer sie seinen Freunden beschrieb, wird von folgender Erwähnung einer Begegnung des Hauptpropheten der Inspirierten namens Johann Friedrich Rock (1678–1749)18 mit dem von ihm als Falschpropheten verurteilten Johann Tennhardt (1661–1720)19 und besagtem Tscheer im Juli 1718 in Frankfurt am Main in Frage gestellt: Im Haus des bekannten Kaufmanns und Rats Reineck20 hielt Rock abends eine inspirativ empfangene Rede, die sich gegen die beiden Genannten richtete. Es sei die »heimliche Absicht(en) ihres Daseyns, Brüder stinckend= und unter einander irr zu machen.«21 Während Tennhardt zu widersprechen versuchte, verliess Tscheer der Schilderung der Inspirierten zufolge mitten in der Aussprache fluchtartig das Haus und liess sogar die Türe offen.22 Schon in seinem bisher unbekannt gebliebenen Schreiben an gute Freunde in Schwartzenau in puncto Inspirationis23 äußerte sich Tscheer über die Inspirierten und meinte, dass deren Phänomene ihn weder erstaunten, noch ihm neu seien. Er hätte sie an sich selbst schon vor Jahren kennen gelernt, ohne sie als für seine Heiligung förderlich erlebt zu haben:

16 Der Ausdruck »Inspirierte« ist nur im engeren Sinn eine schon in den zeitgenössischen Quellen für die Mitglieder der Sondergruppe der Inspirationsgemeinden gebräuchliche spezifizierende Bezeichnung; im weiteren Sinn umfasst er alle historischen Subjekte, die den Anspruch erhoben, über die Gabe geistgewirkter Rede zu verfügen. Für die franz. Vorläufer der Inspirationsgemeinden verwende ich den Begriff »Inspirés«. 17 Ich schließe mich der in der Forschungsliteratur üblichen Terminologie an und verwende die Bezeichnungen »Aussprache« und »Inspirationsrede« bzw. »inspirierte Rede« synonym. 18 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Art. Rock, Johann Friedrich, in: BBKL 8 (1994), 458–462. 19 Zum prophetischen Einzelgänger Johann Tennhardt vgl. Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Geschichte des Pietismus 2, 107–197, hier 139–141; Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten (Palaestra 297), Göttingen 1995, Reg. (v. a. 74–81). 20 Vgl. unten S. 163 (Anm. 46). 21 XVII. Sammlung (1776), 173. 22 Vgl. J. J. J. Wohl und Weh [. . .], o. O. 1719, 210f. Noch über zwanzig Jahre später, am 5.4.1742, wetterte Rock erneut in einer Aussprache gegen den »so falschen Eiferer Tennhard«. XLI. Sammlung (1788), 66f. 23 Nach Ulrich Bister konnten bisher »insgesamt fünf Briefe/Briefauszüge des Nikolaus Tscheer [. . .] ermittelt werden« (Bister, Tscheer, 91). Diesen aus den Jahren 1699, 1718, 1736 und 1737 stammenden Briefen bzw. Briefabschriften kann oben genanntes undatiertes Schreiben hinzugefügt werden, auf das ich in Form eines Briefauszugs in der Forschungsbibliothek Gotha gestoßen bin [Sign.: Chart. A 304, Bl. 717–723].

16

Einleitung

»Liebe freunde! Von denen heutigen bewegungen24 habe vieles gehöret und verwundere mich darüber gar nicht. Ich habe dergleichen vor 14 jahren selbst gehabt, bin aber dadurch in der heiligung wenig avanciret.«25

Tscheer hatte – vermutlich um die Jahreswende von 1699 auf 1700 im Zusammenhang der Ereignisse um Hochmann von Hochenau (1669/70–1721),26 in dessen Nähe er sich aufhielt – selber schon ekstatische Erlebnisse.27 Auch manche spätere Inspirierte berichteten von früheren ekstatischen Erfahrungen.28 Doch wer waren diese Leute, die gegen Johann Tennhardt auftraten und Nikolaus Tscheer mit ihren Aussprachen in die Flucht schlugen? Die neue religiöse Gemeinschaft der Inspirierten hatte ihre Wurzeln in der Cevennenprophetie in Südostfrankreich, die mit der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und den daran anschließenden brutalen Verfolgungen und Zwangsbekehrungen in innerer Verbindung stand. Ekstatische Prophetinnen und Propheten, die neben den Vernichtungsbemühungen von Seiten des Katholizismus geradezu »das Ende des Protestantismus in Frankreich«29 hätten mitverschulden können, zogen bußpredigend über England und die Niederlande nach Deutschland und lösten hier 1714 eine regelrechte Inspirationswelle aus, die als endzeitliche Geistausgießung (vgl. Joel 3,1) interpretiert wurde. Stammlande der neuen Propheten wurden die beiden reformierten Grafschaften Ysenburg und Wittgenstein, die für ihre tolerante Religionspolitik bereits bekannt waren. Hier fanden die Ankömmlinge vor allem unter den dort ansässigen, verstreut lebenden radikalen Pietisten und erweckten Separatisten Anhänger. Ihre ekstatischen Erscheinungen – insbesondere ihre im tranceähnlichen Zustand ausgestoßenen Inspirationsreden mit der Ankündigung des nahe bevorstehenden Millenniums und dem Aufruf zur Weltabkehr – lösten heftige Kontroversen und eine Flut von Streitschriften aus.30 Maßgeblicher Prophet der 24 Als »Bewegungen« wurden die unüblichen und unkontrollierbaren Verrenkungen der Gliedmaßen bezeichnet, die die Inspirierten während ihrer ekstatischen Versammlungen hatten. 25 Avanciren = voranbringen, vorankommen. – Ebd., 717. 26 Zu dieser zentralen Gestalt des radikalen Pietismus vgl. Heinz Renkewitz, Hochmann von Hochenau (1670–1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus (AGP 5), Witten 21969. Siehe auch unten S. 88f. u. 195ff. 27 Vgl. Renkewitz, Hochmann, 138; Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext (Palaestra 283), Göttingen 1989, 179f. u. 463 (Anm. 183); ders., Inspirierte Schweizerreisen, in: Lesen und Schreiben in Europa. Vergleichende Perspektiven, hg. v. Alfred Messerli/Roger Chartier, Basel 2000, 351–382, hier 357. Ich rechne also damit, dass das Schreiben aus dem Jahr 1714 stammt. 28 Vgl. unten S. 106f. 29 Otto E. Strasser-Bertrand/Otto J. De Jong, Geschichte des Protestantismus in Frankreich und den Niederlanden (KIG 3/M2), Göttingen 1975, 169. 30 Vgl. die Liste bei Ulf-Michael Schneider, Propheten, 226–229. Summarischer gründlicher Erweiß [. . .], o. O. 1715 (L 108) u. Zweyter Summarischer Erweiß [. . .], o. O. 1716 (L 116) sind nicht »gegen die Inspirierten« gerichtet, sondern stammen von diesen selber.

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Inspirierten wurde nach und nach der schon erwähnte ehemalige Sattler Johann Friedrich Rock, der bis zu seinem Lebensende 1749 inspirierte Reden hielt. Neben ihm sticht aus der Schar weiterer als so genannte »Werkzeuge« legitimierte Propheten31 eine junge Frau hervor, von der es heißt, sie sei »eine verfolgte Jungfrau von Thun im Bern=Gebiet aus der Schweiz«.32 Es handelt sich um die Strumpfweberin Ursula Meyer (1682–1743).33 Sie kam Rocks Gabe der inspirierten Verkündigung »am nächsten«.34 An ihr als einer der interessantesten Akteurinnen des radikalpietistischen Separatismus im 18. Jahrhundert lässt sich der Weg der Aussonderung einer Frommen in der Kirche zu ihrer Absonderung von der Kirche paradigmatisch nachzeichnen.35 Gleich zu Beginn der radikalpietistischen Inspirationserweckung in Deutschland gehörte Ursula Meyer dem engsten Kreis der Inspirationsgemeinden in der Wetterau an und trat erstmals nachweislich am 16. März 1715 als prophetisches »Werkzeug« auf.36 In dieser Funktion wirkte sie mit Unterbrechungen während mindestens vier Jahre in den Gemeinden. Nach Johann Friedrich Rock war sie dasjenige »Werkzeug« mit der am längsten anhaltenden Gabe inspirativer Rede und der größten Zahl an Aussprachen. Diese fanden in den Jahren 1715 bis 1719 hauptsächlich auf der Ronneburg statt, einem alten Schloss östlich von Marienborn und südwestlich von Büdingen, das der Graf von Ysenburg-Wächtersbach Flüchtlingen verschiedenster Herkunft zur Verfügung stellte und das ab 1736 auch dem aus Sachsen ausgewiesenen Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) Zuflucht bieten sollte. Über sechzig Jahre, nachdem sie gehalten wurden, und fast vierzig Jahre, nachdem Ursula Meyer gestorben war, wurden ihre inspirierten Reden gedruckt und unter dem Titel Ein Himmlischer Abendschein [= HA]37 1781 publiziert. Mein Interesse gilt nun der Frage, wie und unter welchen biographischen, religiösen, sozialen und kirchenpolitischen Voraussetzungen eine junge ledige Frau aus dem Berner Oberland zur autorisierten endzeitlichen Prophetin einer neuen Gemeinschaft werden konnte, die dem radikalen Pietismus zuzuordnen 31 Zu den verschiedenen prophetischen »Werkzeugen« vgl. unten S. 108f. Die Bezeichnung nimmt den Sprachgebrauch der Inspirés auf, die ihre Propheten »instruments« nannten. 32 Kurze Historie Der Inspirirten, in: XVI. Samlung (1772), 238–251, hier 248; Vgl. Kurze Historie der so genannten Inspirirten, in: XVII. Samlung (1776), 233–268, hier 243–245. 33 Vgl. Isabelle Noth, Art. Meyerin, Ursula, in: BBKL 20 (2002), 1033–1035; dies., Art. Meyer, Ursula, in: RGG4 5 (2002), 1200; dies., Art. Meyer (Mayerin), Ursula, in: HLS (im Erscheinen). 34 Kurze Historie, in: XVII. Samlung (1776), 253: »Seiner [d. i. Rocks; IN] Gabe kam U. Mayerin am nächsten.« 35 Vgl. Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, 391–437, hier 393: »Der Weg von der Aussonderung der Frommen in der Kirche zur Absonderung von der Kirche war nicht weit [. . .].« 36 Vgl. unten S. 162. 37 Vgl. unten S. 36.

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ist, und wie sich die Botschaften ihrer in Ekstase gehaltenen Aussprachen inhaltlich charakterisieren lassen. Diese Fragestellung schließt eine Auseinandersetzung mit möglichen religionspsychologischen Deutungsversuchen ekstatischer Phänomene ein. Dass der Prophetismus nicht bloß zur allgemeinen Religionsgeschichte, sondern von Beginn an zum Erscheinungsbild des Christentums gehörte, steht außer Zweifel.38 Dennoch scheinen insbesondere protestantische Staatskirchen in Europa bestrebt zu sein, prophetische und ekstatische Phänomene als Marginale nicht nur einzugliedern, sondern auch auszuschließen.39 Dass hier eigens nach möglichen psychologischen Ursachen für das Entstehen der Aussprachen der Inspirierten gefragt werden soll, verrät selbst schon die eigene protestantische und nachaufklärerisch-rationalistische Kontextbindung.40 Ronald A. Knox brachte einen wesentlichen Aspekt, der zur Verdrängung beitrug, folgendermaßen auf den Punkt: »Von den montanistischen Bewegungen an ist die Geschichte des Enthusiasmus in hohem Maße eine Geschichte der Emanzipation der Frau – und als solche nicht gerade eine gute Empfehlung«!41 Knox stellte einen inneren Zusammenhang zwischen ekstatisch-enthusiastischen Erscheinungsformen und emanzipatorischen Impulsen und Aufbrüchen von Frauen fest, wie er sich an der Gestalt der Ursula Meyer nur bedingt nachweisen lässt. Ungeachtet der Schwierigkeit, wie Knox’ These im einzelnen zu beurteilen ist, provoziert sein Fazit die Frage, ob von einer säkularisierten bürgerlichen, typisch westeuropäischen Sicht her bisher verkannt wurde, dass zu gelebter Religion immer schon und heute noch z. B. in pflingstlerischen und charismatischen transkonfessionellen Bewegungen wesentlich ekstatische Äußerungsformen gehören und dass wichtige Impulse verloren gehen, wenn diese weitgehend nur in der Separation wirksam sein können.42 Es wird sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit zeigen, dass bisherige Deutungen ekstatischer und enthusiastischer Phänomene diese häufig als pathologische Erscheinungsformen43 und als Ausdruck be38 Vgl. Christopher Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and its Hellenistic Environment (WUNT 2/75), Tübingen 1995; Thomas Klingebiel, Einführung in Sektion I: Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus im Alten Reich, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), Göttingen 1999, 17–32, hier 29. 39 Vgl. zu den Begriffen der Eingliederung und des Ausschlusses Jean-Claude Schmitt, Die Geschichte der Außenseiter, in: Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1990, 201–243, hier 205. 40 Vgl. unten Kap. III.2. 41 Ronald A. Knox, Christliches Schwärmertum. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte, Köln 1957, 31f. 42 Vgl. unten Kap. III.2 und den Schluss der Untersuchung: Rückschau und Ausblick. 43 Vgl. als ein Beispiel unter vielen: Wilhelm Hadorn, Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, Konstanz/Emmishofen 1901, 218: »Denn diese Aussprachen

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stimmter Defizite44 verstanden. Durch diese einseitige Betrachtungsweise wurde der Zugang zu diesen Phänomenen freilich erschwert. Es ist auch die Frage, ob prophetisch-ekstatische Erscheinungen, die in unserer Zeit nicht nur auf der südlichen Welthemisphäre Aufbrüche erleben, neu bewertet werden müssten und ob nicht vielmehr die Marginalisierung bzw. das Fehlen solcher Phänomene auf einen Mangel hinweisen als umgekehrt. In der vorliegenden Untersuchung möchte ich in methodischer Hinsicht mit drei Aspekten an die erwähnten Aussagen von Nikolaus Tscheer anknüpfen: 1. Tscheer schilderte die Inspirierten mit ihren sie kennzeichnenden besonderen Phänomenen – trotz aller zeitgenössischen und späteren Verdrängungsversuche – nicht als eine die pietistische Bewegung lediglich begleitende oder gar von ihr losgelöste Erscheinung, sondern als integraler Bestandteil von ihr. 2. Indem Tscheer die Inspirationsgemeinden als eine der drei pietistischen »Haubt-parteyen« bezeichnete, machte er deutlich, dass die Kriterien wahren Christseins unter ihnen strittig waren. Damit betonte er das Moment der Konkurrenz. 3. Mit der Aussage, er selbst hätte schon Jahre vor den Inspirierten »Bewegungen« gehabt, zeigte Tscheer, dass die Aufruhr verursachenden ekstatischen Phänomene der Inspirierten kein Novum waren. In der Tat stehen sie in einer sowohl in der Geschichte des Pietismus als auch im größeren Gesamt der Kirchen- und Religionsgeschichte nachzuweisenden Tradition. Nur wenn es gelingt, die Inspirationsgemeinden als Teil des Pietismus darzustellen, die Konkurrenzsituation, die ihre Geschichte und Entwicklung maßgeblich prägten, aufzuzeigen und ihre ekstatischen Phänomene in den größeren Kontext der Kirchen- bzw. Religionsgeschichte zu integrieren, lässt sich ein angemessenes Bild von ihnen zeichnen. Dabei soll ihre Geschichte weit[. . .] entbehren des eigentlichen christlichen Verstandes [. . .]. Das Krankhafte und Ungesunde tritt [. . .] deutlich hervor, und es wird daran offenbar, daß es hier nur eine Rettung giebt: zurück in die Kirche, zu einem reinern Gottesdienst in Geist und Wahrheit.« 44 Vgl. etwa Wilhelm Hadorn, Die Inspirirten des XVIII. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur Schweiz, in: SThZ XVIII (1900) 184–223, hier 223: »Die Kirche hat durch ihren Mangel den Pietismus erzeugt und durch ihre Härte und Gewalttat ihn zur Separation genötigt. Nun waren die Ausgestoßenen wie Schafe, die keinen Hirten hatten. Diejenigen, die predigen konnten, drangen mit ihrer Stimme nicht mehr bis zu ihnen; ist’s ein Wunder, wenn Propheten das innere Wort Gottes hörten?«; ders., Geschichte, 231: »Das mangelnde theologische Schriftstudium sollte die Inspiration des Geistes ersetzen.« Klingebiel, Einführung, 27: »Eine verhältnismäßig große Zahl der inspirierten Propheten war weiblichen Geschlechts. Dies wird gewöhnlich auch darauf zurückgeführt, daß Frauen zu jener Zeit noch keinen Zugang zur gelehrten theologischen Ausbildung hatten, geschweige denn die Möglichkeit, ein kirchliches Lehramt auszuüben.«

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gehend durch die Konfrontation der Innenperspektive, d. h. der Sicht ihrer eigenen überlieferten Quellen, mit der Außenperspektive, d. h. mit der Sicht von Fremdzeugnissen, erschlossen werden. Dieses Verfahren spielt vor allem da eine Rolle, wo sich die Kontroversen zuerst entzündeten, nämlich an den ekstatischen Erscheinungen der Inspirierten. Nach Siegfried Kracauer wird »historische Realität« desto geringer, »je höher die Ebene der Allgemeinheit [ist], auf der ein Historiker vorgeht«.45 Unter Aufnahme dieser Erkenntnis konzentriere ich mich mit dem hier gewählten methodisch-biografischen Zugang auf einen mikrohistorisch erschlossenen Einzelfall.46 Gerade die Fokussierung auf einen statistischen Einzelfall ermöglicht »eine qualitative Erweiterung der historischen Erkenntnismöglichkeiten«.47 Der prismatische Blick bzw. die Beschäftigung mit dem Einzelnen und Besonderen vermag übergreifende historische Zusammenhänge bei der Rekonstruktion vergangener Lebenswelten der Gesamtheit der untersuchten Gemeinschaft zu erschließen. Ich gehe also von der These aus, dass durch die kontextualisierende Konzentration auf Ursula Meyer neue Erkenntnisse zu den Inspirationsgemeinden und zur pietistischen Bewegung allgemein zutage gefördert werden. Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und gliedert sich in fünf Hauptteile. Eine biografische Grundlegung soll ein Bild der geografischen und familiären Herkunft von Ursula Meyer zeichnen und das nähere historisch-politische und religiöse Umfeld ihrer ersten dreißig Lebensjahre in Thun und Bern im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert beleuchten. Da Kindheit bzw. Jugendzeit Ursula Meyers mit den Anfängen der pietistischen Bewegung in Bern zeitlich zusammenfallen, wird die Auseinandersetzung mit der Entstehung des Berner Pietismus einen Schwerpunkt bilden (Kap. I). Ihr folgt eine Darstellung der Entstehung und Blütezeit der Inspirationsgemeinden, denen sich Ursula Meyer nach ihrer Emigration ins Ysenburgische mit ihrer älteren Schwester angeschlossen hatte und von denen sie als »Werkzeug« autorisiert worden war. Besondere Aufmerksamkeit wird den speziellen religiösen, sozialen und politischen Bedingungen gewidmet, die die auffällige Gewissensfreiheit in dieser reformierten Grafschaft ermöglichten (Kap. II). Ein dritter Teil zeichnet den Weg vom gesprochenen zum gedruckten Prophetenwort nach (Kap. III). Der Verlauf der Aussprachen und ihre Erscheinungsformen werden dabei anhand der Gegenüberstellung zweier hier erstmals 45 Siegfried Kracauer, Geschichte – vor den letzten Dingen (Gesammelte Schriften 4), Frankfurt a. M. 1971, 115, zit. nach: Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, 40–53, hier 49. 46 Zur mikrohistorischen Methodik, die ein primär handlungs- und nicht strukturorientierter Zugang zur Geschichte kennzeichnet, vgl. Medick, Mikro-Historie; Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, 17–21. 47 Medick, Mikro-Historie, 44.

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edierter und besprochener Augenzeugenberichte Außenstehender vom Februar 1715 mit Selbstzeugnissen der Inspirierten eruiert. Besonderes Gewicht wird in diesem Teil zudem auf mögliche religionspsychologische Deutungen ekstatischer Phänomene gelegt. Die ausführliche Textanalyse des Himmlischen Abendscheins mit der Bestimmung seiner inhaltlichen Schwerpunkte (Kap. IV) erfordert schließlich eine Auseinandersetzung mit seiner späten Drucklegung im Jahre 1781 (Kap. V). Der einzige erhaltene Brief von Ursula Meyer aus dem Jahre 1738, der in diesem Zusammenhang transkribiert wiedergegeben wird, klärt über ihr eigenes Verständnis ihrer früheren ekstatischen Prophetien auf. Eine Rückschau und ein Ausblick beenden die Untersuchung. Im Anhang befinden sich fünf hier erstmals zugänglich gemachte Texte: der Briefwechsel der Berner Gebrüder von Rodt auf dem Höhepunkt der staatlich ergriffenen antipietistischen Sanktionsmaßnahmen kurz nach dem großen Pietismusprozess vom Juni 1699, das Schreiben eines Theologen an seinen ehemaligen Professor Johann Ludwig Frey in Basel über seine erste Begegnung mit den Inspirierten vom September 1715 und zwei innergemeindliche Briefe von Inspiriertenmitgliedern aus dem Jahre 1718.

2. Begriffsklärung Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, dass der wertneutralere Gattungsbegriff »Radikalpietismus«, der gegenüber den traditionellen peyorativen Bezeichnungen wie »Hyper-Pietisten«, »Schwärmer«, »Fanatiker« und »Ketzer« den Vorzug verdient, nach wie vor weiterer Klärung bedarf.48 Der inzwischen in der Forschungsliteratur eingebürgerte Sprachgebrauch unterscheidet wie Donald F. Durnbaugh zwischen einem »Churchly Pietism« und einem »Radical Pietism« bzw. wie Barbara Hoffmann zwischen einem »innerkirchliche[n] und radikale[n] Pietismus«.49 Dabei werden die Bezeichnungen »radikale Pietisten« und »Separatisten« häufig synonym verwendet.50 Unberücksichtigt bleibt bei dieser Terminologie, dass Separation nicht notwendiges Merkmal des Radikalpietismus sein muss, sondern verschiedene radikale Pietisten, wenn auch in der Minderzahl, zeitlebens an der verordneten kirchlichen Gemeinschaft festhielten.51 Hans-Jürgen Goertz weist darauf hin, dass radikales Den48 Vgl. Schneider, Forschung, 16. 49 Donald F. Durnbaugh, Pietism. A Millennial View from an American Perspective in: PuN 28 (2002), 11–29, hier 16 u. 20; Barbara Hoffmann, Radikalpietismus um 1700. Der Streit um das Recht auf eine neue Gesellschaft (Reihe »Geschichte und Geschlechter«), hg. v. Gisela Bock/Karin Hausen/Heide Wunder, Frankfurt a. M./New York 1996, 9. 50 Vgl. u. a. Donald F. Durnbaugh, Fruit of the Vine. A History of the Brethren, 1708–1995, Elgin, Ill. 1995, wo die Begriffe »Radical Pietists« und »Separatists« wechselweise benutzt werden. 51 Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 63. Als Beispiele werden Johann Wilhelm Petersen und Johann Tennhardt aufgeführt, vgl. ebd., 373 (Anm. 46).

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ken nicht zugleich radikalem Handeln entsprechen muss und radikales Handeln nicht zwingend radikales Denken voraussetzt.52 Radikalpietismus ist demnach nicht eo ipso separatistisch. Der Begriff »radikaler Pietismus« und der hier gelegentlich verwendete weiter spezifizierende Ausdruck »radikalpietistischer Separatismus« sollen folgende drei Aspekte terminologisch zum Ausdruck bringen: 1. Die Inspirationsgemeinden sind sowohl in ihrem eigenen Selbstverständnis53 als auch in der Wahrnehmung Außenstehender vollumfänglich Trägerinnen des pietistischen Aufbruchs.54 Ihr Zugehörigkeitsgefühl wird nirgends deutlicher als in ihren beiden eigenen ersten, offiziellen Gemeindehistoriographien, die 1772 [= Historie I]55 und 1776 [= Historie II]56 erschienen. In »Joh. Arnd, Hoburg, Spener, Arnold, Franck, Breithaupt etc.«57 sehen sie ihre Vorläufer. Besondere Erwähnung finden Speners Pia Desideria (1675).58 Mit ihrem Drängen auf Verinnerlichung, ihrem Betonen der Notwendigkeit persönlicher Erweckung und auch von ihren geistesgeschichtlichen Traditionen her sind die Inspirierten Teil dieser zweiten Reformationsbewegung, die im 17. Jahrhundert in England, den Niederlanden und Deutschland ihren Ausgang nahm und im 18. Jahrhundert den gesamten kontinentaleuropäischen Protestantismus 52 Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 20, hg. v. Lothar Gall), München 1993, 63. 53 Vgl. Hans Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung [Fortsetzung], in: PuN 9 (1983), 117–151, hier 135. 54 Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 55: »[. . .] die ›Erweckten‹ wußten über alle Auffassungsunterschiede und sogar internen Konflikte hinweg – ebenso wie ihre orthodoxen Gegner – sehr wohl, wer unter die pietistischen Brüder zu zählen war und wer nicht. Das schloß freilich Binnendifferenzierungen nicht aus.« 55 Kurze Historie Der Inspirirten Und Inspirations=Gemeinden; Auf Teutsch: Der Propheten=Kinder, Wie man solche Gemeinden von Samuels biß auf Elisae Zeiten, 200. Jahr lang, genennet hat, in: J. J. J. XVI. Samlung. Das ist: Der XVI. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften Aufrichtig und warhaftig heraus geschrieben, und von der Gemeinschaft ans Licht gestellt, o. O. 1772, 238–251. [UB Münster; Fürstl. Ysenb. Bibl. Büdingen, Sammlung Mörschel Nr. 65]. Vgl. unten Kap. V.2.1. 56 Kurze Historie der so genannten Inspirirten und Inspirations=Gemeinden, Auf Teutsch: Der Propheten=Kinder und Propheten=Schule. Zweytes Stück, in: J. J. J. XVII. Samlung. Das ist: Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften Aufrichtig und warhaftig heraus geschrieben und zum Druck befördert, o. O. 1776, 233–268. [UB Münster; Fürstl. Ysenb. Bibl. Büdingen, Sammlung Mörschel Nr. 65]. Vgl. unten Kap. V.2.1. 57 Historie I, 240. Die über hundert Jahre jüngere Gemeindehistoriographie von Gottlieb Scheuner führt nur noch »Joh. Arndt, Spener, Arnold und Andere« auf (ders., Inspirations=Historie [. . .], 1. Teil, Amana, Iowa 1884, 7). Zu Scheuner siehe unten S. 35. 58 Vgl. Historie I, 240; Historie II, 234 u. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 7. Die in den Historien vertretene chronologische Aufeinanderfolge von einer »Zeit der Pietisten«, einer »Zeit der Separatisten« und schließlich den »Zeiten der Inspirirten« bemüht sich um eine Abgrenzung unter den Erweckten und um eine Hervorhebung der eigenen Gruppierung.

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und den Norden der heutigen Vereinigten Staaten von Amerika beschäftigte, wo die Nachfahren der ersten Inspirationsgemeinden heute noch anzutreffen sind. Die Inspirierten sind also zuerst und vor allem Pietisten, weshalb der Sammelbegriff hier zur Anwendung kommen muss.59 2. Innerhalb der pietistischen Bewegung, die trotz ihrer Heterogenität und ihres Facettenreichtums als Einheit und Gesamtheit zu betrachten ist, sind die Inspirationsgemeinden aufgrund ihrer Rezeption gemeinpietistischer Anschauungen in zugespitzter Form und »ihre[s] ungezügelte[n] Verlangen[s] nach Selbstbefreiung aus Normen- und Regelsystemen«,60 das sich in ihrer Separation, ihren Sonderlehren und ihren affektstarken Wortschöpfungen zeigte, dem radikalen Flügel zuzuordnen. Dieser unterscheidet sich vom gemäßigten und kirchlichen Flügel häufig nur graduell. Trennendes und Verbindendes liegen nahe beisammen, weshalb die Grenzen fließend sind.61 Als Hauptcharakteristika des in sich ebenfalls disparaten radikalen Pietismus werden meist die Heterodoxie und die Separation genannt.62 Versuche, ihn als etwas vom Pietismus kategorial Verschiedenes zu verstehen und ihn traditionsgeschichtlich von diesem abzurücken, sind gescheitert. Sowohl Emanuel Hirschs Verständnis des radikalen oder in seinen Worten »schwärmerischen« Pietismus als Gegensatz zu dem von Spener geprägten kirchlichen Pietismus63 als auch Martin Schmidts Interpretation des radikalen Pietismus als Fortsetzung des mystischen Spiritualismus64 sind überholt.65 Liegen mit Johannes Wallmann die »beiden Propria« des frühen Pietismus im engeren Sinne in Konventikelbildungen und in seiner spezifischen Eschatologie, der »Hoffnung besserer Zeiten«, so lassen sich die Hauptkennzeichen des Pietismus sogar auf radikalpietistische Impulse zurückführen.66

59 Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 61: »Nach ihrer Selbsteinschätzung wie dem allgemeinen Urteil der Zeitgenossen gehörten auch die radikalsten Außenseiter zu den ›Pietisten‹.« Zudem weist Schrader darauf hin, dass sich der Ausdruck Radikalpietismus »entschieden auf die Empirie des historischen Quellenmaterials stützen [kann].« Ebd., 62. 60 Ebd., 12. 61 Vgl. Goertz, Bewegungen, 46: »[. . .] der radikale Pietismus [war] nicht eine andere, vom kirchlichen Pietismus grundsätzlich geschiedene Gestalt des Christentums, sondern nur eine besonders auffällige Gestalt des Pietismus selbst.« Zur begriffsgeschichtlichen, multivalenten Bedeutung des Adjektivs »radikal« vgl. Schneider, Forschung, 20f. 62 Vgl. Schneider, Forschung [Fortsetzung], 134. 63 Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 1951, neu hg. u. eingel. v. Albrecht Beutel, Waltrop 2000, 208–317. 64 Vgl. Martin Schmidt, Art. Pietismus (1.–5.), in: RGG3 5 (1986), 370–381, hier 376. 65 Vgl. Schneider, Forschung, 21–29. 66 Vgl. Schneider, Forschung [Fortsetzung], 139.

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3. »The majority of radical Pietists were mild separatists.«67 Die eine Binnendifferenzierung intendierende Verwendung des Begriffs »Separatismus« zielt weniger auf die heterodoxe Komponente, sondern betont das bestimmte, radikalisierende Moment der Absonderung. Die terminologische Betonung der Separation berücksichtigt das Selbstverständnis68 der Inspirationsgemeinden als schroff staats- und kirchenkritische bzw. -ablehnende Sondergruppierung und ihre Kernforderung der Weltabkehr. Ihr Separatismus war von Anfang an nicht latent, sondern manifest. Die Abstraktbildung »Separatismus« kam erst in der frühen Neuzeit auf und wurde im Protestantismus zur Bezeichnung von Einzelnen und Gruppierungen verwendet, die sich von den reformatorischen Kirchen absetzten.69 Ende des 16. Jahrhunderts bezeichnete der Begriff »separatist« in England Gruppen im Puritanismus, die sich von der anglikanischen Staatskirche verabschiedeten und eigene gottesdienstliche Versammlungen hielten. Virulent wurde der Begriff als »theologisch-kirchenpolitisches Kampfwort«70 im Zuge der Entstehung des Pietismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Separatist war, wer sich vom Gottesdienst und von den Sakramenten der lutherischen bzw. reformierten Landeskirchen fernhielt. Ausschlaggebend war demnach nicht primär ein dogmatisches, sondern ein religiös-praktisches Abweichen vom üblichen kirchlich-institutionalisierten Verhalten und Normengefüge. Beweggründe, sich von den Landeskirchen zu separieren, lagen vor allem in der Kritik an der ecclesia visibilis, in ihrer Äußerlichkeit und ihrem Formalismus, im Mangel an Überzeugungskraft ihrer Vertreter und in ihrer sich selbst verleugnenden Anpassung an die »Welt«, die unerträglich schien und dann zur Distanzierung nötigte, wenn die bestehenden Strukturen als nicht reformierbar erachtet wurden. Deutlich wurde darauf hingewiesen, dass im pietistischen Konventikelwesen ein latent sich von der Kirche entfernendes Potenzial lag.71 Chiliastisch geprägte Erwartungen des nahen Weltendes verstärkten den Hang zum Separatismus.

67 Chauncey David Ensign, Radical German Pietism (c. 1675 – c. 1760), Diss. phil. Boston 1955, 400. 68 Vgl. Schneider, Forschung [Fortsetzung], 135. 69 Vgl. zum Folgenden Hans Schneider, Art. Separatisten/Separatismus, in: TRE 31 (2000), 153–160. 70 Ebd., 154. 71 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, 393; Johannes Wallmann, Der Pietismus (KIG 4/1), Göttingen 1990, 81: »Latent war pietistischer Separatismus schon bei der Gründung des Collegium pietatis 1670 vorhanden [. . .].«

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3. Forschungsstand Gemessen an seiner geografischen Ausdehnung und theologischen sowie geistesgeschichtlichen Bedeutung wird der Pietismus trotz des erfreulichen Aufschwungs, der mit der Gründung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus 1964 und ihrer Herausgabe des Jahrbuchs Pietismus und Neuzeit eingeleitet wurde, im Vergleich mit der Reformation oder der Aufklärung in der bisherigen Kirchen- wie auch allgemeinen Geschichtsforschung nach wie vor zu wenig gewürdigt. Hartmut Lehmann fasst den aktuellen Stand zusammen: »Im Gegensatz zur Aufklärungsforschung fehlen in der neueren Pietismusforschung [. . .] Arbeiten, in denen die sozialen Träger des Pietismus im einzelnen analysiert und in denen die politisch-kulturellen Lebenswelten, in denen sich die pietistischen Gruppen entwickelten und entfalteten, umfassend und genau beschrieben werden; es fehlen Studien zu Fragen der Vernetzung der einzelnen pietistischen Gruppen, [. . .] über die Weltsicht der Pietisten, über ihre Mentalität, über ihre Mobilität und ihre Migration; nur unvollständig sind wir nach wie vor über den tatsächlichen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und geistigen Einfluss der Pietisten in der Welt des späten 17. und 18. Jahrhunderts informiert.«72

Was für den Pietismus allgemein gilt, gilt für den radikalen erst recht. Das 1955 veröffentlichte Werk von Chauncey David Ensign mit dem Titel Radical German Pietism (c. 1675 – c. 1760) ist bisher die einzige Gesamtdarstellung des Radikalpietismus.73 Dass die vergleichsweise marginale Aufmerksamkeit, die der radikale Pietismus bisher von wissenschaftlicher Seite erfuhr, primär mit seiner schwachen kirchlichen Traditionsbildung bzw. seinem mangelnden oder unerwünschten Einfluss auf die Kirchen- und Theologiegeschichte zusammenhängt, hat Hans Schneider klar aufgezeigt.74 Ganz besonders trifft dieses Urteil auf die Inspirationsgemeinden zu, denen im Gegensatz etwa zu den verkirchlichten Neutäufern, der anderen noch existierenden Gemeinschaftsbildung des radikalen Pietismus des 18. Jahrhunderts, wenig Forschungsarbeiten gewidmet wurden. Auch der neueste Bericht von Donald F. Durnbaugh, der von keinen neuen Arbeiten zu den Inspirationsgemeinden zu berichten weiß, belegt dies.75 Hans Schneiders ausführlicher Darstellung der Untersuchungen zu den Inspirierten, die im Rahmen seines Forschungsberichts zum radikalen Pietismus 1983 schon erfolgt war, ist also zwanzig Jahre später wenig hinzuzufügen. Nach wie vor unersetzlich ist die Aufsatzreihe von Max Goebel 72 Hartmut Lehmann, Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert, Göttingen 1998, 11. 73 Wie oben Anm. 67. 74 Vgl. Schneider, Forschung, 15f. Hans-Jürgen Schrader (Literaturproduktion, 46) spricht in diesem Zusammenhang von forschungsleitenden »kirchenpolitischen Interessen«. 75 Vgl. Durnbaugh, Millennial View.

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über die Geschichte der wahren Inspirations-Gemeinden von 1688 bis 185076 aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sowohl Albrecht Ritschls77 und Wilhelm Hadorns78 Geschichte des Pietismus als auch Paul Wernles79 Darstellung der Inspirierten stützen sich auf ihn, wobei Hadorn und Wernle die Schriften der Inspirierten für die Schilderung ihrer Reisen in der Schweiz auch selbst zu Rate zogen. In seinem Beitrag zum zweiten Band der Geschichte des Pietismus behandelt Rudolf Dellsperger den »Pietismus als Separationsbewegung« als eigenständige Phase einer in vier Phasen aufzuteilenden Geschichte des Pietismus in der Schweiz.80 Das Gesamt radikalpietistischen Schrifttums und die außergewöhnlichen Umstände und Bedingungen seines angesichts der offiziellen Reichszensur unerlaubten Entstehens erfasst und minutiös dargestellt zu haben, ist das bleibende Verdienst von Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus.81 Außer dem für die Beschäftigung mit den Inspirationsgemeinden unerlässliche Überblick von Hans Schneider in seiner Darstellung über den radikalen Pietismus im 18. Jahrhundert in der Geschichte des Pietismus82 stammt die neueste Arbeit zum Untersuchungsgegenstand von germanistischer Seite. In seinem 1995 publizierten Werk Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten83 konzentriert sich Ulf-Michael Schneider entgegen den im Titel 76 Max Goebel, Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden, von 1688 bis 1850. Als ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Lebens, aus bisher unbenutzten Quellen, in: ZHTh 24 NF 18 (1854), 267–322.377–438; 25 NF 19 (1855), 94–160.327–425; 27 NF 21 (1857), 131–151. Vgl. dazu: John E. Wilson, Max Goebels »Geschichte der wahren Inspirationsgemeinden« (1854–1857). Eine hermeneutische Untersuchung, in: PuN 19 (1993), 143–168. Vgl. auch Goebels Kurzfassung, die einige Korrekturen enthält: ders./Theodor Link, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 3, Gießen/Basel 1992 (= Reprint der Ausgabe Koblenz 1860), 126–165. Goebel lag die »vorläufige und unvollständige Skizze« (ders., Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden, 270) von Friedrich Wilhelm Winckel (Kurze Geschichte der Inspirationsgemeinden, vorzüglich in der Grafschaft Wittgenstein, in: Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens 1844, Heft 11, 233–262) vor. 77 Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1884 (Reprint: Berlin 1966), 366–378. Vgl. Wilson, Goebel, 156f. 78 Hadorn verarbeitet zudem Julius Studer, Der Pietismus in der zürcherischen Kirche am Anfang des vorigen Jahrhunderts, nach ungedruckten Urkunden, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Züricher Theologen 1 (1877), 109–209. Vgl. Wilson, Goebel, 157–160. 79 Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Bd. 1: Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), Tübingen 1923. Vgl. Wilson, Goebel, 159f. Nach Wilson verhält sich Wernles Darstellung der Inspirierten zu jener Hadorns wie Ritschls zu der Goebels (159). 80 Vgl. Rudolf Dellsperger, Der Pietismus in der Schweiz, in: Geschichte des Pietismus 2, 588–616, hier 594–601. Siehe unten S. 80. 81 Wie oben Anm. 27. 82 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 145–152 [8. Die Inspirierten und die wahren Inspirationsgemeinden]. 83 Wie oben Anm. 19.

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geweckten Erwartungen fast ausschließlich auf das Haupt-»Werkzeug« Johann Friedrich Rock. Ulf-Michael Schneider versucht aufzuzeigen, wie der radikale Pietismus an der Umformung poetologischer Grundlagen in der deutschen Literaturgeschichte Mitte des 18. Jahrhunderts mitwirkte, und stellt vornehmlich Rocks Einfluss in den Werken der Dichter Beat Ludwig von Muralt, Anthony Earl of Shaftesbury, Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger, Ulrich Bräker, Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe fest. Dabei gelingt es ihm überzeugend nachzuweisen, dass die Inspirations-Reden »als singuläres Beispiel einer völlig authentischen Überlieferung wirklich gesprochener (und nicht etwa zuvor aufgeschriebener, sondern ›spontaner‹) Sprache aus dem 18. Jahrhundert gelten, ja: für die deutsche Sprache überhaupt als das früheste Beispiel dafür.«84 Explizite Untersuchungen zur Prophetin Ursula Meyer existieren nicht. Die Unerforschtheit ihrer Vita, ihrer religiösen Überzeugungen und ihres Einflusses auf die Verbreitung radikalpietistischer Ansichten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht im Widerspruch zu ihrer damaligen Wirkung und Funktion im Kreise der Inspirierten. Obwohl Ursula Meyer nicht völlig in Vergessenheit geriet85 und das Wissen insbesondere um ihre Bedeutung für den Aufbau, den Erhalt und die Pflege des weitläufigen radikalpietistischen Beziehungsnetzes latent erhalten blieb, rief sie bis heute keinerlei wissenschaftliches Interesse hervor. Während sich alle Aufmerksamkeit auf Johann Friedrich Rock,86 die unbestrittene Hauptfigur, oder auf Eberhard Ludwig Gruber,87 die organisatorische und geistliche Autorität der Inspirationsgemeinden, richtete, erschien Ursula Meyer als Kuriosum unter den Inspirierten. Paul Wernles ambivalentes Urteil mag das Bild der Forschung geprägt haben: »Originell war ihr Wesen nicht, aber für den Schweizer Pietismus sollte sie von wichtigen Folgen werden, und an sich berührt es immer wunderbar, dies Mädchen aus dem Berner Oberland als Inspirierte unter den deutschen Inspirierten.«88 84 Ebd., 11. Fraglich hingegen bleibt m. E. sein Versuch, »biographisch dokumentierbare[r] Kontakte« Goethes mit den Inspirierten nachzuweisen, die dieser nachträglich bewusst verschwiegen hätte. Vgl. ebd., 155–189 [Zitat: 14]. 85 Vgl. z. B. Wallmann, Der Pietismus, 107 (Anm. 54): Unter den anerkannten prophetischen »Werkzeugen« sei »auch eine Frau (Ursula Meyer)« gewesen. Zu den »Werkzeugen« siehe unten S. 108f. Walter Grossmann (The European Origins of the True Inspired of Amana, in: Communal Societies 4 [1984] 133–149, hier 147) hält fest, dass die Inspirierten in der Schweiz eine starke missionarische Tätigkeit entwickelt hatten: »There one of the earliest adherents, the weaver Ursula Meyer from Thurn (sic), traveled and propagandized for the cause.« 86 Mit vier seiner autobiographischen Schriften wird die neue Reihe »Kleine Texte des Pietismus« (KTP) eröffnet: Johann Friedrich Rock, Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften (KTP 1), hg. v. Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999. Vgl. dazu die Rez. von Hans Schneider, in: PuN 26 (2000), 252–256. 87 Vgl. Hans Schneider, Art. Gruber, Eberhard Ludwig, in: RGG4 3 (2000), 1304f. 88 Wernle, Protestantismus 1, 185.

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Außer dem Namen, Heimatort und Beruf finden sich in der Fachliteratur keine weiteren Informationen zur Person und zum Werdegang Ursula Meyers vor ihrem Auftreten als Prophetin. So zählte der versierte Lokalhistoriker Adolf Schaer-Ris in seinem Werk Das Amt Thun. Sein Anteil am Geistesleben der Jahrhunderte zu den Anhängerinnen des Pietismus in »Thun zunächst nur die einfache Strumpfweberin Ursula Meyer«.89 Der schlichten Erwähnung ihres Namens und Berufs in einem Satz folgen keinerlei weitere Ausführungen. Gemessen am Informationswert hat der Satz im Text nur die Funktion einer einleitenden Vorbemerkung zum bekannten pietistischen Pfarrer Samuel Lutz,90 dessen Vita und berufliche Laufbahn mit exakten Jahreszahlen hierauf geschildert werden. Gleich dürftig ist die Auskunft der Schaer-Ris zugrunde liegenden Fachliteratur zum frühen Pietismus in der Schweiz: sie weiß ebenfalls nichts vom Leben Ursula Meyers vor ihrem Wirken in den Inspirationsgemeinden zu berichten.91 Paul Wernle vermerkt, Ursula Meyer sei »erweckt worden und, in der Heimat verfolgt, nach der Ronneburg ausgezogen«.92 Diese Kenntnis rührt von den folgenden zwei Aussagen aus den Gemeindehistoriographien der Inspirierten her, die Wernle miteinander verband: »Ursula Mayerin, eine verfolgte Jungfrau von Thun im Bern=Gebiet aus der Schweiz«93 und »Eine längst erweckte, und auf der Roneburg wohnhafte Schweizer Jungfer, [. . .] gebürtig von Thun«.94 Obschon die Sichtung aller in Frage kommenden und sich auf den hier besprochenen Zeitraum beziehenden Berner Quellen keinerlei Beweise zur historischen Verifizierung dieser Angaben liefern,95 lassen sich eine Erweckung und Verfolgung Ursula Meyers in der Heimat im damaligen religiös-politischen Kontext und in der Eskalation im Berner Pietismusprozess von 1699 mitsamt seinen längerfristigen Auswirkungen leicht verorten.96 Die Ronneburg des Grafen von Ysenburg-Wächtersbach als klassisches Asyl und »Sammelplatz von Separatisten, Juden und 89 Thun 1936, 22 [Hervorhebung i. O.]. 90 Vgl. Dellsperger, Der Pietismus in der Schweiz, 603f. 91 Wilhelm Hadorn (Geschichte, 151) ist sich 1901 noch nicht ganz sicher über ihre Herkunft und notiert »die Ursula Meyer aus der Umgebung von Thun«. 1929 präzisiert er dies zu »Ursula Meyer aus Thun«, (Art. Pietismus in der Schweiz, in: HBLS 5 [1929], 439–441, hier 440). 92 Wernle, Protestantismus 1, 184. Leider fehlt eine Quellenangabe. Ebd., 182 (Anm. 6) bezeichnet Wernle jedoch »die Sammlung od. Extracta aus den Jahrbüchern der wahren Inspirationsgemeinden« insgesamt als »Hauptquelle« seiner Ausführungen zu den Inspirierten. 93 Historie I, 248. 94 Historie II, 243f. 95 Es wurden konsultiert: BBB, Mss.h.h. X 62 Johann Rudolf Gruner, Acta Pietistica; StAB, AI 462 (29.12.1691–11.12.1709) + AI 464 (7.2.1710–2.2.1723); StAB, AII 586 (7.9.1700– 20.11.1700) bis AII 649 (21.11.1714–18.2.1715); StAB, BIII 604 (1700–1701) bis BIII 618 (1714–1716); StAB, BXIII 443 Rodel weggezogener Mann- & Landrechte (1694–1754); zu den Akten des BAT siehe unten S. 38 (Anm. 1). 96 Zur pietistischen Bewegung in Bern, zum Prozess selber und zu den anschließenden sog. »Remeduren« gegen den Pietismus vgl. insgesamt Dellsperger, Anfänge.

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allerlei Gesindel aus aller Herren Länder«97 bildete ein ideales Fluchtziel. Für eine konkrete Erweckung und eine persönliche Verfolgung Ursula Meyers in der Schweiz fehlen jedoch die Belege. Wernles Aussage – seine Kombination beider Stellen aus Historie I und II, die selber keinen expliziten Zusammenhang zwischen Erweckung und Verfolgung Ursula Meyers herstellen – klingt wahrscheinlich, lässt sich aber quellenmäßig nicht beweisen. Die Auswertung noch vorhandener Archivakten vermag die vielen Leerstellen zur Biografie und zum Umfeld Ursula Meyers vor ihrem Wirken als Prophetin auch nicht annähernd zu füllen, aber sie wird zumindest einen Eindruck von Konstellationen, Kräften und Ereignissen vermitteln, die auf sie eingewirkt haben mochten. Erst ab 1715, also nachdem sich Ursula Meyer den Inspirierten angeschlossen hatte und als »Werkzeug« aufzutreten begann, erhalten wir dank der noch ausführlicher zu besprechenden Quellen der Inspirationsgemeinden Informationen über ihren Werdegang. Dieses empirische Quellenmaterial kann einige in der heutigen Forschungsliteratur bestehende Irrtümer beseitigen. So hatte »nach 1717« bzw. spätestens ab »Anfang 1718« weder allein Johann Friedrich Rock die Gabe inspirativer Verkündigung98 noch enthält der Himmlische Abendschein Inspirationsreden von Ursula Meyer »der Jahre 1715/1716«,99 sondern von 1715 bis 1719.100 Korrekturbedürftig ist auch die Aussage, »das erste ›Werkzeug‹, das [. . .] separatistische Gesinnungsfreunde in der Schweiz besucht[e]« und dort 1716/17 »die erste[n] Prophetenreise« machte, sei Johann Adam Gruber gewesen,101 denn Ursula Meyer suchte ihre Heimat gleich nach ihrem ersten Auftreten als Prophetin schon im Frühling 1715 auf.102 97 Gustav Simon, Die Geschichte des reichsständischen Hauses Ysenburg und Büdingen, Bd. 1: Die Geschichte des Ysenburg=Büdingen’schen Landes, Frankfurt a. M. 1865, 49. Vgl. ebd.: »Graf Ferdinand Maximilian II. von Wächtersbach setzte die Burg im ersten Drittheil des vorigen Jahrhunderts seinem Bruder, dem Grafen Wilhelm als Apanagium aus. Dieser wohnte mit seiner Gemahlin Polyxene von Leiningen einige Jahre hier, zog dann nach Gelnhausen und vermiethete die leeren Räume an allerlei Leute.« 98 Schrader, Schweizerreisen, 361: »Die Gabe der ›Aussprache‹ aber behielt nach 1717 nur noch der ›Bruder Friedrich‹«; Ulf-Michael Schneider (Hg.), Wie ihn Gott geführet, 105: Die »Werkzeuge« seien mit Ausnahme von Rock »spätestens bis Anfang 1718 wieder verstummt«. Die Angabe begegnet schon bei Ulf-Michael Schneider, Art. Rock, 460 und wird kolportiert von Ulf Lückel, Johann Friedrich Rock (1678–1749), in: Andreas Kroh/Ulf Lückel, Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein, Bruchsal 2003, 107–112, hier 109. 99 Schrader, Schweizerreisen, 359 (Anm. 11). Ulf-Michael Schneider (Propheten, 29 [Anm. 20]), auf den sich Hans-Jürgen Schrader stützt, meint fälschlicherweise, Ursula Meyer hätte nur bis zum 7.6.1716 Aussprachen gehalten. Vgl. dagegen schon Goebel, Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden, 275; ders., Geschichte des christlichen Lebens, 149 (Anm. 1). 100 Vgl. unten Kap. IV.3.2. 101 Schrader, Schweizerreisen, 361 u. 364; so ebenfalls Ulf-Michael Schneider, Propheten, 129. Schon Wilhelm Hadorn behauptete: Johann Adam Gruber war »der erste, der in der Schweiz erschien«. Ders., Kirchengeschichte der reformierten Schweiz, Bern 1907, 217. 102 Vgl. unten S. 187ff.

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Auch von der Frauen- und Geschlechterforschung103 sind keine Untersuchungen zu den Inspirationsgemeinden zu verzeichnen. Dabei wurde die auffällige Stellung und Beteiligung von Frauen im Pietismus und insbesondere im radikalen schon von den Zeitgenossen gerne als Argument gegen die Erneuerungsbewegung benutzt. Während Ulrike Witt in ihrer Göttinger Dissertation auf das bestehende »Problem der Forschungskapazitäten«104 hinweist, hält Christel Köhle-Hezinger fest: »In der Frauengeschichtsforschung gelten Religion und Frömmigkeit leider noch weitgehend als obsolet, als Quantité négligeable, als archaisches Relikt oder Marginalie.«105 Rudolf Dellsperger schildert, »wie grundsätzlich und unbefangen im ›radikalen‹ Pietismus über die Stellung der Frau im kirchlichen Leben nachgedacht worden, wie offen man in diesen Kreisen für geistliche Erfahrungen von Frauen gewesen ist«.106 Johann Henrich Reitz (1655–1720), der Herausgeber der pietistischen Sammelbiografie Historie Der Wiedergebohrnen, schrieb gar: »Und wann ich meines Hertzens Meynung sagen soll / so halte ich auch darfür / daß mehr Weibs= als Manns=Personen wiedergebohren und selig werden.«107 Trotz des schon lange konstatierten nonkonformen Verhaltens von Frauen, das die bestehende asymmetrische Geschlechterordnung tangierte, war der Pietismus insgesamt in der Frauen- und Geschlechterforschung noch bis vor kurzem terra incognita. Dies bestätigt Jeannine Blackwell mit ihrer Feststellung: »Heutzutage fällt es selbst der feministischen Forschung schwer, eine einzige Pietistin außer Goethes ›schöner Seele‹, Zinzendorfs Großmutter oder einigen adligen Gönnerinnen zu nennen.«108 103 Zur Begrifflichkeit vgl. Karin Hausen/Heide Wunder, Einleitung, in: dies. (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 9–18. Zur Frauen- und Geschlechterforschung vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986; Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 364–391; Michelle Perrot (Hg.), Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich? Aus dem Franz. v. Wolfgang Kaiser, Frankfurt a. M. 1989; Helga Docekal, Feministische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 1 (1990) 7–18; Bonnie S. Anderson/Judith P. Zinsser, Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa, Bd. 1: Verschüttete Spuren. Frühgeschichte bis 18. Jahrhundert, Zürich 1992, 9–21; Rebekka Habermas/Heide Wunder, Nachwort, in: Arlette Farge/Natalie Zemon Davis (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, Frankfurt a. M. 1994, 539–543. 104 Ulrike Witt, Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus (Hallesche Forschungen 2), Tübingen 1996, 7. 105 Christel Köhle-Hezinger, Frauen im Pietismus, in: BWKG 94 (1994), 107–121, hier 108. 106 Rudolf Dellsperger, Frauenemanzipation im Pietismus, in: Sophia Bietenhard u. a. (Hg.), Zwischen Macht und Dienst. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart von Frauen im kirchlichen Leben der Schweiz, Bern 1991, 131–152, hier 144. 107 Johann Henrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang [. . .], hg. v. Hans-Jürgen Schrader, 4 Bde., Tübingen 1982 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Bd. 29/1–4), hier Zuschrift. 108 Jeannine Blackwell, Herzensgespräche mit Gott. Bekenntnisse deutscher Pietistinnen im 17.

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Erst seit wenigen Jahren ist eine – meist populärwissenschaftliche – Hinwendung zum Thema Frauen im Pietismus festzustellen.109 Sie wurde 1980 von der kleinen Studie von Richard Critchfield mit der programmatischen Überschrift Prophetin, Führerin, Organisatorin: Zur Rolle der Frau im Pietismus110 eingeleitet. Diese bezieht sich auf den Pietismus in Deutschland von seinen Anfängen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts und stellt die bedeutende Rolle von Frauen in dieser Frühphase anhand einzelner Persönlichkeiten exemplarisch dar. Die Studie tendiert leider zu undifferenzierten Verallgemeinerungen. So werden etwa Ansichten, die vor allem im radikalen Pietismus vertreten wurden, zu allgemein-pietistischen deklariert.111 Richard Critchfield meint, dass mit der pietistischen Zuwendung zum religiösen Gefühl und der Aufwertung des menschlichen Herzens »das stereotype Bild der Frau, wonach sie emotioneller als der Mann veranlagt sein soll, im Pietismus [. . .] sich eher befreiend als diskriminierend auf die Stellung der und 18. Jahrhundert, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, München 1988, 265–289, hier 266. Elisabeth Joris erwähnt in ihrem Artikel »Mein Wille ist Gottes Wille«. Frauen und Pietismus (in: FRAueZitig FRAZ Nr. 36/Zürich Dez. 1990–Febr. 1991, hier 28–31) keine einzige Pietistin aus dem 18. Jh. Vgl. Joyce L. Irwin, Womanhood in Radical Protestantism 1525–1675, Lewiston, N. Y./Queenston, Ontario 1979, xviii: »For this age [sc. the age of Pietism; IN] a separate study of the role of women is needed.« Irwin sieht im Pietismus einen deutlichen Wandel im Geschlechterverständnis vonstatten gehen und beendet ihre Studie deshalb ausdrücklich zu der Zeit, »where Pietism is said to begin« (xviii). 109 Vgl. etwa Peter Zimmerling, Starke fromme Frauen. Begegnungen mit Erdmuthe von Zinzendorf, Juliane von Krüdener, Anna Schlatter, Friederike Fliedner, Dora Rappard, Eva von Tiele-Winckler, Ruth von Kleist-Retzow, Gießen 1996; ders., Starke fromme Frauen. Der Pietismus als Anwalt für die Rechte der Frau, in: Aufatmen 4 (1998) 56–61 (Zimmerling beschreibt den Pietismus als eine »fast immer [. . .] ›frauenbewegte‹ Erscheinung« [57], dessen Frühphase zugleich den Beginn der Frauenemanzipation in Deutschland einleitete); Jutta Taege-Bizer, Weibsbilder im Pietismus. Das Beispiel von Frankfurt am Main 1670–1700, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz u. a. (Hg)., Frauen Gestalten Geschichte. Im Spannungsfeld von Religion und Geschlecht, Hannover 1998, 109–136; Martin H. Jung (Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf, Gütersloh 1998) weist darauf hin, dass »die Frauen des Pietismus weitaus weniger erforscht sind als die Frauen der Reformationszeit« (9). 110 In: Barbara Becker-Cantarino (Hg.), Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte (Modern German Studies 7), Bonn 1980, 112–137. 111 Vgl. etwa ebd., 112: »Pietisten glaubten schon seit dem Beginn der religiösen Erneuerung, dass nicht in erster Linie der Mann, sondern die Frau die von Pietisten gewünschte Frömmigkeit in ihrer Einstellung zur Religion und in ihrem eigenen Leben verkörpere.« Critchfields Behauptung, Frauen seien von allem Anfang an Teilnehmerinnen an Speners privaten Versammlungen gewesen (112), wurde von Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 2. überarb. u. erweit. Auflage, Tübingen 1986, 264–298, widerlegt. Dass es nicht angeht, ausgerechnet die Buttlarsche Rotte als Beispiel dafür zu nehmen, dass »die Frau sich unter dem Vorwand der Religion auf sexuellem Gebiet völlig emanzipierte« (122), zeigt Willi Temme, Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700 (AGP 35), Göttingen 1998, 25.

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Frau auswirkte.«112 Critchfields allzu idealisierende Darstellung gipfelt in der Behauptung: »Sie [sc. ›die Frau im pietistischen Leben‹] trat aus ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter hinaus und wurde oft zur Prophetin und Führerin«.113 Damit wird außer acht gelassen, dass die weitaus größte Zahl der Pietistinnen ihr religiöses Engagement unter Beibehaltung der traditionellen Frauenrolle ausübte. Joyce L. Irwin hält m. E. zu Recht nüchtern fest: »it is always true that the unusual event gains attention. The women who fulfilled ordinary expectations of caring for their husbands and children and attending church services in silence were not newsworthy. We may be assured that the vast majority of women among radical Protestant groups were dutiful wives who fully accepted female subordination.«114 Das zunächst Neue bei der Beschäftigung mit der Rolle von Frauen im Pietismus liegt ja in allererster Linie nicht darin, dass diese plötzlich oft Prophetinnen und Anführerinnen geworden wären, sondern dass das ihnen von der Gesellschaft zugedachte Repertoire an Rollen und Räumen115 in erstaunlichem Ausmaß erweitert und ihnen neue Optionen religiöser Betätigung überhaupt eröffnet wurden. Zur Erklärung, weshalb Frauen zu Führungsrollen im Pietismus kommen konnten, verweist Critchfield lediglich auf die zentrale Stellung des Gefühls im Pietismus und auf die bei seinen Anhängern verbreitete Ansicht, »dass Gott in erster Linie zum Herzen der Frau spreche«.116 Wie sie zu dieser Ansicht kamen, in welcher Traditionslinie ihre Argumente stehen und was im Pietismus genau unter Gefühl verstanden wurde, bleibt offen. Eine fundierte historische oder theologische Begründung für sein Ergebnis vermag Critchfield keine zu geben. Zum selben Urteil gelangt man nach der Lektüre des Artikels Frau, VII. Neuzeit in der Theologischen Realenzyklopädie von 1983.117 Der Artikel von Gerta Scharffenorth und Erika Reichle, der sich im Pietismus primär an Protagonisten und ihrem Frauenbild orientiert, ist historisch-deskriptiver Natur und vermag keinen inneren Zusammenhang zwischen der festgestellten »aktive[n] Beteiligung«118 von Frauen in der pietistischen Bewegung und pietistischen Überzeugungen und Frömmigkeitsformen selbst herzustellen. Es bleibt unklar, weshalb Frauen gerade im Pietismus zu einer »Anerkennung der gleichen Begnadigung«119 gelangen konnten.120 112 Critchfield, Prophetin, 114. 113 Ebd., 132. 114 Irwin, Womanhood, 201. 115 Vgl. Martin Jochen/Renate Zoepffel (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann, Freiburg/München 1989; Karin Hausen, Frauenräume, in: dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 21–24. 116 Critchfield, Prophetin, 132. 117 Gerta Scharffenorth/Erika Reichle, Art. Frau, VII. Neuzeit, in: TRE 11 (1983), 443–467. 118 Ebd., 445. 119 Ebd., 449. 120 Grundlegend neue Erkenntnisse sind von der demnächst auch in dieser Reihe (AGP) er-

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Zur Rolle von Frauen im Pietismus auch in der Schweiz veröffentlichte Rudolf Dellsperger 1991 einen Vortrag mit dem Titel Frauenemanzipation im Pietismus.121 Die Argumente, die der bernische Große Rat 1699 gegen den Pietismus vorgebracht hatte, ließen auf »elementare männliche Ängste«122 rückschließen. Dellsperger weist auch auf die emanzipatorische Bedeutung des Chiliasmus hin.123 In bezug auf die zahlreichen in der Schweiz auftretenden »ekstatischen, visionären, spiritualistischen, inspiratorischen, prophetischen Phänomene«124 fragt Dellsperger, »ob diese Frauen, die von der theologischen Wissenschaft ausgeschlossen waren und in der Kirche direkt keine Stimme hatten – ob denn diese Frauen eine andere Möglichkeit hatten, als im Sinne einer radikalen Alternative sich direkt auf göttliche Inspiration zu berufen, sich so zu legitimieren und – eben dies war ihre Tragik – sich damit vor dem Forum der damaligen theologischen Wissenschaft und kirchlichen Instanzen selber zu disqualifizieren.«125 Dellsperger kommt zu dem Schluss, dass in der Geschichte des Pietismus »Spuren«126 neuzeitlicher Frauenemanzipation zu orten seien. Es blieben jedoch lediglich Spuren, denn »hier melden Frauen sich nicht als Frauen, sondern als im pietistischen Sinn fromme Frauen zu Wort.«127 Damit wird ein Zusammenhang zwischen pietistischer Frömmigkeit und ungewohntem, emanzipativem Verhalten von Frauen hergestellt. Der Pietismus wird als wichtige Wegstrecke in der Frauengeschichte verstanden. Der Beitrag von Ruth Albrecht über Frauen im vierten Band der Geschichte des Pietismus, der allerneueste Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung zu integrieren vermag, bietet einen notgedrungen groben chronologischen Überblick und schneidet dabei zahlreiche grundlegende Fragen der scheinenden Habilitationsschrift von Dr. Ruth Albrecht über Johanna Eleonora Petersen zu erwarten. 121 Wie oben Anm. 106. 122 Ebd., 135. 123 Vgl. ebd., 136. Joyce L. Irwin (Womanhood, xxix) wies auf die Bedeutung der entweder primär an der Vergangenheit orientierten oder an der Zukunft ausgerichteten Blickrichtung einer Gruppierung für ihr Frauenbild hin: »As George Williams pointed out, the Anabaptists ›looked steadily into the past [. . .]. The Spiritualists gazed mostly into the future.‹ In focusing on the future, the reader of the Bible is allowed to pay less attention to St. Paul’s instructions on silence to women of his own time and more attention to the promise that in Christ ›there is neither male nor female‹ (Galatians 3:28). The tension between a literalism which seeks to restore the outward characteristics of the early church and, on the other hand, hermeneutical principles which seek to rediscover the spirit and promise of the gospel was in the early modern period and remains today the key to resolving the issue of women in the church.« 124 Dellsperger, Frauenemanzipation, 151. 125 Ebd., 151f. Schon Hadorn (Geschichte, 51) stellte diesen Zusammenhang her: »Weil sie [sc. die Laien] aber nicht das amtliche Recht, die gesetzliche Legitimation zum Lehren und Predigen besaßen, beriefen sie sich auf ihr göttliches Recht, auf die innere Stimme, auf den Drang ihres Herzens«. 126 Dellsperger, Frauenemanzipation, 152. 127 Ebd., 136.

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Forschung an.128 Leider muss auch dieser aufgrund mangelnder Einzelstudien viele Fragen offen lassen.129 Ruth Albrecht bestätigt die Aktualität des übergreifenden Urteils von Gerta Scharffenorth und Erika Reichle, dass »die Frauensituation im 16.–18. Jh. bzw. Beiträge von Frauen zur Sozial-, Rechts- und Ideengeschichte bisher unzureichend erforscht sind«, weshalb diese schon ihre Darstellung insgesamt als Verweis »auf die Notwendigkeit kirchen- und theologiegeschichtlicher Forschungen zu dieser Thematik« verstanden wissen wollten.130

4. Quellenbasis Noch 1983 stellte Hans Schneider in seinem Forschungsbericht über den radikalen Pietismus »den Mangel an einer soliden Quellenbasis«131 für die Erforschung der Inspirationsgemeinden fest, der trotz ihrer regen literarischen Tätigkeit bestünde. Die Fundorte ihrer Werke seien sehr verstreut und erforderten »langwierige[n] Suchaktionen«.132 Diesen Zustand nicht behoben, jedoch deutlich verbessert zu haben, ist das Verdienst des Germanisten UlfMichael Schneider, der in seiner Dissertation über Propheten der Goethezeit von 1995 die einzelnen Schriften der Inspirierten und ihrer Gegner chronologisch aufgelistet und mit dem jeweiligen Standort nachgewiesen hat.133 Trotz dieser aufwändigen Bemühungen bleibt die Quellenbasis für die Erforschung der Geschichte der Inspirationsgemeinden nach wie vor schwierig. Es sind vor allem zwei Gründe, die dafür verantwortlich zeichnen: Erstens handelt es sich bei den Werken der Inspirierten um illegitime Untergrundliteratur. Ihre Publikation verstieß gegen die im Reichsgebiet geltenden Zensurbestimmungen, weshalb wir bei ihnen auch keine Angaben zum Druckort finden.134 Die ebenfalls gegen Reichsrecht verstoßende Distribution dieser Werke war nur auf 128 Ruth Albrecht, Frauen, in: Martin Brecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 522–555. 129 Vgl. ebd., 522: »An vielen Stellen der folgenden Ausführungen kann es nur darum gehen, auf die noch unbearbeiteten Themenfelder aufmerksam zu machen.« 130 Scharffenorth/Reichle, Art. Frau, 445. 131 Schneider, Forschung [Fortsetzung], 119. Leider ging auch Max Goebels Nachlass im Zweiten Weltkrieg verloren. Vgl. Wilson, Goebel, 143. 132 Schneider, Forschung [Fortsetzung], 118. 133 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 207–229. Damit löst er Max Goebels (Inspirations=Gemeinden [1854], 271–283) und Gottfried Mälzers (Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Verzeichnis der bis 1968 erschienenen Literatur [= Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 1], Berlin/New York 1972, 115–117 u. 321–329) bibliografische Übersichten ab. 134 Vgl. dazu Schrader, Literaturproduktion, 108–130. Grundlegend neue Erkenntnisse hinsichtlich des Druckortes sind von der bald erscheinenden Abhandlung von Konstanze Grutschnig-Kieser in Aussicht gestellt.

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dem außerinstitutionellen Büchermarkt möglich, der lediglich Eingeweihten bekannt und zugänglich war. Damit hängt zweitens zusammen, dass die Inspirierten bei ihrer Auswanderung aus Deutschland im Jahre 1843 den weitaus größten und wichtigsten Teil ihrer Schriften und handschriftlichen Zeugnisse mitgenommen haben. Nur ein Teil ihrer Werke gelangte nach ihrer Emigration an deutsche Universitäts- oder Landesbibliotheken.135 Großzügigerweise wurde Ulf-Michael Schneider bei seinem Forschungsaufenthalt in der »Research Library« des »Museum of Amana History« in Main Amana und in den Church Archives in Middle Amana ein wichtiger Bestand von Drucken der Inspirierten als Geschenk für die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen mitgegeben.136 In der Schweiz lassen sich nur einzelne Werke finden.137 Die Hauptquelle für die Geschichte der Inspirierten bildet deren 42-bändige Sammlung J. J. J.138 Aufrichtige und warhafftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen, die ab Band 13 den Titel ändert in Sam[m]lung [. . .] Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften. In der XVI. und XVII. Sammlung finden wir Historie I und II.139 Gottlieb Scheuners Inspirations=Historie von 1884 ruht maßgeblich auf dieser viel älteren Sammlung und wird deshalb in der Regel nur in jenen Fällen zitiert, in denen er auf Material zurückgreift, dessen Herkunft nicht nachgewiesen werden kann.140 Das im Fürstlich Ysenburg- und Büdingenschen Archiv vorhandene Depositum »Sammlung Mörschel«, das 1963 als Dauerleihgabe der Amana Church Society zur Verfügung gestellt wurde, seit 2001 aber aufgrund der erfolgten Schließung des Archivs nicht mehr ohne Weiteres eingesehen werden kann, enthält insgesamt 224 Einzelbände.141 Eine weitere Spezialsammlung ist in der 135 Sammlungen sind in den UB Bonn, Münster, Tübingen und in der Württembergischen LB Stuttgart einzusehen. 136 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 20 (Anm. 16). 137 So verfügt etwa die Stadt- und Universitätsbibliothek Bern nur über einen einzigen Band: J. J. J. Aufrichtige und wahrhaftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. III. Sammlung / Innehaltend: Eine Reise durchs Würtemberger=Land und die Schweitz, etc. im Jahr 1738. geschehen / Auf Verlangen guter Freunde der Welt / Samt Wahren und falschen Brüdern / Zum Zeugniß, ans Licht gestelt; Mit GOTT, o. O. 1739 [StUB: Laut 618], die BCU Lausanne hingegen über einen Sammelband [BCU Lausanne: TP 1200], vgl. Schrader, Schweizerreisen, 352 (Anm. 2) u. 366f. (Anm. 35) und über sechs Teilbände [TP 1202/1–6]. 138 »J. J. J.« ist die Chiffre von »Jesus, Jehovah, Jmmanuel«. Vgl. A. und O! XXX. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften [. . .], o. O. 1783, 3; Ulf-Michael Schneider, Propheten, 38. 139 Wie oben Anm. 55 u. 56. 140 Gottlieb Scheuner, Inspirations=Historie [. . .], 1. und 2. Teil, Amana, Iowa 1884. Vgl. unten S. 303 (Anm. 242). 141 Vgl. Fürstlich Ysenburg- und Büdingensche Archiv- und Bibliotheksverwaltung (Hg.), Ver-

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Synodalbibliothek des Kreiskirchenarchives in Bad Berleburg vorhanden, wo auch im Schlossarchiv einzelne Werke zu finden sind. Die in dieser Arbeit textanalytisch untersuchte Hauptquelle, die 1781 ohne Angabe des Druckortes publiziert wurde und die inspirierten Aussprachen von Ursula Meyer aus den Jahren 1715 bis 1719 enthält, trägt den Titel: J. J. J.142 Ein Himmlischer Abendschein, Noch am Feyerabend In und mit der Welt; Ans Tages=Licht gestellt. Zu Innigster Prüfung und Erweckung vor Sehende, und den Blinden, Lebende, und doch Todten; Im Reich der Gnaden und auch Im Reich der Natur. Welchen der Geist der wahren Inspiration, durch Ursula Meyer, Eine ledige Tochter aus dem Schweitzerland; Doch hie und da im Teutschen Land, hat bezeugen und verkündigen lassen, o. O. 1781.143

Von besonderer Bedeutung sind die hier erstmals verwendeten handschriftlichen Quellen. Sie liegen sehr verstreut und oft ohne bisher erfasst worden zu sein in verschiedenen, vor allem deutschen, aber auch schweizerischen Archiven und Bibliotheken. Die einzelnen Fundorte sind: Fürst-Wittgensteinisches Archiv in Bad Laasphe (Schloss Wittgenstein), Fürstlich Ysenburg- und Büdingensches Archiv zu Büdingen, Archiv der evangelischen Brüdergemeine Ebersdorf, Archiv der evangelischen Gemeinde Eckartshausen, SenckenbergArchiv in Frankfurt am Main, Forschungsbibliothek Gotha, Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle, Unitätsarchiv Herrnhut und Hessisches Staatsarchiv Marburg und in der Schweiz das Staatsarchiv Bern, die Burgerbibliotheken von Bern und Thun und die Universitätsbibliothek Basel. Eigens erwähnt werden müssen der hier erstmals edierte Auszug eines persönlichen Briefes von Ursula Meyer aus dem Jahre 1738, in welchem sie selber über ihre Zeit als prophetisches »Werkzeug« Auskunft gibt,144 und das bisher unbeachtete handschriftliche Quellenmaterial aus der Research Library des Museum of Amana History in Amana, Iowa (USA).145 Letzteres wurde bisher noch nicht ausgewertet und enthält eine Fülle nicht publizierter Aussprachen inszeichnis des Depositums »Sammlung Mörschel« in der Schlossbibliothek Büdingen, Büdingen 1981, 1f.; Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 5, hg. v. Bernhard Fabian, Hildesheim u. a. 1992, 52f. 142 Wie oben Anm. 138. 143 Das Werk umfasst 384 S. [Octavformat]. Dieser Arbeit zugrunde gelegt ist das Exemplar, das sich im Thuner Burgerarchiv [BAT o. N.] befindet. Weitere Ex. sind vorhanden in: Spezialsammlung der Fürstlich Ysenburg- und Büdingenschen Bibliothek zu Büdingen (Depositum »Sammlung Mörschel«) [66c]; UB Münster [RARA 1E 12044–10]; Bibliothek des Staatlichen Gymnasiums Speyer [The 2]. 144 Vgl. unten Kap. V.1.3. 145 Es handelt sich dabei um Sammlungen zahlreicher handschriftlicher Aufzeichnungen von Aussprachen der verschiedenen »Werkzeuge« von 1714 an. Vgl. Donald F. Durnbaugh, Brethren Beginnings. The Origin of the Church of the Brethren in Early Eighteenth-Century Europe, Philadelphia, Penn. 1992, 73 (Anm. 35): 1714–1715 [ff.], Bezeugung des Geistes des Herrn, Museum of Amana History, Research Library (Collections of Manuscripts, ohne Signatur), Main Amana [früher: Amana Church Archives, Middle Amana], Iowa, 24 [ff.]. Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 51 (Anm. 56).

Einleitung

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besondere aus der Frühzeit.146 Angesichts dieser Fülle, die noch der Erschließung harrt, beschränke ich mich auf die Auswertung der mir in Form von Kopien von der Research Library zur Verfügung gestellten Aussprachen von Ursula Meyer. Die Edition der ungedruckten Quellen erfolgt nach den Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen.147 Zeitgenössische Drucke werden im Vokal- und Konsonantenbestand originalgetreu wiedergegeben. Abkürzungen und Siglen richten sich nach dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG2), bearbeitet von Siegfried M. Schwertner, Berlin/New York 21992. Zu darin nicht enthaltenen Abkürzungen verweise ich auf das spezielle Verzeichnis am Ende dieser Arbeit. Auf dem vorderen und hinteren Vorsatz finden sich zwei geografische Karten mit den wichtigsten hier erwähnten Ortschaften im deutschen Lebensraum Ursula Meyers. Karte vorn: Die Wetterau mit der Grafschaft Ysenburg (Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg, Kartensammlung, Sign. W. 912e). Karte hinten: Grafschaft Wittgenstein (Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Marburg, Kartensammlung, Sign. W. 916).

146 So ist die in der Forschung bisher kolportierte Meinung, es gebe in den Archiven der Amana Church Society keine handschriftlichen Quellen mehr zu den »Werkzeugen« aus dem 18. Jahrhundert und es handele sich bei der chronologischen Aufstellung von U.-M. Schneider (Propheten, 193–206) um eine »Übersicht aller Inspirationsaussprachen« (Schrader, Schweizerreisen, 355 [Anm. 5]) korrekturbedürftig. Den gedruckten Inspirations-Reden Johann Friedrich Rocks steht eine beträchtliche Zahl weiterer noch nicht publizierter Aussprachen zur Seite. 147 Vgl. ARG 72 (1981), 299–315. Namen, Titel und Anreden werden groß geschrieben.

BiografischeGrundlegung

Thun(1682 –1686)

I. Biografische Grundlegung: Die ersten dreißig Lebensjahre Ursula Meyers in der Schweiz (1682 – ca. 1711/12)1 1. Thun (1682–1686) Ursula Meyers Geburtsort war die an der Aare gelegene Stadt Thun. Seit 1384 gehörte sie vierhundert Jahre lang – bis zum Einmarsch der französischen 1 Die nun folgenden Ausführungen erfordern eine eigene quellentechnische Vorbemerkung. Am 6.2.1772 brannte das obere, zweite Pfarrhaus in Thun nieder. (Vgl. Carl Friedrich Ludwig Lohner, Die reformirten Kirchen und ihre Vorsteher im eidgenössischen Freistaate Bern, nebst den vormaligen Klöstern, Thun 1864, 329f.) Diesem Brand fielen sämtliche bis 1728 geführten Kirchenbücher Thuns zum Opfer. Dank eines zuvor erstellten Auszugs von Johann Heinrich Koch gingen jedoch nicht alle Eintragungen verloren. Als Johann Friedrich Deci Anfang des 19. Jh.s vom Thuner Stadtrat den Auftrag erhielt, ein Burgerregister zusammenzutragen, standen ihm außer den noch vorhandenen Auszügen Kochs weitere Quellen zur Verfügung. In seiner »Vorerinnerung« vom 1.1.1816 vermerkte Deci zu Beginn seiner sechsteiligen Genealogien der gegenwärtig florierenden und vorzüglichsten seit den zwei letzten Saeculis ausgestorbenen burgerlichen Geschlechter von Thun, Thun 1816 (Stadtbibliothek Thun [dep. BAT o. N.]): »Diese Genealogieen sind die Resultate von mehr als 25jährigen Nachsuchungen in den Kirchenbüchern, sowohl von Thun, als den mehresten Gemeinden des Cantons, in den Stadt, Zunft und vielen Contracten Manualen, vieler mir vorgekommenen genealogischen Sammlungen von Bern und anderen Orten, älteren Familienschriften u. d. gl. durchaus aus autentischen Quellen geschöpft.« Leider ist heute nur noch ein Bruchteil der »autentischen Quellen« eruierbar, die Deci vorlagen. Carl Friedrich Ludwig Lohners Genealogien der vorzüglichsten seit 1600, ausgestorbenen burgerlichen Geschlechter von Thun, Thun 1822 (Stadtbibliothek Thun [dep. BAT o. N.]) stützen sich sowohl auf die Auszüge als auch auf die von Deci erarbeiteten Genealogieen ab. Der Quellenvergleich zeigt, dass Lohner bei den hier vollständig ausgewerteten Einträgen zu Ursula Meyer und ihrer Familie inhaltlich von Deci nicht abweicht, sondern ihn wortgetreu wiedergibt. (Vgl. Burgerbuch. Verzeichnis der Burgerinnen und Burger von Thun, hg v. der Burgergemeinde Thun, Thun 1997, 9.) Nach Möglichkeit werden beide Quellen angegeben. Die in Betracht zu ziehenden, vollumfänglich konsultierten Rats-, Chorgerichts- und Waisenhausmanuale und Missive im BAT enthalten – mit wenigen zu besprechenden Ausnahmen – keine Hinweise auf Ursula Meyer selbst, dafür aber wertvolle Informationen zu ihrer Familie, vor allem dank deren burgerlicher Herkunft. Vgl. zum Folgenden den unten S. 44 beigefügten genealogischen Ausschnitt der nächsten Verwandtschaft Ursula Meyers. Die Angabe des Taufjahrs von Ursula Meyer finden wir in einem Auszug eines vor dem Pfarrhausbrand von 1772 angefertigten, nur Burger betreffenden Taufrodelextraktes: Taufrodel 1578–1728 [Auszug von J. Fr. Deci], BAT 508, 296. Darin fällt auf, dass Ursula Meyers Eltern nebst wenigen anderen Paaren mit »Herr« und »Frau« bezeichnet werden. Da es sich in diesen Fällen ausnahmslos um begüterte Burger mit angesehenen Ämtern oder besonderen Würden handelt, die zum Teil auch aufgeführt werden (siehe z. B. ebd.: »Hr. Johannes Rubin Med. Dr.«), lässt dieser Titel auf eine im Gemeinwesen hervorgehobene Stellung von Ursula Meyers Eltern schließen. Für wertvolle Hinweise beim Suchen und Auswerten der Quellen im Burgerarchiv Thun zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Burgerarchivar P. Küffer.

Thun (1682–1686)

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Revolutionsarmee im März 1798 – zu den Berner Untertanenstädten. Der auf der Zähringerburg amtierende Schultheiß von Thun wurde alle sechs Jahre vom Großen Rat in Bern gewählt.2 Als Stadtpräsident war er Vorsitzender der Stadtverwaltung, nämlich des Kleinen Rats, bestehend aus zwei Vennern und zehn Ratsherren, und des Großen Rats der Sechzig.3 Seine besondere Berntreue bewies Thun während des Bauernkriegs im Jahre 1653.4 Die politische Landschaft Berns zeichnete sich im 17. Jahrhundert sowohl durch eine fortschreitende und beabsichtigte Begrenzung des Kreises der Stadtburger5 als auch durch eine – gerade in Städteorten wie Bern – zunehmende Aristokratisierung6 aus. Zählte die Stadt Bern 1663 noch 500 burgerliche Familien, so waren es im Jahre 1684 noch 450 und 1694 nur noch 430.7 Von diesen Familien saßen 1635 159 Geschlechter, aber 1691 lediglich noch 104 im Großen Rat.8 Es lag im Interesse der regierenden Familien, die gewinnbringenden, prestigeträchtigen und daher begehrten Verwaltungsstellen dem eigenen, möglichst kleinen Kreis vorzubehalten. Dadurch verringerte sich auch das Risiko, Armenunterstützung leisten zu müssen.9 Die regimentsfähigen Burger in Bern schotteten sich vermehrt von den ewigen Einwohnern oder Habitanten und den nur geduldeten Hintersaßen ab, die alljährlich einen neuen so genannten »Toleranzzeddel« benötigten und keine politischen Rechte besaßen.10 Die Privilegierung des eigenen Standes manifestierte sich in einer oligarchisch ausgerichteten Politik. Sie führte zu einer Verschärfung der sozialen Unterschiede und einer Stärkung der Stadt gegenüber dem Lande. Die faktische Macht konzentrierte sich in den 2 Die Landvogtei Thun brachte keine großen Erträge ein und war nicht besonders begehrt. Vgl. Martin Trepp, Bilder aus der Geschichte der Stadt Thun, in: Das Amt Thun. Eine Heimatkunde, Bd. 1, hg. im Auftrage der Sektion Thun des bernischen Lehrervereins von der Heimatkundekommission, Thun 1943, 230–377, hier 285. 3 Vgl. Alfred Zesiger, Thun im XVIII. Jahrhundert, Sonderabdruck aus dem »Oberländer Tagblatt«, Thun 1931, 2f. 4 Vgl. Paul Anderegg, Die Entwicklung der Stadt Thun unter bernischer Herrschaft, Thun 1964, 32–37. 5 Vgl. Karl Geiser, Die Verfassung des alten Bern, in: Festschrift zur VII. Säkularfeier der Gründung Berns. 1191–1891, Bern 1891, IV, 1–143, hier 52: »Der charakteristische Hauptzug im inneren politischen Leben Berns während des XVII. Jahrhunderts ist die zunehmende Ausschliesslichkeit, sowohl bei den Aufnahmen in das Burgerrecht als bei den Wahlen in die Behörden. Das Burgerrecht [. . .] wurde nun eine Quelle materieller Vortheile.« Zur »Politik der Abschliessung« vgl. auch Rudolf Dellsperger, Die reformierte Orthodoxie, in: Lukas Vischer/Lukas Schenker/Rudolf Dellsperger (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg/Basel 1994, 164–172, hier 171. 6 Sie spiegelt sich auch im Aufkommen des Begriffs »Patrizier« in Bern Mitte des 17. Jh.s. 7 Vgl. Eduard von Rodt, Berns Burgerschaft und Gesellschaften, in: VII. Säkularfeier, II, 1–114, hier 67. 8 Vgl. Geiser, Verfassung, 67. 9 Vgl. von Rodt, Berns Burgerschaft, 67. Das »Prinzip der kommunalen Unterstützungspflicht« kam Ende des 17. Jh.s endgültig zum Tragen. Christoph von Steiger, Innere Probleme des bernischen Patriziats an der Wende zum 18. Jahrhundert, Bern 1954, 3. 10 Vgl. Geiser, Verfassung, 55; von Rodt, Berns Burgerschaft, 72.

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Biografische Grundlegung

Händen weniger Geschlechter. Alle diese eben geschilderten Tendenzen trafen in abgeschwächter Form auch auf die Stadt Thun zu. Der Einkaufspreis zur Einbürgerung war in Thun schon mehrmals erhöht worden, als »Rät und Burger« 1665 das Burgerrecht schlossen und keine weiteren Allmendnutznießer zuließen.11 Dieser Zustand hielt fast hundert Jahre – bis 1751 – an. Was Bern recht war, war Thun billig. Auch seine Burger beanspruchten im 17. Jahrhundert wirtschaftliche Privilegien und grenzten sich zunehmend ab. 1666 führte dies sogar zur Ausweisung aller Hintersaßen. Wer nicht freiwillig abzog, wurde mit Gewalt dazu gezwungen.12 Fast zwanzig Jahre später mussten infolge des Edikts von Fontainebleau vom 18. Oktober 1685 200.000 bis 300.000 französische Hugenottinnen und Hugenotten ihre Heimat verlassen. Der »Grand Refuge« setzte jedoch schon im Spätherbst 1683 ein. Er war jene Flüchtlingsperiode, »[qui] fut la plus importante et celle qui dura le plus longtemps«.13 Viele Vertriebene zogen auf der Suche nach einer neuen Bleibe durch die benachbarte Eidgenossenschaft. Etliche von ihnen ließen sich hier ganz nieder.14 Zwischen 10.000 und 20.000 dürften in den evangelischen Ständen aufgenommen worden sein.15 Kurz nach Einsetzen des »Grand Refuge« schloss Bern 1684 einen Vertrag mit dem reformierten brandenburgischen Kurfürsten, der sich aktiv um die Aufnahme hugenottischer Flüchtlinge bemühte. Er war eifrig bestrebt, sein nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) unterbevölkertes Land zu »repeuplieren« und seine eigene Position gegenüber den Ständen zu stabilisieren.16 Die Hugenotten blieben nicht die einzigen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und Schutz benötigten. Schätzungsweise 3.000 Waldenserinnen und Waldenser aus dem Piemont flohen in die Schweiz und suchten Anfang des Jahres 1687 in den reformierten Ständen um Asyl.17 In den letzten beiden Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts überquerten mindestens 45.000 Hugenotten/-innen und Waldenser/-innen die französisch- oder savoyisch-eidgenössische Grenze.18 Der Flüchtlingsstrom machte vor den Toren der Stadt Thun nicht 11 Vgl. Anderegg, Entwicklung, 30; Hugo Haas, Die Entwicklung der Stadt Thun. Beiträge zur Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie der Stadt Thun, Thun 1926, 73. 12 Vgl. Anderegg, Entwicklung, 30f. u. 37f. 13 Bruno Barbatti, Le rôle de Zurich dans le Refuge Huguenot, in: Association Suisse pour l’Histoire du Refuge Huguenot (éd.), Bulletin 22 (2000/01), 7–14, hier 8. 14 Vgl. Markus Küng, Die bernische Asyl- und Flüchtlingspolitik am Ende des 17. Jahrhunderts (Publikationen der Schweizerischen Gesellschaft für Hugenottengeschichte, Bd. 2), Genève 1993, 3f. u. unten Exkurs zu den Anfängen der Strumpfmanufaktur in Bern. 15 Vgl. Vischer u. a., Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, 182. 16 Vgl. Thomas Klingebiel, Deutschland als Aufnahmeland: Vom Glaubenskampf zur absolutistischen Kirchenreform, in: Rudolf von Thadden/Michelle Magdelaine (Hg.), Die Hugenotten, München 1985, 85–99, hier v. a. 96–98; Rudolf von Thadden, Vom Glaubensflüchtling zum preussischen Patrioten, in: von Thadden/Magdelaine, Hugenotten, 186–197, hier v. a. 190f. 17 Vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 4. 18 Dem hält Rémy Scheurer entgegen, dass Zahlen hinsichtlich den aus Frankreich über die

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Halt. Sie zählte Ende des 17. Jahrhunderts rund 1.400 Einwohner.19 Die zum Teil verarmten und kranken Flüchtlinge brauchten Unterkunft, Verpflegung und Zuwendung. Ein Drittel aller Ende des 17. Jahrhunderts im Staate Bern erfassten Hugenotten/-innen war auf öffentliche Mittel angewiesen.20 Für Thun waren die Flüchtlinge besonders nach 1681 finanziell zunehmend belastend.21 Eine 1686 bestellte Exulantenkommission setzte die jedem Burger gemäße zusätzliche Steuer fest, die als drückend empfunden wurde und Anlass zu Klagen bot.22 Im Februar und März 1687 kamen über 190 weitere schutzsuchende Waldenser/-innen in Thun an, von denen etwa 70 im Amt Thun blieben.23 Große Unbill brachten der Bevölkerung klimatische Begebenheiten: Die Winter der Jahre 1684/85 und 1694/95 waren so kalt, dass sogar der Thunersee zufror.24 Carl Manuel, Mitglied des Großen Rats in Bern und von 1686 bis 1692 Schultheiß zu Thun, sprach in seinen Kalendernotizen von »gefährlichen Zeiten« und großen, beängstigenden Kometsternen, wodurch er einen Eindruck der damaligen Stimmung vermittelt.25 Hier in Thun wurde Ursula Meyer im Jahre 1682 kurz vor dem ersten Eintreffen größerer hugenottischer und waldensischer Flüchtlingsströme in einer politisch hochbrisanten Zeit geboren und getauft. Sie entstammte einer angesehenen und recht gut situierten Familie. Ihr Vater Caspar Meyer und ihre Mutter Rosina Fankhauser hatten zusammen vier Kinder, von denen Ursula das dritte war. Ihre Mutter war in Thun als älteste von fünf Geschwistern aufgewachsen und entstammte einer Kirchmeiersfamilie.26 Das Amt des Kirchmeiers, der sich Schweiz geflohenen Réfugiés lediglich »Spekulationen« seien. Ders., Durchgang, Aufnahme und Integration der Hugenottenflüchtlinge in der Schweiz, in: von Thadden/Magdelaine, Hugenotten, 38–54, hier 41. 19 Vgl. Trepp, Bilder, 240. 20 Vgl. Scheurer, Hugenottenflüchtlinge, 48. 21 Vgl. Eduard Bähler, Religiöse und politische Flüchtlinge in Thun am Ausgang des XVII. Jahrhunderts, in: BT (1905), 43–77, hier 54 u. 64; Hans Gustav Keller, Aus dem Leben eines bernischen Landvogts. Karl Manuel, Schultheiss in Thun 1681–1692, Sonderabdruck aus dem BT (1932), 19–22. 22 Vgl. Bähler, Flüchtlinge, 57 u. 65. Zu der vom Frühling 1687 bis zum Herbst 1688 in Thun erhobenen Exulantensteuer vgl. Keller, Aus dem Leben, 21. 23 Vgl. Franz Thormann, Eines Berners Kalendernotizen im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, in: BBG 19 (1923), 158–205, hier 198. 24 Vgl. Christian Pfister, Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariation und Naturkatastrophen, Bern 1999, 105; Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, 167f. u. 173f. [Freundlicher Hinweis von Herrn lic. phil. Tobias Krüger]. 25 Thormann, Kalendernotizen, 188f. u. 194f. Zum zeichenhaften Verständnis von Sternen und Kometen in der Frühen Neuzeit vgl. Rosmarie Zeller, Wunderzeichen und Endzeitvorstellungen in der Frühen Neuzeit. Kometenschriften als Instrumente von Warnung und Prophezeiung, in: Morgen-Glantz, Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 10 (2000), 95–132, hier v. a. 103–106. 26 Rosina Fankhauser war Tochter der Anna Maria Krumm von St. Gallen und des ursprünglich aus Burgdorf stammenden David Fankhauser. Aus der 1650 geschlossenen Ehe gingen fünf

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um »die Unterhaltung des Gotteshauses, die Beschaffung des ›Nachmahlbrotes[sic] und Weines‹ und die Aufsicht über Siegrist und Organist«27 zu kümmern hatte, war Mitgliedern des Großen Rats vorbehalten.28 Vermutlich ist Kirchmeier David Fankhauser – der Großvater Ursula Meyers mütterlicherseits – identisch mit dem gleichnamigen Thuner Wirt des berühmten Freienhofes.29 Es handelt sich um jenen Gasthof an der Sinne, in welchem sich im darauf folgenden Jahrhundert u. a. Albrecht von Haller, Jean-Jacques Rousseau, Horace Benedict de Saussure und Johann Wolfgang Goethe einquartiert haben.30 Caspar Meyer [Vater]31 war Rosina Fankhausers zweiter Ehemann. In erster Ehe war sie mit einem gewissen Franz Hünig aus Burgdorf verheiratet gewesen.32 Aus der Verbindung ging mindestens ein Sohn hervor, der als »junger Hünig« bzw. »Stiefsohn« des Caspar Meyer [Vater] aktenkundig ist.33 Den Vater Ursula Meyers hatte die 22/23jährige Rosina Fankhauser am 13. September 1674 nach dem Tod ihres ersten Mannes geheiratet.34 Caspar Meyers [Vater] bisheriges Leben war schon ausgesprochen bewegt verlaufen.35 ZahlKinder hervor, wovon Ursula Meyers Mutter – 1651 geboren – das erste war. Vgl. Lohner, Genealogien, 155 [David Fankhauser]. David Fankhauser erhielt 1653 das Thuner Burgerrecht, wurde vier Jahre später Mitglied des Großen Rats und bekleidete von 1662 bis 1664/65 das Amt des Kirchmeiers. Die exakte Amtsdauer lässt sich nicht mit letzter Sicherheit erschließen, da im Aemter-Buch der Stadt Thun (bearb. durch Carl Friedrich Ludwig Lohner, Thun o. J., Stadtbibliothek Thun [dep. BAT o. N.], 410) das Jahr der Wahl und nicht der genaue Amtsantritt eingetragen ist. 27 Trepp, Bilder, 291. 28 Vgl. Peter Küffer, Thun. Geschichtliche Zusammenfassung von einst bis heute, Thun 1981, 46. 29 Vgl. Trepp, Bilder, 279. 30 Vgl. Bähler, Flüchtlinge, 77. 31 Großvater, Vater und jüngster Bruder Ursula Meyers heißen alle gleich. Um Verwechslungen zu vermeiden, gebe ich in eckigen Klammern jeweils an, um welchen Caspar Meyer es sich handelt. 32 Vgl. Lohner, Genealogien, 155 [David Fankhauser], 342 [Caspar Meyer]. 33 Vgl. RM 6, BAT 58 (24.1.1687), 524; RM 7, BAT 60 (30.4.1688), 50. Vgl. auch XXXVI. Sammlung (1785), 108: Am 20.11.1719 macht sich J. Fr. Rock, der in Burgdorf weilt, auf, »der Schwester U. und H. Meyerin Stiefbruder zu grüßen, Namens Hünig«. 34 Vgl Lohner, Genealogien, 155 [David Fankhauser], 342 [Caspar Meyer]. 35 Er kam 1647 als Sohn der Helene Morell und des Caspar Meyer zur Welt. Vgl. Lohner, Genealogien, 341. Zu den Schwierigkeiten, die dieser Geschlechtsname in genealogischer Hinsicht bereitet, vgl. die einleitende Feststellung in Lohner, Genealogien, 317: »Von diesem Namen blühten besonders nachstehende drei burgerliche Familien«, wobei unsere Familie zur jüngsten gehörte (vgl. ebd., 341), und Wappenbuch der burgerlichen Geschlechter der Stadt Bern, hg. v. der Burgergemeinde, Bern 1932, 82 unter »Meyer«: »Weitverbreiteter Geschlechtsname in Bern, seit dem 14. Jh. nachweisbar, wobei aber die Familien nicht auseinanderzuhalten sind. Schon der gelehrte Dekan Gruner sagt 1757 in seinen Berner Genealogien von dem Geschlecht Meyer: ›Deren sind vier diesmal regierungsfähige Burger der Stadt Bern. Vormals waren deren noch mehrere, teils Burger, teils Habitanten, die aber ausgestorben. Welche alle schwerlich können unterscheiden werden.‹ Heute fällt dies für die alten Familien noch schwerer.« Unsere Thunburger-Familie Meyer wird später in Bern zu den Habitanten gehört haben.

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reiche Ortswechsel kennzeichneten seine Biografie. Dies mochte mit der Herkunft seines eigenen, ursprünglich aus Lindau stammenden, gleichnamigen Vaters zusammenhängen. Caspar Meyer [Großvater] wurde 1643 ins Thuner Burgerrecht aufgenommen36 und 1646 in den Großen Stadtrat gewählt.37 1650 erlaubte ihm der Rat, nachdem er ein Gesucht gestellt hatte, »ein jahr lang ußert landts uff synem guett mit wyb und kindern ohne verwürckung synes burgerrechts zu wohnen«.38 Dieser Auslandaufenthalt in »Gottlieben im Schwabenland«39 zog sich in die Länge.40 Im Sommer 1655 schließlich wurde dem Großvater Ursula Meyers, der einige Zeit nicht mehr in Thun erschienen und seinen burgerlichen Pflichten nicht nachgekommen war, mit dem Entzug des Burgerrechts gedroht.41 Die Söhne des inzwischen verstorbenen Großvaters – Caspar [Vater] und Hans Ruprecht Meyer – erlangten erst 1662 das Thuner Burgerrecht.42 Der Vater von Ursula Meyer verbrachte demnach mehrere Jahre – den größeren Teil seiner Kindheit – außer Landes, ehe er nach Thun zurückkehrte. 1677, im Alter von dreißig Jahren, wurde Caspar Meyer [Vater] – wie schon einst sein Vater – Mitglied des Großen Stadtrats in Thun.43 Dieser setzte sich jeweils hauptsächlich aus Vertretern der fünf Zunfthäuser zusammen, die vom Kleinen Rat aufgestellt worden waren.44 Zur gleichen Zeit wie Caspar Meyer [Vater] saß der nur ein Jahr jüngere Dr. Johannes Rubin im Rat.45 Die Wahl in den Großen Rat bedeutete eine Stärkung der eigenen sozialen Stellung und einen Zuwachs an politischen Einflussmöglichkeiten. 1681 trat Caspar Meyer [Vater] in den Ratsmanualen erstmals als Wirt des Gasthofs zum Kreuz in Erscheinung.46 Inzwischen war er Vater eines Sohnes, 36 Vgl. Genealogia Civium Thunensium 1576–1886, BAT 504, 155; RM 4, BAT 54 (3./4.7.1643), 252. Da »zum Eintritt in den Verband der Besitz eines Fdels in der Stadt [Thun; IN] vorgeschrieben war«, muss Caspar Meyer [Großvater] einen »Anteil an einem städtischen Haus oder Grundstück« besessen haben. H. Rennefahrt, Überblick über die staatsrechtliche Entwicklung, in: Amt Thun, 197–229, hier 226 u. 211. 37 Vgl. Lohner, Genealogien, 341 [Caspar Meyer]. 38 RM 4, BAT 54 (6.3.1650), 385. 39 Gottlieben liegt bei Konstanz am Bodensee im Thurgauischen. Vgl. Herdi [sic], Art. Gottlieben, in: HBLS 3 (1926), 612f. 40 1652 beschloss der Rat, Caspar Meyer noch bis Weihnachten zu »vergünstigen«, RM 4, BAT 54 (11.3.1652), 411. Es wird an einen Erlass der Wacht-, Wehr- und Steuerpflicht zu denken sein. Vgl. Küffer, Thun, 47f. 41 Vgl. RM 5, BAT 56 (Johanni Sommer 1655), 36f. 42 Vgl. RM 5, BAT 56 (24.9.1662), 216f. Aus dem Eintrag geht hervor, dass die beiden sich zur finanziellen Wiedergutmachung der väterlichen »Versäumnisse« anerboten hatten. 43 Vgl. Lohner, Genealogien, 342. 44 Vgl. Trepp, Bilder, 263. 45 Vgl. Anm. 1. 46 RM 6, BAT 58 (26.4.1681), 218. Im März 1686 leiht David Wild, Falkenwirt in Bern, Caspar Meyer [Vater] 800 Kronen und erhält dafür als Pfand das Weiße Kreuz im Roßgarten zu Thun. Vgl. BAT K. 974. Am 7.12.1701 geht das Weiße Kreuz in Besitz der Stadt Thun über.

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Georg, und einer Tochter, Helena.47 Georg kam 1678 – vier Jahre nach der Hochzeit der Eltern – zur Welt, und Helena folgte ihm ein Jahr später. 1682 schließlich wurde Ursula Meyer geboren. Ihr folgte ein Jahr später noch der jüngste Bruder, Caspar.48 Genealogischer Ausschnitt der nächsten Verwandtschaft von Ursula Meyer49 Aufgeführt sind Ursula Meyers Großeltern, Eltern und Geschwister: Caspar Meyer [Großvater] (Lindau) Helene Morell50

David Fankhauser (Burgdorf) Anna Maria Krumm (St. Gallen)

Caspar Meyer [Vater] (1647 – ?)

Rosina Fankhauser (1651 – ?)

1. Georg (1678–?) 2. Helena (1679–1754)52 3. Ursula (1682–1743)53 4. Caspar [Bruder] (1683–1734)

»junger Hünig«51

Vgl. BAT Sch. 40, Kuv. 1, Nr. 1 [Freundlicher Hinweis von Herrn P. Küffer]. Dass es sich um den Vater von Ursula Meyer handelt, nehme ich primär aufgrund des Vergleichs der kurz aufeinander folgenden Einträge in RM 6, BAT 58 (24.1.1687) 524 und (16.2.1687), 531 an. Am 24.1.1687 wird Herr Caspar Meyer »zu Bern« (vgl. unten S. 45) und am 16.2.1687 »H. Caspar Meyer zum Creütz« aufgefordert, sich um das Heimatrecht des Stiefsohnes zu kümmern. Zu den fünf Gasthöfen im damaligen Thun vgl. Küffer, Thun, 75–77. 47 Georg verstarb in Holland und Helena 1754 in Frankfurt a. M. Vgl. Deci, Genealogieen, 46; Lohner, Genealogien, 342. 48 Caspar [Bruder] übte den Beruf des Strumpfwebers aus, heiratete die Bernerin Veronica Sprüngli, Tochter des Thurnener Pfarrers Daniel Sprüngli. Sie gebar 1719 einen Sohn – Samuel Gottfried – und starb am 10.3.1724. Caspar Meyers zweite Ehefrau hieß Magdalena Dante von Neuenstadt; sie starb kinderlos im August 1729. Ursula Meyers Neffe, Samuel Gottfried Meyer, wurde Schneider, heiratete Ursula Altheer von St. Gallen und starb kinderlos am 26.7.1799 – im selben Jahr wie seine Frau. Vgl. Extract des Todten-Rodels der Statt Thun betreffend der burgerlichen Familien von allda [Auszug Johann Friedrich Deci], Thun o. J., Stadtbibliothek Thun (dep. BAT o. N.), 12; Lohner, Genealogien, 342–344. 49 Vgl. Deci, Genealogieen, IV. Theil, 46 [Caspar Meyer]; Lohner, Genealogien, 155 [David Fankhauser], 341 [Caspar Meyer], 342 [Caspar Meyer]. 50 Helene Morells Herkunft bleibt unklar, da Morell ein »in mehreren Ktn. der französischen und deutschen Schweiz verbreiteter Familienname« ist (Th. Im Hof, Art. Morel/Morell, in: HBLS 5 [1929] 160f., hier 160). 51 Vgl. S. 42. 52 Helena Meyer blieb ledig und wurde am Donnerstag, dem 9.5.1754 in Frankfurt a. M. beerdigt. Vgl. Totenbuch der Stadt Frankfurt a. M. Nr. 19 (1751–1754), S. 1076b (9.5.1754), Eintrag Meyer [Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt a. M.]. 53 Ursula Meyer blieb ebenfalls ledig und wurde am Dienstag, dem 15.1.1743 in Frankfurt a. M. beerdigt. Vgl. Totenbuch der Stadt Frankfurt a. M. Nr. 17 (1736–1743), S. 1225 (15.1.1743), Eintrag Meyer [Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt a. M.].

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2. Bern (1686–ca. 1700/02) Am 30. April 1688 wird Caspar Meyer [Vater] in den Thuner Ratsmanualen erstmals als »postverweser«54 bezeichnet. Er dürfe sein Vieh nur noch in diesem Jahr auf die Allmend treiben und solle sich für seinen Stiefsohn um ein Heimatrecht bewerben.55 Es war nicht die erste Aufforderung an Caspar Meyer [Vater], dem jungen Hünig ein Heimatrecht zu besorgen.56 Schon am 24. Januar 1687 beschloss der Rat, mit ihm »zu Bern«57 in dieser Angelegenheit zu sprechen. Dieses Datum bezeichnet den terminus ante quem des Umzugs Caspar Meyers [Vater] nach Bern, denn »zu Bern« bezieht sich auf seinen neuen Aufenthaltsort. Sonst bliebe es unerklärlich, weshalb der Rat mit ihm zusammen in Bern und nicht gleich in Thun zu sprechen verlangte. Da der Umzug der Familie Meyer von Thun nach Bern per Schiff geschehen sein wird, rechne ich damit, dass sie zwischen Frühling und Herbst 1686 nach Bern kam.58 Man drohte Caspar Meyer [Vater] von Thun aus sogar mit der Konfiszierung seines Allmend- und Seyrechts.59 Die Einträge im Sey-Rodel bestätigen, dass er bis 1706 immer noch Vieh in Thun hatte.60 Zugleich bezeugen sie mit dem Höchstwert von acht Kühen Meyers Wohlstand. Da er diese Kühe gerne weiterhin auf die Allmend treiben lassen wollte, wurde er aufgefordert, sein Anliegen vor »Rät und Burger« zu bringen.61 Am 24. Juni 1689 wurde Herrn Caspar Meyer »im posthaus«62 erlaubt, im Sommer des laufenden Jahres noch sein Vieh auf der Allmend zu weiden. Doch künftig müsste er selber oder durch seine Frau und Kinder eine Haushaltung in Thun führen. Aus dem Erwähnten geht hervor, dass Ursula Meyer spätestens Ende 1686 – als vierbis fünfjährige – in der Stadt Bern anzutreffen war.

54 RM 7, BAT 60 (30.4.1688), 50. 55 Vgl. ebd. 56 Vgl. Anm. 46. 57 Ebd. 58 Für einen frühen Umzugstermin spricht die oben Anm. 46 erwähnte Zinsverschreibung vom 24.3.1686. Vgl. dazu die kurze, aber stimmungsvolle Notiz über den 1692 erfolgten Umzug des Schultheißen Carl Manuel von Thun nach Bern in: Thormann, Kalendernotizen, 203: »bin ich des Morges [sic] neben meiner gliebten Husfr., lieben Kinderen und gantzer Haushaltung von Thun nach Bern uf dem Waßer gefahren, habend ein gantze Schieffeten mit aller Gattung Husrath mit uns genohmen; sind auch glücklich, Gott Lob, allerseiths alda ankommen.« 59 Vgl. RM 6, BAT 58 (16.2.1687), 531. Jedem Burger kam bis zur Mitte des 16. Jh.s das Recht zur Allmendnutzung zu. Später wurde dieses Nutzungsrecht vom Erwerb des Burgerrechts abgekoppelt und musste separat erworben werden. Dies führte zu einer Zweiteilung der Burger: »Solche mit und solche ohne Seyberechtigung.« Küffer, Thun, 58. Vgl. Rennefahrt, Überblick, in: Amt Thun, 226. 60 Sey-Rodel zu Thun, 1688–1714, BAT 1478. Ab 1707 sind keine Einträge mehr verzeichnet. 61 Vgl. RM 7, BAT 60 (26.4.1689), 116 u. (18.5.1689), 118. 62 RM 7, BAT 60 (24.6.1689), 123.

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Biografische Grundlegung

Etwa zehn Jahre nach Einführung des ersten Berner Postreglements vom 23. Juni 1677 durch den Großen Rat finden wir Ursula Meyers Vater in der Schlüsselfunktion des Postverwesers in Bern wieder.63 Als »oberster Chefbeamter« waren ihm »alle Posthalter und Postreiter direkt unterstellt«.64 Das erste Berner Postamt wurde »in der ›Schreybstuben hinder dem Laden zum Schützen‹«65 eingerichtet. 1686/94 entstand das Haus an der heutigen Postgasse 64. Das bernische Postregal hatte man 1675 geschaffen, und mit dem ersten Berner Postreglement wurden die Posttarife und das Vorgehen bei Haftpflichtfällen geregelt. Als Pächter des Berner Postunternehmens wurde am 21. September 1675 dessen Gründer Beat Fischer (1641–1698) ernannt. Er war Mitglied des Großen wie auch später des Kleinen Rats und gehörte der gleichen Generation wie Caspar Meyer [Vater] an. »Die Trumpfkarte, dass inskünftig der gesamte Posttransit durch die Hauptstadt geführt wird, sticht [. . .]. An die Stelle hoher Kosten für unzuverlässige Fussboten und, ob der Unsicherheit der Straßen, gefährdete Standesläufer sollen schon bald die Einkünfte aus Pachtzinsen treten, so die Argumente Beat Fischers«.66 Ab sofort nahm Bern in Postangelegenheiten die führende Rolle in der Eidgenossenschaft ein.67 Fischer baute mit großem Verhandlungsgeschick ein professionell funktionierendes Postnetz auf. Hand in Hand damit ging der Ausbau des Straßennetzes, welcher besonders im Staat Bern aufgrund einer fortschrittlichen Verkehrspolitik vorangetrieben wurde.68 Hauptsitz des jungen Unternehmens war die Stadt Bern, die bislang von den Botenlinien der vormals wichtigsten Postverbindung, dem von Sankt Galler und Zürcher Kaufleuten betriebenen Lyoner Ordinari, unberücksichtigt geblieben war.69 Beat Fischer wählte seine Angestellten frei aus. Am 28. Februar 1688 – kurz vor Ausbruch des Pfälzischen Krieges – wurde Caspar Meyer [Vater] vereidigt.70 Als Postverwalter »schwert derselbe der statt Bern treuw und wahrheit 63 Vgl. zum Folgenden: Jean-Pierre Haldi, Beat von Fischer gründet das bernische Postunternehmen, SA 1975; Arthur Wyss, Die Post in der Schweiz. Ihre Geschichte durch 2000 Jahre, Bern 21988, 59–92 [Die Fischerpost: Bern wird Postmetropole der Eidgenossenschaft]; Thomas Klöti, Die Post: »Ein Geschäft« – für wen?, Geschichte des bernischen Postwesens von 1648–1798, Bern 1990; Andreas Kellerhals-Maeder/Thomas Klöti/Karl Kronig, Bevor die Post verstaatlicht wurde. Die Post der Fischer 1675–1832, Bern 1991; Annelies Hüssy, Die Geschichte der Fischerpost 1798–1832, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde (1996/2 + 3), 107–232. 64 Wyss, Post, 65. Vgl. auch Hans Müller, Die Fischersche Post in Bern, Bern 1917, 85. 65 Wyss, Post, 65. 66 Hüssy, Fischerpost, 113. 67 Vgl. Müller, Fischersche Post, 182. 68 Vgl. von Steiger, Innere Probleme, 24f. 69 Zum Lyoner Ordinari, der Strecke via Solothurn, Aarberg und Genf nach Lyon, vgl. Müller, Fischersche Post, 35–37; Kellerhals-Maeder u. a., Bevor die Post, 10f. 70 Vgl. StAB, A I 636, Gross eyd buch (1686 [sic]), 411. Eyd des Postverwalters. Schluss des Eides abgebildet in: Klöti, Post, 455. Klöti entziffert die Unterschrift des Eides fälschlicherweise

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zu leisten, ihren nutzen zu fürderen und schaden zu wenden«.71 Er musste sich zur Zuverlässigkeit in der Ausübung seines Amtes verpflichten und hatte möglichst Bedienstete aus dem Staate Bern anzustellen. Weiter oblag ihm die Pflicht, verdächtige Briefe und Schriften zu beschlagnahmen und umgehend der Obrigkeit auszuhändigen.72 Thomas Klöti schließt vom Umfang des Eids auf eine besonders verantwortungsvolle Position des Berner Postverwalters.73 Während Beat Fischer mit internationalen Verhandlungen beschäftigt war,74 erledigte Caspar Meyer die anfallenden Geschäfte. Klöti meint, »derartige ausführende Tätigkeiten konnten, gemäß dem damaligen Standesdenken, nicht durch einen regimentsfähigen bernischen Patrizier geleistet werden.«75 Als Beat Fischer am 23. März 1698 plötzlich verstarb, übernahmen seine drei Söhne den Betrieb.76 Am 10. Oktober 1699 wird vermerkt, dass Caspar Meyer im Posthaus zu Bern ein Heimatschein erteilt worden sei.77 Caspar Meyer hatte demnach die Absicht, Bern zu verlassen. Ob ein Zusammenhang mit dem in eben diesem Jahr in Bern erfolgten und noch ausführlicher zu besprechenden Pietistenprozess bestand, muss offen bleiben. Caspar Meyer mit »Caspar Weyer von Thun juravit 28.2.1688«. Es handelt sich aber ohne jeglichen Zweifel um Caspar Meyer [Vater]. 71 StAB, A I 636, Gross eyd buch (1686 [sic]), 411. 72 Vgl. Müller, Fischersche Post, 84f. 73 Vgl. Klöti, Post, 454. 74 Am 6. Juli 1695 schloss er einen Postvertrag mit dem Kurfürsten von Brandenburg ab, und »von 1691 an waren mit England, Holland und den Fürsten von Thurn und Taxis Verhandlungen wegen Einrichtung einer Verbindung im Gange, die, um französisches Gebiet nicht zu berühren, sich dem linken Rheinufer entlang bis Basel erstrecken und dienen sollte, durch Vermittlung der Berner Posten einen direkten und von Frankreich unabhängigen Verkehr zu den genannten Ländern und dem südlichen Europa zu schaffen«. Charles Hoch, Die ersten Posteinrichtungen in der Schweiz, in: BT (1884), 87. 75 Klöti, Post, 454. Die Frage, weshalb Beat Fischer ausgerechnet Caspar Meyer von Thun zu seinem Postverwalter auserkor, konnte bislang nicht beantwortet werden. Stand Caspar Meyer als Besitzer des Gasthofes zum Kreuz und Pferdehalter (vgl. das Pferd in einem Meyerschen Wappen, abgebildet in: Wappensammlung Carl Friedrich Ludwig Lohner, Sammlung Schärer, Thun o. J., BAT o. N., 36 [Freundlicher Hinweis von Herrn P. Küffer]) schon zuvor in einer Beziehung zum bereits vor Beat Fischer bestehenden Botenverkehr? Diente das Kreuz Standesboten als Postablage und Ort des Pferdewechsels? (Zur Herleitung des Begriffs Post von »posita-statio« als Bezeichnung einer Pferdewechselstelle vgl. Kellerhals-Maeder u. a., Bevor die Post, 8). Postangestellte wurden gerne aus Wirten als »Schnittpunkte[n] ländlicher Kommunikationsnetze« rekrutiert (Kellerhals-Maeder u. a., Bevor die Post, 88). Die verfügbaren Quellen schweigen. Besaß Caspar Meyer [Vater] – etwa aufgrund seines langjährigen Auslandaufenthalts, seiner thunburgerlichen Stellung, seines möglichen Wohlstands und seiner beruflichen Erfahrung – Voraussetzungen, die ihn für die neue Aufgabe eines Postcomis prädestinierten? Gewiss lässt sich sagen, dass die Besetzung eines wegen des Informationsflusses staatspolitisch so heiklen Postens wie der des Berner Postverwalters mit großer Sorgfalt vorgenommen worden sein muss. Caspar Meyer [Vater] scheint die Kriterien des guten Leumunds, der Diskretion und der Vertrauenswürdigkeit offensichtlich erfüllt zu haben. 76 Vgl. Klöti, Post, 456–460. 77 RM 8, BAT 62 (10.10.1699), 126.

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Biografische Grundlegung

[Vater] verließ seine Stelle als Postverwalter in Bern spätestens, nachdem die Obrigkeit eine Verlängerung des Pachtvertrages mit den Söhnen Beat Fischers ablehnte und am 21. Juli 1702 vorübergehend eine Postregie einführte.78 In der Folge geriet er in eine sich über mehrere Jahre hinziehende Auseinandersetzung mit den Herren Fischer um eine »strittige abrechnung einer obligation von 1350 kronen«,79 wobei Meyer die Klage führte. Da Caspar Meyer [Vater] nach Beendigung seiner Anstellung aus dem Posthaus ausgezogen sein muss und seine inzwischen erwachsenen Kinder später in Thun anzutreffen sind, vermute ich, dass Ursula Meyer zwischen 1700 und spätestens 1702 wieder nach Thun zog. Thun(ca.1700/02 –ca.1711/12)

3. Thun (ca. 1700/02–ca. 1711/12) Caspar Meyer [Vater] tritt in den Quellen erst wieder in Zusammenhang mit der Hochzeit seines gleichnamigen jüngsten Sohnes in Erscheinung. Dieser wird im Gegensatz zum Vater wohlweislich nicht als »Herr« bezeichnet. Caspar Meyer [Bruder] bot Anlass für eine Fülle von Manualeinträgen. Im Chorgericht zu Bern verhandelte man 1708 ausgiebig seine Hochzeit mit »Jungfrau Anna Veronica Sprünglin von allhieren«.80 Caspar Meyer [Vater] war im Besitz mehrerer Strumpfwebstühle, von denen sein Sohn einen tauglichen zur Hochzeit auslesen durfte.81 Im Sommer desselben Jahres 1708 wurde Caspar Meyer [Bruder] in Thun aufgrund »ungehaltenen redens« und Androhens der Blutrache in einer nicht näher erklärten Angelegenheit aufgefordert zu »bereuen«, Abbitte zu leisten, »die worte zurückzunehmen und in sich zu schlucken«, sich zu bessern und mehr »respekt« gegenüber seinen Vorgesetzten zu zeigen. Zudem wurden ihm »müßiggang« und »liederliches leben« vorgeworfen und bei »harter strafe« befohlen, seinem Beruf »fleißiger« nachzugehen.82 Doch schon ein Jahr später 78 Zur Berner Postregie von 1702–1708 vgl. Klöti, Post, 460–478. StAB, AII 595 (10.10.1702) handelt von einer ausstehenden Rechnung zwischen »Herren Fischer von Reichenbach [. . .], und Herrn Caspar Meyer ihrem vormaligen bedienten«. Spätestens im Sommer 1702 ist Caspar Meyer nicht mehr als Postcomis in Bern angestellt. Zu diesem Zeitpunkt wird erstmals von den finanziellen Differenzen zwischen den beiden Parteien berichtet. Aus einer Zusammenstellung des finanziellen Betriebsaufwandes zwischen August 1702 und August 1703 geht hervor, dass das Berner Postbüro außer einem Sekretär und einem Briefträger vier Postangestellte beschäftigte, wobei der Name Meyer nicht mehr fällt. Vgl. Klöti, Post, 466. Listen, die über die Besetzung der Postcomisämter Auskunft geben könnten, sind nicht mehr vorhanden. 79 StAB, AII 613 (12.3.1707). Der früheste Beleg in dieser Angelegenheit findet sich StAB, AII 596 (9.12.1702), und der letzte StAB, AII 624 (2.7.1709). 80 StAB, BIII 612 (1707–1708) Nr. 586 vom 20.6.1708, 494. 81 Vgl. ebd., 496. 82 RM 9, BAT 64 (17.8.1708), 102f.

Thun (ca. 1700/02–ca. 1711/12)

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hielt der Rat fest, dass Caspar Meyer [Bruder] in seiner »liederlichkeit« fortfahre und seine Frau finanziell in Mitleidenschaft ziehe, weshalb diese »versichert« werden müsse.83 Caspar Meyer [Bruder] musste vor das Waisengericht. Im selben Eintrag vom 26. November 1709 findet sich eine Ursula Meyer betreffende Bemerkung: »Mitthin dem Vogt befelch erteihlen, zusehen, was jeniger stuhl, so sein, Meyers vatter, seinen töchteren verordnet und H. Kilchmeyer Bischoff die verwaltung darüber anbefohlen haben soll, vor ein stuhl seye und woher er komme; der meinung, fahls diser stuhl auß des vatters mittlen seye, selbiger auch sein, deß jungen Meyers frauwen, weilen sie auß ihren mittlen ihres schwehers84 schulden bekannter maßen zahlen müßen zu versicherung ihres halbigen guts, [. . .] zugestellt und verschrieben seyn solle.«85

Ursula und ihre ältere Schwester Helena Meyer hatten offenbar von ihrem Vater – wohl zur Finanzierung der eigenen Lebenskosten – einen Strumpfwebstuhl erhalten. Nun schien der Versuch – vermutlich von Caspar Meyer [Bruder] selbst – unternommen worden zu sein, für seine Frau einen rechtlichen Anspruch auf den Stuhl geltend zu machen. Diese hatte offenbar ihres Schwiegervaters, nämlich Caspar Meyers [Vater] Schulden beglichen. Es kam gar soweit, dass Helena und Ursula Meyer am 25. August 1710, vertreten durch ihren Vogt, Herrn Kirchmeyer Bischoff, Klage gegen ihren Bruder einreichten: »Weilen Herr Caspar Meyer hinderuckhs und unwüssend Herrn Kilchmeyer Byschoff einen bewußten trommenstuhl,86 so seinen Vogts töchteren sein soll, zu Bern verkaufft, alß sölle hie mit gedachter Herr Kilchmeyer trachten, wo müglich selbigen widerumb zu seinen handen ziechen, sittenmahlen er nicht befüegt gewesen, solchen zu verkauffen. Ihm fahl aber er solchen nicht widerbringen möchte, sölle Ihme H. Klegeren von deß Antworteren Vogts frauwen ihro dreien zugeordneten stühlen einen zugestellt werden. Dem H. Antworteren Stähli aber ist befohlen, den haußrath sambt den wäbstühlen zu seinen handen zu nemmen und selbigen zu verwahren.«87

Der Webstuhlstreit der Geschwister eskalierte, als der Bruder eigenmächtig und ohne Befugnis den Stuhl in Bern veräußerte und so seine beiden Schwestern hinterging, ihnen womöglich gar die Existenzgrundlage entzog. Knapp drei Wochen später fand eine außerordentliche Waisengerichtssitzung statt, an der Kirchmeyer Bischoff beauftragt wurde, Caspar Meyer [Bruder] durch einen Weibel aufzufordern, den entwendeten Stuhl zu ersetzen.88 83 RM 9, BAT 64 (26.11.1709), 234f. Aus WG BAT 170 (19.2.1710) geht hervor, dass sie Herrn Rudolf Stähli junior zum Vogt erhielt. 84 Schwiegervater. 85 RM 9, BAT 64 (26.11.1709), 235. 86 »Trommen« bezeichnet hier lautmalerisch den dumpfen Ton des betriebenen Strumpfwebstuhls. Vgl. Art. »TROMMEN«, in: DWb, Bd. 11, I. Abt., II. Teil (1952), 828f. 87 WM 3, BAT 170 (25.8.1710). 88 Vgl. WM 3, BAT 170 (Extra-Waisengericht vom 19.9.1710).

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Biografische Grundlegung

Inzwischen hatte Caspar Meyer [Bruder] »sich von selbsten von hier weg begeben« – nach »Ählen«89 – und war aus dem Burgerrodel gestrichen worden;90 dies, nachdem die Beschwerden wegen seines »großen müßiggang[s]« und »sehr liederlichen haushaltens« trotz allerschärfster Rügen und Ermahnung zur Arbeit und Sparsamkeit angehalten hatten.91 Am 6. November 1710 erfahren wir von einem von Meister Caspar Meyer »zu Roschen«92 eingegangenen Schreiben.93 Herr Vogt Stähli junior und Caspar Meyer [Bruder] erhielten den Auftrag, die drei Webstühle unversehrt an ihrem Ort zu belassen und weder zu entäußern noch zu verkaufen. Herrn Stähli wurde die Aufsicht anbefohlen.94 Es bleibt offen, wie der Streit ausging, in den sich schließlich auch der Vater einmischte. Deutlich wird zumindest, wie sich die beiden Schwestern gemeinsam gegen ihren Bruder zu wehren versuchten, der offensichtlich seine Interessen auf ihre Kosten in die Tat umsetzte. Die meisten Caspar Meyer [Bruder] betreffenden Einträge legen Zeugnis ab von seinen anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten, die in den Akten auf seinen wenig Vertrauen erweckenden Lebensgang zurückgeführt werden.95 Noch 1723 wird er aufgefordert, »wohl hauszuhalten, fleißig seinen beruf abzuwarten und nicht der liderlichkeit sich zu ergeben.«96 Im Almosenrodel wird Caspar Meyer an erster Stelle unter den so genannten »mangelhaften personen« aufgeführt, denen Vergabungen zuteil wurden.97 Um seinen Sohn einzukleiden, erhielt er 1726 und 1727 von der heute noch existierenden Venner Lanzrein-Stiftung zur Bekleidung armer Burgerkinder eine Krone und fünf Batzen.98 Noch 1729 musste Caspar Meyer vom Pfrundvogt angehalten werden, seinem Knaben Schuhe zu besorgen.99 Die über viele Jahre sich hinziehenden Einträge der verschiedenen Rodel erwecken den Eindruck, dass Ursula Meyers nur ein Jahr jüngerer Bruder ein schwieriges und belastetes Leben führte, in welchem es ihm – trotz aller Unternehmungen – nie gelang, wirklich Fuß zu fassen und sich eine eigene, unabhängige Existenz aufzubau89 Es handelt sich um das vormals bernische Aigle. Vgl. Jean-Jacques Bouquet, Art. Aigle, in: HLS 1 (2001), 152f. 90 RM 9, BAT 64 (2.9.1710), 328. 91 RM 9, BAT 64 (15.7.1710), 318. 92 Es handelt sich um das zum Bezirk Aigle gehörende Roche im Waadtland. Vgl. Maxime Reymond, Art. Roche, in: HBLS 5 (1929), 659. Caspar Meyer [Bruder] scheint demnach seinen Vater aufgesucht zu haben, als er sich nach »Ählen« begab. 93 WM 3, BAT 170 (6.11.1710). 94 Ebd. 95 Vgl. WM 3, BAT 170 (22.11.1713), (11.12.1713), (20.12.1716), (1.8.1718). 96 WM 4, BAT 171 (23.8.1723). 97 Almosen-Rodel 1723, BAT 447 (1712–1741), Nr. 2 u. 15. 98 Almosen-Rodel 1726 und 1727, BAT 446 (1712–1741), Nr. 1, o.S. Vgl. Burgerbuch Thun, 315. 99 Almosen-Rodel 1729, BAT 446 (1712–1741), Nr. 1, o.S.

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en. Sein Scheitern muss aber auch im größeren Rahmen der erfolglosen Bemühungen betrachtet werden, protoindustrielle Fertigkeiten der Glaubensflüchtlinge zu nutzen und die Strumpfweberei und die Tuchfabrikation in Thun einzuführen.100 Ein Hinweis aus dem Jahre 1711, dass »Caspar Meyer von Thun, strümpffabriquant durch Frankfurt naher Holland ein paß ad formam« ausgestellt worden sei, wenige Tage nachdem er ein Begehren um zehn Taler im Zusammenhang mit einer Reise gestellt hatte, gibt Anlass zu Spekulationen.101 Caspar Meyer [Bruder] scheint, nachdem er Thun von sich aus verlassen und wahrscheinlich seinen Vater im Waadtland aufgesucht hatte, nach dem Norden aufgebrochen zu sein. Was wollte Caspar Meyer als Strumpffabrikant in Frankfurt – »Drehscheibe des Refuge«102 – und in Holland, auch bekannt für seine »aktive, auf die asylsuchenden Hugenotten ausgerichtete Propagandapolitik«103 und letzter Aufenthaltsort des ältesten Bruders Georg?104 Besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Handwerk und den angegebenen Reisezielen, denn ab »1690 breitete sich die Wirkerei in Süddeutschland insbesondere in Hessen aus«?105 Die Strumpfweberei wurde eine für die gesamte Familie Meyer ökonomische Grundeinnahmequelle und Ursache zahlreicher nicht bloß innerfamiliärer Zwistigkeiten.106

Exkurs: Die Anfänge der Strumpfmanufaktur in Bern Die primär aus den Cevennen, dem Languedoc und der Dauphiné stammenden Hugenottinnen und Hugenotten durchzogen die Schweiz von Genf und vom Waadtland her in Richtung Deutschland, England oder der Niederlande. Dabei überquerten sie bernischen Boden. 200.000 bis 300.000 französische Protestantinnen und Protestanten mussten nach dem Widerruf des Edikts von 100 Vgl. Keller, Aus dem Leben, 22f. u. unten Exkurs über die Anfänge der Strumpfmanufaktur in Bern. 101 StAB, AII 632 (7.3.1711). Vgl. WM 3 BAT 170 (3.3.1711). 102 Vgl. Michelle Magdelaine, Frankfurt am Main: Drehscheibe des Refuge, in: von Thadden/Magdelaine, Hugenotten, 26–37. 103 Hans Bots/René Bastiaanse, Die Hugenotten und die niederländischen Generalstaaten, in: von Thadden/Magdelaine, Hugenotten, 55–72. 104 Vgl. Anm. 47. 105 E. H. O. Johannsen u. a., Die Geschichte der Textil-Industrie, Leipzig/Stuttgart/Zürich 1932, 403. 106 Vgl. z. B. WM 3, BAT 170 (31.1.1714): »wie daß dem H. Andreas Franz Ösch in Bern ihme Meyer die in sein haus genommene, von ihme Stähli geliehene strümpfweberstühl hinausgeben wolle, so fern man ihme seine deßwegen von handen gegeben obligation, dargegen wieder einhändigen werde«; WM 3, BAT 170 (14.2.1714): »Caspar Meyer lies einen zedul ablesen von seinem schwager H. Sprüngli stud. theol. in Bern, wegen verabfolgung seiner frau mittel und wäbstuhl, ist aber abgewiesen worden«.

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Biografische Grundlegung

Nantes durch König Louis XIV im Oktober 1685 fliehen. Zehntausende von ihnen fanden entweder vorübergehende Unterstützung oder dauerhafte Aufnahme in der Eidgenossenschaft, die Ende des 17. Jahrhunderts etwa 1,2 Mio. Einwohner zählte. Davon lebten allein im Kanton Bern – Waadt und Aargau ausgenommen – etwa 135.000 Menschen.107 Von den ca. 7.000 Ende des 17. Jahrhunderts im Staate Bern gebliebenen Flüchtlingen ließen sich zwei Drittel im Waadtland nieder. In der etwa 8.000 Einwohner zählenden Stadt Bern blieben zwischen 800 und 1.100; das heißt, dass etwa 1/10 der damaligen Stadtbevölkerung aus Réfugiés bestand.108 Aufgenommen und integriert wurden vor allem jene, die ein in Bern bislang unbekanntes Gewerbe betrieben und das dafür nötige technische Wissen mitbrachten. So finden sich unter den zu Beginn des Jahres 1699 in Bern wohnhaften Réfugiés, die als »Handelsleute oder Manufacturiers« aufgeführt werden, auffallend viele Strumpfweber oder -fabrikanten.109 Diese wurden vom bernischen Kommerzienrat, der mit der Förderung der Wirtschaft betraut war, bei der Erteilung von Arbeits- und Niederlassungsbewilligungen auch gern berücksichtigt. Die hugenottischen Strumpfweber und -fabrikanten vermieteten nämlich ihre Stühle an andere Stricker und brachten so auch dem Staat willkommene Einnahmen.110 So verwundert es nicht, dass der Kommerzienrat »im Wesentlichen den Aufbau von Woll- und Seidenmanufakturen fördern [sollte].«111 Die neuen Produktionszweige und die Einführung protoindustrieller Betriebe lagen im Interesse bernischer Wirtschaftspolitik. Durch die Eigenproduktion bisher hauptsächlich importierter Güter, zu denen auch Strümpfe und Seidenwaren gehörten, wurden Industrie und Handel gefördert und der Kapitalabfluss eingedämmt.112 Die letztlich zwar gescheiterten Verhandlungen mit einem gewissen Herrn Quesnot von 1685 zur Einführung einer Strumpfmanufaktur in Bern belegen die Absicht des Rats, die spezifischen Kenntnisse der Flüchtlinge zu nutzen. Quesnot musste sich verpflichten, bernische Untertanen in seiner Manufaktur auszubilden.113

107 Vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 5 u. 144. 108 Vgl. Scheurer, Hugenottenflüchtlinge, 47. 109 Vgl. Eduard Bähler, Kulturbilder aus der Refugientenzeit in Bern (1685–1699), Bern 1908, 91–96. 110 Vgl. Le Refuge huguenot en Suisse, Musée historique de l’Ancien-Evêché, Lausanne 1985, 174. 111 Erika Flückiger/Anne Radeff, Globale Ökonomie im alten Staat Bern am Ende des Ancien Régime – Eine aussergewöhnliche Quelle, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde (2000/1), 5–40, hier 6. Vgl. auch mit Zürich: »Die Wirtschaft der Stadt Zürich hat den Hugenotten in erster Linie die Strumpfwirkerei zu verdanken. Im Jahre 1739 betätigten sich schon 120 hiesige Weber in der Zürcher Strumpfindustrie« (Bruno Barbatti, Das »Refuge« in Zürich, Affoltern a. A. 1957, 85). 112 Vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 319. 113 Vgl. ebd., 336.

Thun (ca. 1700/02–ca. 1711/12)

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Im ehemaligen Predigerkloster in der Nähe des zukünftigen Posthauses wurde ein Kommerzienhaus mit Fabrikräumen und Wohnungen errichtet.114 Fabrikanten, denen als Hintersaßen eigener Hausbesitz nicht gestattet war, konnten sich darin niederlassen. Es entstanden neue Berufszweige, die besonders Bernburgern zugänglich gemacht werden sollten.115 Markus Küng weist jedoch darauf hin, dass der Einfluss der Réfugiés sowohl auf den Industrialisierungsprozess als auch auf den Technologieimport nicht überbewertet werden darf, da »neuere Untersuchungen [zeigen], dass zahlreiche Betriebe geflüchteter Franzosen nur kurze Zeit überdauerten und, besonders während der allgemeinen ökonomischen Krise, Konkurs anmelden mussten.«116 Mehr Erfolg erntete die Strumpffabrikation.117 Im Zuge des »Grand Refuge« gelangte der ursprünglich aus England stammende Strumpfwirkstuhl in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Bern.118 Die Anfänge der Strumpfwirkerei in Bern sind mit den Namen der Firmen Roux und Dusimetière verbunden, die beide im Kommerzienhaus untergebracht waren. Bei der 1694 in Bern eingeführten Strumpfmanufaktur des Réfugié Jean Roux – eines »erfolgreiche[n] und skrupellose[n] Geschäftsmann[es]«119 – verpflichtete sich dieser zur Ausbildung von sechs Strumpfwebern. Die Lehrzeit sollte nur ein Jahr dauern.120 Dagegen sah etwa die deutsche Strumpf- und Hosenstrickerordnung von 1668 eine dreijährige Lehrzeit vor.121 In diesem Zusammenhang fällt auch der Name des Handwerkers Pierre Mesmyn, mit dem Roux – wie andere Geschäftsleute – Schwierigkeiten hatte.122 Mesmyn stand Anfang 1688 in Verhandlungen mit dem Rat in Bern zur Einführung eines eigenen Unternehmens zur Herstellung von Wollstoffen.123 Wenige Jahre später trat er – neben Dr. Johannes Rubin aus Thun124 – als Redner in pietistischen Privatzirkeln in Erscheinung und wurde Ende September 1698 aus nicht geklärten Gründen aus Bern ausgewiesen.125 114 Vgl. Bähler, Kulturbilder, 59. 115 Vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 322f. 116 Ebd., 320. 117 Vgl. ebd., 343. 118 Die Strumpffabrikation breitete sich seit Ende der 1650er Jahre über ganz Frankreich aus. 1666 wurde der alte englische von Pfarrer William Lee 1589 erfundene und im Verlauf der Zeit verbesserte Strumpfwirkstuhl – der sog. »Rößchenstuhl« – erneuert (vgl. Le Refuge, 162). Zur Geschichte des Strumpfwirkstuhls vgl. ebd., 173–175; Johannsen u. a., Textil-Industrie, 394–410. 119 Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 343. 120 Vgl. ebd., 344. 1698 konnte er eine Liste von dreißig von ihm beschäftigte Webern auf dem Lande vorlegen. Vgl. Bähler, Kulturbilder, 59. 121 Vgl. Johannsen u. a., Textil-Industrie, 403. 122 Vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 332 u. 343. 123 Zu den ihm vom Rat gestellten Anforderungen vgl. Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 336. Mesmyn forderte im Gegenzug die Aufnahme zum Ewigen Habitanten (vgl. ebd., 338). 124 Vgl. S. 76f. 125 Vgl. RELATION Der Herren Committirten über die dißmalen obhandene Religions=Ge-

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1699 waren für die Strumpfwirkerei in Bern um die 60 Webstühle von Réfugiés in Betrieb.126 Die bernische Strumpffabrikation warf 1705 Lohnkosten von 74.260 BE-Pfund ab, »ein Betrag, der teils massiv über den Jahresgewinnen der bernischen Standesrechnungen von 1681–1690 lag. Somit gelang es der Obrigkeit immerhin, neue Verdienstmöglichkeiten zu schaffen.«127 Bei 63.000 Paar produzierten Strümpfen zum Preis von rund 20 Batzen pro Paar – was umgerechnet etwa 11,5 kg Brot entsprach, stellt sich die noch unbeantwortete Frage, wie es mit dem effektiven Absatz aussah.128 Küng hält jedoch fest, dass jene wenigen, erfolgreichen Industriezweige nicht einfach als »Beschäftigungs- und Ausbildungsstätte[n] für Arme«129 anzusehen seien. Angesichts der beruflichen Stellung und der Vertrauensposition von Caspar Meyer [Vater] standen seinen Kindern gewiss verschiedene attraktive Ausbildungsmöglichkeiten offen. Dass sie sich gerade zu Strumpfwebern/-innen ausbilden ließen, bestätigt Küngs Feststellung. DiefrühepietistischeB ewegung

4. Die frühe pietistische Bewegung in Bern und im Berner Oberland 1984 stellte Rudolf Dellsperger die Frage, ob »die beispielhafte Glaubenstreue der Refugianten und ihre in der Verfolgungssituation geprägte Religiosität den werdenden Pietismus in Bern beeinflußt«130 hätten. Die Aufnahme zahlreicher verfolgter Hugenotten und Waldenser nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685 fiel ebenso in die Entstehungszeit des Berner Pietismus wie der Aufbau der bernischen Landespost. Die Einbindung Berns in das europäische Kommunikationsnetz war vornehmlich das Verdienst des schon erwähnten Beat Fischer, der Ursula Meyers Vater als Postverwalter in Bern beschäftigte.131 Fischer setzte sich öffentlich für die Hugenotten ein und erließ ihnen z. B. das Briefporto. Er vertrieb eine zweimal wöchentlich in schäffte den 9. Junii 1699, in: Kurtze APOLOGIE oder Schutz=Schrifft Der unschuldig verdächtig=gemachten und verworffenen Pietisten zu Bern in der Schweitz: [. . .], hg. v. Samuel Güldin, Philadelphia 1718, hier I/5, 5. Der Titel lautet im Original: Haupt Relation Meiner HochgeEhrten Herren der Religions-Commission über das gegenwärtige Wäsen (Juni 1699) [StAB, B III 178]. Siehe zu dieser Quelle unten S. 61; Dellsperger, Anfänge, 85 (Anm. 41) u. 122 (Anm. 25). 126 Vgl. Bähler, Kulturbilder, 59. 127 Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 345f. [mit einer Tabelle zum Jahresumsatz der bernischen Strumpffabrikation vom Februar 1705]. 128 Vgl. ebd. Dennoch sind 1782/83 »bey 600 Stühlen im Kanton, von denen die Helffte zu Bern und daherum [. . .] sind. Ein Stuhl kan wöchentlich 7 biß 8 Paar Strümpf verfertigen, und ein Arbeiter darob seine 4 à 6 L verdienen«, Flückiger/Radeff, Ökonomie, 23. Vgl. mit der Zahl in Le Refuge, 175: Im Staate Bern seien 1771 264 Strumpfweber-Stühle vorhanden gewesen. 129 Küng, Asyl- und Flüchtlingspolitik, 345. 130 Dellsperger, Anfänge, 25. 131 Vgl. Kellerhals-Maeder u. a., Bevor die Post, 8.

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französisch erschienene Zeitung mit dem Titel Nouvelles de Divers Endroits und stellte als Redaktor den Réfugié Antoine Teissier ein.132 Die allgemein Gazette de Berne genannte Zeitung bestand bis zum Untergang des Patriziats 1798 und teilte die politische Ausrichtung der Obrigkeit.133 Sie versorgte die Leser mit wichtigen Nachrichten aus dem Ausland und erregte mehrfach den Zorn französischer Abgesandter.134 Die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen und die Auseinandersetzung mit ihrer Situation gehörten zum historischen Umfeld, in dem sich der Pietismus in der reformierten Schweiz auszubilden begann. Der Glaubensmut und die Religiosität der Flüchtlinge werden in Bern insbesondere durch die konfessionell begründete Verbundenheit fruchtbare Impulse freigesetzt haben. Andererseits sorgten das ungewöhnlich freizügige und luxuriöse Auftreten einiger Flüchtlinge und die finanzielle Belastung, die ihre Aufnahme bzw. zeitweilige Betreuung bedeuteten, auch für Ärger und Unmut.135 So scheint ihr Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Situation in Bern und auf den werdenden Pietismus durchaus disparat gewesen zu sein. Doch wann kam der Pietismus in Bern überhaupt auf? »Leise, fast unbemerkt setzte die Bewegung ein.«136 So umschreibt Richard Feller in seiner Geschichte Berns die Anfänge des Pietismus und gibt damit die Schwierigkeit zu erkennen, diesen phänomenologisch erstmals zu fassen und seine Provenienz zu klären. Trotz seiner beträchtlichen geografischen Reichweite galt der Pietismus für die kirchenhistorische Forschung der Schweiz lange Zeit als »einheimische Pflanze«,137 die in keinerlei ernsthafteren Bezie132 Zum bald abgesetzten Antoine Teissier, »de[m] gebildetste[n] Mann des Refuge in Zürich«, vgl. Barbatti, »Refuge«, 93. 133 Vgl. G. Tobler, Die Gazette de Berne. 1689–1798, in: BT (1910), 215–244, hier 243: »Im Anfang ihres Lebens fand die franzosenfeindliche Politik des bernischen Rates lebhaften Ausdruck in ihren Spalten, am Ende aber stand sie bewundernd vor den neuen Offenbarungen der Revolution«. 134 Vgl. Marc Moser, Beat Fischer von Reichenbach 1641–1697. Begründer der Berner Post, Solothurn 1973, 17. Leider sind keine Nummern aus ihren unmittelbaren Anfängen auffindbar. Vgl. Tobler, Gazette de Berne, 226. 135 Klagen »wider der frantzösischen weibspersohnen hofärthign und ärgerlichn kleidungen« waren allgemein und nicht nur in Bern verbreitet. Vgl. z. B. das Zürcher Kleidermandat vom 30. Mai 1695 [StAZH, E I 25.15], abgedruckt in: Schweizerische Gesellschaft für Hugenottengeschichte (Hg.), Bulletin 22 (2000/01), 28. Vgl. auch Johann Rudolf Gruner, Deliciae urbis Bernae. Merckwürdigkeiten der hochlöblichen Stadt Bern. Aus mehrentheils ungedruckten authentischen Schrifften zusammen getragen, Zürich 1732, 171: »Belangend die Sitten der Stadt Bern, gedencken wir davon nicht weitläufftig zu handlen, sondern nur zu melden, daß die alte einfältige Lebens=Art seit der Zeit, da die Frantzösischen Flüchtlinge so hauffenweiß nach Bern kommen, die Berner aber ihre Reisen in Franckreich und anderswohin angestellet, ziemlich verschwunden [. . .].« 136 Richard Feller, Geschichte Berns, Bd. 3, Bern/Frankfurt a. M. 21974, 168. 137 J. R. Linder, Die reformirte Kirche der Schweiz im Kampfe mit dem Pietismus und Separatismus während des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ZHTh (1869), 273–312, hier 277.

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hung zu ähnlichen Erscheinungen im Ausland stand. Man begnügte sich mit der Feststellung, dass »aus gleichen Ursachen eben auch gleiche Folgen entstehen müssen«.138 Erst allmählich kam der gesamteuropäische Zusammenhang dieser »bedeutendste[n] religiöse[n] Bewegung des Protestantismus seit der Reformation«139 mitsamt ihren tiefer liegenden, einzelne Länder und regionale Gegebenheiten weit übersteigenden Entstehungsbedingungen in den Blick, denn »erstaunlicherweise tritt der Pietismus gleichzeitig unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen auf.«140 Rudolf Dellsperger hat mit seiner Habilitationsschrift von 1984 die Anfänge und Rahmenbedingungen des Pietismus in Bern aus der Fülle des vorhandenen Quellenmaterials erstmals erschlossen. Dabei kam er zum Schluss, dass Johannes Wallmanns Unterscheidung zwischen einem weiter und enger gefassten Pietismusbegriff im Luthertum auch für die Beschreibung des reformierten Pietismus in Bern hilfreich ist.141 Als Frömmigkeitsrichtung gewann der Pietismus auch in Bern schon länger an Terrain und fand durch Autoren wie die beiden Pfarrer Johannes Erb (1635–1701)142 und Georg Thormann (1656–1708)143 sowie Übersetzungen englischer Erbauungsliteratur144 wie etwa das Werk The Saints’ Everlasting Rest (1649)145 des Spätpuritaners Richard Baxter (1615–1691) mit seiner strengen Betonung der Notwendigkeit persönlicher Bekehrung und Heiligung Verbreitung. Im engeren Sinn, das heißt sozial fassbar, wurde der Pietismus aber erst 1689 im Zusammenschluss von vier Studenten der Berner Hohen Schule zu einem erbaulichen Zirkel. Dellsperger lehnt sich dabei für die Jahre bis 1695 eng an die »wertvollste Quelle«146 für die Entstehungszeit an, nämlich die informative Schilderung der Vorgänge in Bern seit 1688, die der junge Vikar Samuel Schumacher (†1701)147 in Lützelflüh verfasste und am 22. März 1695 an August Hermann Francke (1663–1727)148 nach Halle schickte, »damit 138 Hadorn, Geschichte, 13. Vgl. Dellsperger, Anfänge, 9 u. 169. 139 Wallmann, Der Pietismus, 7. 140 Martin Brecht, Einleitung, in: Geschichte des Pietismus 1, 1–10, hier 7. 141 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 169. 142 Vgl. Rudolf Dellsperger, Art. Erb, Johannes, in: HLS 5 (im Erscheinen) [= http://www.snl.ch/dhs/externe/protect/textes/D10591.html]. Erb verfasste u. a. die »Reformierte Hauss-Kirch« (1675). 143 Vgl. Dellsperger, Anfänge, Reg. [v. a. 30–38]. 144 Vgl. dazu Edgar C. McKenzie, A Catalog of British Devotional Books in German Translation from the Reformation to 1750 (= Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), Berlin u. a. 1997; William Reginald Ward, The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1994, 10–13 u. 176. 145 Dt. Übers.: »Ewige Ruhe der Heiligen« (1673) durch Johannes Erb. 146 Rudolf Dellsperger, Samuel Königs »Weg des Friedens« (1699–1711), in: PuN 9 (1983), 152–179, hier 156. 147 Schumacher kam 1695 als Candidat nach Melchnau. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 643. 148 Zu Francke vgl. Udo Sträter/Juliane Jacobi, Art. Francke, August Hermann, in: RGG4 3 (2000), 209–211.

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Er sich auch freuen könne wegen des frölichen Wachsthums des Reichs Christi auch in unserm Lande«.149 Der Wert dieses zweifellos wichtigen literarischen Zeugnisses für die historische Rekonstruktion des frühen Pietismus in Bern muss eigens erörtert werden, denn: »Sowohl die Erinnerung an die Vergangenheit als auch das Schreiben darüber besitzen wohl kaum noch jene Unschuld, die ihnen einst zugestanden worden ist. Wir haben inzwischen erkannt, daß in beiden Verfahren bewußte und unbewußte Auswahlmechanismen, aber auch Deutung und Entstellung zu bedenken sind.«150 Inwieweit auch Schumachers Brief an Francke und seine Schilderung der Anfänge der pietistischen Bewegung in Bern von dieser Erkenntnis betroffen sind, soll nun besprochen werden.

4.1 Der Brief Samuel Schumachers an August Hermann Francke vom 22. März 1695 und die Anfänge des Pietismus in Bern – eine Quellenkritik Aus seinem Brief an August Hermann Francke erfahren wir, dass sich Samuel Schumacher mit Samuel Güldin (1664–1745), Christoph Lutz und Samuel Dick († 1738)151 1689 zu Studienzwecken in Genf aufgehalten hatte. Dort begannen sie, miteinander zu beten und gemeinsam die Bibel und in »andern Geistreichen Büchern die unß den Weg zu einem heiligen Leben und eifferigen Christenthum vorwiesen«152 zu lesen. Ihre weiteren akademischen Bildungsreisen führten sie – zum Teil allein, zum Teil gemeinsam – zu den damaligen Zentren der pietistischen Bewegung und ihren Exponenten, u. a. zu Johann Jakob Schütz nach Frankfurt, zu den Labadisten nach Wieuwerd bei Franeker in Friesland, zu Theodor Undereyck nach Bremen, zu Johann Heinrich Horb nach Hamburg, zu Philipp Jakob Spener nach Berlin und zu August Hermann Franckes Kreis nach Leipzig. Die pietistische Bewegung der 149 Samuel Schumachers Brief an August Hermann Francke vom 22. März 1695, 5; Edition des Briefes in: Dellsperger, Anfänge, 178–202 (Zitat: 179). Ich gebe nachfolgend jeweils die Seite des Briefes als auch die entsprechende Seite in der Edition an. Seine Bekehrung schilderte Schumacher schon in einem vom 3.4.1693 datierten Brief nach Bremen [Sign.: BBB, AP 17–39], der 1701 Eingang fand in Johann Henrich Reitz’ »Historie Der Wiedergebohrnen«. Vgl. Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen, Bd. 1: Teile I–III (1698–1701), Tübingen 1982, hier: Teil III (1701), XV, 215–236. 150 Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, 289–304, hier 289. 151 Das Geburtsjahr bleibt unklar. Da Dick 1693 als Candidat nach Spiez kam, kann es sich bei dem erst 1683 geborenen Samuel Dick nicht um ihn gehandelt haben, vgl. BBB, Burger Tauff Rodel Nr. X von 1671–1689, 419; Lohner, Die reformirten Kirchen, 299. 152 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 9 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 181).

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Schweiz ist ohne ihren anhaltenden, intensiven inner- und transnationalen Austausch – zuvorderst mit Gleichgesinnten in Deutschland – nicht zu verstehen. Als die vier Theologen schließlich heimkehrten und den bernischen Kirchendienst aufnahmen, machten sie sich eifrig daran, ihre neuen religiösen Einsichten und Überzeugungen in die kirchliche Praxis umzusetzen. Güldin hielt enthusiastische Predigten in Stettlen, Lutz empfahl seinen Gemeindegliedern in Bern die Lektüre von Johann Arndts Vier Bücher[n] von Wahrem Christentum (1605–1610), Schumacher richtete in Lützelflüh als Vikar von Georg Thormann erweckliche Privatversammlungen ein, und Dick predigte schließlich als Pfarrer in Spiez von der Notwendigkeit der Wiedergeburt. Die Aufrichtigkeit und Authentizität, mit welcher diese jungen Theologen ihre Ämter versahen und ihre Aufgaben ausführten, wirkten anziehend und überzeugend. Sie lösten eine regelrechte Welle der Begeisterung und Zustimmung aus. Ihre Anhänger scheuten keine Reisen, um ihren Gottesdiensten beizuwohnen. Ihr »Geläuff«153 sprengte das Parochialprinzip. Der augenfällige Erfolg der vier weckte verständlicherweise den Neid der orthodoxen Pfarrerschaft. Dennoch ließ sich die Ausbreitung der Bewegung nicht verhindern. So lassen sich Schumachers Schilderung folgend die Anfänge der pietistischen Bewegung in Bern bis 1695 in aller Kürze skizzieren. Dabei drängen sich nun einige u. a. methodische Fragen und Beobachtungen auf: Um den Wert des literarischen Zeugnisses Schumachers für die historische Rekonstruktion des werdenden Pietismus in Bern festzustellen, müssen zunächst dessen Gattung und Sitz im Leben und die ihm zugrunde liegende Perspektive bestimmt werden. Der so genannte »Bericht« gehört texttypisch zur Gattung des persönlichen Briefes, was sich sowohl am Aufbau wie auch an den sprachlichen Gestaltungsmitteln nachweisen lässt. Hier wendet sich ein junger, eifriger und von seinem Erfolg bestärkter Vikar im Emmental Ende des 17. Jahrhunderts an einen von ihm höchst verehrten und über die Landesgrenzen hinweg bekannten deutschen Professor. Der Brief enthält deutliche Signale des Werbens. Schumacher schmeichelt Francke und gibt ihm zu verstehen, dass er nicht bloß dessen Werke gelesen, sondern auch schon viel schriftlich und mündlich über ihn vernommen hat.154 Schumacher schildert Francke ausführlich und eindringlich den eigenen langen Leidensweg vor seiner Bekehrung am 18. Dezember 1692 in Lützelflüh. Dieser wird zudem mit einem aus der Erinnerung rekonstruierten Brief an den Vater mit »Datum in der Höll den 8bris 1690« dokumentiert.155 Ob Schumacher unter Franckes 153 Vgl. die Überschrift im Bericht der Religionskommission vom 9.6.1699, RELATION V: »Von dem ärgerlichen und unanständigen Geläuff« (14f.). 154 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 4f. (Edition: Dellsperger, Anfänge, 178f.). 155 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 20–22 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 186f.).

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Schriften auch seinen Lebenslauff bzw. den darin enthaltenen Bekehrungsbericht von 1690/91 lesen konnte, ist angesichts der Überlieferungsgeschichte dieses Textes zumindest nicht völlig auszuschließen.156 Eindeutig ist hingegen, dass Schumacher von Franckes Bekehrung gehört hatte.157 Er durfte mit seiner Schilderung davon ausgehen, bei Francke auf offene Ohren zu stoßen. Wie dieser nämlich behielt er seinen unerträglichen, inneren religiösen Selbstzweifel für sich »und sagte niemand nichts, sondern steckte meinen Mundt in den Staub.«158 Wie dieser hatte er sich schon vor der grundlegenden religiösen Krise vergeblich um einen lebendigen Glauben bemüht. Und wie bei diesem geschah der Durchbruch zur Glaubensgewissheit plötzlich und unerwartet. Als Folge stellte sich ein dauerndes, unbeschreibliches Glücksgefühl des eigenen Erlöstseins ein mitsamt der Überzeugung, von Gott zu einem besonderen Dienst berufen worden zu sein. Beide Bekehrungsberichte weisen gemeinsame motivgeschichtliche Wurzeln auf. Ähnlichkeiten sind wohl v. a. auf den Einfluss puritanischer Erbauungsliteratur zurückzuführen und nicht auf eine literarische Abhängigkeit Schumachers von Francke.159 Der Hauptunterschied beider Berichte liegt darin, dass Schumacher von der Überzeugung gequält wurde, »wieder den Heiligen Geist gesündiget«160 zu haben, während Francke sein früheres Leben allgemein als unter der Sünde stehend bewertete. Schumacher sehnte sich primär nach der Erlösung von seiner alles überschattenden Schuld und Francke von seinem schon aufklärerisch anmutenden Gewissheitsproblem.161 Franckes Zweifel an der Existenz Gottes selbst162 sind 156 Vgl. Lebensläufe August Hermann Franckes (KTP 2), hg. v. Markus Matthias, Leipzig 1999, 72–80 (Überlieferungsgeschichte), hier 80: »Selbst der engere Bekehrungsbericht wurde erst nach dem Tode Franckes einem größeren Publikum mitgeteilt.« Einem ausgewählten Kreis jedoch war er schon vorher bekannt. 157 Vgl. Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 4 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 178f.). 158 Ebd., 24 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 189). Vgl. Herrn M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erffurt [. . .] Lebenslauff, in: Matthias (Hg.), Lebensläufe, 5–32, hier 27. 159 Vgl. Matthias (Hg.), Lebensläufe, 138–141. 160 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 17 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 185). So schon obsessiv in seinem nach Bremen gerichteten Brief vom 3.4.1693. Vgl. Dellsperger, Anfänge, 44 u. 50f. (Anm. 57). Zur Lästerung des Geistes vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I/2 (1990), 263–268. Luz (ebd., 268) gelangt im Rückblick auf die Wirkungsgeschichte von Mt 12,31 zum Urteil: »Und zu oft wurde in persönlichen Deutungen die Lästerung gegen den Geist zum Mittel, mit dem ein starkes, religiös geprägtes Über-Ich ein schwaches Ego tötete. Bei diesem Wort überwiegen m. E. die negativen Folgen seine positiven Potenzen.« 161 Vgl. Matthias (Hg.), Lebensläufe, 143f. Martin Brecht (August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: Geschichte des Pietismus 1 [1993], 439–539, hier 444) spricht von einem »Sturz in den Atheismus«. Vgl. aber Kurt Aland, Bemerkungen zu August Hermann Francke und seinem Bekehrungserlebnis, in: Kirchengeschichtliche Entwürfe, Gütersloh 1960, 543–567, hier 554f. 162 Vgl. Lebenslauff, in: Matthias (Hg.), Lebensläufe, 26: »Denn ich glaubte auch keinen Gott im himmel mehr [. . .]«.

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Schumacher fremd geblieben. Während Schumachers Bekehrung durch sein an eine vermeintlich unvergebbare Schuld gebundenes Leiden initiiert wurde, stürzte Francke das schon im Theologiestudium sich abzeichnende allmähliche und schließlich 1687 durch eine Predigtvorbereitung vollends ausgelöste Bewusstwerden der Diskrepanz zwischen dem noch ausstehenden »wahren lebendigen glauben« und seinem bisherigen »bloßen menschlichen und eingebildeten wahn=Glauben«163 in die entscheidende Krise. Schumachers Vorgehen und die deutlichen inhaltlichen Signale seines Schreibens lassen auf den Wunsch rückschließen, einen Kontakt zu Francke herzustellen und sich diesem als würdigen Ansprechpartner in pietistischen Belangen der Schweiz zu präsentieren. Das Antwortschreiben Franckes vom 31. Oktober 1695164 legt den Schluss nahe, dass Schumacher sein Ziel erreicht hat. August Hermann Francke scheint für Schumacher die Rolle eines Vorbildes eingenommen zu haben, mit dem er sich gern identifizieren mochte. Die grundlegende Frage ist nun, ob Schumacher aufgrund seines impliziten vorwissenschaftlichen Geschichtsverständnisses, seiner Klassenzugehörigkeit bzw. seines Kontextes165 und v. a. seiner persönlichen – ehrgeizigen – Intention als Briefabsender frühere und andere Ansätze des Pietismus, die nicht auf ihn und seine Kollegen zurückzuführen waren, überhaupt wahrzunehmen und Francke gegenüber zu würdigen vermochte, bzw. ob er ihm diese überhaupt zur Kenntnis bringen wollte!166 Ging es Schumacher darum, sich als Autorität – sozusagen als »Berner Francke« – innerhalb der pietistischen Bewegung zu positionieren und Franckes Bild von der Bewegung in Bern zu modellieren, so wird verständlich, dass eine objektivere Schilderung der aufbrechenden Bewegung und ihrer zahlreichen Protagonisten den eigenen Einfluss geschmälert und der eigentlichen Intention des Briefes, die eigene Person ins Zentrum der Bewegung zu rücken, widersprochen hätte. Es bleibt noch zu erforschen, wie sehr Schumacher und seine Freunde an schon Vorhandenes anknüpfen konnten bzw. wie groß ihr Einfluss auf die Entstehung der Bewegung wirklich war. Fest steht, dass sie nach und nach eine pastorale Führungsposition einzunehmen versuchten und schließlich mit ins 163 Ebd. 164 Vgl. Abschrift des 1. Brieffs v. Mag. August Hermann Frank, abgegeben auß Hall in Saxen den 31.8br.1695, in: Acta Pietistica [. . .] Miscell. zu Bern [ZB ZH, Ms J 256, Nr. 29]. Ediert in: Dellsperger, Anfänge, 204–208. 165 Vgl. Burke, Geschichte, 290: »Einzelne haben Erinnerung in einem wörtlichen, plastischen Sinne. Doch die soziale Gruppe bestimmt darüber, was des Andenkens wert ist und wie es erinnert wird.« Zur Historiographie als »Produkt sozialer Gruppen« und ihrer »vorherrschenden Optik« vgl. ebd. 166 Vgl. ebd., 291f.: »Da das soziale wie das individuelle Gedächtnis selektiv verfährt, müssen die Auswahlprinzipien bestimmt und muß festgehalten werden, wie diese von Ort zu Ort, von Gruppe zu Gruppe und im Ablauf der Zeit sich verändern. Erinnerungen sind geschmeidig, und wir müssen zu begreifen suchen, wie und von wem sie geformt werden.«

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Zentrum obrigkeitlicher Aufmerksamkeit rückten. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es neben ihren eigenen Aktivitäten Strömungen und Versammlungen gab, von denen sie eventuell keine nähere Kenntnis hatten, auf die sie aber auch aufbauen konnten. Es ist auf keinen Fall abzustreiten, dass die vier, denen sich später noch der junge Vikar Johannes Müller in Belp anschloss, bei der Verbreitung der Bewegung eine äußerst aktive Rolle eingenommen haben, doch muss ihre Praxis und ihre effektive Bedeutung in einem größeren Kontext der sich erst ausbildenden heterogenen pietistischen Bewegung betrachtet werden. Verschiedene Hinweise sprechen für eine schon längst vor und neben den vier Theologen existierende pietistische Bewegung in Bern. Sie sollen kurz vorgetragen werden: 1. Das erste Kapitel des für den Großen Rat verfassten Berichts der Religionskommission167 vom 9. Juni 1699, der so genannten Relation, handelt »Vom Anfang und Fortgang dieses Wesens«.168 Der Pietismus sei »anfänglich verspürt worden in hiesiger Hauptstadt / drunten an der Matten«.169 »Vor ungefähr 11 Jahren«, also ca. 1688, hätte eine blinde Frau namens »Margrethli [. . .] angefangen sonderbare närrische Träum / die sie für Offenbahrungen gehalten / sich ein[zu]bilden«.170 Während Schumacher, der sich vornahm, »umbständlich die ersten anfänge selbst [. . .] unter unß vorzustellen«,171 seine Schilderung des werdenden Pietismus in Bern mit dem Wirken des Pfarrers Georg Thormann beginnen lässt – notabene seinem Lehrpfarrer –, sieht die Religionskommission die Anfänge der pietistischen Bewegung in Bern im »grose[n] Geläuff von allerhand Gattung Personen«172 zu einer offenbar visionär-ekstatischen »Prophetin«.173 Die Vorgänge in der Matte »wie bekannt«(!),174 die in der Relation den Beginn der pietistischen Bewegung bezeichnen, finden bei Schumacher keine Beachtung. 2. Schumacher berichtet in seinem Brief an Francke, dass »ein gewißer Walther [korr.: Wolters] aus Lüneburg« ins Land gekommen sei. Er hätte, »alß das werck kaum anfing [. . .] dise Seelen zimlich verwirret, und Anlaß zu einer starcken Traubeln gegeben [. . .].«175 Schumacher nimmt Wolters ge167 Die Religionskommission bestand aus einem Präsidenten und zwei Assessoren des Kleinen Rats, dem Dekan, je zwei Theologen und Prädikanten und zwei Großratsmitgliedern. Sie wachte darüber, »daß nichts wider die libros Symbolicos gelehret werde.« Gruner, Deliciae, 153. 168 RELATION I/1, 3–5. Vgl. oben Anm. 125. 169 Ebd., 3. 170 Ebd. 171 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 6 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 179). 172 RELATION I/1, 3. 173 Hadorn, Geschichte, 37. Verbindungen zum erst ca. drei Jahrzehnte später auftretenden, ebenfalls blinden prophetischen »Werkzeug« Christina Kratzer (vgl. unten S. 150, 284f. u. 304) können nicht hergestellt werden. 174 RELATION I/1, 3. 175 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 7 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 180).

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Biografische Grundlegung genüber die obrigkeitliche Sicht ein und schildert sein Wirken als Ruhestörung.176 Wolters habe die mit den Schriften Thormanns und den erwecklichen Predigten von Professor Elisäus Malacrida177 und Dekan Johann Rudolf Strauss178 begonnenen zarten Anfänge des Pietismus in Bern gefährdet.179 Ihr Auftreten war nur Vorbote des eigenen Wirkens. Man gewinnt den Eindruck, Schumacher liege daran, sich und seine Kollegen als die wahren Begründer des Pietismus in Bern darzustellen. Denn gleich nach der abwertenden Schilderung des Wirkens Wolters fährt er weiter mit der Geschichte seiner eigenen und seiner Kollegen Erweckung. Eine andere Sicht der Bemühungen Wolters erhält man durch das Verhör des Johann Friedrich Speyer vom 10. Oktober 1689 in Zürich. Der aus dem pfälzischen Lambsheim stammende Speyer erklärte, dass der Lüneburger Wolters zu ihm gekommen sei, und er »hab ihn gewißen auf die Bibel, daraus Er dan seinen glauben empfangen. Mit diesem Lüneburger seye er nach Bern gangen, daselbst sie dan Einkehr und aufenthalt gehabt bey dem Kürstinger Weiß. Alda einiche Mans= und Weibs=Personen von geringem Stand, die er nit gekendt, zusammen kommen, mit einanderen in der Bibel geläßen, von ihrem glauben darin, je nach jedeste maaß, die einte Person stercker oder schwecher als die andere, geredt und sich mit einanderen in Christo erfröwet, welches 2 oder 3 tag gewähret.«180

Hier wird das Bild eines pietistischen Zirkels gezeichnet, dessen Mittelpunkt die gemeinsame Bibellektüre bildet, und zwar ohne pastorale Begleitung. Die Treffen der Pietisten fanden auch unter der Woche und meist ohne Pfarrer statt. Häufig kamen die Träger der neuen religiösen Basisbewegung spontan zu eigenen Zirkeln, den sog. Versammlungen, zusammen. D. h., religiöse Treffen wurden nicht nur geplant, sondern ergaben sich auch einfach aus der Situation heraus – je nach Anwesenheit bestimmter dafür empfänglicher Leute. Diese Konventikel entstanden schon vor dem Wirken der vier erwähnten Theologen. In seinem Verhör gibt uns Speyer weitere Hinweise, welche Überzeugungen er selber hegte. Sie dürfen wohl auch in dem von ihm erwähnten Kreis als vorherrschend betrachtet werden: »Auf bücher, schreiben und läßen halte er nichts [. . .]; die Bibel seÿe ihme genug [. . .] [Aus ihr entnehme er,] daß er Got gleich seÿe nach seiner biltnus in rechtschaffner und vollkomner Heiligkeit und grechtigkeit, nicht aber aus der nathur, sondern durch und allein aus der gnade Gottes, danach er auch als von Christo gäntzlich 176 Vgl. StAB, AII 531 (4.11.1689), 44f. Wolters (Irr-)Lehre sei eine dem »alten puritanismo nit unänliche lehr« (44) und wirke wie ein »saur teig« (45). 177 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 33f. 178 Vgl. ebd., 34. 179 Vgl. Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 6f. (Edition: Dellsperger, Anfänge, 179f.). 180 StAZH, Kundschaften und Nachgänge [A.27.115: Antwort Speyer 10.10.1689]. Diesen Hinweis verdanke ich Frau Dr. Francisca Loetz, die auch die Transkription besorgt hat.

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gewäschen und den Geist der Apostlen habende nit mehr sündige, die sünd gar nit mehr in ihme herrsche, so unschuldig lebe als Adam und Eva vor dem fahl, deswegen ihm unnöthig umb verzeichung der sünden zu peten, auch nit umb das täglich brot, weil er dz Reich Gottes und die grechtigkeit habe [. . .] [als ihm die Herren Gelehrten aus der Bibel zu widersprechen versuchen, sagt er] Er frage nicht nach Paulo, Petro etc., sondern nach Christo. Er neme aus der schrift nicht an das, was von der sünd handle, die nicht mehr in ihme hersche, sondern was von der grechtigkeit, in derer er lebe geredet werde.«181

In Speyers Antwort tritt ein außergewöhnliches Selbstbewusstsein zutage, das sich von religiösen Autoritäten befreit zu haben scheint. Die Konzentration auf Christus vermittelt ihm die Überzeugung, selbst sündlos zu sein. Seine Bibellektüre führt ihn zur Anschauung, das Unservater-Gebet mitsamt der Bitte um Vergebung nicht mehr nötig zu haben. Es versteht sich von selbst, dass als Konsequenz dieses radikalpietistischen Zirkels und seiner heterodoxen Ansichten die Ablehnung der Amtskirche und ihrer Repräsentanten folgte.182 Dieses Gefühl der Freiheit wird sich kaum so schnell wieder in kirchliche Bahnen gelenkt haben lassen. Es begegnet hier in Bern schon 1689, als Schumacher und seine Mitkommilitonen sich erst auf den Weg nach Genf machten und noch »eine gantz capitale Feindschafft wieder einander hatten«.183 3. Aus dem Zeugnis der Margret Zeerleder-Lutz (1674–1750),184 der Verfasserin einer religiösen Autobiographie185 und gleichaltrigen Cousine des bekannten Pietisten Samuel Lutz (1674–1750), geht hervor, dass sie »von neuen Erweckungen« schon gehört und mit Gleichgesinnten »von vielen Orten« in häuslichen Zusammenkünften »offt halbe Nächte [. . .] von göttlichen Dingen« gesprochen hatte, ehe sie von diesen Besuchern auf Güldin in Stettlen aufmerksam gemacht worden war und seine Gottesdienste besucht hatte.186 4. Wie stark der Beitrag erwecklicher Literatur auf die Entstehung der pietistischen Bewegung in Bern gewichtet wurde, belegt die Tatsache, dass die Relation, deren Schilderung der Anfänge des Pietismus in Bern doch von jener Schumachers abweicht, gleich im zweiten Kapitel »von allerhand gefährlichen und schädlichen Büchern und dero Liebhabern und Beförderern«187 handelt. Zu den namentlich genannten Autoren der »irrige[n]«, 181 Ebd. 182 Vgl. Studer, Pietismus in der zürcherischen Kirche, 112. 183 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 7 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 180). 184 Vgl. Simon Bosshard-Höck, Die Berner Pietistin Margret Zeerleder-Lutz (1674–1750) und ihr Lebens=Lauff, unveröff. Liz.arbeit der Philosoph. Fakultät I der Universität Zürich, Zürich 1999. 185 Glückselige Freyheit, Entgegen gestellt Der beschwerlichen Dienstbarkeit. Oder: Einfältige Hertzens- Und Erfahrungs-Lehr, Einer Durch die Wahrheit frey gemachten Schweitzerischen Frauen, Neuwied 11740, Bern 21743. 186 Zit. nach Dellsperger, Anfänge, 59f. 187 RELATION II, 5–8.

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Biografische Grundlegung »lästerliche[n]«, »schwärmerische[n]« und »mystische[n]« Bücher zählten Weigel, Leade, Poiret, Böhme, Tauler, Hoburg, Hiel und Johanna Eleonora Petersen.188 Samuel König wird sogar zitiert mit der Aussage, er hätte »bey vielen Personen befunden / daß sie sich mehr auf die Lesung des Hoburgs / Leade / und dergleichen Büchern / als auf die Lesung der H. Schrifft / geleget.«189 Die vom Bankier Heinrich Locher in Zürich vertriebenen Bücher wie etwa die Übersetzungen der Werke Jane Leades (1624–1704) fanden primär in Laienkreisen einen einträglichen Absatz, und zwar offenbar v. a. beim weiblichen Geschlecht, das »sich bekanter maßen viel in solchen bücheren heütigstags aufhaltet«,190 während die pietistisch gesinnten Pfarrer dieser Literatur gegenüber eher kritisch bis ablehnend eingestellt waren. Dellsperger spricht vorsichtig von »zwei grundverschiedenen Tendenzen innerhalb einer Bewegung«.191 Brigitta Stoll zufolge trug die seit dem 16. Jahrhundert einsetzende »Literarisierung des Familienlebens« nicht nur zur Intimisierung des familiären Lebens bei, sondern bildete »einen wichtigen Schritt« zur Emanzipation von Frauen.192 Schon 1695 wurde beschlossen, es müsse gegen Autoren wie Tauler, Thomas a Kempis, Johannes Bona, Hoburg, Antoinette Bourignon und Pierre Poiret etc. von den Kanzeln gepredigt werden,193 und im gleichen Jahr brachte Bern diesen Tagesordnungspunkt an der Konferenz der evangelischen Orte vom 14. und 15. Juni 1695 in Aarau vor.194

5. Besondere Aufmerksamkeit bei der Entstehung und Ausbildung des Pietismus in Bern verdient das gerade Ende des 17. Jahrhunderts erstarkte Täufertum.195 Nicht ohne Grund wurden die Anhänger des Pietismus anfänglich dem täuferischen Lager zugeordnet. Es gelang ihnen neben und im Austausch mit den Täufern lange Zeit nicht, als Träger einer eigenständigen Bewegung aus deren Schatten herauszutreten. Noch 1722 verfasste der reformierte Pfarrer Johann Jakob Wolleb ein Gespräch zwischen einem Pietisten und einem Wiedertäufer, um aufzuzeigen, dass man Pietismus und Täufertum unterscheiden müsse.196 Die Grenzen waren aufgrund der zahlreichen ge188 Ebd., 6. Vgl. zu den Berner Bücherverbotslisten Schrader, Literaturproduktion, 430 (Anm. 48). 189 RELATION II, 7. 190 StAB, AI 462 (29.12.1691–11.12.1709), 424. 191 Dellsperger, Anfänge, 128. 192 Brigitta Stoll, Hausmutter und Himmelsbraut – Ein Andachtsbuch des 17./18. Jahrhunderts und sein Frauenbild, in: Sophia Bietenhard u. a. (Hg.), Zwischen Macht und Dienst, 81–103, hier 85. 193 Vgl. StAB, AII 557 (14.3.1695), 454f. u. (14.5.1695), 459f. 194 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 79. 195 Vgl. ebd., 55. 196 Johann Jakob Wolleb, Gespräch zwischen einem Pietisten und einem Wiedertäufer untersucht und worinnen wahre Pietisten von jenen zu unterscheiden sind, Basel 1722.

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meinsamen theologischen Anliegen in der Tat fließend,197 obschon es starke Bestrebungen v. a. von Anhängern im Theologen- und Pfarrerstand gab, die pietistische Bewegung als innerkirchliche Reformbewegung zu situieren und sich damit klar von den Täufern abzugrenzen. »Halbtäufer« wurden jene Sympathisanten genannt, die den Gottesdienst ganz mieden, ohne schon das Täufergelübde abgelegt zu haben, oder die den Gottesdienst besuchten, aber dennoch den Täufern ideell nahe standen.198 Als Beispiel dafür mag die Abbildung der allertugendsamsten, Frau Elisabetha Tscharner, eine geboren von Graffenriedt, Herren General u[nd] Venner Tscharners, zu Bern, Ehegemahlin199 dienen. Sie verdeutlicht, wie stark sich täuferische und pietistische Kreise überschnitten. Elisabeth Tscharner wurde 1660 als Tochter von Schultheiß Emanuel von Graffenried und Maria Magdalena geb. von Werdt geboren, vermählte sich am 7. April 1690 mit Niklaus Tscharner (1650–1737), hatte fünf Kinder und starb am 20. Dezember 1722.200 In der Abbildung, die von einem ihrer Söhne, entweder von Bernhard (1692–1752) oder Emanuel Tscharner (1699– 1777) verfasst wurde,201 heißt es von ihr: »Ihre ordinari-arbeit war strümpfstricken, die sie hernach unter die armen außtheilete. Sie name sich sonderlich der gefangenen taüfferen sowohl mit vorbitt beÿ der oberkeit, als anderer versorgung an. Als durch vermitlung deß gütigen Herrn Schultheiß Steigers202 an dem ersten tag, da selbiger im amt saße, über die nach doppleter landsverweisung zum anderen mahl wider ins land gekommene taüffer ein gnädig urtheil ware gefället worden, daß sie nemlich in 3 tagen solten auf ein schiff gesezt und biß in die Pfalz zu ihren brüdern geführt, auch mit lebensmitlen biß dahin versorget werden, schickte sie nit nur zu underschidlichen freünden eine steür für sie zu samlen, sonder liese auch fragen, was sie von kleideren nöthig hätten, da sie alsobald durch einen schneider haußthuch und andere materialien kaufen und die kleider schneiden liese, machte 3 fromme adeliche jungfrauen zu sich kommen, und nähete mit selbigen tag und nacht an solchen kleideren [. . .].«203 197 Vgl. dazu John D. Roth, Pietismus und Täufertum – ein schwieriges Verhältnis, in: MGB 58 (2001), 71–94. 198 Vgl. A. J. Amstutz-Tschirren, Art. Halbtäufer, in: MennLex II (1937), 234; John Horsch, The Half-Anabaptists of Switzerland, in: MennQR XIV (1940), 57–59 [reprinted in: ders., Mennonites in Europe, Scottdale, Pa. 1942, 392–395]; Robert Friedmann, Art. Half-Anabaptists, in: MennEnc II (1956), 634. 199 AFSt/H, D41:4 (94–103, hier 94). 200 Vgl. BBB, Todten-Rodel 1 (1719–1772), 24 (Nr. 64); Stammbuch der Familie von Tscharner in Bern, zus.gestellt von L. S. M. U. von Tscharner, Bern 1920, 25f. 201 Die anderen drei Kinder starben vor ihrer Mutter Elisabeth Tscharner und können die Abbildung deshalb nicht verfasst haben. Vgl. von Tscharner, Stammbuch, 26. 202 Christoph I. von Steiger (1651–1731) studierte Theologie in Lausanne und Orléans, war Mitglied des Schulrates und von 1718–1731 Schultheiß der Stadt und Republik Bern. Steiger war Pate von Samuel Güldins drittem Kind. Vgl. B. Schmid, Art. Steiger, Christoph I., in: HBLS 6 (1931), 523; Dellsperger, Anfänge, 124. 203 Abbildung, 95f.

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Biografische Grundlegung Elisabeth Tscharner besuchte regelmäßig arrestierte Täuffer und ließ ihnen »weißes brodt, butter, honig, wein«204 bringen. Sie »gab jedem ein gläßlein wein, den krankenen stieße sie es selber ein, und erquikte sie mit diser leiblichen gabe, da sie denn von ihren einfältigen christlichen discoursen und im gebet mit ihnen wieder erquiket wurde. [. . .] Ihr haben wir auch zu danken das büchlein, underweisung einer mutter an ihre tochter,205 welches sie auß dem französischen der Mad[am]e Guyon206 vertieret,207 in ihrnen kosten truken laßen und hie und da unter die armen außgetheilet.«208 Während der Zeit ihrer Krankheit wurde Elisabeth Tscharner »nur von frommen und Gott aufrichtig suchenden seelen, als der Frau Zeerlederin,209 Frau Knopf,210 Frau Hugo,211 Jungfrau Stettlerin, Jungfrau de Pentaz212 etc. besuchet und bewachet [. . .]; also sonderlich beÿ ihrem end die Jungfrau Stettlerin, ihre herzensfreundin, und Fr. Hugo, eine vortrefliche bätterin, neben meinem bruder und mir gegenwärtig gewesen«.213 Die Tatsache, dass Pietisten und Täufer manchmal gar gemeinsam Zirkel durchführten und dass z. B. Schumacher in seinen Versammlungen das täu-

204 Ebd., 96. 205 Leider konnte ich diese Übersetzung von Guyons »Instruction chrétienne d’une mère à sa fille« nicht auffinden. Vgl. zur späteren dt. Übers.: Christliche Unterweisung für die Jugend [. . .] von Madame Guion für ihre Tochter aufgesetzet; Und jetzo ins Teutsche gebracht, in: Recht kluge Kinderzucht nebst christlicher Unterweisung für die Jugend. Aus den Schriften der Madame Guion und anderer erleuchteter Personen in etlichen auserlesenen Tractätlein dargelegt, Leipzig 1726 und für den Kontext: Hans-Jürgen Schrader, Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur, in: Hartmut Lehmann/Heinz Schilling/Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus (AGP 42), Göttingen 2002, 189–225, hier 210 (Anm. 72). 206 Zu Jeanne Marie de Guyon, geb. Bouvier de la Mothe, vgl. Ruth Albrecht, Art. Guyon, Jeanne Marie, in: RGG4 3 (2000), 1356. Hans-Jürgen Schrader weist darauf hin, dass Madame Guyon »in den protestantischen Ländern, insbesondere in Deutschland und der Schweiz, eine tiefere und nachhaltigere Wirkung hinterlassen [hat] als in Frankreich selbst [. . .].« Ders., Guyon, 191. J. Fr. Rock sagte von ihr, sie schriebe, »als wann sie unsere Schwester wäre, und auch ist«, VI. Sammlung (1741), 195. 207 D. i. übersetzt. 208 Abbildung, 97. 209 Vgl. Anm. 184. 210 Frau Knopf war verheiratet mit dem bekannten Pietisten Daniel Knopf. Vgl. Anm. 295. 211 Es handelt sich wohl um Susanne Catharina Hugo geb. Burckhardt, die 1699 mit ihrem Mann nach Bern gekommen war und erst nach seinem Tod wieder nach Basel zurückkehrte. Deren zweitälteste Tochter Margaretha Hugo wurde 1701 in Bern geboren, war mehrere Jahre bei Samuel Lutz in Diessbach Hausleiterin, wanderte dann mit ihrer Schwester nach Marienborn aus, heiratete den verwitweten Elsässer Peter Hofer und starb am 19.3.1749 auf dem Herrnhaag. Vgl. Llauf UAHh R 22.10.25. 212 Anne Elisabeth de Penthaz stand unter dem Einfluss Tennhardts und versuchte 1711 Samuel Lutz davon zu überzeugen, sein Pfarramt niederzulegen. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 155 u. 266. 213 Abbildung, 102. Zu Frau Tscharner vgl. auch Studer, Pietismus, 145f.

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ferische Gebet auf den Knien einführte,214 zeigt, wie schwer es ist, in den Anfängen ein klares pietistisches Profil auszumachen. Das Täufermemorial der Stadtberner Geistlichkeit von 1693215 legt Zeugnis ab von der angesichts des zweiten Großen Türkenkriegs, des pfälzischen Erbfolgekrieges und der im Piemont gegen die Franzosen kämpfenden Schweizer Regimenter216 als bedrohlich empfundenen politischen Lage. Täuferischer Pazifismus kam hier mehr als ungelegen. Die unterschiedliche Praxis der Pietisten, die die Täufer einerseits als für Glaubensfragen besonders sensibilisierte Leute und potenzielle Anhänger der eigenen Anschauungen betrachteten, sich aber andererseits genau von ihnen abzusetzen und als Alternative zu ihnen anzubieten versuchten, weckte Misstrauen. Von obrigkeitlicher und staatskirchlicher Seite her warf man die Pietisten mit den Täufern letztlich in denselben Topf mit den Subversiven. Und da man es für »eine unwidersprechliche Wahrheit« hielt, »daß / wo eine Trennung in der Kirchen entstanden / das Uebel daselbst nit bleibt / sondern sich in der Republic communicirt / und also selbige gleich der Kirchen in Verwirrung gerathet«,217 galt es, religiöse Nonkonformisten218 gemeinsam zu bekämpfen. Samuel Schumacher, dessen Lehrpfarrer Georg Thormann schon 1693 in Bern eine täuferkritische Schrift mit dem Titel Probierstein. Oder Schrifftmäßige / und auß dem wahren innerlichen Christenthumb Hargenommene / Gewißenhaffte Prüffung Des Täufertums [. . .] veröffentlichte, bemüht sich in seinem Schreiben an August Hermann Francke um eine klare Abgrenzung gegenüber den Täufern, was wohl im Zusammenhang mit den verschärften staatlichen Maßnahmen gegen diese zusammenhängt.219 So bezeichnet er den an ihn gerichteten Vorwurf, »Wiedertäufferische Versamlungen« durchzuführen, als »Attaque« vom »Teuffel«.220 Seine Darstellung von Samuel Dicks221 Wirken in Spiez zeigt aber noch deutlich die tatsächliche Ambivalenz im Verhältnis zwischen Pietisten und Täufern:

214 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 52. 215 Vgl. Samuel Geiser, Art. Anabaptist Memorial, in: MennEnc I (1955), 116f.; Dellsperger, Anfänge, 55. 216 Vgl. Paul de Vallière, Treue und Ehre. Geschichte der Schweizer in fremden Diensten, Lausanne 21940, 362–370. Freundlicher Hinweis von Prof. E. Axel Knauf, Bern. 217 RELATION (Gefahren so zu besorgen im weltlichen Stand. 1.), 25. 218 Zum Begriff des »religiösen Nonkonformismus« vgl. Thomas Hanimann, Zürcher Nonkonformisten im 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung zur Geschichte der freien christlichen Gemeinde im Ancien Régime, Zürich 1990, 3–5. 219 Vgl. die Aufzählung des »Tractat[s] wieder die Wieder=Teüffer«, Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 6 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 180). 220 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 30 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 191). 221 Vgl. Anm. 151.

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Biografische Grundlegung »Alß er [sc. Dick; IN] zuerst in seine Gemeinde kam und so herrlich die Nothwendigkeit und Nathur der Wahren Wiedergeburth vorgestellet hatte; so begab es sich, daß sehr viel seiner Zuhörer wolten zu der Wieder=Taüffer Sect treten, weil sie meineten, wenn sie wolten seelig werden, so werden sie müßen Wieder=Taüffer werden, weil unter dem großen Hauffen eine solche große Verderbnis sey; Alß er sie aber eines andern berichtet, so hat er nun eine schöne Anzahl frommer Seelen [. . .].«222

6. Samuel Schumachers Amtsbruder und Gesinnungsgenosse Samuel Güldin hielt in seiner zusammen mit der Relation der Religionskommission veröffentlichten Apologie fest, dass der Pietismus »auch anderstwo in andern ohne uns seinen Anfang genommen / gleichwie auch wir ohne sie.«223 Schumachers Einschätzung vom Einfluss des eigenen Wirkens auf die Entstehung und Ausbreitung des Pietismus in Bern mag einer in seinem sozialen Umfeld verbreiteten Sicht entsprochen haben. Doch scheint diese zu einem guten Teil auch den damaligen patriarchalen Machtdiskurs zu spiegeln, der u. a. Theologen als Inhabern von Herrschaftswissen und hohem gesellschaftlichem Status mehr Beachtung schenkte als den von diesen Herrschaftsmitteln Ausgeschlossenen. Dafür spricht, dass die Darstellung von Schumacher sehr pfarrerorientiert ist. Bevor er noch kurz auf die pietistische Bewegung in Zürich, Basel und Schaffhausen eingeht, indem er die ihm bekannten bekehrten und erweckten Prediger nennt, schließt er seine Schilderung der pietistischen Anfänge in Bern mit folgenden Worten: »Diß ist nun der Zustand in unser Bärner=Gebiet. Es ist ja zu muthmaßen, daß eine große Ernte anfange weiß zu werden und reiffe, weilen Gott in dem Geistlichen=stand so viel Arbeiter und Schnitter gerüstet hat.«224

Im Sinne eines sozialgeschichtlichen Umgangs mit Quellen scheint die offensichtlich subjektive, am eigenen Stand orientierte und überzeichnende Darstellung Schumachers ein aufschlussreicher, aber aus einer spezifischen Optik verfasster Beitrag zur Erfassung der – komplexen, facettenreichen und schichtenübergreifenden – Anfänge der pietistischen Bewegung in Bern zu sein. Die Ansicht, der Pietismus sei oft von jungen Theologen ausgegangen, macht sich die Sichtweise Schumachers zu eigen, ohne die sozialen und historischen Voraussetzungen seines literarischen Produktes bzw. den gesellschaftlichen Diskurs zu bedenken. Dadurch geraten die zahlreichen namenlosen Akteure der Bewegung, die keine Berichte und Briefe hinterlassen hatten und anderen Bevölkerungsschichten als Schumacher angehörten, gar nicht erst ins Blickfeld. Dellsperger weist auf diese Problematik im Zusammenhang mit den 1698 stattgefundenen Verhören hin.225 222 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 41 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 197). 223 Samuel Güldin, Kurtze APOLOGIE oder Gegen=Antwort auf Vorgehende RELATION, Und zwar erstlich auf dero Vorrede, Philadelphia 1718, 3 [9.]. 224 Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 44 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 198). 225 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 134.

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Dieselbe Schwierigkeit ergibt sich bei der Bestimmung der Verantwortung, die Patrizierinnen für die Durchführung von Konventikeln in Bern trugen. Nach Dellsperger sind es »fast ausschließlich«226 bzw. »vorwiegend«227 Patrizierdamen gewesen, die zu Erbauungsversammlungen einluden. »Frauen äußerten sich nun zu Glaubensfragen: in Stuben, Salons und in Briefen, aber auch auf Märkten, Plätzen und in Büchern.«228 Als Gastgeberinnen hatten Patrizierinnen genug Platz für solche Versammlungen. Ihre gesellschaftliche Stellung verschaffte dem Tun eine gewisse Akzeptanz und bot Schutz vor Nachstellungen. Dass sich das öffentliche Interesse ihnen zuwandte, ist naheliegend.229 Das in den Quellen belegte Faktum der auffälligen Beteiligung patrizischer Frauen230 bestätigt lediglich die Aufmerksamkeit, die ihnen zukam, schließt aber freilich nicht aus, dass zahlreiche andere, weniger Aufsehen erregende Konventikel bei unbekannten und gesellschaftlich weniger wirkungsmächtigen Personen stattfanden. Auch nach dem Religions-Prozess blieben jedenfalls »das conventiculiren und pietistische Sonderungen in Religionssachen, sonderlich aber unter den weibsbildern annoch im Schwang [. . .].«231 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Schumachers »Bericht« primär wertvoll ist als persönliche Erzählung und Ausdruck seines Bemühens, eine Leitungsfunktion in einem gesellschaftlich sich wandelnden Gefüge einzunehmen und erst sekundär als historische Analyse der pietistischen Anfänge Berns. Die unterschiedlichen Praktiken der Pietisten gerade in den Anfängen, der an den Rändern der Staatskirche stattfindende Diskurs zwischen Pietisten und Täufern und der im Brief Schumachers zutage tretende Führungsanspruch zeigen deutlich, dass wir es im frühen Pietismus in Bern, in dem noch keine feste Organisation und Leitung existierte, im Sinne Joachim Raschkes klar mit einer äußerst komplexen »sozialen Bewegung« zu tun haben, das heißt mit »einem mobilisierenden kollektiven Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel ver226 Dellsperger, Frauenemanzipation, 135. 227 Rudolf Dellsperger, Die Relativierung der konfessionellen Grenzen und Lebensformen im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung, in: Vischer u. a., Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, 182–204, hier 188. 228 Ebd. Vgl. auch Wernle, Protestantismus 1, 149: »Besonders renitent waren wie immer die frommen Weiber.« 229 Vgl. dazu Ruth Albrecht, die im Anschluss an Irina Modrow auch auf »die frühneuzeitliche Geschlechterpolarität« hinweist (Frauen, 527). 230 Vgl. z. B. den Brief des damaligen Dekans der Berner Kirche Samuel Bachmann an Pfarrer Jakob Ulrich in Zürich vom 8. Juli 1698, Teilabdruck in: Dellsperger, Anfänge, 88: »vil fürnemme Adeliche Weibspersohnen, dieser pietisterey ergeben sind«. 231 StAB, AII 582 (17.1.1700), 282.

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Biografische Grundlegung

folgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen [. . .].«232 Der Pietismus wies gerade in seinen Anfängen eine breite und bunte Vielfalt auf. Deshalb ist auch jede definitorische Festlegung des frühen Pietismus heikel. Z. B. ist zu überlegen, ob es nicht primär die Anhänger des Pietismus im Theologenund Pfarrerstand waren, die im Verlauf der Auseinandersetzungen mit ihren Amtsbrüdern und mit der Obrigkeit verstärkt ihre Anliegen als innerkirchliche Reformen interpretierten und zu vermitteln versuchten, während Laien sich weniger um die Kirchenkonformität ihrer religiösen Überzeugungen kümmerten. Vielleicht war es zuletzt gerade diese verbreitete Unbekümmertheit, die die Obrigkeit zu ihrem späteren massiven Vorgehen veranlasste. Und wie verhält sich der für Aufruhr sorgende Chiliasmus zur Ansicht, bloß innerkirchlich reformierend wirken zu wollen? Schon 1693 behaupteten drei Mägde, Elsbeth Anneler von Erlenbach im Simmental und die beiden Schwestern Katharina und Madlena Aellen von Saanen, mit Berufung auf Hans Georg Ziegler, das Tausendjährige Reich stehe kurz bevor.233 Sieht man die Hauptträger des frühen Pietismus in jungen Theologen, wird man ihn als zunächst innerkirchliche Reformbewegung wahrnehmen;234 legt man das Gewicht auf die Laien als primäre Träger seiner Verbreitung, dann wird man den Pietismus von Beginn an auch als unkirchliche, separatistische Bewegung verstehen. Erst wenn man den Pietismus als soziale Bewegung sieht und miteinander konkurrierende Traditionen und Interessen wahrnimmt, erweitert sich das Verständnis für die unterschiedliche Praxis seiner Anhänger/-innen und gelingt eine Integration der verschiedenen erwähnten Phänomene. So fordert John D. Roth m. E. zu Recht »eine tiefere Würdigung der Komplexität der pietistischen Bewegung«.235

232 Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1985, 77. In Aufnahme von Raschke sieht Hans Schneider (Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 10) den Pietismus »noch Ende des 17. Jahrhunderts als wenig differenzierte soziale Bewegung«. 233 Zu ihren davon abgeleiteten radikalen sozialpolitischen Forderungen und religiösen Anschauungen vgl. Dellsperger, Anfänge, 77. Doris von der Brelie-Lewien hält es für möglich, dass diese drei Mägde in Zusammenhang mit der von Pietisten von Halle nach Bern vermittelten Nachricht vom Auftreten der »Begeisterten Mägde« stehen. Vgl. dies., »Die Erlösung des Menschengeschlechts«. Prophetinnen, Besessene, Hysterikerinnen (1690–1890), in: Karsten Rudolph/Christl Wickert (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie, FS Helga Grebing, Essen 1995, 478–506, hier 488. Ich erachte diese These als eher unwahrscheinlich. Um welche Pietisten könnte es sich denn gehandelt haben, die diese Nachricht von den »Begeisterten Mägden« vor 1693 von Halle zu den Mägden ins Simmental und ins Saanenland gebracht haben sollen? Zudem: Das Phänomen an sich benötigt keine solche Herleitung. 234 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 123. 235 Roth, Pietismus und Täufertum, 90.

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4.2 Der weitere Verlauf der pietistischen Bewegung und der Versuch ihrer Unterdrückung Die Versammlungen der Pietisten gerieten zunehmend in Konkurrenz zu den öffentlichen Gottesdiensten. Wurden zunächst primär geistliche Gespräche geführt, gemeinsam in der Bibel gelesen, gesungen und miteinander gebetet, so traten nach und nach auch Redner – meist Laien – in diesen Zirkeln auf. Es sei hier an die schon erwähnten Herren Pierre Mesmyn und Dr. Johannes Rubin erinnert:236 beide traten in pietistischen Privatzirkeln in Bern in Erscheinung.237 Rubin war ein Jahr jünger als Caspar Meyer [Vater] und zur selben Zeit wie er Mitglied des Großen Stadtrats in Thun. Rubin war es auch, der damals mit Meyer »zu Bern« über die Beschaffung eines Heimatrechts für seinen Stiefsohn verhandeln sollte.238 Rubin war der Familie Meyer bekannt. Je mehr sich die Konventikel ausbreiteten, verfestigten und in das alltägliche Leben integriert wurden, verschärfte sich die Distanzierung von der Amtskirche. Man blieb der Abendmahlsfeier fern, richtete sein Augenmerk bewusster als zuvor auf die Mängel der Kirche und ihrer Amtsträger und kritisierte deren religiöse Laschheit. Die Frage nach der Wiedergeburt bildete für die Pietisten zunehmend das entscheidende Kriterium. 1696 wurde Samuel Güldin (1664–1745) ans Münster gewählt, und ab 1698 wirkte Samuel König (1671–1750) als Vikar an der Spitalkirche. Letzterer schwang sich nicht zuletzt aufgrund seines mächtigen Charismas und seiner gewaltigen Predigten bald zu einer prägenden Leitfigur des pietistischen Reformprogramms auf.239 Von den Schriften Jane Leades und des Ehepaars Petersen240 in seinen Anschauungen bestärkt, führte er das entscheidende, erstmals aber schon 1693 bei den drei Mägden in den Quellen belegte, chiliastische Element im bernischen Pietismus zum Durchbruch.241 Nun erst wurde die Bewegung zu einer Macht, die es auszuschalten galt; zumal das politische Umfeld, wie schon erwähnt, 236 Vgl. oben S. 53. Vgl. RELATION I, 5; IX, 20. 237 Vgl. RELATION I, 5. 238 RM 6, BAT 58 (24.1.1687), 524. Mit den »obgenannte[n] H. Commitirten« waren Dr. Rubin und der Landschreiber Koch gemeint. Ihre Namen findet man im vorhergehenden Ratsmanualeintrag (ebd.). Vgl. S. 43 (Anm. 46) u. 45. 239 In Johann Georg Hinsbergs wohl vor 1918 entstandene und von Johannes Burkardt und Ulf Lückel herausgegebene Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg bis zur Regierungszeit des Grafen Casimir (18. Jh.), Bad Berleburg 1999, 68 findet man folgende Beschreibung von Samuel König: »ein Mann von mittlerer Statur, schwarzen Haaren, rotumränderten Augen, [. . .] ein mit Überzeugung und Löwenmut begabter, hinreißender Prediger.« Vgl. auch seine Charakterisierung von 1750 in: Dellsperger, Anfänge, 93. 240 Vgl. Hans-Jürgen Schrader, Art. Petersen, Johann Wilhelm, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon 5, Neumünster 1979, 202–206; Markus Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692 (AGP 30), Göttingen 1993. 241 Vgl. oben S. 70; Dellsperger, Anfänge, 77 u. 112.

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u. a. wegen des Gebarens von Louis XIV bedrohlich schien. »Königs Chiliasmus war der Funke, der das Pulverfass zum Explodieren brachte.«242 Angesichts der politisch instabilen Situation galt es, innere Unruhe strikt zu vermeiden. Die Behebung gesellschaftlicher Krisen und innerer, sozialethischer, auch systembedingter Missstände, der sog. »Standeskrankheiten«, beanspruchten schon genug Kräfte. Mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln versuchte man, »insonderheit in gegenwärtigen gefährlichen bösen Zeiten«243 den Pietismus zu unterdrücken. Kirchliche und staatliche Obrigkeit gemeinsam reagierten repressiv. Konventikel und Sonntagsfahrten wurden verboten, eine Zensurliste wurde auf der evangelischen Tagsatzung vorgelegt, und die beiden Theologieprofessoren Johann Rudolf Rudolf und David Wyss verfassten erstmals 1696 im Auftrag des Großen Rates neunzehn antipietistische theologische Thesen. Schließlich holte die Regierung im Juli 1698 mit der Einsetzung einer Untersuchungskommission zum entscheidenden Schlag aus. Über ein Jahr dauerte das Verfahren. Der Große Rat entschied nach zahlreichen Verhören in dem großen Berner Pietistenprozess im Juni 1699, Samuel Güldin und Christoph Lutz abzusetzen, zahlreiche ihrer Kollegen, darunter auch Johann Jakob Dachs von Thun (1667–1744), der vor seinem Pfarramt in Holderbank von 1692 bis 1695 an der Oberen Spitalkirche in Bern gemeinsam mit Christoph Lutz gewirkt hatte,244 und Samuel Schumacher, zu strafen und mit Bußzahlung zu belegen und Samuel König des Landes zu verweisen. In ihrem Bericht, der Relation vom 9. Juni 1699,245 zeigte sich die Religionskommission davon überzeugt, dass die pietistischen Ansichten und Verhalten »gefährliche Verwirrungen in der Kirchen / in der Republicq, in den Schulen / in der Oeconomie, und in der allgemeinen burgerlichen Societät / anrichten können.«246

Die Einheit der Berner Kirche stand nach Ansicht des Großen Rates auf dem Spiel. Von besonderem Interesse ist die vierte der fünf gegen den Pietismus gerichteten Anklagen, die die Religionskommission in ihrer Relation formulierte. Sie handelt von den »Gefahren so auß diesem Unwesen im Haußstand zu besorgen«.247 Darin wird der Große Rat vor dem schädlichen Einfluss des Pietismus insbesondere auf Frauen gewarnt. Den Mägden wurde unterstellt: Daß sie / unter dem Fürwand, GOtt zu dienen / in ihren Diensten / den sie ihren Herren und Frauen leisten solten / untreu und hinlässig werden [. . .].«248 242 Dellsperger, Anfänge, 114. Vgl. StAB, AII 578 (21.3.1699), 154f. 243 RELATION (Vorwort), 2. 244 Lutz wechselte erst 1697 nach Stettlen. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 43f. 245 Vgl. oben Anm. 125. 246 RELATION, 23. 247 Ebd., 27. Vgl. Dellsperger, Frauenemanzipation, 134. 248 RELATION, 28. Die Beschuldigungen sind mit den gegen die Spenerschen Privatversammlungen in Frankfurt a. M. gerichteten deckungsgleich. Vgl. dazu Jutta Taege-Bizer, »Christliche

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Besondere Gefahr sah man auch für die Ehe: »Oder solte das nit eheliche Liebe erstecken / großen Argwohn erwecken / wann Eheweiber unter weiß nit was vor einem Vorwand nächtlicher Zeit ihre Haushaltungen verlassen / in dergleichen Gesellschaft gehen / da sich fremde Ehemänner und Jüngling / die ihnen Verwandschafft halben nit zugethan sind / einfinden / und spaten Nacht wieder heimkommen?«249

Offensichtlich weckte die Beteiligung von Frauen an pietistischen Privatzirkeln besondere Phantasien, die geeignet waren, die Bewegung als Ganze zu diskreditieren.250 Dass die Herren der Religionskommission ihren Unterstellungen hingegen selbst keinen Glauben schenkten, darauf weist die ausführliche Begründung in Frageform hin. Im Wissen, dass ein direkt formulierter Vorwurf kontraproduktiv gewesen wäre, da alle um dessen Nichtberechtigung wussten, wurde ein anderes Vorgehen gewählt. Indem die Pietistengegner ihre Phantasien zu begründen und sich für sie zu rechtfertigen suchten, gelang es ihnen, ihre Vorwürfe dennoch indirekt zu formulieren und auszusprechen. Damit setzten sie deren vorzüglichen argumentativen Wert geschickt ein und säten Misstrauen.251 Weibspersonen«. Spener und der Aufbruch der Frauen im frühen Pietismus, in: Nicht nur fromme Wünsche. Philipp Jakob Spener neu entdeckt, mit Beitr. von Wolfgang Bromme (et al.), Frankfurt a. M. 2000, 111–131, hier 114f. Dennoch lässt sich die Aussage Taege-Bizers, der Hauptvorwurf gegen die pietistischen Privatversammlungen hätte sich im ganzen Deutschen Reich auf die Beteiligung und Stellung von Frauen konzentriert (114), auf Bern nicht übertragen. 249 RELATION, 27. Vgl. dazu Hadorn, Pietismus, 40: »Was der Obrigkeit besonders unerhört und undenkbar erschien, war, dass Personen ungleichen Geschlechts und Standes, adelige Frauen und Mägde nebeneinander auf denselben Bänken sitzen konnten, um gemeinsam Psalmen zu singen, in der Bibel zu lesen und zu beten. Das erschien ihr nahezu als ein Umsturz der geheiligten gesellschaftlichen Ordnung!« Vgl. Emil Bloesch, Geschichte der schweizerisch-reformierten Kirchen, Bd. 2, Bern 1899, 35 u. 37. 250 Vgl. auch den unten Kap. III.1.1.2 von Prof. Hans Schneider zur Verfügung gestellten und noch zu besprechenden Bericht des Dodenauer Pfarrers Konrad Schlierbach zu den ab 1700 u. a. von den vertriebenen Bernern Samuel König, Johann Jakob Knecht und Carl Anton Püntiner eingerichteten pietistischen Zirkeln im Wittgensteiner Land, in denen man »entweder nackend beysammen oder die Weibsbilder eine wunderliche Bewegung gegen die Mannspersonen e.t.c. bekahmen«, Dodenauer Kirchen Buch [. . .] Angefangen Anno 1697 [. . .], 571. Vgl. zum dortigen kirchengeschichtlichen Kontext Schrader, Literaturproduktion, 179f. u. 463. Der Vorwurf des sexuellen Vergehens wurde schon gegen hugenottische Prophetinnen und Quäker in Frankfurt zur Zeit Speners erhoben. Vgl. Knox, Christliches Schwärmertum, 325; Friedrich Wilhelm Barthold, Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; besonders die Frommen Grafenhöfe, in: Historisches Taschenbuch, hg. v. Friedrich von Raumer, 3. Folge, 2. Jg., Leipzig 1852, 1. Abt., 163f. Zur langen Tradition dieses Vorwurfs vgl. Gottfried Arnold, Die Erste Liebe (KTP 5), hg. v. Hans Schneider, Leipzig 2002, 96f. 251 Verblüffend ähnlich sind die Vorwürfe mit denjenigen, vor die sich einst das frühe Christentum gestellt sah. So polemisierte schon der numidische Literat und spätere Lehrer von Kaiser Marc Aurel, Fronto aus Cirta, um ca. 170 gegen die Christen mit folgenden bei Minucius Felix überlieferten Worten: »Aus der untersten Hefe des Volkes sammeln sie da die Ungebildeten und

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In Wirklichkeit scheint der Besuch von außerkirchlichen pietistischen Erbauungsversammlungen besonders auch für Frauen anziehend gewesen zu sein, weil sie ihnen offensichtlich eine neue, aktive Möglichkeit boten, am religiösen Diskurs teilzunehmen. Dellsperger erinnert daran, »daß auch in der pietistischen Bewegung in Bern Frauen in einer Weise hervortraten, die den ungeschriebenen, aber nichtsdestoweniger festgelegten Rollenerwartungen nicht mehr entsprach. Auch wer sich vor anachronistischen Übertragungen hütet, wird um die Feststellung nicht herumkommen, daß dem Pietismus auch auf diesem Gebiet emanzipatorische Ansätze innewohnten. Gewiß kann von Gleichberechtigung keine Rede sein, traten Ansprüche grundsätzlicher Art überhaupt nicht auf. Wenn aber Frauen Konventikel begründeten, Frauen auf eigene Faust in solchen sich einfanden und das Wort ergriffen, wenn Frauen Geistlichen anonyme Protestbriefe zukommen ließen und, oft ohne ihre Männer, sich am ›Geläuff‹ beteiligten, dann wies das doch in eine Richtung [. . .], die [. . .] elementare Ängste weckte.«252 In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist schließlich Schumachers Schilderung von Ereignissen, die sich während Güldins Gottesdiensten zugetragen hatten. Dessen Predigten waren offenbar z. T. so eindringlich, dass sich die ganze Gemeinde von ihren Gefühlen überwältigt erheben konnte und zu weinen begann. Einzelne legten öffentlich Bekenntnisse ab.253 So kommt Rudolf Dellsperger zum Urteil: »Ein enthusiastisches Element scheint diesen Gottesdiensten das Gepräge gegeben zu haben.«254 Dazu passt der im sechsten Kapitel der Relation formulierte Vorwurf an die Pietisten, dass in ihren Gottesdiensten das quäkerähnliche Zittern Einzug gehalten hätte.255 Enthusiastische Elemente waren demnach schon in der pietistischen Frühzeit verbreitet, und es lässt sich kaum anders denken, als dass Ursula Meyer mit diesen schon in Bern in Berührung gekommen war.256 Eher unwahrscheinlich ist jedoch, leichtgläubigen Weiber, die der ihrem Geschlecht eigenen Beeinflußbarkeit wegen [ohnehin] auf alles hereinfallen, bieten ein gemeines Verschwörerpack auf, das sich in nächtlichen Zusammenkünften [. . .] verbrüdert: eine obskure, lichtscheue Gesellschaft, [. . .] geschwätzig in den Winkeln [. . .]; wahllos vollziehen sie miteinander gleichsam einen Kult der Lüste, nennen einander Brüder und Schwestern [. . .]. Wäre gar nichts Wahres daran, so würde nicht die scharfsichtige Fama die verschiedenen Ungeheuerlichkeiten berichten [. . .].« M. Pellegrino, Minucius Felix, Octavius, Turin 21963, hier 8,4 u. 9,2f., zit. nach Adolf Martin Ritter (Hg.), Alte Kirche (KTGQ, Bd. I), Neukirchen 31985, 33f. 252 Dellsperger, Anfänge, 138. 253 Vgl. Schumachers Brief an Francke (22.3.1695), 39 (Edition: Dellsperger, Anfänge, 196). 254 Dellsperger, Anfänge, 60. 255 RELATION VI (Von dem ärgerlichen Zittern), 15f. Vgl. StAB, BIII 151a, Rodel des Capitels zu Bern (1648–1699), 15.6.1698: »belangend des schüttelns, so hier und dort einreißen will«, haben es einige Betroffene als »gnadenhammer zur ersten bekehrung« bezeichnet. 256 Dellsperger (»Weg des Friedens«, 155) hält »charismatische und enthusiastische Phänomene« in der pietistischen Bewegung dagegen lediglich für »Randerscheinungen, aber symptomatische Randerscheinungen«.

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dass sie schon in ihrer Jugend dem Phänomen der Cevennenprophetie begegnet war. Das erste aktenkundige Auftreten cevennischer Propheten in Bern ist mit dem Namen Durand Fage verknüpft.257 Von diesem »sich einbildenden propheten«258 ist belegt, dass er sich Anfang 1711 in der Insel im Gefängnis befand.259 Seine Examinierung ergab, dass er, »obgleich außert denen inspirationen, denen er sich berühmet, keine der orthodoxeÿ zuwider lauffende meinung führet, dennoch befunden, daß derselbe zum nachtheil der prophetischen schrifften und auch deß ministerii selbsten nicht in hiesigen landen geduldet werden könne«.260

Durand Fage, der Unterschlupf fand bei der vertriebenen Witwe Roux, musste bis Ostern mit seiner Frau und den Kindern das Land verlassen.261 Dennoch kehrte er 1713 gemeinsam mit Jean-Jacques Donadille, der ebenfalls aus den Cevennen kam, sich als Prophet ausgab und deshalb schon in Lausanne und Chillon ausgewiesen worden war, nach Bern zurück.262 Es dauerte nicht lange, da »beÿde pietisten« wiederum ausgewiesen wurden.263 Zu dieser Zeit befanden sich Ursula Meyer und ihre Schwester schon im Ysenburgischen. Mit den sog. »Remeduren«,264 besonderen antipietistischen Erlassen, trieb die Koalition von Kirche und Staat zahlreiche Pietisten und Pietistinnen in die – von oben erzwungene – Separation. Außer der Erweiterung und Überarbeitung der 19 Thesen von 1696265 bildete der Assoziationseid das offensichtlichste Mittel, den Pietismus nicht mehr aufkommen zu lassen. Er wurde allen Amtsträgern und Einwohnern der Stadt Bern abverlangt.266 Ursula Meyer war zu der Zeit siebzehn Jahre alt und wird die Ereignisse, welche »die Räte und 257 Zur Biographie von Durand Fage vgl. Georges Ascoli, L’affaire des prophètes français à Londres, in: Revue du XVIIIe siècle 3 (1916), 8–28.85–109, hier 11f. Ascolis Angaben beruhen auf den Aussagen von: Maximilien Misson (éd.), Le Théatre Sacré des Cevennes; ou Récit de diverses Merveilles nouvellement Opérées. Dans Cette Partie de la Province de Languedoc. Première Partie. [. . .], London 1707, 72–123; dt.: Heiliger Schau-Platz Der Landschafft Cevennes; Oder, Historische Erzehlung vieler Wunder, Welche in Franckreich unter den Cevennern in der Provinz Languedoc vor kurtzer Zeit geschehen, und durch Gerichtlich-beschworene Aussagen und andere Zeugnisse erwiesen sind. [. . .], Leipzig 1712. 258 StAB, AII 631 (7.2.1711), 423. 259 Vgl. StAB, AII 631 (4.2.1711), 391 u. (7.2.1711) 423. 260 StAB, AII 631 (17.2.1711), 491. 261 Vgl. StAB, AII 631 (17.2.1711), 492. Roux wurde angewiesen, das Land zu verlassen, sobald es die Witterung erlaube. 262 Vgl. StAB, AII 643 (22.8.1713), 375. 263 Ebd. Vgl. zum Urteil der Inspirierten über den »falsch Inspirirten« Donadille und »dessen unreine Magie« XXXIX. Sammlung (1786), 35. Ich verdanke eine Kopie dieser Sammlung Herrn Dr. Ulf-Michael Schneider, FU Hagen. 264 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 141–144. 265 Zu den 20 Thesen von 1699 vgl. ebd., 148–164. 266 Vgl. StAB, AII 579 (14.6.1699), 419 u. AII 588 (11.3.1701), 167.

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die Gemüter der Bevölkerung fast drei Monate lang andauernd beschäftigt [hatten]«,267 bewusst miterlebt haben. So unauffällig sich der Pietismus Ende des 17. Jahrhunderts in der Schweiz zu formieren begann, so auffällig wurde er daselbst nur wenig später bekämpft und verboten. Es lagen jedoch zuviel Kraft und Berechtigung in seinen religiösen Anliegen, als dass seine Verbreitung noch hätte verhindert werden können.

4.3 Pietistische Zirkel im Berner Oberland Ursula und ihre Schwester Helena Meyer sowie ihr jüngster Bruder Caspar Meyer kehrten – ohne quellenmäßig belegbaren Zusammenhang – nach der Staatsaktion gegen den Pietismus oder nach der vorübergehenden Einführung einer Postregie wohl zwischen 1700 und 1702 wieder nach Thun zurück.268 Dort scheint Familie Meyer einem pietistischen Zirkel um Herrn Dr. Johannes Rubin angehört zu haben. Rubin wirkte »als öffentlich angestellter Lehrer der Pietisten«, zu denen »der Venner Johann Bürki, die Familien Hartschi, Lanzrein,269 Koch,270 Stähli, Meyer, Werdtmüller und andere [. . .]«271 gehörten. Es sind ausschließlich burgerliche Familien aufgezählt, von denen wir mehreren im Zusammenhang mit den Reisen der Inspirierten wieder begegnen werden.272 Da Rubin schon in Bern als Redner in pietistischen Versammlungen aufgetreten und der Familie Meyer längst bekannt war, ist zu vermuten, dass Ursula Meyer und ihre Schwester schon vor ihrer Rückkehr nach Thun zu 267 Dellsperger, Anfänge, 167. 268 Vgl. oben S. 48. 269 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 298: »Der radikale Pietismus war in dieser Familie zu Hause [. . .].« Aus CM 1696, Nr. 7, BAT 238, (8.4.1707), o.S. geht hervor, dass Emanuel und seine Schwester Susanna Lanzrein am 8.4.1707 vom Chorgericht nach der Lehre fremder Personen befragt worden waren, die sich in Thun aufgehalten hatten. Man machte sie offenbar für die Verbreitung indifferenter Anschauungen vor allem hinsichtlich des Abendmahls verantwortlich. Susanna Lanzrein meinte, die Fremden hätten nichts als »die lehr Christi docirt« (ebd.). Emanuel Lanzrein, »geb. 1667, starb jung«, Lohner, Genealogien, 521 [Johannes Lanzrein]. Emanuel Lanzrein hatte zwei Schwestern mit Namen Susanna. Eine wurde 1659 und die andere 1664 geboren. Beide starben gemäß Lohner, Genealogien, 521 [Johannes Lanzrein] »jung«. Vgl. auch Wernle, Protestantismus 1, 312. 270 Zur Schulmeistersfrau Koch vgl. Wernle, Protestantismus 1, 293. 271 Carl Friedrich Ludwig Lohner, Chronik der Stadt Thun, Bd. 2, Thun o. J., Stadtbibliothek Thun (dep. BAT o. N.), zum Jahr 1710 [Ms. o. S.; Hervorhebung IN]. Es sind nur burgerliche Familien aufgezählt. Lohner gibt als Quelle »Gottl. Schrämli, Hist. Sammlungen« an. Der wörtlich übernommene Absatz befindet sich in: Johann Gottlieb Schrämli, Chronik der Stadt Thun aus einer Menge authentischer, meistens Handschriftlicher Dokumente zusammengetragen [. . .], Bd. IX: 1700–1748, Thun o. J., Stadtbibliothek Thun (dep. BAT o. N.), hier: 1710, 20f. [Ms.]. Leider fehlt hier eine Quellenangabe [Freundliche Mitteilung von Herrn P. Küffer]. 272 Vgl. unten S. 112f. und Exkurs: Rocks erste Reise ins Bernerland (1719/20), S. 275–282.

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den Anhängerinnen des Pietismus gehörten, aber aufgrund ihres jungen Alters bloß Zuhörerinnen waren. Immer wieder war ja den Pietisten vorgeworfen worden, sie verführten die Jugend. Johannes Rubin273 scheint in der religiösen Entwicklung Ursula Meyers eine zentrale Rolle zuzukommen. Rubin hatte von 1668 bis 1671 in Marburg274 und Leiden275 Medizin studiert und als erster Thuner im Jahre 1672 promoviert. Er war Vater von elf Kindern, betätigte sich auch als Schriftsteller und besaß ein immenses Vermögen.276 Seine gesellschaftliche Stellung, seine durch Theaterstücke, Gedichte und wissenschaftliche Werke dokumentierten vielfältigen Interessen und seine Vertrauenswürdigkeit machen verständlich, weshalb er so unterschiedliche Menschen zusammenbringen und als geschätzte Autorität auftreten konnte.277 In Thun dürften Rubin als Leiter pietistischer Zirkel und die beiden Schwestern Meyer als Anhängerinnen maßgeblich zur Verbreitung des Pietismus beigetragen und die Verbindung mit Bern gewährleistet haben. Die Rückkehr von Ursula und Helena Meyer nach Thun fällt zeitlich mit Rubins – vermutlich mit dem Pietismus in Zusammenhang stehender – Aufgabe seiner Magistratsstelle im Jahre 1701 zusammen.278 Angesichts ihrer benachteiligten Stellung als ledige Frauen, deren Vater sich zudem im Waadtland befand, mögen Ursula und Helena Meyer im Zirkel des Herrn Dr. Rubin familiären Ersatz und Halt gefunden haben. Dies umso mehr, als sie in einen vermutlich ihre Lebensgrundlage bedrohenden Strumpfwebstuhlstreit mit dem jüngsten Bruder verwickelt wurden. Über Rubin wird weiter berichtet, dass er »in den gebildeteren Classen [. . .] nicht schädlich, sondern eher wohlthätig [war], in den niedrigeren aber ging er ins grob fanatische über. Durch diese Sekte entstand [. . .] Trennung und Unordnung aller Art, dass zuletzt die Regierung ernstlich einschreiten musste. Es zogen auf dis Hemmen ihres freien Treibens viele aus unserem Canton in fremde Länder [. . .].«279 1710 und 1711 bemühte sich die Berner Regierung, Täufer zwangsweise nach Holland und Amerika zu deportieren,280 nachdem 273 Vgl. zum Folgenden: Heinrich Türler, Art. Rubin, Johann, in: HBLS 5 (1929), 729; Adolf Schaer-Ris, Bilder aus der Geistesgeschichte des Amtes Thun, in: Amt Thun, 437–498, hier 444f.; Anderegg, Entwicklung, 50. 274 Immatrikuliert am 30.11.1668, vgl. Catalogi studiosorum Marpurgensium [. . .] annos usque ab 1668 ad 1681 [. . .], Marburg 1914, 73. 275 Immatrikuliert am 13.5.1671, vgl. Album studiosorum academiae Lugduno Batavae MDLXXV–MDCCCLXXV [. . .], Edendum curavit Guilielmus Nicolaus Du Rieu, Hagae comitum 1875, 568. 276 Vgl. Lohner, Genealogien, 407f. [Johannes Rubin]. 277 Vgl. Schrämli, Chronik, 72f. und eine Liste von Rubins Werken in: Lohner, Genealogien, 407. 278 Vgl. RM 8, BAT 63 (27.12.1701), 267; Eduard Bähler, Johann Rubin. 1648–1720, in: SBB 5, 4. Lf., (1904), 275–281, hier 279. 279 Wie Anm. 271. 280 Vgl. StAB, Mandat vom 11.2.1711 [Ausweisung nach Holland]; Ernst Müller, Geschichte

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alle Versuche, sich ihrer mit Landesverweisung und hohen Strafen zu entledigen, gescheitert waren. Hunderte von ihnen wurden zur Deportation auf Schiffe gebracht. Im Zusammenhang mit diesen rigiden Mitteln wurde auch gegen den Pietismus und überhaupt gegen alle Gruppierungen vorgegangen, die als nicht staatstragend eingestuft wurden. Ursula Meyers Emigration steht also im Kontext der verschärften Verfolgungs- und Ausweisungspraxis Berns Anfang des 18. Jahrhunderts. Zu den Anfängen des Pietismus im Berner Oberland lassen sich bis heute sonst nur vage Aussagen machen. Von einer Ausstrahlung der Stadt auf das Land darf ausgegangen werden. Schreibt man dem Täufertum eine – wie oben konstatierte – katalysierende Bedeutung für die Entstehung und Ausbildung des Berner Pietismus zu, so darf man auch im Berner Oberland schon früh mit einer starken Ausbreitung des Pietismus rechnen. Samuel Dick in Spiez mit seiner »schöne[n] Anzahl frommer Seelen«,281 Johannes Rubin in Thun und Landvogt Niklaus von Rodt (1650–1726)282 in Interlaken sind die bisher bekanntesten Träger der Bewegung. Von Rodt war seit 1694 Mitglied des Schulrates gewesen und durch seinen »geschlechtsund bluttsverwanten«283 Samuel Güldin für den Pietismus gewonnen worden. Er nahm Samuel König vorübergehend bei sich auf und gehörte zu jenen, die am 14. Juni 1699 den Assoziationseid verweigerten, die anschließende Bedenkfrist verstreichen ließen und deshalb zu guter Letzt den Rat verlassen mussten.284 Der eindringliche Brief seines Bruders vom 20. Juni 1699, in dem dieser sich darüber beklagt, dass der »zu bösem zwek von aufgeblasenen neüwlingen erdachte und aberglaubischen treiberen angebrachte pietismus«

auch seinen Bruder den Landvogt verblendet hätte, und dieser sich, obwohl der bernischen Täufer. Nach den Urkunden dargestellt, Frauenfeld 1895, 252–279. Vgl. auch StAB, AI 491 (30.9.1711), 491–493. 281 Vgl. oben S. 68. 282 Niklaus von Rodt wurde am 14.4.1650 getauft und heiratete am 19.10.1674 Anna Freudenreich. Ab 1687 war er Landvogt von Interlaken. Er wanderte nach dem Pietismusprozess nach Norddeutschland zu den Petersens aus und verstarb 1726 in Niederndodeleben bei Magdeburg. Vgl. Familienarchiv von Rodt (Nachtrag), Familienkiste 1, Nr. 13 [BBB, Mss.h.h. IX 127]; R. von Diesbach, Art. Rodt, Niklaus, in: SBB 3 (1898), 5–10; Th. Im Hof, Art. Rodt, von, in: HBLS 5 (1929), 663f., hier 663 [unter 6.]. 283 StAB, AII 581 (11.9.1699), 43. 284 Vgl. StAB, AII 579 (14.6.1699), 418–420 u. AII 580 (30.6.1699), 53. (10.8.1699), 248. (23.8.1699), 343. (31.8.1699), 389f. (Vgl. StAB, AI 462 [10./31.8.1699], 452–454). Von Rodt war jedoch nicht der einzige, der die Eidesleistung verweigerte, vgl. Dellsperger, Anfänge, 143. Auch Friedrich von Wattenwyl z. B. und weitere Burger weigerten sich, ihr Folge zu leisten. Vgl. StAB, AII 588 (19.3.1701), 229f. u. AII 589 (18.6.1701), 345. So schon Wernle, Protestantismus 1, 125f.

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»dise neüe lehr erforschet und daß gifft derselben endtekt und von einer christl[ichen] oberkeit die nothwendige remedur285 darwider gemachet worden, [. . .] für dise leüth alzuhefftig ereÿferet, sich für sie an den spiz stellet und alles für sie waget [. . .].«286

Er fleht: »Der Herr Bruder Landvogt laße sich doch um Gottes und seiner in Gottes wort wohl gegründeten warheit willen, so weit von disen irrgeisteren nit bezauberen, daß er seinen beÿ jedermann gehabten ruhm, ehr und ansehen, ja gunst und gnad Gottes in disem geschäffte so liederlich verscherzen und disen seinen betrieglichen lehreren zu gunsten und gefallen sich selbst verderben und mich eines so lieben und werthen bruders hiemit berauben wolle.«287

Niklaus von Rodt antwortet ihm im Juli 1699 ausführlich und schreibt: »Was der bruder eigentlich durch das wort pietismus verstahe, ist mir so genau nit bekant. Aber daß weiß ich wohl, das gleich wie zu Christi zeiten beÿ seiner verurtheilung alles durch die aufwiglung der obersten der priesteren wider ihn geschrauen, und als Pilatus gefraget, was er dann übels gethan habe, sie ihm einfältig geantwortet, wäre er nit ein übelthäter, wir hätten ihn dir nit überantwortet.288 Dißmahl auch alles wider den pietismum schreÿet, und wenn man fragt, was derselbe seÿe und worinnen er bestehen thue, niemand nichts sagen kan und will. Fraget man die clerisey, so weisen sie uns auf das rathhauß, fragt man die weltlichen, so wird man zur clerisey geschikt. Unterdeßen heißt es dennoch, es muß etwas sein, da man sich aller orthen wider denselben aufmacht. Ich für meinen theil habe denselben seiner derivation289 nach à pietate für die gottseligkeit jederzeit genommen, und einen, der gotselig lebt und Gott förchtet, für einen pietisten gehalten [. . .].«290

Niklaus von Rodt war von seiner Familie nicht dazu zu bewegen, dem Pietismus abzuschwören. So »sagt eine mündliche familie-kondition, er habe die familie-titel ins feür geworffen mit den worten, der beste titel ist ›lieber und getreüer burger‹.«291 Der Rat beschloss am 23. August 1699, dass Niklaus von Rodt seine Ämter niederlegen müsse und Neuwahlen stattzufinden hätten.292 Noch Ende August nahm von Rodt die radikalen Pietisten Hochmann, Krafft und Arnoldi, die von Samuel König an ihn verwiesen worden waren, mehrere Tag bei sich auf und ließ sie auf seiner Matte eine erweckliche Versammlung 285 (Gerichtliche) Abhilfe, Abstellung; Anspielung auf die Berner Maßnahmen gegen den Pietismus. Vgl. oben S. 75. 286 Schreiben des Herrn Roth an seinen Bruder Niclaus Roth, Landvogt, Bern, den 20.6.1699 [AFSt/H, D 90: 418f. hier 418]. Vgl. die Edition dieses Briefes im Anhang unter 1. a). 287 Ebd., 419. 288 Vgl. Joh 18,29f. 289 Her-, Ableitung. 290 Antwortschreiben des Landvogt Niclaus Roth an seinen Bruder, Juli 1699 [AFSt/H, D 90: 420–428 hier 420]. Vgl. die Edition dieses Briefes im Anhang unter 1. b). 291 Familienarchiv von Rodt (Nachtrag), Familienkiste 1, Nr. 13 [BBB, Mss.h.h. IX 127]. 292 Vgl. StAB, AII 580 (23.8.1699), 343.

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Biografische Grundlegung

durchführen.293 Gegen dreihundert Personen nahmen daran teil.294 Von Rodt, Güldin, Müller und Knopf_295 wurden wegen Protegierens der Besucher verurteilt. Am 11. September 1699296 wurde von Rodt, weil er den Assoziationseid »absoluté revusiert« und »verdächtige frömbde persohnen beherberget, und in seiner matten wider M[eine] g[nädigen] H[erren] R[ät] und B[urger] verbott versamlungen zuhalten, gestattet« hätte, »priviert, und mit dem eÿdt von statt und land relegiert worden«.297 Samuel Lutz, der ab 1726 in Amsoldingen und ab 1738 in Diessbach298 als Pfarrer tätig war, konnte auf das Wirken seiner Vorgänger aufbauen. Samuel Dick versah nach seinem Pfarramt in Spiez über dreißig Jahre lang jenes in Diessbach bei Thun, nämlich von 1706 bis 1738, und Samuel Lutz wurde nach Dicks Tode im Jahre 1738 sein direkter Nachfolger.299 Die 170 von Urs Zurschmiede ausgewerteten Verhöre von Pietisten aus 18 bernischen Landgemeinden300 stammen alle nicht aus den unmittelbaren Anfängen der Bewegung. Nimmt man das Vier-Phasen-Schema301 von Rudolf Dellsperger zu Hilfe, so sind sie der dritten Phase des Pietismus in der Schweiz zuzurechnen, nämlich jener seiner Integration ins kirchliche Leben. 1730/31 sieht Zurschmiede im mittleren und westlichen Oberland eine deutliche Häufung pietistischer Konventikel: in den Gemeinden Frutigen, Reichenbach, 293 Vgl. Hans Schneider, Gottfried Arnolds angeblicher Schweizbesuch im Jahre 1699, in: ThZ 41 (1985), 434–439. 294 Vgl. StAB, AII 580 (29.8.1699), 374f. 295 Zu Daniel Knopf (1668–1738), der einst in Stettlen Gottesdienste Güldins besucht hatte, sogar Taufpate seines zweiten Kindes wurde und schließlich als »almosner« am 13.12.1738 starb, vgl. Dellsperger, Anfänge, Reg. 296 Vgl. StAB, AII 581 (11.9.1699), 44 und »Hochoberkeitliche Erkantnuß In ansehen H. alt Landvogt Rodts, H. Güldins, H. Müllers und H. Knopfs« vom 11.9.1699, in: StAB, AI 462 (29.12.1691–11.12.1709), 454–457. 297 Familienarchiv von Rodt (Nachtrag), Familienkiste 1, Nr. 13 [BBB, Mss.h.h. IX 127]. 298 Es handelt sich um das heutige Oberdiessbach. 299 Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 85. 300 Vgl. Urs Zurschmiede, Neue Individualität und soziale Unberechenbarkeit, in: PuN 19 (1993), 60–69. 301 Dellsperger unterscheidet in der Geschichte des Pietismus in der Schweiz folgende vier Phasen: 1. kirchliche Reformbewegung, 2. Separation, 3. Integration und 4. Gemeinschaftsbildung (vgl. ders., Der Pietismus in der Schweiz, in: Geschichte des Pietismus 2, 588–616, hier 589). Dieses Phasenmodell ist ein vereinfachender Gliederungsversuch, der im Blick auf vorherrschende Tendenzen einen heuristischen Wert besitzt, aber die Vielfalt der gleichzeitigen Erscheinungen nicht erfassen kann. Das Modell versucht, den Pietismus als Gesamterscheinung in den Blick zu nehmen, und orientiert sich an dem Verhältnis der reformierten Kirche zum Pietismus. Die Phasen erfassen aber nicht die ganze komplexe Wirklichkeit. Denn von Anbeginn an handelte es sich bei der pietistischen Bewegung nicht um eine homogene Gruppe mit kohärenten Überzeugungen (vgl. auch die Anfänge in Zürich oder der Westschweiz). Separationen sind zu keinem Zeitpunkt ganz verschwunden, und manche Pietisten (Inspirierte, Herrnhuter) konnten nicht integriert werden.

Fazit

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Aeschi, Leissigen und in Zweisimmen, Boltigen, Erlenbach und Wimmis sowie im Diemtigtal. Leider ist der Aufsatz, der im Untertitel »ein[en] Beitrag zur Geschichte des Pietismus in der ländlichen Bevölkerung Berns in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« ankündigt, für die sog. erste und zweite Phase des Pietismus, die uns hier interessiert, unergiebig.

Fazit

5. Fazit Das Milieu, in dem die spätere Prophetin Ursula Meyer aufwuchs, ist zumindest in groben Strichen rekonstruierbar. Ihre Kindheit und Jugendzeit in Thun und Bern fallen in eine in staatspolitischer Hinsicht ausgesprochen bedeutsame Zeit: jene des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Der reformierte Stand Bern fühlte sich vom mächtigen und absolutistischen Regime Louis XIV im benachbarten Frankreich und seiner Reunionspolitik bedroht und zur Vorsicht genötigt. Die Aufnahme zahlreicher protestantischer Glaubensflüchtlinge diente gewiss nicht zur Entspannung der Situation. In dieser kritischen Lage galt es, jedweder Störung – z. B. in Form einer die öffentliche Ordnung in Frage stellenden sozial-religiösen Bewegung – umgehend Einhalt zu gebieten. 1699 wurde der Pietismus in Bern gewaltsam unterdrückt. Ursula Meyer war damals ca. siebzehn Jahre alt. In dieselbe Zeit fiel der Aufbau der bernischen Landespost und die Vernetzung Berns innerhalb Europas, was primär das Verdienst Beat Fischers war, eines öffentlich bekennenden »Beschützers« der Hugenotten. Die zahlreichen in- und ausländischen Boten,302 das Posthaus als zentraler Ort des Informationsaustausches, manifest auch in einer zweimal wöchentlich erscheinenden und von Beat Fischer herausgegebenen Zeitung, die Kunde von fremden Orten, die Aufbruchstimmung des neu gegründeten Betriebs – dies alles dürfte ein besonderes, anregendes und offenes Klima geschaffen haben, das auch auf Ursula Meyer eingewirkt haben dürfte. Der Umzug von Thun in die Hauptstadt, die neue Stelle des Vaters mit allen damit verbundenen Unsicherheiten und das Aufwachsen umgeben von täglich mehrmals stattfindendem Informationsfluss sowie die direkte Konfrontation mit Glaubensflüchtlingen mag zum Abbau geografischer und sozialer Hemmschwellen beigetragen haben. Zur innovativen Art Caspar Meyers [Vater] passt es, dass er mindestens seine drei jüngsten Kinder, darunter Ursula Meyer, den Beruf der/s Strumpfweber/in erlernen ließ – ein neu von hugenottischen Glaubensflüchtlingen in Bern eingeführtes Handwerk, das sich rasch in Europa verbreitete. Als diesel302 Vgl. den frühest erhalten gebliebenen Druck der Postkurse in Bern von 1694 in: Jean-Pierre Haldi, Fussboten, Landkutschen und Messagerien der Stadt Bern 1694–1850, Bern 1985, BE 1694.

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Biografische Grundlegung

ben drei jüngsten Kinder – inzwischen junge Erwachsene – kurz nach dem Berner Pietistenprozess und nachdem ihr Vater seine Stelle bei der Berner Post verließ, etwa zwischen 1700 und 1702 nach Thun zurückkehrten, sicherten sie ihren Lebensunterhalt sehr wahrscheinlich mit der Arbeit an Strumpfwebstühlen, die der Vater erworben hatte. In Thun scheinen die Geschwister einem pietistischen Kreis um Johannes Rubin angehört zu haben. Die zuerst bloß im Untergrund als Subkultur aufbrechenden neuen Formen gelebter Frömmigkeit und sich mit der Zeit flächendeckend als kirchlich-gesellschaftliche Strömung ausbreitende pietistische Reformbewegung war ein sozialer Schmelztiegel auch hinsichtlich der Durchmischung von Burgern, Habitanten und Flüchtlingen. Es waren dieselben pietistischen Privatversammlungen, die sowohl der Réfugié Mesmyn wie auch Dr. Rubin besuchten; beide traten in ihnen als Redner auf, und es lässt sich gut vorstellen, dass die Schwestern Meyer schon damals in Bern zuhörten. Wenn auch die Beziehungen zwischen Glaubensflüchtlingen, Pietisten und der Familie Meyer nicht genau hergestellt werden können, so dürfte deutlich geworden sein, dass die Überschneidungen und gemeinsamen Bezüge so zahlreich sind, dass mit Beeinflussungen gerechnet werden muss. Das Erleben, wie der Pietismus von Kirche und Staat gemeinsam unterdrückt wurde, Menschen verfolgt und ausgewiesen wurden und angesehene Männer wie Dr. Johannes Rubin ihre Magistratsstelle niederlegten, kann nicht spurlos an Ursula Meyer vorbeigegangen sein.303 Im Zuge der verschärften Maßnahmen Berns gegen politisch unliebsame Gruppierungen wie den Täufern und auch den Pietisten verließen Ursula Meyer und ihre Schwester Thun, wo der Rechtsstreit mit dem jüngsten Bruder womöglich einen unglücklichen Ausgang für sie genommen hatte. Oder sie begleiteten ihren Bruder, der 1711 über Frankfurt am Main in Richtung Holland reiste, trotz der familiären Differenzen und blieben – anders als er – in der Frankfurter Gegend, um dort als Strumpfweberinnen ihr Glück zu versuchen. Auf die näheren Umstände, den Zeitpunkt ihres Wegzugs und die Wahl ihrer neuen Heimat wird im nächsten Kapitel einzugehen sein. Was auch immer jedoch schließlich ausschlaggebend war für den Wegzug Ursula und Helena Meyers: ihre Emigration lässt sich nur als Zusammenwirken politischer, religiöser und biografischer Faktoren verstehen. Fest steht, dass Ursula Meyer selbst ihre Emigration nachträglich als Flucht infolge ihrer von obrigkeitlicher Seite her nicht geduldeten Erweckung darstellte und wir sie 1715 zusammen mit ihrer Schwester Helena nahe bei Frankfurt am Main mitten im Zentrum der radikalpietistischen Inspirationsgemeinden als Prophetin wiederfinden. 303 Hartmut Lehmann (Zur Bedeutung von Religion und Religiosität im Barockzeitalter, in: Dieter Breuer [Hg.], Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Bd. 1 [Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 25], Wiesbaden 1995, 1–22, hier 19) bringt dieses auch Ursula Meyer herausfordernde »Spannungsfeld« treffend auf folgende Formel: »Um ihr Seelenheil zutiefst besorgte Bürger contra disziplinierende absolutistische Kirchen- und Konfessionspolitik«.

EntstehungundBlütezeitderInspirations-Gemeinden

II. Entstehung und Blütezeit der »wahren Inspirations-Gemeinden« (1714–1719)1 Die neue religiöse Gemeinschaft der »wahren Inspirations-Gemeinden im Isenburgischen«2 entstand 1714 in der Wetterau nördlich von Frankfurt am Main. Eine frühe Beschreibung ihrer Anfänge aus Sicht eines Anhängers hielt fest: »So sind auch darunter unschuldige Weibs=Personen / die biß hieher sehr ernstlich und redlich vor GOtt gewandelt haben / und von denen man nicht dencken darff / daß sie GOtt alle so einem Schwindel=Geist übergeben werde / und gleichsam nur auff uns allein sein Auge habe; vor welcher praesumtion3 ich mich mehr suche zu bewahren / als vor einigem Beyfall: Wie dann auch die bekannte zwey Schweitzer=Jungfern von Duhn4 mit darunter sind / die aber immer und von jederman ein gut Zeugniß gehabt.«5

Der neuen Gemeinschaft fühlten sich demnach von Beginn an nicht nur Männer, sondern auch Frauen zugehörig. Bei den beiden Jungfern aus Thun handelt es sich um Ursula und Helena Meyer. Historie II_6 erwähnt im Rückblick die Berufung Ursula Meyers zum prophetischen »Werkzeug«. Mit ihr erwählte Gott: »Eine längst erweckte, und auf der Roneburg wohnhafte Schweizer Jungfer, die ein gut Gerücht hatte bey Jedermann, gebürtig von Thun, 6. Stund oberhalb Bern, und legte sein Wort der Ermahnung zum Nutz der Gemeinde in sie, wie es in Br. Rock schon geleget war. Sie kam zur Aussprach den 16. Mart. 1715 [. . .] und hielte unter schwehren Abwechslungen und Versuchungen doch am längsten aus, neben Br. Rock.

1 Diese kurze Zusammenfassung der Geschichte der Inspirationsgemeinden bis zum Ende ihrer ersten Blütezeit im Jahre 1719 basiert v. a. auf: [Christian Fende, (Hg., zugeschr.)], Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse [. . .], o. O. 1715 und den von den Inspirierten selbst verfassten Gemeindehistoriographien: Historie I, II und Scheuner, Inspirations=Historie. Vgl. auch die Darstellungen von: Goebel, Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden; ders./Link, Geschichte des christlichen Lebens; Karl Scheig, Die Wetterauer Inspirantenbewegung. Ihre Entwicklung und Bedeutung, in: Aus Theologie und Kirche. FS Hans Frhr. von Soden (BEvTh 6), München 1941, 73–106; Grossmann, European Origins; Hans Schneider, Art. Inspirationsgemeinden, in: TRE 16 (1987), 203–206; ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert; Ulf-Michael Schneider, Propheten, 23–36. 2 Vgl. oben S. 13 (Anm. 4). 3 Annahme, Vermutung. 4 Thun. 5 Drey Extracte aus so viel verschiedenen Brieffen / zu dieser Materie gehörig, in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 135–144, hier 137 (2. Extract). 6 Vgl. oben S. 22.

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Entstehung und Blütezeit der Inspirations-Gemeinden

Es ward Jhr gegeben eine feine Gabe, kurze und wichtige Aufschlüsse und Ausflüsse zum Nutz der Gemeinde, zur Prüfung der Herzen, und könten wol noch einst gedruckt werden, wann Zeit und Gelegenheit es zulassen.«7

Neben Rock war die »längst erweckte« Ursula Meyer das prophetische »Werkzeug«, das am längsten Aussprachen hielt. Ihre letzte uns überlieferte Inspirationsrede datiert vom 24. September 1719. Mit dieser endet die erste Blütezeit der Gemeinschaft. Fortan wurden bis in die Zeit der Erweckungsbewegung im frühen 19. Jahrhundert keine neuen »Werkzeuge« mehr berufen.8 Vor der Beschäftigung mit der Genese der Inspirationsgemeinden und insbesondere mit ihrer ekstatischen Blütezeit (2.) soll nun zuerst nach dem religionspolitischen Kontext ihrer Entstehung (1.) gefragt werden. Die besondere Situation in der reformierten Grafschaft Ysenburg mit dem Büdinger Toleranzpatent von 1712 und seine Auswirkungen (1.1) sowie der Ursprung der Cevennenprophetie und ihre Auswirkung auf radikalpietistische und separatistische Kreise Deutschlands (1.2) müssen hier zur Darstellung gelangen. ReligionspolitischerKontext

1. Religionspolitischer Kontext 1.1 Gewissensfreiheit im Ysenburgischen und das Büdinger Toleranzpatent vom 29. März 1712 Die reformierte Grafschaft Ysenburg,9 die aufgrund ihrer bemerkenswerten Geschichte zum Ursprungsland der Inspirationsgemeinden werden konnte, hatte im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrere Gebietsteilungen erlebt.10 1687 wurde der vorübergehend unter der Vormundschaft der Gräfin Marie Charlotte geb. Gräfin von Erbach (1631–1693) stehende Büdinger Stammteil ihres Gatten Graf Johann Ernst (1625–1673) unter ihre vier Söhne aufgeteilt, wodurch die vier Teilgrafschaften Büdingen, Marienborn, Meerholz und Wächtersbach entstanden. Aus dem anderen, dem Birsteiner Stammteil von Graf Johann Ludwig (1622–1685), gingen die beiden Linien Birstein und Offenbach hervor. So existierten Ende des 17. Jahrhunderts aufgrund des geltenden 7 Historie II, 243f. 8 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 430. 9 Zur Namensschreibung »Ysenburg« bzw. »Isenburg« vgl. Schrader, Literaturproduktion, 436 (Anm. 72). In Aufnahme der in Bd. 2 der Geschichte des Pietismus benutzten Schreibweise verwende ich – mit Ausnahme von Zitaten – durchgehend die Namensform Ysenburg. 10 Vgl. zum Folgenden Dagmar Reimers, Die Ysenburger Linien im 18. Jahrhundert, in: Isenburg-Ysenburg 963–1963. Zur tausendjährigen Geschichte des Geschlechtes, hg. v. Irene Fürstin von Isenburg in Birstein und Otto-Friedrich Fürst zu Ysenburg und Büdingen in Büdingen, Hanau 1963, 55–64; Zur Entwicklung Ysenburgs als Mitglied der Wetterauer Grafenbank vgl. Georg Schmidt, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden, Marburg 1989, 536–543.

Religionspolitischer Kontext

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Erbrechts sechs verschiedene Ysenburgische Teilgrafschaften. Um die weitere Zersplitterung der Grafschaft zu verhindern, wurde das Realteilungsprinzip durch die Einführung der am 4. Mai 1713 in allen Linien kaiserlich genehmigten Primogenitur abgeschafft. Die Ysenburgischen Territorien boten Flüchtlingen verschiedenster Herkunft gegen Zahlung eines Beisaßengeldes Zuflucht.11 Ihre Zwerggrafschaften standen im Ruf, »Freistätten des Glaubens«12 zu sein. Dass die Religionspolitik der verschiedenen Ysenburger Linien jedoch nicht identisch war, zeigte sich schon am Scheitern ihres Bemühens um eine gemeinsame ysenburgische Kirchenordnung.13 Die Ysenburgischen Grafen, deren Gebiete noch an den Folgen des Dreißigjährigen Krieges litten, verfolgten tendenziell, aber mit je unterschiedlicher Intensität, dieselbe mit ökonomischen Interessen übereinstimmende tolerante Religionspolitik wie der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm mit seinem Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685, das Flüchtlingen einen besonderen Rechtsstatus gewährte.14 In Waldensberg und Neu-Isenburg, die 1698 und 1699 gegründet wurden, siedelten sich Waldenser und Hugenotten an. Noch weitergehende Toleranz gestattete der pietistisch gesinnte Graf Ernst Casimir I. von Ysenburg-Büdingen (1687–1749).15 Hans Schneider wies darauf hin, dass die Toleranzpolitik des Grafen primär religiös und erst sekundär kameralistisch motiviert war.16 11 Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Die Konsequenzen des Westfälischen Friedens für den Umgang mit religiösen Minderheiten in Deutschland, in: Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit. Historische Erfahrungen und aktuelle Herausforderungen (BenshH 95), hg. v. Günter Frank/Jörg Haustein/Albert de Lange, Göttingen 2000, 121–139, hier 136: »Die herrschende ökonomische Doktrin des Merkantilismus verlangte die Erwirtschaftung eines Handelsbilanzüberschusses durch die Förderung großgewerblicher, industrieller Produktion und des Außenhandels. Zu diesem Zweck wurden Arbeitskräfte [. . .] benötigt.« 12 Vgl. Dagmar Reimers, Die Grafschaft Ysenburg als Freistatt des Glaubens, in: IsenburgYsenburg 963–1963, 102–107 und weit detaillierter: Schrader, Literaturproduktion, 131–162 u. 434–448. 13 Vgl. Hans Schneider, Rez. zu: Matthias Benad, Toleranz als Gebot christlicher Obrigkeit. Das Büdinger Patent von 1712 (StIren XXVII), Hildesheim 1983, in: PuN 13 (1987), 283–289, hier 287; Julius Hufnagel, Die konfessionellen Verhältnisse im Gebiete des Fürstentums Ysenburg vor der Kirchenvereinigung, in: Die Hanauer Union. Festschrift zur Hundertjahrfeier der ev.unierten Kirchengemeinschaft im Konsistorialbezirk Cassel am 28. Mai 1918, hg. v. Carl Henß, 79–91, hier 89–91. 14 Zum »Aufkommen des modernen Toleranzgedankens« und zur »Säkularisierung des Staatszwecks« vgl. Schäufele, Konsequenzen, 134f. Zur Staatskirchenhoheit im Protestantismus während des Absolutismus vgl. Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte. Fünf Abhandlungen, Schriften zum Staatskirchenrecht, Bd. 1, hg. v. Axel Frhr. von Campenhausen/Christoph Link, Frankfurt a. M. 2000, 22–28. 15 Vgl. Friedrich Wilhelm Cuno (Hg.), Gedächtnisbuch deutscher Fürsten und Fürstinnen reformierten Bekenntnisses, 2. Lfg., Barmen o. J. [1883], 98–102 (Graf Ernst Kasimir von Isenburg-Büdingen 1708–1749). 16 Vgl. Schneider, Rez. zu: Benad, Toleranz, 287; ders., Konfessionalität und Toleranz im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Baier (Hg.), Konfessionalisierung

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Entstehung und Blütezeit der Inspirations-Gemeinden

Ernst Casimir I. wurde vom Blatterntod seines älteren Bruders Johann Ernst überrascht und musste an seiner Stelle 1708 die Regentschaft in Büdingen antreten. Er heiratete im selben Jahr in Gedern die Stolberger Gräfin Christiane Eleonore, eine Tochter des Grafen Ludwig Christian von Stolberg-Wernigerode und der Fürstin Christine, die stark unter dem Einfluss Philipp Jakob Speners stand.17 Mit ihr wie mit Benigna von Solms-Laubach zu Wildenfels, der Großmutter der späteren Gattin Zinzendorfs, stand Spener zwanzig Jahr lang in persönlichem Kontakt. Die Personalpolitik von Ernst Casimir I. verriet seine pietistisch geprägte Gesinnung. 1708 ernannte der Graf den Separatisten und späteren Vorsteher der Büdinger Inspiriertengemeinde Johann Samuel Carl (1677–1757),18 der als Glaubensflüchtling Franken hatte verlassen müssen, zum Leibarzt. 1711 nahm er den nach dem Waldecker Pietistenstreit von Korbach geflohenen Otto Heinrich Becker (1667–1723) zu sich und gewährte ihm den alten Rang eines Regierungs- und Konsistorialrates.19 Ein weiterer Hauptakteur des Waldecker Pietismus, Johann Heinrich Marmor (1681– 1741), fand Aufnahme als Hofmeister des Grafen Wilhelm von Ysenburg-

vom 16.–19. Jahrhundert. Kirche und Traditionspflege. Referate des 5. Internationalen Kirchenarchivtags Budapest 1987 (VAAEK 15), Neustadt an der Aisch 1989, 87–106, hier 95. Vgl. auch Reimers (Ysenburger Linien, 256), die die Ysenburger Religionspolitik ebenfalls dem Einfluss des Pietismus zuschreibt. Dieser wurde dank der freundschaftlichen Beziehung Speners mit dem Grafen von Hanau über die Grafenhöfe in Laubach und Stolberg-Gedern auch Ysenburg vermittelt. Zu den Beziehungen Speners und den Grafen der Wetterau vgl. Barthold, Die Erweckten, 166–196. 17 Zur besonderen Empfänglichkeit der Wetterauer Gräfinnen für den Einfluss des Pietismus vgl. Barthold, Die Erweckten, 153: »sie [sc. die Frauen; IN] plagte wol stille Unzufriedenheit, Neid, Langeweile und gezwungene Verzichtung, andererseits war zu allen Zeiten ihr Gemüth geeigneter zur Beschaulichkeit und Andachtsübung. Die große Zahl unglücklicher vornehmer Ehen lehrte sie überdies den Vortheil würdigen, welchen strengere Religiosität ihrer Männer verhieß; denn gerade im Heiligthume der Ehe zeigte sich die Kraft der ›Erweckung‹ und ›Begnadigung‹ am sichtbarsten. Endlich hatte der Ausschluß aus adeligen Stiftern, Abteien, Fräuleinklöstern sich den armen protestantischen, aber fast immer töchterreichen Grafenhäusern schmerzlich fühlbar gemacht; standesmässige Heirathen durften wenige Gräfinnen erwarten, und deshalb [. . .] gab es auf den altfränkischen, unbehaglichen Residenzschlössern der Wetterau zahllose Damen, welche emfindsam, aber ungesucht und ungeliebt, ohne Kunstgenüsse, ohne Romane, ohne Bälle, ohne die Falkenjagd und die Ringelrennen der Väterzeit verdrossen ihre öden Tage hinschleppten und nach geistiger Nahrung schmachteten, die sie ihr verfehltes Dasein wenigstens vergessen ließ.« 18 Johann Samuel Carl war ab 1699 Dr. med. in Halle, ab 1708 Hofarzt des Grafen Ernst Casimir von Ysenburg-Büdingen, ab 1728 Hofmedicus in Berleburg und ab 1736 königlich-dänischer Leibarzt in Kopenhagen. Er war Herausgeber der philadelphischen »Geistlichen FAMA«. Vgl. Hans-Jürgen Schrader, Art. Carl, Johann Samuel, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 5 (1979) 60–64; Christa Habrich, Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis, Med. habil. Schrift, München 1981 [Typoskript], 8–70; Hans Schneider, Art. Carl, Johann Samuel, in: RGG4 2 (1999), 69. 19 Vgl. Barthold, Die Erweckten, 2. Abt., 186–188.

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Wächtersbach.20 Ebenfalls 1711 stellte der reformierte Landesherr Ernst Casimir I. den vom Berner Pietistenprozess her bekannten Chiliasten Samuel König (1670–1750), der nach seiner Ausweisung zuerst Zuflucht im nassauischen Herborn und anschließend in Berleburg gesucht hatte, als Inspektor und 1. Pfarrer in Büdingen an.21 König wirkte hier 18 Jahre lang, bis er in seine Heimat zurückkehren durfte.22 Zur gleichen Zeit wie König ließen sich auch Ursula und Helena Meyer im Ysenburg-Büdingenschen nieder. Ob ein Zusammenhang zwischen Königs Anstellung und der Niederlassung der Geschwister Meyer im Ysenburgischen besteht, lässt sich nicht nachweisen. Es ist aber denkbar. Mit seiner Erklärung vom 29. März 1712, dem Büdingenschen Toleranzpatent,23 dessen Initiator Otto Heinrich Becker war,24 erteilte Graf Ernst Casimir I. Neuzuzügern in 23 Paragraphen weitestgehende Privilegien. Neuansiedler wurden von Frondienst, Leibeigenschaft und Steuern befreit. Zudem wurden ihnen kostenlos Land und Bauholz zur Verfügung gestellt. In Büdingen entstand vor dem sog. Jerusalemer Tor die »Vorstadt« mit ihren auffallend breiten Häuserbauten. Strumpfwirker siedelten sich in ihnen an und benötigten hinreichend große Räume für ihr Handwerk und ihre Gehilfen. Auch wenn in manchen Territorien der Wetterauer Grafenbank wie Offenbach und Berleburg längst zuvor informelle Toleranz praktiziert wurde, war der erste Paragraph des Büdingenschen Toleranzedikts für seine Zeit bahnbrechend.25 Er war ursprünglich als erster Artikel der schon erwähnten neuen ysenburgischen Kirchenordnung konzipiert worden; die Meerholzer Linie hatte ihn jedoch zum Scheitern gebracht.26 Seiner Eindrücklichkeit wegen soll er hier im Wortlaut zitiert werden: »Weil manche redliche Leute um deß willen in ein Land zu begeben sich scheuen / weil sie nicht der Religion des Landes zugethan sind / und daher einen Gewissens=Zwang befürchten / und Wir aber auß der Natur der Religion des Reichs Christi und des menschlichen Gemüths / wie nicht weniger auß der Heil. Schrifft / und auß dem Exempel der großen Kirchen=Reformation und dabey geführten Rationibus überzeuget sind / daß die Obrigkeitliche Macht sich nicht über die Gewissen erstre-

20 Vgl. Hans Schneider, Johann Heinrich Marmor (1681–1741). Zur Biographie eines Waldecker Pietisten, in: Geschichtsblätter für Waldeck, Bd. 66 (1977), 138–159. 21 Vgl. Dellsperger, »Weg des Friedens«, 163. 22 Vgl. Christian Friedrich Meyer, Geschichte der Stadt und Pfarrei Büdingen, Büdingen 1868, hier v. a. 137ff. 23 Vgl. Schneider, Konfessionalität; Benad, Toleranz; Schneider, Rez. zu: Benad, Toleranz; Schäufele, Konsequenzen, 137f. 24 Vgl. Schneider, Rez. zu: Benad, Toleranz, 285. 25 Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 131–135 u. 178–182. »Die wirtschaftlich erfolgreiche religiöse Toleranzpolitik Offenbachs wurde sehr bald von der Büdingenschen Linie des Isenburger Grafenhauses kopiert.« Ebd., 134. 26 Vgl. Schneider, Rez. zu: Benad, Toleranz, 287.

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cke / So wollen Wir Jedermann vollkommene Gewissens=Freyheit verstatten / also / daß Niemand Unserer Unterthanen / Frembden oder Beysaßen in Unserm Lande / so sich zu einer andern / als der Reformirten Religion bekennen / oder die auß Gewissens=Scrupel sich gar zu keiner äußerlichen Religion halten / jedoch dabey in Bürgerlichem Wandel gegen Obrigkeit und Unterthanen so wohl / als in ihren Häusern / ehrbar / sittsam und Christlich sich aufführen / dieserhalb einige Mühe und Verdrießlichkeit gemacht werden.«27

Mit seinem – beim Reichskammergericht in Wetzlar inkriminierten – Büdingenschen Toleranzpatent war Graf Ernst Casimir I. der erste Landesherr, der seine Grenzen auch für Separatisten öffnete und ihnen weitgehende Gewissensfreiheit erlaubte. Jahrzehnte vor Friedrich II. (1740–1786), dem »Großen« von Preußen und der im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 festgelegten Duldung kleinerer Religionsgemeinschaften wurde in der Büdinger Teilgrafschaft ein neues Verständnis individueller Freiheit praktiziert. Diese bezog sich jedoch nur auf den privaten und nicht auf den öffentlichen Bereich. Dass »die Obrigkeitliche Macht sich nicht über die Gewissen erstrecke«, erlaubte die freie Ausübung des persönlichen Glaubens und die Bildung häuslicher Andachtskreise, aber kein »öffentliches Exercitium«, das gegen das im Westfälischen Frieden festgelegte Verbot von »Sekten« verstoßen hätte.28 Das Toleranzpatent verfehlte seine Wirkung nicht, wobei sich auch »die wunderlichsten Köpfe«29 ins Ysenburgische begaben und dieses zum Sammelplatz vertriebener Pietisten und Separatisten wurde. Die hohe Fluktuation erschwerte die Übersicht. Größere Zuzüge gab es jedoch schon vorher, vor allem nach den antipietistischen Edikten von Hessen-Kassel und Württemberg in den Jahren 1702 und 1706.30 Aber auch aus der Pfalz erreichten immer wieder neue Migranten das Ysenburgische.31 Die Separatisten ließen sich bevorzugt in den Dörfern Himbach, Eckartshausen, Düdelsheim, auf der Ronneburg und in Marienborn nieder. Der einflussreiche Spiritualist Ernst Chris-

27 PRIVILEGIA und Freyheiten / So Der Hoch=gebohrne Graf und Herr / HERR Ernst Casimir / Graf zu Ysenburg und Büdingen / etc. etc. Allen denjenigen / welche sich in der Stadt und Vor=Stadt Büdingen häußlich niederlassen und bauen wollen / sub Dato Büdingen / den 29. Martii / 1712. Druck durch Bonaventura de Launoy, Hof- und Canzlei-Buchdrucker des Ysenburgischen Gesamthauses zu Offenbach am Mayn 1712, 4 [BüdA, Stadt und Land 24/182 b]. Siehe unten Abb. 1 (S. 91). 28 Vgl. Schneider, Konfessionalität, 89. 29 Unschuldige Nachrichten, Leipzig 1715, 534. 30 Vgl. PIETISMUS A MAGISTRATU POLITICO REPROBATUS ET PROSCRIPTUS, Oder Die von weltlicher Obrigkeit in= und ausserhalb des Röm. Reichs verworffene und verwiesene Pietisterey / Und was mit derselben verwandt ist: So wohl Nach denen dißfalls ergangenen Edictis, als unwidersprechlichen Documentis publicis gezeiget; [. . .] Von Erdmann Neumeister, Hamburg 1736, 379. 31 Donald F. Durnbaugh zufolge gab es v. a. 1707, 1708, 1709, 1711 und 1714 Migrationen. Vgl. ders., Brethren Beginnings, 35.

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toph Hochmann von Hochenau (1670–1721),32 der 1699 mit der Erlaubnis Niklaus von Rodts in Interlaken eine erweckliche Versammlung durchgeführt hatte,33 war dreimal zu Besuch im Ysenburgischen. 1705/06 begegnete er im Marienbornischen dem zukünftigen Führer der Neutäuferbewegung Alexander Mack (1679–1735), der ihn einlud, ihn in Schriesheim in der Pfalz zu besuchen. Im Sommer 1706 traf Hochmann ein. Er hielt Versammlungen in Macks Mühle und predigte auch in aller Öffentlichkeit, bis man ihn gefangen nahm und schließlich auswies.34 Mack siedelte 1707 mit seiner Frau und zwei Söhnen von Schriesheim nach Schwarzenau – einem Ort östlich von Berleburg – über.35 Im darauf folgenden Jahr begab er sich mit vier Männern36 und drei Frauen an die Eder. Zuerst wurde Mack getauft, anschließend vollzog er selber die ersten Erwachsenentaufen an den anderen. Im Juli 1708 wandte sich die Gruppe an Hochmann und bat ihn um seinen Rat. Sie beabsichtigte die Gründung einer eigenen Gemeinschaft. Hochmann, der in Nürnberg im Gefängnis saß, teilte ihr in einem Brief vom 24. Juli 1708 mit, dass »Christus ausdrücklich befohlen, die Erwachsenen, die erst durch wahre Buße und Glauben seine Jünger und Nachfolger geworden, [. . .] zu taufen, [. . .] unwidersprechlich aus der Schrift zu beweisen«37 sei. Dennoch hielt er sie an, ihr Vorhaben »vor dem Angesichte Gott wohl zu prüfen«.38 Die Schwarzenauer Neutäufer ließen sich jedoch nicht abhalten. Alexander Mack kam 1711 aus Schwarzenau ins Marienbornische und vollzog im August desselben Jahres im Seemenbach bei Düdelsheim die Erwachsenentaufe an der Tochter einer Witwe namens Eva Elisabeth Hoffmann.39 Damit war die Neutäuferbewegung von Wittgenstein in die Wetterau gelangt. Mack fand vor allem unter den hier ansässigen Pfälzern Gehör. Die Versammlungen und Glaubenstaufen der Neutäufer erregten Aufruhr im Land. Der Öffentlichkeitscharakter ihres Wirkens sprengte die Grenzen des Erlaubten. Die gewährte Gewissensfreiheit schloss die Bildung neuer organisierter Kultgemeinschaften aus. Hier endete die staatliche Dul32 Vgl. oben S. 16 (Anm. 26). Vgl. Hans Schneider, Art. Hochmann von Hochenau, in: TRE 15 (1986), 421–423; ders., Art. Hochmann von Hochenau, in: RGG4 3 (2000), 1803; HansJürgen Schrader, Philadelphian Hope. The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania towards Jews, in: PuN 28 (2003), 185–212. 33 Vgl. oben S. 79f. 34 Vgl. Durnbaugh, Fruit, 19f. 35 Vgl. zum Folgenden, Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jh., 135–139. 36 Unter ihnen befand sich der Basler Separatist Andreas Bohni (1673–1741). Vgl. Durnbaugh, Brethren Beginnings, 15–18; Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 182 (Anm. 214). 37 Der Brief wurde ediert von: Friedrich Augé, Acht Briefe Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau, in: MRKG 19 (1925), 133–154, hier 134–137 [Zitat: 135]. 38 Ebd. 39 Vgl. zum Folgenden Durnbaugh, Fruit, 35.

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dung. Vor allem die vierte Handlung im Mai 1714, bei welcher der Beisaße Gottfried Neumann (1687– nach 1782)40 und der Ysenburger Untertan Peter Becker (1687–1758) und seine Frau von Düdelsheim getauft wurden, sorgte für große Aufregung.41 Trotz des wohlwollenden Einsatzes Samuel Königs mussten die Neutäufer das Marienborner Gebiet 1715 verlassen. Die Schwarzenauer Muttergemeinde geriet erst ab 1719 zunehmend unter politischen und wirtschaftlichen Druck. Alexander Mack zog daraufhin mit seiner Gemeinde nach Friesland und wanderte schließlich 1729 nach Pennsylvanien aus. Die Schwarzenauer Neutäufer, deren Nachfahren sich in der Church of the Brethren in den USA und in Kanada versammeln,42 und die Inspirierten sind die einzigen radikalpietistischen Gruppenbildungen aus dem 18. Jahrhundert, die heute noch existieren. 1.2 Cevennenprophetie Die Suche nach den konkreten historischen Wurzeln der Inspirationsgemeinden führt in zwei Richtungen: einerseits zu prophetisch-hugenottischen Glaubensflüchtlingen und andererseits zu radikalpietistischen Kreisen in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Beider Wirken gehört zu den historischen Voraussetzungen der Entstehung der Inspirationsgemeinden; denn erst aus dem Zusammentreffen und der gegenseitigen Befruchtung dieser zwei Gruppierungen erwachsen die Inspirationsgemeinden im Ysenburgischen. Ihr Werden lässt sich demnach erst verstehen, wenn zuvor der Ursprung und der Weg der Cevennenpropheten bis zu ihrem entscheidenden Zusammentreffen mit Radikalpietisten in Halle zur Zeit August Hermann Franckes dargestellt wird.

40 Der lutherische Theologiestudent Gottfried Neumann erlebte in Leipzig seine Bekehrung, arbeitete bei Francke als Informator im Waisenhaus, zog in die Wetterau, wo er sich in Bergheim als Strumpfweber niederließ und Anhänger der Neutäufer wurde, wandte sich anschließend den Inspirierten zu und landete am Schluss bei den Herrnhutern. Vgl. Theodor Wotschke, Gottfried Neumann. Der Pietist, Separatist, Wiedertäufer, Inspirierte, in: MRKG 26 (1932), 48–57. 41 Vgl. Durnbaugh, Fruit, 36. Ders. (Brethren Beginnings, 36) gibt nicht Mai, sondern »the first part of March, 1714« an. Vgl. aber ebd., 73 (Anm. 26). Zu Becker vgl. auch die Relation wegen Umgehung des kirchlichen Begräbnisses vom 20.7.1717, abgedruckt in: Wilhelm Bender, Urkunden zur Geschichte des deutschen Pietismus, in: TARWPV 6 (1885), 33–105, hier 81f. und Donald F. Durnbaugh, Peter Becker (1687–1758), in: Chronik Düdelsheim 792–1992, Büdingen 1991, 116–127. 42 Vgl. zum weiteren Verlauf der Geschichte der Neutäufer und insbesondere zur Emigration Macks und seiner Gemeinde 1729 nach Pennsylvanien Donald F. Durnbaugh, Die Kirche der Brüder (KW 9), Stuttgart 1971; ders., Die Kirche der Brüder, in: TRE 7 (1981), 216–218.

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Abb. 1: PRIVILEGIA und Freyheiten / [. . .] vom 29. März 1712 [BüdA, Stadt und Land 24/182 b]

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1.2.1 Ursprung der Cevennenprophetie43 Schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts war es im pietistischen Umfeld namentlich in mitteldeutschen Städten wie Erfurt, Halberstadt und Quedlinburg zu prophetischen, ekstatischen und anderen Aufsehen erregenden Erscheinungen gerade auch unter Frauen gekommen.44 An ihnen schien sich die in Joel 2,28 bzw. 3,1 angekündigte endzeitliche Geistausgießung zu erfüllen. Das Millennium schien zum Greifen nahe. Die apokalyptische Hochstimmung wurde noch angeheizt von einzelnen Gestalten wie z. B. dem Schuhmacher Johann Maximilian Daut (1656–1736), Christian Anton Römeling († nach 1750), dem Zeugmacher Johann Georg Rosenbach (1678–1747) und dem schon erwähnten Perückenmacher Johann Tennhardt.45 Sie reisten um 1710 prophezeiend im Land umher – »Handwerker nur, aber Feuerseelen«.46 Trotz des Aufsehens, das sie erregten, bildeten sie keinen Anhang, und ihr Wirken blieb peripher. Erst das Erscheinen cevennischer Propheten legte den Grund zur Bildung der neuen radikalpietistischen Inspirationsgemeinden. In Südostfrankreich traten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) und den Zwangsbekehrungen von Reformierten verschiedene Laien auf – Männer und Frauen47 –, die behaupteten, direkt von Gott gesandt worden zu sein. Ihre Legitimität als vom Heiligen Geist Inspirierte unterstrichen sie mit zahlreichen außergewöhnlichen körperlichen Erschütterungen. Ab 1688 lösten sie eine regelrechte ekstatisch-visionäre Bewegung unter den Aufständischen aus.48 In 43 Vgl. zum Folgenden Ch. Bost, Les »Prophètes des Cévennes« au XVIIIe siècle, in: RHPhR 5 (1925), 401–430; Robert P. Gagg, Kirche im Feuer. Das Leben der südfranzösischen Hugenottenkirche nach dem Todesurteil durch Ludwig XIV., Zürich/Stuttgart 1961; ders., Hugenottische Propheten unterwegs, in: Zwing. XIX/2 (1992), 79–90; Irene Dingel, Art. Camisarden, in: RGG4 2 (1999), 44. 44 Vgl. zu den so genannten »Drey begeisterten Mägden« in Quedlinburg, Halberstadt und Erfurt die Art. »Catharina Halberstadiensis«, »Anna Margaretha Janin« und »Anna Maria Schuchartin« in Johann Heinrich Feustkingh, Gynaeceum Haeretico Fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen [. . .], Frankfurt a. M./Leipzig 1704. Reprint (APTGF 7), hg. v. Elisabeth Gössmann, München 1998, 339.371–377 u. 537–569. Zu ihnen, zu Rosamunde Juliane von der Asseburg und zu Johanna Eleonora Petersen vgl. Critchfield, Prophetin, 114f. 45 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 139–145. 46 Victor Pless, Die Separatisten und Inspirierten im Wittgensteiner Land und Zinzendorf’s Tätigkeit unter ihnen im Jahre 1730, Diss. Lic. theol. [masch.] Münster 1921, 5. Der Harburger C. A. Römeling bildete als Garnisonsprediger eine Ausnahme. Vgl. dazu Hans-Jürgen Schrader, Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Christologie, in: PuN 20 (1994), 55–74, hier 71f. 47 Zu den Cevennenprophetinnen vgl. Henri Desroche, The American Shakers: From NeoChristianity to Presocialism, Amherst 1971, 24. 48 Vgl. Daniel Vidal, Le malheur et son prophète. Inspirés et sectaires en Languedoc calviniste (1685–1725), Paris 1983; ders., Prédications et discours calvinistes en Languedoc après la Révocation de l’Edit de Nantes, in: RH 271/2 (1984), 281–310; Frederick R. J. Knetsch, Der Pro-

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n Camisardenkriegen begleiteten die Propheten die Truppen, und zahlreiche Partisanenführer wurden selber inspiriert. Die sog. »instruments« gerieten in eine Art Trance, erhielten spontane Eingebungen und verkündeten Gottesworte in der Ich-Form, während ihre Körper unkontrollierte und daher umso beängstigendere Bewegungen vollführten.49 Kern ihrer Aussprachen bildeten die Ankündigung des nahe bevorstehenden Weltendes mit dem »großen Fall über Babylon«,50 d. h. dem Untergang der katholischen Kirche, der Aufruf zur Buße und die Erlösung der wahren Kinder Gottes.51 Ihre Worte hatten eine »doppelte Zielrichtung«:52 ihren Gegnern drohten sie mit dem letzten Gericht, ihren Anhängern kündeten sie das ewige Heil an. Sie deuteten ihre Situation als endzeitliches Ereignis und ihre Gemeinschaft als »Kirche der Wüste« (Apk 12,6). Trotz der militärischen Niederlage der Camisarden nahm das Phänomen der Cevennenprophetie kein Ende. In der bisherigen Forschung wurde die Cevennenprophetie einhellig als Reaktion auf die brutale Unterdrückung, das pastorale Führungsvakuum und die Existenzkrise des französischen Protestantismus nach dem Edikt von Fontainebleau (1685) beschrieben. Ursache und politisch-religiöser Zusammenhang wurden dabei jedoch zu wenig differenziert. Solange keine vergleichende Studie der cevennischen Form der Prophetie mit anderen in der Kirchengeschichte bekannten Phänomenen vorliegt,53 sollte Zurückhaltung bei der Bestimmung ihrer Ursache geübt werden. So weist z. B. Thomas Klingebiel darauf hin, dass »der visionäre Prophetismus im Alten Reich [. . .] unter vergleichsweise friedlichen Bedingungen«54 entstanden sei. Gerade angesichts des in sehr unterschiedlichen Zeiten und politischen Kontexten auftretenden Phänomens inspirierter Prophetie lässt sich diese nicht einfach auf die jeweils herrschende geschichtliche Situation zurückführen. Unterdrückung und Mangel an geistlicher Leitung waren nicht Grund, sondern gehörten zum politisch-religiösen Umfeld der Cevennenprophetie. Inspirationen und ekstatisch-visionäre Erlebnisse müssen nicht Folge, sondern können umgekehrt gerade auch Ursache von Verfolgungen sein, wie etwa das Beispiel von Jakob Böhme (1575–1624) eindrücklich beweist.55 phetismus in den Cevennen nach 1685. Die Geschichte einiger ekstatischer Außenseiter, in: Ulrich Gäbler/Peter Schram (Hg.), Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts. Referate einer Tagung an der Freien Universität Amsterdam, Amsterdam 1986, 45–58. 49 Vgl. Kap. III.1. 50 Alarm=Geschrey / Zur Warnung den Völckeren / Daß sie Ausgehen aus BABYLON, Der Finsternuß / Um Ein zu gehen in die Ruhe CHRISTI, o. O. 1712, 42. 51 Vgl. Vidal, Prédications. 52 Gagg, Hugenottische Propheten, 85. 53 Vgl. Kap. III.2. 54 Klingebiel, Einführung, 25. Klingebiel sieht somit im jeweiligen historisch-politischen Umfeld nicht die (Haupt-)Ursache des Prophetismus. 55 Vgl. E. Schick, Ekstase im Protestantismus, in: Th. Spoerri (Hg.), Beiträge zur Ekstase, Bibl. psychiat. neurol. 134, Basel/New York 1968, 30–52, hier 31f.

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Nach dem Scheitern der Camisardenkriege, die v. a. von 1702–1705 wüteten, flohen einige Propheten 1706 nach England und suchten Aufnahme vornehmlich in den hugenottischen Emigrantengemeinden Londons.56 Unter ihnen befanden sich Durand Fage,57 Jean Cavalier und Elie Marion. Trotz des anfänglichen Erfolgs und Zulaufs ist es naheliegend, dass die Integration dieser Flüchtlinge, die in ihrer Gespanntheit kaum zu einem geordneten Alltagsleben fähig waren, misslang. Ihre Aufsehen erregenden Prophetien wie z. B. die Erweckung des verstorbenen Thomas Emes wurden von der Macht des Faktischen widerlegt. Erneut erlebten die prophetisch-hugenottischen Flüchtlinge den Ausschluss, nun aber aus der eigenen, der Londoner französisch-reformierten Hugenottengemeinde. Es waren kleine Gruppierungen im englischen Dissentertum, insbesondere Quäker und Philadelphier,58 die neuen Offenbarungen gegenüber offen standen und in den Inspirés vorübergehend Verbündete zu erkennen glaubten. Gerade unter den Quäkern war es v. a. zwischen 1640 und 1655, dem Englischen Bürgerkrieg und dem Interregnum, zu ekstatischen Erscheinungen gekommen – insbesondere unter den Frauen.59 Phyllis Mack betont jedoch, dass gerade quäkerische Prophetinnen sich nie nur mit ihrer inneren Gabe des Wortes begnügten. »On the contrary, they organized a system of charity, a communications network, care of prisoners, safe houses, and negotiations with magistrates [. . .].«60 Gerade dadurch unterschieden sich Quäkerinnen von anderen Gruppierungen. Ebenso stellt Merry E. Wiesner fest, dass im 17. Jahrhundert im Gegensatz zu den Quäkerinnen in England »most continental women religious thinkers were mystics and ecstatics, who might have visions of political events, but did not work to bring these about.«61 Als Beispiele führt sie Jane Leade, Antoinette Bourignon und Madame Guyon an. 56 Vgl. dazu Ascoli, L’affaire; Hillel Schwartz, The French Prophets. The history of a Millenarian Group in Eighteenth-Century England, Berkeley/Los Angeles/London 1980. Zur Cevennenprophetie als Wurzel der »Shaking Quakers« bzw. »Shakers« vgl. Desroche, American Shakers, 16–27. 57 Zu Durand Fage, der 1711 aus Bern ausgewiesen wurde, vgl. oben S. 75. 58 1694 gründete Jane Leade (1624–1704) die in Anlehnung an Apk 3,7–13 sog. philadelphische Sozietät, in der sich wahre Gläubige im Gegensatz zu den Babelschristen der Kirche, die Sardes ist (vgl. Apk. 3,1–6), sammelten. Vgl. Martin Schmidt, Art. Philadelphia, in: RGG3 5 (1986), 328f.; Schrader, Literaturproduktion, 63–73; Hans Schneider, Art. Philadelphier, in: RGG4 6 (2003), 1266. 59 Vgl. das grundlegende Werk von Phyllis Mack, Visionary Women. Ecstatic Prophecy in Seventeenth-Century England, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992. 60 Ebd., 4. Mack vertritt die These, »that those sects that were most radical in challenging traditional social and economic relationships were least likely to be attentive to the needs and rights of oppressed people who were female.« (ebd.) Dies trifft jedoch gerade auf die Inspirierten so nicht zu. Das entscheidende Kriterium wird in den jeweiligen eschatologischen Anschauungen einer Gruppierung zu suchen sein. 61 Merry E. Wiesner, Women and Gender in Early Modern Europe, Cambridge 1993, 207.

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Nach Hillel Schwartz begannen sich die Philadelphier von den französischen Propheten vor 1710 zurückzuziehen. Einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden sieht Schwartz in ihrer Einstellung zu Frauen, denn: »The Philadelphians had a tradition of female leadership.«62 Dennoch kam den französischen Prophetinnen eine wichtige Machtfunktion zu.63 Besonders weist Schwartz noch auf deren Mobilität und Unabhängigkeit und auf ihre ausgeprägte Abenteuerlust hin: »Women had a major role in the augmented missionary efforts of the French Prophets in 1709. A total of eight female and six male prophets went on sixteen different missions; six men accompanied them as scribes. Of the ten expeditions with three or more inspired persons, only two were controlled by men.«64 Im Austausch mit Quäkern und Philadelphiern gelangten die Inspirés zur Einsicht, dass nicht mehr nur die katholische, sondern alle Großkirchen zum Feind zu rechnen waren. »Babylon« war überall, d. h. die Predigt der verfolgten Protestanten musste in die ganze Welt hinaus getragen werden. Die Inspirés bereisten zu diesem Zweck den Kontinent und begannen, wie Philadelphier ihre Reden schriftlich festzuhalten, zu drucken und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ihre Aussprachen wurden von Schreibern wortwörtlich aufgezeichnet und bildeten den Anfang einer Art Schriftprophetie. Es entstanden die drei zentralen Werke, die den Stellenwert biblischer Botschaften erhielten,65 mit den bezeichnenden Titeln: – Cri d’Alarme ou Avertissement aux nations, qu’elles sortent de BABYLONE et

des Ténèbres, pour entrer dans le repos du Christ, o. O. 171266 – Plan de la justice de Dieu sur la terre dans ces derniers jours, et du relèvement de la chute de l’homme par son péché, o. O. 171467 – Quand vous aurez saccagé, vous serez saccagés, car la Lumière est apparue dans les Ténèbres pour les détruire, o. O. 171468 Diese Werke, vor allem die sofortige Übersetzung des Cri d’Alarme, wurden von den Anhängern der Inspirés in Deutschland fleißig gelesen und bildeten 62 Schwartz, French Prophets, 142. 63 Vgl. a. a. O., 135f.: »Scribes, most of them male, devotedly copied the prophecies of females. Followers attended assemblies convoked by women, kneeled before them occasionally to receive blessings, and accepted new names from them. Women issued inspired orders concerning the publication of books and the direction of missions; they reproached intemperate and faint-hearted believers; they healed private feuds between men.« 64 Ebd., 136. 65 Vgl. unten Kap. III.3. 66 Dt. Übers.: Alarm=Geschrey / zur Warnung den Völckeren [. . .], o. O. 1712. 67 Dt. Übers.: [Jean Allut:] Grund=Riss und Entwurf der Gerechtigkeit Gottes auf Erden, o. O. 1717. 68 Dt. Übers.: [Jean Allut:] Wenn Ihr werdet verwüstet haben, so werdet Ihr verwüstet werden, o. O. 1717.

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die Vorlage für die späteren Drucke ihrer Nachfolger, der Inspirierten. Doch die Inspirés wendeten sich schon vor der Publikation ihrer Aussprachen dem Kontinent zu.

1.2.2 Missionarische Erfolge der Inspirés in Deutschland und Auseinandersetzungen im Halle August Hermann Franckes »Vereiniget euch: Formiret die Braut Christi. »Laßet ihre Glider nicht mehr zerstreuet ligen; »Füget sie zusammen: Und dan wird er komen / »und sie ihm für allzeit vermählen.«69

Zur »Formirung der Braut Christi«, d. h. zur Sammlung der mit dem nahe bevorstehenden Weltende rechnenden Umkehrwilligen zum endzeitlichen Philadelphia (Apk 3), begaben sich die Inspirés ab 1709 auf Missionsreisen vorrangig durch die protestantischen Länder auf dem Kontinent. Anfang Juli 1711 reisten die »neuen Propheten«70 bzw. »Sevenner«71 Jean Allut, Elie Marion und ihre Schreiber Nicolas Fatio und Charles Portalès von London her über Rotterdam, Amsterdam, Berlin, Leipzig und Regensburg bis Wien. Für die Geschichte der Inspirationsgemeinden entscheidend war ihr Aufenthalt in Halle, wo die Inspirés am 17. Mai 1713 eintrafen. Unterkunft fanden sie beim französischen Sprachlehrer Abraham Marchand und bei Jacques Allut, einem Onkel des Jean Allut.72 In Halle wandten sich die Inspirés zuerst den Franzosen und dann den Deutschen zu. Ihre konfessionell gemischte Anhängerschar sammelten sie in Konventikelkreisen. Sie sangen und beteten miteinander und lasen außer der Bibel das Alarm=Geschrey. Insgesamt 33 prophetische Zeugnisse wurden in dem vierwöchigen Aufenthalt in Halle ausgesprochen.73 Die Versammlungen wurden nach der Ausweisung der vier Inspirés am 23. Juni fortgeführt. Man bezog einen größeren Raum, den eine Knopfmacherin, die im selben Haus wie Marchand wohnte, zur Verfügung stellte. Ihre Magd Maria Elisabeth Matthes, die 18jährige Tochter eines Angestellten im Waisenhaus August Hermann Franckes, nahm intensiv an den Versammlungen teil. Sie geriet schließlich selbst in tranceähnliche Zustände, hatte Bewegungen und hielt am 14. Januar 1714 in Glaucha ihre erste Aussprache.74 Fast täglich 69 Alarm=Geschrey (1712), 150. 70 Vgl. Art. Neue Propheten, in: Johann Heinrich Zedler, GVUL 24 (1740), 82–84. 71 UnNachr, Leipzig 1714, 823. 72 Zur Datierung vgl. Walter Delius, Die Inspirierten-Gemeinde zu Berlin, in: Zwischenstation. FS Karl Kupisch zum 60. Geburtstag, hg. in Verb. mit Helmut Gollwitzer und Joachim Hoppe von Ernst Wolf, München 1963, 19–26, hier 20. Delius (ebd. [Anm. 3]) korrigiert die von Goebel stammende und in der Forschung bis heute kolportierte irrtümliche Datierung. 73 Vgl. Theodorus Stech, Der in aller Eyl abgefertigte Post=Läuffer [. . .], Halle 1723, 12. 74 Vgl. ebd., 23 u. 183.

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geriet sie in Ekstase, die dann auch auf die Frau des Sprachlehrers Marchand überging. Francke ließ die Tochter seines Bediensteten zu sich kommen und durch Handschlag versprechen, den Versammlungen inskünftig fernzubleiben, was sie auf Dauer – auch wegen des Drucks, den ihr Vater und andere Sympathisanten auf sie ausübten – nicht einzulösen vermochte.75 Auf einen von ihr ausgesprochenen »Befehl des Geistes« hielten die Halleschen Anhänger der Inspirés am 28. Januar ihr erstes gemeinsames transkonfessionelles Liebesmahl »nach Art der ersten Kirchen«76 mit Fußwaschung nach Joh 13.77 Ein junger Medizinstudent namens August Friedrich Pott (1695–1766) teilte das Brot an 31 Anwesende aus. Weitere Feiern sollten folgen.78 Die personelle Nähe der Inspirés zum Werk Franckes brachte diesen in eine schwierige Situation. Stand er solchen Prophezeiungen, denen er schon Jahrzehnte zuvor bei der Quedlinburger Magd begegnet war, zunächst eher offen gegenüber, hielt er die Inspirés vermutlich aus politisch-taktischen und theologischen Gründen auf Distanz, und nicht weil er sie eines Betrugs verdächtigte.79 Die religiöse Gleichgestimmtheit und die jahrelange Korrespondenz seiner Frau Anna Magdalena Francke, geb. von Wurm (1670–1734), mit dem die Ideale der Keuschheit und Ehelosigkeit predigenden Johann Georg Gichtel (1638–1710)80 gipfelte 1715 in einem »Ehestreik« und drohte, das Werk Franckes und insbesondere seine Reputation zu gefährden.81 Francke stand an verschiedensten Fronten in Auseinandersetzung mit radikalpietistischem Gedankengut und musste sich gegen pauschalierende Identifizierungen wehren. Sein innerkirchliches und soziales Engagement schien den Radikalpietisten ein Irrweg zu sein. Sie betrachteten es als eine in Anspielung an Mt 9,16parr. so genannte »Babelflickerei«.82 Das von Walter Delius schon 1963 geäußerte Desiderat einer weiterführenden Untersuchung über die Beziehungen Franckes 75 Vgl. ebd., 27f. 76 Eberhard Ludwig Gruber, J. J. J. Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen INSPIRATION Auffgesetzt Von Einem Lichts-Genossen [= Eberhard Ludwig Gruber], o. O. 1716, 83. 77 Der Brauch des Fußwaschens und des Liebesmahles ist auf Gottfried Arnolds Werk: Die Erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi, das ist, wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben [. . .], Frankfurt 1696 [hier v. a. 360] und seiner Darstellung des frühen Christentums zurückzuführen. Zur Fußwaschung vgl. ebd., 501–504. Vgl. dazu: ders., Die Erste Liebe (KTP 5), hg. v. Hans Schneider, Leipzig 2002, 187–208 (Nachwort), hier 204. 78 Vgl. Stech, Post=Läuffer, 191, 199 u. 241. 79 Vgl. Gustav Kramer, August Hermann Francke. Ein Lebensbild, 2. Theil, Halle a.d.S. 1882, 164 u. 169. 80 Vgl. Gertraud Zaepernick, Art. Gichtel, Johann Georg, in: RGG4 3 (2000), 924. 81 Vgl. dazu Gertraud Zaepernick, Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den Hallischen Pietisten, besonders mit A. M. Francke, in: PuN 8 (1982), 74–118. 82 Vgl. Renkewitz, Hochmann, 107.

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zu den Inspirierten wurde bisher noch nicht eingelöst.83 Aufschlussreich ist der in diesem Zusammenhang noch kaum beachtete Briefwechsel von Cansteins mit Francke.84 Von Canstein rät Francke am 3. Februar 1714, den Vater der Matthes und Angestellten im Waisenhaus weiterhin zu entlöhnen, um diesem nicht die Gelegenheit zu geben, ihm Lieblosigkeit vorwerfen zu können.85 Gleichzeitig solle er ihm aber den Zutritt zum Pädagogium solange verwehren, als seine Tochter »inspirate ist und bleibet, denn daß er den kindern nichts davon sage, glaube ich nicht, wie ich ihn kenne, ja man hatt mir schon das gegentheil davon versichert.«86 Francke wollte nicht in Verdacht geraten, gemeinsame Sache mit den Inspirierten zu machen. Er wollte seinen Gegnern keinen Anlass bieten, ihn selbst und dadurch sein Werk in Verruf zu bringen. Er versichert von Canstein, dass die Schar der Inspiriertenanhänger sehr begrenzt sei und dass seine Studenten von der Angelegenheit gänzlich unbeeindruckt blieben und seine Autorität nicht in Frage stellten.87 So folgert Francke, die Sache werde sich schon von selbst erledigen, sofern man ihr keine weitere Aufmerksamkeit widme.88 Francke behielt nicht recht und musste schließlich auch seinen Bediensteten Matthes entlassen. Im Juni 1714 traf eine weitere vierköpfige Delegation der Inspirés – darunter eine Frau89 – aus Amsterdam in Halle ein. Sie wurde nach sieben Tagen, am 16. Juni 1714, wieder ausgewiesen.90 Noch in derselben Nacht wurde der Medizinstudent August Friedrich Pott, dessen beiden älteren Brüder mit Gottesdienststörungen schon für Aufsehen gesorgt hatten, zum Apostel gesalbt. Er erhielt durch den »Geist« den Auftrag, nach Frankfurt am Main, Hanau, Büdingen, Marienborn und Schwarzenau zu reisen.91 Die Situation in Halle 83 Vgl. Delius, Inspirierten-Gemeinde, 20. 84 Peter Schicketanz weist nun darauf hin in: ders., Der Pietismus von 1675 bis 1800 (KGE III/1), Leipzig 2001, 85 (Anm. 47). 85 Peter Schicketanz (Hg.), Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke, TGP III,1, Berlin/New York 1972, Brief Nr. 654 (Berlin, 3. Februar 1714), 634: »[..] wenn ich in ihrer stelle wäre, den famulum vor wie nach seinen volligen unterhalt geben, also keine ursache geben, dass er sagen konte, ich hatte die liebe gegen ihn verletzt [. . .].« 86 Ebd. 87 Zu den im Pädagogium ergriffenen »Präventivmassnahmen« vgl. Hans Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel des Herrn Grafens von Zinzendorf mit denen Inspirirten«, in: UF 49/50 (2002), 213–228, hier 213f. 88 Vgl. Schicketanz, Briefwechsel von Canstein–Francke, Brief Nr. 659 (Halle, 24. Februar 1714) 640f. Zu Franckes Haltung, der schon dreißig Jahre zuvor in theologische Händel um enthusiastische Frömmigkeitsformen verwickelt gewesen war, vgl. Kramer, Francke, 2. Theil, 163–170. 89 Es handelt sich um Elizabeth Charras. Vgl. schon ihre Aussprache vom 17.6.1711 in: Alarm=Geschrey (1712), 10f. 90 Vgl. Stech, Post=Läuffer, 113. Zinzendorf war damals Schüler am Pädagogium in Halle und wusste um die Vertreibung der »neuen Propheten«, vgl. Hans Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 213 (Anm. 2). 91 Vgl. Stech, Post=Läuffer, 119.

Religionspolitischer Kontext

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schien unerträglich geworden zu sein. Der Hallesche Metzger Theodor Stech, ein Anhänger und Beherberger der Inspirierten, berichtet in seiner dem Consistorium am 25. November 1715 übergebenen Protestations-Schrifft: »Wie offt ists geschehen daß mir die sogenante[n] Christen haben die Fenster eingeworffen, gestanden u[nd] gehorchet, angeschmissen geschlagen und geschrien, Hunds Futt Quäcker rauß und dergleichen mehr. Ja sie haben mir die todten Katzen und gestorbenen Schweine in die Hausthüre geleget, viel Kehricht oder Mötsch vor die Thüre geschüttet [. . .].«92

Stech versucht, sowohl zu erklären, weshalb die Inspirierten nicht mehr in die Kirche gingen, als auch die Unterstellung zu widerlegen, sie würden nicht mehr arbeiten.93 Die Holländischen Inspirierten reisten weiter nach Halberstadt, und die junge Matthes folgte ihnen.94 In Halberstadt lebte Dorothea Sophia Pott, »eine viellesende geweckte und selbständige Frau«.95 Sie fand über ihren jüngsten Sohn, August Friedrich, Zugang zu den Inspirierten. Dieser war Francke zufolge nicht in Halle immatrikuliert gewesen, also »kein hiesiger studiosus [. . .], sondern ohn Zweiffel der dinge wegen nur herunter kommen.«96 Der Reisebefehl, den der jüngste Pott erhielt, führte die Inspirierten aus Halle und aus Halberstadt, zwischen denen bisher zu wenig differenziert wurde, zusammen. Dieses Zusammentreffen war für die weitere Ausbreitung der Bewegung ins Ysenburgische konstitutiv. Frau Pott verließ ihren Mann und reiste mit ihrem Sohn im Sommer 1714 nach Berlin. Auch Matthes und die Tochter Pott reisten »auf Befehl des Geistes«97 dahin. In Berlin gesellte sich Jacob Tiedemann aus Aschersleben, der zuletzt in Halle Theologie studiert hatte, zu ihnen. Anfang September 1714 wurden sie aus Berlin schon wieder ausgewiesen. 92 Theodorus Stech, An den Königl. Preußischen damahligen Herrn Berg=Rath Und Schultheiß Unterthänige PROTESTATIONS-Schrifft, Um Erhaltung der Evangelischen Freyheit Und von der Inspirations-Sache abzustehen nicht gedrungen zu werden. Den 25. November 1715. Schrifftlich übergeben, Nun aber auff Gutbefinden den irgemachten Leser zum gemeinen Nutz zum Druck befördert, Um zu versuchen ob der Herren Gelehrten ihre grausame Lästerungen möchten hiedurch in etwas gehemmet werden, Halle 1722, 6. 93 Vgl. ebd., 17f. 94 Vgl. Stech, Post=Läuffer, 111. 95 [Adolph] Z[ahn], Mittheilungen aus der Geschichte der reformirten Gemeinde zu Halle a.d.S. (Fortsetzung). Die neuen Propheten und ihr Vertheidiger, in: ERKZ 13 (1863), 225–229, hier 225. 96 Schicketanz, Briefwechsel von Canstein – Francke. Brief Nr. 659 (Halle, 24. Februar 1714), 641. Vgl. demgegenüber Hans-Christian Brandenburg, Die drei Gebrüder Pott – Die ersten deutschen Werkzeuge der Inspirations-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte von Pietismus und Separatismus, in: Heiner Faulenbach (Hg.), Standfester Glaube. Festgaben zum 65. Geburtstag von Johann Friedrich Gerhard Goeters (SVRKG 100), Köln 1991, 277–298, hier 279, nach dem August Friedrich Pott 1712 als stud. theol. nach Halle gekommen war, dann aber zur Medizin gewechselt hatte. 97 Stech, Post=Läuffer, 181.

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Entstehung und Blütezeit der Inspirations-Gemeinden

Der neueren Forschung zufolge kehrten Frau Pott und die junge Matthes trotz des Ausweisungsbefehls wieder nach Berlin zurück, wo man sie »seltsamer Weise [. . .] nicht erneut auswies«.98 Diese Aporie löst sich auf, wenn man den Bericht des Ministeriums an König Friedrich Wilhelm I. über die von ihm am 3. September angeordnete erneute Einvernahme der Inspirierten in Berlin liest:99 Man habe »jede der dreyen Personen a part vorgenommen«.100 Dabei handelte es sich um die Mutter Pott, ihren Sohn August Friedrich und Jacob Tiedemann. Der König befahl, sie auszuweisen. Dies wurde am 8. September ausgeführt. Von Matthes hingegen erfahren wir nichts. Ihrer Rückkehr nach Berlin stand kein Ausweisungsbefehl im Wege. Matthes war auch nicht mit der Mutter Pott nach Berlin gekommen, sondern mit deren Tochter. Von ihr hieß es, dass sie »noch hefftigere Paroxysmos hatte / als der Bruder«.101 Aus Altersgründen kann es sich nur um die älteste der drei Töchter Potts, nämlich um Franziska Sophia Louysa, geboren am 18. Oktober 1698, handeln.102 Matthes und Sophia Louysa Pott scheinen den Auftrag erhalten zu haben, das Werk der aus Berlin ausgewiesenen Inspirierten weiterzuführen. Man brachte sie schließlich ins Hospital, wo sie von verschiedenen Predigern aufgesucht und befragt wurden, bis sie eingestanden, einem falschen Geist bzw. der eigenen Einbildung aufgesessen zu sein. Ihre Aussage zog Matthes später wieder zurück und hielt erneut Aussprachen,103 »biß sich endlich ein junger Geselle in ihr verliebt, und um sie gefreyet, da sich alsdenn die Aussprache bey ihr verlohren, indem sie sich einen feinen jungen Mann genommen hat. Und an statt da zuvor geistliche Kinder durch sie gezeuget wurden, zeuget sie vorjetzo leibliche Kinder, wie solches bey jungen Eheleuten zu geschehen pfleget.«104

Am 8. Oktober 1714 gelangten die drei studierenden Gebrüder Pott105 – Johann Tobias (1691–1759), Johann Heinrich (1692–1777) und August Fried98 Delius, Inspirierten-Gemeinde, 23. Ebenso Brandenburg, Gebrüder Pott, 289. 99 Abgedruckt in: UnNachr, Leipzig 1715, 174–178. 100 Ebd., 175. 101 UnNachr, Leipzig 1714, 826. Vgl. auch UnNachr, Leipzig 1715, 165. Zwischen Mutter und Tochter Pott zu unterscheiden, wusste noch [Adolph] Z[ahn], Mittheilungen aus der Geschichte der reformirten Gemeinde zu Halle a.d.S. (Schluß). Die neuen Propheten und ihr Vertheidiger, in: ERKZ 13 (1863), 257–269, hier 267f. 102 Vgl. Georg Meyer-Erlach, Die Pott in Halberstadt, in: Familiengeschichtliche Blätter 38 (1940), 61–64, hier 63 [66.]. Eine Tochter namens Maria Barbara, die Walter Delius als Begleiterin der Matthes angibt (vgl. ders. Inspirierten-Gemeinde, 21), hatte Mutter Pott Meyer-Erlach zufolge nicht. 103 Vgl. UnNachr, Leipzig 1715, 543. 104 Stech, Post=Läuffer, 118. 105 Zu den Pott-Brüdern vgl. Brandenburg, Gebrüder Pott. Leider basiert dieser Aufsatz auf ungenügenden Quellenkenntnissen. Brandenburg vermutet, Max Goebel meine mit dem von Andreas Groß im Gefängnis besuchten Pott den mittleren Bruder (279 u. 285 [Anm. 31]). Goebels Aussage beruht auf der Lektüre des Erfahrungsberichts von Groß, in dem dieser selbst den Besuch des älteren Bruders Pott im Gefängnis erwähnt. Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715)

Die Blütezeit: 1714–1719

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rich (1695–1766) – nach Hanau, wo sie bei dem Metzger Melchior einkehrten. Dessen Tochter Johanna Margaretha begann am 14. Oktober ebenfalls auszusprechen und wurde als viertes »Werkzeug« anerkannt. Ihr Schwager Gottfried Neumann beschrieb den Vorgang ausführlich in seinem Zeugnis.106 Auf göttliches Geheiß hin nahmen die vier ihre missionarischen Reisen auf, die zugleich dem überregionalen Zusammenhalt der Erweckten dienten; so gelangten sie via Frankfurt am Main, wo Johann Tobias Pott am 24. Oktober 1714 in Anwesenheit von Arnoldi107 eine Aussprache hielt,108 auch in die zukünftigen Zentren der Inspirierten, nämlich in die zur Wetterauer Grafenbank gehörenden Territorien Ysenburg-Büdingen und Wittgenstein. Hier trafen sie auch auf Ursula und Helena Meyer. DieBlütezeit:1714–1719

2. Die Blütezeit: 1714–1719 Die Wetterau hatte sich zum Aufenthaltsort verschiedenster Exilierter und religiös Andersdenkender entwickelt. Sie bildeten »ein[en] sektiererische[n] Resonanzboden, der auf seine Erweckung geradezu wartete.«109 Auch die beiden aus dem Umkreis des württembergischen Pietismus stammenden zukünftigen Hauptexponenten der Inspirationsgemeinden, Eberhard Ludwig Gruber (1665–1728),110 ehemals Pfarrer in Großbottwar (1692–1703) und Hofen bei Göppingen (1703–1706), und der Sattler und Pfarrerssohn Johann 64. Dem entspricht ein Hinweis im Brief Franckes an von Canstein vom 24. Februar 1714, der von »Pott von Halberstadt Stud. Medicinae, der vormals hier arretiret gewesen« handelt (Briefwechsel von Cansteins mit Francke, 640f., hier 641). Gemeint ist der älteste Pott, Johann Tobias (1691–1759), »medicinae practicus« (Meyer-Erlach, Die Pott, 63 [61.]). Weiter gibt Brandenburg fälschlicherweise dreimal (Anm. 38.44.54) Historie II anstelle des von ihm benutzten Scheuners als Quelle an. Dabei ist gerade die Lektüre von Historie II und I von besonderem Interesse für das Bild der Potts in den Inspirationsgemeinden. Vgl. Kap. V.2.1. Die Behauptung, dass man unter den Wetterauer Inspirierten erst im April 1715 von der Heirat zwischen dem älteren Pott und der Melchior erfahren hätte und dies mit Ursula Meyers Aussprache vom 4. April 1715 zu belegen, ist nicht stichhaltig. 1. wird in der Aussprache nicht von einer Hochzeit gesprochen, 2. werden die »Pottischen Kinder« und nicht nur der ältere Bruder erwähnt, und 3. heißt es nicht, die Aussprache sei geschehen, nachdem man von der Hochzeit vernommen, sondern lediglich nachdem man »von dem Rückfall der Pottischen Kinder« (HA, 41) gesprochen hätte. 106 Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 48–62. 107 Vgl. S. 79. 108 Diese Gerichtsrede gegen die Stadt Frankfurt inklusive anschließender Fürbitte ist abgedruckt in: XV. Sammlung (1764), 161–167. 109 Ulf-Michael Schneider, Heilige Zuckungen, göttliche Ekstase. Abtrünnige des Pietismus: Johann Friedrich Rock und seine »Wahre Inspirationsgemeinde«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 61 vom 13.3.1999, Beilage »Bilder und Zeiten«, S. IV. 110 Vgl. oben S. 27. Vgl. Hans Schneider, Basic Questions on Water Baptism: An Early AntiBrethren Pamphlet, in: David B. Eller (ed.), From Age to Age: Historians and the Modern Church. A Festschrift for Donald F. Durnbaugh (BLT 42), Elgin, Ill. 1997, 31–63.

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Entstehung und Blütezeit der Inspirations-Gemeinden

Friedrich Rock (1678–1749)111 aus Oberwälden bei Göppingen emigrierten 1707 nach Einführung eines Konventikelverbots ins Ysenburgische.112 Der 1705 wegen seiner radikalpietistischen Anschauungen aus dem Kirchendienst entlassene Pfarrer Gruber hatte die Sakramente gehalten »als Heiligthümer, größerer Ehren werth, als daß sie Unbußfertigen, in Sünden beharrenden [. . .] solten oder könten mitgetheilet werden aus bloser Gewohnheit zur Bestärkung in ihrer Sicherheit.«113

Die gegen die Pietisten eingeleiteten Sanktionen trieben diese noch vehementer in die Opposition und verschärften ihre Kritik gegen die Amtskirche und die etablierte Ordnung; aus radikalen Pietisten wurden radikalpietistische Separatisten. Sie zogen vor allem ins Ysenburgische und Wittgensteinische. Gruber ließ sich mit seiner Familie in Himbach114 nieder und betrieb eine kleine Landwirtschaft, während Rock eine Anstellung als Gräflich-Ysenburgischer Hofsattler in dem nahen Marienborn fand. Sie lebten sieben Jahre lang ruhig und zurückgezogen als »Stille im Lande« (Ps 35,20) bis zum Eintreffen der von den »neuen Propheten« erweckten und aus Halle vertriebenen drei Gebrüder Pott mit ihrer Mutter, dem Schreiber Tiedemann und der hanauischen Metzgerstochter Johanna Margaretha Melchior im Oktober 1714. Die Kunde vom ungewöhnlichen Auftreten dieser Propheten und ihren »Gottesreden« war schon vor ihnen in der Wetterau eingetroffen, wie aus der nachfolgend zu besprechenden Sammlung von Zeugnissen verschiedener Inspirierter über ihre ersten Begegnungen und Erlebnisse mit den Inspirationsphänomenen zu erfahren ist. 2.1 Die »Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse« von 1715 In ihrer allerersten gedruckten und für die Anfänge der Inspirationsgemeinden sehr informativen Sammelschrift mit dem Titel Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse von 1715 beschrieben verschiedene Anhänger unabhängig voneinander ihre noch ganz frischen Erlebnisse mit den deutschen Propheten und ihren Aussprachen. Diesen Zeugnissen wurde noch das Werk Historische Umstände115 und elf Aussprachen, »alles auf 26. Bogen«, beigefügt.116 Das Projekt 111 Vgl. oben S. 15 u. 27; Paul Krauß, Johann Friedrich Rock. Separatist und Inspirierter. 1678– 1749, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken, hg. v. Robert Uhland, Stuttgart 1983, 86–114. 112 Vgl. Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1969, 38. 113 XVIII. Sammlung (1780), 105. 114 Ort westlich von Büdingen. 115 [Johann Samuel Carl (zugeschr.):] Historische Umstände Zur Prüfung des Geistes Der so genannten Inspirirten und INSPIRATION; Ob das Werck von GOtt oder vom Satan sey? [. . .], o. O. 1715. 116 Historie II, 255. Leider ist diese 1715 »in Quart in Druck« (ebd.) gekommene Ausgabe nicht mehr auffindbar. So wissen wir auch nicht, um welche elf Aussprachen es sich handelt. Vgl. oben

Die Blütezeit: 1714–1719

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zur Sammlung und Herausgabe dieser Erfahrungsberichte anstelle einer Apologie entstand als Reaktion auf die von Professor Joachim Lange (1670–1744) 1715 in Halle verfasste Schrift Nöthiger Unterricht Von unmittelbaren Offenbarungen; Und zwar Erstlich insgemein; und dann insonderheit, Von den gantz sonderbaren Agitationibus, Inspirationibus et Effatis, Leibes=Bewegungen, auch vermeinten prophetischen Ein= und Aussprachen, Welche anfangs in Cevennes, einer Landschafft in Franckreich, entstanden, und hernach durch etliche Cevenneser in Engel= und Schottland,117 auch Hol- und Teutschland, fortgepflanzet worden: Zur heylsamen Prüfung und Warnung [. . .]. Joachim Lange betrachtete die Inspirés als Kranke.118 Bewusst wollten die Zeugen nun seinen »Schul=Sätze[n]« ihre persönliche »unwidersprechliche Erfahrung« entgegensetzen, wie sie einleitend in ihrem »öffentliche[n] Protest« festhielten.119 Die Berichte, die zum Teil datiert und mit einer Ortsangabe versehen wurden, stammen der Reihe nach von: 1. Eberhard Ludwig Gruber, ehemaliger württembergischer Pfarrer (Anhang: Johann Adam Gruber)120 [S. 1–15] [Himbach, den 10.+11. Febr. 1715]

2. Johann Samuel Carl, Arzt121

[S. 15–20]

[M.122 15. Febr. 1715]

3. Johann Niclaus Duill, Pfarrer123 4. Johann Friedrich Rock, Sattler 5. Georg Melber, reformierter Kaufmann124

[S. 20–23] [S. 23–27] [S. 28–31]

[R.125 den 26. März 1715] S. 162 (Anm. 34). 117 Vgl. z. B.: Warnings of the Eternal Spirit, to the City of Edenburgh, Pronounced by the Mouths of Margaret Mackenzie, and James Cunninghame, London 1710 u. Fifteen Warnings of the Eternal Spirit, Pronounced by the Mouth of James Cunninghame, Being mostly Explications of Scripture, London 1712 [Glasgow University Library: Sp Coll Mu 40-f.26 u. Sp Coll Mu 43-h.37]. 118 Vgl. UnNachr, Leipzig 1715, 164. 119 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), Protest, Siebendens. 120 Johann Adam Gruber (1693–1763), Sohn von Eberhard Ludwig Gruber, wirkte vom 19.11.1714–19.12.1717 als »Werkzeug« und wanderte 1726 in die Vereinigten Staaten aus. Vgl. Historie I, 245 u. 248; Historie II, 240f. u. 247. 121 Wie oben S. 86 (Anm. 18). 122 Marienborn. 123 Johann Niclaus Duill war Pfarrer in Eckartshausen. Zu seiner Frau Anna Catharina, seinen mindestens drei Töchtern und seinem Sohn vgl. Eckartshausen Kirchenbuch 1 1673–1715 (lückenhaft) Taufen, Kommunion und Konfirmation, 19.2. u. 10.11.1705; 13.11.1707 u. 4.8.1710. 124 Georg Melber (17.1.1677 Künzelsau – 7.9.1743 Büdingen) war Kaufmann in Heilbronn, wo sein Haus als »Pietistenherberge« galt. Er stand u. a. in Kontakt mit Petersen und Rosenbach. Nach seiner Emigration ließ er sich als Strumpfweber auf der Ronneburg nieder und brachte es als Kaufmann in Büdingen zu Wohlstand. In seinem Haus übernachtete Zinzendorf bei seinem ersten Besuch im Ysenburgischen 1730. Vgl. IX. Sammlung (21787), 104; Schneider, Rez. zu: Benad, Toleranz, 288; Schneider, Rez. zu: Rock, Wie ihn Gott geführet, 255. 125 Ronneburg.

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Entstehung und Blütezeit der Inspirations-Gemeinden

6. Christoph Adam Jäger von Jägersburg, Candidat126 7. Jacob Ulrich, Strumpfweber127 8. Gottfried Neumann, Fruchtschreiber128 (und Johanna Margaretha Melchiorin)129

[S. 32–37] [S. 37–46] [S. 48–62]

[Bergheim in der Grafschaft Marienborn im März 1715]

9. Andreas Groß, Hauslehrer in Esslingen130

[S. 62–97]

[Febr. 1715]

10. Johann Jacob Elsässer, Theologe131 11. Johann Friedrich Haug, Straßburger Theologe132 (und David Haug)

[S. 98–117] [S. 117–135]

[25. u 26. März 1715] 126 Christoph Adam Jäger von Jägersburg (23.1.1684–5.9.1759), Sohn von Prof. Wolfgang Jäger, Studium in Tübingen von 1698–1702, in Halle von 1702–1706, 1710 Hofmeister in Ebersdorf, bis Frühjahr 1711 Hofmeister in Büdingen, Anhänger der Inspirierten, 1732 Hofmeister in Wernigerode, später Geheimer Rat in Stuttgart. Vgl. seinen Lebenslauff, in: Todes- oder Lebensgedancken eines [. . .] Pilgrims [. . .], Basel 1759, Anhang. Vgl. Schneider, Rez. zu: Rock, Wie ihn Gott geführet, 255. 127 Jacob Ulrich wurde 1674 oder 1675 im wetterauischen Wölfersheim geboren, studierte in Marburg und Halle 1698/99 Theologie, wurde Informator bei der Pfarrwitwe Anna Katharina Gleim in Rotenburg/Fulda, kam in Kassel ins Gefängnis, wurde aus Hessen vertrieben, heiratete die Pfarrwitwe Gleim und kam als Strumpfweber nach Büdingen, wo er sich den Inspirierten anschloss und schließlich Ältester wurde. Er starb vor 1726. Vgl. Karl Hartnack, Schwarzenau an der Eder als Zufluchtsort Religionsverfolgter, in: Archiv für Sippenforschung und verwandte Gebiete 17 (1940), 47f. u. 70–75, hier 75; Benad, Toleranz, 311f.; Temme, Krise, 116–119, 155 u. 382. 128 Wie oben Anm. 40. 129 Johanna Margaretha Melchiorin war Metzgerstochter zu Hanau, Schwägerin von G. Neumann und später Ehefrau von J. T. Pott. Sie wirkte vom 14.10.1714 bis zum Febr. 1715 als »Werkzeug«. Vgl. Historie I, 244; Historie II, 239 u. 257. 130 Andreas Groß (ca. 1678–31.7.1757) aus Straßburg studierte von 1695 bis 1699 in Straßburg, Leipzig und Halle Theologie. Nach seiner Bekehrung in Halle und seinem Bekanntwerden mit mystischer Literatur zog er 1707 mit Gruber und Rock weg, ließ sich in Frankfurt a. M. nieder und wirkte dort bis zu seinem Tod als Hauslehrer, Verfasser theologischer Schriften und Buchhändler. Vgl. Schrader, Literaturproduktion, 449f. (Anm. 125); Schneider, Rez. zu: Rock, Wie ihn Gott geführet, 254. Groß diente Christoph Sauer, dem ersten deutschen Buchdrucker in Nordamerika, als Mittelsmann in Frankfurt a. M. Vgl. Schrader, Philadelphian Hope, 189 (Anm. 8) u. 191. 131 Der aus Württemberg vertriebene Johann Jacob Elsässer fand 1706 eine Anstellung beim Kaufmann und Rat Reineck in Frankfurt a. M. und sagte sich später wieder von den Inspirierten los. Vgl. Goebel, Geschichte des christlichen Lebens 3, 135 u. 137; Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 157, 161 u. 191–193. 132 Johann Friedrich Haug (1680–1753), separatistischer Theologe aus Straßburg, Verleger und Waisenhausinspektor in Berleburg, Hauptbearbeiter der Berleburger Bibel. Haug wohnte 1718 in Idstein, vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 95. Sein Vater David Haug (1647–1726) war Drucker. Vgl. Schrader, Literaturproduktion, Reg.; Eberhard Bauer, Radikale Pietisten in Wittgenstein, in: Radikaler Pietismus in Wittgenstein. Ergebnisse einer Ausstellung, Separatausg. aus: Wittgenstein. Bl. des Wittgensteiner Heimatvereins e. V., Bd. 61, Heft 4 (1997), 121–135, hier 131.

Die Blütezeit: 1714–1719

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Die Berichte zu Johann Adam Gruber und Johanna Margaretha Melchiorin stammen nicht von diesen selbst, sondern sind von dessen Vater bzw. ihrem Schwager verfasst, und David Haugs Bericht ist von seinem Sohn Johann Friedrich zwar wörtlich, aber eventuell nicht vollständig aufgenommen worden, weshalb ich diese drei nicht als gleichwertige eigene Zeugnisse zähle. Rock ist somit das einzige der noch zu besprechenden »Werkzeuge«,133 das mit einem eigenen Bericht in den Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse[n] Aufnahme fand. Trotz des ausdrücklichen Wunsches, eine intellektuelle Auseinandersetzung zu vermeiden (»Worte gegen Worte / und Meynung gegen Meynung«134), lassen die Berichte deutlich das Bedürfnis erkennen, auch zu argumentieren und den Leser rational zu überzeugen. Die einzige Ausnahme bildet hier der Erfahrungsbericht von Rock, der in einem durchweg deskriptiven Stil verfasst wurde und so der ursprünglichen Intention des Unternehmens wohl am nächsten kommt. Bei näherer Betrachtung sind die Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse gar nicht so verschieden.135 Das Grundschema, das sich durch die elf meist in betont sachlich-analytischem Stil geschriebenen Erfahrungsberichte durchzieht, weist folgende Merkmale auf: 1. Der Zeuge wird als ehrbare, glaubwürdige und reife Persönlichkeit ausgewiesen. 2. Der Zeuge hatte schon vorher durch einen oder mehrere Freund[e] Gutes von den Inspirierten vernommen.136 3. Trotz Empfehlung von vertrauenswürdiger Seite und trotz der großen Anziehungskraft der Inspirierten auf zahlreiche Menschen blieb der Zeuge in kritischer Distanz, nahm in der Regel zunächst eine dezidiert ablehnende Haltung ein, die sich bis zur Weigerung steigern konnte, einem Inspirierten überhaupt nur zu begegnen.137 4. Bei der häufig als unerwartet und plötzlich geschilderten ersten Begegnung wird der Zeuge positiv überrascht und damit verunsichert, wodurch sich der Konflikt noch verschärft.

133 Zu den verschiedenen »Werkzeugen« siehe unten Kap. II.2.2. 134 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), Protest, Siebendens. 135 Vgl. auch UnNachr, Leipzig 1715, 533: »Sie schreiben fast alle auff eine Art«. 136 E. L. Gruber wurden die Inspirierten schriftlich durch Groß und Elsässer angepriesen (vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse [1715], 2), Duill hörte von Gruber über sie (20), Rock wurde von Gruber herbeigeholt, als sie sich in seinem Haus befanden (24), Melber brachten nicht namentlich genannte Freunde die Inspirierten ins Haus (28), Jäger erhielt »ein Schreiben von einem guten Freund aus Halle« (32), Haug hatte »von zweyen meiner vertrautesten Freunde Nachricht wegen der Inspirirten« erhalten und staunte über die »favorablen judiciis« (117). 137 So z. B. Duill (ebd., 20).

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5. Die Abwehr steigt, zumal die körperlichen, normverletzenden Bewegungen der Inspirierten durchweg auf Befremden bis Abscheu stoßen. 6. Die Abwehr wird schließlich in einem als sehr schmerzhaft und zutiefst aufwühlend, aber letztlich als reinigend beschriebenen hoch emotionalen Prozess (»Angst= und Läuterungs=Kampff«138) überwunden. Der Zeuge fühlt sich in seinem Innersten vom Geist der Inspirierten durchschaut139 und gewinnt die Überzeugung, dass es die »Hand Gottes«140 ist, die ihrem Wirken mit dem Ziel, ihn zu erwecken, zugrunde liegt. 7. Ein neues Lebens- und Gemeinschaftsgefühl stellt sich ein und vermag auch emanzipatorisches Verhalten freizusetzen.141 Die Beziehungen des Zeugen zu seinen Mitmenschen erfahren eine grundlegende Veränderung und werden von einem Geist der Versöhnung, Zuneigung und Achtung geprägt.142 Die Erfahrung der Zeugen gipfelt in der Aussage Haugs: »Summa: Ich ward als ein gantz neuer Mensch.«143 8. Mehrere Zeugen versuchen im Nachhinein, das Erlebte in ihre bisherige Lebensgeschichte organisch einzuordnen, indem sie es als Durchbruch von Erfahrungen verstehen, die bei ihnen schon in der Jugend im Keime angelegt und längst vor dem Auftreten der französischen Inspirés bekannt waren.144 Rock etwa begreift sein früheres Lachenmüssen als Vorbote der Inspiration, da die Inspirierten während ihren ekstatisch-enthusiastischen 138 Ebd., 5. 139 Vgl. ebd., 4f. Gruber, der sich von der Melchior durchschaut fühlt, beginnt zu schreien und zu heulen. Zu den telepathischen Fähigkeiten der »Werkzeuge« vgl. unten Kap. III.2. 140 Bezeichnet das Handeln Gottes, vgl. Jes 40,2 u. 59,1; Lk 1,66 passim. 141 E. L. Gruber entledigt sich z. B. – ganz im Sinne des von ihm zuvor schon schriftlich verteidigten Tennhardt – seiner Perücke auf offenem Feld! Vgl. ebd., 5; E. L. Gruber (Hg.), Herrn Johann Conrad Scheurers [. . .] Irrige Lehr=Sätze / Welche Er In Widerlegung Johann Tennhards von Nürnberg / An den Tag gegeben. [. . .], o. O. 1713; Johann Georg Walch (Hg.), Historische und Theologische Einleitung in die Religions=Streitigkeiten, Welche sonderlich ausser der Evangelisch=Lutherischen Kirche entstanden, 1. Teil, Jena 31733 (Faksimile-Neudruck: Stuttgart/Bad Cannstatt 1972), 652f. 142 Von den neuen Propheten berichtet E. L. Gruber, »daß sie sonderlich auff Erneuerung der Liebe unter uns leider! eine Zeitlang durch Betrug des Feindes so sehr zerrütteten Fremdlingen / und zu dem End auch auff eine äussere Gebets=Vereinigung / drangen. Welches dann auch so guten Ein=und Nachdruck hatte / daß nicht nur noch selbigen Tag (und so viel mehr in nachfolgenden) viele derjenigen / so einander sonst kaum mehr über die Achsel ansehen mochten / einander wieder recht hertzlich begegneten und umfasseten / ja wol gar / mit unverstellter Demuth / um Vergebung der bißherigen Thorheiten und Widrigkeiten ersuchten: sondern auch gleichfolgenden die Versammlung zur Gebets=Vereinigung in meinem Hauße angestellet / und nachgehends beständig fortgeführet wurde / die man sonsten wol nimmermehr / unter diesen so widrig=scheinenden Gemüthern / zuwegen gebracht hätte« (Erfahrungs=volle Zeugnisse [1715], 5). 143 Ebd., 123. Vgl. II Kor 5,17. 144 Vgl. schon Tscheer (oben S. 15f.) und auch UnNachr, Leipzig 1714, 822: »Bedencklich ist / daß sie fast alle vorgeben / sie wären lange vor dem Sevennischen Wesen schon mit etwas / das diesen Inspirationen gleich / zuweilen überfallen worden.«

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Versammlungen häufig lachen mussten.145 Andreas Groß, der in den dreißiger und vierziger Jahren Anführer der Separatisten in Westdeutschland wurde, schreibt, er hätte schon in Halle »sanfte Bewegungen des Leibes und der Glieder«146 gehabt. Eindringlich schildern mehrere Zeugen, wie einsam, lau und kraftlos sie sich vor dem Eintreffen der neuen Propheten gefühlt hätten. Sie lebten offenbar ohne inneren Zusammenhalt und ohne ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt zu haben vor sich hin bzw. nebeneinander her. Als Johann Tobias Pott, Johanna Margaretha Melchior und Gottfried Neumann am 15. November 1714 bei Eberhard Ludwig Gruber in Himbach zu Besuch kamen, lösten sie bei ihm eine regelrechte Krise aus. 1713 hatte er sich gegen die Neutäufer gewendet und ihnen vorgeworfen, eine neue »Sekte« zu bilden. Noch im gleichen Jahr, als die neuen Propheten im Ysenburgischen erstmals auftraten, hatte er sein Gespräch und Unterredung Von der Wahren und Falschen Absonderung (1714) geschrieben und seine Zurückgezogenheit darin folgendermaßen begründet: »Die wahre[n] Separatisten fangen keine neue Secte an / als welches wieder auffbauen hieße / was man zuvor abgebrochen; [. . .] sondern sie gehen in das inwendige Heiligthum / in ihr Hertz / und suchen GOtt daselbsten / in Christo JEsu / durch seine Gnade / im Geist und in der Warheit147 zu dienen«.148

Was Gruber in Abgrenzung von den Neutäufern wenige Monate vor dem Eintreffen der neuen Propheten formuliert hatte, verlor kurz darauf für ihn selbst seine Gültigkeit. Welche inneren Kämpfe er durchstehen musste und wie er schließlich seine Zweifel ablegen und seine Meinung ändern konnte, beschrieb Gruber selbst in seinem Zeugnis vom 10./11. Februar 1715.149 Das Wirken der neuen Propheten, gegen die sich alle Zeugen anfänglich vehement gewehrt hatten, erschien ihnen schließlich als Erfüllung schon lang gehegter Hoffnungen. Es verkörperte für sie geradezu die erwartete philadelphische Zeit. Am 16. November 1714 fand in Grubers Haus die erste Gebetsversammlung statt. Dieser Tag gilt als Gründungsdatum der neuen Gemeinschaft, die reichsrechtlich eine nicht erlaubte »Sekte« war. Der Stimmungsumschwung der Zeugen verwundert nur auf den ersten Blick. Durch die Schriften Leades und Petersens waren sie nämlich schon längst auf die Behauptung der Inspirierten vorbereitet, dass Gottes »unmittelbare« Wort sich in ihren prophetischen Reden offenbare. Gruber hatte schon 145 Vgl. sein »fröliches Lachen« in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 26. 146 Ebd., 74. 147 Vgl. Joh 4,24. 148 Eberhard Ludwig Gruber, J. J. J. Gespräch und Unterredung Von der Wahren und Falschen Absonderung [. . .], o. O. 1714, 15. 149 Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 1–15.

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vor seiner Bekehrung in seinem Katechismus Kurtze, gründliche und überzeugende Unterweisung von dem innern Worte Gottes [. . .] von 1712 mit Berufung auf I Kön 19,12; II Kor 12,1–4; Num 12,6–8 und Apk 1,1–10 die Lehre Johann Taulers (ca. 1300–1361) von der unmittelbaren Offenbarung des göttlichen Wortes im menschlichen Seelengrund vertreten.150 Diese Schrift blieb autoritativ und wurde 1745 als Anhang zur zweiten Auflage der II. Sammlung zum zweiten Mal gedruckt. Anfang Dezember 1714 wurde in Schwarzenau die erste von insgesamt fünf Liebesmahlfeiern – Abendmahl mit Agape und Fußwaschung151 – durchgeführt. Überschwänglich wird der Versuch, die apostolische Gemeinde nach Act 2,42 wiederherzustellen, in einem ersten den Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse[n] angehängten Briefextrakt eines Ungenannten geschildert: »Die ungemeine Veränderung der Freunde im Marienbornischen und Büdingischen etc. ist so herrlich / daß / wer die bißherige Zerrüttung der Gemüther hat mit=angesehen / und nun die dringende und ungeheuchelte Liebe derselben siehet und die tägliche Gemeinschafft des Gebäts / vor Freuden weinen muß.«152 2.2 Organisation und Ausbau der »wahren Inspirations-Gemeinden« Zwischen Oktober 1714 und April 1715 wurden folgende acht Personen erweckt und als prophetische »Werkzeuge« des Geistes anerkannt: – Johanna Margaretha Melchior [14. Oktober 1714–Februar 1716] – Eva Catharina Wagner [Oktober 1714–Ende Januar 1716]153 – Johann Adam Gruber (1693–1763) [19. November 1714–19. Dezember

1717] – Johann Friedrich Rock (1678–1749) [Ende Dezember 1714–Februar 1749] – Johann Melchior Schwanfelder154 [Ende Dezember 1714–März 1715] 150 Vgl. Eberhard Ludwig Gruber, Kurtze doch gründliche Unterweisung von dem inneren Wort GOttes; um der Einfältigen willen in Frag und Antwort gestellet von Einem Liebhaber desselbigen, o. O. 1712, 8: Das innere Wort »ist nichts anders als eine unmittelbare freundliche Rede GOttes in Christo JEsu durch den H. Geist / mit seinen Kindern und allen wahrhafftig Gläubigen / in dem innwendigsten Grund ihrer Seelen / zu ihrer täglichen Unterweisung / und zu ihrem ewigen Heyl.« Ebd., 5: »Ja / alle Menschen GOttes / von Adam an biß auf Christum / haben es in sich gehabt [. . .].« 151 Vgl. oben S. 97 (Anm. 77) u. 111; Historie I, 245 u. Historie II, 264. 152 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 135f. 153 E. C. Wagner war »Michael Wagners Ehefrau, wohnhaft auf der Roneburg, gebürtig zu Rechen=Saxen.« Historie II, 239. 154 Zum Schwertfeger Schwanfelder, der aus Württemberg stammte und bis 1710 zu den Stuttgarter Separatisten gehörte, vgl. Christoph Kolb, Die Anfänge des Pietismus und Separatismus in Württemberg, in: WVLG 10 (1901), 33–249, hier 212–214 u. 217f.; Theodor Wotschke, »Prophet Schwanenfeld in Köln«, in: MRKG 27 (1933), 26–28. Vgl. auch unten S. 188f.

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– Blasius Daniel Mackinet155 (ca. 1700–1775) [Dezember 1714–Dezember

1717] – Ursula Meyer (1682–1743) [16. März 1715–24. September 1719] – Johann Carl Gleim156 [April 1715–Dezember 1717].157

Der in Historie I noch erhaltene Hinweis, dass die aus Württemberg stammende Separatistin Hag auch inspiriert gewesen sei, »aber nur gar kurtze Zeit«, belegt, dass es in der Frühzeit noch weitere »Werkzeuge« gegeben hatte.158 Während Schwanfelder trotz seiner bald erfolgten »Untreue« zu den »Werkzeugen« gezählt wird, gilt seine als Verführerin geschilderte spätere Ehefrau Hag, die mit ihm nach Berlin zog, nicht als solches.159 Auch die in Historie I noch als »Werkzeug« aufgeführte Christina Kratzer bleibt in Historie II unerwähnt.160 Die spätere Zwölfzahl der »Werkzeuge« ist eine die zwölf Apostel imitierende nachträgliche Stilisierung.161 Kein einziges »Werkzeug« war akademisch gebildet. Die meisten kamen aus dem Handwerkerstand und waren Strumpfweber. So auch Ursula Meyer, die mit ihrer Schwester zusammen die Gebrüder Pott samt deren Mutter, Melchior und Tiedemann bei ihrem Besuch auf der Ronneburg zuvor schon beherbergt hatte162 und die in der neuen Gemeinschaft gewiss einen Ausgleich für familiäre Bindungen fand, die seit ihrer Emigration fehlte. Zur Selbstdefinierung und Abgrenzung von nicht autorisierten, jedoch ebenfalls als »Werkzeuge« auftretenden Gestalten, sog. »falschen Propheten«, wurde eine verfasste Gemeinschaft, die »wahren Inspirations=Gemeinden«, nötig.163 E. L. Gruber als ehemaliger Pfarrer, von dem Rock schon Ende 1715 in einer Aussprache sagte, »er seye wie eine eiserne Mauer und Wand, und solle ein Pfeiler im Hause GOttes werden«,164 übernahm 1716 die Bildung und Organisation der Inspirationsgemeinden.165 Er lebte inzwischen in 155 Vgl. unten S. 204 u. 208. 156 Johann Carl Gleim war der Sohn des Rottenburger Kanzleiassessors und ab 1690 Kanzleirates Philipp Gleim (1649–1694) und der Anna Catherina Uckermann, get. 1659, die 1690 Philipp Gleim in Wanfried heiratete und da Anführerin eines pietistischen Zirkels wurde. Sie stand in Verbindung mit Heinrich Horch und wurde wegen ihres pietistischen Engagements 1702 in Kassel arrestiert. Sie heiratete später in Kelsterbach Jacob Ulrich. Vgl. S. 104. 157 Vgl. Historie I, 244–248. Zu den Abweichungen von Historie II vgl. unten Kap. V.2.1. 158 Historie I, 247. 159 Historie I, 246f. Vgl. Johann Friedrich Rock, Zweyter Aufsatz Des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf Erden, in: ders., Wie ihn Gott geführet, 19–67, hier 45–48. 160 Vgl. Historie I, 250. 161 Vgl. unten Kap. V.2.1. 162 Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 28. 163 Vgl. unten S. 200. 164 XVI. Sammlung (1772), 169. Vgl. Historie II, 260. 165 Vgl. Hartmut Lehmann, »Absonderung« und »Gemeinschaft« im frühen Pietismus. Allgemeinhistorische und sozialpsychologische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des

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Schwarzenau. Er hatte im Februar 1715 auf ein Paket an die gräfliche Herrschaft in Marienborn eine Aufforderung zur Buße geschrieben: »O Marienborn! Marienborn! Thu’ Buß, eh’ dich trifft Gottes Zorn!« und wurde daraufhin im März 1715 aus dem Ysenburgischen ausgewiesen.166 Gruber wurde »Aufseher der Prophetenkinder«, die die Inspirationen anzuerkennen hatten. Max Goebel zufolge hatte Grubers Sohn »nach der Einordnung der büdinger Gemeinde am 6. Juli 1716 in einer Aussprache die noch jetzt geltende Kirchen= oder Gemeinde=Ordnung, oder, 24 Regeln der wahren Gottseligkeit und heiligen Wandels’ ertheilt [. . .]«.167 Als Beleg verweist er auf eine Schrift mit dem Titel Zustand des Menschen nach dem Bilde Gottes.168 In dieser Schrift befinden sich die 24 Regeln der Gottseligkeit und des Gnadenbundes, so die Glaubigen in denen Gemeinden zu beherzigen haben.169 Die Inspirationsgemeinden fußten auf regelmäßigen, täglich mehrmaligen Konventikeltreffen mit Gesang, Gebet, Lesung und Bibelauslegung. Seit 1718 verfügten sie über ein eigenes Gesangbuch, das Davidische Psalterspiel.170 Zu den Hauptvorschriften, die die Gemeindeglieder zu beachten hatten, gehörte die Separation von der »Welt«. Die Unterordnung unter die Regeln und die Anerkennung der Inspirationen als göttliche Gabe wurden zur Conditio sine qua non der Mitgliedschaft. Aus den freien Gebetszusammenkünften entwickelten sich organisierte Gemeinden. Gruber, der sich als Anführer etablieren konnte, kam die zentrale Funktion zu, zwischen sog. falschen und wahren

Pietismus, in: ders. (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, 114–143, hier 130: »In den meisten Gruppen gab es schon nach kurzer Zeit Leiter oder Führer, die sich als eine Art Funktionsträger etablierten und die über die Gruppentradition wachten.« 166 Vgl. Historie II, 257f. 167 Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 425. Nach Scheuner stammen sie auch von Johann Adam Gruber, sind jedoch vom 4.7.1716, vgl. ders., Inspirations=Historie 1, 41. Donald F. Durnbaugh (Eberhard Ludwig Gruber & Johann Adam Gruber: A Father & Son as Early Inspirationist Leaders, in: Communal Societies 4 [1984], 150–160, hier 154) hält sich an Scheuners Angaben. Goebel (Geschichte des christlichen Lebens, 145) schreibt, die Regeln stammten von Gleim, der sie am 4.7.1716 in Büdingen ausgesprochen hätte. 168 Von dem ersten Zustand des Menschen nach dem Bilde Gottes und wie er in Adam gefallen, aber in Christo wieder aufgerichtet werde aufgeschlossen in einigen höchstwichtigen Bezeugungen des Geistes des Herrn wie auch von der Wiederbringung aller Dinge nebst 24 Regeln der Gottseligkeit und des Gnadenbundes, so die Glaubigen in denen Gemeinden zu beherzigen haben, Büdingen 1804. 169 Ebd., 106–128. Die 24 Regeln stammen jedoch vom 4.7.1716 (ebd., 106). 170 Davidisches Psalter=Spiel Der Kinder Zions / Von Alten und Neuen auserlesenen Geistes=Gesängen; Allen wahren Heyls=begierigen Säuglingen der Weißheit / Insonderheit aber Denen Gemeinden des HErrn / zum Dienst und Gebrauch mit Fleiß zusammen getragen / Und in gegenwärtig=beliebiger Form und Ordnung / Nebst einem doppelten darzu nützlichen und der Materien halber nöthigen Register / ans Licht gegeben, o. O. 1718. Nach Hans Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 215 (Anm. 8) ist in der Bibliothek des Herrnhuter Unitätsarchivs ein Exemplar dieser ersten Auflage vorhanden.

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bzw. rivalisierenden Propheten zu unterscheiden. Erstere lehnten Verfassung bzw. Vergemeinschaftung ab. Die Mitglieder der »wahren Inspirations-Gemeinden« wurden nach Alter und geistlicher Reife bzw. Glaubensstand in ›Gliedschaften‹ (Klassen) aufgeteilt. In der Grafschaft Ysenburg existierten fünf Gemeinden: Birstein, Büdingen, Himbach mit Langenbergheim, Düdelsheim und die Ronneburg. Mit zunehmender Anhängerschaft entstanden kleine Filialgemeinden, geleitet jeweils von einem dreiköpfigen Vorstand, einem Vorsteher und zwei Mitältesten, die die Armenkasse verwalteten, über die Gemeindezucht wachten und regelmäßig die Ältestenkonferenzen besuchten. Die Ältestenkonferenz fand in der Regel am Hauptsitz der Inspirierten, auf der Ronneburg, statt.171 Visitationsbesuche dienten der Aufrechterhaltung des Kontakts. Auch die »Werkzeuge« wurden den Vorstehern unterstellt. Sogar Rock durfte einige Wochen lang wegen seines Streits mit Nicolay Bartmann172 nicht an den Versammlungen teilnehmen.173 Schließlich wurde gar eine Kinderlehre bzw. Kinderversammlung eingerichtet.174 Die Inspirationen drängten nach außen zur Verkündigung und Bekanntmachung. Mission war unweigerlich ihre Folge. So gingen auch die neu Inspirierten der Wetterau auf Reisen175 und zwar meistens nach den Liebesmahlen. Die fünf auf Weisung des »Geistes« gehaltenen Liebesmahle, die Wochen zuvor angekündigt wurden, stellten den Höhepunkt des Gemeindelebens dar. Sie fanden nur bis Ende 1716 statt. Gebete, Gesänge und Aussprachen der »Werkzeuge« wechselten einander ab. Nur durch die »Werkzeuge« Berufene durften an ihnen teilnehmen. Als Vorbereitung fand ein Fast-, Buß- und Bettag statt. Nach mehrstündigem Gebet, Gesang und prophetischen Weissagungen und vorgängigem Fußwaschen fand das Mahl statt. Ihm schloss sich am nächsten Tag eine Nachfeier an. Ihre Wanderzüge führten die neu erweckten »Werkzeuge« zunächst nur in die nähere Umgebung. Schließlich reisten sie jedoch durch ganz Südwest171 Die Ronneburg ist »das Wahrzeichen der Lande zwischen Vogelsberg und Spessart, zwischen Gelnhausen, Hanau und Büdingen. Ringsumher liegen die ehemals reichsunmittelbaren Ysenburgischen Lande, nach Norden Büdingen, nach Osten Wächtersbach und Birstein, nach Südosten Meerholz und nach Westen Marienborn, mit fruchtbaren Fluren, stundenweiten Wäldern, sandstein- und basaltreichen Bergen«. Friedrich Heck, Die Berührungen des isenburgischen Kirchspiels Hüttengesäß im Kreise Hanau mit den wetterauischen Inspiranten im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hanauer Union, 91–99, hier 91f. 172 Siehe den Brief des Nicolay Bartmann an Johann Friedrich Rock aus dem Jahr 1718 im Anhang [4.]. 173 Vgl. XVII. Sammlung (1776), 218ff. 174 Vgl. Historie II, 263. 175 Vgl. dazu Hartmut Lehmanns Beobachtung, die auf die Inspirierten des 18. Jahrhunderts zutrifft: »Etablierte Konfessionskultur war im 17. Jahrhundert tendenziell sesshaft [. . .]. Im Gegensatz dazu war nonkonformistische Religiosität [. . .] tendenziell überlokal.« Ders., Zur Bedeutung von Religion, 21.

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deutschland und hielten sich insbesondere in Württemberg, in der Pfalz und im Elsass auf. Es folgten Sachsen und Böhmen. Sie gelangten gar bis Prag176 und Ende 1719 bis Genf.177 In der Schweiz entstanden regelrechte Diasporagemeinden der Inspirierten. Die »Werkzeuge« übernachteten bei Anhängern oder in Wirtshäusern. Letztere boten immer wieder Gelegenheit »auszusprechen«.178 Die intensive Verbundenheit der Inspirierten mit Bern und insbesondere dem Berner Oberland ist inzwischen hinlänglich bekannt. Diese Beziehung zieht sich durch die Geschichte der Inspirationsgemeinden hindurch. Nachdem Ursula Meyer schon 1715 ihre Heimat besuchte, kamen Johann Adam Gruber, Gleim und Mackinet ins so genannte »Schauthal«179 und logierten am 23. November 1716 in einem Wirtshaus in Bern.180 Am nächsten Tag gingen Gruber und Mackinet »zu einem Freund nahmens Knopff«,181 um ihn nach einer Unterkunft zu fragen, doch dieser scheint sie freundlich abgewiesen zu haben. Schließlich fanden sie »eine kalte Kammer« bei Frau Zeerleder.182 In der Nacht vom 27. auf den 28. November hielt Gruber eine Gerichtsaussprache über die Stadt Bern: »Wehe! Wehe! Wehe dir / du abtrünniges Geschlecht der Stadt Bern! Wehe dir du mördersche Stadt sammt deinen frevel=hafften Einwohnern! Wehe! Wehe! Wehe deinem boßhafftigen Priester=Hauffen! Wehe dem tyrannischen Hauffen / der großen Verächter meines Nahmens / deinen Raths=Herrn und gewaltigen / den Reichen und Starcken! Fahre aus du Feuer des HErrn und verzehre ihre Paläste / und mache ihre Tempele zu einem ewigen Stein=Hauffen!«183

Auf ihrer weiteren Reise gelangten sie am 7. Dezember nach Yverdon und besuchten Samuel Lutz, der schriftlich von einem Pfarrer aus Bern vor ihnen gewarnt worden war.184 Alle Bekehrungsversuche an Lutz scheiterten. Lutz erscheint hier deutlich als Vertreter eines kirchlichen und nicht eines separatistischen Pietismus. Am 14. Dezember 1716 erreichte Johann Adam Gruber die Stadt Thun. Weil er »an die Madem[oiselle] Bürcki185 / von der Schwest[er] Urs[ula] Meyer eine Adresse hatte / gieng er so gleich zu ihr; [. . .] und als Br[uder] Gr[uber] zu ihr kam und seinen 176 Vgl. XIII. Sammlung (1758). 177 Vgl. X. Sammlung (1749); XI. Sammlung (1749). 178 Vgl. Wohl und Weh (1719), 25: »wie uns dann GOtt darüber manchen Sieg und Seegen / [. . .] auch in den Wirthshäußern insonderheit / geschencket hat / [. . .]«. Vgl. Schrader, Schweizerreisen, 351f. 179 D.i. die Schweiz. 180 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 235. 181 Ebd., 236. Zu Daniel Knopf vgl. oben S. 80 (Anm. 295). 182 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 236. Vgl. oben S. 63. 183 Ebd., 256. 184 Vgl. ebd., 291. 185 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 293.

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Gruß abgelegt / und zu=gleich sich befragt um ein stilles Logis / war sie selbst darum bemühet [. . .]«.186

Am folgenden Tag hielt Gruber eine Aussprache über den Zustand von Frau Koch.187 Abends kam Jungfer Bürki wieder kurz zu Besuch.188 Am 16. Dezember brachte Jungfer Bürki noch ihre verheiratete Schwester mit.189 Durch die da erfolgte Aussprache »wurden die Anwesenden sehr gerühret«.190 Am 17. Dezember erging erneut eine Aussprache an Frau Koch.191 Ursula Meyer hielt die Beziehung zu diesem pietistischen Kreis in Thun offenbar aufrecht, sodass er den Inspirierten auf ihren Reisen als Anlaufadresse und Wirkungsfeld dienen konnte. Von Johannes Rubin erfahren wir jedoch nichts in Zusammenhang mit den Inspirierten. Der Hauptprophet der Inspirationsgemeinden, Johann Friedrich Rock, machte zwischen 1715 und 1742 insgesamt mindestens 94 Reisen, davon neun in die Schweiz.192 Auf ihren Reisen erlebten die Brüder mehrfach Verfolgungen und schwere Misshandlungen. In Zürich wurden Johann Adam Gruber und Gleim Anfang 1717 »an Pranger und Halseisen gestellet [. . .] und die Uhrsach ihrer Straff war über ihrem Haupt geschrieben«.193 Sie wurden mit Ruten traktiert. Als Rock und Mackinet am 30. August 1717 in Beilstein friedlich bei einer gewissen Schwester Veyhlin zu Abend gegessen hatten und kurz vor dem Aufbruch standen, betraten drei Männer die Stube. Rock wollte sie empfangen, doch »sie ergriffen ihn sogleich bey den Haaren / und schleifften ihn die Trappen hinunter; Und also machten sie es auch dem Mackinet [. . .].« Als sie draußen waren »schlug dem einer mit der Faust ins Angesicht / daß ihm das Feuer heraus sprung / und er zur Erden nieder=sancke; Und als sie den nun wieder von der Erden aufgehoben / und zwar bey den Haaren / schlugen sie ihn weiter also / daß das Blut zu Mund und Naßen heraus=schosse; Und solches schlagen / fallen und wieder aufheben / begegnete deme ehe wir ans Thor kamen / wohl 10.mahl; Und so offt er auf die Erden fiel / schlugen und traten sie ihne noch darzu mit Füßen; Und so machten sie es auch mit Br[uder] Friederich / dem es fast noch schlimmer ergangen / indem er verschiedene mahl in Ohnmacht darüber gefallen.«194

186 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 307. 187 Vgl. ebd., 309–313. 188 Vgl. ebd., 313. 189 Vgl. ebd. 190 Ebd., 317. 191 Vgl. ebd., 320f. 192 Vgl. Schrader, Schweizerreisen, 362f. 193 Ebd., 378. Vgl. Joh. A. Grubers und H. S. Gleims Leiden zu Zürich vom 2. bis 7. Januar 1717, in: Scheuner, Inspirations=Historie 2, 109–132. 194 Wohl und Weh (1719), 199. Vgl. auch Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 107.

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Die Inspirierten und insbesondere die »Werkzeuge« lebten im Bewusstsein, »fast von jedermann verachtet / verspottet / verfolget und gehasset«195 zu werden. Die schweren Misshandlungen wurden jedoch gemäß Mt 10 als notwendig empfunden. Vor der Abreise Rocks und seiner Gefährten ins Württembergische und in die Schweiz hielt Ursula Meyer, die ab Januar 1718 noch allein mit Rock als »Werkzeug« übrig geblieben war, am 24. September 1719 zum Abschied eine Aussprache.196 Von da an blieb die Gabe der Weissagung allein Rock vorbehalten, der sie bis zu seinem Tode behielt.197 Die eigentliche Blütezeit der »wahren Inspirationsgemeinden« war damit vorbei. Es traten in diesem Jahrhundert keine weiteren prophetischen »Werkzeuge« mehr auf. Das Phänomen inspirativer Verkündigung war im Zuge der Konsolidierung der Gemeinden verebbt. Seit den 1720er Jahren beruhigte sich die apokalyptisch-chiliastische Erregtheit unter den radikalen Pietisten. »Auf die Zeit der ersten Liebe, heftiger Aufregung und gewaltsamer Schwärmerei, mit ihren unaufhörlichen Aussprachen und ihrem zahlreichen Lieder=Segen, folgte nun offenbar eine Zeit der Sichtung, der Abspannung, der Ruhe und der Stille.«198 Chiliastische Vorstellungen wurden zwar im deutschen und schweizerischen Philadelphismus weiterhin gepflegt, konnten aber keine enthusiastischen Erscheinungen mehr evozieren.199 Auch dies ist ein Hinweis auf die Interdependenzen zwischen religiöser, politischer und wirtschaftlicher Lage, denn mit der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung Europas verebbte auch die akute Naherwartung.200

195 Wohl und Weh (1719), 172. 196 Vgl. HA, 375. 197 Vgl. dazu Jonathan G. Andelson, Routinization of Behaviour in a Charismatic Leader, in: American Ethnologist 7 (1980), 716–733. 198 Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 277f. 199 Vgl. unten S. 231f. Vgl. auch Hans Schneider, Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700, in: Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. (Hg.), Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 155), Göttingen 1999, 187–212, hier 211f. 200 Vgl. Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus (CG 9), Stuttgart 1980, 134.

VomProphetenwortzudenInspirationssammlungen

III. Vom Prophetenwort zu den gedruckten Inspirationssammlungen Die »wahren Inspirations-Gemeinden« erregten mit ihren unvermittelt auftretenden und nicht vorhersehbaren Aussprachen sehr großes Aufsehen. Diese in Trance gehaltenen Reden galten den Inspirierten als direkte Offenbarungen Gottes, die durch die kleine Schar autorisierter Personen, den sog. »Werkzeugen« vermittelt wurden. Wie der Ausdruck zu verdeutlichen sucht, sind diese nicht selbst Urheber bzw. Autoren ihrer Aussprachen, sondern nehmen lediglich die passive Rolle eines »Mundstücks« ein, dessen sich der »Geist« zu Vermittlungszwecken bedient. Die besondere Stellung der »Werkzeuge« liegt nicht in ihrer Person, sondern in ihren Aussprachen begründet. Das Heil ist demnach nicht an die Person des Propheten gebunden, sondern an den Inhalt seiner inspirativ empfangenen Aussprachen. Mit der göttlichen Wahlfreiheit und mit der Machtlosigkeit der »Werkzeuge«, über sich selbst zu bestimmen, erklärten die Inspirierten sich und anderen, weshalb auch »Weiber oder Weibsbilder« mit der »Gabe der prophetischen Weissagung« ausgerüstet wurden.1 Da wir über keine Schilderung des äußeren Verlaufs der Aussprachen Ursula Meyers verfügen, müssen wir auf die Beschreibung anderer prophetischer »Werkzeuge« zurückgreifen. Dabei ist freilich zu bedenken, dass die ekstatischen Begleitumstände u. a. je »nach Beschaffenheit des Temperaments / Geschlechts / oder Alters« divergierten; die »wesentliche[n] Bewegungen / zu Außgebährung des innern oder äussern Wortes« jedoch waren offenbar »fast immer gleich und in einem Stande«.2 Auch wenn es im frühen polemischen Schrifttum um die Inspirierten verschiedene Zeugnisse gibt, sollen hier zwei bisher unbekannte und voneinander unabhängige Augenzeugenberichte Außenstehender ediert und ausgewertet werden, die exemplarisch einen ersten Eindruck des ekstatischen Inspirationsgeschehens vermitteln.3 Der Vergleich mit der Selbstdarstellung der Inspirierten, die sich eingehend mit ihren eigenen ekstatischen Erscheinungen auseinandersetzten, dient als Grundlage zur weiteren Schilderung des äußeren Verlaufs der Aussprachen und ihren verschiedenen Erscheinungsformen (1.).4 Ihm schließt sich die Beschäftigung mit der 1 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 28–30 [Antwort auf die Frage nach den Frauen unter den Inspirierten]. 2 Ebd., 40. 3 Vgl. dazu durchgehend Ulf-Michael Schneider, Propheten, 59–64, der die Außensicht am Bsp. eines Berichts von Johann Felician Clarus über eine Inspirationsrede Rocks von 1745 darstellt. 4 Vgl. dazu Ulf-Michael Schneider, Propheten, 65–81. Zu den verschiedenen »Kommunikationsformen und -funktionen der Inspirations-Rede« und zu zahlreichen weiterführenden »Be-

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

sich in einem nachaufklärerischen, mitteleuropäischen Kontext aufdrängenden Frage nach den (religions-)psychologischen Ursachen der geschilderten außergewöhnlichen Phänomene an (2.). Im letzten Unterkapitel soll dargelegt werden, wie die geistgetriebenen Reden mehrerer »Werkzeuge« von dazu bestimmten Schnellschreibern schriftlich festgehalten und kollationiert, schließlich gedruckt und in Sammlungen veröffentlicht wurden (3.). Dieser Überlieferungsprozess vom gesprochenen zum gedruckten Prophetenwort soll nachgezeichnet werden. VerlaufderAussprachenund derErscheinun gsformen

1. Zum Verlauf der Aussprachen und ihren Erscheinungsformen 1.1 Zwei Augenzeugenberichte 1.1.1 Bericht aus dem Nachlass von Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1904) Ein bisher unbekannter Augenzeugenbericht,5 der im Nachlass des Pfarrers und Historikers Friedrich Wilhelm Cuno6 vorliegt, schildert eindrücklich und ausführlich eine erstmalige Begegnung mit den Inspirierten, nämlich mit Johann Tobias Pott und Johanna Margaretha Melchior, die sich Anfang 1715 vorübergehend in Schwarzenau aufhielten, und mit der dort ansässigen Schweizerin Susanne Chifelle. An dieser handschriftlichen, zwei Folioseiten umfassenden Abschrift des Augenzeugenberichts durch Pastor Cuno, dessen ursprünglicher Verfasser leider nicht mehr zu eruieren ist, lässt sich exemplarisch veranschaulichen, wie die Aussprachen und ihre Begleitumstände auf Außenstehende spontan gewirkt und weshalb auch die oben erwähnten Zeugen auf die Inspirierten anfänglich einstimmig mit Befremden und Abscheu reagiert hatten.7 [Augenzeugenbericht:]8 obachtungen zur Entstehung und zur sprachlichen Formung der Inspirations-Reden Johann Friedrich Rocks« vgl. ebd., 81–107. 5 Ich verdanke den Hinweis auf diesen Bericht Herrn Dr. Klaus-Peter Decker, Büdingen. 6 Vgl. Gerhard Menk, Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1904) – Pfarrer, Historiker und Glaubenskämpfer. Eine Lebensskizze, in: MEKGR 35 (1986), 153–174; ders., Der Nachlaß des Pastors Friedrich Wilhelm Cuno (1838–1904), hg. v. Flecken Bovenden, Sonderdruck aus Plesse-Archiv Heft 16 (1980). 7 Vgl. oben S. 105f. 8 StAMR, Plesse-Archiv: Nachlass Cuno Nr. 77. Freundlicherweise von Herrn Dr. Gerhard Menk zur Verfügung gestellt. Die in eckige Klammern gesetzten Überschriften sind nicht im Original, sondern der besseren Übersichtlichkeit wegen von mir nachträglich eingefügt worden. Die kursiven Ziffern in eckigen Klammern markieren die Folioseiten des Manuskriptes. Die im Original – wie in der Deutschen Kurrentschrift üblich – in Antiqua geschriebenen Namen und lateinischen Wörter werden kursiv gesetzt.

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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[Einleitung] »Nachdem wir ultimo Febr:9 in Schwartzenau angelangt und aber gar nicht gedachten, einige von den inspirirten zu sehen, vielweniger zu sprechen, indem wir vest glaubten, daß alle schon längsten in alle welt wehren hingegangen, wurde unß gleich in unserem logis gesagt, daß noch einige von ihnen zugegen wehren, die aber von den geringsten, und als noch im n . . . diat10 stehende kleine bewegungen sonder außsprach hetten, ausgenommen eine weibs=person, so ein Welsche Schweitzerin aus dem Bischoflich-Baßler territorio gebürtig ist, genannt Susanne Chifelle,11 welche mit beyden versehen. Auff dieße erzehlung hin hatten wir kein groß verlangen, achteten es auch nicht werth zu seyn, mehr ihnen nachzufragen, zumal da noch dazu kam, daß unser hospes,12 da wir beÿ logirten, die sache so klein und verächtlich vortrug, alß er konte, als wan sie nicht würdig einiger aufsicht und reflexion wären, ließen also vor dießesmal es gelten. [1. Versammlung mit Tobias Pott und Margaretha Melchior:13 die »Leibs=erschütterungen«] Des folgenden tages gegen abend kamen 2 von den fürnembsten angemarschiret aus dem Marienbornischen. Wir sahen sie durch die große [ga]ßen beÿ sehr schlechtem wetter nebeneinander einhergehend ihrem versamlungs=hauß zueilen; ihre ge9 Johanna Margaretha Melchior hielt am 14.10.1714 ihre erste Aussprache und besuchte zusammen mit Tobias Pott und ihrem Schwager Gottfried Neumann am 15.11.1714 Eberhard Ludwig Gruber in Himbach (vgl. Historie II, 239 u. 248f.). Vom 15.–17.2.1715 nahmen Tobias Pott und Melchior »in Zeugnissen« Abschied auf der Ronneburg, in Bergheim und in Himbach (vgl. Historie II, 250). Pott musste nach einer Aussprache, die dem marienbornischen Grafen am 21.2.1715 überbracht wurde, das Land binnen 24 Stunden verlassen (vgl. Historie II, 251). So zogen er und Margaretha Melchior am 23.2. weg, hörten auf auszusprechen und heirateten einander (vgl. Historie I, 247; Historie II, 238 u. 243). Die im Augenzeugenbericht geschilderte Begegnung mit Pott und Melchior in Schwarzenau, die »aus dem Marienbornischen« angereist waren, muss kurz nach ihrer erzwungenen Abreise und vor ihrer Heirat (Melchior sei »noch unverheirathet«, vgl. Augenzeugenbericht [1r]) erfolgt sein. »Ultimo Febr.« bezeichnet demnach den 28.2.1715. 10 Cuno schien das Wort nicht entziffern zu können und notierte nur die lesbaren Buchstaben. Prof. Hans Schneider verdanke ich den Vorschlag, das Wort könnte »noviziat« geheißen haben. Demnach hätten die Inspirierten, die zunächst nur »kleine bewegungen«, d. h. ekstatische Erscheinungen wie z. B. Aufhüpfen etc., aber keine Aussprachen hatten, eine Art Lehrlingszeit durchmachen müssen. Dies könnte mit dem Ausdruck »Zubereitung« gemeint sein, vgl. unten S. 130. 11 Der Familienname »Chifelle« ist in Neuenstadt (heute: La Neuveville, Kt. NE) beheimatet, das Anfang des 14. Jh.s vom Bischof von Basel gegründet war und erst durch die Wiener Kongressakte dem Kanton Bern einverleibt wurde. Von 1711–1713 und 1714–1717 herrschten in Neuenstadt wegen des Streits mit dem Bischof große Unruhen. Ob Susanne Chifelles Auswanderung nach Schwarzenau damit in Zusammenhang steht, muss offen bleiben. Vgl. L. S. [Kürzel nicht aufgelöst], Art. Chiffelle [sic], in: HBLS 2 (1924), 565; Heinrich Türler, Art. Neuenstadt, in: HBLS 5 (1929), 287. 12 Wirt, Gastgeber. 13 Obwohl im Text »Melcherin« steht, verwende ich die in den Quellen sonst übliche Bezeichnung »Melchiorin«.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

schwinde schritte scheinten die wichtigkeit ihrer mission und die bereitwilligkeit ihres gehorsams anzuzeigen. Nachdem dan dieße 2 personen, welche waren Tobias Pott von Halberstatt und Margaretha Melcherin [Melchior] von Hanau, eines metzgers tochter, noch unverheirathet, sonst dasiger enden unter dem nahmen Hanauer Gretchen bekant, schon auf dem saal waren, da sie ordinaire versamlung hielten, gingen wir nach, in hoffnung, ihr geist solte sie was von dem tenor ihrer mission aussprechen laßen. Allein da wir kahmen, sahen und hörten wir nichts denn die seltzame bewegungen der leiber dießer personen und ungeförmte th[öne] ihres mundes, die einem bald als ein heulen, bald ein brummen, lallen und bellen etc. etc. vorkamen. Weilen aber dieße gemeine [1v] leibs=erschütterungen und nichts bedeutende stimmen von einem jeden närrischen menschen, an dem die Curatores furiosorum14 in einem kloster ihr amt schon gethan, mit leichter mühe könten nachgemacht werden und also von keinem sonderlichen nachdrucken sind, so kommen wir an das fast nicht natürliche verhalten des Tobias Poths. Dießer, ob er schon n[ota] b[ene] von der reiß ziemlich ermüdet scheinte, hatte nun ungewöhnliche und erstaunliche bewegungen, gegen welcher derer ander nur ein klein spielen war; bald bewegte er den kopf mit großer und entsetzlicher geschwindigkeit, und drehete ihn umb auf beÿden seiten, als wan er keinen nacken hette, und so geschwind, daß man sein angesicht nicht sehen konte, auch solang, daß wir erstaunten, und scheinte, es müste die gröste tollheit und rasereÿ nothwendig nach sich ziehen. Diese bewegung in specie kan unmöglich wie sie war mit der feder ausgedrükt werden. Bald bükte er sich auff und nieder mit dem gantzen leib, wormit er aber den kopf so auf und nieder für sich und hinder sich warffe, als wären keine nerven am halß, die ihn steif hielten, sondern als würde ein todter kopf von seinem noch lebendigem leib hin und her geworffen. Dan brudelte er mit der zungen und schlug sie in dem mund herum, doch ohne vernehmliche wortte, so wie man zur zeiten kleinen kindern eines vormachet. Bald hüpfte und sprung er in der stuben herum, allzeit die bein zugleich aufgehoben, und offtmal so lange, daß einem andern, der ihn verspotten wolte, die zeit zu lang fallen würde. Wan er auf dem stuhl saß, warf es ihn vom stuhl hoch auf und nieder. Beÿ allen diesen wunderbaren und portentosen15 erschütterungen und bewegungen stoße er sich niemal an, da er öfters gleichsam bis auff ein haar mit dem kopf an die wand oder den ofen kahm, so berührte er ihn doch nicht, [2r] welches auch von den andern inspirirten zu observiren. Einmal dießen abend stund er lange zeit gantz nah beÿ Marchand,16 gewesenen frantzösischen sprachmeister im paedagogio zu Halle, so daß sie die angesichter hart aneinander hielten mit den händen auf den rücken. Dieße brudelten und schnadderten zusammen, ohn ein einig vernehmlich wortt heraus zu bringen, als wie die storchen oder gänße, wan sie zusammen kommen. Sie machten es, als wan sie mit engels zungen redeten, i[d] e[st]17 einer dem andern seine hertzensmeÿnung ohne zwischenkommen der menschl[ichen] reden eröffnen könte, und dieses schnaddern nur zu einem zeichen den umbstehenden zu lieb angestellet wäre. Dießen abend aber kam keine aussprach. So verfügten wir unß in unßer logis.

14 15 16 17

Geistheiler. Wunderbar, missgestaltet, übernatürlich, unnatürlich. Vgl. oben S. 96. Das heißt.

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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[2. Versammlung mit Susanna Chifelle: das »aussprechen«] Sonnabends als den 2. Martii als wir wieder auff den saal kamen, da war obgemelte Susanna Chifelle in allem aussprechen begriffen. Sie stand vor dem tisch, hüpfte ein wenig und bewegte den kopf stets für sich und hinter sich. Das aussprechen komt für, als geschähe es von einem gewaltsamen inneren trieb, dan es bißweilen ihr in den halß gekommen, daß sie nicht sprechen konte, ohne eine weile nach der luft zuschnappen. In wehrender inspiration war sie gantz roth im angesicht, da sie sonst gantz bleicher farbe ist. Dieße innere und eußere bewegung machte das aussprechen unßerer ansehen nach so incommod,18 daß man meÿnen solte, sie hette keinen periodum19 in seiner ordnung und connexion,20 ohne confundirt_21 zu werden, vorbringen können, obschon sie eine solche sermon wol memorisirt hette. Folglich wurden die worte meistens langsam ausgesprochen, daß man sie mit leichter mühe excipiren konte, welches dan auch geschehen, und den von [2v] uns gehörten außsprachen unverfälscht beÿ handen. Wir observirten auch, daß die bewegungen starck oder schwach, annehmlich oder entsetzlich waren je nach beschaffenheit der fürgebrachten materie, als z[um] e[xemplum] wan sie redete von der erbarmenden liebe Gottes in Christo über alle seine creaturen, von der herrlichkeit des ewigen lebens etc., so waren die lippen lächlend, die bewegungen des leibes sanft, und die gebärden annehmlich. Wan sie aber den greuel der sünde oder das verfallene christenthum, item den billich erzürnten Gott samt seinen bald kommenden gerichten vorstellete, so bewegte sie sich heftig, krümte sich, schlug die zähne aufeinander, als fühlte sie den grösten frost. Ihr leib erschütterte sich, als empfände sie schon selbsten den zorn dessen, der auff dem stuhl sitzen wird, und ware schon würcklich in ihr der vorschmack des elends davon, die ihre sünden in einem ewigen zähneklappen büßen müßen.22 Das aussprechen geschicht mit beschlossenen augen, und ist zu observiren, daß vor und gleich nach der aussprach die bewegungen am stärcksten. Auch wan sie aufhören, scheinen sie nicht müd oder matt, es scheint, als wacheten sie auff aus einem starcken und tieffen schlaff, und frierete es sie sehr. Diese Chifelle hatte wenigstens eine stunde peroriret23 und offters touchant.«24

Die uns vorliegende Abschrift des Augenzeugenberichts durch Pastor Cuno scheint nur einen Auszug des Originals wiederzugeben. Wir wissen weder, was die Besucher nach Schwarzenau führte, noch wer sie überhaupt waren. In unserem Zusammenhang wichtig hingegen ist die Beschreibung ihres ersten Eindrucks der inspirierten Vorgänge und Erscheinungen. Der Bericht wird nach einer Einleitung durch die Schilderung der Begegnung mit Tobias Pott und Margaretha Melchior einerseits und der Begegnung mit der aussprechenden Susanna Chifelle andererseits zweigeteilt. 18 19 20 21 22 23 24

Unbequem. Satzgefüge. Verbindung, Verknüpfung. Verwirrt. Vgl. Mt 8,12. Vortragen. Rührend, herzergreifend.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

Die Einleitung macht deutlich, dass die Inspirierten Anfang des Jahres 1715 allgemeines Gesprächsthema waren. Die Gäste werden gleich über den neuesten Stand der causa inspirationis informiert. Der Wirt scheint darum bemüht, die Bedeutung der Inspirierten herunterzuspielen. Nur noch eine Frau habe Bewegungen und Aussprachen. Diese sei jedoch keine Einheimische, sondern stamme aus dem katholischen Ausland. Die anderen Anhänger hätten nur »kleine bewegungen« und gehörten nicht zum repräsentativen Kern der Gemeinschaft. Das Bemühen des Wirts, das Wirken der Inspirierten als belanglos hinzustellen, kontrastiert mit der Feststellung, dass die Inspirierten in Schwarzenau über einen eigenen Versammlungssaal verfügten, in dem sie sich regelmäßig bzw. »ordinaire« trafen und in welchem auch Fremde ohne Weiteres Zutritt fanden. Dies lässt auf einen gewissen Stand der Institutionalisierung schließen. Die gottesdienstliche Gemeindeversammlung scheint primärer Sitz im Leben der Aussprachen gewesen zu sein. Der Erzähler schildert in der Folge, was er und sein/e Begleiter in der abendlichen Versammlung der Inspirierten erlebt hatten. Auch er scheint darum bemüht, seine Neugier herunterzuspielen und die Begegnung als zufällige und spontane darzustellen. Man merkt, wie sehr die Inspirierten die Gemüter in Wahrheit bewegten. Im Saal machten den Gästen nicht die an psychischen Wahn erinnernden Töne, Stimmen und Bewegungen der Anwesenden nachhaltigen Eindruck, sondern erst das Auftreten des ältesten Potts. Die Art, wie dieser seinen Körper bewegte, könnte »unmöglich [. . .] mit der feder ausgedrükt werden«. Mit ihren sog. Konvulsionen25 und symbolischen Zeichenhandlungen stehen die Inspirierten in der Tradition ihrer französischen Vorgänger. Sie geraten in einen tranceartigen Zustand und führen höchst ungewöhnliche Bewegungen aus, stoßen seltsame Laute hervor und wirken irr. Ihre Bewegungen scheinen die im Normalzustand geltenden anatomischen Gegebenheiten des menschlichen Körpers außer Kraft zu setzen. Damit wird der Eindruck erweckt, diese Bewegungen seien fremdgesteuert und könnten nur von einer Instanz außerhalb der betreffenden Person stammen. Sie manifestieren die eigene Willenlosigkeit und Unfähigkeit zur Selbstkontrolle. Es ist nicht mehr das eigene Ich, das den Körper steuert, sondern ein Geist, der von ihm Besitz ergriffen hat. Pott gleicht einer Marionette, die trotz wildester Bewegungen keinen Schaden erleidet. In diesem ekstatischen Zustand kann die Person auch direkt Kontakt mit einer anderen aufnehmen, hier mit jenem uns schon begegneten Marchand, und mit ihr in einer ebenso ungewöhnlichen – an Tiere erinnernde – Art kommunizieren. Man spürt in dem Bericht sowohl die von den ungewöhnlichen »Leibeserschütterungen« ausgehende Faszination als auch ihre Furcht und Abwehr erregende Wirkung. 25 Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 146 mit Anm. 281 [»convulsions« als terminus technicus für den Zustand des Inspirierten].

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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Den außergewöhnlichen Körperbewegungen folgt keine Aussprache. Tobias Potts kaum beschreibbare körperliche Verrenkungen geschehen »ohne vernehmliche worte«.26 In der zweiten, erneut am Abend gehaltenen Versammlung erleben der Erzähler und sein/e Begleiter eine Aussprache der Schweizerin Chifelle. Doch scheinen die Bewegungen, die der Aussprache vorausgingen und sie begleiteten, alle Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Richtete sich die Hoffnung der Augenzeugen nämlich anfänglich darauf, der Geist möge die Inspirierten etwas vom »tenor ihrer mission aussprechen« lassen, so gilt ihr Interesse bei der endlich eintreffenden Aussprache dennoch wiederum den äußeren körperlichen Begleitumständen. Es erfolgt keine Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gesprochenen, sondern nur mit den ungewöhnlichen körperlichen Exaltationen und dem offenbar erschreckenden Aussehen der Chifelle, die die Augenzeugen ganz in ihren Bann ziehen. Der Erzähler beobachtet, wie die körperlichen Bewegungen der Chifelle mit dem Inhalt ihrer Aussprache korrespondierten. Chifelles Gebärden scheinen die Botschaft der Inspirationsrede darstellerisch umgesetzt zu haben. Damit kommt ihnen eine sinntragende Bedeutung zu. Vor und gleich nach der mindestens eine Stunde währenden Aussprache seien die Bewegungen am stärksten gewesen. Vom Inhalt der Aussprache, dem das Interesse anfänglich galt, spricht der Erzähler nur beiläufig. Der Aussagegehalt verschwindet ganz hinter den äußerlich sichtbaren Vorgängen. Wir erfahren lediglich, dass »von der erbarmenden liebe Gottes in Christo, über alle seine creaturen, von der herrlichkeit des ewigen lebens etc.« und von der Sünde, dem misslichen Zustand des Christentums und dem nahen göttlichen Gericht gesprochen worden war. Der Erzähler unterstellt Chifelle, die Aussprache zuvor auswendig gelernt zu haben. Bewusst würde sie sehr langsam sprechen, damit ihre Rede leicht aufgeschrieben werden könnte, »welches dan auch geschehen«. Inhaltlich scheint dem Augenzeugen nichts Besonderes aufgefallen zu sein. Man gewinnt den Eindruck, die Aussagen der Aussprache seien ihm vertraut, die Art und Weise hingegen, wie sie vermittelt wurden, gänzlich neu. Dazu gehört, dass die Aussprache von Leibesbewegungen eingeleitet und begleitet, darstellerisch unterstützt und bekräftigt wurde und ihr wiederum Bewegungen folgten. Auch wenn die Möglichkeit besteht, 26 Anders ging es zu, als Pott und Melchior am 15.11.1714 Eberhard Ludwig Gruber in Himbach erstmals aufsuchten. Ihren »seltsame[n] Figuren und Bewegungen« folgten Aussprachen. Grubers anschließender Versuch einer intellektuellen Auseinandersetzung wurde von einer weiteren Aussprache Potts und der Aussage, sich nicht auf eine Diskussion einlassen zu dürfen, abgewehrt. Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 2–4. Auch Gottfried Neumann berichtet in seinem Zeugnis, dass der älteste und der jüngste Pott sich auf kein Disputieren einließen. Vgl. ebd., 48–62, hier 53. Gruber wurde dennoch von ihren Ekstasen überzeugt (vgl. ebd., 4f.). Vom ältesten Pott tief beeindruckt wurde auch der Sohn Grubers, der Pott schon kurz vor dem Vater in Bergheim aussprechen hörte und »das Werck nicht genug zu preisen wußte« (ebd., 10).

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dass die Kopie des Augenzeugenberichts das Original nicht vollständig wiedergegeben hat, darf aufgrund der Konsistenz des vorliegenden Textes behauptet werden, dass den Erzähler die körperlichen Exaltationen beschäftigen; die Aussprache selbst verschwindet hinter dem sie begleitenden und rahmenden äußerlich sichtbaren Geschehen.

1.1.2 Bericht des Pfarrers Konrad Schlierbach von Dodenau (1658–1731)27 Der zweite Augenzeugenbericht stammt vom Dodenauer Pfarrer Konrad Schlierbach28 und soll den ersten, ausführlichen Bericht ergänzen. Als Schlierbach 1697 die Pfarrstelle seines verstorbenen Vaters in dem zur Landgrafschaft Hessen-Darmstadt gehörigen Dodenau (heute: Kreis Waldeck-Frankenberg, Hessen) antrat, begann er gleich, ein neues Kirchenbuch zu führen.29 In der sechsten und letzten Abteilung hinterließ er einen ausführlichen und kritischen Bericht zum Pietismus im angrenzenden Wittgensteiner Land, über den er erstaunlich gut und breit informiert war. Kurz nach dem Auftreten der Inspirierten machte sich Schlierbach am 5. Februar 1715 auf den Weg nach Schwarzenau, um sich ein eigenes Urteil über die »neue secte«30 zu bilden. Im Kirchenbuch legte er von seiner Begegnung folgendes Zeugnis ab: »Gegen außgang des jahres 1714 fandte sich abermahlen eine neue secte zu Schwartzenau ein, die waren theils aus dem Halberstädtischen,31 Mariäbornischen und anderen orthen her. Die rühmbten sich göttlicher eingebungen und hatten entsetzliche bewegungen darbey. Den 5. Febr. des 1715. jahrs ging ich selbsten hinauf nacher Schwartzenau, mich dieses wesens zu erkundigen. Da traffe ich in einem gräfflichen gemache 5 personen an, 3 manßpersonen und 2 weibspersonen, welche nach gehaltenen singen und bethen endlich anfingen die achseln zu erheben, endlich aber in eine solche entsetzliche bewegung zu geraten, daß sie auf bäncken sitzende anfingen, in die höhe zu springen, nickten mit denen köpffen und schlauderten32 dieselbe so geschwind vor sich hinauß, daß man nicht erkennen konte, daß es förmliche wortte seyen, ohne daß sie in der grössesten bewegung etliche mal sagte: O Herr Jesus, seufzeten und krauchten33 27 Der Text aus dem Kirchenbuch der Kirchengemeinde Dodenau, heute: Kreis WaldeckFrankenberg, Hessen, wurde mir freundlicherweise von Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg mitsamt seiner Transkription zur Verfügung gestellt. 28 Vgl. Wilhelm Diehl, Pfarrer- und Schulmeisterbuch für die acquirierten Lande und die verlorenen Gebiete [HasSac 7], Darmstadt 1933, 197 [Nr. 555,14]. 29 Dodenauer Kirchen Buch so in sechs Classes abgetheilet [. . .] Angefangen Anno 1697 [. . .] [Pfarramt Dodenau/Eder]. 30 Vgl. unten Bericht des Pfarrers Konrad Schlierbach. 31 Die Gebrüder Pott aus Halberstadt bereisten als Erste das Wittgensteiner Land. 32 D.i. schleuderten. 33 D. i. krächzten. Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 55, wo der Goldarbeiter namens Jordan (ebd., 48), der »sein Ohr nur aufs äussere gekehrt hatte [. . .] aus dem krechzen des Werkzeugs schlosse, es quäle sich selbst in eigenem Gewürk, dasselbe aus aller seiner Kraft zu dämpfen [. . .].«

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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mit darbey. Die andere weibsperson, eine ältliche frau, wan sie in der hefftigsten bewegung war, rieffe so geschwinde, alß sie auch in die höhe sitzend sprang: hoye, hoye, hui, hui etc., und sobald dieser die bewegung, also hefftig kahm, sprang ein beysitzender mann alsobald einer schreibtafel zu und schrieb unter wehrender bewegung. Ich fragte ihn, ob er wortte schriebe, so etwan diese weibspersonen redeten, ob ich wohl keine worte vernehmen konte. R[es]p[ondit]:34 ja, und reichte mir ein geschrieben büchlein zu lesen. Darinnen fande ich unter anderen dieses: den 3ten Febr. hat der Herr Zebaoth in unserer versamblung unß zugesprochen: es spricht der Herr Zebaoth, wan ein weltlicher könig oder fürst in ein schloß einziehen will, so reiniget man dasselbe und meubeliret es, darumb spricht der Herr Zebaoth: reiniget eure hertzen, daß der könig der ehren bey euch einziehe etc. Und alß ich solches gelesen, legte ich das büchlein wieder hin. Damit endigte sich hernach die bewegung, welche die weibspersonen sonderlich excessiv hatten. Es hatte auch eine von denen manßpersonen etwas von der bewegung, daß er bey zugedrückten augen mit dem haupt nikete und purrete35 darbey alß ein schwein. Alß nun solches alles vorbey war, fragte ich sie, ob ihnen auch bey einer solchen bewegung wehe seye? Respondit einer von denen schreibern, deren 2 wahren, die auch zuweilen die achseln aufhuben, alß wan sie etwas steche: nein, es wäre ihnen [576] öffters gantz wohl auf eine solche bewegung, ja sie seye ihnen alß eine medicin, dardurch sie aller anfallender kranckheit entlediget würden; es seye was wundersames, das menschliche vernunfft nicht begreiffen könte; wie dan auch der eine unter dem purren36 und blasen heraußstieß: die vernunfft kan es nicht begreiffen. Und damit nahm ich abschied und ging meines weges.«37

Schlierbachs Begegnung mit den Inspirierten in Schwarzenau fand nur drei Wochen vor jener, die im ersten Augenzeugenbericht geschildert wird, statt. »In einem gräfflichen gemache« seien drei Männer und zwei Frauen zusammengekommen. Schlierbach scheint die ganze Versammlung besucht zu haben. So berichtet er, dass die Bewegungen erst nach Gesang und Gebet »endlich« eingesetzt hätten. Die Bewegungen brauchten demnach eine gewisse Zeit der Sammlung, bevor sie sich einstellten. Auch Schlierbach beobachtet das marionettengleiche Springen der Glieder und Herumwirbeln der Köpfe. Seltsame und unverständliche Laute und Töne begleiten auch hier die Zusammenkunft der Inspirierten. Nur ein paar Seufzer kann er verstehen. Als die Bewegungen der älteren Frau zunehmen, macht sich ein Mann zum Notieren bereit. Den Beobachter Schlierbach irritiert das Schreiben, weil er selber keine verständlichen Worte zu hören vermag. Im Büchlein, das ihm dargereicht wird, liest er einige Ausspracheneinträge und gibt einen Auszug der Worte des vorletzten Tages wieder. Schlierbach fällt auf, dass die Bewegungen besonders bei den weiblichen Personen ausgeprägt sind, während sich die männlichen mit – erneut – an Tiere erinnernden Ge34 D.i. er antwortete. 35 D.i. grunzen, gurren. 36 Wie Anm. 35. 37 Kirchenbuch der Kirchengemeinde Dodenau, heute: Kreis Waldeck-Frankenberg, Hessen, 575f.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

räuschen äußern. Die zwei anwesenden Schreiber beantworten die Frage Schlierbachs, ob die Bewegungen sie nicht schmerzen, verneinend. Ganz im Gegenteil, sie seien ihnen gar eine Art Medizin.38 Auch Schlierbachs Aufmerksamkeit gilt ganz den äußeren Erscheinungen, ohne jedoch die Distanz zu ihnen aufzugeben. Dem Büchlein und seinen Ausspracheneinträgen kommt nur eine sekundäre Bedeutung zu. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Der Fokus ist wiederum auf den äußeren Verlauf und Ausdruck der ekstatischen Phänomene gerichtet. Mit den vorliegenden Augenzeugenberichten besitzen wir zwei außergewöhnliche und voneinander unabhängige Dokumente, die beide eine erstmalige Begegnung mit dem Phänomen inspirierter Bewegungen und Aussprachen kurz nach ihrem Erscheinen in Deutschland schildern und die insoweit eine wertvolle Ergänzung bisher schon bekannter und gedruckter Schilderungen sind. Beide Begegnungen fanden im Februar bzw. März 1715 in Schwarzenau statt, also kurz nach der Gründung der Inspirationsgemeinden. Beide Berichte weisen eine kritische Distanz zum Erlebten auf, konzentrieren sich jedoch ganz auf die äußeren Erscheinungen und gehen inhaltlich nicht auf die Aussprachen ein. Von ihnen unterscheidet sich der Bericht von Johann Christian Edelmann (1698–1767) sehr deutlich, obwohl auch er sich ganz auf die äußerlichen Phänomene konzentriert. Edelmann, der sich ab 1737 für fünf Jahre in Berleburg und Homrighausen aufgehalten hatte, schilderte in seiner von 1749 bis 1753 verfassten Selbstbiographie rückblickend, wie er Johann Friedrich Rock zum ersten Mal begegnet war. Der »alte Fuchs« küsste ihn und Edelmann erwiderte den Kuss, »aber mehr als eine Maschine, die nicht weiß, warum sie so, oder anders getrieben wird [. . .]«.39 Noch bevor das Gespräch richtig losgehen konnte, »flohe dem Mann Gottes die Mütze vom Kopfe, der Kopf schüttelte sich hin und her, wie eine Wetter=Fahne, wenn Gewitter kommen, die Haare [. . .] bemüheten sich umsonst, den heiligen Mund zu bedecken, der wie ein Gensd’armen Gaul sprudelte; die Augen sahen einem in letzten Zügen liegenden Kalbe nicht ungleich; die Hände schlugen auf die Knie, wie einer der Hunde lockt; die Füsse schienen das in meinem Vaterlande bekannte Papiermacher=Spiel vorstellen zu wollen, und der heilige Poder hatte von Glück zu sagen, daß er nicht von Glase war, sonst würde es gewiß Scherbel gegeben, und dem Glaser ein Einsehen verursachet haben. In Summa, der Mann Gottes stellte sich so ungebehrdig,40 daß man Ihn eher vor einen 38 Vgl. Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 48: »So greßlich und gefährlich sie [sc. die Bewegungen; IN] auch aussehen / (. . .) so wenig schaden sie doch dem Leibe oder der Gesundheit: ja sie fördern dieselbige vielmehr; wie dann / (. . .) schon manches Kopff=Magen= und Glieder=Weh dadurch curiret worden.« 39 Johann Christian Edelmann, Selbstbiographie 1749–1752 (Sämtliche Schriften in Einzelausgaben, Bd. 12), Faksimile-Neudruck mit einer Einl. v. Walter Grossmann, Stuttgart/Bad Cannstatt 1976, 264. 40 Vgl. I Kor 13,5 in der Luther-Übersetzung.

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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beseßenen, oder mit der schweren Noth behafteten Hülfs=bedürftigen, als vor einen Gesandten Gottes hätte ansehen können, der andern zu Hilfe geschickt seyn solte.«41

Rock »kröchzete,42 als einer der zu brechen eingenommen hatte« und darauf »erfolgte endlich die Aussprache Brocken=Weise, eben wie ein Schulmeister was dictiret [. . .].«43 Man spürt in Edelmanns mit einem deutlichen Abstand verfassten Schilderung, wie gerne er polemisiert und die Inspirationssache ins Lächerliche ziehen möchte. Dennoch geht er nicht so weit, Rock als Betrüger hinzustellen. Der Bericht im Nachlass von Pastor Cuno belegt hingegen, dass die Echtheit der inspirations-ekstatischen Bewegungen und Aussprachen durchaus auch äußerlich angezweifelt werden konnte.44 So ist auch in den Unschuldigen Nachrichten aus dem Jahre 1715 nachzulesen, »daß sie [sc. die Inspirationsreden; IN] gar langsam wären ausgesprochen / auch wohl wegen des Nachschreibens wiederhohlet worden / und der Geist einmahl nicht gewußt / daß Micha nicht 9 Capitel hätte / sondern von dem Nachschreiber habe müssen erinnert werden«!45 Pfarrer Schlierbach bezeichnet die Inspirierten als »phanatischen schwarm«.46 Edelmann, dem man offensichtlich auch von Ursula Meyer erzählt hatte, schrieb in seiner Selbstbiographie, es sei »ein kleines Glück« für die Inspirierten gewesen, »daß mir keine Prophetin in der Positur zu Gesichte kam, in welcher ich den Br. Rock angetroffen hatte. Denn da glaube ich fast, eine solche heilige Furie würde mich, wenn ich ihre zerstreueten Haare, gleich den Schlangen, hätte um den Kopf fliegen, und die Augen, auf eine Basiliskenmäßige Art liebäugeln sehen, zur Stube hinausgejagt haben. So aber waren diese heiligen Scheusale zu meinen Zeiten schon ausgestorben, und ich würde gar nichts von ihnen wißen, wenn mir meine Brüder nicht bisweilen was von ihnen erzehlet hätten.«47

Mit seiner Aussage bestätigt Edelmann Hillel Schwartz’ Urteil: »Women prophets were more conspicuous than men prophets because they were more obviously deserting traditional social roles. As they abandoned rules of deportment and ignored constraints on physical movement (and, sometimes, dress), they drew loud criticism, as if it were those freedoms, rather than religious inspiration, which they sought.«48 41 Wie Anm. 39. 42 Wie Anm. 33. 43 Edelmann, Selbstbiographie, 265. 44 Vgl. dazu Ulf-Michael Schneider, Propheten, 56f., der feststellt, dass Johann Friedrich Rocks Aussprachen nur in bezug auf ihre Göttlichkeit angezweifelt worden seien. Eine willentliche Täuschung sei ihm nie vorgeworfen worden. 45 UnNachr 1715, 174. 46 Wie Anm. 29. 47 Edelmann, Selbstbiographie 1, 269. 48 Schwartz, French Prophets, 139.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen 1.2 Die Inspirations-Ekstase aus der Sicht der Inspirierten

Das Phänomen der Inspirations-Ekstase hat nicht bloß Außenstehende, sondern vor allem auch die Inspirierten selbst heftig beschäftigt. Dies geschah nicht zuletzt wegen der literarischen Flut gegen sie gerichteter Polemiken.49 1716 erschien mit Eberhard Ludwig Grubers Apologie J. J. J. Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen INSPIRATION50 eine umfassende Stellungnahme der Inspirierten zu ihren ekstatischen Erscheinungen. Mit präzisen und mit biblischen Belegstellen untermauerten Antworten auf hundert fiktive Fragen entwickelte Gruber eine ausführliche Systematik der Inspirationsgemeinden. Die Frage, worin denn die Bewegungen der Inspirierten eigentlich bestünden, beantwortete Gruber, indem er äußere von inneren unterschied. Die äußeren Bewegungen, die »insonderheit in einem ungewohnlichen / und der blosen Natur meist unmöglichen / Schütteln des Kopffs / Schlappern des Mundes / Zückung der Achseln / Schlottern der Knie / Zittern der Beine / Erschütterung und sitzender Aufhüpffung des gantzen Leibs / u.s.f. bestehen / sind jederman vor Augen / und also nicht nöthig / viel ins besondere davon zu melden: wie dann auch sonsten von denen tausenderley Figuren und Bewegungen des gehenden / stehenden / springenden / sitzenden und ligenden Leibes sich allhier in specie nicht handeln lässet.«51

Während sich die Schilderung der äußeren, krampfartigen Bewegungen und der unkontrollierbaren Motorik der Gliedmaßen durch Gruber mit jenen der Augenzeugenberichte deckt, erfahren sie von ihm eine ganz andere Gewichtung. Gruber findet es kaum nötig, auf diese Erscheinungen, die so genannten »Konvulsionen«,52 vertieft einzugehen, denn sie seien ja bekannt und zudem nur äußerlicher Natur, was so viel bedeutet wie sekundär. Worauf sich also das ganze Augenmerk der Außenstehenden richtete, erscheint dem erfahrenen Mitglied bzw. Leiter der Inspiriertengemeinden als bloßes Beiwerk. Immer wieder argumentierten die Inspirierten, »es würde niemand auf die Bewegungen gewiesen, sondern nur auf die in und durch die Bewegungen bezeugte Wahrheit.«53 Anfeindungen, die sich vor allem auf diese die Aussprachen begleitenden Verrenkungen bezogen, wurden mit dem biblischen Hinweis auf die auch Jesus gemachten Vorwürfe (vgl. Mk 3,21f.; Joh 7,20; 8,48; 10,20) gekontert.54 Jesus selber wäre »wegen seiner hefftigen Bewegungen und Bezeugungen / manchmal für toll und unsinnig angesehen worden / als ob Er 49 Vgl. die Liste »Theologische[r] Kontroversliteratur gegen die Inspirierten« in: Ulf-Michael Schneider, Propheten, 226–229. 50 Zu den konkreten Ereignissen, die diesem Werk vorausgingen, siehe unten S. 189ff. u. 198. 51 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 39. 52 Wie Anm. 25. 53 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 303. 54 Vgl. Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 37.

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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nicht wüßte was Er redete oder thäte / und nicht recht bey sich selbsten wäre«.55 Ganz anders als die »ausgebährende[n]«56 sind die inneren »Offenbahrungs= Bewegungen«,57 die nach Gruber »wol die bedencklichste[n] und merckwürdigste[n] sind / und am wenigsten nachgemacht werden können / bestehen insonderheit in einem magnetischen An= und Einziehen; dadurch auch wol die Sprach / das Seuffzen / der Athem / u.d.g. eine Zeitlang gehemmet und auffgehalten wird: in einer verwundersamen Umspannung der Brust / als ob ihr eine Hand vorgeschlagen / oder ein Pantzer oder Brust=Harnisch von innen angeleget wurde: in einer angenehmen Warmwerdung des Hertzens / insonderheit bey Eröffnung und Hervorsteigung des innern und innen=bleibenden= oder äusseren und außzusprechenden Wortes; [. . .] in einem auffsteigenden Schwefel=Geruch / [. . .] in einem Bitzeln und Feuren der Zunge / als von einem scharffen und durchbeissenden Gewürtz: in einer plötzlichen Beneblung und Einnehmung des Hauptes / gleichsam als von einem starcken Rauch / Dampff / Dunst oder Geträncke; [. . .] der genauen Durchsuchung / insonderheit des Hertzens / der Nieren und anderer innerer Lebens=Glieder [. . .] ingleichem des Spannens / Ziehens und Dehnens / von innen durch den gantzen Leib; der mannigfaltigen Züge und Lineamenten / die manchmal wie ein Blitz / sonderlich die Theile des Hauptes / Mund / Augen / Ohren / u.s.f. durchfahren / hierbey nicht zu gedencken.«58

Fand der Erzähler im ersten Augenzeugenbericht die Bewegungen mit Ausnahme jener Potts und Chifelles für imitierbar, so hält Gruber fest, dass die Bewegungen der Inspirierten in der Regel »inimitabel [seien] / also / daß sie kein fremder oder böser Geist eigentlich nachmachen oder nachäffen kan / wie sehr er sich auch bemühet: weilen sie aus einer tiefferen Quell und Wurtzel, deß inwendigen Heiligthums nemlich / und von einer höheren Hand und Krafft [. . .] herrühret.«59

Dies bestätigt auch der Mediziner Johann Samuel Carl, der damals selbst Mitglied der Inspiriertengemeinden war.60 Als dieser erstmals beim älteren Pott in Bergheim eine Aussprache als Anwesender erlebte, kam er zum Urteil, die Aussprache sei »gantz schrifftmäßig« gewesen, »drang aber sehr mächtig an das Gewissen.«61 In der anschließenden Begegnung im Quartier von Pott erkannte Carl, 55 56 57 58 59 60 61

Ebd. Ebd., 52. Ebd. Ebd., 39f. Ebd., 45. Vgl. oben S. 86. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 16.

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»daß gedachter Pott aus seinem eigenen die Außsprach nicht vorbringen könte / und also die geistliche / wie die leibliche Bewegung / von einem andern Principio herkäme.«62

Gruber fügt hinzu, dass sowohl die äußeren als auch die inneren Bewegungen verschieden ausfallen könnten,63 mit Ausnahme jener, die das mit einem Geburtsvorgang verglichene Aussprechen wie Wehen begleiten.64 Diese scheinen sich demnach bei allen »Werkzeugen« zu gleichen. Während die Bewegungen, denen keine Aussprache folgte, meistens unkoordiniert und chaotisch seien, scheinen die die Aussprachen einleitenden und begleitenden Bewegungen eine präfigurierende, visualisierende und eindrucksverstärkende Funktion innezuhaben. Sie stellen den Inhalt der Aussprache schon kurz zuvor pantomimisch dar oder veranschaulichen gestisch und mimisch – wie schon in den Augenzeugenberichten beobachtet – bzw. unterstreichen das in der Aussprache gleichzeitig Mitgeteilte.65 Diese so genannten »prophetischen Figuren« stellten »eine gantze Sache in ihrer Beschaffenheit« dar, »so daß alle Anwesende leicht auß der connexion der Umstände fassen konten / was alles bedeute«.66 Als Beispiele mögen folgende Aussprachen Johann Carl Gleims in Büdingen vom 26. Mai und vom 29. Juni 1715 mittags dienen: 26. Mai: »Kam er in die Inspiration, gieng bey den Tisch / nahm die Bibel / schlug auff Daniel cap. 4. schlug zum zweyten mal auff Esa. 21/11.12. zum dritten mal formirte er ein Creutz mit den Daumen / schlug auf / und bekam die Creutzigung Christi unter den Daumen: gieng darauff in die Kammer / raumte alles aus dem Weg / gieng eine Zeitlang stoltzirend einher / stieß endlich aller Orten an / und fiel zu Boden; stund wieder auf / setzte einen Fuß vor den andern / gieng wacklend einher / fiel abermal zu Boden; stund wieder auff / formirte ein Creutz mit den Füssen / gieng also fort bis an ein enges Loch am Ofen / drange dahindurch / und freuete sich mit ausgespannten Armen sehr: Erklärte diese Figur durch folgendes Gleichniß / und sprach unter fortwährenden Bewegungen also: [. . .].«67 62 Ebd. 63 So auch schon Haug, vgl. ebd., 132 [16.]. 64 Vgl. auch Wohl und Weh (1719), 71: »Da dann Br[uder] Fried[rich] gegen Abend in gewaltiges Erschüttern und Zittern kam / sehr schmertzliche und durchdringende Wehen empfinden / u[nd] die Worte als mit Geburts=Schmertzen ausschütten und heraus sprechen musste: [. . .]«. 65 Genau dasselbe stellt Blasius Daniel Mackinet fest in seinem Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration / Datirt aus Germanton in Pensilvanien vom 25. October 1749, in: XII. Sammlung (1751), 126–143, hier 133. Nach Mackinet »geschahen die Aussprachen mit verschlossenen Augen« (ebd.). 66 Das Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), Vorrede (o.S.). 67 Ebd., 25.

Verlauf der Aussprachen und der Erscheinungsformen

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Darauf folgt eine Aussprache vom dreifachen Weg, dem breiten, vernünftigen und engen Kreuzesweg zum Leben. Die Aussprache dient also nachträglich zur mündlichen Erläuterung des zuvor lautlos pantomimisch Inszenierten. 29. Juni: »Fliehet / eilet / und säumet euch nicht! (gieng mit verschlossenen Augen an die Treppe / faßte die zwey Seiler / wickelte sie um die Beine herum: und als er meynte diesen Stricken zu entgehen / verwickelte er sich immer weiter dahinein / biß gar an das Loch der Treppen; da er sich dann so verwickelt / die Beine in die Höhe schlagend / gantz hinunter ließ; und im Ablassen wickelten sich die Stricke wunderlich loß / biß er auff die Erde kam; da ward er gar loß / gieng dann wieder hinauff in die Stub / und fuhr fort zu sprechen:) daß ihr entrinnen möget den Stricken der Höllen und des Todes; daß euch dieselbigen nicht erhaschen mögen unter denen / welche ihnen zur Uebergab beschlossen sind: sie werden euch sonsten / wann sie euch einmal gefässelt und gebunden haben / nicht wieder loß lassen / biß sie euch in den ewigen Tod / in den Abgrund der Höllen / gestürtzet haben! Ja / es ist beschlossen! und verschlossen! Mercket’s wol! (zeigete gegen einen gewissen Welt=Theil / kam wieder zu sich selbst.)«68

In diesem Beispiel ist die Aussprache den Figuren nicht nachgeordnet, sondern figürliche Darstellung und Aussprache gehen ineinander über. Sie sind eng miteinander verzahnt. Pantomimische Darstellung und Ausspracheinhalt bilden ein Gesamtes und halten den Fluss des Geschehens aufrecht. Eberhard Ludwig Gruber, der selbst keine Aussprachen hatte, beobachtete, dass diese sich erst nach einer gewissen Zeit innerer und äußerer Bewegungen einstellten, und zwar »ein Wort nach dem andern / langsam / und meistens sylben=weiß«.69 Die einzelnen Silben würden dabei »mit einem sonderlichen Bewegungs=Stoß / und gebrochenen gleichsam Posaunen=mässigen Schall und Thon / ausgesprochen«.70 Vom Haupt-»Werkzeug« Johann Friedrich Rock besitzen wir eine schriftliche Beschreibung, wie er zum Aussprechen kam. Seiner ersten Aussprache ging eine mehrwöchige Zubereitungszeit voraus, in der er sich in prophetischer Manier heftig sträubte und großen Ängsten ausgesetzt war. In seiner Beschreibung fällt erneut die Geburts- bzw. Kindmetaphorik auf: »Die Außsprach habe nach den Christ=Feyertagen bekommen; zuvor aber etliche Tage solchen Kampff darüber gehabt / ja auch solche Angst / daß ichs nicht beschreiben kan. Dann ich erkannte meine Untüchtigkeit / und förchtete mich / daß mir die Haut schauerte / im Nahmen des HErrn zu sprechen. Weil ich aber inniglich GOtt anflehete / Er wüßte ja mein Hertz / und daß ich weder in Eigenheit unter seinem Nahmen zu sprechen / noch auch ihm zu widerstehen / begehrete / sondern nur 68 Ebd., 67. 69 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 55. 70 Ebd.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

seines Willens hierin zu leben / und dann gern alles darüber zu leiden; so geschahe es einest gegen Abend / unter einigen Brüdern / (da ich mein Hertz gantz in GOttes Erbarmen hinlegte / und in der Bewegung / die ich zur Außsprach hatte / zu meinem JEsu / als ein Kind / das von seiner Mutter eine Gabe erwartet / flehete /) daß mir ein Wort auffstiege / so ich dann / nach dem Trieb des Geistes / außgesprochen: darauff alsobald eines nach dem andern hervor kommen / und zwar mit einer inwendigen Ruhe und Zufriedenheit des Hertzens / daß ich damal nicht zweifflen konte / der HErr habe es gewürcket; wie es dann auch meine Brüder im HErrn darvor erkannten.«71

Auch die in der Vorrede zum Geschrey zur Mitternacht vorliegende Schilderung eines Nachbarn, wie das »Werkzeug« Johann Carl Gleim zum Aussprechen kam, weiss von einem mehrwöchigen Prozess der Vor- und Zubereitung.72 Mit der ganzen Familie und benachbarten Freunden hätte sich das zukünftige »Werkzeug« täglich zum Gebet versammelt. Es benötigte »kaum etliche Wochen [. . .] / daß er [sc. das zukünftige »Werkzeug«; IN] in starcke Bewegungen des Leibes gekommen; welche sich absonderlich bey dem einmüthigen Gebet und stiller Samlung erregten.«73 Die Stille als konstitutives Moment der Vorbereitung bezeugt auch Johann Adam Gruber in der Befragung durch den »Obersten Priester«74 in Winterthur am 19. November 1716. Diesen interessierte, von Gruber zu erfahren, »ob nicht eine Vorbereitung bey ihm vorgienge / ehe er in Insp. käme / und wie sie geschähe?« Gruber antwortete, »erstlich würde er in eine Stille gezogen: darnach fühlete er ein Feuer Gottes in seiner Seelen [. . .].«75 Vom Empfinden eines Feuers spricht auch Rock. Er schildert in seinem Erniedrigungs=Lauff, was in ihm als »Werkzeug« beim Aussprechen geschieht: »Durch Bewegungen wurde mir offtmahls wie eine Thür aufgethan / wann ich da hinein gienge / so kam ich zur Ruhe / in solcher Ruhe eröffnete sich offt ein Wort [. . .], aber es bliebe doch wie ein Kind im Mutterleib biß zur Ausgeburt. Offt werde schnell überfallen, daß ich mich selber nicht genug verwundern kan: manchesmahlen brennet ein wonnesames Feuer lang im Hertzen / da ich dann nur stille, ruhig und dem HErrn gelassen seyn muß, soll es recht gehen [. . .], so erhebt sichs nach und nach wie eine Flamme / und erfüllet die Brust / darzu kommt dann ein sanffter Wind oder Sausen [. . .] und so kommt es dann auch zur Aussprach.«76

Im ersten Augenzeugenbericht wurde die seltsame Begegnung des Tobias Pott mit dem halleschen Französischlehrer Marchand beschrieben. In der Ekstase 71 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 26f. 72 Historie II, 245 zufolge dauerte sie bei ihm längere Zeit: »14. Wochen lang war Er in der Zubereitung.« Vgl. auch Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 41. 73 Das Geschrey zur Mitternacht, o. O. 1715 [recte: 1716], Vorrede. 74 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 234. 75 Ebd., 235. 76 Johann Friedrich Rock, Zweyter Aufsatz des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf Erden, in: XII. Sammlung (1751), 156–224, hier 190f.

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stellten sie gemeinsam eine pantomimische Figur dar, die an Gänse oder Störche erinnerte. Die Inspirierten konnten in ihren Ekstasen Kontakte mit anderen Anwesenden herstellen und mit ihnen kommunizieren. Dieser Austausch gipfelte in gemeinsamen »Aussprachenharmonien«. Vom schon zitierten Johann Samuel Carl ist uns eine Beschreibung dieses gleichzeitigen und aufeinander abgestimmten ekstatischen Zusammenspiels überliefert worden: »Dazu kommt dieses angenehme und Verwunderungs=würdige Spectacul / daß offt zwey / drey / vier / auff einmal in die Inspiration kommen / und wie ein Harpffen=Spiel und ein Musicalisches Concert consoniren / ob sie schon noch so weit in der Stuben unter anderer Menschen Getöß / ja in zwey Stuben / von einander entfernet sind / daß sie auch ausser der Inspiration einander nicht vernehmen können. In der Inspiration ist das äussere Gehör / wie die andere Sinnen / so sehr verschlossen / daß sie sich selten viel erinnern / was in der Inspiration geredt und gethan worden. Demnach nehmen sie einander die Wort / Sylben / halbe Reden / aus dem Sinn und Hertzen / und führens völlig aus.«77

Als die Inspirierten im Herbst 1716 ihr viertes von insgesamt fünf Liebesmahlen feierten, waren es wiederum die Aussprachenharmonien, die Regie führten und den Ablauf des Festes bestimmten. Diese Mahle waren Höhepunkte der Inspiriertengemeinden. Nach einem Fast- und Bettag und weiteren Vorbereitungstagen fanden sich am 24. September 1716 74 Gäste auf der Ronneburg ein. Nach zahlreichen und sich abwechselnden Gebeten, Gesängen, stillen Andachten und Aussprachen der drei »Werkzeuge« Rock (R.), Gleim (Gl.) und Gruber (Gr.), die gleichsam die göttliche Dreieinigkeit zu symbolisieren schienen, steuerte die Feier auf die Fußwaschung und das anschließende Brotbrechen zu.78 Mit der Feier von Liebesmahlen und Fußwaschungen knüpften die Inspirierten an Gottfried Arnolds Schilderung des frühen Christentums in seiner Schrift Die Erste Liebe von 1696 an.79 Dabei stellte sich die Frage nach den Helfern: »[Gr.] Nun so wollen wir dann in dem Einigen als Drey in Eins seyn / werden und bleiben! [R.] Auf diesen Zuspruch habe ich lange gewartet; (Gl.) Und ich gebe mein Ja und Amen auch dazu. (. . .) (Gruber.) Aber wer wird dann heut noch ein Bediener der Liebe seyn? Welche seynd / die das Zeichen und Vorbild der Demüthigkeit verrichten sollen? (R.) Wer ist tüchtig und würdig / der Liebe ähnlich zu werden / oder ihrem Vorbild gleich? (Gl.) Will dann diese sich in mir zusammen verknüpffte dreyfache Schnur meinen Kindern solche Anweisung zur Liebe geben / und mich in ihnen bedienen? (Gl.) Sie ist bereit und willig dazu / und begehret nur von der Liebe ihr Ja=Wort zu haben. (Gr.) Nun so schicket euch dann darzu / es ist also mein Wille / 77 Johann Samuel Carl, Historische Umstände, o. O. 1715, 7. Vgl. auch Carls Zeugnis in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 15–20, hier 18. 78 Vgl. Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 83f. 79 Vgl. oben S. 97 (Anm. 77).

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spricht die Liebe / daß ihr solche Fußwaschung verrichtet. Aber was gebe ich euch vor drey Mitgehülffen zu? (Gl) Prüfe einmal aller ihre Liebe / die vor deinen Augen sich befinden / und erwehle dir solche Lieblinge / die es gern thun / denen es keine Last sondern ein Lust ist. (Gr.) Jst dann die Maye80 / die jung auffgeschossene Mäye willig dazu? und ist der Muth81 bereit? (Gl.) So wird der Anfang das Ende seyn / und wird sich dessen auch nicht weigern. (R.) Wo finde Jch aber Mägde die gerne dienen? (Gruber.) Meine ehmahlige Dienst=Magd wird sich wol dessen nicht schämen / wie auch das junge Mayen=Blümlein / ob es wol das Aeltere ist. (Gl.) Wen giebest du ihnen aber zu Gehülffinnen? (Gl.) Der einen / eine ihres Nahmes / der andern weiß Jch nicht / was Jch für ein (Gl.) Die Liebe wird es ja wohl wissen (Gr.) kleines Hertze zugeben solle? (Gl) Hast du dann nicht noch ein Rößgen / das dir möchet einen guten Geruch zu dem Mäyen=Blümlein geben?«82

In dem als »herrliche[n] Harmonie«83 bezeichneten gemeinsamen Aussprechen der drei »Werkzeuge« Gleim, Gruber und Rock, die sich ständig abwechselten, ergänzten und den Zustand ihrer Ekstase zunehmend vertieften, wurde der weitere liturgische Ablauf der Versammlung beschlossen. In Grubers Inspirationsrede wurden dessen ehemalige Dienstmagd und vermutlich Helena Meyer als Gehilfinnen vorgeschlagen. Sie wurden dazu bestimmt, bei den weiblichen Anwesenden die Fußwaschung vorzunehmen. Beispiele solcher konsonierender Aussprachenharmonien besitzen wir nicht nur von männlichen »Werkzeugen«. Im Himmlischen Abendschein selbst sind solche zwischen Rock und Meyer bezeugt.84 Gottlieb Scheuner fiel auf, dass die am vierten Liebesmahl anwesende Ursula Meyer keine Aussprache hielt.85 Die Vermutung, das Wirken bei einer solch herausragenden Feier sei an gewisse patriarchal-hierarchische Kriterien gebunden, wird ein Stück weit von der Tatsache widerlegt, dass Ursula Meyer beim letzten Liebesmahl im November 1716 eine wichtige Rolle als »Werkzeug« spielte.86 Alle uns überlieferten Inspirationsreden sind in der Landessprache gehalten worden.87 Wir verfügen nur über ein einziges, sehr frühes, glossolalisches Bei80 Gemeint ist vermutlich Helena Meyer. 81 Gemeint ist Mackinet, der »Muth« genannt wurde. Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 76. 82 Ebd., 28f. [Druckfehler im Original.] 83 Ebd., 22. 84 Vgl. HA, (Nr. 115) 272f., (Nr. 120) 281–284. 85 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 53: »U. Mayerin sprach nicht«. 86 Vgl. unten S. 183 u. 205. 87 Von Gleim heißt es, er hätte »viel in fremden Sprachen [geredet]«, Historie II, 245. Seine angeblich »äthiopische« Aussprache im Jahre 1716 konnte verständlicherweise nicht festgehalten werden. Vgl. Historie I, 244: Als die drei Gebrüder Pott und die Melchior ins Ysenburgische und Wittgensteinische kamen, seien auch »fremde Sprachen« geredet worden. Vgl. dazu J. J. Strohes Aussage: »Etliche wenige unter ihnen, haben neben der gabe der weißagung [. . .] auch die gabe mit frembden sprachen zureden [. . .].« Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23.9.1715 im Anhang [2., hier 2r].

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spiel der Inspirierten.88 Ulf-Michael Schneider weist darauf hin, dass die Aussprachen von der Glossolalie, dem Zungenreden, unterschieden werden müssen. Es seien zwei verschiedene Weisen des ekstatischen Sprechens, wobei erstere keines »nachgeschalteten Vermittlungsprozess[es]« bedürfe.89 Auch wenn die Aussprachen nicht rational gesteuert werden und überall – auch mitten auf einem Feld90 – sich einstellen konnten, gehören sie jeweils in einen bestimmten Kontext. So fällt auf, dass das »Werkzeug« nur in Anwesenheit anderer Aussprachen hielt. Dass die Erwartungshaltung der Zuhörenden oder das Sich-selbst-Produzieren-Wollen des prophetischen »Werkzeugs« eine Aussprache auch geradezu provozieren konnte, hält Rock in einem Tagebucheintrag deutlich fest: »Wie leicht es geschehen, da man sich wol zu früh heraus locken läst, etwa durch Aussprach=begierige Herzen, oder wan die Eigen=Liebe etwas seyn will, daß hernachmal ein unzeitig Wort herfür komt [. . .].«91 Die Inspirationsreden reagieren auf bestimmte Erlebnisse und Situationen; sie haben einen auslösenden Anlass und auch eine Absicht. Vor allem aber vertreten sie bestimmte theologische Überzeugungen und fordern gewisse religiöse Praktiken. Diese können jedoch nur in der Analyse konkreter Aussprachen eruiert werden. In der im nächsten Kapitel (IV) folgenden Beschäftigung mit den Aussprachen Ursula Meyers wird auf Inhalt, Intention und mögliche situative Funktion inspiratorischer Aussprachen eingegangen. Nachdem der Verlauf der prophetischen Aussprachen und ihre verschiedenen Erscheinungsformen beschrieben wurden, stellt sich die Frage nach möglichen psychologischen Ursachen für ihr Entstehen. Inspiration, Ekstase und Aussprachen sind Phänomene der allgemeinen Religionsgeschichte und nicht bloß des christlichen Abendlandes im 18. Jahrhundert.

88 Vgl. Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), 1: Am 21.5.1715 wurde dem »Werkzeug« nach dem Abendessen der Mund durch den Geist »eröffnet«, wobei folgende Worte gesprochen wurden: »Schetekoro. olahamanu. alaschemenetekora. rischema. schetebirekora. schenemenechora. schetechitichora. allaschetarischema. ollaminescheto. lischemona. ollaschaba. [. . .].« Die LeserInnen werden im Vorspann der Aussprache gebeten, sich zu melden, falls sie etwas von dieser »fremden Sprache« verstünden. Sie wurde nur vereinzelt, dafür ausgiebig, in den Anfängen gesprochen. Vgl. Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), 3, 17 u. 19 passim. Ebd., Vorrede (o. S.) wird diese fremde Sprache in Zusammenhang mit der erwarteten Bekehrung des Morgenlandes gebracht. Vgl. dazu Samuel König, Theologisches Prognosticon, Oder Erbauliches Gespräch zwischen Phosphorus und Eusebius, von dem bevorstehenden und von diesem 1717. Jahr an zu erwarten seyenden Untergang des Türckisch=Mahometischen Reichs / und anderen gewiß=künfftigen Dingen / Nach Anleitung der H. Prophetischen Schrifft / sondernlich des XXXI. Capituls Esaiae, [. . .] Büdingen 27.1.1717. 89 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 58. 90 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 77 u. 95 passim. 91 Johann Friedrich Rock, Zweytes Tag=Buch vom 27. Jenner biß 20. May des Jahres 1718, 179, in: XVI. Samlung (1772). Vgl. Historie II, 253.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen Deutun genzumEntsteh enderBew egungenundAu ssprachen

2. (Religions-)Psychologische Deutungen zum Entstehen der Bewegungen und Aussprachen »My slogan, if one is still necessary, is: let those who believe in spirits and posession speak for themselves!«92

Die mit dem Auftreten der inspirierten »Werkzeuge« verbundenen außerordentlichen Begleiterscheinungen, vor allem die normwidrigen Körperbewegungen als auch die Aussprachen, haben schon die Zeitgenossen nach Erklärungen dieser Phänomene fragen lassen. Neben der theologischen Alternative, hier die Wirkungen des göttlichen Geistes oder des Satans zu sehen, gab es auch damals schon Versuche, die Erscheinungen »natürlichen« oder »astralischen Kräfften« zuzuschreiben, nach den medizinischen Kenntnissen des 18. Jahrhunderts als Symptome des »morbus convulsivus« (Epilepsie) zu beschreiben93 oder jedenfalls als Krankheitssymptome, die durch eine starke Einbildungskraft mitbewirkt seien und bei denen wenigstens manchmal auch der Satan sein Spiel treibe.94 Der Semler-Schüler Heinrich Corrodi bezeichnete die Erscheinungen 1781 als »prophetische[n] Krankheit«95 bzw. »scheussliche Nervenkrankheit, die der Epilepsie sehr ähnlich«96 sei, schrieb von »lebhafter Imagination« und »reizbare[n] Nerven« und meinte: »Denn was vermag die Phantasie nicht, besonders im Nervensystem für Unordnungen herbeizubringen!«97 Dabei hielt Corrodi gleichzeitig fest, dass die »Werkzeuge« physisch vollkommen gesund seien: »Denn so wie die Verrichtungen des seelischen Lebens sehr wohl von statten gehen können, wenn gleich der Körper schwach und krank ist, so kann auch die Gesundheit unzerrüttet bleiben, das heißt das Geschäft der Verdauung, die Ausdünstung u.s.w. kann wohl von statten gehen, wenn der Mensch gleich ein Nachtwandler, ein Katalepticus, oder Gesichtseher, ja überall wahnsinnig, oder rasend, kurz, am Gehirn und den Nerven krank ist.«98 Auch in der Literatur über die Inspirationsgemeinden seit dem 19. Jahrhundert finden sich Ansätze, die Erscheinungen medizinisch oder psychologisch zu deu92 Ioan Myrddin Lewis, Ecstatic Religion. A Study of Shamanism and Spirit Posession, London/New York 21993, 25. 93 Vgl. dazu die Erörterung bei dem Mediziner Johann Samuel Carl, Historische Umstände (1715), 20ff. 94 Vgl. etwa Joachim Lange, Nöthiger Unterricht von unmittelbaren Offenbarungen, Halle 1715, 202ff. u. 211ff. 95 Heinrich Corrodi, Kritische Geschichte des Chiliasmus, Bd. 2, Leipzig 1781, 183. Vgl. zu diesem zunächst anonym erschienenen Werk Simone Zurbuchen, Heinrich Corrodi’s Critical History of Chiliasm (1781–1783), in: John Christian Laursen (ed.), Histories of Heresy in Early Modern Europe. For, Against, and Beyond Persecution and Toleration, New York/Hampshire 2002, 189–203. Auch E. L. Gruber kennt die Bezeichnung »Prophetische[n] Kranckheit (Morbus Propheticus)«, vgl. ders., Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 48. 96 Corrodi, Chiliasmus 2, 187. 97 Ebd., 161f. 98 Ebd., 189.

Deutungen zum Entstehen der Bewegungen und Aussprachen

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ten, obwohl dies meist nur in beiläufigen Bemerkungen geschieht. Max Goebel sprach 1860 im Zusammenhang der Inspirierten von »nervös=krankhaften Erscheinungen«.99 Matthias Benad legte 1982 einen psychoanalytisch orientierten Erklärungsversuch der ekstatischen Phänomene der Inspirierten vor.100 Bewegungen und Aussprachen sind bei ihm Folgen verdrängter Impulse. Die Inspirierten fallen in infantile emotionale Zustände zurück. Die psychische Kontrollfunktion ihres Ichs setzt dabei vorübergehend aus.101 Unterdrückte Triebenergien brechen durch und verschaffen sich ihr Recht.102 Die ekstatischen Phänomene sind Ausdruck der Regression. Der Ekstase kommt in dieser Deutung keinerlei eigenständiges Recht zu. Sie ist rein pathologisch, nämlich neurotisch motiviert. Daran anknüpfend wird die Verbreitung der ekstatischen Erscheinungen als »eine fast als epidemisch zu beschreibende ›Ansteckungswelle‹« bezeichnet.103 Fachwissenschaftliche Untersuchungen von Medizinern, Psychologen oder Psychiatern zu den Phänomenen, in denen die Cevennenpropheten als Vorläufer der Inspirierten »ihren eigentlichen Ausdruck – fast möchte man sagen: ihr Lebensprinzip«104 hatten, fehlen.105 Eine solche Analyse kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden, doch sollen nach einer kurzen grundlagenwissenschaftlichen Reflexion über psychologische Zugangsweisen zu religiösem Erleben und nach der inhaltlichen Bestimmung des Terminus »Ekstase« wenigstens einige Interpretationsmöglichkeiten und Modelle vorgestellt werden, die auch auf die spezifischen Aussprachen der Inspirierten angewendet werden können. Dass hier eigens nach möglichen psychologischen Ursachen für das Entstehen der Aussprachen der Inspirierten-»Werkzeuge« gefragt werden soll, spiegelt zweierlei: einerseits die eigene nach-aufklärerisch-rationalistisch und protestantisch geprägte kulturelle Situation, die ekstatischen Phänomenen besonders skeptisch begegnet, sie für erklärungsbedürftig hält und sie allzu schnell als Symptome psychischer Störung von sich weist.106 In dem Sinne verrät die Fragestellung

99 Goebel, Geschichte des christlichen Lebens 3, 133. 100 Vgl. Matthias Benad, Ekstatische Religiosität und gesellschaftliche Wirklichkeit. Eine Untersuchung zu den Motiven der Inspirationserweckung unter den separatistischen Pietisten in der Wetterau 1714/15, in: PuN 8 (1982), 119–161. 101 Vgl. ebd., 159. 102 Vgl. ebd., 148–150. 103 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 25. 104 Knox, Schwärmertum, 320. 105 Der Psychiater Paul Krauß hat ein Lebensbild Rocks gezeichnet, vgl. ders., Rock. Vgl. aber auch Mark J. Cartledge, Charismatic Glossolalia. An Empirical-Theological Study, Hampshire 2002, 218: »The historical literature on charisma, and glossolalia in particular, is weak.« 106 Vgl. E. Schick, Ekstase im Protestantismus, in: Th. Spoerri (Hg.), Beiträge zur Ekstase (Bibliotheca Psychiatrica et Neurologica 134), Basel/New York 1968, 30–52; Christian Henning, Zankapfel Psychoanalyse. Ein Rückblick auf das gespannte Verhältnis von evangelischer Theologie und Psychologie im 20 Jahrhundert, in: ders./Erich Nestler (Hg.), Religionspsychologie heute (Einblicke. Beiträge zur Religionspsychologie 2), Frankfurt a. M. u. a. 2000, 67–102, hier 94.

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eigene kulturell und religiös-konfessionell geprägte Wertungen.107 Andererseits spiegelt die hier gestellte Frage nach möglichen psychologischen Ursachen der Aussprachen den Wunsch, perspektivische Verengungen – etwa durch die von Karl Barth erfolgreich vertretene Dichotomie von Offenbarung und Religion und die Abwertung der Position der Religionsgeschichtlichen Schule als »Religionismus« – durch interdisziplinäres Vorgehen zu verringern. Auch wenn Grenzen, Inhalt und Selbstverständnis religionspsychologischer Forschung aufgrund ihres Theoriedefizits108 noch nicht geklärt sind, unterschiedlichste Deutungsansätze existieren und gleichzeitig »ein akuter religionspsychologischer Wissensnotstand«109 allgemein konstatiert wird, gehört die Beschäftigung mit religiösem Verhalten und Erleben in ihren Kompetenzbereich. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach den psychologischen Möglichkeiten und Grenzen, religiöse Phänomene überhaupt wahrzunehmen.110 Wie die Theologie findet auch die religionspsychologische Forschung in den USA und in Europa im Kontext einer nachaufklärerischen »science community« statt. Die Religionspsychologie entstand als eigener Wissenschaftszweig erst vor gut hundert Jahren in Nordamerika und war in den deutschsprachigen Ländern Europas bis vor kurzem mit keinem einzigen Lehrstuhl vertreten.111 Die Psychologie hat die anthropologische Relevanz sowohl religiöser und spiritueller Fragen als auch religionspsychologischer Einsichten lange Zeit unterschätzt.112 Die jahrzehntelange Konzentration auf quantitative und methodenorientierte Forschung innerhalb der Psychologie vermochte die irrationale, transzendente Dimension des Religiösen nicht mit einzubeziehen und trug bei zur »permanente[n] Krise«,113 in der sich die Religionspsychologie als moderner Wissenschaftszweig befindet. Streng genommen verbietet sich jeder empirischen Sozialwissenschaft die Annahme einer transzendenten Wirklichkeit – genauso wie deren Ablehnung. Von hier aus ergibt sich eine grundlagenwissenschaftliche Spannung, denn »während die Theologie eine religiöse Bindung an den vorgegebenen Forschungsgegenstand [. . .] aufweist, versuchen die Religionswissenschaft, die Religionsphilosophie und die Religionspsychologie ihrem Forschungsgegenstand wissenschaftlich distanziert 107 Vgl. dazu die These von Jean-Claude Schmitt, »dass eine Gesellschaft sich in der Einstellung zu ihren Randzonen als ganze enthüllt.« Ders., Geschichte der Außenseiter, 236. 108 Vgl. R. W. Hood/B. Spilka/B. Hunsberger/R. Gorsuch, The Psychology of Religion. An Empirical Approach, New York 21996, 320. 109 Michael Utsch, Religionspsychologie. Voraussetzungen, Grundlagen, Forschungsüberblick, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 15. 110 Lange Zeit klassisch blieb die u. a. von Jean Benoit formulierte These: »La psychologie religieuse ne décrit qu’une forme, un mécanisme. La réalité de l’action divine reste en dehors de son domaine.« 111 Vgl. Siegfried Rudolf Dunde, Religionspsychologie, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der Religionspsychologie, Gütersloh 1993, 235–244, hier 235. 112 Vgl. Utsch, Religionspsychologie, 14f. 113 Ebd., 236.

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und neutral gegenüberzutreten.«114 Erst dank der hermeneutischen Einsicht, dass es keine voraussetzungslose Forschung gibt, dass jede Wissenschaft mit Thesen arbeitet und so auch die Annahme einer transzendenten Wirklichkeit eine zwar besondere, aber legitime These ist, und »jede Theorie potentiell eine Teilansicht des komplexen, multidimensionalen psychologischen Phänomens der Religiosität [bietet]«,115 beginnt sich das gespannte Verhältnis zwischen Theologie und Religionsforschung langsam zu entkrampfen. Die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Prämissen können vermehrt als anregende Ergänzung zur Kenntnis genommen werden. Der interdisziplinäre Dialog steht in seinen Anfängen. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Aussprachen der Inspirierten nicht aufgrund ihrer phänomenologischen Nähe zu psychopathologischen und parapsychologischen Erscheinungen als krankhaft zu deuten116 und einem »medizinischen Materialismus«117 zu verfallen, sondern sie als eigenständige religiöse Äußerungen ernst zu nehmen, die in einer langen – auch biblischen – Tradition stehen.118 Gerade kirchenhistorische Forschung wird sich angesichts der Verbreitung und der konstitutiven Bedeutung ekstatisch-enthusiastischer Erscheinungen schon im frühen Christentum,119 in der mittelalterlichen Mystik, aber auch z. B. in den Anfängen katholisch-apostolischer Gemeinden120 und der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten mit ih114 Ebd., 184. 115 Ebd., 38. 116 Heute gilt: »In Grenzbereichen zwischen Psychopathologie und Religion bedarf es umfassender Kenntnisse, unvoreingenommener Offenheit und Weitsichtigkeit, sowie einfühlender Sensibilität, um dem Individuum gerecht werden zu können.« Ernst Plaum, Religion aus persönlichkeitspsychologischer Sicht, in: Edgar Schmitz (Hg.), Religionspsychologie, Göttingen u. a. 1992, 25–63, hier 39. 117 Owe Wikström forderte schon vor zwanzig Jahren »a broader understanding« enthusiastischer Phänomene. »With reductivist zeal one regards multi-dimensional experiences such as mysticism, conversion or prayer as the result of primarily biological drives. [. . .] To declare that possession experiences are ›nothing but‹ psychosis, mania, epilepsy or schizophrenia, are examples of this type of over-simplification. The same can be said of the assertion that possession is ›nothing but‹ an obsessive neurotic symptom. I maintain, rather, that one must attempt to produce a multi-factoral model for explanation.« Owe Wikström, Possession as a Clinical Phenomenon. A Critique of the Medical Model, in: Nils G. Holm (ed.), Religious Ecstasy, Stockholm 1982, 87–102, hier 100f. 118 Vgl. A. Müller, Art. Ekstase, in: HWP 2, Basel 1972, 434f.; Gunnel André, Ecstatic Prophesy in the Old Testament, in: Nils G. Holm (ed.), Religious Ecstasy, Stockholm 1982, 187–200. 119 Vgl. Knox, Schwärmertum; Christopher Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and its Hellenistic Environment (WUNT 2/75), Tübingen 1995. 120 Zur Entstehungsgeschichte dieser Gemeinden, die fälschlicherweise häufig nach ihrem bekanntesten Prediger Edward Irving (1792–1834) als Irvingianer bezeichnet werden, gehört die prophetische Berufung von zwölf Aposteln zwischen 1832 und 1835 in England, die das nahe Weltende verkündigten und die urchristliche Gemeinde wieder aufzurichten trachteten. Vgl. Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 42000, 21–54.

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rer im visionären Zustand aussprechenden Ellen Gould White (1827–1915)121 oder modernen charismatischen Bewegungen wie etwa den Pfingstgemeinden gegen ein reduktionistisches Verständnis solcher Phänomene als pure Folge innerpsychischer Mechanismen und gegen ihre pauschale Pathologisierung zur Wehr setzen.122 Religiosität kann nicht in der Bestimmung ihrer psychologischen Funktionalität aufgehen. Im Sinne von Manfred Josuttis, der im Gefolge Rudolf Ottos auf die religionsphänomenologische Kategorie des Heiligen zurückgreift, soll an »einer eigenständigen Realität des Heiligen, die stets vorhanden, aber nicht immer fassbar oder erlebbar ist, weshalb theologische oder sozialwissenschaftliche Kategorien allein ihr nicht gerecht werden können«,123 festgehalten werden. Diese Realität bildet letztlich den angemessenen Referenzrahmen religiösen Erlebens, gewährleistet den nötigen Respekt vor subjektiven religiösen Erfahrungen und schützt vor der Gefahr, sich des Unverfügbaren bemächtigen zu wollen. Da in der wissenschaftlichen Spezialliteratur über die Inspirationsgemeinden Übereinstimmung darüber herrscht, dass sowohl die oben geschilderten normwidrigen Körperbewegungen als auch die Aussprachen zu den Phänomenen ekstatischen Ursprungs gerechnet werden,124 soll hier der Ausgangspunkt genommen werden. Die in der Umgangssprache meist willkürliche Verwendung des Begriffs Ekstase korrespondiert mit dem in wissenschaftlicher Fachliteratur indifferenten Subsumieren der verschiedensten außergewöhnlichen Zustände der menschlichen Psyche und Physis unter Ekstase.125 Vom griechischen ékstasis (Heraustreten) abgeleitet, bezeichnet der Terminus »zunächst eine Ortsveränderung, dann auch ein Nicht-bei-sich-sein oder ein Außer-sich-sein.«126 Im Lateinischen mit alienatio übersetzt, wird lange das räumlich-örtliche Fremdsein gewichtet. Wird Ekstase 121 Vgl. ebd., 350–408. 122 Vgl. Peter Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen. Theologie – Spiritualität – Anstöße zum Gespräch, Göttingen 2001, hier v. a. 119–134. 123 Isabelle Noth/Heinz Rüegger, Pastoraltheologie auf dem Weg in die verborgenen Zonen des Heiligen. Ein Gespräch über: Manfred Josuttis, Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996, in: EvTh (1998/4), 319–324, hier 319. 124 Vgl. z. B. Goebel, Art. Inspirirte und Inspirationsgemeinden, in: REC 6 (21880), 764–769, hier 769; Scheig, Wetterauer Inspirantenbewegung, 93; Benad, Ekstatische Religiosität; Schneider, Inspirationsgemeinden, 145f.; ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 145f.; UlfMichael Schneider, Propheten, 24 passim. Schon Zeitgenossen rechneten die Erscheinungen der Inspirierten zu den ekstatischen Phänomenen, vgl. Ein unpartheyisches Urtheil, Von Den heutigen so genannten INSPIRIRTEN, Und von denen, Die so wohl vor als wieder sie geschrieben haben, Jnsonderheit Zwey wiedrige so titulirte Christliche Bedencken betreffend; Aufgesetzt von einem Liebhaber der Wahrheit, o. O. 1716, 8: »Eben so kan es den Inspirirten auch ergangen seyn, und noch ergehen, wenn sie in Ecstasi gewesen, und sich in sehr starcken Bewegungen der Glieder und Gebärden verstellet.« 125 Vgl. Hartmut Zinser, Art. Ekstase, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 253–258, hier 253f. 126 Zinser, Art. Ekstase, 254. Vgl. dazu II Kor 12,2.

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als »state[s] of altered consciousness«127 verstanden, wie es u. a. Ioan Myrddin Lewis in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Rahmen der Schamanismusforschung formuliert hat, werden Ursprung und Ort ekstatischer Erlebnisse im menschlichen Bewusstsein angesiedelt.128 Diese Definition legt das Gewicht auf das Moment kognitiven Anders- und Ungewöhnlichseins. Ihr Standort ist der des Betrachters. Das Normative bestimmt ein Verhalten als ekstatisch. Dem trägt die weit gefasste »Beziehungsdefinition«129 von Lewis, die sich inzwischen durchgesetzt hat, Rechnung. Ekstase ist folglich zunächst eine Zuschreibung von außen. Es ist »ein Ausgrenzungsbegriff, mit dem alle Verhaltensweisen, alles Denken, das sich den herrschenden Vorstellungen nicht anpasst, bestimmt und meist abgewehrt werden soll.«130 Dabei gehören Ekstasen als veränderte Bewusstseinszustände ganz allgemein in den größeren Zusammenhang menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten.131 Es gibt keine Kultur, der ekstatische Erfahrungen fremd geblieben wäre. Dabei muss jede ihren eigenen Umgang mit ihnen finden.132 Neben ekstasefeindliche und -regulierende soziale Ordnungen treten solche, in denen gewisse ekstatische Zustände und Erfahrungen als Phänomene eigenen Rechts kulturell akzeptiert bzw. integriert werden. Da eine Erfahrung immer nur im Vergleich zu anderen – nämlich alltäglichen – Erfahrungen ekstatisch genannt werden kann, setzt das Verwenden des Begriffs »Ekstase« die Kenntnis des jeweiligen religiösen bzw. sozio-kulturellen Umfelds voraus. Erst die gesellschaftliche Deutung, die jeweilige »Diskurs- und Diskussionsgemeinschaft«,133 macht Verhaltensweisen und Erfahrungen zu ekstatischen Phänomenen. »Denn was hielten wir, wo nichts alltäglich ist, für besonders?«134 Ekstasen sind demnach auch Tradierungs- und Rezeptionsphänomene. Die langjährige Erforscherin ekstatischer Zustände Felicitas D. Goodman unterscheidet im ekstatischen Erleben zwischen einer neurophysiologischen und einer psychologischen Komponente, wobei erste transkulturell überall gleich bleibe, während letztere kulturgebunden sei.135 Goodmans Differenzierung basiert auf ihren transkulturellen statistischen Erhebungen, die folgende 127 Lewis, Ecstatic Religion, 34. 128 Vgl. Hans Wißmann, Art. Ekstase, in: TRE 9 (1982), 488–491, hier 491. 129 Zinser, Art. Ekstase, 255. 130 Ebd. 131 Vgl. Hans-Jürgen Fraas, Anthropologie als Basis des Diskurses zwischen Theologie und Psychologie, in: Christian Henning/Erich Nestler (Hg.), Religionspsychologie heute (Einblicke. Beiträge zur Religionspsychologie 2), Frankfurt a. M. u. a. 2000, 105–121. Vgl. auch Heinrich Schlier, Art. ekstasi™, in: ThWNT 2 (1935), 447–456, hier 447: »Ausnahmezustände des Seelenlebens, die auf supranaturale Ursachen zurückgeführt werden, sind in der ganzen Menschheit verbreitet.« 132 Vgl. Jürg von Ins, Ekstase, Kult und Zeremonialisierung, Zürich 1979, 62. 133 Vgl. Ernst Axel Knauf, Prophetie und Dissidenz, in: Ref. (2001/4), 200–204, hier 203. 134 Von Ins, Ekstase, 55. 135 Vgl. Felicitas D. Goodman, Art. Ekstase, in: Dunde (Hg.), Wörterbuch, 62–67, hier 62–64.

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mit den Inspirationsphänomenen übereinstimmende neurophysiologische Veränderungen während ekstatischen Zuständen nachwiesen:136 Erregung, Zittern, Zuckungen, gespannte Muskulatur sowie katatonieartige Starre als Reaktionen auf das Absinken des Blutdrucks bei gleichzeitigem Pulsanstieg.137 Hirnstromuntersuchungen ergaben Thetawellen, die sonst nur beim Einschlafen auftreten.138 Die tiefe in und nach der Ekstase empfundene Entspannung trage zur Heilung psychischer und physischer Leiden bei. Das im Gehirn produzierte Beta-Endorphin bewirke das euphorische Wohlgefühl.139 Eberhard Ludwig Gruber sprach von einer »angenehmen Warmwerdung des Herzens«,140 und Pfarrer Schlierbach hielt in seinem Augenzeugenbericht fest, dass die Inspirierten auf seine Frage, ob ihre Bewegungen sie nicht schmerzten, antworteten, »sie seye ihnen alß eine medicin«.141 Blasius Daniel Mackinet hielt in seinem Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration vom 25. Oktober 1749 genau diese Wirkung der Bewegungen der Inspirierten fest: »So entsetzlich die Leibes=Bewegungen offt waren, so waren sie doch dem Leibe nicht schädlich, sondern dienten ihnen offt zur Artzney, wann sie kranck waren; wie dann einmahl, da ein werckzeug auf der Reyse zu Halle in Sachsen sehr kranck an der Ruhr darnieder gelegen, und sehr schwach am gantzen Leibe war, so hat er einsmahls unversehens zum Schrecken aller, die zugegen waren, sehr hefftige Bewegungen bekommen, und in der Aussprach bekam er mit den Seinen Reyse=Ordre, darüber sie sich alle verwunderten, nach der Aussprach stund er auf, und war gesund zur selben Stund, den andern Tag reyseten sie ab.«142

Nun kann nicht nur das außerordentliche Glücksgefühl, das sich in und nach ekstatischen Erfahrungen einstellt, durch pharmakologische Mittel künstlich induziert werden und ganz profan dem eigenen Lustgewinn dienen,143 sondern ekstatische Zustände und Erlebnisse als solche lassen sich auf chemischem Wege erzeugen. Dabei sind sie phänomenologisch nicht von Ekstasen zu unterscheiden, die sich erst nach jahre- und jahrzehntelangem asketischem Üben einstellen.144 Interpretationen ekstatischer Erlebnisse müssen sich also nicht an 136 Vgl. dazu Eberhard Ludwig Grubers Beschreibung der äußeren und inneren Bewegungen der Inspirierten in: ders., Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 38–45. 137 Vgl. ebd., 39: »Schlottern der Knie / Zittern der Beine / Erschütterung [. . .] des gantzen Leibs« u. 40: »Spannens / Ziehens und Dehnens / von innen durch den gantzen Leib«. 138 Vgl. Felicitas D. Goodman, Trance – der uralte Weg zum religiösen Erleben. Rituelle Körperhaltungen und ekstatische Erlebnisse, Gütersloh 1992, 21–24. 139 Vgl. Goodman, Ekstase, 63. 140 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 39. 141 Vgl. oben S. 123. 142 Mackinets Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration, 133f. 143 Vgl. dazu etwa Aldous Huxleys berühmtes Werk: The Doors of Perception, London 1954. 144 Vgl. Burkhard Gladigow, Ekstase und Enthusiasmos. Zur Anthropologie und Soziologie ekstatischer Phänomene, in: Hubert Cancik (Hg.), Rausch, Ekstase, Mystik: Grenzformen religiöser Erfahrung, Düsseldorf 1978, 23–40, hier 34.

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einen religiösen Referenzrahmen halten.145 Dass es sich aber bei Ekstasen um Höhepunkte primär religiösen Erlebens handelt, die sich sowohl spontan einstellen als auch bewusst und gezielt gesucht werden können, darin sind sich religionspsychologische Versuche der Klassifizierung und Schematisierung religiöser Erfahrungen einig. Ekstasen werden »meist für die eindrucksvollste [. . .] Darstellung der Anwesenheit Gottes [. . .] im Menschen gehalten.«146 Auch wenn die ekstatische Person kein eigenes Mitwirken wahrnimmt, so scheinen dennoch nur dafür besonders sensibilisierte Menschen zur Ekstase fähig zu sein.147 Ihre psychische und religiöse Disposition muss im Zusammenhang mit den auslösenden Faktoren ekstatischer Zustände gesehen werden: Basale biologische Auslöser ekstatischer Reaktionen scheinen sozialen und kulturellen zu entsprechen.148 Können etwa Hunger, Durst, Krankheit, körperliche Erschöpfung und andauernder Schmerz ekstatische Phänomene initiieren, so auch Enttäuschungen, »soziale Belastungen, Isolation, Unterdrückung, Verlust des Selbstwertgefühls, Schmerz und Leid«.149 Dabei kommt der Ekstase die Funktion zu, das Individuum vorübergehend vom Druck der Realität zu entlasten. Sein sozio-kulturelles bzw. religiöses Umfeld mit seinen Normen und Werten wird im ekstatischen Erleben durchbrochen. Die ekstatische Person wird auch unempfindlich gegen bestimmte äußere Reize und fühlt sich befreit. So verwundert es nicht, dass sich – so die soziologische Studie »Ecstatic Religion« von Ioan M. Lewis – vor allem gesellschaftliche Außenseiter und Randgruppen, insgesamt die Klasse der Benachteiligten, im Kreise der Ekstatiker vorfinden.150 Mit dem Herausgehobensein stellt sich bei ihnen ein Gefühl der Harmonie, der Entspannung und des Friedens ein. Der euphorische Zustand, der ekstatische Erlebnisse auszeichnet, lässt sich auch technisch mit gehirnbeeinflussenden Methoden provozieren und durch rituelle Wiederholung steigern. Neben Fasten, Überanstrengungen, sexuelle Enthaltsamkeit151 und Schlafentzug treten Tanz, Trommeln, Gesang und Gebet.152 145 Vgl. ebd., 27f. 146 Ioan M. Lewis, Art. Ekstase, in: RGG4 3 (1999), 1186–1188, hier 1186. 147 Vgl. Wißmann, Art. Ekstase, 491. 148 Lewis unterscheidet zwischen »sensorische[r] Deprivation« (»Traumata, Stress, Krankheit«) und »Überreizung oder sensorische[r] Überladung« (»extrem laute Musik, blitzende, verwirrende Lichter, allg. akustisches und visuelles Bombardement, Über-Atemtechniken«). Lewis, Art. Ekstase, 1186. 149 Gladigow, Ekstase, 26. 150 Vgl. Lewis, Ecstatic Religion, 161 passim. 151 Vgl. Kaj Björkqvist, Ecstasy from a Physiological Point of View, in: Nils G. Holm (ed.), Religious Ecstasy, Stockholm 1982, 74–86, hier 77: »That celibacy can also be considered as a ›physiological‹ ecstasy technique has been almost overlooked by the psychologists of religion.« Zur sexuellen Enthaltsamkeit als Auslöser ekstatischer Erlebnisse passt es, dass mehrere »Werkzeuge« der Inspirierten nach ihrer Heirat keine Aussprachen mehr hielten. Zu Pott und Melchior vgl. oben Anm. 9 und zur Matthes vgl. oben Kap. II.1.2.2. 152 Vgl. Fraas, Religiosität, 117.

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Die unbeherrschten körperlichen Bewegungen sind Reaktionen darauf, dass moralische Hemmschwellen vorübergehend gelockert bzw. geltende Normen aufgehoben werden. Gladigow weist jedoch darauf hin, dass »im temporären Abbau der kulturell erworbenen Verhaltenssteuerungen [. . .] Hyperkinesen der allgemeinen Motorik und deviante Verhaltensweisen nur vordergründig die auffallendsten Erscheinungen [sind]; weit wichtiger ist, daß im Bereich der Sensitivität unterdrückte und deformierte Eigenqualitäten in verschiedenen Richtungen gleichzeitig freigesetzt werden.«153 Im »Außersichsein« erfährt die ekstatische Person eine Übersteigerung ihrer Sensibilität, Emotionalität und Affektivität. Im überwachen Bewusstseinszustand154 vernimmt sie Dinge, die ihr im Alltagsbewusstsein unzugänglich sind. Sie erwirbt z. B. kardiognostische Fähigkeiten und sieht, was fremde Herzen bewegt.155 Zudem entwickelt sie telepathische Fähigkeiten. Blasius Daniel Mackinet z. B. erwähnt, dass die Inspirierten bevorstehendes Leiden sowohl physischer als auch psychischer Art im Voraus körperlich oder mental zu spüren bekamen. Ganz allgemein »konte keiner vor dem andern was verborgenes thun, das der andere nicht wissen oder doch ein Gefühl davon haben solte.«156 Gerade diese Fähigkeit bewirkte bei manchem Gegner – zumindest vorübergehend – ein Umdenken.157 Den Enthusiasmus bzw das Gefühl des Erfülltwerdens mit dem »Geist« Gottes charakterisiert Gladigow als »indirekte Strategie des Protests«. In streng hierarchisch gegliederten Gesellschaften bedeute nämlich die Fremdbesetzung durch einen Geist häufig die einzige Möglichkeit, »in der Unterschichten oder Außenseiter ihre Lage manifest machen können.«158 So zählt Gladigow zu den »strukturtypischen Merkmale[n]« ekstatischer Erfahrungen die »Negation von Orthodoxien und Hierarchien«.159 Auch Lewis weist darauf hin, dass ekstatische Erlebnisse »meist mit Subjekten in Verbindung gebracht werden, die – 153 Gladigow, Ekstase, 26. 154 Zur gesteigerten Bewusstseinslage in der Ekstase vgl. R. Wolf, Zur Phänomenologie und Psychologie ekstatischer Ausnahmezustände, in: Allg. Zs. für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 125 (1949), 284–302, hier 298. 155 Vgl. Friedrich Heiler, Art. Erlebnis, religiöses. I. Religionswissenschaftlich, in: RGG3 2 (1986), 569–571, hier 571; Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 104. Vgl. Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), Vorrede (o.S.), wo berichtet wird, das »Werkzeug« [sc. Johann Carl Gleim; IN] hätte »seines Bruders unerkannte Jugend=Sünden zu erinnern angezeigt« u. 309: »[. . .] alß wir im schreiben begriffen waren / kam das Werckzeug abermahl in Insp[iration] und muste der Frau Kochin ihren Zustand mit folgenden Worten an den Tag legen [. . .]«. Vgl. auch Carl, Historische Umstände, 7. 156 Mackinets Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration, 132. 157 Vgl. etwa Wohl und Weh (1719), 43. Die Fähigkeit zeigt sich immer wieder, etwa auch in der Aussprache Rocks vom 9.9.1718 an einen ihm unbekannten Schweizer. Vgl. ebd., 239f. u. 242. 158 Gladigow, Ekstase, 38. 159 Ebd., 40.

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individuell oder kollektiv – ansonsten innerhalb ihres sozialen Kontextes eher Machtlosigkeit erfahren. Ekstase kann dann teils angesehen werden als ein Versuch zur Machtgewinnung – wie es bei weiblichen Ekstatikern in vielen traditionellen patriarchalischen Gesellschaften der Fall ist.«160 Den bisherigen ausgewählten – v. a. individualpsychologischen – Interpretationen ekstatischer Phänomene ist gemeinsam, dass sie diese stets als Ausdruck eines Mangels begreifen. Die jeweiligen Interpreten nehmen dabei alle den Standpunkt des Beobachters ein. Aus der Feststellung, dass vor allem gesellschaftlich Randständige unter den ekstatischen Personen anzutreffen sind – d. h. von der diskursiven Macht Ausgeschlossene, zu denen außer Laien, die am kirchlichen Diskurs nicht teilnehmen können, natürlich auch Frauen gehören, denen weitere Herrschaftsmittel wie z. B. Wissensaneignung vorenthalten werden –, wird abgeleitet, dass ekstatische Phänomene Folge eines Defizits sind. Dieses wird entweder in einer minderen sozialen Stellung, in ungenügenden Einfluss- und Bildungsmöglichkeiten, oder in einer nur beschränkten gesellschaftlichen Integration gesehen.161 Es wird suggeriert, dass bei genügender gesellschaftlicher Macht solche Phänomene nicht existierten. Es gelingt nicht, diese Erscheinungen als vollwertige Ausdrucksformen gelebter Religiosität, von denen gerade auch die christliche Kirchengeschichte von Anfang an wertvollste Prägungen erlebte, zu würdigen.162 In der Beurteilung ekstatischer Phänomene offenbart sich deutlich die jeweils eigene kulturelle Kontextgebundenheit. Es stellt sich die Frage, ob von einer bürgerlichen, nachaufklärerischen, typisch westeuropäischen Optik her der Zugang zu solchen sinnlichen Formen gelebter Religion versperrt bleibt und ob nicht vielmehr das Fehlen solcher Phänomene auf einen Mangel hinweist als umge-

160 Lewis, Art. Ekstase, 1187. 161 Vgl. dazu auch Walter J. Hollenweger, Funktionen der ekstatischen Frömmigkeit der Pfingstbewegung, in: Spoerri, Beiträge, 53–72, hier 69: Die Funktion des enthusiastischen Gottesdienstes bestehe »in der Überwindung dieses Gefühls der Entbehrung (Statusinkongruenz, Einsamkeit [. . .], Benachteiligung, mangelndes Anpassungsvermögen im kulturellen oder sittlichen Bereich) [. . .].« 162 Vgl. etwa Elaine C. Huber, Women and the Authority of Inspiration. A Reexamination of Two Prophetic Movements From a Contemporary Feminist Perspective, Lanham/New York/London 1985, die sich aus feministischer Sicht mit dem Montanismus und Anne Hutchinson befasst. Der in der Mitte des 2. Jh.s in Phrygien entstandene Montanismus, den Tertullian »die neue Prophetie« nannte, gehört gewiss zu den frühesten Bewegungen, in denen auch Frauen als Offenbarungsträgerinnen eine wichtige Rolle spielten. Betont wurde auch hier das Unvermögen der »Werkzeuge« der überwältigenden Macht des Geistes etwas entgegenzuhalten. Vgl. Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 2 1964, 182f. Vgl. dazu auch Marco Frenschkowski, Art. Vision (V. Kirchengeschichtlich), in: TRE 35 (2003), 137–147, hier 137: »Die Erfahrungskategorie Vision [. . .] gehört zu den Konstanten der Kirchengeschichte« u. 144: »Spätestens seit Kant existieren Visionen im protestantischen mainstream meist nur noch gesellschaftlich marginalisiert bzw. pathologisiert. [. . .] Damit verlieren Theologie und Bildungskultur den Kontakt zum visionären Erfahrungsraum.«

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kehrt. Eine Neubewertung ekstatischer Phänomene förderte weiter eine positive Verbindungslinie vom radikalen Pietismus etwa zu modernen Pfingstbewegungen zu Tage.163 Anders als in den bisherigen defizitorientierten Deutungen ekstatischer Phänomene möchte ich an die beeindruckende Selbstkritik Hermann Gunkels in seinem Vorwort zur zweiten Auflage seines Werks über »die Wirkungen des heiligen Geistes« anknüpfen.164 Gunkel betont die Notwendigkeit, die Position des von ihm zuerst eingenommenen »fremden, hinzukommenden Beobachters« zu verlassen und »die inneren Zustände des Pneumatikers nachzuerleben [. . .], dem Pneumatiker nachzufühlen.«165 Erst dann können Ekstasen als Ausdruck seltener religiöser Erfahrungen wirklich gewürdigt werden, die »in besonderen Zeiten und Personen [. . .] wieder ans Licht der Geschichte« kommen.166 Im Anschluss an Gunkels Selbstkritik sollen Ekstasen in dieser Untersuchung nicht als Ausdruck irgendeines Defizits verstanden werden, sondern als eigenständige Form von Religiosität, die in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext gelebt wird. Ausgehend von der Annahme, dass die entscheidende psychische und religiöse Disposition von ekstatischen Personen in ihrer »psychische[n] Grundtendenz, die Grenzen des Selbst zu sprengen«167 liegt, ist auch klar, »daß der soziale Kontext von ekstatischen Phänomenen, was ihre Provokation wie auch ihre Rezeption angeht, die eigentlich wichtige Bezugsebene ist, nicht aber eine Authentizität der ekstatischen Erfahrung oder, anders gewendet, der höhere oder niedere Wert der mythischen Erfahrung.«168 Ekstasen haben die »Funktion, an kritischen, entscheidenden Stellen Wirklichkeit neuzuentwerfen oder zu rekonstruieren«169 – eine Wirklichkeit, zu denen an den Rändern Stehende offenbar leichter Zugang finden als andere. Die »außer-normalen Zustände[n]« ekstatischer Personen »öffnen den Blick für außergewöhnliche Wirklichkeitsaspekte.«170 Was sich in den unbeherrschten Körperbewegungen nonverbal äußert, kommt in den Aussprachen zu Worte. In ihnen artikulieren und verdichten sich die Anliegen des radikalpietistischen Separatismus, die anhand der Textanalyse von Ursula Meyers prophetischen Aussprachen noch zu eruieren sind.

163 Siehe unten: Rückschau und Ausblick. 164 Hermann Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-theologische Studie, Göttingen 21899. 165 Ebd., IV. 166 Ebd., V. 167 Fraas, Religiosität, 116. 168 Gladigow, Ekstase, 37. 169 Ebd., 40. 170 Gerd Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 282.

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3. Die schriftliche Aufzeichnung der Aussprachen und ihre Veröffentlichung im Druck Wann und in welcher Situation eine Aussprache erfolgte und wann sie unterblieb, konnten selbst die inspirierten »Werkzeuge« weder voraussehen noch beeinflussen. Gerade ihre Spontaneität und Unberechenbarkeit sind konstitutive Merkmale der prophetischen Inspirationsreden. Dass sie trotz ihrer Nichtplanbarkeit und trotz des damaligen Fehlens technischer Aufnahmegeräte nicht unwiederbringlich verloren gingen, sondern erhalten blieben und uns überliefert wurden, verdanken wir der Tatsache, dass sog. »Protocollisten«171 die »Werkzeuge« der Inspirationsgemeinden rund um die Uhr begleiteten. Diese Schnellschreiber standen ständig bereit, um mögliche Äußerungen des »Heiligen Geistes« durch das »Werkzeug« jederzeit wortwörtlich protokollieren zu können. Sie führten regelrechte »Tage=Register [. . .] worin alle auf der Reise geschehenen Aussprachen nebst allen historischen Umständen enthalten«172 waren. Die jeweiligen Begleiter der »Werkzeuge«, die mit auf ihre Reisen gingen und ihre Aussprachen schriftlich festzuhalten hatten, wurden in der Inspirations-Ekstase selbst bestimmt.173 Die Wahl der Begleiter war eingebettet in einen langwierigen Prozess. Seine verschiedenen Phasen sollen am Beispiel der Aussprachen, die nach dem vierten Liebesmahl am 24. September 1716 auf der Ronneburg die Reise in die Schweiz vorbereiteten, kurz dargestellt werden. Am Samstag, dem 26. September 1716 »bezeugete der Geist der Weissagung174 durch J. A. Gruber folgendes von der Aussendung der drey Werckzeuge: ACH! wie brennet doch mein Hertze / denen Bedrängten zu Hülffe zukommen / die ferne seynd / auch durch einige Mittel und Stimmen von aussen! [. . .] O! wer wird meinen Freunden Frieden verkündigen / und meinen Unterdruckten Freude? Wer wird mir meinen Geschlechten im Schau=Thal175 das Recht zeigen in meinem Nahmen / und sie von den krummen Abwegen / [. . .] / widerum auf die richtige Bahn führen? [. . .] O! was Arbeit habe Jch vor mir! O! was Botten hätte Jch vonnöten!«176

Der »Geist« kündet die Notwendigkeit an, Boten auszuschicken. Der Auftrag besteht in der Missionstätigkeit in der Schweiz. Nach dem Liebesmahl wurden 171 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 2. Eberhard Ludwig Gruber bezeichnet hier Gottfried Neumann als »Protocollisten« der Aussprachen seiner Schwägerin Johanna Margaretha Melchior. 172 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 31. 173 Vgl. z. B. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 56–62, wo am 27.9.1716 »der Geist über die drey Werck=Zeuge [sc. J. Fr. Rock, J. A. Gruber und J. C. Gleim; IN] zugleich [kam]; Da dann dise weitere und nähere Eröffnung / von der Aussendung derer Werck=Zeuge und ihrer zugeordneten Botten geschahe [. . .]«, ebd., 56. 174 Vgl. Apk 19,10. 175 D.i. die Schweiz. Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 202 u. 373 passim. 176 Ebd., 55.

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ihnen noch schwierigere Reisen und Prüfungen als bisher zugemutet. Am darauf folgenden Tag »kam der Geist über die drey Werck=Zeuge zugleich; Da dann dise weitere und nähere Eröffnung / von der Aussendung derer Werck=Zeuge und ihrer zugeordneten Botten geschahe / in nachfolgendem Gespräch: (Gl.) Der Quell=Brunn der Liebe eröffnet sich; Kommet! kommet! (Gr.) Er hat sich eröffnet; Trincket biß ihr truncken seyd! (Gl.) Wer wird aber meine Lämmer herzuführen? (Rock und Gr. stunden in der Bewegung auf / Gl. aber blieb sitzen) Wer wird geben denen durstigen Waser (sic!) aus meinen Brünnlein? Wer wird die Lahmen und Krüppel herzu=tragen / daß sie trincken / damit sie gesund und starck werden? (R.) HErr! das weissest du! (Gr.) Werden es nicht meine Hirten thun? (R.) Stehen sie aber bereit? (Gl) Ja wann einigen die Ruhe nicht so wohl schmäckte / daß sie möchten aufstehen. (Gr.) Ruffe ihnen zu / und sage: Auf! auf! [. . .] (R.) Werden sie aber willig seyn / wann der Ruff an sie ergehet? (Gl.) Sie sind zwar willig / aber doch möchten sie gern noch ein wenig stille=sitzen und ruhen. [. . .] (Gl.) Ja sie meynen sie hätten schone viele Arbeit gethan / und darum wolten sie gerne ruhen auf einige Arbeit; (Gr.) Ja einige gedencken gar: Jch habe das Meinige ausgerichtet / der HErr kan einem andern eine zeitlang Befehl thun! (Gl.) Ey! es seynd ja einige frische willige vorhanden / möchtest du dann derselben keinen ruffen / die die Arbeit noch nicht geschmecket haben? (Gr.) Jn den blutigen Krieg / wann es auf die äusserste Probe kommt / gehören versuchte Soldaten; (R.) Ja / ja es möchten sonst solche in ihrer ersten Hitze allzubald ermüden / und wann das tragen der Lämmer am nöthigsten wäre / siehe! so möchten sie leicht erliegen.«177

Nachdem Gleim, Gruber und Rock als bewährte »Werkzeuge« mit der Aufgabe betraut wurden, zur Sammlung der Gemeinde Gottes auf Reisen zu gehen, spricht Rock in derselben Aussprache die Frage an, von wem sie je begleitet werden sollen: »(R.) Aber ich habe Mithelffer nöthig / sonst möchte ich alleine solches nicht ausrichten können und im Frieden verwahret bleiben! (Gl.) Wer rathet mir: Soll Jch eine einfache oder doppelte Beständigkeit dem Frieden178 mitgeben? (Gl.) Eine doppelte würde nicht können so leicht übernhauffen geworffen werden alß eine Einfache; [. . .] (Gr.) Soll Jch dir dann einen Freudigen Bekenner geben? [. . .] woltest du nicht gerne unter beyde Arme eine [sc. Stütze; IN] haben? [. . .] (Gl.) was erkiesest du dir dann für einen aus der Zahl der Mit=arbeiter?«179

Die Spannung steigt. Das Aussprachengespräch schreitet weiter zur Wahl konkreter Personen: (R.) Soll ich dann den Anfang machen? (Gr.) Friede180 muß ja voraus gehen und den Rang beschliessen. (R.) Jst etwan der Erste ein Säule in meinem Hause? (Gr.) 177 178 179 180

Ebd., 56. Anspielung auf den zweiten Vornamen Johann Friedrich Rocks. Ebd., 58f. Wie oben Anm. 178.

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Klein=scheinend / doch Groß in meinen Augen. (R.) Heißt er dann Nicolaus Bartmann? (Gr.) Nichts Begehren181 / alß JESUM und seinen Willen / soll er heissen. (R.) Es sey also! Wie heißt aber der zweyte? (Gl.) Er meynet öffters er stünde Jn Heisser Brunst182 / (Gr.) von Andacht und Liebe zu mir. (R.) So kan er ja auch was leiden / ob mann auch mit Füssen über ihn hergehet [. . .] (R.) Jst es etwann mein Schreiber / (Gr.) der alte. (R.) Brick? (Gr.) Ja! ja! das ist sein Nahme!«183

Die Begleiter der »Werkzeuge« hatten eine besondere Vertrauensstellung inne. Wesentliches Kriterium ihrer Wahl scheint ihre Standfestigkeit zu sein: »So kan er ja auch was leiden [. . .]«, heißt es aus dem Munde Rocks. Die »Werkzeuge« brauchten Begleiter, auf die sie sich verlassen konnten und die den Mühen der Reise und den erwarteten Anfeindungen gewachsen waren. Ihre Integrität zeigte sich in der Zuverlässigkeit, mit der sie die Aussprachen niederschrieben. Schnellschreiber als ständige Begleiter der »Werkzeuge« kannten schon die französischen Inspirés. Dank den Aufzeichnungen konnten ihre Aussprachen auch zu den Inspirationsgemeinden gelangen, in deren Umfeld sie ins Deutsche übersetzt wurden.184 Das ursprünglich französisch verfasste Alarm=Geschrey wurde 1712 gedruckt und war unter den deutschen Inspirierten allgemein bekannt.185 So beziehen sich sowohl Eberhard Ludwig Gruber als auch Johann Samuel Carl in ihren Zeugnissen von 1715 auf dieses Werk.186 Umgehend machten sich auch die Inspirationsgemeinden daran, die Aussprachen ihrer »Werkzeuge« zu drucken und einem größeren Kreis zugänglich zu machen: – 1716 veröffentlichten sie Johann Carl Gleims Aussprachen, die er auf der

Reise mit den Begleitern Gottfried Neumann und Carl Stipp durch Hessen, Brandenburg und Sachsen gehalten hatte, im Geschrey zur Mitternacht.187

181 Anspielung auf die Initialen des Namens von Nicolay Bartmann. 182 Jn Heisser Brunst=Johann Benedict Brück, Reisebegleiter Rocks und Protokollant seiner Aussprachen. Vgl. Rock, Wie ihn Gott geführet, 88. 183 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 59. 184 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 25 [Anm. 6]. 185 Vgl. oben S. 95. 186 Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 3 u. 17. 187 Die Drucke vom Geschrey zur Mitternacht tragen zwar alle das Datum 1715, enthalten aber Aussprachen bis zum 4.3.1716. Vermutlich begann man mit dem Druck der Aussprachen Gleims inklusive des Titelblattes im Jahre 1715. Da Gleim jedoch auf Weisung des »Geistes« Ende Oktober zu einer großen Reise aufbrach, die ihn bis nach Berlin und Bremen führen sollte, wartete man mit der Fertigstellung, bis er mit seinen Schreibern zurückkehrte. Erst dann begann man unter Beibehaltung des alten Titelblattes mit der Fertigstellung. Vgl. auch Historie II, 260: »[. . .] sind gedruckt im Geschrey zur Mitternacht, welches die erste Zeugnisse durch J. C. Gl. und das 3. Liebes=Mahl vom 20. October enthält. Jn Quart gedruckt 1716. in Octav 1758. auf 41. Bogen.« Wenn das Vorwort der Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718) eine 1716 veröffentlichte »Stimme zur Mitternacht« erwähnt, dann handelt es sich wohl um ein Versehen.

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– 1718 erschienen Johann Adam Grubers Aussprachen auf seiner Schweizreise

mit Blasius Daniel Mackinet und Heinrich Sigmund Gleim in Buß=Weck= und Warnungs=Stimme, wobei jene Inspirationsreden, die Gruber »Zu Leisingen und Battenberg Jm Berner=Gebieth« im December 1716 hielt, eigens nochmals gedruckt wurden unter dem Titel J. J. J. das Gebet des HErrn.188 – 1719 publizierten sie Johann Friedrich Rocks Inspirationsreden in Wohl und Weh.189 Mit der Verschriftlichung und Drucklegung der prophetischen Aussprachen erhielten diese zugleich einen neuen Wert. Sie waren nicht zeitgebundene und vergängliche Worte, sondern überdauerten den Moment ihres Entstehens. Sie wurden auch nicht Anwesenden zugänglich, konnten verteilt und verbreitet werden und eigneten sich zum gedanklichen Verweilen und Studieren. Mit der Verschriftlichung »war der folgenschwere Übergang zu einer Art von ›Schriftprophetie‹ vollzogen.«190 Die Aussprachen wurden enorm aufgewertet. Ihre Prophezeiungen wurden als bewiesen betrachtet.191 So verwundert es nicht, wenn der Inspiriertenanhänger Theodor Stech aus Halle von den genannten drei Schriften sagte: »Diese 3. Bücher nun kan und vermag ich, vermöge meines Gewissens, nicht höher, und auch nicht geringer halten, als die Bibel [. . .]«!192 188 Johann Adam Gruber, J. J. J. das Gebet des HErrn / Nebst Der Göttlichen Antwort darauf / Erläutert Jn Unterschiedlichen Bezeugungen Des Geistes / Geschehen Zu Leisingen und Battenberg Jm Berner=Gebieth / Jm December. 1716, o. O. 1718. Das Werk verfügt über einen »Anhang einiger Bezeugungen des Geistes / an die ehemal so sonderlich erweckt=gewesene Schleßische Kinder und ihre Eltern; Geschehen in Breßlau / im Jahr 1716. durch Johann Carl Gleim / in Begleitung Caspar Stippen u. Fridrich Balth. Fritzen«. 189 Georg Michael Preu schrieb, Rock selber hätte diese Schrift herausgegeben. Vgl. Der Geist Der angegebenen wahren Aber Falsch befundenen INSPIRATION Jn Johann Friederich Rocken / Marienbornischen Hof=Sattlern / Als über dessen Den 23. Maji Anno 1716. Allhier zu Oettingen vermeintlich gehabte Inspiration und Außsprach Eine Prüffung Nach GOttes geoffenbartem Wort angestellet / Wobey zugleich die davon in seinem jüngst heraußgegebenen Wohl und Weh Pag. 39. und sonderlich pag. 43 gedruckte Erzehlung Nach dem Grund der Wahrheit untersuchet / Am Ende aber Johann Rocks Gedancken von der Enthusiasterey angefüget worden Von Georg Michael Preu / Dienern am Worte GOttes, Ulm 1720, 4. Die Inspirierten erwiderten ihm schriftlich, die Aussprachen seien von Rocks »Freunden und Consorten« herausgegeben worden, und Rock selber hätte sich »gantz passiv und leidsam gehalten.« Gemeinschafftliches Antwort=Schreiben auf Herr Georg Michael Preuen / (Lohn =)Dieners am (äussern) Wort Gottes in Oettingen / Falsche Prüfung des INSPIRATIONS=Geistes in Johann Friedrich Rocken / [. . .] von gedachten Rockens Consorten, o. O. 1720, 4. 190 Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 147. 191 Nach Stech (Post=Läuffer, 284) hatten die »gedruckten Jnspirations=Bücher[n]« und das Alarm=Geschrey (1712) die Wasserfluten u. a. in Ostfriesland im Jahre 1717 im Voraus verkündigt. 192 Stech, Post=Läuffer, 121.

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Dabei waren diese Schriften wie auch u. a. das Alarm=Geschrey (1712) und die Erfahrungs=vollen Zeugnisse (1715) nur schwer zugänglich. Man musste »selbige alle insgeheim erfragen, weil sie leichtlich niemand öffentlich verkauffen darff.«193

Stech berichtet gar, er hätte selber gesehen, »daß hier zu Halle auf öffentlichen Marckt solche Schrifften, welche von der Obrigkeit als Läster=Schrifften erkandt, sind mit Feuer verbrandt worden.«194

Die Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen der Schnellschreiber stand nicht zur Debatte. Man durfte im Nachschreiben keine Silbe »verändern / ab= oder zusetzen«.195 Auch der oben edierte Augenzeugenbericht bestätigt dies. Das in der Aussprache Gehörte sei »unverfälscht«196 notiert worden. Dabei fiel das Mitschreiben des Gehörten nicht nur dem Ungeübten manchmal schwer. So findet man z. B. mitten in einem Aussprachentext vom 15. November 1716 kurze Striche und folgende Erläuterung in Klammern: »- - - - - - - -(Hier konte man wegen des kalten Wetters und schnellen redens nicht folgen im schreiben:)«.197

Auch am 23. Januar 1720 hielt der Schreiber fest, dass die Aussprache Rocks »wegen Geschwindigkeit des Aussprechens sehr mangelhaft excipirt«198 worden war. Dass das Mitschreiben Übung benötigte, zeigt der Druck der Aussprache Rocks in Himbach vom 4. Juli 1738 und die vom Redaktor vorangestellte Bemerkung: »[. . .] wegen Ermangelung der ordentlichen Schreiber, das meiste im Nachschreiben ausgelassen worden: [. . .].«199

Auslassungen wurden darauf im gedruckten Aussprachentext in fast jeder Zeile mit drei Gedankenstrichen gekennzeichnet. Manchmal gelang das Mitschreiben aufgrund äußerer Gründe nicht. So konnte die Aussprache Rocks vom 20. Mai 1716 auf seiner zweiten Reise nach Schwaben200 wegen »dem Zulauffen des Volcks und dessen vielem Gefrag«201 nur teilweise festgehalten werden. 193 Ebd., 247. 194 Ebd., 282. 195 Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), Vorrede [o.S.]. 196 Vgl. oben S. 119. 197 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 205. Wegen der Geschwindigkeit konnte auch nur der Anfang der Aussprache Rocks vom 19.10.1716 in Ulm festgehalten werden, vgl. Wohl und Weh (1719), 66. Zu analogen Hinweisen in den Sammlungen vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 45 (Anm. 37). 198 XXXIX. Sammlung (1786), 79. 199 Vgl. IV. Sammlung (1739), 260. 200 Zur zweiten Schwabenreise Rocks im Mai 1716 vgl. Wohl und Weh (1719), 23–44. 201 Ebd., 37.

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Besondere Mühe scheint das 12. »Werkzeug«, die aus dem schweizerischen Aeschi im Berner Oberland stammende Christina Kratzer, genannt »blindes Stineli« bereitet zu haben.202 Wie sie nach Deutschland zu den Inspirationsgemeinden gelangt war, ist bis jetzt ungeklärt.203 Als Rock sie mit seinen Begleitern, ihrem Bruder und zwei weiteren Freunden im November 1727 auf dem Thorberg besuchte, freute sie sich sehr und hielt auch zwei Aussprachen. Diese hielt sie »aber so geschwind ohne absezen, daß unmöglich war, sie recht nachzuschreiben, daher nur etwas davon aufgefaßt werden können.«204 Die »Werkzeuge« selber wussten nicht, was sie in der Inspiration gesprochen hatten. Anders scheint es dem Protokollanten Blasius Daniel Mackinet ergangen zu sein, der in seinem Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration folgendes festhielt: »Auch ist mir offt begegnet, ob ich gleich nur der Schreiber war, daß wann das Werckzeug Bewegungen zur Aussprach bekommen, daß ich schon habe schreiben können, ehe die nehmliche Worte ausgesprochen worden, ja manchmahlen habe den gantzen Sinn und Inhalt der Aussprachen vollkommen in mir gehabt.«205

Verschiedene Erwähnungen von »Schreib=Tafel[n]«206 und »Bleyweis«207 zeigen, dass die Schnellschreiber zumindest anfänglich auf Schreibtafeln die Aussprachen festhielten. Als Schreibmaterial diente ihnen das zeitgenössische kreideartige »Bleyweis«. Heinrich Sigmund Gleim, der Schreiber von Johann Adam Gruber, erzählte während eines Verhörs in Winterthur im Jahre 1716, dass man die Originalfassung »in der Regel nicht mehr lesen [könne], wenn es nicht sofort abgeschrieben würde.«208 Mehrfach wird auf die Haupttätigkeit der Protokollanten hingewiesen, nämlich möglichst schnell und exakt mit der Feder eine Reinschrift und Kopien zu verfassen.209 In stunden- und tagelanger Arbeit wurde das Gehörte und schriftlich Festgehaltene zuerst miteinander verglichen und kollationiert, schließlich schön abgeschrieben und am Schluss in den »Diarien der Gemeinde«210 aufbewahrt. 202 Zu Christina Kratzer, die anscheinend zwei Jahre nur Milch getrunken und schließlich ganz aufgehört hatte, Speise zu sich zu nehmen, vgl. Rocks Tag=Buch im Anhang zur XI. Sammlung (1749), hier 282–284; XVII. Sammlung (1776), 126–128; vgl. unten S. 284f. u. 304. 203 Wernle (Protestantismus 1, 294) bezeichnet den Brief von Samuel Lutz an Zinzendorf vom 24.2.1731, der weder in Bern noch in Herrnhut zu finden ist, als »Hauptquelle für das Stineli Kratzer«. 204 XVII. Sammlung (1776), 126. Aus demselben Grund konnte auch Rocks gegen Göppinger Richter gerichtete Aussprache vom 26.7.1717 von Mackinet nicht nachgeschrieben werden, vgl. Wohl und Weh (1719), 171. 205 Mackinets Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration, 131. 206 Ebd. u. 174. 207 Ebd., 37. 208 Studer, Pietismus in der zürcherischen Kirche, 161. 209 Vgl. Wohl und Weh (1719), 68. 210 Dieser Begriff ist vermutlich erst nachträglich gewählt worden, nachdem man von den »Diarien« der Herrnhuter gehört hatte.

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Immer wieder finden sich Hinweise auf diese Arbeit.211 Mackinet musste am 26. Dezember 1716 noch in Leissigen zurückbleiben, »weilen er noch zu schreiben hatte«.212 Erst am 29. reiste er nach Thun, wo er »das Zeugniß der Gerechtigkeit über die Stadt Bern auf die Post lieferte«.213 Die Abschriften konnten gar vom »Geist« in der Aussprache selbst befohlen werden. So ordnete dieser in der Aussprache am 11. Oktober 1716 an: »Es soll dieses letztere abgeschrieben werden / Und Ich will zeigen wohin es soll.«214 Die Arbeit selbst konnte auch von einer weiteren Aussprache unterbrochen werden wie Anfang Dezember 1716: »Abends um 10 Uhr / alß wir noch in unserer Arbeit deß schreibens begriffen / und gantz allein waren / kam das Werckzeug noch in Inpir. (sic) und geschahe folgendes Wort [. . .].«215 Zudem konnten andere für die regulären Schreiber einspringen. Als Johann Adam Gruber Anfang Februar 1717 von Büdingen nach Rohrbach reiste und Gleim und Mackinet ihn am anderen Tag aufsuchten, da »[. . .] hatte er schon folgende Aussprach gehabt / so von andern nachgeschrieben worden [. . .].«216 In mühseliger und vollste Konzentration erfordernder Arbeit wurden von den Protokollanten Abschriften verfasst, die versiegelt217 und den betreffenden Adressaten – oft Pfarrern, Angehörigen des Rates oder ganzen Städten218 mit dem Aufruf zur Buße und zur Umkehr – überbracht wurden. Sie konnten aber auch in den verschiedenen Gemeinden zur Lektüre verbreitet werden. Die Aussprachen dienten der innergemeindlichen Erbauung und Weiterbildung. Ulf-Michael Schneider hält fest, »daß die gedruckten Inspirations-Reden, bei denen es sich ja ursprünglich um mündliche Aussprachen handelte, wirklich authentische Texte sind, in die spätere Herausgeber der Inspirationsgemeinde nicht überarbeitend eingegriffen haben.«219 Von 1715 bis 1789 haben die Inspirationsgemeinden nicht weniger als mindestens 81 Werke veröffentlicht. Dabei mussten mehrere gar in einer weiteren Auflage nachgedruckt werden.220 Im Zentrum stand natürlich die Herausgabe 211 Vgl. z. B. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 83: »Nachmittags / alß wir mit abschreiben beschäfftiget waren [. . .]«; 193: »[. . .] in seiner Stube schreiben dorfften [. . .]«; 201: »[. . .] biß wir in unserm Wirths=Hauß / dem Befehl des HErrn ein Genüge zuthun / die Zeugnüße abgeschrieben hatten [. . .]«; 278: »[. . .] sie nahm das Zeugniß abgeschrieben mit [. . .]«; 293: »Darauf führte er uns in eine andere Stube allein / allwo wir in der Stille unser Schreiben verrichten konten [. . .].« 212 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 375. 213 Ebd. 214 Ebd., 80. 215 Ebd., 278. 216 Ebd., 407. 217 Vgl. Wohl und Weh (1719), 170. 218 Vgl. etwa ebd., 174. 219 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 13. 220 Vgl. ebd., 37 und die Bibliographie im Anhang, 207–221. Ihr konnte Hans Schneider noch folgende zwei Werke hinzufügen: Summarischer gründlicher Erweiss [. . .], o. O. 1715 und

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der Gemeinde-»Diarien«. Wie die Herrnhuter Diarien enthielten sie die von den Schreibern kollationierten Endfassungen der Aussprachen und spezielle Angaben zu besonderen Umständen und Begebenheiten.221 Doch reicht das Spektrum der Bücher von apologetischen und katechetischen Werken über geistliche Dichtungen bis zu Sterbeberichten von Gemeindemitgliedern.222 Von besonderem kulturhistorischem Wert ist der Erfahrungsbericht über ihren Versuch missionarischer Tätigkeit bei nordamerikanischen Indianern.223 Als verbotene Randgruppenliteratur erschienen die Inspiriertenwerke meist anonym.224 Kryptonyme, die auch in den Aussprachen selbst verwendet werden konnten,225 ermöglichen es bei einigen Werken, auf deren Verfasser rückzuschließen. Ein Druckort wird nie angegeben, es bleibt bei der Angabe des Erscheinungsjahres. Auffällig ist die Kennzeichnung der meisten Werke mit der vorangestellten Abkürzung »J. J. J.« für »Jesus, Jehova, Jmmanuel«,226 die auch den Titel des Himmlischen Abendscheins einleitet. Die Inspirationsgemeinden veröffentlichten in den ersten elf Jahren ihres Bestehens (1714–1725) mindestens fünfzehn verschiedene Werke, darunter die Aussprachen der drei »Werkzeuge« Johann Carl Gleim, Johann Adam Gruber und Johann Friedrich Rock. Eine weitere Publikationstätigkeit setzte erst nach elf Jahren, nämlich 1736 mit dem Beginn der EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen ein, in denen die prophetischen Aussprachen gedruckt wurden. Die Publikation muss in Zusammenhang mit Zinzendorfs Besuch Anfang Juni 1736 bei Gottfried Neumann in Marienborn und dem Wirken der Herrnhuter in der Wetterau gesehen werden.227 Die Reihe umfasste 42 Bände und wurde erst 1789 abgeschlossen. Ab dem dreizehnten Band lässt sich ein neuer Redaktor, nämlich der im schwäbischen Esslingen geborene Paul Giesebert Nagel (1716–1779), ausmachen. Ab 1758 fallen die lateinischen Wörter im Titel der EXTRACTA weg. Die Reihe wird neu mit J. J. J. Sam[m]lung Das ist [. . .] Der Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften bezeichnet, und die einzelnen Bände erhalten ein Sachregister. Nagel wurde »mit Sicherheit in den fünfziger Jahren des Jahrhunderts zum ersten systema-

Zweyter summarischer Erweiss, o. O. u. J. (1716). Vgl. ders., Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 161 u. 193 (Anm. 397). 221 Vgl. Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 219 (Anm. 25), der sie mit den geistlichen Tagebüchern etwa der Jane Leade in Beziehung setzt. 222 Vgl. ebd. 223 Vgl. Wege und Wercke GOttes unter Indianern [. . .], o. O. 1764 (= XV. Sammlung [1764] 203–245). 224 Zur Bücheraufsicht im Reich vgl. Schrader, Literaturproduktion, 111–123. 225 Vgl. z. B. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 59: »Nichts Begehren« für Nicolay Bartmann, 29 u. 76: »Muth« für Mackinet. 226 Vgl. oben S. 35 (Anm. 138). 227 Vgl. unten Kap. V.2.2.2.

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tisch arbeitenden Archivar der Gemeinde.«228 Er bemühte sich intensiv um eine möglichst vollständige Zusammenstellung aller noch erhaltenen verschriftlichten Aussprachen und scheute keine Mühe, die Abschriften zu erhalten. So schrieb er Briefe nach den Vereinigten Staaten und erkundigte sich mehrfach insistierend bei Johann Adam Gruber, der, nachdem er Ende 1717 seine letzte Inspirationsrede gehalten und gegen den Willen seines Vaters geheiratet hatte229 und seit 1726 in Germantown, Pennsylvania lebte, nach Aussprachen. Den Fundus an schriftlich erhaltenen Aussprachen ordnete Nagel chronologisch an. Die »Diarien« lagen dem Druck der Sammlungen zugrunde. UlfMichael Schneider vermutet, die Drucklegung der Sammlungen sei während der Zeit, in der Paul Giesebert Nagel ihr Redaktor war, in seinem Wohnort Neuwied selbst oder zumindest in seiner unmittelbaren Umgebung erfolgt.230 In Neuwied war Nagel seit 1740 Gemeindevorsteher der Inspirierten.231 Nagel war gewissermaßen die rechte Hand von Johann Friedrich Rock. Er begleitete diesen in seinen letzten Lebensjahren als Schnellschreiber und Assistent. Als Nagel 1779 starb, wurde der gebürtige Schwede Jonas Wickmark232 mit der Aufgabe der Sammlung und des Drucks der Aussprachen betraut. Unter seiner Federführung kam es sehr wahrscheinlich auch zur Veröffentlichung der Aussprachen Ursula Meyers. Da diese erst über sechzig Jahre nach ihrer Entstehung gedruckt wurden, drängt sich die Frage nach ihrer Übereinstimmung, nach redaktionellen Eingriffen und überhaupt nach ihrer Überlieferungsgeschichte auf. Uns sind keine Originale erhalten geblieben, sondern lediglich handschriftliche Kopien, d. h. Abschriften. Zudem existierten noch keine festen sprachlichen Regeln, geschweige denn stenographische. Die Ansicht, der Glaube an die Verbalinspiration der Aussprachen führe notgedrungen zum Unterlassen redaktioneller Eingriffe, geht von einem modernen Verständnis des Umgangs mit geschützten Quellen aus. Der Nachweis, dass man allgemein und umfassend bestrebt war, die Aussprachen der »Werkzeuge« im gedruckten Redetext möglichst präzis wiederzugeben, lässt sich nur an den einzelnen Redetexten selbst erbringen. Wir wenden uns deshalb als nächstes dem Himmlischen Abendschein zu.

228 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 41. 229 Vgl. XVIII. Sammlung (1780), 106. 230 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 42f. u. oben S. 34. 231 Vgl. Joachim Dollwet, Die Inspirationsgemeinde zu Neuwied, 1739–1876, in: Genealogie 6 (1983), 569–577, hier 573 [44.]. 232 Zu Jonas Wickmark (1699–1786), der Rock auf seinen Reisen in die Schweiz mehrmals begleitet hatte, vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 43f.; Wernle, Protestantismus 1, 205–209.

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Vom Prophetenwort zu den Inspirationssammlungen

Abb. 2: J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .], o. O. 1781, Titelblatt [Exemplar der UB Münster]

Textanalyse:»J. J. J.EinHimmlischerAbendschein[. . .]« Einführung

IV. Textanalyse:1 »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«2 1. Einführung Die Inspirierten ließen nur von vier »Werkzeugen« Aussprachen drucken. Während von Johann Friedrich Rock, Johann Carl Gleim und Johann Adam Gruber »eine Probe derer Zeugnissen und Aussprachen«3 schon in den Jahren 1716 bis 17194 herausgegeben wurde und Rocks Inspirationsreden ab 1736 in den EXTRACTA bzw. ab 1758 in den Sam[m]lungen kontinuierlich erschienen,5 wurden die Zeugnisse der Ursula Meyer, die »unter schwehren Abwechslungen und Versuchungen doch am längsten aus[hielte], neben Br[uder] Rock«,6 erst mit beträchtlicher zeitlicher Distanz zu ihrem Entstehen ediert. Die Ursache dafür wird in der geschlechtlichen Statusdifferenz zu suchen sein. Lediglich fünf Ronneburger Aussprachen Ursula Meyers vom März 1715 fanden Aufnahme in Johann Samuel Carls Historische[n] Umstände[n],7 eine Aussprache vom 23. Januar 1717 wurde in Buß=Weck= und Warnungsstimme8 und eine kurze vom 15. Juli 1718 wurde in Wohl und Weh9 veröffentlicht. Die Drucklegung einer eigenen Sammlung der Aussprachen Ursula Meyers im Himmlischen Abendschein erfolgte erst 1781, also über sechs Jahrzehnte nachdem sie gehalten worden waren. Die Frage, weshalb gerade Inspirationsreden der Ursula Meyer – mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung – einer größeren Öffentlichkeit innerhalb der Inspirationsgemeinden zugänglich gemacht wurden, lässt sich erst im Kontext des weiteren Verlaufs der Geschichte der Inspirierten verstehen, die im Schlusskapitel V zur Darstellung gelangen wird. Hier soll es zunächst um die Analyse des Himmlischen Abendscheins selber gehen. Die Edition der ohne Angabe des Ortes erschienenen Aussprachensammlung wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von Jonas Wickmark (1699–1786)10 besorgt, dem arbeitsamen Nachfolger des 1779 ver1 Den Begriff »Textanalyse« verwende ich in einem weiten Sinne und fasse darunter sowohl die Beschäftigung mit der Textstruktur, -funktion etc. als auch die Textinterpretation. 2 Zum vollständigen Titel siehe Abb. 2. 3 HA, 3f. 4 Vgl. oben S. 147f. 5 Vgl. oben S. 152. 6 Historie II, 244. 7 Vgl. unten Kap. IV.3.1 [Liste der Aussprachen] zu HA (Nrn. 1.5–7.9). 8 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 390. 9 Vgl. Wohl und Weh (1719), 207. 10 Zum Schweden Wickmark vgl. den Nachruf in: Scheuner, Inspirations=Historie 1, 383 u. oben S. 153.

156

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

storbenen Paul Giesebert Nagel.11 Er wird die Aussprachen Ursula Meyers parallel zur Editionsarbeit an der 1780 bis 1785 erschienenen XVIII. bis XXXVIII. Sammlung zusammengestellt haben. Das Werk Ein Himmlischer Abendschein umfasst insgesamt 156 und nicht wie nummeriert 154 Aussprachen, da zweimal zwei verschiedene – wohl aufgrund eines Zählfehlers oder einer nachträglichen Einfügung – mit derselben Nummer beziffert wurden; sowohl die Aussprache vom 25. wie auch jene vom 26. März 1716 werden als Nr. 63 und die Aussprachen vom 22. und 23. November 1717 werden beide als Nr. 137 aufgeführt. Von Rock sind im selben Zeitraum, in dem Ursula Meyer als »Werkzeug« wirkte, vergleichsweise weniger Aussprachen gedruckt worden, nämlich lediglich 150.12 Das Werk setzt ein mit der allerersten dokumentierten Aussprache Ursula Meyers, die am 16. März 1715 abends auf der Ronneburg stattfand, und schließt mit ihrer ebenfalls auf der Ronneburg gehaltenen letzten Aussprache vom 24. September 1719.13 Jeder Aussprache vorangestellt ist ein redaktioneller Vorspann, der Auskunft gibt über Nummer, Datum und Ort der betreffenden inspirierten Rede und z. T. eine kurze Situations- bzw. Kontextangabe enthält. Am Ende ist dem Werk ein »Register Aller solchen Zeugnisse und deren Inhalt« beigefügt, das die Aussprachen von 1 bis 154 – wiederum bei Bezifferung je zweier verschiedener und an unterschiedlichen Tagen gehaltenen Aussprachen als Nr. 63 und Nr. 137 – einzeln mit einer kurzen, nur ein bis zwei Stichworte nennenden Inhaltsangabe versieht.14 Folgendes muss bei der Beschäftigung mit den Aussprachen Ursula Meyers, die uns im Himmlischen Abendschein vorliegen, einleitend festgehalten werden: 1. Die im Druck überlieferten 156 Aussprachen sind nicht eine Zusammenstellung aller von Ursula Meyer gehaltenen Inspirationsreden, sondern eine lediglich nach gewissen Kriterien erfolgte Auswahl, wie u. a. die Auswertung des handschriftlichen Quellenmaterials aus der Research Library des Museum of Amana History in Amana, Iowa (USA), der sog. Bezeugung des Geistes des Herrn, ergibt.15 11 Zu Nagel siehe oben S. 152f. 12 Nach Ulf-Michael Schneider (Propheten, 11) sind von Rock zwischen 1715 und 1749 insgesamt »946 Inspirations-Reden im Druck überliefert« worden. In den Erfahrungs=vollen Zeugnissen (1715), 134f. findet sich zudem noch die kurze Aussprache Rocks, unter welcher Vater Haug erstmals Bewegungen hatte. 13 Vgl. Historie II, 254. Zur häufig kolportierten und korrekturbedürftigen Meinung, ab 1718 hätte Rock allein die Gabe der Inspiration gehabt siehe oben S. 29. 14 Das Register verdiente eine eigene, hier nicht zu leistende Analyse. Die Inhaltsangaben geben Hinweise, wie der Redaktor selber die jeweiligen Aussprachen verstand. 15 Vgl. oben S. 36f. So wurden z. B. die beiden Aussprachen Ursula Meyers in Schwarzenau vom 11.8.1715 (Bezeugung, Nr. 19 [S. 84]) und 23.4.1716 (Bezeugung, Nr. 20 [S. 84f.]), in denen sie Alexander Macks baldigen Tod prophezeite, nicht gedruckt, denn Mack starb erst 1735. Vgl. Durnbaugh, Brethren Beginnings, 38f.

Einführung

157

2. Auch wenn der Vergleich mit dem handschriftlichen Quellenmaterial zeigt, dass die ausgewählten Inspirationsreden von Ursula Meyer im Himmlischen Abendschein wortgetreu überliefert wurden,16 besteht dennoch möglicherweise eine Differenz zwischen den mündlichen Aussprachen und ihren handschriftlichen Aufzeichnungen. Die Möglichkeit redaktioneller Eingriffe halte ich für gering: Die Aussprachen wurden von Nachschreibern, die die »Werkzeuge« ständig umgaben und »eine Art Überwachungsapparat«17 bildeten, laufend mitgeschrieben und untereinander verglichen. Dies zeigt, dass die Inspirierten sehr bestrebt waren, die Aussprachen im originären Wortlaut und nicht bloß dem Inhalt gemäß festzuhalten. So konnte auch Mackinet auf die ihm am 26. Juli 1717 in Göppingen gestellte Frage, »ob er dann deß Fr[iedrich] seiner Aussprachen so kündig wäre / daß er mit Warheit sagen könne / daß alles von Wort zu Wort ohn Aenderung geschrieben wäre«, simpel mit »Ja« beantworten.18 Die Aussprachen wurden über viele Jahre hinweg gesammelt und noch nach dem Tod der »Werkzeuge« gedruckt. Die besondere Wertschätzung, die den Prophetien der »Werkzeuge« entgegengebracht wurde, hat sich also auch in einer respektvollen und wortgetreuen, aber nicht notwendigermaßen umfassenden Überlieferung niedergeschlagen.19 Den Aussprachen kamen als vom »Geist« inspirierte Reden und direkte Offenbarungen Gottes eine dem biblischen Wort annähernd gleichrangige Stellung in den Inspirationsgemeinden zu. Nun mag man einwenden, dass gerade die Überlieferungsgeschichte der Bibel ein Beweis dafür sei, dass sakrosankt geltende Texte zahlreiche Änderungen erfahren können, und dass Heiligkeit eben keinen Schutz vor Veränderung gewähre. Dieser Einwand lässt sich jedoch mit dem Hinweis auf die dazwischen liegenden Jahrhunderte an Theologiegeschichte und den unterschiedlichen Stellenwert der Texte zur Zeit ihres Entstehens entkräften: die Redaktoren der Aussprachen hatten größeren Respekt vor ihren Texten als die Redaktoren z. B. der Paulusbriefe, die ursprünglich einfach zur Briefliteratur gehörten und keinen Anspruch auf göttliche Inspiration erhoben. Gerade vor dem Hintergrund orthodoxer In-

16 Verglichen werden konnten folgende Aussprachen: HA, (Nr. 53) = Bezeugung, Nr. 73; HA, (Nr. 70) = Bezeugung, Nr. 108; HA, (Nr. 78) = Bezeugung, Nr. 78; HA, (Nr. 109) = Bezeugung, Nr. 21; HA, (Nr. 137) = Bezeugung [vom 22.11.1717 auf der Ronneburg an Br. Hurter], o. Nr. 17 Ulf-Michael Schneider, Zuckungen IV. 18 Wohl und Weh (1719), 171. Vgl. oben S. 150f. 19 Von Johann Heinrich Pott z. B. waren schon 1772 keine Aussprachen mehr vorhanden, obschon ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass er solche gehalten hatte. Vgl. Historie I, 248 und den Bericht von Gottfried Neumann in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 48–62, hier 54f.

158

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

spirationstheorien war der Grad der Unantastbarkeit der inspirativen Verkündigungen höher als jener von biblischen Büchern vor deren Kanonisierung. Die Dignität der Aussprachen imitierte jene der Bibel im 18. Jahrhundert. Sie beruhte ja gerade auf der Bibel, wie folgender Auszug aus einer Befragung Mackinets und Rocks in Göppingen Ende Juli 1717 ergibt: »Weiter wurde er [sc. Rock; IN] gefragt: Womit er beweisen und darthun könne / die Göttlichkeit seiner Inspiration? Ant[wort] Von aussen durch die H[eilige] Schrifft / weil es mit derselben überein=käme / und dann durch die innerliche Ueberzeugung und Göttlichen Frieden [. . .].«20

Die überprüfbare Übereinstimmung der Aussprachen mit der Heiligen Schrift, die wiederum im Lichte der inspirativ empfangenen Aussprachen gelesen wurde, beweist deren Göttlichkeit. Die Bibellektüre gehörte für die »Werkzeuge« zur »täglichen Gewohnheit«.21 Metho discheVorüberlegungen

2. Methodische Vorüberlegungen Ausgehend von der berechtigten Annahme, dass die Aussprachen der »Werkzeuge« als »göttliche« Offenbarungen in der Regel philologisch sorgfältig dokumentiert wurden, sind sie sprachgeschichtlich als früheste Beispiele der Überlieferung tatsächlich gesprochener Sprache zu werten.22 Bei ihrer Analyse sind folgende methodische Vorüberlegungen zu berücksichtigen: – Die mündlichen Aussprachen der Ursula Meyer stehen uns nur in einer

verschriftlichten und eventuell leicht bearbeiteten Wiedergabe zur Verfügung. Für die Textanalyse, insbesondere für die Textstruktur, ist wichtig, die ursprüngliche Kommunikationsform23 zu berücksichtigen. – Bei der Bestimmung der Kommunikationsform bleibt der im Vorwort und in den kurzen, einleitenden Bemerkungen zu den einzelnen Aussprachen explizit formulierte und von der Inspirationsgemeinschaft anerkannte Anspruch Ursula Meyers, bloß Medium des Geistes des Herrn und nicht selbst Emittentin der Aussprachen zu sein, unberücksichtigt. – Die Inspirationsreden des bernischen »Werkzeugs« Ursula Meyer wurden ausnahmslos nicht in ihrer Mundart, sondern in der hochdeutschen Schriftsprache gehalten.24 20 Wohl und Weh (1719), 171. 21 Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 125. 22 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 10f. 23 Vgl. zum Folgenden Klaus Brinker, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 41997, 134–136 (5.4.2.[a] Zum Begriff der Kommunikationsform). 24 Auch die Cevennenpropheten trugen ihre Inspirationsreden nicht in Patois vor, sondern

Methodische Vorüberlegungen

159

– Zu den wesentlichen und ursprünglichen situativen bzw. medialen Merk-











malen der Kommunikationsform der Aussprachen gehören die monologische Kommunikationsrichtung, der akustische, optische, räumlich und zeitlich unmittelbare Kontakt zwischen der Emittentin und ihren Rezipienten und die gesprochene Sprache. Zu den wesentlichen und situativen bzw. medialen Merkmalen der Aussprachen in ihrer uns schriftlich vorliegenden und zu analysierenden Form gehören die monologische Kommunikationsrichtung, die räumliche und zeitliche Distanz zwischen der Emittentin und uns als ihren Rezipientinnen und die geschriebene Sprache. Mimik, Gestik und die zur Bestimmung der Textfunktion25 wichtigen prosodischen Merkmale gesprochener Sprache wie z. B. Sprechtempo und Intonation fallen in der uns vorliegenden schriftlichen Textform weg. Mögliche Unschärfen, Wiederholungen, Gedankensprünge und dergleichen sind von der ursprünglichen Kommunikationsform der Aussprachen her zu bewerten. Lücken im uns vorliegenden gedruckten Text können Sprechpausen bezeichnen, auf Auslassungen aufgrund nicht mehr lesbarer Textpassagen der Handschriften verweisen oder sind nachträglich zur besseren Lesbarkeit eingefügte Gliederungsmerkmale. Die in oder zwischen den einzelnen Aussprachen erwähnten Lieder, die die Gemeinschaft gesungen hat, werden nach Möglichkeit in die Analyse miteinbezogen und auf ihre spezifische, evtl. auslösende Funktion hin befragt werden müssen. Im Sinne einer Textdefinition, die sowohl der sprachsystematisch als auch der kommunikationsorientierten Textlinguistik gerecht wird, gehe ich von der Kohärenz und einer feststellbaren kommunikativen Funktion jeder einzelnen Aussprache aus.26 Jede Aussprache bildet eine eigene, in sich geschlossene Bedeutungseinheit – jeweils eingeleitet von einem Vorspann mit Nummerierung, Ort, Datum und u. U. kurzer Kontextangabe sowie

durchweg in der französischen Schriftsprache, auch wenn sie sich derer im außerekstatischen Zustand z. T. nur ungenügend zu bedienen wussten. Freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Hans Schneider. 25 »Der Terminus ›Textfunktion‹ bezeichnet die im Text mit bestimmten, konventionell geltenden, d. h. in der Kommunikationsgemeinschaft verbindlich festgelegten Mitteln ausgedrückte Kommunikationsabsicht des Emittenten. Es handelt sich also um die Absicht des Emittenten, die der Rezipient erkennen soll, sozusagen um die Anweisung (Instruktion) des Emittenten an den Rezipienten, als was dieser den Text insgesamt auffassen soll [. . .]« (ebd., 93). 26 Vgl. dazu Brinker (Textanalyse, 10–20), der einen sog. »integrativen Textbegriff« entwirft: »Der Terminus ›Text‹ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert« (17).

160





– –



Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

z. T. versehen mit redaktionellen Zwischentexten.27 Beim Analysieren einzelner Aussprachen bzw. Textsequenzen gilt aber ebenso zu bedenken, dass sie in einem inneren Zusammenhang mit früheren und späteren – beim möglichen Auswahlverfahren eventuell ausgeschiedenen und uns nicht zur Verfügung stehenden – Aussprachen stehen und manchmal direkt aufeinander aufbauen, weshalb diachrone Verweise, wenn möglich, unerlässlich sind. Die Analyse beginnt mit einem Überblick über das Gesamtwerk (3.). Eine Auflistung der Aussprachen mitsamt ihrer nachträglich beigefügten redaktionellen Rahmungen soll zunächst Nummer, Datum, Ort und – sofern aufgeführt – nähere Umstände sämtlicher im Himmlischen Abendschein gesammelten und weiterer noch handschriftlich überlieferter inspirierten Reden Ursula Meyers ersichtlich machen (3.1). Nach einer u. a. statistischen Auswertung der in der Liste verfügbaren Informationen (3.2) folgt ein nach chronologischem Gesichtspunkt gegliedertes und kommentiertes Itinerar (3.3). Nach der Gliederung sollen die inhaltlichen Schwerpunkte der Aussprachen mit Fokus auf die drei Themenkomplexe Christologie, Eschatologie und Ekklesiologie anhand der Analyse exemplarischer, ausgewählter und zentraler Aussprachen bzw. -passagen dargestellt werden (4.). Dabei wird bei größeren Einheiten wenn möglich auch das Textthema, das »die größtmögliche Kurzfassung des Textinhalts dar(stellt)«,28 bestimmt, wobei es festzuhalten gilt: »Die Bestimmung des Themas ist [. . .] abhängig von dem Gesamtverständnis, das der jeweilige Leser von dem Text gewinnt. Dieses Gesamtverständnis ist entscheidend durch die beim Emittenten vermutete Intention bestimmt, d. h. durch die kommunikative Absicht, die der Sprecher/Schreiber mit seinem Text nach der Meinung des Rezipienten verfolgt [. . .].«29 Das dem Werk nachträglich beigefügte Register wird nicht in die Analyse miteinbezogen. Die Kommunikationsform wie auch die dominierende Kommunikationsfunktion der Aussprachen stehen jenen von Predigten am nächsten. Beide gehören den »Textsorten mit appellativer Grundfunktion«30 an. Unter Berücksichtigung, dass besondere Textformen besondere Auslegungskriterien erfordern, wird eine spezielle Hermeneutik im Sinne etwa einer »hermeneutica inspirationis«, die z. B. eigene mediale Fähigkeiten zur Voraussetzung jedes Verstehens erklären würde, dennoch abgelehnt. Die Analyse hat jedoch ernst zu nehmen, dass die Emittentin und die unmittel-

27 Vgl. Brinker, Textanalyse, 98: »Dem Kontext kommt eine fundamentale Bedeutung für die kommunikativ-funktionale Interpretation von Texten zu.« 28 Ebd., 55. 29 Ebd., 55f. 30 Ebd., 109.

Überblick

161

baren und mittelbaren Rezipienten ihrer Gemeinschaft mit einer inspiratorischen Qualität und göttlichen Dignität ihrer Aussprachen rechneten. – Zum Schluss bleibt der Hinweis auf die Begrenztheit und Unvollständigkeit jedes Verstehens. Jürgen Schutte spricht von der »hermeneutische[n] Differenz«. Bei jeder Textanalyse ist davon auszugehen, »dass es zwischen der Intention des Autors, die sich auf einen Adressaten richtet, und dem Textverständnis des Lesers eine Differenz gibt, die zwar unterschiedlich groß sein kann, in keinem Falle jedoch völlig verschwindet.«31 Überblick

3. Überblick 3.1 Liste der Aussprachen Folgende Auflistung der 156 Aussprachen im Himmlischen Abendschein und weiterer nicht publizierter geistgetriebener Reden mitsamt ihres jeweils wörtlich zitierten redaktionellen Vorspanns und ihrer redaktionellen Zwischentexte geben der Reihe nach Auskunft über Nummer,32 Datum, Ort,33 Anlass, Anwesende und eventuell über Zeit, einen auslösenden Moment oder besondere Umstände der gesammelten Inspirationen von Ursula Meyer:

31 Jürgen Schutte, Einführung in die Literaturinterpretation, Stuttgart/Weimar 41997, 22. 32 Die Aussprachen vom 23.1.1717 und vom 15.7.1718, die in Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718) bzw. Wohl und Weh (1719) Aufnahme fanden, und die in Amana aufbewahrten handschriftlichen Inspirationsreden von Ursula Meyer werden in der folgenden Liste ohne Nummer aufgeführt. 33 (R) = Ronneburg, (Bü) = Büdingen, (E) = Eschborn, (Fr) = Frankfurt, (Cr) = Creutzenach, (H) = Heidelberg, (St) = Stuttgart, (L) = Laubach, (W) = Wetzlar, (S) = Schwarzenau, (M) = Marburg, (Be) = Bergheim, (A) = Assenheim.

162

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« Anno 1715

134

16.3. (R)

In der gewöhnlichen Abend-Betstunde geschahe diese allererste Bezeugung des Geistes des HErrrn durch das Werkzeug Ursula Meyer:35

2/336

17.3. (R)

In der Abend-Betstunde geschahe diß andere Zeugniß des Geistes durch UM / Bald hierauf nach dem Gesang:37 Herrlichste Majestät / himmlisches wesen [. . .]38

4

19.3. (R)

In der Abend=Betstunde geschahe diß Zeugniß des Geistes durch UM:

539

23.3. (R)

In der Betstunde in Gegenwart etlicher Fremden [. . .]:

640

24.3. (R)

In der Betstunde durch UM, nach dem Gesang: Ermuntert euch, ihr Frommen etc.41

742

28.3. (R)

In der Versammlung nach dem Gebet hatte Schwester UM folgendes Zeugniß:

8

29.3. (R)

Abends durch UM:

43

9

30.3. (R)

10–12 31.3. (R) 13

2.4. (R)

14/15 4.4. (Bü)

Durch UM in der Versammlung: In der Gebets=Versammlung / Zu Mittag / In der Abend=Betstunde durch UM: In der Gebets=Versammlung durch UM: Ins Br. Frölichs44 Hause geschahe an sie, wegen ihrer an Gott und ihren Eltern untreu gewordenen Tochter Elisabeth, nachfolgendes Zeugniß durch UM: / Nach dem Mittagsessen beym Bruder Frölich, da einige Freunde von dem Rückfall der Pottischen Kinder45 unter einander geredet, geschahe hierauf dieses Zeugniß des Geistes durch den Mund UM:

34 Auch in: Historische Umstände (1715), 43f. Historie II, 244 behauptet, diese allererste Aussprache sei in den Erfahrungs=vollen Zeugnissen (1715), 137 gedruckt worden. Ebd. findet sich jedoch nur ein Hinweis auf Ursula und Helena Meyer. 35 Im Weiteren mit UM abgekürzt. 36 Wird eine Aussprache nicht neu datiert, so schließt sie an die vorhergehende an, wird aber als neue Aussprache gezählt, da die Gemeinschaft z. B. inzwischen gesungen hat. 37 Lieder werden hier kursiv gesetzt. 38 Vgl. Johann Anastasius Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch, den Kern alter und neuer Lieder, wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen und darzu gehörige nützliche Register in sich haltend [. . .], Halle 1704, Nr. 540. 39 Auch in: Historische Umstände (1715), 44–46. 40 Auch in: ebd., 46f. 41 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 578. 42 Auch in: Historische Umstände (1715), 47f. 43 Auch in: ebd., 48f. 44 Es handelt sich evtl. um den Büchsenmacher Daniel Frölich, der 1721 nach Schwarzenau kam und 1737 nach Amerika auswanderte. Vgl. Hartnack, Schwarzenau, 71. 45 Zu den Gebrüdern Pott siehe oben S. 100f.

Überblick

163

16

6.4. (E)

Nach dem Gebet geschahe diß Zeugniß durch UM: Bald darauf: Nach dem Gebet:

17

8.4. (Fr)

Durch UM in Herr Rath Reinecks46 Hause:

18

10.4. (Cr)

Durch UM beym Hr. Held:47

19

14.4. (H)

Durch UM an die dasige Freunde der Wahrheit:

20

20.4. (St)

Durch UM, die mit Br[uder] Jäger von Jägersberg48 die erste war, die als eine Inspirirte ins Würtenbergische gekommen:

21/22 11.7. (R)

In der Versammlung durch UM: / Nach dem Gesang: Dankt dem HErrn ihr GOttes=Knechte etc.49 durch UM:

23–25 14.7. (R)

In der Gebets=Versammlung / In der Abend=Betstunde / Nach dem Gesang: Mir nach, spricht Christus unser Held etc.50 Zuletzt nach dem Psalm: Ihr Knecht des HErrn allzugleich etc.51 durch UM:

26

15.7. (R)

In der Morgen=Betstunde durch UM:

27

16.7. (R)

In der Versammlung der Brüder an den Uhrmacher Mussart52 durch UM:

28/29 18.7. (R)

In der Betstunde durch UM: / Abends durch UM:

30

19.7. (R)

31

17.7. (R) In der Betstunde durch UM:

In der Betstunde durch UM:

53

3254

Nach dem Lied: Wie schön ist unsers Königs Braut etc.55 durch UM:

33

20.7. (R)

In der Versammlung durch UM:

34

21.7. (R)

In der Versammlung durch UM: / Ueber eine Weile: / Abermal nach dem Gebet: / Eodem durch UM: Nach dem Gesang: Preis, Lob, Ehr, Ruhm, Dank, Krafft und Macht etc.56 durch UM:

46 Der Kaufmann und Rat Reineck spielte eine bedeutende Rolle im Kreise der Frankfurter Separatisten. Bei ihm fanden u. a. die vertriebenen Johann Jacob Elsässer als Informator und Andreas Groß als Sekretär eine Anstellung. Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 157. Rock hielt verschiedene Aussprachen in Reinecks Haus, vgl. Wohl und Weh (1719), 48, 136 u. 210. 47 Nicht ermittelt. 48 Vgl. oben S. 104. 49 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 478. 50 Vgl. ebd., Nr. 395. 51 Vgl. Ps 134,1. 52 Es handelt sich vermutlich um einen Uhrmacher aus Genf, vgl. XVII. Sammlung (1776), 143. 53 Ob die Aussprache nachträglich eingefügt wurde, oder ob es sich um einen Druckfehler handelt, muss letztlich offen bleiben. Ich gehe von ersterem aus. Siehe unten Kap. IV.3.2 Auswertung. 54 Das Datum muss letztlich offen bleiben. Ich rechne mit 17.7.1715. Siehe oben Anm. 36. 55 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 584. 56 Vgl. ebd., Nr. 497.

164

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 25.7. (R)

In der Nachmittags=Versammlung auf dem Saal, in Gegenwart H[er]rn Rath Schmidts57 und eines Amtmanns aus dem Hessenland mit ihren Frauens, geschahe folgendes Zeugniß des Geistes durch UM:

36/37 26.7. (R)

In der Versammlung nach dem Gesang: HErr! wann wirst du Zion bauen etc.58 / Eodem durch UM:

35

38

27.7. (R)

39/40 29.7. (R) 41

31.7. (W)

Nach der Betstunde durch UM: Durch UM: / Durch UM beym D. Reich:59 Durch UM, beym H[er]r Breuning:60

42/43 3.8. (S)

Durch UM ins Br[uder] Grubers Hause:61 / Eodem in der Versammlung:

44–46 4.8. (S)

Durch UM in Br[uder] Grubers Hause:62 / Eodem in der Versammlung: / In der Nachmittags=Versammlung durch UM:

47/48 5.8. (S)

In der Versammlung, als die Gemeine63 einen Fasttag hielte, / Eodem durch UM:

49

50

7.8. (S)

Durch UM in der Versammlung:

11.8.64 (S)

Heute geschah folgendes Zeugniß durch UM über Alexander Mack:65

14.8. (S)

Durch UM, nach dem durch die Holländische Inspirirte66 erregten Streit und Confusion, in der Versammlung:

57 Rat Schmidt wurde am 13.7.1731 in Wächtersbach begraben. Vgl. Wächtersbacher Archiv [StA Marburg, Kirchenbücher], Wächtersbach 1640–1761, hier: F 1237. 58 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 539. 59 Johann Jakob Reich († 1747) war Leibarzt der Grafen von Solms-Laubach. Vgl. Temme, Krise, 178 (Anm. 84). Nicht zu verwechseln mit Caspar Reich, »dem Klingenschmid von Schmalkalden«, und seinem Bruder Friedrich Reich, der ebenfalls Klingenschmied war und sich später von den Inspirierten lossagte (vgl. XIII. Sammlung [1758], 68–70, XIV. Sammlung [1761], 113). Vgl. Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 432; XII. Sammlung (1751), 208. 60 Der Bäcker Conrad Ludwig Breuning (Brüning) aus Wetzlar gehörte zu den Anhängern Hochmanns, wurde geradezu als sein »Diener« bezeichnet, war 1702 auch in Detmold arrestiert und begleitete Hochmann auf verschiedene Reisen. Er wohnte später in Schwarzenau im Hause Gipsers. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 161, 167f., 181f., 374 (Anm. 18) u. 407. 61 Eberhard Ludwig Gruber musste Anfang März 1715 die Wetterau verlassen und zog über Frankfurt nach Schwarzenau, vgl. Historie II, 257f.; siehe oben S. 110. 62 Wie oben Anm. 61. 63 D.i. Gemeinde. 64 Bezeugung des Geistes des Herrn (wie oben S. 36 [Anm. 145]), 24, Nr. 19. 65 Zu Alexander Mack, dem Anführer der Neutäuferbewegung, siehe oben S. 89f. u. oben Anm. 15. 66 Vgl. unten S. 189ff.

Überblick

165

Anno 1716 29.2.67 (R) Samstags in einer Versammlung kam Schw. UM in heftige Bewegung, und nach langem Widerstand kamen diese Worte hervor: 1.3.68 (R)

In einer Versammlung wurde UM abermals vom Geist des HErrn ergriffen, und nach vielem Widerstand sprach der Geist also durch sie:

3.3.69 (R)

UM in der Versammlung nach langen und starken bewegungen:

70

5.3. (R)

Abends in der Versammlung nach dem Gesang: O! Durchbrecher aller Bande p[erge]71 durch UM:

7.3.72 (R)

In der Versammlung nach langem wiederstand und starken bewegungen UM:

51/52 8.3. (R)

In der Vormittags=Versammlung nach dem Gesang: Auf, Seele, sey gerüst etc.73 geschahe diß Zeugniß des Geistes durch die Schwester UM: / In der Nachmittags=Versammlung, in Gegenwart H[er]rn Rath Schmidt und seiner Frau,74 geschahe diß Zeugniß durch UM:

5375/ 54

10.3. (R)

In der Versammlung durch UM / Zuletzt nach vielen mitgetheilten Seegen, sprach UM:

55

11.3. (R)

In der Versammlung, in Gegenwart der Jungfer Schmiedin76 und etlicher von ihren Gespielen, als wir diß Lied gesungen: Nun gute Nacht, du eitles Welt=Getümmel etc.77 geschahe diß Zeugniß durch UM:

56/57 12.3. (R)

In der Abend=Versammlung, da die Frau Rath Schmidin78 nebst etlichen Leuten vom Schloß gegenwärtig waren, geschah diese Bezeugung durch UM: / Nach dem Gebet durch UM:

67 Bezeugung, Nr. 125. 68 Ebd., Nr. 126. 69 Ebd., Nr. 71. 70 Ebd., Nr. 91,5. 71 Vgl. Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert (KTP 6), hg. v. Christian Bunners, Leipzig 2003, 33f. u. 99f. 72 Bezeugung, Nr. 72. 73 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1741), Nr. 524. 74 Zu Frau Kammerrat Schmidt, die an einer Versammlung in Birstein am 2.7.1724 teilnahm, die sie innerlich offenbar stark bewegte, vgl. XIII. Sammlung (1758), 63. 75 Identisch mit Bezeugung, Nr. 73. 76 Vermutlich die Tochter von Frau Kammerrat Schmidt, vgl. Anm. 74. 77 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 331. 78 Wie oben Anm. 74.

166

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

58

13.3. (R)

In der Versamlung, da die Jungfer Schmidin79 mit ihrer Baas Braunin80 zugegen war, als wir gebetet u[nd] diß Lied gesungen: Der HErr der ist König, ein König auf Erden etc.81 geschahe diß Zeugniß durch UM:

59

14.3. (R)

In der Abend=Versammlung nach dem Lied: Zerfließ mein Geist, in Jesu Blut und Wunden etc.82 durch UM:

60

15.3. (R)

In der Versammlung nach dem Gesang: Mein König: schreib mir dein Gesetz etc.83 geschahe diß Wort des HErrn durch UM: Zuletzt nach dem Gesang: So oft ein Blick mich aufwärts führet etc.84 durch UM:

61

17.3. (R)

Abends in der Versammlung, nach dem Gebet und Gesang: Bringt her:,: dem HErren Ehr und Stärk etc.85 geschahe diß Zeugniß durch UM:

62

20.3. (R)

In der Abend=Versammlung nach dem Lied: Trautster JEsu, Ehren=König etc.86 durch UM:

25.3.87 (R) Durch UM [an Geyer]:88 63

25.3. (R)

Abends in der Versammlung, als der Gipser89 mit seiner Frau von Schwarzenau zugegen war, hatte UM nachfolgendes Zeugniß:

63

26.3. (R)

Durch UM, vor ihrer Abreise nach Schwarzenau:

27.3.90 (R) Am 25. März wurde durch J. A. Gruber der Befehl des HErrn ausgesprochen, daß UM mit Georg Melber91 nach Schwarzenau reisen sollte. Heute sprach der Geist durch UM folgendes.

79 Wie oben Anm. 76. 80 Handelt es sich um ein ehemaliges Erfurter Mitglied der Evischen Gesellschaft? Vgl. Temme, Krise, 161. 81 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 535. 82 Vgl. ebd., Nr. 462. 83 Vgl. ebd., Nr. 387. 84 Vgl. ebd., Nr. 385. 85 Vgl. ebd., Nr. 477. 86 Vgl. ebd., Nr. 361. 87 Bezeugung, Nr. 1. 88 Es handelt sich vermutlich um Johann Henrich Geyer, der schon 1695 in Büdingen war und 1708 Sekretär und 1722 Erster Rat in Marienborn wurde. Er starb vor dem 28.11.1735 in Meerholz. Rock logierte am 1.10.1716 zum Auftakt seiner dritten Schwabenreise bei »Br[uder] Secretario Geyer« in Bergheim (Wohl und Weh [1719], 48). 89 Caspar Gipser war ursprünglich Pfarrer im sulzbachischen Etzelwang und wurde wegen der Verbreitung eines von ihm verfassten unorthodoxen Katechismus im Nürnbergischen abgesetzt. Er stand vermutlich unter dem Einfluss Rosenbachs. In seinem Hause wohnte Breuning (siehe Anm. 60). Gipser lebte mit seiner Frau in Schwarzenau und wurde später Pfarrer im reussischen Dobia bei Greiz. Vgl. Hartnack, Schwarzenau, 71; Renkewitz, Hochmann, 238, 272 u. 374. 90 Bezeugung, Nr. 127. 91 Vgl. oben S. 103.

Überblick 64–66 29.3. (Bü)

167

In der Morgen=Versammlung durch UM: / Nach dem Gesang: HErr JEsu Christ dich zu uns wend etc.92 durch UM: / Eodem in der Versammlung, nachdem die 2 Lieder gesungen: Halleluja, Lob, Preiß und Ehr93 u[nd] Wie schön leuchtet uns der Morgenstern, von Gnad etc.94 geschahe diß Zeugniß durch UM:

67

2.4. (M)

Von der Frau Rath Frenßdorfin,95 nach dem Gesang: Es glänzet der Christen inwendiges Leben etc.96 geschahe diß Zeugniß durch UM:

68

4.4. (S)

In des Br. Grubers Versammlung, als einige bißher abgewichene Brüder zugegen waren, geschahe folgendes Zeugniß durch UM:

5.4.97

durch UM im beÿseÿn Christian [Keÿsig]98 u[nd] Schuster-Pauls Sohn, nach dem Gesang: Mein Jesu! dem die Seraphinen p[erge]99 so Christian angab:

6.4. (S)

Durch UM, bey der Frau Castellin:100

69

7.4.

UM an sich selbsten.

7.4.102 (S)

UM an den Berliner Schneider.103

10.4.104

Durch UM an die M. E. Mathesin,105 eine Falsch-Inspirirte.

12.4.

am Ostertag in der Versammlung bezeugte UM an den Br. Michel107 / zum Br. Kinet.108

101

70109

106

13.4. (S)

Am zweyten Ostertage in der Versammlung durch UM:

92 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 218. 93 Vgl. ebd., Nr. 481. 94 Vgl. ebd., Nr. 509; Lieder des Pietismus, 5f. u. 77–79. 95 Frau Rat Frensdorff war verheiratet mit dem Deutschordensrat Johann Christoph Frensdorff, der im Dienste des Grafen August zu Marburg stand. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 105 u. 133. 96 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 515; Lieder des Pietismus, 50–52 u. 113–115. 97 Bezeugung, Nr. 77. 98 Nicht ermittelt. 99 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 278. 100 Es handelt sich um Gräfin Anna Sophia von Wittgenstein-Hohenstein (geb. 1668), die 1704 den Separatisten Petrus Castell aus Maastricht geheiratet und mit ihm zwei Kinder hatte, die sie nicht taufen ließen. Sie standen in enger Verbindung zu Marsay. Vgl. Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 771; ders., Geschichte, 195 u. 198; Jost Klammer, Der Perner von Arfeld. Kirchengeschichte im Raum Arfeld vom Jahre 800 bis 1945 nach Christus, Bad Berleburg/Arfeld 1983, 92 u. 97; Temme, Krise, 198. 101 Bezeugung, Nr. 79. 102 Bezeugung, Nr. 105. 103 Vgl. Bezeugung, o. Nr. 104 Bezeugung, Nr. 106. 105 Vgl. oben S. 96ff. 106 Bezeugung, Nr. 107. 107 Nicht ermittelt. 108 Es handelt sich vermutlich um den Separatisten Johann Melchior Kinet in Schwarzenau, der in Hochmanns »Friedensburg« u. a. mit Christian Erb wohnte, vgl. Renkewitz, Hochmann, 272 u. 416f.; Burkardt/Knieriem, Briefe Gerhard Tersteegens, 105 (Anm. 2). 109 Identisch mit Bezeugung, Nr. 108.

168

71

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 16.4.110

frühmorgens, UM

17.4.111

Nach langer und starker bewegung. UM

19.4.

in der Versammlung, da wenig frembde da waren, durch UM

112

22.4.113

UM in der Versammlung, an Seebach.114

23.4. (S)

Durch UM über die hiesige Eremiten:115

23.4.

116

(S) Durch UM geschahe folgendes Zeugniß des Geistes des HErrn an Alexander Mack:117

26.4. (S)

Nach vollendeter Versammlung durch UM:

4.5.118 (S)

geschahe durch UM ein Wort an das gefallene Werkzeug E[va] C[atharina] Wagnerin,119 darin der HErr den Grund offenbart, warum Er von ihr das Wort genommen habe.

8.5.120 (S)

Nach dem Morgengebet geschah beÿ Br[uder] Melber121 an denselben folgendes Zeugnis durch UM:

73

10.5. (S)

Durch UM in der Versammlung:

74

12.5. (S)

In der Versammlung nach dem Gebet durch UM:

72

110 Bezeugung, Nr. 109. 111 Bezeugung, Nr. 111. 112 Bezeugung, Nr. 110. 113 Bezeugung, Nr. 112. 114 Zu Christoph Seebach (1675–1745), der sein Pfarramt niederlegen musste und zur Zeit der Aussprache UM’s in Schwarzenau lebte, vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 164f., 193 u. 195. 115 UM versucht, die »Eremiten« zu Mitgliedern der Inspirationsgemeinden zu machen. Vgl. Goebel, Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden (1854), 409f. Marsay war nicht unter den »Eremiten«. In seinem Lebenslauf hielt er fest: »Ich verwundere mich über die vorsehung, in ansehung ihrer weisen führung, wie sie uns auch bewahret hat, daß wir nicht unter die Inspirirten fielen, [. . .] welche in diese gegend kamen, als ich nach Frankreich reysete. Und also waren wir abwesend zu der zeit, da sie alles in bewegung und verwunderung brachten, durch die ausserordentlichen dinge, die unter ihnen vorgingen. [. . .] Als wir aber aus der Schweitz zurückkamen, waren sie schon unter sich selbst in zwey theile getheilt [sc. die ›wahren‹ und die ›falschen‹ Inspirierten], mann entdeckte den betrug dieses geistes besser, und wir waren vor der verführung gesichert. Dann ob wir wohl keine gewißheit, noch klare und deutliche erkantnus hatten, welcher gattung diese geister seyen, welche die Inspiriten treiben und reden machen, so wußten wir doch wohl, daß es nichts vor uns seye.« (Archiv der Ev. Kirche im Rheinland, BM 4/1). Text und Transkription wurden mir freundlicherweise von Prof. Dr. Hans Schneider zur Verfügung gestellt. 116 Bezeugung, Nr. 20. 117 Wie oben Anm. 65. 118 Bezeugung, Nr. 128. Vgl. den Zusatz (S. 503): »Dieses Zeugnis steht in tom. 2. 197, in welchem tom fast alle Bezeugungen stehen, die in dieser Zeit geschehen sind durch UM. Es fehlt uns aber dieser Band.« Vgl. auch Historie II, 240. 119 Vgl. oben S. 108. 120 Bezeugung, Nr. 25. 121 Vgl. oben S. 103.

Überblick

169

75

16.5. (S)

In der Versammlung durch UM, in Gegenwart der Fräulein von Rauchbart,122 nach dem Gesang: So führst du doch recht selig, HErr, die Deinen etc.123

76

17.5. (S)

In der Versammlung, nachdem vorher Br[uder] J[ohann] A[dam] Gr[uber] in Inspiratione gebetet, sprach hierauf UM also:

20.5.124 (S) Nach dem Morgengebet durch UM. 77

22.5. (S)

In des Hrn. Hochmanns Hütte,125 in Gegenwart unterschiedlicher Personen durch UM:

78126

24.5. (S)

Nachmittags, als einige Brüder beym Zephania127 versammlet waren, geschahe erst eine Bezeugung durch J[ohann] A[dam] Gruber, worauf sie diß Lied miteinander sungen: Mein gnug beschwerter Sinn etc.128 Unter dem singen kam Schwester UM in des Geistes Bewegung zur Stube hinein, und hatte, da das Lied zu Ende war, folgendes Zeugniß:

79

29.5. (L)

In des D. Reich129 Hauß, als etliche Freunde beyeinander waren und beteten, geschahe folgendes Zeugniß durch UM:

80/81 1.6. (R)

Am zweyten Pfingst=Feyertage in der Versammlung durch UM, in Gegenwart vieler Fremden: / Zu Mittag in der Versammlung, nachdem das Lied war gesungen worden: Sieh: wie lieblich und wie fein etc.130 geschahe diß Zeugniß des Geistes durch UM:

82/83 6.6. (R)

In der Versammlung durch UM: / Legte sich auf die Knie und betete: Zur Jungfer Martinin:131

84

7.6. (R)

In der Nachmittags=Versammlung durch UM:

28.6.132 (Bü)

Hiernach kam auch noch die Schw. UM in Inspiration, u. sprach herumgehend folgendes:

122 Juliane Charlotte, geb. von Rauchbar-Lengsfeld (geb. 1681), seit 1720 Ehefrau von Johann Friedrich Haug, dem Mitautoren der Berleburger Bibel. Vgl. Knieriem/Burkardt, Kindheit JesuGenossen, 55 (Anm. 6). 123 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 210. 124 Bezeugung, Nr. 128. 125 Vgl. unten Anm. 357. 126 Identisch mit Bezeugung, Nr. 78. 127 Vermutlich handelt es sich um Zephanias Speymann in Schwarzenau, vgl. XX. Sammlung (1780), 35; Hartnack, Schwarzenau, 75. 128 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 449. 129 Wie oben Anm. 59. 130 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 390. 131 Elisabeth Charlotta Martin war die Schwester von Franz Martin, der mit seiner Absicht, Juliana Lind zu heiraten, für Aufruhr sorgte. Im März 1724 hielten sich alle drei auf der Ronneburg auf, wo Rock am 13.3.1724 eine an Franz Martin und Juliana Lind gerichtete Aussprache hielt. Vgl. XIII. Sammlung (1758), 39–41. 132 Bezeugung, Nr. 177.

170

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 28.6.133 (Bü)

Hiernach kamen alle vier Werkzeuge in annehmliche Freudenbezeugungen, wobei auch der alte Br. Gruber als mit einer Posaune mit dem Mund blies, worauf zum Entschluß dieses Tages nachfolgende Harmonie ausgesprochen wurde zum Lobe Gottes.

85

5.7. (R)

In der Versammlung zuletzt nach dem Gesang: Ich will einsam und gemeinsam etc.134 geschahe diß Zeugniß des Geistes durch UM:

86

6.7. (R)

Nachdem von Büdingen die Nachricht eingelauffen, daß daselbst Anschläge zu einer Verfolgung gemacht würden, geschahe in der Versammlung, als man diß Lied gesungen: Triumph!:,: des HErrn Gesalbter sieget etc.135 nachfolgendes Zeugniß:

87

12.7. (R)

Durch UM in der Versammlung, in Beyseyn vieler Fremden, nach dem Lied: Entfernet euch, ihr matten Kräfte etc.136 (Kehrte sich zu denen Weibspersonen:)

88

15.7. (Be)

(Bey einer Untersuchung) geschahe an Joh. Heinrich Preusser137 folgende Bezeugung durch UM:

15.7.138 (Be) Als der Br. Geyer139 der hiesigen Gemeinde vorgestellet, u. ihm das Amt eines Aufsehers war aufgetragen, auch die Gesetze u. Verordnungen des HErrn vorgelesen worden, knieeten die Anwesenden nieder u. beteten miteinander, u. übergaben sich aufs Neue der Hand des HErrn in seinem Gnadenbunde. Hierauf geschahe das Wort des HErrn durch UM an den Br. Geyer also. 89

19.7. (R)

Früh kamen einige Freunde von Büdingen, und erzehlten von der Feinde Wuth, und wie binnen 6 Wochen eine Verfolgung sey angekündiget worden der Gemeinde daselbst:140 als nun dieses in der Versammlung dem HErrn gelegentlich war vorgetragen worden, geschahe hierauf folgendes Zeugniß des Geistes des HErrn durch UM:

90

23.7. (R)

Als einige in der Gemeine sehr blöde und furchtsam sich im Gebet bezeigten, geschahe das Wort des HErrn durch UM:

91

24.7. (R)

In der Versammlung gab der junge Joh. Gottfried Stautz141 diß Lied an: Siehe! Ich gefallner Knecht etc.142 und als er hierauf auch gebetet und GOtt gelobet, geschahe an ihn folgendes Zeugniß durch UM:

133 Bezeugung, Nr. 178. 134 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 723. 135 Vgl. ebd., Nr. 552. 136 Vgl. ebd., Nr. 326. 137 Nicht ermittelt. 138 Bezeugung, Nr. 223. 139 Wie oben Anm. 88. 140 Nach der Untersuchungsarbeit in Büdingen setzte gleich Anfang Juli 1716 eine Verfolgung gegen die dortigen Inspirierten ein. Sie mussten innerhalb von sechs Wochen wegziehen. Am 28.9. brachen sie nach Schwarzenau auf. Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 55f. 141 Nicht ermittelt. 142 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 271.

Überblick

171

92

2.8. (R)

Bey einer Untersuchung der Brüder von Hanau, geschahe an Johann Christian Cracau,143 der viel vom inwendigen Grunde und Zeugniß rühmen wolte, folgendes Zeugniß durch UM:

93

3.8. (R)

Bey Untersuchung einiger Freunde aus Franckfurt an Maria Cath. Gedelin144 durch UM:

94

8.8. (Fr)

Abends in dem Reineckischen Hause145 auf Großens146 Stube, als Ulrich147 und Neumann148 mit denen zwey Werkzeugen J. Carl Gleim und UM daselbst angekommen, um die Untersuchung in selbiger Gemeinde vorzunehmen; (worüber es Anstand gegeben,) als wir miteinander gespeiset, kam folgendes Zeugniß des Geistes durch UM:

95/96 12.8. (Fr)

Früh Morgens auf Großens149 Stube durch UM: / In des Rußbachs150 Hause bey einer Untersuchung geschahe an den Korbmacher Georg Andreas Berens151 nachfolgendes Zeugniß durch UM:

97

15.8. (E)

Bey einer Untersuchung dasiger Freunde, geschahe über Frau Strohin152 insonderheit folgendes Zeugniß durch UM, nach dem Lied: O Heiliger Geist, kehr bey uns ein etc.153

98

16.8. (Be)

In Bruder Geyers154 Hause durch UM:

99

21.8. (R)

In der Versammlung, als einige klägliche Gebeter ausgeschüttet wurden, geschahe diese Bezeugung durch UM:

100

30.8. (R)

In der Versammlung durch UM:

101

4.9. (R)

In der Versammlung nachdem die Gemeinde gebetet, stund Schwester UM in der Inspiration auf, gieng in die Neben=Kammer, worin sich der bey der Untersuchung durch den Geist des HErrn von der Gebets=Gemeinschaft auf eine Zeitlang ausgeschlossene Bruder Matthäus Eberle155 indeß befand, brachte ihn mit sich in die Ver-

143 Es bleibt unklar, ob es sich um den Knopfmacher Cracau handelt, vgl. XXIV. Sammlung (1782), 101. 144 Nicht ermittelt. 145 Vgl. oben Anm. 46. 146 Vgl. ebd. u. oben S. 104. 147 Vgl. oben S. 104. 148 Vgl. ebd. 149 Wie Anm. 146. 150 Nicht ermittelt. 151 Nicht ermittelt. 152 Frau des Johann Jakob Strohe, siehe unten: Anhang [2.]. 153 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 158. 154 Wie oben Anm. 88. 155 Nicht ermittelt.

172

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« sammlungs=Stube, fiel mit ihm auf die Knie und Angesicht, und sprach vor und über ihn also: Hierauf richtete sie den Kopf in die Höhe und sprach zum Br. Matthes:156 Stund vom knien auf: Führete ihn hierauf wieder in die Kammer, und schloß die Thüre zu: Zur Anna Bartmännin157 sprach sie:

102

8.9. (R)

In der Versammlung unterm Gebet sprach UM:

103

25.10. (S)

Als die von Büdingen verfolgte Familien daselbst ankommen,158 und nebst der Gemeinde allda im Gebet versammlet waren, trug Bruder Gruber dem HErrn insonderheit vor, daß dermahlen sich in etlichen Gemüthern ein Gegenstand fände, daß seine Gnaden=Würkungen dadurch verhindert würden; hierüber kam der Geist des HErrn auf UM, und bezeugete folgendes an die Versammlung:

Anno 1717 104

15.1. (R)

In der Versammlung nach dem Lied: GOtt wills machen, daß die Sachen gehen, wie es heilsam ist etc.159 geschahe diß Zeugniß durch UM:

105

17.1. (R)

In der Versammlung nach dem Gesang: Holdseligs Gottes=Lamm etc.160 als wir uns zum Gebet niederlegten, kam UM in Inspiration, und sprach:

23.1.161 106

2.2. (Bü)

Da die Gemeinde ihr Gebets=Opfer dem HErrn bringen wolte, kam Schwester UM kniend in Inspiration, und betete durch den Geist also:

107

3.2. (Bü)

In der Versammlung nach abgesungenem Lied: Ermuntert euch, ihr Frommen etc.162 kam Schwester UM in folgende Aussprache:

108

10.2. (R)

In der Morgen=Versammlung unter dem Gebet durch UM:

17.2. (R)

In der Versammlung durch UM:

163

109

156 157 158 159 160 161 162 163

Wie Anm. 155. Frau des Nicolay Bartmann. Siehe unten Anm. 231. Vgl. oben Anm. 140. Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 417. Vgl. ebd., Nr. 484. Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 390. Wie oben Anm. 41. Identisch mit Bezeugung, Nr. 21 [Nr. unsicher].

Überblick

173

110

5.3. (R)

In der Versammlung über des Joh. Stautz164 seinem Gebet kam UM in Inspiration und sprach:

111

19.3. (R)

Kam ein falsch Inspirirter R. von G. im W.165 in unsere Versammlung, und that sich mit seinen falschen Bewegungen und Kräften im Gebet herfür; als wir aber das letzte Lied: Komm, o komm, du Geist des Lebens etc.166 ausgesungen, kam der Geist des HErrn auf die Schwester UM, und bezeugete folgendes: Trat zu dem falsch Inspirirten, und sprach: Fieng mit kläglicher Stimme an: Redete mit harter Stimme: Wandte sich zur Schwester M. Barbara Melberin167 und sprach:

112

28.3. (R)

Am Oster=Feyertage, nachdem einige Glieder in der Versammlung gebetet, fieng UM mit sehr kläglicher Stimme und Bewegungen also an:

113

30.4. (R)

In der Versammlung nach dem ersten Gesang: JEsu hilf siegen, du Fürste des Lebens etc.168 geschahe diß Zeugnis durch UM:

114

21.4. (R)

Durch UM in der Versammlung nach dem Gesang: O JEsu: lehre mich, wie Ich dich finde etc.169

2.5.170 (R)

An Br. Herliberger171 geschahe bei der Unterredung nachstehendes Wort des HErrn durch Schw. UM.

115/6 3.5. (R)

Bey einer Untersuchung in der Gemeinde, als diß Lied war gesungen worden: Komm, beug dich tief, mein Herz und Sinn etc.172 kniete UM in der Inspiration nieder, und betete durch Trieb des Geistes also: (Legte das Angesicht zur Erden nieder:) Richtete sich in die Höhe, wandte sich gegen Br. Friedrich, (welcher inzwischen in Bewegung kam) und sprach: (Sie legte sich zu des Br. Melbers173 Füssen:) / Nachmittags als in der Untersuchung mit dem ältesten Cruciger von Dietz174 war gehandelt worden, geschahe diese Bezeugung durch UM:

164 Wie oben Anm. 141. 165 Nicht ermittelt. 166 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 154. 167 Frau von Georg Melber, siehe oben S. 103. 168 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 312; Lieder des Pietismus, 34–36 u. 100–102. 169 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 424. 170 Bezeugung, Nr. 103. 171 Es handelt sich um den verbannten pietistischen Zürcher Pfarrer Felix Herrliberger (1689–1724), der »Anschluss an die Inspirierten in Ronneburg« suchte. Vgl. Hanimann, Nonkonformisten, 59f., hier 60. 172 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 744. 173 Vgl. oben S. 103. 174 Zum Dietzischen Hof und zu den beiden Jungfern und Frau Rätin Cruciger vgl. Buß=Weck= und Warnungs= Stimme (1718), 85 u. 89–96.

174

117– 120

121– 123

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 3.5.175 (R)

Hierauf nahm Br. Renner176 seinen Abschied u. gieng fort; Br. Melber u. Nicolaus giengen ihm nach, u. beredeten ihn, daß wieder kam [sic]. Sie befragten ihn nun weiter, u. als er keine richtige Antwort geben wollte, wurde Schw. UM vom Geist inspiriert u. sprach zu ihm, wie folgt.

4.5. (R)

Bey der Untersuchung an Schwester Melberin177 und ihre Kinder, durch UM: / Gieng zur M. Elis. und M. Barbara Melberin und zur Joh. Marg. Braunin178 hin: / Bey der Untersuchung an Schw. S. E. Neumannin179 durch UM: / Nach gehaltener Untersuchung als wir gebetet und das Lied gesungen: Halleluja, Lob, Preis und Ehr etc.180 stund UM in der Bewegung des Geistes auf, und sprach mit erhabener Stimme:

4.5.181 (R)

Bei Fortsetzung der Untersuchung geschahe nachstehendes Wort des HErrn an die Schw. Stautzin182 durch Schw. UM.

4.5.183 (R)

Hierauf stund die Gemeinde auf, u UM kam in Inspiration, u sprach folgende Worte an den Vorsteher u. die Gemeinde.

6.5.184 (R)

Am Tage der Himmelfahrt Christi, kamen die Bergheimer samt der R[onneburger] Gemeinde zusammen, und als sie das Lied gesungen Ihr armen Sünder stammt zu Hauf pp.185 und mit einander gebeteth, da eben eine Prüfung mit der Bergh[eimer] Gemeinde sollte vorgenommen werden, kam UM in Inspiration und sprach:

6.5. (R)

Bey der Untersuchung der Bergheimer Gemeine an Christian Siebicke186 durch UM: / Eodem an die Schwester A. M. Preusserin,187 durch UM: / Eodem an Schwester A. D. Schmitzin,188 Wittib, durch UM:

175 Bezeugung, Nr. 109. 176 Nicht ermittelt. 177 Wie oben Anm. 167. 178 Wie oben Anm. 80. 179 Frau von Gottfried Neumann, Siehe oben S. 104. 180 Vgl. oben Anm. 93. 181 Bezeugung, Nr. 117. 182 Frau von Joh. Stautz, siehe oben Anm. 141. 183 Bezeugung, Nr. 126. 184 Ebd., Nr. 46. 185 Vgl. Laurentius Laurenti, zuerst in dessen Evangelia Melodica, Bremen 1700. 186 Johann Christian Siebicke besuchte mit seiner Frau am 25.1.1717 Georg Melber und brachte ihm Briefe aus dem Zweibrückischen, »darinnen enthalten war / daß sich daselbsten wiederum eine Verfolgung erhoben.« Buß=Weck= und Warnungs= Stimme (1718), 390. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 416. 187 Nicht ermittelt. 188 Es handelt sich evtl. um die Witwe des Berleburger Predigers Dietrich Otto Schmitz. Vgl. Temme, Krise, 134.

Überblick 6.5.189 (R)

An Schwester M. E. Pr.190 durch UM:

6.5.

Zur jüngsten Schwester Marg. Pr.192 durch UM:

191

124

(R)

175

7.5. (R)

Bey Untersuchung der Büdinger Gemeinde, über den Papiermüller193 durch UM:

7.5.194 (R)

An Br[uder] C. L. [?]195 durch UM:

7.5.

An Br[uder] M W197 durch UM:

196

(R)

7.5.198 (R)

An Schwester Fitiam199 durch UM:

8.5.

An Schw. M. E. Preuser201 von Bergheim durch UM. / An die kleine Schwester Margaretha Preuser.

200

(R)

125/6 9.5. (R)

9.5.204 (R)

Bey Untersuchung der Düdelsheimer Gemeinde geschahe diß Zeugniß über Peter Engeler202 durch UM: / Bey Untersuchung der Brüder aus Hanau, als wir miteinander diß Lied gesungen: Sieh: wie lieblich und wie fein etc.203 geschahe folgende Bezeugung des Geistes durch UM: Nachmittags, als wir wieder zusammen kamen, sangen wir zuerst: Nun bitten wir den Heiligen Geist,205 worauf gebetet wurde. Während der Fortsetzung der Unterredungsarbeit geschahe nachstehendes Zeugniß des Geistes des HErrn durch Schw[ester] UM an Br[uder] Michael Wagner.2064

10.5.207 (R) An die alte Schw[ester] E. M. Traut.208 und ihre Kinder durch UM:

189 Bezeugung, Nr. 57. 190 Nicht ermittelt. 191 Ebd., Nr. 58. 192 Nicht ermittelt. 193 Nicht ermittelt. 194 Ebd., Nr. 66. 195 Nicht ermittelt. 196 Ebd., Nr. 69. 197 Evtl. Michael Wagner, siehe unten Anm. 204. 198 Ebd., Nr. 70. 199 Nicht ermittelt. 200 Ebd., Nr. 152. 201 Nicht ermittelt. 202 An Peter Engeler wandte sich Rock in einer Aussprache am 10.11.1726 in Düdelsheim. Vgl. XV. Sammlung (1764), 120–127, hier 126. 203 Vgl. oben Anm. 130. 204 Bezeugung, Nr. 157. 205 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 156. 206 Michael Wagner war ursprünglich Täufer und schloss sich dann den Inspirierten an. Er war verheiratet mit dem »Werkzeug« E. C. Wagner. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 415 u. oben S. 108. 207 Bezeugung, Nr. 87. 208 Es handelt sich evtl. um eine Angehörige der aus dem Elsass stammenden Familie Trautmann. Vgl. XIV. Sammlung (1761), 129f.

176 127

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 17.5. (R)

In der Versammlung nachdem einige klägliche Gebeter ausgeschüttet worden, geschahe folgende Bezeugung durch UM:

18.5.209 (R) An Br[uder] Andreas Berens210 aus Frankfurt geschahe dieses Wort durch UM. 18.5.211 (R) An Br[uder] Biermann212 geschahe nachstehendes Zeugniß durch Schw[ester] UM 128/9 21.5. (L)

Bey der Untersuchung der Gemeine geschahe diß Zeugnis des HErrn durch UM: / Eodem über den Cantzley=Both H. Lauth213 durch UM:

21.5.214 (L) An Schw[ester] Gertrauth Seitz215 geschahe folgendes Geistes=Zeugniß durch Schw[ester] UM: 130

23.5. (A)

Bey einer Untersuchung geschahe diß Zeugniß an Amtmann Weber216 durch UM:

131

1.6. (R)

In der Versammlung, als wir diß Lied gesungen: Jehovah! nimm von mir die Kräfte hin etc.217 und hierauf niederknieten zu beten, kam Schwester UM in Inspiration, und sprach durch den Geist also:

132

4.6. (R)

In der Versammlung nach dem Gebet durch UM:

26.6.

218

(S) Nach diesem [Lied, nämlich: Ermuntert euch ihr Frommen]219 kam UM annoch in Bewegung, und sprach folgendes:

3.7.220 (S)

Als die Gemeinde wiederum vor dem Herrn versammlet war, und dieselbe die Versamlung mit dem Gesang Gott wills machen p[erge]221 endigte, kam Schw[ester] UM als das Gesang bis an den 11.ten Vers geendiget war, in Bewegung des Geistes, und mußte folgendes bezeugen:

209 Bezeugung, Nr. 170. 210 Wie oben Anm. 151. 211 Bezeugung, Nr. 173. 212 Es handelt sich evtl. um den reformierten Pfarrer Biermann, vgl. Renkewitz, Hochmann, 219. 213 Zum reformierten Kanzleiboten Henrich Lauth (Laud) aus Laubach vgl. Renkewitz, Hochmann, 80 u. 83. 214 Bezeugung, Nr. 187. 215 Es handelt sich evtl. um die Frau des Separatisten Johannes Seitz, eines Schäfers in Laubach, der 1709 die Kindertaufe in Frage stellte. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 85. 216 Nicht ermittelt. 217 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 745. 218 Bezeugung, Nr. 94. 219 Wie oben Anm. 41. 220 Bezeugung, Nr. 95. 221 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 417.

Überblick

177

17.7.222 (S) Als die Gemeinde wiederum vor dem Herrn versammlet war, wurde das Lied gesungen: Liebster Jesu, liebstes Leben p[erge],223 darauf wurde gebätet; da sich dann auch der erst angekommene Bruder Strähl224 als Vorsteher der mittleren Versammlung vermahnen ließ in einem Gebet; nach diesem wurde Matth. 22, 1–5 behandelt und dem Herrn der 19. Psalm vorgetragen und dann zum Beschluß das Lied gesungen: Nun lob meine Seel den Herrn p[erge]225 darauf kam Schw. UM annoch in Inspiration, und hatte folgende Bezeugung der beiden Vorsteher wegen der mittleren Versammlung, nehmlich: 22.8.226 (S) Wurde in der Gemeinde ein Fast=Buß= und Bettag angestellet und gehalten, welche mit dem Gesang O Jesu süßes Licht p[erge]227 angefangen und mit dem Gebet fortgesetzet wurde, bis zu Ende nach dem letzten Lied kam UM in Bereitung des Geistes und mußte nachfolgendes aussprechen: 133

10.9. (R)

In der Versammlung, als zuletzt das Lied gesungen: Man lobt dich in der Stille etc.228 geschahe diese Bezeugung des HErrn durch UM:

134

19.9. (R)

In der Versammlung nachdem der 8. Vers in dem Lied: Mein König! schreib mir dein Gesetz etc.229 gesungen ward, kam UM in Inspiration, und sprach also:

135

14.10. (R)

Beym Schlafengehen, als etliche Schwestern zuvor miteinander gebetet, geschahe das Wort des HErrn durch UM:

17.10.230 (R)

Hierauf begaben wir uns ins Gebet, u. als Sam. Carl zuerst gebetet, kam UM in Bewegung des Geistes, u. nach langem Widerstand sprach sie nachfolgendes Wort des HErrn aus. / Stund auf und trat gegen den Br. Nicolaus Bartmann:231

222 Ebd., Nr. 96. 223 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 299. 224 Johann Justus Strähl war zuerst lutherischer Pfarrer in Hornbach (Zweibrücken) und lebte ab 1721 in Schwarzenau als Mitglied der Inspiriertengemeinde. Vgl. Schneider, Rez. zu: Rock, Wie ihn Gott geführet, 254. 225 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 495. 226 Bezeugung, Nr. 101. 227 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 608. 228 Vgl. ebd., Nr. 490. 229 Vgl. ebd., Nr. 387. 230 Bezeugung, Nr. 269. 231 Bartmann war Schuster aus Windecken (Grafschaft Ysenburg–Marienborn), heiratete 1710 in Laubach die Witwe des Schumachers Conrad Schäfer – die Trauung erfolgte durch den Hofprediger Marquard in einer Privatwohnung – und begleitete mit dem Strumpfweber Heinrich Sigmund Gleim Johann Friedrich Rock auf dessen ersten Reise ins Schwäbische vom 29.3.1716–9.4.1716. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 85; Wohl und Weh (1719), 1. Bartmann starb am 6.4.1737 in Himbach und »wurde den 8ten ipsorum more in der stille begraben.« Kirchen=Buch der Pfarreÿ Eckartshausen 1702–1756, enthaltend Geborene, Copulirte und Gestorbene, hier Bl. 272. Seine Frau starb am 7.4.1746, vgl. ebd., Bl. 254.

178

136

137

138

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 24.10.232 (R)

In der Versammlung, da etliche Fremde zugegen waren, und man das Lied gesungen hatte: Mein Gott das Hertz ich bringe dir p[erge]233 kahm UM in Inspiration, stund auf; ging zum Bruder Joh. Stautz234 und Caspar Schlöpfer,235 auch unter die Weibs=Persohnen, und sprach:

14.11. (R)

In der Versammlung, als zuletzt das Lied gesungen war: Dankt dem HErrn, ihr GOttesknechte etc.236 geschahe diß Zeugniß durch UM:

19.11.237 (R)

[Aussprachenharmonie mit UM, Gleim, Gruber, Rock]

22.238/ 23.11. (R)

Bey einer Untersuchung an Br[uder] Hurter, Herrschaftlicher Informator zu Birstein,239 der behaupten wollte, daß er ihres Hofpredigers Predigt wohl noch mit Erbauung anhören könte, dieweil er noch ein wiedergebohren240 Werkzeug und göttliche Warheiten vortrüge, geschahe durch Trieb des Geistes folgendes Zeugniß durch den Mund UM: Unterweisung wie man in sich kehren soll. Bruder Weber241 begehrte zu wissen die Art und Weise der rechten innigen Einkehr, und als das Lied gesungen war: Höchster Priester, der du dich etc.242 geschahe auf Br. Webers Frage diß Wort des HErrn durch den Mund UM:

27.11.243 (R)

Zu Bruder Wetzel244 von Schmalkalden durch UM:

28.11. (R)

Bey einer Untersuchung als wir das Lied sungen: Meine Armuth macht mich schreyen etc.245 geschahe diß Zeugniß des Geistes, insonderheit an die 3. anwesende Vorsteher Ulrich,246 N[icolay] Bartmann247 und Geyer248 gerichtet, durch den Mund UM:

232 Bezeugung, o. Nr. 233 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 443. 234 Nicht ermittelt. 235 Der aus aus dem appenzellischen Trogen stammende Caspar Schlöpfer gehörte zu den Anhängern der Inspirierten. Noch 1738 hielt Rock in seinem Haus eine Aussprache. Vgl. III. Sammlung (1739), 7 u. 19. 236 Wie oben Anm. 49. 237 Bezeugung, o. Nr. 238 Identisch mit Bezeugung, o. Nr. 239 Nicht ermittelt. 240 Die Betonung der Wiedergeburt ist für den Pietismus allgemein kennzeichnend. Vgl. August Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, 149. 241 Nicht ermittelt. 242 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 442. 243 Bezeugung, o. Nr. 244 Nicht ermittelt. 245 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 662. 246 Siehe oben S. 104. 247 Wie oben Anm. 231. 248 Wie oben Anm. 88.

Überblick

139

179

12.12.249 (R)

In der Versammlung nach dem Gesang Ich gefallner Knecht p[erge]250 kahm UM in Inspiration, und sprach folgendes:

25.12. (R)

In der Versammlung nachdem zuletzt das Lied gesungen war: Ach! was sind wir ohne JEsu etc.251 sprach UM durch den Geist folgendes über den Zustand der in Versuchung schwebenden Werkzeuge aus:

N. N.252

(Friedenthal) Aussprach des Geistes des HErrn durch UM:

Anno 1718 15.1.253 (S) Dieser Tag wurde also geschlossen mit dem Gesang: Man lobt dich in der Stille etc.254 Nach dem Gesange kam Schw[ester] UM in Inspiration, u[nd] nach einigem Gegenstand, zur Aussprache, wie folgt: 22.1.255 (S) Hierbei kam Schw[ester] UM in Inspiration u[nd] hatte folgendes Zeugniß vom HErrn an Schw[ester] Strähl256 abzulegen: 140

4.3. (R)

In der Versammlung gleich zu Anfang unter dem Lied: JEsu, hilf siegen, du Fürste des Lebens etc.257 nachdem der 6 Vers gesungen war, kam Schwester UM in Bewegung des Geistes, und sprach:

141

30.3. (R)

In der Versammlung unterm Gebet durch UM:

142

15.5. (R)

In der Versammlung unterm Gebet durch UM:

143

18.5. (R)

In der Versammlung unterm Gebet durch UM:

144

1.6. (R)

An einem Fast= und Bethtage als in der Versammlung diß Lied gesungen war: Schütte deines Lichtesstrahlen, o mein Heyland, über mich etc.258 geschahe folgendes Zeugniß durch UM:

145

6.6. (R)

In der Versammlung nach Verlesung des 39 Psalms geschahe diß Wort der Weissagung durch den Mund UM:

146/7 26.6. (R)

249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260

In der Versammlung zuletzt nach dem Lied: Liebster JEsu, du wirst kommen etc.259 geschahe folgende Bezeugung des Geistes durch UM: / In der Versammlung bey der Abreise Bruder Friedrichs von Fischers260 in das Würtemberger und Ulmer Land, als sie beyde zum Abschied gebetet, kam Schwester UM in Inspiration, und sprach:

Bezeugung, o. Nr. Wie oben Anm. 142. Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 250. Bezeugung, Nr. 100. Bezeugung, Nr. 7. Wie oben Anm. 228. Bezeugung, Nr. 22. Es handelt sich vermutlich um die Frau von Johann Justus Strähl. Siehe oben Anm. 224. Wie oben Anm. 168. Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 315. Vgl. ebd., Nr. 352. Gottlieb Friedrich Fischer war ein Cousin des Berner Postgründers Beat Fischer.

180

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 15.7.261 (R) [. . .] deß Morgens versammlete sich die Gemeinde auf der Ronnäburg vor dem HErrn; Und alß die reyßende Brüder262 im Gebet ihren Abschied genommen / kam Schwester UM in Inspiration und nachfolgende Gebeths=Aussprache:

148

20.7. (R)

In der Versammlung zuletzt nach dem Gesang: Zeuch mich, zeuch mich mit den Armen etc.263 hatte Schwester UM nachfolgendes Zeugniß über sich selbsten:

149

7.8. (R)

In der Versammlung zuletzt unter dem Lied: HErr, aller Weißheit Quell und Grund etc.264 als der 14 Vers gesungen war, kam Schwester UM in Bewegung des Geistes und folgende Aussprache:

150

11.9. (R)

In der Versammlung gab Nic[olay] Bartmann265 das Lied an: Er führet hinein, er muß auch Helffer seyn etc.266 als es war ausgesungen, kam der Geist des HErrn über UM, und bezeugete durch sie folgendes:

151

6.11. (R)

In der Versammlung an einem gewöhnlichen monatlichen Fast= und Bettage, als wir anfangs das Lied gesungen: Dein Erbe, HErr, liegt vor dir hier etc.267 und hierauf ein wenig in der Stille gesessen, kam UM in des Geistes Bewegung und nachfolgende Aussprache:

152

27.11. (R)

In der Versammlung unter dem Gesang: Ach komm, du süsser Herzensgast, du Labsal meiner Seelen,268 nachdem der 7 Vers gesungen, kam Schwester UM in Inspiration und folgende Aussprache:

153

26.12. (R)

Am zweyten Christ=Feyertage, als Schwester UM in der Versammlung betete, und dem HErrn ihren Zustand der Seelen fürtragen wolte, kam sie in Inspiration, und sprach folgende Worte:

261 Vgl. Wohl und Weh (1719), 207. 262 Es handelt sich um die fünfte Schwabenreise (15.7.1718–10.9.1718) von J. Fr. Rock, die er zusammen mit Johannes Fischer durchführte (vgl. Wohl und Weh [1719], 202–246). Bei der Abschiedsversammlung vom 15.7.1718 waren auch gewisse »Göppinger Brüder« anwesend, vgl. Wohl und Weh (1719), 209. 263 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 725. 264 Vgl. ebd., Nr. 503. 265 Wie oben Anm. 231. 266 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 398. 267 Vgl. ebd., Nr. 306. 268 Vgl. ebd., Nr. 339.

Überblick

181

Anno 1719 154269 24.9. (R)

Als Bruder Joh. Friedrich Rock nebst seine Reise=Gefährten Fischer270 und Schultheiß271 die Abschieds=Versammlung mit uns hielten, da sie ihren Weg in das Würtembergische und die Schweiz auf Befehl des HErrn antreten wolten; und wir miteinander das Lied sungen: Er führt hinein, Er muß auch Helffer seyn etc.272 kam Schwester UM unter dem 19 Vers in Inspiration, und sprach hierauf als das Lied zu Ende war, folgende Worte zur Aufmunterung und Stärkung an die reisende Brüder:273

269 Vgl. XXXV. Sammlung (1784), 14. Die kurze Aussprache wird mit Ausnahme einiger Kommata etc. und eines Akkusativs statt Dativs (»in den innersten Grund« [XXXV. Sammlung] statt »in dem innersten Grund« [HA]) identisch überliefert. 270 Wie oben Anm. 260. 271 Johann Jacob Schulthess († 1761), gebürtig von Zürich, Sohn des nachmaligen Ratsherrn Hans Heinrich Schulthess (1665–1739), war einst in Zürich Geistlicher, wurde seines Amtes enthoben und zog ins Exil. Von 1710 bis 1715 war er Pfarrer in der französischsprachigen Gemeinde in Schwabendorf b. Marburg. Er zog mit seiner Frau in die Pfalz und trat in die Dienste einer verwitweten Gräfin von Wittgenstein. Vgl. XVIII. Sammlung (1780), 50; Hanimann, Zürcher Nonkonformisten, v. a. 60–63; J. Jürgen Seidel, Die Anfänge des Pietismus in Graubünden, Zürich 2001, 561. 1721 wohnte er zusammen mit einem anderen Candidaten, »Johann Eberwein Scriba von Herborn« »in der Frau Castellin behaußung in einer stube«. Beide hatten keine Niederlassungserlaubnis von der Herrschaft, wobei Schulthess schon seit einem und Scriba schon »beÿnahe 5 jahr lang alhier geweßen.« Acta des Fürst Wittgenstein’schen Archivs zu Wittgenstein, N 72: Actum Schwartzenau den 4. Juli 1721 wurden die sämtlichen Schwartzenauer Einwohner vorgefordert und nachfolgender gestalt gefragt und notiret, 27v. Am 24.10.1724 wohnten Schulthess und Scriba immer noch in Schwarzenau. Vgl. XIII. Sammlung (1758), 100. Schulthess konnte französisch und diente Rock auf mehreren Reisen ins Welschland als Übersetzer. Er heiratete eine Schwester aus den Inspirationsgemeinden namens von Buchenau, vgl. XV. Sammlung (1764), 136 [Berleburg, 6.12.1726]. Vgl. Hartnack, Schwarzenau, 75. 272 Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), Nr. 398. 273 Vgl. XXXV. Sammlung (1784), 13f.

182

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« 3.2 Auswertung

Die insgesamt 156 Aussprachen des Himmlischen Abendscheins verteilen sich wie folgt auf die Zeitspanne vom 16. März 1715 bis zum 24. September 1719: 1715: 1716: 1717: 1718: 1719:

50, davon in: (R) 31, (S) 9, (B) 2, (andere) 8 54, davon in: (R) 31, (S) 12, (B) 3, (andere) 8 37, davon in: (R) 32, (S) 0, (B) 2, (andere) 3 14, davon in: (R) 14 1, davon in: (R) 1

Von 156 Aussprachen wurden insgesamt 109, d. h. gut zwei Drittel auf der Ronneburg gehalten. Dabei fällt auf, dass 1715, 1716 und 1717 je 31 bzw. 32 dort stattfanden. 1718 waren es mit 14 Aussprachen fast die Hälfte und 1719 war es nur noch eine. Weiter fällt die 1715 und 1716 mengenmäßig fast gleichbleibende Verteilung der Aussprachen auf die anderen Orte auf, die Ursula Meyer besucht hatte. Genau nach fünfzig Aussprachen gibt es eine große Zäsur. Zwischen Aussprache Nummer fünfzig und einundfünfzig verstreichen sechs Monate. Der Eindruck drängt sich förmlich auf, der Redaktor habe aus einer bestimmten Zahl von Aussprachen eine Auswahl getroffen und zwar anfänglich so, dass eine proportional möglichst gleichmäßige Streuung auf die Orte, an denen sie gehalten wurden, gewährleistet würde. Dabei scheint er so vorgegangen zu sein, dass er zunächst die Aussprachen auf der Ronneburg zusammenstellte. Wichtig schien ihm, dass sie möglichst auf das ganze Jahr verteilt waren. Man könnte vermuten, anfänglich sei es ihm noch um eine gewisse Vollständigkeit gegangen. Mit zunehmender Zahl an Aussprachen hätte er jedoch sein Konzept verändert und sich schließlich auf besondere Aussprachen und Ereignisse beschränken wollen. Zur These, dass ein Redaktor aus einer Mehrzahl von Aussprachen eine Auswahl traf und nicht nur die schließlich publizierten Inspirationsreden zur Verfügung hatte, passt auch die im Vorwort zum Himmlischen Abendschein erwähnte Begründung für ihre Drucklegung: »Weil aber von der vierten Person und Aussprecherin, nemlich Ursula Meyer [. . .] noch nichts gedruckt worden, und ist doch ein ziemlich geschriebener Vorrath von gehabten göttlichen Aussprachen noch immer in guter Verwahrung nach ihrem Tod aufbehalten.«274

Zudem erläuterte der Herausgeber den Druck des Himmlischen Abendscheins damit, dass von den anderen drei »Werkzeugen« mit dem Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), der Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718) und 274 HA, 4 [Hervorhebung IN].

Überblick

183

dem Wohl und Weh (1719) »eine Probe derer Zeugnissen und Aussprachen«275 der Öffentlichkeit schon zugänglich gemacht worden sei. Als weiterer Beleg für die These eines erfolgten Auswahlverfahrens scheinen die beim Sortieren der Aussprachen Ursula Meyers begangenen Fehler zu sein: 1. Bezeichnung je zweier verschiedener Aussprachen als Nr. 63 bzw. Nr. 137. 2. Einordnung der Aussprachen vom 17. Juli 1715 (Nrn. 31/32) nach jener vom 19. Juli 1715 (Nr. 30). 3. Einordnung der Aussprache vom 21. April 1717 (Nr. 114) nach jener vom 30. April 1717 (Nr. 113). Dass es noch zahlreiche weitere Inspirationsreden Ursula Meyers gab, die jedoch nie publiziert wurden, beweist das handschriftliche Quellenmaterial aus Amana; es lässt sich jedoch auch anhand gedruckter Quellen der Inspirierten belegen: In Historie II werden mehrere Sätze einer Aussprache Ursula Meyers wörtlich zitiert, die sich direkt an das »untreu« gewordene »Werkzeug« Eva Catharina Wagner richteten.276 Als Datum wird der 4. Mai 1716 angegeben. Eine auf diesen Tag fallende Aussprache Ursula Meyers ist im Himmlischen Abendschein nicht belegt. Es handelt sich auch um keine zeitliche Verwechslung, da sich die betreffende Passage im Himmlischen Abendschein nicht nachweisen lässt. Zudem fanden die Aussprachen Ursula Meyers vom 23. Januar 1717 und vom 15. Juli 1718 keine Aufnahme im Himmlischen Abendschein. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme weiß im Gegensatz zum Himmlischen Abendschein von einer am 7. Oktober 1716 in Schwarzenau gehaltenen Inspirationsrede Meyers.277 Die Aussprache Ursula Meyers vom 6. Februar 1718, die eigentlich Johann Friedrich Rock hätte halten sollen, ist nicht auffindbar.278 Ursula Meyer sprang als »Werkzeug« für Rock ein und sprach die Worte aus, die eigentlich in sein Herz gelegt worden waren, die er aber aus Ungehorsam gegen »den Trieb des Geistes« nicht hatte aussprechen können.279 Historie I schreibt zum fünften und letzten Liebesmahl vom November 1716 in Schwarzenau: »Wie das gehalten worden, was dabey vorgegangen, das ist alles umständlich aufgeschrieben, und kan mit Zeugnissen, durch Ursula Mayerin geschehen, die kurz, und sehr wichtigen Jnhalts seyn, in 2 Octav=Bänden gedruckt werden.«280 Ursula Meyer spielte demnach eine gewichtige Rolle als »Werkzeug« beim letzten Liebesmahl. Doch auch davon sind uns keine Zeugnisse überliefert worden. 275 276 277 278 279 280

Ebd., 3 [Hervorhebung IN]. Vgl. Historie II, 240 u. oben S. 168. Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 74. Vgl. XVI. Sammlung (1772), 182f. [6.2.1718]. Ebd., 183. Vgl. XII. Sammlung (1751), 207. Historie I, 248f.

184

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

Die jeweiligen redaktionellen Rahmungen der einzelnen im Himmlischen Abendschein veröffentlichten Aussprachen können aufgrund der zeitlichen Distanz kaum vom Redaktor selbst stammen, sondern müssen von ihm übernommen worden sein. Der verantwortliche Nachschreiber wird sie gleich im Anschluss an eine ergangene Aussprache notiert haben. Sie liefern z. T. wertvolle Hinweise auf spezielle Kontexte, in denen die Aussprachen entstanden. Auffallend ist die zunehmende Bedeutung der Lieder.281 Während 1715 nur vereinzelt Lieder im Vorspann erwähnt werden, erscheinen 1716 und 1717 häufig ganze Liedtitel. Am 19. September 1717 wird sogar die Nummer der vor einer Aussprache gesungenen Liedstrophe notiert; 1718 geschieht dies schon dreimal. In der letzten Aussprache vom 24. September 1719 wird ein »Vers 19« erwähnt. Im Zuge der Verkirchlichung der Gemeinden scheint auch der Ablauf der gottesdienstlichen Versammlungen zunehmend genormt worden zu sein. Gesungen wurden die Halleschen Melodien von Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739).282 Erst 1718 benutzte man ein eigenes Gesangbuch, das sog. Davidische Psalter=Spiel Der Kinder Zions [. . .].283 Von den 52 erwähnten Liedern sind 11 Loblieder.284 Schon Haug stellte 1715 fest: »dabey ich noch insonderheit an mir wahrnehme / daß diese Bewegungen sonderlich starck sich einfinden / wann ein Liebes=Psalm oder Lob=Lied in meinem Beyseyn gesungen / oder sonst Gottes Name durch Lobsprüche erhoben wird / [. . .].«285 Die Loblieder wirkten offenbar ekstasefördernd. Die redaktionellen Rahmen der Aussprachen der Jahre 1715 und 1716 unterscheiden folgende Zusammenkünfte: Versammlung, Gebets-Versammlung, Morgen-Versammlung, Vormittags-Versammlung, Nachmittags-Versammlung, Abend-Versammlung, Betstunde, Morgen-Betstunde, AbendBetstunde.286 Im Juli 1716 scheint ein Wechsel stattgefunden zu haben: Im 281 »In den täglichen Gebetsgemeinschaften der Inspirierten wurde der Gesang geistlicher Lieder mit besonderer Vorliebe gepflegt. [. . .] Zum Anfang und Schluß sang man gewöhnlich ein erbauliches Lied, und zwar fast immer bis zum Ende hinaus.« Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Erster Haupttheil, Bd. 6, Stuttgart 31869, 160–186, hier 172. 282 Siehe oben Anm. 38. Vgl. dazu Eduard Emil Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Erster Haupttheil, Bd. 4, Stuttgart 31868, 300–304 u. 322–334; Bd. 6, Stuttgart 31869, 160–186, hier v. a. 164–176. 283 Siehe oben S. 110. 284 Siehe die Lieder in HA, (Nrn. 6[= 107].22[= 136].34.61.66[= 120].105.115.133). 285 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 132. 286 1715 betrug das Verhältnis in der genannten Reihenfolge: 11:3:0:0:1:0:7 (davon 1 nach der Betstunde):1:7. Da Versammlung, Gebetsversammlung und Betstunde auch abends vorkommen konnten und da die Bezeichnung Abend-Betstunde 7× benutzt wird, kann man davon ausgehen, dass die Aussprachen allermeistens in der gemeinsamen Feier am Abend gehalten wurden. Vgl. auch den kurzen Bericht des Vaters Johann Friedrich Haugs über die durchweg am Abend stattgefundenen Aussprachen und Bewegungen in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 132–134.

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Vorspann der Aussprache Nr. 84 vom 7. Juli 1716 wird die Tageszeit einer Versammlung zum letzten Mal erwähnt, und von »Bet-Stunden« wird nicht mehr gesprochen. Zudem fällt auf, dass die redaktionellen Rahmen ausführlicher werden. Statt ausschließlich von »Zeugnis« wird nun auch von »Bezeugung« gesprochen, und zwischen Juli 1716 bis Ende 1717 sticht die vermehrte namentliche Erwähnung einzelner Anwesender ins Auge. Im Vorspann zur Aussprache Nr. 88 vom 15. Juli 1716 fällt erstmals der nur bis Ende 1717 im Himmlischen Abendschein verwendete und noch näher zu bestimmende Ausdruck »Untersuchung«.287 In den 52 (bzw. 53) Aussprachen zwischen dem 15. Juli 1716 (Nr. 88) und dem 25. Dezember 1717 (Nr. 139) sind 27 Untersuchungen Einzelner aufgeführt. 1718 ist keine einzige Untersuchung mehr bezeugt. Angesichts der zahlreichen von Rock, Gleim und Gruber überlieferten Gerichtsankündigungen über die verschiedensten Städte wie z. B. Berlin,288 Bremen,289 Darmstadt290 etc. fällt auf, dass uns von Ursula Meyer keine einzige gegen eine Stadt gerichtete Aussprache überliefert wurde. Zum Schluss bleibt der Hinweis, dass die gesammelten Aussprachen – sogar die an sie selbst gerichtete vom 7. April 1716 – offensichtlich nicht im stillen Kämmerlein gehalten wurden, sondern immer coram publico.

3.3 Itinerar Der Himmlische Abendschein umfasst einen Zeitraum von mehr als vier Jahre. Diese Zeitspanne vom 16. März 1715 bis zum 24. September 1719, die sich mit der ersten Blütezeit der Inspirationsgemeinden deckt291 und aus der die Aussprachen von Ursula Meyer stammen, soll zuerst in einer Darstellung chronologisch und örtlich gegliedert (3.3.1) und nachträglich kommentiert (3.3.2) werden. Dabei muss unterschieden werden zwischen den Informationen, die uns der Himmlische Abendschein selber gibt, und jenen, die wir aus anderen Inspiriertenwerken oder aus dem handschriftlichen Quellenmaterial erhalten, wobei letztere nirgends den Angaben im Himmlischen Abendschein widersprechen, diese aber an entscheidenden Stellen ergänzen, vertiefen und weiterführen. Wäre uns z. B. nur der Himmlische Abendschein überliefert worden, wüssten wir nichts von Ursula Meyers Wirken in der Schweiz. Wir erfahren nichts von ihrer Reise in die Heimat, und wir verfügen über keine einzige 287 Der Ausdruck fällt 1716 7x, 1717 13x und 1718 0x. Siehe unten S. 200f. 288 Vgl. Das Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte 1716]), Aussprache vom 31.12.1715 (Nr. 117), 285ff. 289 Vgl. ebd., Aussprache vom 17.1.1716 (Nr. 122), 296ff. 290 Vgl. ebd., Aussprache vom 1.11.1715 (Nr. 102), 239ff. 291 Siehe oben Kap. II.2.

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Aussprache Ursula Meyers, die sie etwa in Bern oder Thun gehalten hätte. Johann Jakob Strohes Brief zufolge hielt sie in der Heimat aber auch keine, sondern warb vermutlich ohne Inspirationsreden für die neu entstandene Gemeinschaft in der Wetterau. Sie selbst deutete dies offenbar als Ausdruck von Gottes Güte, »weilen er gewußt, daß sie würde haben leÿden müßen, wäre also solches nur geschehen zur prüffung ihres gehorsams.«292 3.3.1 Darstellung293 1. DER EINSTIEG: erste Aussprachen auf der Ronneburg [Nrn. 1–13] 16.3.–2.4.1715: (R) 2. Erste Reise: ins Württembergische [Nrn. 14–20] und in die Schweiz294 4.4.–20.4.1715: (Bü), (E), (Fr), (Cr), (H), (St) 3. Ronneburg [Nrn. 21–38] 11.7.–27.7.1715: (R) 4. »Wahre« und »falsche« Propheten in Schwarzenau: der Bruch [Nrn. 39– 50] 29.7.–4.8.1715: (L), (W), (S) 5. Sechsmonatige Schweigezeit

September 1715 – 29. Februar 1716295

6. DER WIEDEREINSTIEG: weitere Aussprachen auf der Ronneburg [Nrn. 51–63] 8.3.–26.3.1716: (R) 29.2.–27.3.1716: (R)296 7. Schwarzenau [Nrn. 64–79] 29.3.–29.5.1716: (Bü), (M), (S), (L) 8. Ronneburg [Nrn. 80–93] 292 Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23.9.1715, hier 2r. Siehe unten Anhang [2.] S. 333. 293 Kursiv gesetzt werden die Angaben, die nicht dem HA zu entnehmen sind. 294 Vgl. Historie II, 244; Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23.9.1715, hier 2r. Siehe unten Anhang [2.] S. 333. 295 Vgl. Historie II, 245. In der Abschiedsversammlung vom 29.2.1716 auf der Ronneburg – am Tag der Abreise Rocks ins Schwäbische – hielt Ursula Meyer wieder eine Aussprache. Vgl. Bezeugung, Nr. 125; Wohl und Weh (1719), 4–6; Historie II, 261. 296 Vgl. Bezeugung, Nrn. 125 u. 127.

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1.6.–3.8.1716: (R), (Be) 28.6.1716: (Bü)297 9. Kurzreise nach Frankfurt [Nrn. 94–96] 8.8.–15.8.1716: (Fr) 10. Ronneburg [Nrn. 97–102] 16.8.–8.9.1716: (E), (Be), (R) 11. Schwarzenau [Nrn. 103] 25.10.1716: (S) 5. Liebesmahl im Nov. 1716: (S)298 12. Ronneburg [104–154] und Schwarzenau 15.1.1717–24.9.1719: (R), (Bü), (L), (A) 26.6., 3.+17.7., 22.8.1717: (S)299 15.+22.1.1718: (S)300 3.3.2 Kommentar 1.–3.301 Einstieg und erste Reise ins Württembergische und in die Schweiz (März 1715 – Juli 1715) Am 16. März 1715 hielt Ursula Meyer ihre allererste Aussprache.302 Wie die anderen »Werkzeuge« wird auch sie zuerst eine mehrwöchige sog. »Zubereitungszeit« benötigt haben, bevor sie in ihrer neuen Funktion als Prophetin auftreten konnte.303 Nach dieser ersten Aussprache blieb sie bis Anfang April 1715 auf der Ronneburg und hielt in der abendlichen Betstunde im vertrauten Kreise weitere Inspirationsreden. Überhaupt scheinen die meisten ihrer inspirativ empfangenen Aussprachen am Abend stattgefunden zu haben.304 Fast eine Woche nach ihrer ersten Inspirationsrede am 23. März 1715 sprach Ursula 297 Vgl. ebd., Nrn. 177f. 298 Siehe oben S. 132 u. unten S. 205. 299 Vgl. Bezeugung, Nrn. 94–96 u. 101. 300 Vgl. Bezeugung, Nrn. 7 u. 22. 301 Siehe oben: 3.3.1 Darstellung, 1.–3. 302 Vgl. Historie I, 247f.; Historie II, 244: »Sie kam zur Aussprach den 16. Mart. 1715«. 303 Siehe oben S. 130. 304 1715 werden ausdrücklich 9 abendliche Aussprachen erwähnt (HA, Nrn. 1–4, 8, 12, 24f. u. 29). In der Morgenbetstunde nur 1 (Nr. 26), zu Mittag ebenfalls nur 1 (Nr. 11) und am Nachmittag 2 (Nrn. 35 u. 46). Die anderen Aussprachen lassen sich zeitlich nicht festmachen. 1716 beträgt das Verhältnis in derselben Reihenfolge 9:6:1:3.

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Meyer in Anwesenheit mehrerer Fremder aus. Anfang April – nur zwei Wochen nachdem sie als »Werkzeug« erstmals legitimiert worden war – setzte schon ihre missionarische Reisetätigkeit ein. Ursula Meyer »hatte Anforderung zu einer Reyse, gleich im April, übereilte sich aber aus Ungeübtheit und Unerfahrenheit bey nicht genugsamen aufmercken, und trath den 4. April die Reyse an mit Jaeger von Jägersburg305 nach Eschborn, Creuzenach, Heydelberg, Stuttgard, Bern und Thun. Sie solte noch zugewartet haben, so wäre Br. Rock der dritte Gefährte worden. [. . .] Nun wurde ihr ihre= und dem Br. Rock seine Reyse zur schweren Versuchung, dieser ermannete sich zwar bald wieder, Sie aber wollte es damalen schon fast aufgeben, und hielt hart, biß Sie wieder darzu kam, das Wort zu sprechen. Doch Gott half auch aus dieser ihrer Noth.«306

Ursula Meyer reiste am 4. April 1715 als erste Inspirierte gemeinsam mit Bruder Christoph Adam Jäger von Jägersburg als ihrem Schreiber zur »Sammlung der zerstreuten Kinder Gottes« ins Württembergische und in die Schweiz. Ziel war ihre Geburtsstadt und frühere Heimat Thun. Der Weg dahin führte sie über Büdingen, Eschborn, Frankfurt, Heidelberg und Stuttgart, wo sie in verschiedenen Häusern inspirierte Reden hielt. Während ihrer Abwesenheit fand im April 1715 das zweite Liebesmahl auf der Ronneburg statt.307 Es fällt auf, dass uns keine Aussprachen Ursula Meyers während ihres Aufenthaltes in der Schweiz überliefert wurden.308 Wir erfahren auch sonst nichts Näheres von den Erfahrungen, die sie als neues »Werkzeug« auf ihrer ersten Missionsreise gemacht hatte. Überliefert wurde lediglich die Nachricht, dass der Zeitpunkt ihrer Abreise bei Johann Friedrich Rock für Unmut gesorgt hatte. Aus seiner Sicht hatte sich Ursula Meyer zu früh auf den Weg begeben: »Einsmahls war ich allein in meiner Stuben, und bethete in der Stille des Hertzens zum HErrn, da eröffnete sich wie sonsten ein feuriges Wort in mir, [. . .] ich solle mit der Ursula Mayerin ins Würtembergische. Mir war zwar allezeit angst, mit Weibsbildern zu reiysen, doch muste ich auch hier durch, ich wartete also nur auf ferneren Befehl; in 2. Tagen darauf reysete die Schw. Ursula mit Br. Jäger in Eyl fort, 3. oder 4. Tage darauf kam Schwanfelder, kündigte mir an, ich müsse ins Würtembergische, es sey zu Eschborn um die und die Zeit ausgesprochen, so sagte ich gleich, ich hab es schon gewust; Jch hab aber nicht gemeynt, daß es die Hagin und Schwanfelder seyn würden, es wäre auch wohl nicht geschehen, wann sich erstere beyde nicht übereilt hätten. [. . .] Allein gleich bey der Abreyß spührete ich bey der Haagin ein in=mich=dringen, darvor ich mich aber förchtete, und bathe gleich inniglich den 305 Siehe oben S. 104. Leider erwähnt Christoph Adam Jaeger von Jaegersburg diese Reise nicht in seinem Lebenslauf, der seiner Schrift: Todes- oder vielmehr Lebensgedancken eines, unter dem Geleit des Engels des Bundes, aus dem geistlichen Egypten, durch die Wüste dieser Welt, ins himmlische Freudenland eingegangenen Pilgrims, Wernigerode: Struck, 1759 bzw. Basel: Bischoff 1759; 21761 angehängt wurde. 306 Historie II, 244. 307 Vgl. Historie I, 248; Historie II, 264. 308 Siehe oben S. 185f.

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HErrn, Er solle doch mein Hertz bewahren, daß es Jhme nur allein offen stehen möge.«309

Rocks Eingebung zufolge hätte sich Ursula Meyer mit ihm auf den Weg ins Württembergische begeben sollen. Doch während er auf den ausdrücklichen Befehl des »Geistes« noch zuwartete, trat sie mit Jäger die Reise schon an. Rock begab sich nachher mit Schwanfelder und Hag ins Württembergische. Schon bei der Abreise verspürte er starke Gefühle Hag gegenüber. Er fühlte sich von ihr offenbar angezogen, machte aber dafür ihre »Liebes=Magie«310 verantwortlich. Historie II schildert, weshalb Rocks Reise im April und Mai 1715 ihm zur »schweren Versuchung« geworden war.311 Anders aber als Rock, der »der Versuchung durch die Hagin«312 letztlich hatte widerstehen können, war sie Schwanfelder zu groß geworden, sodass er und Hag schließlich heirateten und nach Berlin zogen.313 Ursula Meyer kehrte von ihrer allerersten Reise als »Werkzeug« spätestens im Juli 1715 zurück. Am 11. Juli hielt sie auf der Ronneburg eine Aussprache. Nachdem sie »sich von ihrer übereilten Reyse erhohlt«314 hatte, erwartete sie schon »eine neue Probe«.315 4.

»Wahre« und »falsche« Propheten in Schwarzenau: der Bruch (August 1715)

Ende Juli musste sich Ursula Meyer erneut auf den Weg machen und ins Wittgensteinische reisen. Am 27. Juli zog sie nach Schwarzenau, um die Ankunft Holländischer Inspirierter zu erwarten.316 Sie sollte »denen Holländischen Falsch-Inspirirten zuvorkommen, dann also lenckete es der HErr, daß Sie auf einen Tag und in einer Stunde von der Roneburg dahin reysete, an dem und in der die Holländische sich auf den Weg machten; Und weil Sie einen näheren Weg hatte, so kam Sie vor Jenen hin; Ja in der Stunde ihrer Ankunft führte GOtt die U. Mayerin unter sie, und muste die Anwesende und Sich selbst warnen 309 Johann Friedrich Rock, Zweyter Aufsatz Des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf Erden, in: XII. Sammlung (1751), 156–224, hier 193. 310 Ebd., 194. Vgl. auch 196f. 311 Historie II, 243. 312 Ebd. 313 Vgl. dazu Gruber (Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 32): »Solte kein Bruder mehr mit einiger Schwester ohne Aergernernuß und besorgliche Befleckung reysen oder vertraulich umgehen dörffen?« 314 Historie II, 258. 315 Ebd., 244. 316 Vgl. ebd., 258f.

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vor fremden Kräften und vor dem eigenen Geist. [. . .] Das war im Augst=Monat 1715.«317

Ursula Meyer reiste am gleichen Tag, an dem sich die vier Holländischen Inspirierten318 auf den Weg machten, nach Schwarzenau. Da sie von der Ronneburg aus schneller da war als diese, konnte sie gleich bei ihrem Empfang anwesend sein und vor ihnen warnen. »Alle Worte des HErrn durch Sie verkündigten eine ernste Reinigung der Gemeinde.«319 Ursula Meyer hielt auch Aussprachen in Eberhard Ludwig Grubers Haus,320 der schon Anfang März die Wetterau mit den meisten anderen Inspirierten – ausgenommen Rock – hatte verlassen müssen und über Frankfurt nach Schwarzenau gezogen war.321 Hier hatte er an seinem Geburtstag, dem 12. Juni 1715, die Gebetsversammlungen neu eingerichtet.322 Am 5. August, als die Gemeinde einen Fasttag hatte, hielt Ursula Meyer eine Aussprache und bezeugte, »daß vielen zu hart gewesen, in der Verläugnung sein selbsten und alles Sichtbaren so lange zu warten, biß sie in die wesentliche Freyheit der Kinder GOttes versezet würden, haben also eine falsche Freyheit ergriffen etc. und die Verläugnung, als eine Gesezes=Last abgeworfen.«323 In diesem Sommer fällt die enorme Häufung von Aussprachen auf: allein zwischen dem 11. Juli und dem 14. August 1715 sind von Ursula Meyer dreißig Inspirationsreden überliefert. Fast ein Fünftel der Aussprachen im Himmlischen Abendschein datiert von ca. vier Wochen des Frühsommers 1715. Hier – nach genau fünfzig Aussprachen – erfolgt eine große Zäsur. Sechs Monate wird es dauern, bis Ursula Meyer erneut aussprechen kann. Erst kurz vor Rocks ersten Reise nach Schwaben324 hält sie in der Abschiedsversammlung auf der Ronneburg vom 29. Februar 1716 wieder eine Inspirationsrede.325 Im Himmlischen Abendschein erscheint erst am 8. März 1716 wieder eine Aussprache von ihr. Was war geschehen?

317 Ebd., 244f. 318 Goebel (Inspirations=Gemeinden [1854], 144) zufolge handelte es sich um »Bourreaux, Kornhardt, Cenen und Elisabeth Freymuth, welche von Halle, wo sie Versammlungen von 40 Personen gehalten hatten, mit der Mathes und mit Giezenkanner [sic]« in die Wetterau kamen. Zu Ulrich Giezendanner vgl. Hanimann, Nonkonformisten, Reg. 319 Historie II, 259. 320 E. L. Gruber wohnte 1721 im Haus der Frau Castell. Ob er von Anfang an bei ihr sein Quartier bezogen hatte, muss offen bleiben. Vgl. Acta des Fürst Wittgenstein’schen Archivs zu Wittgenstein, N 72: Actum Schwartzenau den 4. Juli 1721 wurden die sämtlichen Schwartzenauer Einwohner vorgefordert und nachfolgender gestalt gefragt und notiret, 27v. 321 Siehe oben S. 109f. Vgl. Historie II, 258. 322 Ebd. 323 Ebd., 259. Vgl. HA (48), 115. 324 Zur ersten Reise Rocks vom 29.2.1716 bis zum 9.4.1716 nach Schwaben vgl. Wohl und Weh (1719), 1–22. 325 Vgl. ebd., 4–6.

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Vier Inspirierte aus Holland waren im August 1715 nach Schwarzenau gekommen. Von ihnen hieß es, sie hätten die Gemeinde »zerrüttet«.326 E. L. Gruber, der nach I Kor 12,10 das Amt innehatte, zwischen »wahrer« und »falscher« Inspiration zu unterscheiden, bezeichnete sie als »Falschpropheten«. Solche erkannte man ihm zufolge an »ihrer Faulheit und Trägheit zu aller Arbeit / ihres Müssiggangs und meist bettelhafftigen Herumlauffens«.327 Die Holländischen Inspirierten wollten sich den Gebets-Gemeinschaften nicht eingliedern lassen, hielten gegen Gruber gerichtete Aussprachen und verunsicherten dadurch dessen Anhänger. Zwischen den beiden Gruppierungen entstand ein Machtkampf. Schon bei der Einrichtung von Gebetsgemeinschaften in der Wetterau hatten sich nicht alle in die neue strukturelle Ordnung einbinden lassen. Sie sahen in ihr eine neue Form der Verkirchlichung und wollten lieber selbstständig und frei bleiben. So gab es von Anfang an eine Konkurrenzsituation: auf der einen Seite war die Gruppe, die sich Grubers Autorität unterwarf, und auf der anderen Seite war die lose und ungeordnete Schar von Inspirierten ohne Anführer. Auch Ursula Meyer, die zuerst in mehreren Aussprachen heftig gegen letztere aufgetreten war,328 wechselte schließlich mit anderen zusammen die Seite: »Sie wachete aber nicht sorgfältig genug über ihr Herz, und ließ sich vom Versucher Widrigkeit beybringen gegen den alten Br[uder] E[berhard L[udwig] Gruber, und sezte ausser Acht, daß Er Jhr und übrigen Propheten=Kindern und Gemeinden von GOtt zum Aufseher gesetzet = mit dem Geist der Prüfung begnadiget = und geübtes Hertzens war. So must Sie Mir=Jams Sünde329 tragen, Sechs Monat wie verschlossen seyn, Weil sie in Widrigkeit gieng ein, Und GOttes Warnung ausgeschlagen; Am HErrn und seinem treuen Knechte, Hielt Sie nicht fest, verlohr das Wort, Doch brachte Sie der HErr zurechte, Und ward aufs neu Jhr Felß330 und Hort.«331

Ursula Meyer war in einen Konflikt mit dem Aufseher der Inspirierten, dem ehemaligen Pfarrer Gruber, geraten. Sie wollte sich seiner Oberautorität nicht unterwerfen. So charakterisiert Gruber »falsche« Inspirierte als solche, die »aller guten Ordnung / als einem ihrer falschen Freyheit höchst=verhinderlichen Zaun / spinnen=feind / den sie auff alle ersinnliche weise / auch durch ihre erdichtete Außsprachen / niderzureissen bemühet sind [. . .] Und wie sie keine Ordnung vertragen können / also auch keinen Auffseher in den Versammlungen«.332 Die Auseinandersetzung der Prophetin Meyer mit dem Aufseher 326 XVII. Sammlung (1776), 101 [Arney, 24.10.1727]. 327 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 141. Diese »Falschpropheten« legten ihre Arbeit wohl angesichts der als nahe bevorstehend geglaubten Wende nieder. 328 Vgl. Historie II, 259. 329 Vgl. Num 12. 330 Vgl. I Kor 10,4. 331 Historie II, 245.

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Gruber wird als Nachvollzug der früheren Auflehnung der Prophetin Mirjam gegen Mose geschildert.333 Mit Mose sprach Gott nicht wie mit den Propheten »in Gesichten«; mit ihm, der »mit dem ganzen Haus betraut« war, sprach Gott »von Mund zu Mund«.334 Ein Ausschnitt eines Briefes des Theologen Johann Jakob Strohe335 aus Eschborn336 an den Basler Professor Johann Ludwig Frey337 vom 23. September 1715 ermöglicht es, einen tieferen Einblick in den Konflikt, der zwischen Meyer und Gruber ausgebrochen war, zu erhalten.338 Strohe erstattet seinem ehemaligen Lehrer Bericht über die Inspirierten. Diese »gehen [. . .] auff befehl Gottes, welcher allemahl laut ausgesprochen wirdt, auß in unterschiedliche stätt und länder, wie dan auch erst kürtzlich 4 aus Hollandt339 in hiesiger gegendt angekommen, so ist auch neülich eine inspirirte weibsperson340 en compagnie341 eines mans342 auff befehl Gottes nach Thun ins Bernergebiet verreißt [welches ihr vatterlandt],343 hat aber alldorten keine außprach offentl(ich) gehabt, hir zurückkommendt hat sie vorgegeben, daß Gott ihrer noch dißmahl verschont hätte, weilen er gewußt, daß sie würde haben leÿ den müßen, wäre also solches nur geschehen zur prüffung ihres gehorsams. Sonst ist zumercken, daß schon etliche dießen profetischen geist zusamt den bewegungen verlohren, solche gestehen daß es nicht der reine geist Gottes, sondern ein magisches werck seÿ e, welches den menschen überfalle, ohne deßelben [2v] natur und eigentliche beschaffenheit zuerkennen, obgedachte Schweitzerin ist auch unter diesen, und ist die sach also zugegangen; diese Schweitzerin hatte einsmahls eine außprach wider einen vormahls gewesenen pfarrer im Württenberger landt,344 welcher auch dieses inspirations=wesen vor göttlich erkant und auch würklich schon bewegungen hatte, in dieser außprach zeigte sie ihm auff göttlichen befehl ahn, daß der geist, welcher ihn antriebe, nicht von Gott, sondern eine eigengewürckte bewegung seÿ , der pfarrer leügnete dieses, sagendt, daß in ihm der geist Gottes, in ihr aber der falsche geist seÿ ; hierauff gerahtet die weibsperson in einen ziemlichen zweifel, ob dan auch sie warhafftig eine ›theopneusta‹345 seÿ e? Da bekomt sie in einer außprach befehl, die wider den pfarrer besche332 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 133f. 333 Zum vielfach beobachteten »Schema, das dazu tendiert, ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person in der Form eines anderen Ereignisses oder einer anderen Person darzustellen« vgl. Burke, soziales Gedächtnis, 294f. 334 Vgl. Num 12, 6–8. 335 Zu Johann Jakob Strohe vgl. unten S. 331 (Anm. 69). 336 Ortschaft westlich von Frankfurt a. M. 337 Zu Johann Ludwig Frey (1682–1759), dem Basler Lehrer von Johann Jakob Strohe, vgl. unten S. 331 (Anm. 70). 338 Ich verdanke den Hinweis auf diesen Brief Herrn Dr. Hanspeter Jecker, Basel. 339 Siehe oben S. 190 (Anm. 318). 340 Ursula Meyer. 341 In Begleitung. 342 Christoph Adam Jäger von Jägersburg. 343 Ursula Meyer reiste Anfang April 1715 über Württemberg in die Schweiz nach Thun und kehrte spätestens Anfang Juli 1715 auf die Ronneburg zurück. Siehe S. 187ff. 344 Eberhard Ludwig Gruber. 345 Mit Gottes Geist Erfüllte.

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hene und auff papier geschriebene außprach auff kohlen zulegen, würde sie ohnversehret bleiben, so wäre es göttlich, wo nicht, so wäre es falsch. Das papier aber ist verbrant, und sie erkennet dan, daß sie nicht theopn(eusta)346 gewesen seÿ e.«347

Ursula Meyer, die schon auf ihrer Reise in die Schweiz in Eschborn als »Werkzeug« aufgetreten war,348 hielt Johann Jakob Strohes Schilderungen zufolge eine gegen Gruber gerichtete Inspirationsrede. Sie sprach ihm die göttliche Provenienz seiner Bewegungen ab. Gruber wiederum bezichtigte sie, von einem »falschen« Geist besessen zu sein. Ursula Meyer geriet in Zweifel. In einer Aussprache wurde ihr befohlen, die Abschrift der inspirierten Rede zum Entscheid ins Feuer zu legen. Bliebe sie unversehrt, wäre sie göttlichen Ursprungs, verbrenne sie, wäre ihr Inhalt widerlegt. Das »Gottesurteil« stand schon beim Befehl fest. Das Phänomen der »Falschpropheten« trat nicht erst bei den deutschen Inspirierten auf. Hillel Schwartz stellte bei den französischen Inspirés zwischen 1708 und 1712 fest: »all schismatic false prophets were women.«349 Schwartz weist darauf hin, dass schon bei den Inspirés Spannungen zwischen den männlichen und weiblichen Mitgliedern entstanden waren und dass es klare Ungleichheiten zwischen beiden hinsichtlich Zahl und Status gegeben hatte. Vornehmlich Männern kam die Aufgabe zu, Propheten und v. a. Prophetinnen als falsch zu taxieren und von der Gemeinschaft auszuschließen. »The disproportionate number of women designated as false prophets cannot be interpreted simply as a sign of discontent among women in the group, for the identification of the impure was tied to the values and fears of the men. Esteeming a patriarchal social and religious system, they feared to concede equality to female prophets lest the habits of sexual deference be eroded. Excommunication of presumptuous inspired women was an expression of the common belief that women, children and infants were easily swayed by emotions and therefore less able than adult men to distinguish the good from the bad, or the true spirit from the false.«350 Diese These bestätigt Hadorn mit seinem Kommentar: »Selbst Ursula Meyer musste es sich gefallen lassen, wegen ihres Verkehrs mit falschen Inspirirten, sechs Monate lang verschlossen zu werden, d. h. verstummen zu müssen. Es war für ein Frauenzimmer wirklich schwer, hier falsch und ächt zu unterscheiden, zumal da sozusagen nur Vater Gruber die Gabe der Prüfung der Geister besass.«351 Die Verfehlungen und das Scheitern gewisser »Werkzeuge« beschäftigten die Inspirierten stark. Sie sahen in ihnen eine schwer aufzulösende Diskrepanz, 346 Wie Anm. 345. 347 Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23. September 1715, 5 Bl., hier 2r–v. Vgl. den Auszug dieses Briefes im Anhang [2.]. 348 Vgl. HA, (Nr. 16). 349 Schwartz, French Prophets, 135. 350 Ebd., 143. 351 Hadorn, Die Inspirirten, 213.

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wiesen jedoch immer wieder darauf hin, dass auch die prophetischen »Werkzeuge« trotz ihrer besonderen Berufung nach wie vor Menschen und deshalb mit Fehlern behaftet blieben. Blasius Daniel Mackinet ging in seinem Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration auf schuldbeladene »Werkzeuge« ein und schrieb dazu: »Daß aber auch die Werckzeuge [. . .] Fehler und Gebrechen an sich gehabt, das haben sie selbst niemahlen geleugnet, sondern offt schmertzlich genug fühlen müssen, und hat allezeit zu ihrer Demüthigung dienen müssen, damit sie ihre Schwachheit und nichtigkeit erkannt haben, denn so bald sie sich in etwas vergangen, entweder durch allzu viele Auskehrung, oder aber da der Feind bösen Saamen unter sie ausgestreuet, und Argwohn und Mißtrauen entstanden, einer gegen den andern im verborgenen was geheget, so bald ist die Gnade des HErrn gewichen, und der Ausfluß gehemmet, die Hertzen sind dürr und krafftloß worden [. . .] das hat so lang gewähret, biß sie sich unter GOttes Hand gebeuget, und den HErrn offt mit vielen Thränen um Vergebung angeflehet, darauf hat der Versucher weichen müssen, das Licht der Gnaden hat Platz bekommen, also daß der HErr wieder durch sie hat würcken und ausrichten könen, worzu Er sie beruffen und ausgesandt hatte [. . .].«352

Mackinet schien u. a. noch an Ursula Meyer gedacht zu haben. Diese fiel offenbar nach dem heftigen Machtkampf mit Gruber und dem Verbrennen ihrer Aussprache im Feuer in eine schwere Krise. Sechs Monate lang verstummte sie als prophetisches »Werkzeug« und hielt keine Inspirationsreden mehr. 5.

Sechsmonatige Schweigezeit (September 1715–Februar 1716)

Was Ursula Meyer zwischen September 1715 und Februar 1716 erlebt hatte, erfahren wir von den uns überlieferten Inspiriertenquellen des 18. Jahrhunderts nicht. In Gottlieb Scheuners Inspirationshistorie von 1830 heißt es von ihr: »Diese l[iebe] Schwester, die schon vor ihrer Jnspirations=Führung ihrem inneren und äußeren Wandel nach bei Jedermann ein gutes Zeugniß hatte, war durch verschiedene schwere Reisen, die sie in diesen Geisteswegen machen mußte, (wie z. B. die Reise im Sommer des vorhergehenden Jahrs ins Würtembergische und die Schweiz) und die mancherlei Beschwernissen, sowohl für den Leib als das Gemüth, denen man auf Reisen unterworfen ist; ferner durch den beständigen Kampf mit den Mächten der Finsterniß, womit insonderheit solche Seelen zu fechten haben, und dann durch die vorgefallenen Fehler bei den Holländischen dahin gekommen, daß ein Sehnen in ihr 352 Blasius Daniel Mackinets Schreiben von Göttlichkeit der wahren Inspiration / Datirt aus Germanton in Pensilvanien vom 25. October 1749, in: XII. Sammlung (1751), 126–143, hier 139f.

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nach ihrer vorigen stillen und eingezogenen Lebensweise erwachte, und sie dann dadurch auch in Zweifel über die Richtigkeit ihrer Jnspirations=Führung kam und endlich bei sich beschloß sich derselben zu entziehen. Sie widerstund nun den Bewegungen, und um dieselben gänzlich zu vertreiben, verwickelte sie sich so in die äußeren Geschäfte, daß sie auch ihre vorige Gestalt nicht mehr hatte, welches auch die groben Weltleute sahen und davon redeten. Der gnädige und barmherzige Gott aber ließ nicht ermangeln viele bewegliche Zeugnisse durch die andern Werkzeuge an diese Seele ergehen zu lassen, ob sie etwa sich wieder erholen wollte. Es fügte sich dann auch, daß Br. Hochmann, mit dem sie besonders bekannt und vertraut war, auf ihr Ansuchen bei 6 Wochen auf dem Schloß Ronneburg zu ihrer völligen Aufrichtung sich aufhalten mußte, dem sie dann ihren ganzen innern Grund entdeckte und seinen Ermahnungen Raum gab und das öffentliche Gebet, das sie verlassen hatte, wieder besuchte. Jemehr sie sich in die Stille ersenkte, desto stärker kamen nun auch die Bewegungen und ihre Gebetsgnade wieder, wovon sie, nach der Aussage ihrer eigenen Schwester, so abgekommen war, daß sie auch fast kein Wort mehr hatte vorbringen können. Und so geschahe es dann, daß sie am 29. Febr[uar] zu Aller Verwunderung und Freude, in öffentlicher Versammlung wieder eine Aussprache, und zwar eine Zurechtweisung an sich selbst hatte. Jhre Gabe, die ihr besonders zum Nutz und Erbauung der Gemeine gegeben war, kam nun wieder, und die Aussprachen, die nun wieder häufig durch sie geschehen, zeugen von der herrlichen Gabe und Gnade, die der HErr ihr beigelegt hatte.«353

Woher Scheuner seine Informationen hatte, konnte ich bisher leider nicht eruieren. Vor allem fehlen auch die »viele[n] bewegliche[n] Zeugnisse durch die andern Werkzeuge«.354 Scheuner zufolge geriet Ursula Meyer nach ihrem verlorenen Konflikt mit Gruber in Unsicherheit über die Inspirationen. Sie sehnte sich zurück nach ihrem Leben vor ihrem Wirken als »Werkzeug«. Sie zweifelte an ihrer eigenen Berufung als Prophetin. Sie wandte sich von den Gemeinden ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Alltag. Alle an sie gerichteten Aussprachen anderer »Werkzeuge« vermochten längere Zeit nichts auszurichten. Sie bat schließlich den bekannten Radikalpietisten Hochmann von Hochenau, der ihr offenbar schon nahe stand, sie zu besuchen. Dieser nahm sich sechs Wochen Zeit und blieb als geistlicher Vater auf der Ronneburg bei ihr. Ihm als Seelsorger vertraute sie sich an. Er ermunterte sie, wieder an den Gebetsversammlungen der Inspirierten teilzunehmen. Je mehr sie sich wieder einlassen konnte, desto stärker kamen wieder die bekannten ekstatischen Phänomene zum Vorschein. Schließlich hielt sie offenbar ziemlich überraschend ab dem 29. Februar 1716 auch wieder Aussprachen.355 Bald wendeten 353 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 45f. 354 Ulf-Michael Schneider (Propheten, 193) weiß von keinen Aussprachen Rocks, die in dieser Zeit an Ursula Meyer gerichtet worden waren. Es ist jedoch gut möglich, dass solche im handschriftlichen Quellenmaterial in Amana vorhanden sind. 355 Diese Aussprache wurde nicht in den Himmlischen Abendschein aufgenommen, ist aber im handschriftlichen Quellenmaterial in Amana vorhanden. Vgl. Bezeugung, Nr. 125: »Wie lange willst du widerstehen? Ich habe Kräften genug, dich, so du ja willt gezwungen sein, in Meinen

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sich diese jedoch gegen Hochmann selbst. Am 22. Mai 1716 hielt sie in seiner Hütte in Schwarzenau eine Aussprache, in der er indirekt getadelt wurde, weil er sich den Inspirierten nicht anschloss.356 Über Ursula Meyers Beziehung zu Hochmann von Hochenau wird sonst nirgends berichtet. In seinem Brief »auß der innern Friedensburg«357 vom 16. Januar 1716 »an die Berlenburger Freunde« geht Hochmann nicht auf diese Episode ein.358 Er ermahnt sie lediglich zur »gliedliche[n] unterwerfung eines gegen den andern«.359 Hochmann war ein Schüler Gottfried Arnolds (1666–1714)360 und hielt sich schon kurz nach dem Pietismus-Prozess im Bernbiet auf. In Frankfurt am Main hatte er Samuel König kennen gelernt, der sich nach der Exilsverkündigung dorthin begeben hatte.361 Dieser scheint Hochmann für die Reise in die Schweiz bewogen zu haben. Am Samstag und Sonntag, dem 26. und 27. August 1699 hatte Hochmann auf Niklaus von Rodts Matte bei Interlaken eine erweckliche Versammlung gehalten.362 Dass Ursula Meyer ihn schon damals kennen gelernt haben könnte, ist denkbar. Im Dezember 1699 traf _Samuel König mit seinen beiden Schülern Carl Anton Püntiner363 und Johann Jakob Knecht364 auf dem Schloss Berleburg erneut auf den von Schwarzenau kommenden Hochmann.365 Hochmann, der stark von mystisch-spiritualistischen Einflüssen geprägt war, trat nie den Inspirationsgemeinden bei. Dies hätte seiner Vorstellung von der Gehorsam zu bringen; aber Ich liebe die, die sich Mir freiwillig u. ohne Zwang übergeben. Nachtrag: hierauf geschahe durch Br. Rock vom Herrn eine wichtige Verheißung an Schw. Ursula Meyer. S[iehe] diesen Band pag[ina] 385.« Vgl. Wohl und Weh (1719), 6. 356 Vgl. Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 410. 357 Als »Friedensburg« bezeichnete Hochmann seine Hütte bei Schwarzenau. 358 In: Wilhelm Weck, Geistliche Liebesbrocken II (1771), 103–107. Dieses Werk befindet sich in Privatbesitz. Ich danke Herrn Dr. Ulrich Bister, Herborn, für die Gewährung der Einsichtnahme. 359 Ebd., 104f. 360 Zu Arnold vgl. Hans Schneider, Art. Arnold, Gottfried, in: RGG4 1 (1998), 791f. 361 Vgl. Dellsperger, Samuel Königs »Weg des Friedens«, in: ders., Kirchengemeinschaft, 100. 362 Siehe oben S. 79f. 363 Der ehemalige Theologiestudent Carl Anton Püntiner, der gerne mit seinem Vater, dem Lateinlehrer Carl Azarias Püntiner verwechselt wird (vgl. StAB, AII 573 [12.3.1698], 31), hatte sich für seinen Lehrer Samuel König ausgesprochen, musste nach dem Berner Pietistenprozess seine Heimat verlassen und schloss sich schließlich der Eva von Buttlar an. Am Ende seines Lebens hielt er sich auf dem Beatenberg beim Pfarrer Keller auf. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, Reg.; Temme, Krise, Reg. 364 Der Theologiestudent Johann Jakob Knecht (geb. 1676), ein Schüler Königs, wurde im August 1699 aus Bern ausgewiesen und wandte sich wie Püntiner und König nach Berleburg, welches sie auch wieder verlassen mussten. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 183, Pless, Separatisten, 21 (Anm. 82). Sein Bruder, der Gürtler Johann Knecht (1680–1755), hielt sich 1703 in Vevey auf und ließ sich mit einer Gruppe radikaler Pietisten in Auvernier nieder. Vgl. StAB, AII 597 (18.4.1703) und Wernle, Protestantismus 1, 143. 365 Zu den dortigen Ereignissen und den auftretenden ekstatischen Phänomenen vgl. Renkewitz, Hochmann, 88–146.

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unsichtbaren und freien Kirche des Geistes widersprochen.366 Die Aussprache Ursula Meyers vom 22. Mai 1716 in seiner Hütte scheint sich gegen seine ekklesiologischen Anschauungen gerichtet zu haben. Stimmen Scheuners Informationen, dann bildete die seelsorgerliche Begleitung Ursula Meyers auf der Ronneburg den direkten Hintergrund für Hochmanns Beurteilung der Inspirationen. Trifft es zu, dass Hochmann Ursula Meyer als geistlichen Vater betreute und sie nachher wieder als »Werkzeug« wirken konnte, so bestätigt auch dies Hans Schneiders Urteil, dass Renkewitzens Interpretation von Hochmanns Verhältnis zu den Inspirierten revidiert werden müsse.367 Während Ursula Meyers Schweigezeit fand am 20. Oktober 1715 in Büdingen das dritte Liebesmahl statt.368 Am 13. Oktober wurde ein Fast-, Buß- und Bettag gehalten. Von den 64 geladenen Gästen blieben 14 aus. Helena Meyer verrichtete mit Eva Catharina Wagner zusammen die Fußwaschung bei den weiblichen Gästen.369 Wir wissen nicht, ob ihre Schwester eingeladen war. Unter den vier erwähnten »Werkzeugen« erscheint sie nicht.370 Gleich nach der Feier erhielten die »Werkzeuge« je zwei Begleiter und wurden auf Reisen geschickt. Johann Adam Gruber erhielt den Auftrag, mit dem Strumpfweber Heinrich Sigmund Gleim von Büdingen (†1719 in Schwarzenau), dem Bruder des »Werkzeugs« Johann Carl Gleim, und dem jungen und noch ledigen Strumpfweber Blasius Daniel Mackinet371 nach Schwarzenau zu reisen, um »die Verirrete herum zu holen.«372 Ursula Meyer hielt sich demnach noch in Schwarzenau auf. J. A. Gruber und seine Begleiter reisten ins Zentrum der erst vor kurzem überwundenen Auseinandersetzungen mit den Inspirierten aus Holland. Es herrschte Unstimmigkeit darüber, ob E. L. Gruber zu streng mit den Holländischen Inspirierten verfahren war.373 Johann Carl Gleim und seine Begleiter Caspar Stipp und Gottfried Neumann reisten von Büdingen über Darmstadt und gelangten schließlich am 16. November 1715, dem Jahrestag der Versammlungen in Himbach, auch nach Schwarzenau. Am Sonntag, dem 17. November besuchten Gleim und J. A. Gruber die Versammlung der »falschen« Inspirierten und wurden von der Richtigkeit des Vorgehens E. L. Grubers überzeugt. 366 Vgl. Schneider, Art. Hochmann, in: TRE 15 (1986), 422. 367 Vgl. Hans Schneider, Hochmann von Hochenau and Inspirationism. A Newly Discovered Letter, in: BLT 25 (1980), 199–222, hier 201. 368 Vgl. Historie II, 259. Das ganze »Liebes- und Gedächtnismahl« wird beschrieben in: Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte 1716]), 318–348. 369 Auch beim 4. Liebesmahl war dies ihre Aufgabe, vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 29. 370 Vgl. Das Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte 1716]), 346. 371 Vgl. Wohl und Weh (1719), 134. 372 Historie II, 259. 373 Ebd.

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Ende Dezember reiste schließlich auch Rock mit Bartmann und dem ehemaligen Eckartshauser Pfarrer J. N. Duill374 nach Schwarzenau. Dort hielt er Aussprachen, die sich gegen die Anhänger der Holländer richteten. Grubers Position wurde gestärkt, und »die Versamlung der Falsch=Inspirirten zerfladerte endlich doch;375 Ihre Anführerin die M. E. Mathesin trug zulezt einen Mann davon, den sie nach Halle zurück brachte.«376 Halle und Berlin waren die Hauptsitze der gegnerischen Inspirierten, die sich nicht der Oberautorität E. L. Grubers unterwerfen mochten.377 Die Auseinandersetzung mit den holländischen Inspirierten und der Ursula Meyer war der unmittelbare Anlass für E. L. Grubers noch 1716 erschienenes Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen INSPIRATION.378 Die »falschen« Inspirierten, so betont er, könnten nichts »weniger vertragen / als den Geist der genauen Prüfung«.379 Im Gegensatz zu ihnen ließen sich »wahre« Inspirierte »gerne nach allen ihren Aussprachen prüfen«.380 Gruber war es nach den Auseinandersetzungen wichtig zu betonen, dass »wahre« Inspirierte »ihre obschon auch göttliche Außsprachen der heiligen Schrifft nicht vorziehen/ noch achten sie deroselben durchgehends gleich/ sondern setzen sie deren/ als dem äussern/ von so viel heiligern Gottes=Männern hinterlassenen/ und durch so viel Zeiten/ Zeugen und Früchten/ bewähreten Prüfstein/ billig und in aller Demuth nach/ und weisen daher auch immer auff dieselbige und deren heiligen und heylsamen Gebrauch.«381 Hier weicht Gruber nun nach den gemachten Erfahrungen deutlich von seinen bisherigen spiritualistischen Ansichten ab.382 Die Aussprachen der »Werkzeuge« – und damit natürlich die »Werkzeuge« selbst – verlieren dadurch, dass sie von Gru374 Siehe oben S. 103. 375 Wie lange die sog. «falschen» Inspirierten noch weiter existierten, muss offen bleiben. Hochmann von Hochenau sandte seinen letzten uns überlieferten Brief vom 28.2.1719 u. a. an die «Inspirierten beider Sekten», vgl. Friedrich Augé (Hg.), Acht Briefe Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau, in: MRKG 19 (1925), 133–154, hier 148–150. 376 Historie II, 260. 377 Vgl. ebd. Vgl. weiter die Notiz, dass ein gewisser Rubel von Schwarzenau in Thun gewesen sei und »den alten Br. Gruber und die gute Verfassung der Gemeine anzuschwärzen gesucht«. Zu diesem Zweck habe er aus einem Brief, der »vom Hallischen Matthes« verfasst worden war, und eine Aussprache der Elisabeth Harras in England vorgelesen. XXXIX. Sammlung (1786), 172. 378 Siehe oben S. 126. 379 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 129. 380 Ebd., 128. 381 Ebd., 132. Vgl. ebd., 135f.: »Falschinspirierte« würden »lieber ihre Außsprachen gelesen und gehöret haben wollen / die sie nun gleichsam für das allein=seligmachende Wort halten / und / samt ihren Anhängern / in der That vielmehr davon / als von der heiligen Schrifft / machen [. . .]«. 382 Vgl. dazu das Urteil Gustav Adolf Benraths, dass alle Spiritualisten den Vorrang des Geistes vor der Bibel erklärten. Ders., Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, in: HDThG 2 (1989), 560–664, hier 562.

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ber der Bibel untergeordnet werden, klar an Stellenwert. Die Bibel wird zur Richtschnur, an der die Aussprachen zu messen sind. Inwiefern sich diese theologische Neubewertung in den Inspirationsgemeinden allgemein durchsetzen ließ, muss offen bleiben. 6.

Der Wiedereinstieg (29. Februar 1716)

Ende Februar 1716 trafen die vier »Werkzeuge« Rock, Gruber, Gleim und Meyer wieder im Ysenburgischen zusammen.383 Vor der Abreise Rocks ins Schwäbische hielt Ursula Meyer in der Abschiedsversammlung vom 29. Februar auf der Ronneburg wieder eine Aussprache.384 Diese beendete ihre Schweigezeit als »Werkzeug«. Nach der langen Krise hielt sie bis Ende März 1716 Inspirationsreden auf der Ronneburg und begab sich dann, nachdem ihr durch J. A. Gruber in einer Aussprache am 25. März der Befehl erteilt wurde, nach Schwarzenau zu reisen,385 am 28. März mit Georg Melber auf eine Reise via Büdingen und Marburg erneut »nach Schwarzenau zur ersten Untersuchung u[nd] Einordnung der Gemeinde daselbst, die den 4. Mai vorgenommen wurde.«386 7.

Schwarzenau (April/Mai 1716)

Ursula Meyer traf im April in Schwarzenau ein, wo sie vor einem halben Jahr in eine heftige Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Inspirierten geraten war. Es war der »Ort, wo sie 8. Monat vorher hat Schaden gelitten, durch die Holländische Jnspirirte, und sich bey sich selbst klüger gedüncket zu seyn, als E. L. Gr. den doch GOtt zum Aufseher verordnet= und darzu mit Gabe und Gnade ausgerüstet hatte. Sie wurde daselbst auch wieder gefasset, und nun fieng der HErr ein Neues an in den Brüder=Gemeinden, in Philadelphia387 [. . .]. U. Mayerin wurde wieder nüchtern über den Hol383 Vgl. Historie II, 261. 384 Vgl. Bezeugung, Nr. 125; Wohl und Weh (1719), 4–6; Historie II, 245. Scheuner (Inspirations=Historie 1, 38) zufolge feierten sie am 29.2. einen »Buß= und Danktag«. Da sie nachmittags von Büdingen auf die Ronneburg gingen, um Bartmann abzuholen, und am gleichen Tag auch noch Abschied feierten, scheint die Nachricht merkwürdig. Wohl und Weh (1719) weiß nichts von einem Buß= und Danktag am 29.2., berichtet aber von einem am 29.3. (ebd., 18). Vermutlich liegt eine Verwechslung Scheuners vor. 385 Vgl. Bezeugung, Nr. 127. 386 Vgl. Bezeugung, Nr. 128 [Nachtrag S. 502]. 387 Vgl. Schneider, Art. Philadelphia.

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ländischen Jnspirirten, durch die Sie Schaden gelitten, das richtete auch andere Mitglieder auf, sie fühlten ihre Wunden, und samleten sich zum Theil zur Gemeinde. Die man aber wieder aufgenommen in die Gemeinde, musten eine treue und freye Bekäntnis ablegen, und von falschen und vermischten Seelen und deren Versamlungen sich gänzlich und von Herzen abgesondert halten.«388

Ursula Meyer besuchte in Schwarzenau ihren damaligen Hauptkontrahenten Eberhard Ludwig Gruber. Es gelang ihr nun, abtrünnige Gemeindeglieder, die sich auch auf die Seite der Holländischen Inspirierten geschlagen hatten, wieder zurückzugewinnen. Sie wurden, nachdem sie ihre Reue öffentlich bekannt und den Versammlungen der »falschen« Propheten abgeschworen hatten, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.389 Die Auseinandersetzungen mit ihnen und Ursula Meyer regten gewiss auch zur neuen Einrichtung der sog. »Untersuchungen« an. Während des Aufenthalts von Ursula Meyer in Schwarzenau führte Eberhard Ludwig Gruber diese schließlich jährlich stattfindenden Untersuchungen, eine Art »Visitationen«, zur Abgrenzung von den sog. »Falschinspirierten« ein. »Die bißher von GOtt geduldete ungezähmte Ungebundenheit und falsche Freyheit vieler = in Eigener Einbildung sich gros, satt und reich dünckender Gemüter (Off. Joh. 3,17.) solte nun in engere Schrancken, in wahre Geordnetheit zur Einleitung in die heilsam=züchtigende und zurechtweisende Gnade versezet, lautere und unlautere, richtig=wandlende und Selbst=grose, fügige und unfügige (wie es 2.Thess. 3,2. eigentlich heiset) begnadigte und zucht= und rüge=lose von einander geschieden und abgesondert, dargegen fester Grund im Gnaden= und Geistes=Leben und Wandel geleget werden.«390

Bei diesen Untersuchungen wurde jedes Gemeindeglied auf seinen Seelenbzw. Herzenszustand geprüft. Sie ermöglichten es Gruber, jedes Mitglied unter seine Kontrolle zu bringen. Im Mai 1716 begann er mit der Überprüfung der Schwarzenauer Mitglieder. Ursula Meyer stand ihm in der Funktion als »Werkzeug« bei. Zwei Monate lang blieb sie in der Gegend, hielt u. a. am 22. Mai eine Aussprache in Hochmann von Hochenaus Hütte,391 in der auch Christian Erb von Steffisburg bei Thun wohnte,392 und war spätestens zu Pfingsten wieder zurück auf der Ronneburg. Im handschriftlichen Quellenmaterial aus Amana wird eine solche Untersuchung näher geschildert. Der Reihe nach mussten die einzelnen Mitglieder vor der Gesamtgemeinde Rechenschaft ablegen. Bei der Untersuchung der 388 Historie II, 261f. 389 Vgl. ebd., 262. 390 Ebd. 391 Vgl. HA, (Nr. 77). 392 Vgl. Hochmann, Renkewitz, 373. Hartnack (Schwarzenau, 71) vermutete zu Unrecht, Erb stamme aus dem Bergischen.

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Berleburger und Homrighausener Gemeinde musste als 13. Mitglied ein gewisser Bruder Scriba Rede und Antwort stehen: »13. An Br. Scriba. Qu[aestio]: Wie er bei dermaligen umständen sich befinde? Re[sponsio]: Er erkenne seine trägheit, darüber ihn auch viele versuchungen angefallen, habe aber nun durch Gottes gnade einen neuen ernstlichen vorsatz gefasset. Die eigenliebe u. eigenheit schleichen ihm noch sehr nach. Re[sponsio]: Er erkannte es. Qu[aestio]: Wie er wegen mittler versammlung stehe? Re[sponsio]: Habe nichts mehr dagegen in seinem gemüth; anfangs habe er deswegen viel vernünftliches bedenken gehabt.393 Br. Ulrich. Es seÿ e von ihm gesagt worden, daß ihn die versuchungen einsmals so betreten, daß er habe wollen davon gehen, solle sich besser deswegen erklären? Re[sponsio]: Wisse davon nichts besonderes mehr. Ob er an jemanden etwas zu erinnern habe? Re[sponsio]: Es habe ihn gedëucht, als habe Br. Fritz etwas gegen ihn in seinem gemüth? Re[sponsio]: Wisse davon keine spur.«394

Die Befragung von Bruder Scriba gibt einen Eindruck davon, wie penibel die einzelnen Mitglieder öffentlich Auskunft über ihr Innenleben geben mussten. Offenbar konnten sich alle Anwesenden mit ihren Fragen in die Untersuchung einbringen. Häufig folgte dem Prozedere noch eine persönliche Aussprache eines »Werkzeugs« an das befragte Mitglied. 8.–10. Ronneburg und Kurzreise nach Frankfurt (Juni–September 1716) Am 22. Juni 1716 reiste Gruber von Schwarzenau nach Büdingen, wo die »Werkzeuge« versammelt waren. Am 28. Juni fand nachmittags eine private Versammlung statt, der nur die Ältesten und die »Werkzeuge« Rock, Gruber, Gleim und Ursula Meyer beiwohnten. Am darauf folgenden Tag wurden die Gemeindeglieder einzeln und vor allen Anwesenden auf ihre Ernsthaftigkeit hin geprüft und untersucht. Das Prozedere wurde von Vater Gruber geleitet und dauerte in Büdingen sieben Tage. Als nächstes kam die Ronneburg, dann Düdelsheim und Rohrbach, schließlich Himbach etc. an die Reihe. Hier fand eine Trennung statt zwischen bloß zugewandten Sympathisanten und Vollanhängern. Eine explizite innergemeindliche Hierarchie wurde geschaffen. Jede Gemeinde erhielt »durchs Wort vom HErrn in den Werckzeugen, und durch die Wahl und Zustimmung der Brüder einen Vorsteher und 2. Mit=Aeltes393 Vgl. dazu auch die Untersuchung der Gemeinde in Schwarzenau: Bezeugung, Nr. 75 vom 22.1.1718: »An Br. Heinrich Reger, ostindienforscher. [. . .] Qu[aestio]: Er habe sich beschweret, in die mittlere versammlung zu gehen? Re[sponsio]: Ja!« 394 Bezeugung, Nr. 6. Leider bleibt das Datum der Untersuchung unklar.

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

te[n]«.395 Am 15. Juli 1716 wurde in Bergheim Johann Henrich Geyer396 als neuer Vorsteher eingesetzt. Im handschriftlichen Quellenmaterial aus Amana ist der Vorgang, bei dem Ursula Meyer als »Werkzeug« mitwirkte, belegt: »Als der Br. Geyer der hiesigen gemeinde vorgestellet, u. ihm das amt eines aufsehers war aufgetragen, auch die gesetze und verordnungen des HErrn vorgelesen worden, knieeten die anwesenden nieder und beteten miteinander, und übergaben sich aufs neue der hand des HErrn in seinem gnadenbunde. Hierauf geschahe das wort des HErrn durch Ursula Meyer an den Br. Geyer also: Ich lege hiermit alle diese seelen auf dein herze, du, mein knecht! Du sollt [sic] sie tragen, wie eine mutter ihr kind in ihren armen träget. Ich werde dir aber dazu deinen arm stärken, u. dir ein lauteres, lebendiges wasser aus deinem inwendigen hervorquellen lassen, wodurch diese arme schafe können getränket werden. Giebe aber wohl achtung insonderheit auf die deine [. . .] Giebe aber auch genaue achtung auf die drei Schwestern [. . .] [Es folgen weitere einzelne Mitglieder; IN] (Wandte sich zur gemeinde:) So kommet dann her u. versprechet, dass ihr eurem Gott je länger je treuer werden wollet, mit mund u. herzen diesem meinem knecht, u. erfreuet seine seele durch euren ernstlichen wandel, u. betrübet sie ja nicht durch eure hinlässigkeit u. halsstarrigkeit, sonsten, so seine getreue seele eurer halsstarrigkeit wegen zu mir seufzen würde, wäre es euch nicht gut. So er aber in freudigkeit seines herzens euch alle wird fassen können, so werde ich einen segen auf ihn legen, der über euch herab triefen wird.«397

Die Aussprache zeigt, dass es schon früh eine Art Protokoll gab, das den Ablauf regelte. Zudem macht sie deutlich, welch dominante – geradezu pastorale – Position den durchweg männlichen Gemeindevorstehern zufiel. Die Gemeinden teilte man in Gliedschaften ein. Kriterium der Einteilung bildete das Alter und der jeweilige Glaubensstand. So wurde auch eine Kinderlehre eingerichtet und später ein eigenes Gesangbuch, das Davidische Psalterspiel,398 eingeführt. Diese neue Gemeindeordnung ist auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Schwarzenau zu verstehen. Solche Verfasstheit führte einerseits zur Stabilisierung und besseren Kontrolle der Gemeinden, andererseits bewirkte sie eine zunehmende Hemmung der freien ekstatischen Erscheinungen. Da mit gewissen bisher geltenden spiritualistischen Überzeugungen gebrochen wurde, zogen sich einige Mitglieder von den Inspirationsgemeinden zurück. Ein handschriftlicher Nachtrag zur Bezeugung Nr. 224 hält fest, dass die sog. Untersuchung in Laubach vom 24. bis 27. Juli 1716 stattgefunden hätte. »Gleim u[nd] Mackinet mit Ulrich kamen von Roneburg dazu, u[nd] Rock u[nd] Gruber auf der rückreise von Schwarzenau. Nur Ursula Meyer war nicht 395 396 397 398

Historie II, 264. Wie oben Anm. 88. Bezeugung, Nr. 223 [S. 874f.]. Siehe oben S. 110 u. 184.

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dabei.«399 Ursula Meyer war auf der Ronneburg und hielt dort Aussprachen. Mitte August führte sie eine kurze, zweiwöchige Reise nach Frankfurt. Am 21. August hielt sie schon wieder eine Aussprache auf der Ronneburg. Hier fand auch am 24. September 1716 nach einem Vorbereitungstag im grossen Saal das vierte Liebesmahl statt.400 Nur Rock, Gruber und Gleim hielten an diesem Tag Aussprachen; Ursula Meyer schwieg. Sie wirkte zusammen mit ihrer Schwester beim abendlichen nach Geschlechtern getrennten Fusswaschen vor dem Brotbrechen mit.401 Am folgenden Tag wurde ein Dankfest veranstaltet, und am übernächsten Tag wurden die »Werkzeuge« ausgesandt. Am 27. September erhielten sie nähere Angaben: »[R. sprach zu Gl.] woltest du zufrieden seyn wann Ich dich im Frieden=Thal402 meinen Liebes=Tranck mit deinen Mitgliedern und Reiß=Gefährten geniessen liesse / und ruffete auch meine Magd / Meyer Ursula genannt / dahin? [Gl.] Ja! wann du ihr würdest ihren Mund eröffnen / daß sie eine Stimme mit in deinem Hause hätte / und woltest sie dann mit Gnade Glauben und Muth stärcken / wie könte ich anders thun / als mich über deinen Willen freuen; [. . .] [R.] Und meiner Magd Meyer soll der Mund geöffnet werden / wann sie mir nicht widerstehen wird und ihre Vernunffts=Bedencklichkeit zu rathe ziehet.«403

Die Anspielung auf die zurückliegenden Ereignisse zeigt, wie präsent Ursula Meyers damalige Parteinahme für die Gegnerschaft Grubers und ihre anschliessende sechsmonatige Schweigezeit noch war. Es scheint, als hätte Ursula Meyer immer wieder an den Inspirationen und ihrer eigenen Berufung gezweifelt (vgl. »Vernunffts=Bedencklichkeit«). Es trifft demnach nicht zu, dass sich Rock aufgrund seiner durch die Ratio verursachten Zweifel »gerade auch von anderen ›Werkzeugen‹ innerhalb [. . .] der Inspirationsgemeinde unterscheidet.«404 Ursula Meyer wurde auch immer wieder von Zweifeln geplagt und hat diese offensichtlich auch geäussert. Aus diesem Grund kam sie beim vierten Liebesmahl als »Werkzeug« wohl auch nicht zum Einsatz und hielt keine Aussprachen.

399 Bezeugung, Nr. 224 [S. 875]. 400 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 3 u. 7. Historie II, 264 schreibt fälschlicherweise mit Verweis auf die Buß=Weck= und Warnungs=Stimme, das Liebesmahl hätte am 16.9.1716 stattgefunden. 401 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 29 u. 33. 402 D.i. Schwarzenau. 403 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 65. 404 Ulf-Michael Schneider, Propheten, 73f.

204 11.

Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]« Schwarzenau (Oktober und November 1716)

Am 28. September reisten die Büdinger Mitglieder der Inspirationsgemeinden ab, die schon Anfang Juli von der Obrigkeit den Befehl dazu erhalten hatten.405 Ursula Meyer begleitete sie zusammen mit J. A. Gruber und Mackinet, der auch in Büdingen sesshaft war.406 Noch in der gemeinsamen Aussprache vom 27. September findet sich eine Anspielung an die letztjährige Auseinandersetzung in Schwarzenau. So fragt J. A. Gruber: »Wer sagt mir aber / was ich doch denen thun soll / die da meynen ich hätte sie sehr beleidiget / daß sie wiederum versöhnet werden? Es ist der Wille deß HErrn / daß es denen im Feigen=Thal kund gethan werde: Daß / wo sie sich wollen bequemen in meinem Frieden=Thal in offentlicher Gemeinde zu bekennen / daß sie sich an mir / meinen Kindern und Gliedern / und meinem Wercke versündiget haben / Sie hinunter von ihrer Höhe steigen / und in dasselbe Thal / nach Schwartzenau nehmlich / gehen sollen; So will Ich sie alßdann meines Liebes=Trancks / wann sie ihre Wunden recht fühlen werden / zur gründlichen Heilung theilhafftig machen: und sie sollen so=dann auch wiederum in meine Gemeinde / jedoch nicht anderst alß nach vorher durchgegangener Prüfung und Untersuchung / aufgenommen werden: Gleich auch ihr Bruder / der sich Haug407 nennet. Wollen sie aber auch diese meine sich noch mahl zu ihrem besten und zu ihrer Heilung anbietende Liebe verachten / und mir verkehrt außlegen / so mögen sie es thun; Ich kan ihrer Zeit / die Ich gewißlich nicht aussen bleiben lassen werde / wohl erwarten.«408

Die aus Büdingen Ausgewiesenen erreichten Schwarzenau am 1. Oktober 1716.409 Am 6. Oktober erging eine neue »Reiseordre« an J. A. Gruber, Mackinet und Gleim. In seiner Aussprache wandte sich Gruber auch an Ursula Meyer mit den folgenden Worten: »Auf! rüste dich! daß meine Befehle durch dich können fortgehen / und daß ich meine Paucke zum Streit schlagen könne / daß mir nicht etwas durch dich versäumet oder versehen werde! Halte dich nahe zu deinem Führer von innen / und komme ihm nicht mehr so offt mit deinen hauffen Eigenheits= und Widerstands=Trabanten entgegen; Dann ich habe dich hierher beruffen / daß meine Arbeit durch dich solle fortgeführet werden / und daß du solt als eine gehorsame Dienerin / meines Willens / 405 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 66. 406 Vgl. ebd; Wohl und Weh (1719), 24. Blasius Daniel Mackinet kam mit seinem Vater Daniel Mackinet nach Schwarzenau, wohnte leihweise »in Jacob Ulrichs Haus« und wurde vom Vater verheiratet. Acta des Fürst Wittgenstein’schen Archivs zu Wittgenstein, N 72: Actum Schwartzenau den 4. Juli 1721 wurden die sämtlichen Schwartzenauer Einwohner vorgefordert und nachfolgender gestalt gefragt und notiret, 24v. Daniel Mackinet konnte einen »Kauff-Contract« von 1717 vorweisen. Ihm wurde der Bau einer Schlagmühle erlaubt. Vgl. ebd. 407 Siehe oben S. 104. 408 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 66. 409 Ebd.

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in heiliger Stille / Gehorsam / Zufriedenheit und Gelassenheit warten. Dann zur rechten Zeit will Ich auch wiederum nach Morgen schauen / und die Unordnung wiederum in eine Ordnung bringen / die daselbst zum theil entstehen will / und zum theil auch entstanden ist / daß meine Ruhe Mittagwerts / so lange es mir beliebet / noch unzerstöret erhalten werde.«410

Auch hier wird wieder deutlich, dass Ursula Meyer häufig Zweifel plagten und ihr die Unterordnung Schwierigkeiten bereitete (vgl. »Eigenheits= und Widerstands=Trabanten«). Dies wirkte sich jeweils auf ihre Gabe inspirativer Verkündigung aus. Die direkte Anrede in der Aussprache Grubers scheint jedoch ihr Ziel erreicht zu haben, denn am 7. Oktober »wurde unter anderm auch die Verheissung an Schw. Urs. Meyer erfüllet; Dann sie das Wort deß HErrn wieder bekam / und offentlich verkündigen mußte / welches vieler Hertzen und Seelen zum Lob GOttes bewegete.«411

Der Himmlische Abendschein gibt eine Aussprache Ursula Meyers vom Oktober 1716 wieder, die sie in Anwesenheit E. L. Grubers in Schwarzenau gehalten hatte.412 Das fünfte und letzte Liebesmahl sollte am 2. November nach einem Vorbereitungstag in Schwarzenau und zwar im Friedenthal413 bei der Gräfin Castell414 stattfinden. Sein Hauptzweck bestand darin, die aus Büdingen vertriebenen Geschwister zu stärken und aufzurichten.415 Sechzig Gäste wurden von den beiden »Werkzeugen« Meyer und Gleim namentlich aufgerufen, eingeladen und geprüft.416 Das Fest mit Fußwaschung und Brotbrechen dauerte fünfzehn Stunden. Ihm schloss sich ein Danktag an. 12.

Ronneburg und Schwarzenau (1717–1719)

Bis Januar 1717 schweigt der Himmlische Abendschein. Scheuner schreibt, Ursula Meyer sei am 13. Januar zusammen mit Stipp417 von Schwarzenau wieder auf die Ronneburg heimgekehrt.418 Die Aussprachen Nrn. 104 bis 154 fanden alle auf der Ronneburg statt mit Ausnahme von drei in der Nähe gehaltenen 410 Ebd., 73. 411 Ebd., 74. 412 Vgl. HA, (Nr. 103). 413 Friedenthal bezeichnet »das heutige Hüttental oberhalb von Schwarzenau«. Johann Georg Hinsberg’s Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg bis zur Regierungszeit des Grafen Casimir (18. Jh.), hg. v. Johannes Burkardt/Ulf Lückel, Bad Berleburg 1999, 139 (Anm. 151). 414 Siehe oben Anm. 100. 415 Vgl. Historie II, 265: »[. . .] zur Aufmunterung der hieher verpflanzten= und zurückgelassenen=dahin zum Theil berufenen=Büdinger, gehalten worden.« 416 Vgl. zu diesem Mahl Scheuner, Inspirations=Historie 1, 61–63. 417 Nicht ermittelt. 418 Vgl. ebd., 68.

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Inspirationsreden.419 Dank des handschriftlichen Quellenmaterials erfahren wir aber, dass Ursula Meyer sich mindestens zweimal zwischen 1717 und 1719 in Schwarzenau aufgehalten hatte, nämlich im Sommer 1717 und im Januar 1718.420 Am 6. Oktober 1716 erhielten der 21jährige J. A. Gruber und die beiden Schreiber B. D. Mackinet und H. S. Gleim den Befehl, u. a. in die Schweiz zu reisen.421 Sie zogen am 9. Oktober ab und kehrten erst wieder am 7. Februar 1717 nach Schwarzenau zurück.422 Sie reisten auch nach Bern und Thun. Am 1. Januar 1717 lieferten J. A. Gruber und H. S. Gleim eine Aussprache über das sog. »Schauthal«, wie die Schweiz bezeichnet wurde, beim Bürgermeister in Zürich ab.423 Dieser ließ die beiden kurz darauf festnehmen. Nach einer nächtlichen Examination durch die Chorherren wurden sie öffentlich an den Pranger gestellt und schließlich durch die Stadt hinausgepeitscht. Am 23. Januar erreichten sie wieder die Ronneburg. Ursula Meyer hielt knieend eine kurze Aussprache des Dankes, bei der J. A. Gruber und Mackinet »in steter bewegung [waren]«.424 Vom 2. bis 19. Mai 1717 fanden – so Scheuner – auf der Ronneburg, in Büdingen und anderen Gemeinden der Umgebung Untersuchungen statt, bei denen Ursula Meyer und Johann Friedrich Rock als »Werkzeuge« mitwirkten »und viele Zeugnisse geschahen«.425 Diese Zeugnisse konnten bisher nicht ermittelt werden.426 Nachdem die Untersuchungen beendet waren, reisten Ursula Meyer und Rock am 19. Mai zur Laubacher Gemeinde. Ursula Meyer kehrte darauf wieder zurück auf die Ronneburg, und Rock wanderte weiter nach Schwarzenau.427 Am 10 Juni folgte ihm Ursula Meyer zusammen mit Bruder Ulrich von der Ronneburg nach Schwarzenau. Am folgenden Tag hielt Rock Scheuner zufolge eine Ursula Meyer betreffende Aussprache: »[. . .] Ich habe meine Magd Mayerin im Verborgenen gezogen, und es mißfället Mir nicht, daß sie Mein Knecht Ulrich mitgenommen und hieher begleitet hat u.s.w.«428 Nach einem Fast-, Bet- und Bußtag wurde die Untersuchung 419 Vgl. HA, (Nrn. 128–130), die in Laubach und Assenheim gehalten worden waren. 420 Vgl. Bezeugung, Nrn. 94–96 u. 101; 7 u. 21. 421 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 72f. Vgl. zudem oben S. 112. 422 Vgl. ebd., 76 u. 408. 423 »Auf 8 Folioseiten wird in blühendem, prophetisch-apokalyptischem Styl, in wirklich hübscher, bilderreicher Sprache eine bittere Wehklage erhoben über das Schauthal d. h. die Schweiz, ihre Berge und Einwohner.« Studer, Der Pietismus, 152. Die Aussprache selbst ist ebd. (152–160) abgedruckt. 424 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 390. 425 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 75. 426 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 194, der auch eine Lücke zwischen der Aussprache Rocks vom 23.4.1717 und jener vom 20.6.1717 aufweist. 427 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 75. 428 Ebd., 76. Eine Aussprache Rocks vom 11.6.1717 in Schwarzenau kann ich nicht finden. Auch Ulf-Michael Schneider (Propheten, 194) listet keine auf.

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der Gemeinde durchgeführt. Von Ursula Meyer heißt es, sie sei bis zum 26. August in Schwarzenau geblieben und »im Frieden und Segen«429 wieder auf die Ronneburg zurückgekehrt. Am 31. Oktober weilten alle vier noch verbliebenen »Werkzeuge« auf der Ronneburg.430 Am Fast- und Bettag vom 7. November kamen alle zusammen in ein »harmonisches« Zeugnis. Am 15. beraumte Rock eine dreitägige Konferenz der vier »Werkzeuge« ein. Am 19. November hielten sie wieder eine Aussprachenharmonie. Nachher wurden verschiedene Gemeinden untersucht, die zum Teil auch auf die Ronneburg kommen mussten. Es folgte eine Zeit der Apostasien. Die beiden »Werkzeuge« J. A. Gruber und J. C. Gleim gerieten in Zweifel. Am 18. Dezember hielt Gleim seine letzte Inspirationsrede in Homrighausen,431 und vom 19. Dezember datiert die letzte Aussprache von J. A. Gruber.432 Ende Dezember 1717 reisten der Vorsteher Jacob Ulrich mit J. A. Gruber und Ursula Meyer von der Ronneburg nach Schwarzenau.433 Hier begann am 11. Januar 1718 die Untersuchung und Prüfung der vier »Werkzeuge« durch E. L. Gruber. Sein Sohn J. A. Gruber und J. C. Gleim standen »in Versuchung« und hatten offenbar Konflikte mit Ursula Meyer und v. a. Rock.434 Dennoch nahmen sie an der anschließenden Untersuchung der Gemeinde in Schwarzenau und weiterer Gemeinden der näheren Umgebung bis zum 26. Januar teil. Ihre Einwände und Zweifel ließen jedoch nicht nach.435 Rock zufolge hegten sowohl Gruber als auch Gleim »Widrigkeit gegen ihre so liebe Vätter«.436 Sie verloren die Gabe der Weissagung, »da sie sich der genauen Prüfung des bemelten Aufsehers und der Brüder nicht ergaben, inniger ins Herz zu kehren und tiefer zu graben.«437 Rock und Meyer hingegen erwiesen E. L. Gruber die Treue und ließen sich von den beiden anderen »Werkzeugen« nicht anstecken.438 J. A. Gruber und Gleim mochten sich der Prüfung durch den Aufseher E. L. Gruber nicht 429 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 77. 430 Vgl. ebd., 85. Auch hier fällt die große Lücke auf im Nachweis von Aussprachen. Vgl. Ulf-Michael Schneider (Propheten, 192), der vom 28.9.1717–27.2.1718 keine inspirierten Reden Rocks aufführt. 431 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 87 (»Homburgshausen«). 432 Vgl. XI. Sammlung (1740), 106. Sie ist abgedruckt in: Scheuner, Inspirations=Historie 2, 79–82. 433 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 88. 434 Die beiden bestürmten Rock so heftig, »daß er oft meynte, sie wolten ihm seinen Gnaden=Funcken voll gar ersticken.« Johann Friedrich Rock, Zweytes Tag=Buch vom 27. Jenner biß 20. May des Jahres 1718 in: XVI. Sammlung (1772), 175–237, hier 176. Vgl. auch ebd., 184 [8.2.1718 Schwarzenau]. Vgl. auch HA, (Nr. 139). 435 Vgl. Rocks Tagebuch unter dem 3.2.1718, in: XVI. Sammlung (1772), 178–181. 436 XVI. Sammlung (1772), 183 [7.2.1718 Schwarzenau]. Vgl. ebd. 184 [9.2.1718 Schwarzenau; Bruder Ulrich, Stiefvater des Johann Carl Gleim]. 437 Vgl. Rock, Zweytes Tag=Buch, in: XVI. Sammlung (1772), 175–237, hier 176. 438 Vgl. ebd. u. 187f. [18.2.1718].

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unterziehen. J. A. Gruber heiratete später und wanderte 1726 nach Pennsylvanien aus.439 Auch Gleim wanderte mit seiner Familie Mitte des 18. Jahrhunderts nach Amerika aus. Der »Abfall« bzw. die Distanzierung zweier »Werkzeuge« muss zu einer gewaltigen Krise in den Gemeinden geführt haben. Auch Blasius Daniel Mackinet wanderte später nach Pennsylvanien aus, wo er sich aber 1749 wieder zu den Inspirationsgemeinden bekannte.440 Außer J. A. Gruber und J. C. Gleim lehnte sich Ulrich,441 der Stiefvater der beiden Brüder Gleim, gegen E. L. Gruber auf, was zu einem »schwehren Kampf unter Brüdern«442 führte. Im Kontext dieses Abweichens verschiedener Mitglieder und insbesondere des »Werkzeugs« J. A. Gruber entzündete sich ein heftiger Streit zwischen Rock und Bartmann. Rock wurde wegen dieses Streites sogar für einige Wochen von den Ronneburger Versammlungen ausgeschlossen.443 Ein Brief von Bartmann an Rock zeugt noch von dieser Auseinandersetzung und ihren Hintergründen.444 Bartmann schreibt, E. L. Gruber habe ihn in einem Brief an die beiden Schwestern Meyer verdächtigt, für den plötzlichen Abschied seines Sohnes verantwortlich zu sein. Bartmann beteuert seine Unschuld. Der Streit legte sich jedoch erst, als er schwer krank wurde: »Nicklas Bartmann! (N. B. Dieser gewesene Bruder, welcher nun auch gegenwärtig war, ist im Jahr 1718. von der brüderlichen Gemeinschaft ausgewiesen, wegen Geistes= Falsch= und Argheiten, und ist unter der Zeit immer widrig und verdächtigmachend geblieben, wurde nach dem Besuch der Herrnhuther Brüder445 in eine tödliche Krankheit eingeführet, in welcher ihn auch Br. Rock, und nach diesem auch der G. Neumann besuchet, und die Versöhnung angebotten, die er auch angenommen, und versicherte ihn Br. Rock insonderheit, daß die vorige Schulden, so wir an einander begangen, solten vergessen und nimmer gedacht werden etc.).«446

Rock hielt nach Scheuner am 23. September 1718 eine Aussprache auf der Ronneburg, die sich an die Vorsteher Schieß, Bartmann, Fischer und Melber richtete und auch eine Warnung an ihn selbst beinhaltete.447 Er durfte erst am 4. Oktober 1718 wieder an den Versammlungen teilnehmen.448 439 Vgl. Donald F. Durnbaugh, Johann Adam Gruber, Pennsylvania-German Prophet and Poet, in: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 83 (1959), 382–408, hier 382 u. 390. 440 Vgl. sein Schreiben »von der Göttlichkeit der wahren Inspiration«, abgedruckt in: Scheuner, Inspirations=Historie 2, 89–104. 441 Siehe oben S. 104. 442 XVII. Sammlung (1776), 159. 443 Vgl. XII. Sammlung (1751), 221. 444 Vgl. den Brief des Nicolay Bartmann an Johann Friedrich Rock aus dem Jahr 1718 im Anhang [4.]. 445 Die Herrnhuter besuchten 1730 das Wittgensteiner Land. Siehe unten S. 286. 446 XX. Sammlung (1780), 120f. 447 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 96. Eine Aussprache Rocks am 23.9.1718 kann ich nirgends finden. Auch Ulf-Michael Schneider, Propheten, 195 weist keine nach. 448 Vgl. XII. Sammlung (1751), 221.

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Rock besuchte im Mai 1718 mehrmals den ihm nahe stehenden kranken Bruder Hans Georg Ungemut aus dem Appenzellischen auf der Ronneburg.449 Rock, der innerlich vom baldigen Tod des Bruders überzeugt war, ließ sich von Ursula Meyer verunsichern. Rock, Meyer, der Gemeindevorsteher Schiess und seine Frau hielten noch am 20. Mai mit Ungemut eine Versammlung.450 Auch der jüngere Bruder Ursula Meyers,451 »an dem eben GOtt arbeitet, um ihne in die rechte Buß=Ordnung zu bringen«,452 war auf der Ronneburg und trat in die Stube. An ihn erging eine Aussprache, in welcher er angesichts des bevorstehenden Todes Ungemuts ermahnt wurde, sich zu bessern. Er musste bitterlich weinen.453 Da Rock am 20. Mai noch an dieser Versammlung teilnehmen durfte, wird der Streit mit Bartmann wohl erst im Frühsommer 1718 ausgebrochen sein. Am 15. Juli trat Rock mit dem Württemberger Johannes Fischer, einem ehemaligen Gerber von Geislingen bei Ulm,454 der vorübergehend auf der Ronneburg lebte, eine Reise nach Württemberg an, die bis zum 10. September dauern sollte.455 Bei der Abschiedsversammlung hielt Ursula Meyer eine kurze Aussprache.456 Inwiefern diese Reise Rocks eine Reaktion auf den Ausschluss aus den Ronneburger Versammlungen war, muss offen bleiben. Am 8. Januar 1719 reisten Rock, Ursula Meyer und Johann Samuel Carl nach Bergheim zu Geyer.457 Dort hielt Rock eine Aussprache, die zur Weiterreise nach Schwarzenau und zur dortigen Untersuchung aufforderte. Am 9. Januar starb in Schwarzenau Heinrich Sigmund Gleim, der die »Werkzeuge« mehrmals auf ihren Reisen begleitet hatte und anders als sein Bruder und sein Stiefvater der Gemeinde treu geblieben war. Anfang Februar reisten Rock und Meyer ins Wittgensteinische zur geplanten Untersuchung und kehrten am 22. März auf die Ronneburg zurück.458 Eine Woche später, am 29. März, erhielten sie die Aufforderung zur Untersuchung auch der Ysenburgischen Gemeinden. Am 3. April trafen sie mit den Gemeindevorstehern und -ältesten zusammen.459

449 Vgl. »Von Br. Ungemuts, eines Appenzellers aus der Schweiz, Lezten Stunden« in: XVI. Sammlung (1772), 225–237. Ungemut war 1716 mit Giezendanner als Leiter verschiedener pietistischer Konventikel aufgetreten, vgl. Hanimann, Nonkonformisten, 46. 450 Vgl. XVI. Sammlung (1772), 230. 451 Es handelt sich um Caspar Meyer, siehe oben S. 44: Genealogischer Ausschnitt. 452 Ebd., 231. 453 Ebd., 231f. u. 235f. 454 Vgl. Wohl und Weh (1719), 202. 455 Vgl. ebd., 209. 456 Vgl. ebd., 207. 457 Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 96. 458 Vgl. ebd., 97. 459 Vgl. ebd.

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In der Abschiedsversammlung vom 24. September, dem Vortag der Abreise Rocks mit seinen Begleitern Johannes Fischer und Johann Jacob Schulthess460 ins Württembergische und in die Schweiz, hielt Ursula Meyer zu deren »Aufmunterung und Stärkung«461 ihre letzte Aussprache. Sie beschließt den Himmlischen Abendschein und liegt auch in der XXXV. Sammlung vor.462 Rock selber schreibt dazu, dass »Schwester U[rsula] in Inspiration« gekommen sei und ihm das mitteilte, »was mir GOtt schon früher hatte zu erkennen gegeben, worüber meine Seele recht gestärcket wurde, so daß ich noch freudiger zu meiner Reise wurde.«463 ThematischeSchwerpun kte

4. Thematische Schwerpunkte Keine der Aussprachen, die uns von vier »Werkzeugen« der Inspirierten schriftlich zur Verfügung stehen,464 wurden meines Wissens bisher je eingehender auf ihre Lehren und Anschauungen hin untersucht.465 Am Beispiel der im Himmlischen Abendschein gesammelten Inspirationsreden soll nun erstmals versucht werden, die thematischen Schwerpunkte des »Werkzeugs« Ursula Meyer systematisierend darzustellen. Die einzige mir bekannte weiterführende Äußerung zu ihrem Werk stammt von Paul Wernle, der die darin enthaltenen Aussprachen mit folgenden Worten beschrieb: »Sie gehen von dem scharfen Gegensatz von Gott und Welt aus, rufen auf zur Abgeschiedenheit, zum Kreuztragen, zum dunkeln Glauben, zur Demut, zur Reinigung, da Reinigungskraft über Wunderkraft geht; wahre und falsche Freiheit werden einander gegenübergestellt, ebenso Babels kurze Freude und Zions kurzes Leid. Sie ruft [sic!] auch zu eifrigem Gebetskampf, warnt vor Trägheit, Selbstgefälligkeit, vor Stillstand und Zweifelmut.«466

Paul Wernles Aufzählung basiert nicht auf einer eingehenden Lektüre des Werkes, sondern gibt eine eher willkürliche Auswahl an Themen und Topoi wieder, auf die man im Himmlischen Abendschein stößt. Dennoch trifft seine Beobachtung des »scharfen Gegensatz[es] von Gott und Welt« ein grundlegendes Charakte460 Wie Anm. 271. 461 HA [Nr. 154], 375. 462 Vgl. XXXV. Sammlung (1784), 14. 463 Johann Friedrich Rock, Lichte und Leichte, Auch Dunckele und Schwehre Stunden [. . .], Anhang zur X. Sammlung (1749), 9. 464 Vgl. oben S. 147f. 465 Heinrich Corrodi bezeichnete »die Vorträge der deutschen Propheten« als »ein confuses, mystisches, dunkles Gewäsch von der Busse, neuen Geburt, geistlichen Vereinigung der Seele mit Christus.« Ders., Chiliasmus 2, 191. Max Goebel (Inspirations=Gemeinden [1854], 434–438) und Chauncey David Ensign (Pietism, 313–319) bieten lediglich einen sehr groben Umriss zu »Lehre und Leben« bzw. »Beliefs of the Inspirationists«. 466 Wernle, Protestantismus 1, 184.

Thematische Schwerpunkte

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ristikum der nun auszuführenden Schwerpunkte des »Werkzeugs« Ursula Meyer. Anhand der Analyse ausgewählter, exemplarischer Aussprachen bzw. Aussprachenauszüge sollen diese hier dargestellt werden. Methodisch wird dabei von den drei Themenkomplexen Eschatologie (4.1), Christologie (4.2) und Ekklesiologie (4.3) ausgegangen, wobei Ursula Meyers Inspirationsreden selbstredend keine explizite Theologie entfalten, sondern lediglich Lehren und Anschauungen im Bereich der genannten Themenkomplexe aufweisen und verfechten. Ihre Auswahl bedeutet zudem einen hermeneutischen Vorentscheid, dessen Legitimität sich in der Ausführung erst erweisen muss. Ein weiteres Unterkapitel ist dem prophetischen Selbstverständnis Ursula Meyers und der Lehre vom inneren Wort (4.4) gewidmet. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse und eine Kritik (4.5) bilden den Abschluss. In die Darstellung einfließen soll die Frage, ob sich die beschriebenen Lehren und Anschauungen bestimmten Traditionsströmen zuordnen lassen. Vor allem interessiert dabei, ob Ursula Meyers Gedankengut in irgendeiner Kontinuität zu bestimmten, schon in ihrer Kinder- und Jugendzeit in der Schweiz nachweisbaren Traditionen steht. Bedeutete ihre Mitgliedschaft, ihr Wirken und ihr Verkündigen bei den Inspirierten einen Bruch mit dem pietistischen Milieu ihrer Vergangenheit in Bern, oder gab es schon damals einzelne Motive und Denkkategorien, an die sie anknüpfen konnte und die ihr den Anschluss an die Inspirierten erleichterten bzw. ihn womöglich überhaupt erst ermöglichten? Da Ursula Meyer in der Schweiz, wie im ersten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt, nahe Bekanntschaft mit dem Pietismus gemacht hatte und er die Hauptursache ihrer Emigration ins Ysenburgische bildete, drängt sich die Frage auf, welche uns aus dieser Zeit bekannten Motivkomplexe ihre weitere radikalpietistische Entwicklung verstehen helfen. Da wir Ursula Meyers Bildungsgeschichte leider nicht rekonstruieren können und ihre persönliche religiöse Sozialisation nur in Ansätzen kennen, gestaltet sich die Fragestellung nach möglichen traditionsgeschichtlichen Verbindungen und Abhängigkeiten jedoch außerordentlich schwierig. Zudem liegt das Ausmaß der Verbreitung und die Rezeptionsgeschichte einzelner im frühen Pietismus in Bern gelesener Werke wie etwa Johannes Erbs Reformierte Hauss-Kirch (1675)467 noch völlig im Dunkeln. Von Ursula Meyer selbst wird kein konkreter Bezug zu bestimmten, ihr zugänglichen und von ihr gelesenen Werken hergestellt. Ihr Wortschatz orientiert sich maßgeblich an der Bibel selbst. Die im folgenden auszuführenden spezifischen Ideen lassen sich deshalb schwer von einem individuellen Werk oder Autoren ableiten.468 Ursula Meyers Aussprachen rezipieren eine Vielfalt recht verschiedenartiger Traditionen. Sie bilden geradezu 467 Vgl. oben S. 56. 468 Zur Schwierigkeit, spezifische Ideen einem bestimmten Oeuvre oder Autor aufgrund des defizienten Forschungsstandes zuzuordnen, vgl. Schrader, Madame Guyon, 196f., der dieses Problem am Beispiel der Guyon-Rezeption aufzeigt.

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

ein Sammelbecken unterschiedlichster mystisch-spiritualistischer Ansichten.469 Die nun folgende Darstellung der in den Inspirationsreden Meyers enthaltenen Kernideen ergibt einen repräsentativen, geradezu mustergültigen Querschnitt klassischer im radikalpietistischen Separatismus vertretener Konzepte und Inhalte. F. Ernest Stoeffler, der unter den Radikalpietisten »an amazing unanimity of religious sentiment«470 festzustellen meinte, lieferte auch eine Aufzählung der sie allgemein verbindenden Anschauungen und Lehren: »They generally insisted on a thorough experience of religious conversion, on affective union with God, on love as the inner meaning of the Christian Gospel, on a life of piety as read out of the New Testament, on separation from the ›world‹, as well as separation from the external church, and on freedom from theological, ecclesiastical, and political restraint. More often than not they espoused the doctrine of the restoration of all things, and many of them regarded human sexuality as the chief enemy of spiritual growth.«471

In dieser Aufzählung fehlt jedoch jenes Thema, das als Charakteristikum des radikalpietistischen Separatismus bezeichnet werden muss und seine Schriften wie ein cantus firmus durchzieht: das virulente Endzeitdenken bzw. die Überzeugung, dass die Zeit endgültig erfüllt sei (Mk 1,15; vgl. Gal 4,4). Genau diese Überzeugung bildet auch den zentralen thematischen Schwerpunkt von Ursula Meyers Aussprachen. All ihre Lehren entwickelt sie in ständigem Bezug auf ihre sehnsüchtige Erwartung der nahe bevorstehenden Zeitwende und des Anbruchs des neuen Äons. Die konsequent eschatologische Ausrichtung ist die effektive Grundlage aller weiteren Anschauungen und Lehren der Aussprachen Meyers. Die Hauptmotivation für ihr Handeln und Lehren bezieht sie aus der Überzeugung, kurz vor diesem epochalen Umbruch zu stehen, dem erlösenden Wandel von der alten zu einer neuen Welt im Sinne von Apk 21,5: »Siehe, ich mache alles neu!«472 Von dieser Überzeugung aus erklärt sich die schon von Wernle beobachtete dualistische Grundstruktur des Denkens Ursula Meyers, das geprägt ist von den sich antithetisch gegenüberstehenden Möglichkeiten des Glaubens, der dem Ruf zur Buße folgt, und des Unglaubens, der gottfeindlich und ungehorsam der Welt zugewandt und verhaftet bleibt.473 469 Zum mystischen Spiritualismus, der Werke spätmittelalterlicher Mystik, insbesondere Predigten Taulers, die Theologia Deutsch und die Imitatio Christi des Thomas von Kempen rezipierte, vgl. Benrath, Lehre, 561 u. 565–568. Vgl. ebd., 562: »Der Sammelbegriff ›Spiritualismus‹ umfaßt [. . .] sehr verschiedenartige Lehren. Was sie eint, ist die gemeinsame Berufung auf die übernatürliche unmittelbare Offenbarung des göttlichen Geistes [. . .].« 470 F. Ernest Stoeffler, German Pietism during the Eighteenth Century (Studies in the History of Religions XXIV), Leiden 1973, 215. Die Inspirierten, die Stoeffler dem »German Philadelphianism« zuordnet, werden nur kurz tangiert (vgl. ebd., 214). 471 Ebd., 215. 472 Vgl. Jes 65,17a. 66,22; II Petr 3,13; Apk 21,1. 473 Vgl. I Joh 2,15–17; Joh 15,19 passim. So schon Arndt, WChr II, 25, 1: »Das erste Zeichen der Liebe Christi in uns (1) ist die Vermeidung der Weltliebe.«

Thematische Schwerpunkte

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Ursula Meyers eschatologisches Konzept und ihre dualistische Weltsicht sind wesentlich bestimmt durch die individuelle und gemeinschaftliche Situation der Verfolgung und des Ausgegrenztseins. Dieser prägenden Erfahrung entspricht die »mentale[n] Operation strengen Dualisierens«.474 Die Inspirierten verkörpern für Ursula Meyer die leidende, unterdrückte, aber ganz auf Gott vertrauende wahre Gemeinde, wie sie vornehmlich in Apk 12,1–19,10 geschildert wird. Es ist die Gemeinde der kurz bevorstehenden Endzeit, der das Heil schon winkt.475 Der Himmlische Abendschein gehört zur literarischen Gattung endzeitlicher Offenbarungsliteratur.476 Schon der Titel macht dies deutlich. Der Ausdruck »Abendschein« besagt, dass die gegenwärtige Zeit ihrem Ende entgegengeht, »und es wird ein einziger Tag sein [. . .], kein Wechsel von Tag und Nacht, auch zur Zeit des Abends wird Licht sein.«477 Es ist der Welt Abend,478 und ein »Glanz, wie die Schönheit der Morgenröthe«479 ist schon zu sehen. Der Berner Pietist Samuel Lutz beschrieb dies 1734 in seinem Werk Die Neue Welt folgendermaßen: »Es ist jetzt die rechte hohe Zeit für uns / sothane Anbätter GOttes und des Lamms zu werden. JEsus / dessen Macht / Weißheit und Stärcke so groß ist / daß es ihnen unmöglich fehlen kan / hat gewaltige Ding im Sinn / die er wider des Teuffels und der Welt Danck in der Kürtze ausführen will [. . .] / das Lamm steiget von Sonnen=Aufgang auf die Höhe Zion; Wir kommen in die Zeiten der sigenden Wahrheit. Der Abend=Schein zeiget sich / und daß Veränderungen in der Welt in vollem An= und Außbruch stehen / sehen auch Einfältige.«480 474 J. Christine Janowski, Eschatologischer Dualismus? Erwägungen zum »doppelten Ausgang« des Jüngsten Gerichts, in: JBTh 9 (1994), 175–218, hier 185, 189 u. 206. 475 Vgl. HA, (Nr. 145), 356f. 476 Vgl. Peter Dinzelbacher, »Revelationes« [Typologie des Sources du Moyen Âge occidental, Fasc. 57], Turnhout 1991, 16: »Jeder Text, der mit dem Anspruch auftritt, eine unmittelbare Botschaft Gottes [. . .] zu verkünden, gehört zur literarischen Gattung des Offenbarungsschrifttums.« Dinzelbacher unterscheidet im Revelationsschrifttum zwischen a) Visionen und Traumvisionen, b) Erscheinungen, c) Auditionen, d) Glossolalie und inspiriertes Schreiben und e) Himmels- und Höllenbriefe. Der Himmlische Abendschein ist am ehesten d) zuzuordnen, dessen Phänomene in und außerhalb Europa vor allem nach dem Mittelalter nachzuweisen sind. Vgl. ebd., 16–21. Zudem weist Dinzelbacher darauf hin, »dass es im Mittelalter bei weitem kein anderes literarisches Genre gab, in dem Frauen mehr Texte produziert hätten als im Bereich der Offenbarungsliteratur.« Ebd., 81. 477 Sach 14,7. Vgl. Herrnhuter Gesangbuch (1735), Nr. 920, V. 19, in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente, hg. v. Erich Beyreuther/Gerhard Meyer/Amedeo Molnar, Reihe 4/III/I: Herrnhuter Gesangbuch, Hildesheim/New York 1981, 851: »Es soll ja lichte seyn zulezt am abendschein, weissagt die wahrheit. Urtheilt in niedrigkeit die zeichen dieser zeit von Christi klarheit.« Der Text stammt von Johann Wilhelm Petersen. 478 Der Ausdruck »himmlischer Abendschein« erscheint nirgends in den Aussprachen Ursula Meyers. HA, (Nr. 23), 55 heißt es jedoch: » an diesem Abend der Welt«. 479 HA, (Nr. 109), 256. 480 Die Neue Welt / Dero Schöpfer / Fürst / Grundlegung / Eigenschafften / angenehmste

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

Zentraler Inhalt der prophetischen Reden Ursula Meyers ist die Verkündigung des universalen Einbruchs des Eschatons und der baldigen Herrschaft Gottes. Aus ihr resultieren die moralischen Imperative, der ethische Rigorismus, die Aufforderung zur Abkehr von der gottlosen und unreinen Welt und zur Hinwendung zu einem gehorsamen und gottgefälligen Lebenswandel. Dieses Gefühl heilsgeschichtlicher Dringlichkeit gleicht dem roten Faden, der sich durch alle Aussprachen hindurchzieht und sie als paränetisch ausweist. Ursula Meyers eschatologische Anschauungen sind hier deshalb als erstes explizit zu behandeln.481

4.1 Das »Feuer des Zorns« und das »Meer der Liebe« oder: Das Tausendjährige Reich »Das Feuer des Zorns wird die Gottlosen verzehren; das Meer der Liebe wird meine Kinder verschlingen. Und das soll bald geschehen, in einer Kürze, spricht der Allmächtige [. . .].«482

Allen Aussprachen Ursula Meyers gemein ist die ihnen zugrunde liegende Überzeugung, in eine historisch einmalige und alles entscheidende Situation hinein gesprochen zu sein. Sie sind durchtränkt von einer akuten Endzeiterwartung und apokalyptisch geprägten Erlösungssehnsucht. Ihr gemeinsames Axiom ist die Überzeugung, sich in der ultima aetas zu befinden. Der neue Äon ist greifbar nahe. Glaube wird bei Ursula Meyer geradezu identisch mit Hoffnung und Erwartung. Der dringend herbeigesehnte »Tag[e] des Streits«483 steht schon Vorrechte und heilige Herrlichkeiten / Anfänge und Fortgang / Vorspiele und Vollendung: Vornehmere Besitzere und geringere Einwohnere insgesamt und insbesonders: Vornehmlich aber die nothwendigste Zubereitungen zur Mit=Gnoßschafft dieser herrlichen Wunder=Welt: Beschrieben von Gratiano Christophilo [pseud. = Samuel Lutz], Schaffhausen / Getruckt bey Emanuel Hurter / 1734, 312 [Hervorhebung IN]. 481 So betraf das Zentrum der Kritik einer der ersten Streitschriften gegen die Inspirierten ihre Eschatologie. Vgl. die Schrift des Marburger Theologieprofessors Bernhard Duysing, Summarische Entdeckung Derer Vornehmsten irrigen Auch Den Grund Christlicher Religion umstossenden Lehr=Puncten / Welche von denen Frantzösischen so genannten Inspirirten als Urheberen des in Teutschland erregten INSPIRATIONS-Wercks Zum offentlichen Druck sind befordert worden [. . .], Marburg 1716, Vorrede, o.S. Duysing lehnt die Berechnungen der Inspirierten ab, »dass das folgende 1717te Jahr determiniert werde / darin die von denen Inspirirten geschehene Verkündigungen erfüllet werden solten. [. . .] Jch achte es [. . .] der Mühe nicht werth zu seyn / solche zu dechiffriren.« Zur Jahreszahl vgl. Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), 50. Eine differenziertere Sicht hinsichtlich des Einbrechens der Endzeit vertritt auch Johann Jakob Reich in seinem Brief an Nicolay Bartmann, siehe Anhang [3.]. 482 HA, (Nr. 7), 24f. 483 HA, (Nr. 29), 71. Vgl. HA, (Nr. 83), 185: »O! so laß denn bald den Streit anfahen [. . .]«. (Nr. 61), 135: »Je grösser der Streit, je herrlicher der Sieg! je dicker die Finsterniß, je heller wird das Licht werden! alles, was ohne Streit erlanget wird, hat keinen Bestand.«

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an der Schwelle. Es sind nur »noch wenige Tage«,484 bis das verzehrende »Feuer des Zorns«485 entfacht wird. Es dauert »nur eine sehr kurze Zeit«,486 da die «Stunden der Versuchung»487 eintreffen. In den «Tage[n] der letzten Rache»488 wird eine große Wasserflut489 bzw. werden ganze »Zornfluthen«490 kommen, um »Himmel und Erde [. . .], das Firmament samt allen seinen Einflüssen« zu reinigen.491 Apokalyptische Unwetter in Form von Sturmwinden und Platzregen werden vorausgesagt.492 Die Pest wird wüten und eine große Völkerflut hereinbrechen.493 Der »Würgengel« hat sein Schwert schon bereit zum Dreinschlagen.494 Aber auch des Allmächtigen Schwert selbst »ist ausgezogen, dieses Europäische Babel zu vertilgen, biß daß ein Ende mit aller Gottlosigkeit werde«.495

484 HA, (Nr. 17), 44. 485 HA, (Nr. 7), 24. (Nr. 10), 33. Seine »Hitze« wird »alle vermeynte Lebenssäfte austrocknen«, HA, (Nr. 20), 50. Vgl. (Nr. 47), 115. (Nr. 71), 153. (Nr. 127), 298. (Nr. 151), 371. Vgl. auch Alarm=Geschrey (1712), 101: »Dan der Tag des Herren wird ein Tag des Feuers seyn / des Zorns [. . .]« u. 230: »ich will das verzehrende Feuer über dich laßen komen«; Samuel König, Der Weg des Friedens gebahnet In einem Send=Schreiben an die Seinigen Durch Einen der geringsten Knechten des HERRN, o. O. 1700, 34: »Die jetzige Welt aber schläffet / und lieget mit der ersten Welt in dem Argen ersoffen / und weiß nicht / daß die Sündfluth des feurigen Zorns auff sie wartet. Psal. 29/10.« Auslöser des Feuers ist der »Zorn Gottes« (Apk 15,1; vgl. Jer 15,14; 17,4; Ez 22,21; 38,19). Zum ewigen Feuer, das den Teufel und seine Engel erwartet, vgl. Mt 25,41.46. 486 HA, (Nr. 4), 16. Temporalangaben sind sehr häufig im HA. Die Kürze der Zeit wird ständig betont mit Ausdrücken wie »bald[e]« (HA, [Nr. 17], 44. [Nr. 18], 45. [Nr. 36], 95. [Nr. 60], 134. [Nr. 69], 150. [Nr. 141], 350), »sehr nahe« ([Nr. 17], 45); »Zeit des letzten Zorns, die da sehr nahe vor der Thür ist« ([Nr. 20], 49f.), »in kurzem« ([Nr. 34], 86. [Nr. 135], 329), »ganz nahe« ([Nr. 50], 118), »nicht mehr lange, so kommt die Zeit« ([Nr. 58], 129), »es eilet das Ende der Zeit« ([Nr. 145], 356), »die Zeit [ist] nahe ([Nr. 152], 373) passim. Vgl. auch Alarm=Geschrey (1712), 101: «Die Zeit ist Kurtz; sie ist kurtz; sie ist kurtz [. . .].» 487 HA, (Nr. 19), 49. (Nr. 35), 93. (Nr. 50), 118 (im Sg.). 488 HA, (Nr. 20), 50. Vgl. (Nr. 109), 259 (im Sg.). Vgl. Jes 34,8. 489 Vgl. HA, (Nr. 7), 25. (Nr. 10), 33 (im Pl.). (Nr. 12), 36. Vgl. Jes 28,2; 30,38. 490 HA, (Nr. 12), 36. 491 HA, (Nr. 3), 13. Vgl. auch (Nr. 32), 81. (Nr. 46/47), 113f. (Nr. 77), 166. (Nr. 109), 259. (Nr. 145), 357. (Nr. 151), 371. Die Reinigung kann auch durch eine große Schar grausam-grimmiger Tiere geschehen, die »würgen«, »zermalmen« und »verjagen« (HA, [Nr. 109], 258f.). 492 Vgl. HA, (Nr. 20), 50. (Nr. 89), 204. (Nr. 98), 226. (Nr. 12), 36. (Nr. 89), 204. (Nr. 103), 245. (Nr. 150), 370. (Nr. 140), 347 passim. Vgl. Ez 13,11.13; 38,22; Apk 16,18–21. 493 Vgl. HA, (Nr. 70), 151. (Nr. 10), 33. (Nr. 109), 255. 494 HA, (Nr. 17), 44f. Vgl. Ex 12,23. Da Zwingli mit »Würgengel«, Luther hingegen mit »Verderber« übersetzt, zeigt sich hier die reformierte Herkunft Ursula Meyers. Vgl. HA, (Nr. 98), 226: »Würge=Schwerdt«. Vgl. Dan 11,33. 495 HA, (Nr. 18), 46. Vgl. auch HA, (Nr. 35), 93. So schon Arndt, WChr II, 32, 5: »Wider dieselben [sc. die Gottlosen; IN] wird Gott den Blitz seines Schwertes wetzen, das ist nichts anderes, denn sein schreckliches Gericht und Urtheil [. . .].« Bei Arndt sind »Landplagen, Hunger, Krieg, Pestilenz, Veränderung der Reiche« Ausdruck der »allerweislichste[n] Ordnung Gottes«. Arndt, WChr II, 33, 6.

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

In Aufnahme apokalyptischer Bilder wird der gottfeindlichen Stadt Babylon das vernichtende Strafgericht vorausgesagt.496 Mit ihren »Huren=Brüste[n]«497 verführt sie die Welt.498 Als Inbegriff aller Gottlosigkeit ist sie das schroffe Gegenbild der Stadt Jerusalem, die im Bild der gehorsamen Braut Jesu die Heilsgemeinde verkörpert.499 Babel umfasst hier für Ursula Meyer mehr als bloß die konfessionell gebundene Staatskirche,500 Babel dient zur Bezeichnung für alles Gott widerstrebende Wesen, ja für die Welt insgesamt.501 Dem »Ausgang[s] aus Babel« entspricht die äußere Absonderung »von dem grossen Welthauffen«.502 Doch diese allein genügt nicht. Es gilt auch, sich »innen abzusondern von aller Selbst= und Creatur=Liebe«503 und sich ganz und gar Christus anzuvertrauen. Denn alle Brunnen müssen austrocknen, außer jene, die aus dem Felsen Christus quillen. Nur wer im wahren Weinstock Jesus Christus eingepfropft ist, wird Lebenssaft erhalten und die hereinbrechende Hitze und Dürre überleben.504 Ihn erwartet das göttliche Liebesmeer, der Ort größter Glückseligkeit.505 496 Zum Untergang der gottlosen Stadt Babylon, die mit einer Hure verglichen wird, vgl. Apk 14,8ff.; 16,19; 17,1ff.; 18,2ff.; 19,7; 21,2. So auch die Inspirés, vgl. Alarm=Geschrey (1712), 233 passim. 497 HA, (Nr. 58), 129. Vgl. Ez 23,8. 498 Vgl. Apk 17,1–6. 499 Vgl. Apk 21,2.9. 500 In diesem Sinne wird Babel von Separatisten und Spiritualisten im 17. Jahrhundert häufig gebraucht. Vgl. Stählin, Dichtung, 59. 501 So schon König, Weg des Friedens, 34: »[. . .] Ende dieser Babylonischen Welt sehr nahe [. . .].« 502 HA, (Nr. 75), 159. Vgl. Gruber, Absonderung, 4: Die wahre Absonderung besteht darin, sich »ferner auch von der Welt und ihrem Wesen / von ihrer Gleichstellung und sündlichen Gemeinschafft / [abzusondern].« Die Notwendigkeit, sich von der Welt bis zur »Zunichtemachung des eigenen Selbst« abzukehren, um Gott in seinem Innern Raum zu schaffen, gehörte schon zu den Kernpositionen Taulers. Volker Leppin, Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), 745–748, hier 746. 503 HA, (Nr. 75), 159. Vgl. Gruber, Absonderung, 3: Die wahre Absonderung besteht darin, dass man sich »vordrist von sich selbsten und von seiner Eigenheit / von seiner betrüglichen Selbst= und Eigen=Liebe / absondert.« 504 Vgl. HA, (Nr. 20), 51. (Nr. 26), 63. (Nr. 77), 163. (Nr. 137), 337f. Vgl. Apk 7,17; Joh 4,10.14; 7,37f. 505 Vgl. HA, (Nr. 34), 89. (Nr. 76), 162. (Nr. 88), 201. (Nr. 102), 237. (Nr. 123), 291. (Nr. 131), 315 passim. Zur Metapher »Meer« als »Kernmetapher aller Mystik« vgl. Stählin, Dichtung, 57. Der Ausdruck kommt auch bei Hochmann vor, der ihn von Arnold und Poiret übernommen hat, und bezeichnet »eine neue Form des Gotteserlebnisses [. . .]: Ruhe, Einsinken und Stillewerden in Gott als dem unendlichen Liebesmeer.« Vgl. auch HA, (Nr. 112), 266: »[. . .] ewige Ruhe und stilles Einersenken in das unergründliche, ewige, unendliche Gottheits=Meer ihrer Freude.« Auch für Ursula Meyer gilt, was Renkewitz bei Hochmann feststellte, nämlich »daß die spezifisch quietistische Erlebnisform, die auch unter Verzicht auf die Freude in der Anfechtung höchstes Glück findet, bei Hochmann zurücktritt vor der überschwenglichen Freude, die der Mensch in der Vereinigung mit Jesus und dem Eingetauchtwerden in das göttliche Liebesmeer empfindet.« Renkewitz, Hochmann, 357f. Etwas anders sieht es bei Rock aus, der hier in der

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Bilderreich wird die gegenwärtige wie auch die zukünftige Zeit beschrieben, die direkt aufeinander bezogen werden. Im Heute entscheidet sich das Morgen. Noch ist das Ende nicht da, doch handelt es sich nur noch um wenige »Gnadenstunden«506 bis zu seinem Eintreffen. Noch sind die Menschen gezwungen, »den gefährlichen Rock des Fleisches [. . .] [zu] tragen«.507 Die Erde insgesamt ist ihnen ein »Kampfplatz«.508 Finsternis herrscht über sie.509 Doch ist dieser Zustand nicht von Dauer, denn die Mächte der Finsternis sollen vertrieben werden.510 Das Reich des Lichts ist am Wachsen,511 und die Kinder des Lichts512 stehen am Übergang des Reichs des Zornes in das Reich der Liebe.513 Die Jetzt-Zeit markiert eine Grenze. Sie ist die Zeit der letzten Chance. Ursula Meyer rechnet fest damit, dass sie noch bei Leibesleben ins Purgatorium kommen wird, wobei sie dieses zugleich als Reinigungs- und als Straffeuer versteht.514 Mit typischen Drohsprüchen versucht sie, die Zuhörenden aufzurütteln: »Wer es nicht glauben will, daß das Feuer so nahe ist, der wird es mit seinem Schaden erfahren müssen [. . .].«515

Ursula Meyers Tätigkeit als prophetisches »Werkzeug« zog sich über einen Zeitraum von mehr als vier Jahre hin. Dass die Spannung, die durch die Erwartungshaltung erzeugt wurde, nicht ohne weiteres und mühelos über mehrere Jahre hinweg aufrechterhalten werden konnte, lassen Aussagen wie folgende erahnen:

Nachfolge der hugenottischen Inspirés stehend primär auf der Suche nach dem eigenen Seelenfrieden war, dem »große[n] Thema der quietistischen Mystik« (Ernst Schering, Pietismus und die Renaissance der Mystik. Pierre Poiret als Interpret und Wegbereiter der romanischen Mystik in Deutschland, in: Dietrich Meyer [Hg.], Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. FS Erich Beyreuther, Köln 1982, 39–70, hier 67 [Anm. 91]); vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 23–27, hier v. a. 24. Überhaupt fällt in Rocks Zeugnis die Sehnsucht nach dem inneren Frieden und der Ruhe auf. Vgl. auch Arndt, WChr III, 14, 4: »Niemand glaubt es, welche Stille und Ruhe diese Liebe dem Herzen bringt; denn da ruhet man in Gott selbst.« 506 HA, (Nr. 9), 30; vgl. auch (Nr. 12), 36: »in dieser noch kurzen und geringen Gnadenzeit« und (Nr. 64), 143; (Nr. 19), 48. (Nr. 57), 128. (Nr. 102), 238: »in diesen letzten Tagen«; (Nr. 89), 204: »der letzte Tag«. 507 HA, (Nr. 116), 276. Vgl. auch HA, (Nr. 120), 283. 508 HA, (Nr. 150), 368. Schon Thomas von Kempen (†1471) betonte die Notwendigkeit des Sieges des Geistes über das Fleisch. Vgl. ders., De imitatione Christi II, 8 [Nr. 2] passim. 509 Vgl. Gen 1,2; HA, (Nr. 83), 182f. So schon Alarm=Geschrey (1712), 235. 510 Vgl. HA, (Nr. 42), 106. Zu den Mächten der Welt vgl. Gal 4,3; Kol 2,8; zu den Mächten der Finsternis vgl. Lk 22,53; Kol 1,13. 511 Vgl. HA, (Nr. 29), 72. 512 Vgl. Lk 16,8; Eph 5,8. 513 Vgl. HA, (Nr. 109), 258. 514 Vgl. HA, (Nr. 31), 78. 515 HA, (Nr. 3), 14.

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

»Wie ist ihnen die Zeit so lange, biß du deine Verheissungen an ihnen erfüllest, bis daß sie aus Zeit und Ort und Stunden hinaus in das Tiefe der Ewigkeit versenket würden.«516 »Darum bitten sie Ihn, daß Er doch eilen möchte, zu vollenden die, die da vollendet werden sollen, damit ihre Zahl bald erfüllet werden, und die erwünschte Zeit einbrechen möchte [. . .].«517

Die Macht des Faktischen, nämlich das Ausbleiben des prophezeiten Endes, schien die akute Naherwartung dennoch nicht grundlegend zu beeinträchtigen. Die angekündigte Zeit wird ausdrücklich Christus selbst unterstellt, der in der Ich-Form seine Autorität über sie betont.518 Die Zeit untersteht seinem Wissen. Letztlich weiß nur er, wann das sehnlich erwartete Neue eintreffen wird. Wichtiger jedoch als der genaue Zeitpunkt des Eintreffens der so oder so als nahe bevorstehend erwarteten apokalyptischen Wende ist die Zwangslage, in die sie die Menschen bei Lebzeiten versetzt. Die gegenwärtige Zeit wird qualifiziert nicht bloß durch die Möglichkeit der Menschen zu wählen, sondern durch die unausweichliche Nötigung, wählen zu müssen. Immer wieder wird warnend und mahnend versucht, ihnen bewusst vor Augen zu führen, zwischen welchen beiden Optionen sie sich zu entscheiden haben: »wollen sie lieber ein paar Tage Ergötzung in dieser Welt haben, und ewiges Leid davor gewarten?519 oder wollen sie die vergängliche Freude nicht achten, und ihrem Heyland lernen nachfolgen?520 alle beyde Wege stehen offen, und sind den Menschenkindern frey, jetzo haben sie noch die Wahl [. . .].«521

Angesichts der bevorstehenden »Zeit der grossen Erndte«522 gilt es, die rechte Wahl zu treffen. Ihre weit reichende Bedeutung wird durch die kontrastive Gegenüberstellung der jeweiligen Konsequenzen eindringlich veranschaulicht. Mit ihrem Lebenswandel entscheiden die Menschen über ihre Zukunft, nämlich ob sie lieber »mit den Blumen des Feldes [. . .] abgeschnitten werden, und mit denselben verdorren und in den Ofen geworfen werden, oder [. . .] lieber Kinder der Liebe werden [möchten], Söhne GOttes, Nachfolger JEsu Christi, Erben des ewigen Lebens«.523 516 HA, (Nr. 127), 297. 517 HA, (Nr. 150), 368. Vgl. Röm 11,12. 518 Vgl. HA, (Nr. 132), 320: »zu meiner Zeit« und (Nr. 133), 322: »Ich weiss meine Zeit [. . .].« 519 Vgl. Apk 20,10. 520 Vgl. Mk 8,34parr. 521 HA, (Nr. 9), 29. Vgl. auch (Nr. 31), 79. (Nr. 48), 116. 522 HA, (Nr. 114), 270. Vgl. HA, (Nr. 128), 300. Zum endzeitlichen Geschehen als Ernte vgl. Mt 13,39; Apk 14,15. 523 HA, (Nr. 4), 15. Vgl. Mt 6,30par. Zum Begriff »Erbe« als Bezeichnung für den Empfänger eschatologischen Heils vgl. Ulrich B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, Ökumenischer Taschenkommentar zum NT 19, Gütersloh 1984, 353. Vgl. Röm 8,17; I Kor 15,50; I Petr 1,3–5.

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Wer sich trotz des Wissens um das baldige Ende dennoch für irdisch-vergängliche Freuden entscheidet und den Kampf gegen die eigenen Begierden524 nicht aufnimmt, wird selber vergehen, denn »wer Welt und Fleisch wählet, wird mit der Welt und allem Fleische [. . .] bald zu Grunde gehen [. . .].«525

Wenn sich die »Gnadentüre« schließt,526 stehen den Zurückgebliebenen Schmerzen, Angst und Schrecken bevor.527 Der Abgrund wird geöffnet und der Satan gebunden.528 Gottes schreckliche Gerichte werden »die Gottlosen verzehren«.529 Sie werden lange leiden,530 »im dunklen sitzen, und lange Zeit das Licht nicht sehen«.531 Dabei betont Ursula Meyer, dass das Gericht gerade nicht bei jenen beginnen wird, die »Welt und Fleisch« erwählten, sondern jenen, die sich selber zu den Kindern Gottes rechneten: »Sein Gericht wird anfangen auf dem Erdboden, am allerersten aber an seinem Hause: er wird sein Schwerdt ausziehen, und alle Schlangen=Geburten unter seinem Volk erwürgen, alle falsche und eingebildete Kraft von ihnen wegnehmen, und sie als kleine nackende und neugebohrne Kinder532 darstellen, welche alsdann erst fähig seyn werden, die lautere Milch des Evangelii533 in sich zu ziehen, und in der Liebe zu wachsen und zuzunehmen.«534

Es gilt jetzt die rechte Wahl zu treffen, und die kann angesichts der geschilderten Folgen nur lauten: »die vergängliche Lust der Welt als für Koth und Schaden achten«,535 einzig darauf bedacht zu sein, sich zu bewähren, den feindseligen Mächten zu widerstehen und sich reinigen zu lassen. Die Notwendigkeit eines »Reinigungsfeuer[s]«536 als Mittel göttlicher Pädagogik gehört vor524 Vgl. HA, (Nr. 35), 94: »streiten lernen wider die fleischlichen Lüste«. 525 HA, (Nr. 4), 15f. Vgl. HA, (Nr. 12), 37; Arndt, WChr I, 10, 1: »Und in Summa, das ganze Leben der Weltkinder zu dieser Zeit ist nichts denn Weltliebe, eigene Liebe, eigene Ehre, Eigennutz.« Auch König geißelte die »selbst= und Welt=Liebe« (Weg des Friedens, 4), die er ausführlich schilderte (ebd., 17–22). Vgl. auch Böhme, nach dem »die auf Erden zu fällende Entscheidung [. . .] unwiderruflich [ist]«. »Gnadenwahl und Jüngstes Gericht gibt es nicht.« Benrath, Lehre, 606. 526 Vgl. Apk 3,8. 527 Vgl. HA, (Nr. 27), 64f. 528 Vgl. HA, (Nr. 33), 85. Vgl. Apk 20,2. 529 HA, (Nr. 30), 76. Vgl. HA, (Nr. 55), 125. 530 Vgl. HA, (Nr. 27), 66: »auf die kurze Ergötzlichkeit [wird] ein langes Leiden erfolgen«. 531 HA, (Nr. 12), 37. Vgl. HA, (Nr. 141), 351: »[. . .] die Stunde der Finsterniß [hat] das Licht verdunkelt«. Vgl. Apk 16,10. 532 Vgl. I Petr 2,2 533 Vgl. ebd. 534 HA (Nr. 47), 115. Vgl. HA, (Nr. 81), 175: »Diejenigen, die da Mir nahe sind, werde Ich am ersten antasten [. . .].« 535 HA, (Nr. 11), 35. Vgl. auch XLII. Sammlung (1789), 169 und König, Weg des Friedens, 7: »wann du [. . .] mit Paulo nach dem Gesetz unsträfflich wärest / so wäre diß vor GOTT nichts als Koth und Schaden«. Vgl. I Joh 2,17; Jes 4,4; Mt 23,27; I Petr 3,21. 536 HA, (Nr. 31), 78. (Nr. 47), 114f. Vgl. Dan 11,33–35; II Petr 3,7.

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

nehmlich ins Repertoire mystisch-spiritualistischen Gedankenguts. Schon Karlstadt und Böhme, den die Inspirierten sehr schätzten,537 hatten sie gelehrt. Im 18. Jahrhundert war sie im radikalpietistischen Umfeld allgemein verbreitet und wurde u. a. von Poiret, Petersen, Hochmann und Dippel rezipiert. Die Annahme eines zukünftigen reinigenden Feuers ist in Zusammenhang mit dem Drängen der mystischen Spiritualisten auf die individuelle Heiligung zu sehen.538 Die Feuerreinigung wurde schon von den Inspirés gelehrt539 und an die deutschen Inspirierten weiter vermittelt.540 Sie gehört auch zu den in Ursula Meyers Aussprachen vertretenen Grundüberzeugungen. In der Ich-Form spricht Christus durch sie: »Meine Kinder müssen alle mit Feuer und Geist getauffet werden:541 durch das Feuer gereiniget, und durch den Geist in mich wieder eingeführet, sonsten bleiben sie in ihrer alten Geburt [. . .].«542

Es geht darum, den eigenen »Hunger und Durst« wieder in den »ersten Ursprung« einzuführen,543 »allwo wir ewige Freude, reine Wollust und ewiges Leben geniessen werden«.544 Dieser Ursprung ging aufgrund der eigenen »Hinläßigkeit« verloren.545 So müssen wieder die »ersten Wege« gesucht werden.546 Sie führen ins ersehnte Reich der Liebe. Das Wasser wird sich dann verziehen, die Erde wird trocken und gereinigt, und alles wird neu gemacht sein.547 Es herrscht lauter Freude. Die Schmerzen sind vergangen.548 Im Reich der Liebe wird ein Augenblick mehr Vergnügen bereiten als »uns die ganze Creatur mit allen ihren vermeynten Gütern hätte mittheilen können [. . .]«.549 537 Vgl. etwa Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 138, 139 u. 142. 538 Vgl Zaepernick, Briefwechsel, 99: Die Vorstellung eines Reinigungsfeuers »tritt immer notwendig bei denen auf, die, wie die mystischen Spiritualisten, das sola fide ablehnen und anstelle der Rechtfertigung durch Christus das eigene Heiligungsstreben setzen.« Tiefe Prägung erfuhren die Spiritualisten durch die Imitatio Christi des Thomas von Kempen, vgl. Benrath, Lehre, 567. 539 Vgl. z. B. Alarm=Geschrey (1712), 232: »Heiliger der Heiligen sende das Feuer das die Ungerechtigkeit reinige [. . .].« 540 Vgl. Carl, Historische Umstände (1715), 42. 541 Vgl. Lk 3,16. 542 HA, (Nr. 49), 117. 543 Vgl. HA, (Nr. 19), 48. (Nr. 37), 96. (Nr. 78), 168. (Nr. 97), 223. Vgl. auch HA, (Nr. 99), 229: »ihr seyd der Quelle des Lebens ganz nahe, warum lernet ihr nicht euren Durst in euch selbsten zu derselbigen einführen?« 544 HA, (Nr. 4), 15. 545 Vgl. HA, (Nr. 19), 48. Vgl. auch HA, (Nr. 40), 102: »die Lichtes= und Liebesflamme wird [. . .] sich unter allen rechtschaffenen Seelen vereinigen, und als eins wiederum in ihren Ursprung eindringen.« 546 Vgl. HA, (Nr. 19), 49. 547 Vgl. HA, (Nr. 38), 98. 548 Vgl. HA, (Nr. 83), 182. Vgl. Apk 7,16f.; 21,4. 549 HA, (Nr. 123), 289. Vgl. Arndt, WChr II, 27, 6: »Diese Liebe [. . .] erfreuet mehr denn die ganze Welt [. . .].«

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Im Liebesreich wird auch kein Tod mehr sein.550 Ursula Meyer hegt eine innergeschichtliche Reichgotteshoffnung. Folgende Zukunft weissagt sie der gereinigten Erde:551 »Denn dieses Erdreich soll noch sehr schön werden, es soll noch Früchte hervor bringen vor die Außerwehlten, und dieselben Früchte sollen keinen Fluch mehr in sich haben: denn gleich wie die, die die Erde besitzen werden,552 Kinder des Seegens sind, so wird auch die Erde gesegnet werden, und wird aller Fluch von ihnen genommen werden. Es werden nicht mehr wider einander streiten Hitz und Kälte, Licht und Finsterniß: denn das sanfte Liebeslicht wird allein das Regiment haben [. . .].«553

Die Erde wird »voll von Erkänntniß des Allmächtigen werden, wie wann es mit einem Meer überschwemmet wäre.«554 Ursula Meyer malt ihre Zukunftshoffnung nicht konkret aus. Es reicht zu betonen, dass der Fluch aufgehoben sein wird. Im Liebesreich erhalten die, die sich im Kampf mit dem Drachen bzw. der Sünde bewährten,555 Anteil an Christi Herrlichkeit.556 Ihm gegenüber steht das »Reich des Zorns und der Finsterniß«557 – der Bereich jener, die ihr Heil für lange Zeit verwirkten. Geradezu mit de novissimis überschreiben ließe sich die Ronneburger Aussprache vom 14. Juli 1715, die Kernaussagen zum Ablauf der Geschichte und der Welt enthält. Hier entfaltet Ursula Meyer ein deutlich auf die Johannesapokalypse abgestütztes Gesamtgemälde ihrer futurischen Eschatologie: Diejenigen Menschen, die sich »bey Leibes=Leben reinigen [lassen], [. . .] werden [. . .] Theil haben an der ersten Auferstehung, und den Tod nicht sehen;558 versäumen sie aber diese Gnadenzeit, so werden sie zwar in den Ewigkeiten durch das Verdienst Christi auch wieder gebracht werden,559 aber es wird sie gar hart ankommen, wann sie nicht nur die Tausend Jahre,560 in denen Christus mit seinen Gliedern auf Erden regieren wird,561 in denen Gefäng550 Vgl. HA (Nr. 6), 22. Vgl. Apk 21,4. 551 Vgl. HA, (Nr. 98), 227. Zur Zukunftshoffnung vgl. Apk 21,1–22,5. 552 Vgl. Mt 5,5. 553 HA, (Nr. 10), 33. Zum Kampf zwischen Licht und Finsternis vgl. HA, (Nr. 29), 71f. (Nr. 33), 84. 554 HA, (Nr. 98), 227. 555 Vgl. HA, (Nr. 102), 238. (Nr. 129), 306 [von Christus als Vorbild]. (Nr. 131), 314f. Zum Drachen vgl. Apk 12,3ff. 556 Vgl. HA, (Nr. 17), 44. 557 HA, (Nr. 111), 262. Vgl. auch (Nr. 121), 286. 558 Vgl. Apk 20,5. Die erste Auferstehung wird in der Apk von der allgemeinen (vgl. Apk 20,11–15; Dan 12,2; äth Hen 51,1f.; IV Esr 7,32ff.) abgehoben. Vgl. Müller, Offenbarung, 339. 559 Zur Apokatastasislehre siehe 4.2.1. 560 Vgl. Apk 20,1–7; Ps 90,4; II Petr 3,8. 561 Die Gläubigen werden mit Christus regieren «und in Ihme und durch Ihm einen solchen hellen wesentlichen Schein und Glanz von sich geben, wordurch viele, viele, viele, nicht nur dem sinnlichen Theile nach erleuchtet, sondern das wahre, wesentliche Licht in sich bekommen können.» HA, (Nr. 71), 152. Zur Herrschaftsbestimmung der Gläubigen vgl. Apk 1,5f.

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nissen und in dem Schatten des Todes sitzen562 müssen, sondern auch nach den tausend Jahren vor dem strengen Gericht563 erscheinen müssen, da sie denn ein jegliches empfangen werden, was sie verdienet haben,564 und so lange ihre Sünden werden büssen müssen, bis daß sich Christus, der Wiederbringer565 alles dessen, das durch den Fall Adams566 verlohren ist worden, über sie erbarmen, und ein jegliches in seiner Ordnung wiederum aus der Strafe und aus dem Fluch erlösen wird.567 Wem derowegen seine Seele lieb ist, und nicht vor eine kurze Freude ein langes Leyden erwehlen will, der erwehle lieber mit seinem Heyland hier eine kurze Zeit zu leyden,568 damit er in die Ewigkeit der Ewigkeiten mit Ihm in einen solchen Stand gebracht werde, darvon keine sterbliche Zunge etwas auszusprechen vermag, was GOtt bereitet hat denen, die ihn lieb haben569 [. . .].«570

Der heilsökonomische Ablauf, den Ursula Meyer in ihrer Aussprache schildert, enthält die Vorstellung einer noch bevorstehenden chiliastischen Zeitspanne. Vor dem Jüngsten Gericht und dem Ende der Welt wird Christus auf die Erde zurückkehren, um mit seinen Auserwählten tausend Jahre lang gemeinsam zu regieren.571 Das messianische Zwischenreich ist demnach lediglich eine Vorstufe des endgültigen Reiches Gottes. Ihre biblische Verankerung findet diese Anschauung in Apk 20, 1–7.572 Sie kommt im Neuen Testament sonst nicht vor.573 Die Vorstellung eines tausendjährigen irdischen Friedensreichs erschwerte der Johannesapokalypse einst die Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon. Paulus zufolge erwartet die Gläubigen nach der Parusie Christi gleich die ewige Gottesherrschaft.574 In der jüdischen Apokalyptik hingegen ist diese Vorstellung bekannt. Dieses millennaristische Konzept ist das Resultat der Verbindung zweier verschiedener endzeitlicher Erwartungen, nämlich einer älteren nationalen und einer 562 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79. 563 Vgl. HA, (Nr. 55), 125. Gott hält das Gericht, nicht Christus, vgl. Röm 14, 10; II Kor 5,10 u. a. 564 Vgl. I Kor 3,8. 565 Vgl. unten 4.2.1. 566 Zur Antitypik von Adam und Christus vgl. Röm 5,12ff.; I Kor 15,22.29. 567 Zur nahen Erlösung vgl. HA, (Nr. 86), 194. (Nr. 145), 357. Vgl. auch HA, (Nr. 102), 239: «Laß doch bald dein Erlösungs=Jahr herein brechen [. . .]». Vgl. Arndt, WChr II, 33, 9: «Sonderlich aber siehet die liebhabende Seele Gottes Weisheit in der Wiederbringung und Erlösung des menschlichen Geschlechts, und in der Erneuerung der menschlichen Seele und ihrer Kräfte. Denn so hat es der Weisheit Gottes gefallen, daß das verderbte Bild Gottes im Menschen durch das göttliche wesentliche Ebenbild Gottes, das ist, durch Christum, erneuert würde.» 568 Vgl. Sir 51,35. 569 Vgl. I Kor 2,9. 570 HA, (Nr. 24), 59f. 571 Müller (Offenbarung, 338) betont das temporale Verständnis der tausend Jahre des großen Weltensabbats in Apk 20. 572 Vgl. David E. Aune, Art. Chiliasmus, II. Neues Testament, in: RGG4 2 (1999), 136f. 573 Vgl. Müller, Offenbarung, 341. 574 Vgl. I Thess 4,13–18.

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jüngeren universalen Hoffnung. Erstere erwartete die erneute Aufrichtung des Reiches Davids und der Herrlichkeit Israels am Ende der Tage durch den Messias. Letztere erwartete die Ankunft des Menschensohns, die allgemeine Totenauferstehung und das jüngste Gericht. Durch die Verknüpfung dieser beiden unterschiedlichen Erwartungen wurde das messianische Reich als heilsökonomische Etappe zeitlich befristet und zwischen die Parusie und die endgültige Heilszeit gesetzt. Genau so erscheint sie in Apk 20. Die Zahl tausend leitet sich sehr wahrscheinlich von der Kombination von Gen 2,2, wonach Gott die Schöpfung in sechs Tagen vollendete, und Ps 90,4 her, wonach ein Tag Gottes tausend Jahren entspricht.575 Der Weltenwoche von sechs Tagen folgt der Weltsabbat. Chiliastische Endzeithoffnungen begegnen im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder, konnten sich aber letztlich nie wirklich durchsetzen. Tradiert wurden sie vornehmlich von westlichen Kirchenvätern. Tertullian z. B. war schon Chiliast, bevor er sich von der Kirche trennte und zum Montanismus übertrat.576 Augustins Geschichtstheologie setzte das Tausendjährige Reich mit der Zeit der Kirche gleich, die im Kampf mit dunklen Mächten steht, womit Apk 20 eine »gewaltsam enteschatologisierende Deutung«577 widerfuhr. Der Chiliasmus schien in der Folge lange fast überwunden zu sein. Erst Joachim von Fiore (1130–1202) entwickelte in seiner trinitarischen Geschichtsinterpretation mit der Hoffnung auf ein drittes Zeitalter des Geistes eine – nicht millenaristische – Alternative zur bisherigen Eschatologie und gewann Einfluss auf Hussiten und vor allem auf die reformatorischen Täuferbewegungen.578 Die Rede von der »neuen Oeconomie des Geistes«579 in den Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnissen, die mit den Inspirés einsetzt, ist letztlich auf ihn zurückzuführen. Das philadelphische Grundwort »oeconomia« bezeichnet im radikalen Pietismus einzelne heilsgeschichtliche Phasen. In Ursula Meyers Aussprachen begegnet dieses dem theologischen Wortschatz entnommene Einzelmotiv jedoch nicht. In klarem Gegensatz zu augustinischer Geschichtsdeutung ist das Tausendjährige Reich bei den Inspirierten und Ursula Meyer keine gegenwärtige, sondern zukünftige Größe.580 Wie Apk 20 vertritt Ursula Meyer ein prämil575 Vgl. Hans Bietenhard, Das tausendjährige Reich, Zürich 21955, 44–51. 576 Vgl. Berthold Altaner/Alfred Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg/Basel/Wien 81978, 163; Ulrich Körtner, Art. Chiliasmus, V. Systematisch, 2. Ethisch, in: RGG4 2 (1999), 142f. 577 Jürgen Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürcher Bibelkommentare NT 18, Zürich 2 1987, 189. 578 Vgl. Johannes Wallmann, Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontroverse um Philipp Jakob Speners »Hoffnung besserer Zeiten«, in: ZThK 78 (1981), 235–266, hier 259f.; Wilhelm Baum, Art. Joachim von Fiore, in: RGG4 4 (2001), 509f. 579 Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 14, 15f., 75 passim. 580 Carl, Historische Umstände, 49 rechnet mit dem Tausendjährigen Reich in 34 Jahren. Ursula Meyer gibt in ihren Aussprachen keine Jahreszahl an.

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lenaristisches Kommen des Messias, das heißt, Christi Parusie initiiert das tausendjährige Zwischenreich.581 Ihm folgt das Ende der Welt, die allgemeine Auferstehung der Toten und schließlich das Weltgericht.582 Dem messianischen Zwischenreich geht eine »erste Auferstehung«583 voraus, in deren Genuss jedoch nur die Gläubigen und Getreuen Gottes kommen, die zur gemeinsamen Regentschaft mit Christus im Tausendjährigen Reich bestimmt sind,584 mögen sie auch schon gestorben sein: »So wird bald ein lebendiger Wind aus dem Heiligthum daher fahren, und alle Todten beleben.585 Selig sind, die mit Christo gestorben sind!586 sie werden durch diesen lieblich daher fahrenden Wind ein wahres Leben in sich bekommen. Ich werde die Gebeine der Todten gar bald mit Fleisch und Adern überziehn; Ich werde sie zusammen fügen, und meinen Lebensgeist in sie blasen.587 [. . .] Es darf sich kein lebendiges Glied rühmen vor denen, die noch erstorben scheinen: denn es wird alles, was da wesentlich erstorben, wieder belebet werden.«588

Diejenigen, die aus Babel ausziehen589 und die Christus als »Erstlinge[n] meiner Liebe«590 bezeichnet, werden als Erlöste und Befreite das Erdreich besitzen. Zum Jüngsten Gericht am Weltende jedoch werden auch die auferweckt, die nicht an der ersten Auferstehung teilnehmen durften.591 Entscheidend ist, dass Ursula Meyer keine in die Lehre vom doppelten Ausgang des Jüngsten Gerichts mündende Eschatologie vertritt, sondern ihr schroffer Dualismus am Schluss nicht bloß aufgeweicht, sondern vollständig aufgehoben wird. Ursula Meyer vertritt als endgültigen Ausblick eine universalistische Hoffnung, nämlich die Apokatastasis panton (Act 3,21), die letztliche Erlösung auch aller Verdammten. Hier unterscheidet sie sich klar von ihrer Vorlage, der Johannesapokalypse. Hier löst sie sich von ihrer eigenen dualistischen Grundstruktur und überwindet sie an entscheidender Stelle. Anders als noch Zwingli und erst recht anders als Luther und die lutherische Orthodoxie erwartet Ursula Meyer also nicht den Jüngsten Tag, sondern den Anbruch des »aureum saeculum«, des Tausendjährigen Reiches.592 Gerade die 581 Vgl. Ulrich Körtner, Art. Chiliasmus, V. Systematisch, 1. Dogmatisch, in: RGG4 2 (1999), 141f. IV Esr 7 zufolge dauert die Herrschaft des Messias 400 Jahre. 582 Vgl. auch syr Bar 30.40.50f. 583 Vgl. Apk 20,6. 584 Historie I, 238 bezeichnet die Inspirierten als »Kinder der Ersten Auferstehung.« 585 Vgl. Ez 37,5. 586 Vgl. Apk 14,13. 587 Vgl. Ez 37,3ff.8.10. 588 HA, (Nr. 44), 108f. 589 Vgl. König, Weg des Friedens, 36. 590 HA, (Nr. 30), 76. Vgl. I Kor 16,15; Jak 1,18; Apk 14,4. 591 Vgl. Apk 20,12. 592 Vgl. Johannes Wallmann, Zwischen Reformation und Pietismus. Reich Gottes und Chiliasmus in der lutherischen Orthodoxie, in: Eberhard Jüngel/Johannes Wallmann/Wilfrid Werbeck (Hg.), Verifikationen. FS Gerhard Ebeling, Tübingen 1982, 187–205.

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Reformatoren593 und die protestantischen Bekenntnisschriften (Confessio Augustana 17; Confessio Helvetica Posterior VII und XI) hatten den Chiliasmus ausdrücklich anathematisiert. Weiter tradiert wurde er vor allem vom linken Flügel der Reformation und erlangte seinen Höhepunkt 1535 im Täuferreich zu Münster. Die neu aufbrechende, chiliastische Endzeitstimmung, die Erwartung des Tausendjährigen Reiches als heilsgeschichtliche Zwischenphase, einte radikale Pietisten seit dem Ende des 17. Jahrhunderts von Petersen594 über Hochmann595 bis Dippel.596 Sie wurde auch noch von Johann Albrecht Bengel rezipiert, was die erstaunliche Nachhaltigkeit apokalyptischer Erwartungen beweist.597 Wie lässt sich der eschatologische Paradigmenwechsel erklären? 1. Zuallererst sei daran erinnert, dass das Christentum selbst als innerjüdische Reformbewegung entstand, die zutiefst von einer apokalyptisch-messianischen Naherwartung geprägt war.598 Das Christentum selbst verfügt über eine eschatologische Grundstruktur.599 Biblische Texte wie die synoptische Apokalypse (Mk 13parr.) oder die Johannesoffenbarung regten über die Jahrhunderte hinweg zum Nachdenken an und blieben stets eine Herausforderung. Ihre Leerstellen luden die Leser und Hörerinnen geradezu ein, sich selbst und die eigene Situation und Zeit in ihnen gespiegelt zu sehen. Als Reformbewegung hat das Christentum durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder selbst neue Umbruchs- und Aufbruchsbewegungen aus sich heraus generiert. Die Zahl dieser jeweils neu aufbrechenden, christlich motivierten Bewegungen steht in keinem religionsgeschichtlichen Vergleich.600 Das Christentum bildet einen ausgesprochen fruchtbaren Nährboden für Erneuerungsbewegungen. Die Begegnung mit der Bibel setzt immer wieder ein bestimmtes eschatologisches Gedankengut frei, das revitalisierend wirkt. Dennoch lassen sich Erneuerungsbewegungen zweifellos nicht mono593 Vgl. etwa Calvin, Inst. III, 25,5 [De resurrectione ultima]. 594 Vgl. Matthias, Petersen, 77f., 184 u. 227. Petersen wurde – anders als Spener – »zum Chiliasten durch Schriftexegese« (78). 595 Zu Hochmanns anfänglichem – wohl von Petersen übernommenen und von König wiederbelebtem – Chiliasmus und seiner weiteren eschatologischen Entwicklung vgl. Renkewitz, Hochmann, 355f. 596 Vgl. Stephan Goldschmidt, Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung (AGP 39), Göttingen 2001, 250–252. 597 Vgl. dazu Schneider, unerfüllte Zukunft. 598 Vgl. Gerhard Theissen, Jesus – Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, in: EvTh 6 (1999), 402–415. 599 Vgl. Schneider, unerfüllte Zukunft, 202. 600 Vgl. K. Burridge, Art. Messias/Messianische Bewegungen, IV. Neuzeit, in: TRE 22 (1992), 635–638. Burridge rechnet damit, dass »möglicherweise bis zu 90 %« der messianischen bzw. millenaristischen Bewegungen »einem christlichen Umfeld« entstammen (635).

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kausal aus der Wirkung des Christentums erklären. Weitere Faktoren sind für ihre Entstehung ausschlaggebend. 2. Gerd Theissen weist darauf hin, dass »chronometrische Geschichtsspekulationen über die Abfolge von Reichen und Königen, über Geschichtsepochen und -phasen [. . .] wie alle über viele Generationen hinausweisende Geschichtsentwürfe nur in Schriftkulturen möglich [sind]. [. . .] Erst schriftlich fixierte Erinnerung ermöglicht eine Strukturierung dieser Vergangenheit in Epochen – und damit das Bewusstsein, dass wir uns immer weiter von der Vergangenheit entfernen. Die Erinnerung wird chronometrisch bearbeitet und strukturiert. Gegenüber der Zukunft aber befinden sich schriftlose wie schriftliche Kulturen in der gleichen Lage. Das Dunkel der Zukunft wandert in gleichbleibender Distanz vor den Menschen durch die Zeit. Wie nahe liegt da der Gedanke, auch die Zukunft chronometrisch zu bearbeiten – so wie man es mit der Vergangenheit getan hat!«601 Die Interpretation der eigenen charismatischen Umbruchbewegung als Auftakt bzw. Vorspiel eines Tausendjährigen Reiches konnte nur in einer schriftgelehrten Kultur entstehen. Dabei geht es nicht darum, das Alter der Welt festzuhalten, sondern im Zentrum steht die dringende Erwartung, dass eine neue Welt im Anbrechen ist. Die Sehnsucht nach dem Neubeginn ist das antreibende Movens. Das Ende aller Not und allen Leidens wird beschworen. 3. Die Sehnsucht nach einem Neubeginn ist naturgemäß dann groß, wenn die bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umstände beschwerlich sind und das Leben schließlich unerträglich wird.602 Das Aufkommen chiliastischer Vorstellungen entspricht dem leidvollen Erleben der Gegenwart.603 Die das ganze 17. Jahrhundert durchziehende Renaissance endzeitlicher Erwartungen hat sozialpsychologisch mit den politischen, ökonomischen und sozialen Krisenerfahrungen dieses Jahrhunderts der Angst zu tun.604 So erstaunt es nicht, dass sich unter den radikalen Pietisten vor allem jene befanden, die in besonderem Maße von diesen krisenhaften Erfahrungen betroffen waren, nämlich Handwerksgesellen, denen die Verbreitung des Manufakturwesens zu schaffen machte, aber auch verarm601 Theissen, Jesus – Prophet, 411f. 602 Vgl. Lehmann, Bedeutung von Religion, 17: »Erscheinungen wie Chiliasmus und Separatismus [. . .] sind nur zu verstehen, wenn man keine künstliche Trennmauer aufrichtet zwischen sozialer Erfahrung, religiöser Erfahrung und religiöser Hoffnung.« 603 So »fand der Chiliasmus dort besonderen Nährboden, wo man die jeweilige Gegenwart als äußerst leidvoll und trostlos empfand [. . .]«, Müller, Offenbarung, 343. 604 Zu den Interdependenzen u. a. zwischen politischen und ökonomischen Krisenerfahrungen, absolutistischer Religionspolitik und Frömmigkeitsbewegungen im 17. Jahrhundert vgl. das Werk von Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot (CG 9), Stuttgart u. a. 1980; ders., Europäisches Christentum, 9–15.

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te Adlige, die ihrer ursprünglichen gesellschaftlichen Rolle verlustig gingen.605 Das Ausmaß Angst erregender Ereignisse und Verzichtserfahrungen verschiedenster Art war gerade im 17. Jahrhundert immens. Der Dreißigjährige Krieg hatte die Bevölkerungszahl drastisch reduziert und entsetzliche Spuren hinterlassen. Das Herannahen der Türken im Osten und der Große Türkenkrieg (1683–1699), der Pfälzische Krieg (1688–1697), der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1713/4) und der Nordische Krieg (1700–1721) schürten panische Ängste. Die Reunionspolitik von Louis XIV, sein außen- und innenpolitisches Gebaren, besonders sein brutales Vorgehen gegen die Hugenotten lösten tief greifende Krisen aus und evozierten ernsthaft die Frage, ob »nicht die Erfolge des römischen Babels den biblischen Prophezeiungen über die wachsende Macht des Antichrist [entsprachen], dessen Herrschaft nun in ihre letzte Phase trat, bevor das unterdrückte Zion erlöst würde?«606 Noch mehr als Kriege bedrohten die Menschen in der damaligen Zeit jedoch Hungersnöte, Seuchen und die Allgegenwart von Krankheit und Tod. Biblische Texte wie etwa die Rede über die Endzeit (Mt 24) und überhaupt alle Schilderungen endzeitlicher Bedrängnisse (Dan 11,33f.; Apk 2,10) ließen sich mit gegenwärtigen Veränderungen identifizieren und damit problemlos als bedrohliche Zeitzeichen und Hinweise auf die Vollendung des Reiches Gottes verstehen. Eigene Schrecken wurden so zu endzeitlichen Prodigien.607 Weiter wurden ungewohnte Naturerscheinungen wie etwa Kometen oder Sonnen- und Mondfinsternisse als apokalyptische »Zeichen am Himmel« (vgl. Mt 24,29par.; Apk 12,1.3; 15,1) gedeutet.608 Die Welt war ein »ungeheurer semantischer Komplex« und ihre Phänomene wurden zu »einer permanenten Interpretation der Geschichte«.609 4. Ein wesentlicher Katalysator für die neuartige Beschäftigung mit dem Eschaton, die Abkehr von der Naherwartung des Jüngsten Tages und das veränderte heilsgeschichtliche Verständnis der gegenwärtigen und zukünftigen Zeit insgesamt war die von Philipp Jakob Spener in seinen Pia Desideria (1675) formulierte »Hoffnung besserer Zeiten«.610 Dieses »kirchen- und theologiege605 Vgl. Schneider, unerfüllte Zukunft, 207. 606 Ebd., 204. 607 So schon bei Arndt, WChr I, Vorrede, 3. Samuel König (Weg des Friedens, 34) klagt: »[. . .] da man auff die Zeichen der Zeiten / und auff Gottes Zeugniß von unseren Zeiten keine Achtung giebet [. . .].« Vgl. Mt 16,3. 608 Vgl. Schneider, unerfüllte Zukunft, 206. 609 Bernd Roeck, Der Dreißigjährige Krieg, in: Krieg und Frieden, hg. v. Bernhard R. Kroener u. a., Paderborn/Zürich 1996, 265–279, hier 276f. 610 Vgl. Martin Greschat, Die »Hoffnung besserer Zeiten« für die Kirche, in: ders. (Hg.), Zur neueren Pietismusforschung (WdF, Bd. CDXL), Darmstadt 1977, 224–239, hier 238; Friedhelm Groth, Die »Wiederbringung aller Dinge« im württembergischen Pietismus. Theologiegeschicht-

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schichtliche[s] Novum«611 trieb eine schon vor Spener einsetzende Emanzipation gegenüber orthodoxer Eschatologie mächtig voran. Sowohl der Labadismus als auch aus England stammende chiliastische Erwartungen beeinflussten Speners neue Eschatologie.612 In ihren Gemeindehistoriographien beriefen sich die Inspirierten ausdrücklich auf Spener und seine Pia Desideria.613 Im Gegensatz zu Spener jedoch führte die neue »optimistische« Eschatologie die Inspirierten wie viele radikale Pietisten nicht zu einer verstärkten Hinwendung zu innerweltlichem Engagement, sondern zur Abkehr von der »Welt« und ihren Institutionen. Radikale Pietisten hegten mehrheitlich die klare Überzeugung, dass die Beschäftigung mit der gegenwärtigen Welt und Zeit sich nicht lohne. Diese gehörten für sie schon zur bald überwundenen Vergangenheit. Aus diesem Grund wurden kirchliche Amtshandlungen und der Besuch von Gottesdiensten meistens abgelehnt. Babel verlassen (II Kor 6,14–18) hieß für radikalpietistische Kreise oft, alle Konfessionskirchen hinter sich zu lassen. Reformversuche jeglicher Art erschienen nicht bloß unnütz, sondern lenkten ab von dem einzig Gebotenen, nämlich die volle Konzentration auf die Zurüstung auf den nahe bevorstehenden Zeitumbruch. Das Heute bezeichnete die Demarkationslinie, die zwischen den wahren Gotteskindern und den noch der Welt zugehörigen Menschen bestimmte. Es war »jetzo nicht mehr Zeit zurück zu sehen.«614 In Ursula Meyers Aussprachen wird diese Erwartung zum Zentrum ihrer Anschauungen. Das Ehepaar Johanna Eleonora Petersen, geborene von und zu Merlau (1644–1724), und Johann Wilhelm Petersen (1649–1726) waren die vehementesten Vertreter des Chiliasmus und versuchten ihn durch zahlreiche Werke zu verbreiten.615 Sie nahmen die Visionärin Rosamunde Juliane liche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts (AGP 21), Göttingen 1984, 39: »Speners lebenslanges Eintreten für die Hoffnung besserer Zeiten hat maßgeblich mit dazu beigetragen, daß sowohl chiliastische Vorstellungen wie andererseits z. T. auch die [. . .] Lehre von der Apokatastasis in kirchlich-pietistischen Kreisen und darüber hinaus gefördert und verstärkt wirksam geworden sind.« 611 Wallmann, Pietismus und Chiliasmus, 248. 612 Vgl. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (BHTh 42), Tübingen 19862, 348f. Zum Begriff »neue Eschatologie« vgl. Wallmann, Pietismus und Chiliasmus, 247f., der lieber von einer »Hinwendung zu längst bekanntem und im Frankfurter Pietismus bereits vor Spener verbreitetem chiliastischen Gedankengut« [247] sprechen möchte. Hans Schneider sieht den »eschatologischen Optimismus« eher »in der Kommunikation der Erweckten« gegründet, die äußerst erfolgreich war, denn »in zeitgeschichtlichen Ereignissen«. Ders., unerfüllte Zukunft, 208. 613 Vgl. Historie I, 240 und Historie II, 234. Spener lässt Apk 20 in seinen »Pia Desideria« jedoch unerwähnt. 614 HA, (Nr. 17), 44. 615 Vgl. etwa den Apokalypsekommentar von Johanna Eleonora Petersen: Anleitung zum gründlichen Verständnis der Heiligen Offenbarung Christi [. . .], Frankfurt/Leipzig 1696. Zur Eschatologie der Petersens vgl. Walter Nordmann, Die Eschatologie des Ehepaares Petersen, ihre Entwicklung und Auflösung, in: ZVKGS 26 (1930), 83–108; 27 (1931), 1–19.

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von der Asseburg, deren Offenbarungen stark chiliastisch und von einer erotisch gefärbten Brautmystik geprägt waren, in ihr Haus auf.616 Als Johann Wilhelm Petersen den – auch auf Apk 20 gestützten – Chiliasmus von der Kanzel herunter verteidigte, führte dies zu seiner Entlassung. Die eschatologischen Vorstellungen des Paares entwickelten sich in Auseinandersetzung mit der Böhme-Schülerin Jane Leade ab Mitte der 1690er Jahre617 zur Lehre von der Apokatastasis panton weiter.618 Als Ursula Meyer sich den Inspirierten anschloss, wird ihr dieses Gedankengut kaum neu gewesen sein. Die Vehemenz, mit welcher der Pietismus in Bern zum Vorschein kam und dort bekämpft worden war, überhaupt die Dynamik der frühen Geschichte des Pietismus in Bern, lässt sich ohne Verständnis der herausragenden Bedeutung des Chiliasmus nicht verstehen. Samuel König war damals der maßgebliche Verantwortliche für die Verbreitung chiliastischer Hoffnungen in Bern.619 Solche lassen sich in den Quellen jedoch schon vor ihm nachweisen, nämlich im Juni 1693 bei drei Mägden, die die unmittelbare Nähe des Tausendjährigen Reiches öffentlich verkündeten.620 Der Chiliasmus wurde von den hervorragenden Persönlichkeiten des Pietismus in Bern bis 1696 kaum vertreten,621 obschon er in der vom Berner Rat in Auftrag gegebenen antipietistischen Thesenreihe der beiden Theologieprofessoren David Wyss und Johann Rudolf Rudolf von 1696 als These XVIII ausdrücklich erwähnt worden war: »Ungewiße, oder aufs wenigst ungegründte, propheceÿ ungen von künftigen revolutionen und änderungen in der kirche und ständen, als da ist, die nach etlicher meÿ nung annoch nit erfüllte weißagung von dem 1000jährigen reich Christi auf erden [. . .] sollten nicht auf die canzel gebracht, und wo solche under dem volk glauben gefunden, von den predigern mit fürsichtigkeit nach der sachen beschaffenheit wider – oder aus – gelegt werden: sintemahl622 die erfahrung bezeüget, daß daraus nichts anders als falscher wahn, vermeßene einbildung, und gefahrl[iche] unordnungen erfolgen.«623

616 Zu Juliane von der Asseburg und ihrem Verhältnis zu den Petersens vgl. Matthias, Petersen, 254–301. 617 Vgl. Groth, Wiederbringung, 43. 618 Vgl. Johann Wilhelm Petersen, ⌴⌼⌺⌻⌯⌹⌱⌷⌵ 〈⌸⌷⌲〈⌻〈⌺⌻〈⌺⌭⍀⌺ ⌸〈⌵⌻⍀⌵, Das ist: Das Geheimnis Der Wiederbringung aller Dinge [. . .], Bd. I–III, Pamphylia [ = Offenbach], 1700–1710. 619 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 109f. 620 Siehe oben S. 70. 621 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 77. 622 D. i. da, weil. 623 Theses, oder Nohtwendige Lehrsäze und Erinnerungen teihls aus der Helvetischen Glaubens Bekantniß, teihls aus der Handlung des Berner Synodi, per consequentiam gezogen, und zu derer mehrer Erläüterung in gegenwertige zeit eingerichtet [BBB, Mss.h.h. XII 60]. Vgl. StAB, AII 563 (23.5.1696), 114f.

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Samuel König ließ sich von chiliastischen Schriften des englischen Puritanismus624 beeinflussen.625 Seine Föderaltheologie hatte dem Chiliasmus schon einen Boden bereitet.626 König rechnete noch zu Lebzeiten mit dem Anbruch des Tausendjährigen Reiches und verkündete diesen auf der Kanzel.627 Im Anschluss an Apk 20 erwartete er eine erste Auferstehung, die tausendjährige Herrschaft Christi mit seinen Auserwählten, dann die zweite Auferstehung, das Endgericht und die ewige Vernichtung aller Gottlosen sowie die ewige Teilhabe der Gerechten an den himmlischen Freuden.628 Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Pietismus in Bern war Königs Chiliasmus maßgeblich verantwortlich für die Eskalation.629 Die Relation der Berner Religionskommission von 1699 gab einen Ausschnitt aus Königs erstem Verhör wieder, in welchem er zum Tausendjährigen Reich befragt wurde.630 In der Relation wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass aus dem Chiliasmus »auch bey unverständigen gemeinen Leuten / sonderlich aber bey unruhigen neugierigen Köpffen / nun und dann allerhand Unheyl / gefährliche Bewegung / und gar auch Auffstand wider die Oberkeiten / erwachsen [. . .].«631 Der Chiliasmus scheint in Bern vermutlich zunehmend Anhänger auch in der Obrigkeit gefunden zu haben. So ließe sich zumindest erklären, weshalb von ihm in der XVIII. These der antipietistischen Thesenreihe von 1699 in »eher versöhnliche[m] Ton«632 gesprochen und dazu aufgefordert wurde, man solle »sich dißfalls in brüderlicher Liebe vertragen / und niemand nichts wider sein Gewissen zu glauben aufdringen [. . .].«633 Ursula Meyers eschatologische Anschauungen stehen also inhaltlich in einer deutlichen Kontinuität zur Lehre von den letzten Dingen, wie sie auch in den Anfängen des Pietismus in Bern vertreten und daraufhin von kirchlicher und staatlicher Seite bekämpft worden war. Dennoch fördert die Auswertung ihrer Aussprachen eine entscheidende Entwicklung zu Tage, die jedoch erst bei der Schilderung ihrer eschatologischen Zielvorstellung sichtbar wird. In Zukunft soll Ursula Meyer zufolge »alles so werden, wie es gewesen ist, ehe die Sünde den Fluch hat eingeführet und nach sich gezogen.«634 Christus wird sich er-

624 Vgl. Klaus Deppermann, Der englische Puritanismus, in: Geschichte des Pietismus 1, 11–55, hier 43f. 625 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 107 (Anm. 51) u. 112. 626 Vgl. ebd., 106. 627 Vgl. Relation III/11, 12. 628 Vgl. Relation III/11, 11f.; Dellsperger, Anfänge, 110f. 629 Vgl. Dellsperger, Anfänge, 114. 630 Vgl. Relation III/11, 12. 631 Ebd. 632 Dellsperger, Anfänge, 159 (Anm. 44). 633 Zit. nach Dellsperger, Anfänge, 158 (Anm. 44). Auch Beat Ludwig von Muralt und Nicolas Samuel de Treytorrens waren Chiliasten. Vgl. Dellsperger, Pietismus in der Schweiz, 596f. 634 HA, (Nr. 10), 34.

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barmen und alles aus dem Fluch wiederbringen.635 Ursula Meyer erwartet den Beginn des Tausendjährigen Reiches, doch nach dem Gericht rechnet sie damit, dass die Menschen, die nicht zu den Getreuen Gottes gehören, »[. . .] so lange ihre Sünden werden büssen müssen, bis daß sich Christus, der Wiederbringer alles dessen, das durch den Fall Adams verlohren ist worden, über sie erbarmen, und ein jegliches in seiner Ordnung wiederum aus der Strafe und aus dem Fluch erlösen wird.«636

Mit Christus, dem Wiederbringer, erhält die theologische Grundstruktur der eschatologischen Vorstellungen Ursula Meyers eine neue Ausrichtung.637 Mit der ursprünglich von Origenes entwickelten spekulativen Lehre von der Wiederbringung aller (vgl. Act 3,21; Röm 8,21–23.26; Apk 22,17) zur ursprünglich geglaubten Einheit und Reinheit von Natur und Geschichte638 löst sich Ursula Meyer vom eschatologischen Zukunftsbild der Theologie, das im frühen Pietismus in Bern am verbreitetsten war.639 Ob Ursula Meyer schon damals Anhängerin dieser Lehre war, oder ob sie tatsächlich eine Weiterentwicklung bezeichnet, muss letztlich offen bleiben. Wenn letzteres zuträffe, stünde Ursula Meyer jedoch nicht allein da. Auch der prominenteste Anführer der frühen pietistischen Bewegung in Bern vollzog eine Weiterentwicklung hin zur Allerlösungslehre: Samuel König, der 1699 in Bern noch eine sich an Apk 20 orientierende Eschatologie mit doppeltem Ausgang vertrat,640 scheint sich – vermutlich durch den Einfluss Gottfried Arnolds641 und der Petersens642 – zu einem universal-soteriologischen Verständnis der Kosmologie hin weiterentwickelt zu haben. So steht im Manual der Religionskammer der Stadt Bern im Zusammenhang mit dem Gesuch Königs von 1730 um Aufhebung des Bannisationsurteils und Erteilung einer Lehrerlaubnis, dass dieser nebst dem Chiliasmus 635 Vgl. HA, (Nr. 136), 334: »[. . .] bis daß endlich die Kraft unsers Emanuels alles aus dem Fluche wird wieder gebracht haben.« 636 HA, (Nr. 24), 59f. 637 Renkewitz (Hochmann, 349) spricht bei Hochmann, der auch die Wiederbringung aller Dinge lehrte, lediglich von einer »Spannung [. . .] in Hochmanns Gottesanschauung«, die jedoch »nur vorübergehenden Charakter [trägt]«. 638 Vgl. Carl Andresen, Art. Wiederbringung Aller, I. Dogmengeschichtlich, in: RGG3 6 (1962), 1693f. 639 Die Lehre von der Wiederbringung aller war zwar durch die Verbreitung sog. »irrige[r] Bücher« (Relation II/1, 6) im frühen Pietismus in Bern schon bekannt, gehörte aber nicht zum Allgemeingut und wurde z. B. im Gegensatz zu der an Apk 20 orientierten Lehre vom doppelten Ausgang nicht von den Kanzeln gepredigt. 640 Vgl. Kurtzer Entwurff Der Lehr von dem Zukünfftigen Herrlichen Tausendjährigen Reich Jesu Christi unsers Heÿlands. Authore Samuele Köng, [BBB, AP 136–143], hier §19 [»Was aber antrifft die Gottlosen . . .«] u. 21f. Diese Schrift entstand gemäß Dellsperger, Anfänge, 110 (Anm. 62) erst nach dem zweiten Verhör Königs vom 22.3.1699. 641 Vgl. Traugott Stählin, Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik, Göttingen 1966, 41. 642 Siehe oben S. 71.

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»darumb es eigentlich vor seiner abreiß zuthun ware, gegenwärtig annoch andere meinungen und speciatim folgende hege: als den universalismum, dann die restitutio omnium, daß die teüffel und gottlosen auch noch erlößt werdend«.643

Dass sogar noch der Teufel erlöst werden wird, ist die konsequente Form der Wiederbringung aller, die schon der Dominikaner Johann Tauler (ca. 1300– 1361) und der mystische Traktat Theologia deutsch (entstanden um 1400)644 lehrten und bei den Inspirierten allgemein geglaubt wurde.645 Christi Heilstat ist es, die den Dualismus, der sich in Ursula Meyers Aussprachen durchzieht, überwindet. »Die ewige Liebe« selbst wird dem »immerwährende[n] Streit zwischen Licht und Finsterniß« ein Ende bereiten und »nicht ruhen, bis daß alles wieder in ihr selbsten verschloßen seyn wird.«646 Das apokalyptische Entweder-Oder der ewigen Vernichtung oder Rettung der Menschen lässt Ursula Meyer hinter sich. Eine Scheidung in Erlöste und Verdammte (vgl. etwa Mt 25, 31–46) findet nicht mehr statt. Sogar die Auflösung der scharfen Asymmetrie zwischen Schöpfer und Geschöpf wird angedeutet durch die »völlige Vereinigung und Zerfliesung und Entwerdung des geschaffenen in seinen Ursprung«:647 »[. . .] das Reich der Liebe [wird] ihren Liebhabern zu Theil werden,648 und seinen Anfang nehmen, mit welchem auch sich die wahre Seligkeit, die da bestehen wird in einer Harmonie zwischen dem Geschöpf und dem Schöpfer, offenbaren wird, bis das endlich die Stunde kommen wird, daß aus dieser Liebes=Harmonie des Geschöpfs und des Schöpffers, die völlige Vereinigung und Zerfliesung und Entwerdung des geschaffenen in seinen Ursprung folgen wird. Was dann weiter geschehen wird, kan keine sterbliche Creatur mit ihrer verweßlichen Zunge ausreden: Das ewige, unsterbliche, in GOtt eingeflossene und ganz verlohrne Theil wird es alleine erfahren, und in der Erfahrung ewig bewundern.«649

Auch wenn das Schwergewicht der eschatologischen Aussagen Ursula Meyers nicht auf der Allerlösung liegt,650 so gilt es festzuhalten, dass Meyer letztlich 643 StAB, BIII 174 (28.8.1730), 97–101, hier 98f. 644 Zur ungeklärten Datierungsfrage vgl. Christian Peters, Art. Theologia deutsch, in: TRE 33 (2001), 258–262, hier 259f. 645 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 128. 646 HA, (Nr. 33), 84. Vgl. dazu Hartmut Rosenau, Art. Allversöhnung, in: RGG4 1 (1998), 322f., hier 322: Die Allversöhnung »bringt das Wesen Gottes entschieden als Liebe zur Geltung [. . .].« 647 HA, (Nr. 98), 227f. Vgl. zu diesen häufigen Termini, die »das völlige Aufgehen im Göttlichen« bezeichnen und »typische Metaphern für die Unio mystica (sind)«: Langen, Wortschatz, 291f., 341 u. 406. Auch nach Arndt ist »die Vereinigung der Seele mit Gott [. . .] ›des Menschen vollkommenheit / und finis totius Theologiae‹«. Hans Schneider, Johann Arndt und die Mystik, in: Dietrich Meyer/Udo Sträter (Hg.), Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts (SVRKG 152), Köln 2002, 59–90, hier 83. 648 Vgl. I Kor 6,2. 649 HA, (Nr. 98), 227f. 650 Die Lehre von der Allerlösung, die ntl. Kol 1,20; Eph 1,10 u. Rom 11,32 belegt ist, wurde schon auf dem 5. ökumenischen Konzil 553 als häretisch verurteilt.

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alle Menschen ausnahmslos in ihre eigene aus dem Glauben gewonnene Heilsgewissheit einbezieht. Erweist sich die eschatische Hoffnung auf die Wiederbringung aller »in der ständigen Fürbitte für alle Menschen (Röm 10,1; I Tim 2,1ff.), in der seelsorgerlichen und missionarischen Verantwortung für die, die uns anvertraut und erreichbar sind«, dann hat diese Lehre in den Aussprachen Ursula Meyers tatsächlich ihr »christliches Recht«, auch wenn die Theologie diese »weder lehren noch ablehnen [darf]«.651 Jedem Menschen steht als eschatologisches Endziel das Erbarmen Christi bevor. Der von Paul Wernle im Himmlischen Abendschein konstatierte »Gegensatz zwischen Gott und Welt«652 wird also im zentralen thematischen Schwerpunkt der inspirativ empfangenen Aussprachen Ursula Meyers, nämlich in ihrer Eschatologie, durch das Wirken Christi letztlich durchbrochen und aufgehoben. Dies führt uns zum nächsten Themenkomplex, die Christologie.

4.2 Jesus Christus oder: Die ewige Liebe 4.2.1 Jesus Christus als Wiederbringer Im Kontext der Eschatologie musste die Bestimmung Jesu Christi als der Wiederbringer schon thematisiert werden. Nur angedeutet blieben bisher jedoch der Grund für die Menschwerdung Gottes in der Person Jesu und damit zusammenhängend die Notwendigkeit eines Reinigungsfeuers. In Ursula Meyers Aussprache vom 20. Juli 1715 auf der Ronneburg wird diese Frage beantwortet. In der Ich-Form entwirft hier Gott eine regelrechte Schöpfungslehre: »Meine ausfliesende und sich selbst mittheilende Liebe653 hat mich bewogen, Himmel und Erde, alles sichtbare und unsichtbare, ein jegliches in sein Wesen zu schaffen. Nachdem aber erst eine Anzahl Engel in die Selbstheit654 eingegangen, und von Mir, der ewigen Liebe,655 abgefallen, hat sich das eingeweyde meiner Liebe aufgethan, um diesen abgefallenen Geistern zu helffen, und sie wiederum in ihr erstes Centrum der Liebe, woraus sie gefallen, einzuführen: derowegen habe ich den Menschen hervor gebracht, und in meinem ewigen Rath beschlossen, durch den Menschen, der nach meinem Bilde geschaffen,656 die abgefallene Geister wieder zu 651 Vgl. Paul Althaus, Art. Wiederbringung Aller, II. Dogmatisch, in: RGG3 6 (1962), 1694– 1696, hier 1695. 652 Siehe oben S. 210. 653 Arndt (WChr IV, II, 28, 1) sieht den Grund, »warum sich die Liebe mit dem Geliebten vereinigt«, darin: »weil der Liebe Natur und Wesen ist, daß sie sich selbst mittheilt, austheilt und schenkt.« 654 Die Selbstheit – oft von Ursula Meyer auch Eigenheit genannt (vgl. HA, [Nr. 101], 232f. passim) bzw. Eigenwille – ist spätmittelalterlicher Mystik, z. B. Meister Eckhart zufolge Ursache allen Übels. Vgl. zu diesen Suffixbildungen Langen, Wortschatz, 396. 655 Vgl. Jer 31,3. 656 Vgl. Gen 1,27.

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bringen;657 allein die Kräfte der Finsterniß würkten auf meine Geschöpffe, mein Geschöpffe wandte sich von dem Lichte weg und gieng in die Finsterniß, so daß durch den Fall des Menschen ein grosser Schade dem Werk meiner Schöpfung zugefüget wurde. Meine Liebe aber [. . .] gieng dem gefallenen Menschen nach, sie rief: Adam! wo bist du?658 Sie versprach sich selbsten hinzugeben, damit das von GOtt659 abgefallene Geschöpffe möchte wieder gebracht werden, weilen es kein geschaffenes Geschöpffe mehr thun konte, so wurde der Sohn der Liebe660 selbsten, als ein Mittler und Wiederbringer alles dessen, was der Mensch verlohren hat, dem Menschen verheissen, und zur bestimmten Zeit auf diese Welt gesandt ein Licht, das da schiene mitten in der Finsterniß,661 um die Finsterniß zu vertreiben, und das Licht in dem gefallenen Menschen wieder aufgehen zu lassen.«662

Alles Geschaffene ist Ausdruck der Liebe Gottes. So lautet die Kernaussage, die die Grundlage alles dessen bildet, was nun folgt. Die Aussprache unterscheidet zwei verschiedene Schöpfungen. Erst nach dem Abfall der Engel bzw. Geister aufgrund ihres Eingehens in die Selbstheit schafft Gott – zum Zweck ihrer Wiederbringung – den Menschen. Ursula Meyer geht hier von der Vorstellung einer ursprünglich in Adam in ungebrochener Reinheit verwirklichten gottebenbildlichen Existenz des Menschen aus,663 wie sie Böhme, Arndt und auch Hochmann gelehrt hatten.664 Der Fall des Menschen-Geschöpfs wird dem Wirken finsterer Kräfte angelastet und erscheint als tragisches Abgeschnittensein von der ursprünglichen Herkunft und leidvolles Getrenntsein von der 657 Vgl. Hebr 13,20. Vgl. Arndt, WChr II, 6, 1f. 658 Vgl. Gen 3,9. 659 Hier findet ein Subjektwechsel statt. Wäre Gott noch Redner, müsste er von dem »von mir« abgefallenen Geschöpf sprechen. Der Wechsel zeigt an, dass das »Werkzeug« in derselben Aussprache verschiedene Rollen bzw. Identitäten einnehmen kann. Siehe auch das Zitat unten in Anm. 663. 660 Zur Begriffsbildung vgl. I Joh 4,9f. 661 Vgl. Joh 1,5; 3,19. 662 HA, (Nr. 33), 83f. Vgl. Arndt, WChr II, 26, 2: »Er wird eines Menschen Kind, auf daß er uns zu Gottes Kindern mache; er kommt zu uns auf Erden, auf daß er uns in den Himmel bringe.« 663 Vgl. auch HA, (Nr. 35), 90: »Ich habe den Menschen, spricht der Allmächtige, nach meinem Bilde geschaffen, und alles sichtbare ihm unter seine Füsse gegeben, damit er alles nach seinem Gefallen regieren, und alles Geschaffene wieder durch sich in seinen Ursprung einführen solte. Der Mensch aber wandte sich von GOtt weg, und anstatt daß ihm alle Dinge unterworffen seyn solten, unterwarf er sich selbst der Sünde zu einem Sclaven [. . .].« Von einer ursprünglichen Doppelgeschlechtlichkeit des Menschen spricht Ursula Meyer nicht ausdrücklich. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 358. 664 Vgl. Hamideh Behjat, Johann Arndts »Wahres Christentum« als Erbauungsbuch, Zürich 1990, 136: »So liegt die Reinheit und Unschuld des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit, welche er in seinem Urzustand inne hatte.« Vgl. Arndt, WChr II, 33, 14: »Also ist das verdorbene Bild Gottes im Menschen durch das wesentliche Ebenbild Gottes wieder erneuert, nämlich durch Christum.« Zu Hochmann als Anhänger der Wiederbringungslehre, die er wohl von Jane Leade und den Petersens übernommen und erstmals 1702 verfochten hatte, vgl. Renkewitz, Hochmann, 345, 348f. u. 356.

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himmlischen Heimat. Das verlorene Geschöpf, das in der Fremde umherirrt, weckt das Gefühl göttlichen Mitleids. Gottes Liebe und Erbarmen werden aktiviert, sodass Gott sich selbst dem Menschen verspricht. Die Inkarnation des präexistenten Sohnes soll den durch den Sündenfall Adams verursachten Schöpfungsschaden, der über alle Menschen das Unheil brachte, rückgängig machen und alles aus dem Fluch wiederbringen. »Ich schenkte dem Menschen zur Wiederbringung meinen einzigen Sohn, der gieng ihnen die Weg vor, die sie gehen solten [. . .].«665 Der irdische Jesus – der »Christus in den Tagen seines Fleisches«666 – hat eine Vorbildfunktion,667 wobei die Wiedererlangung des ursprünglichen Zustands der Sündlosigkeit für alle Menschen das souverän-göttliche Endziel ist. Hier wird deutlich: Protologie und Eschatologie Ursula Meyers entsprechen einander. Christus wirkt die Wiederherstellung des Urzustandes. Dass die Wiederbringung geschehen und niemand von ihr ausgeschlossen sein wird, daran hält Ursula Meyer mit ihrer superlativen Ausdrucksweise deutlich fest: »Denn Christus das Haupt wird nicht ruhen, bis daß alles, alles, alles, alles, alles, alles, alles, was gefallen ist, wiederum erstlich unter Ihn, und dann durch Ihn zu GOtt, der da der Ursprung und die Quelle, woraus alles, alles, alles, alles, alles, alles, alles, alles, alles geflossen ist, wieder eingeführet werde.«668

Die Adam-Christus-Antitypologie bildet »das Leitmotiv« der Theologia deutsch669 und spielt auch in allen von Johann Arndts Vier Bücher[n] von Wahrem Christenthum (1605–1610) eine hervorgehobene Rolle.670 Adam und Christus werden »als Verhaltensmuster oder Idealtypen von Lebenshaltungen«,671 »als Gestaltmuster des ›alten‹ bzw. ›neuen Menschen‹«672 begriffen und dabei enthistorisiert. Sie werden »gewissermassen innermenschliche Instanzen«.673 Ihre heilsgeschichtlichen Funktionen dienen Arndt zur Veranschaulichung seiner Kernbotschaft, nämlich der Notwendigkeit der Verinnerlichung des Glaubens. 665 HA, (Nr. 35), 91. 666 HA, (Nr. 36), 95 passim. 667 Siehe oben S. 218 u. unten S. 268. 668 HA, (Nr. 33), 85. 669 Peters, Art. Theologia deutsch, 261. 670 So steht auf der Rückseite des Titelblatts der zweiten Braunschweiger Ausgabe von WChr I (1606): »Wie in einem waren Christen Adam täglich sterben, Christus aber in jhm leben soll. Und wie er nach dem Bilde Gottes täglich ernewert werden und in der newen Geburt leben müsse.« Hermann Geyer, Verborgene Weisheit. Johann Arndts »Vier Bücher vom Wahren Christentum« als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie I–II (AKG 80/I–II), Berlin/New York 2001, II 76–96, hier 77. Vgl. weiter Behjat, »Wahres Christentum«, 122–142. Die Adam-Christus-Antitypologie begegnet auch im Brief des Niklaus von Rodt an seinen Bruder, vgl. Anhang (1.b) unten S. 325. 671 Geyer, Verborgene Weisheit II, 78. 672 Ebd. 673 Behjat, »Wahres Christentum«, 142.

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Auch Arndt spricht häufig von der Wiederbringung und hält fest: »Darum mußte GOttes Sohn Mensch werden, auf daß die menschliche Natur wieder mit Gott vereiniget, und also wieder zu ihrer Vollkommenheit gebracht würde.«674 Sinnkongruente Stellen lassen sich in allen Vier Bücher[n] von Wahrem Christentum nachweisen.675 Jesus Christus erfüllt für Ursula Meyer jedoch nicht bloß eine heilsgeschichtlich-zweckgebundene Funktion, sondern ist primäre Bezugsperson in ihrem Leben und Wirken. Sie verbindet mit ihm eine hoch emotionalisierte Beziehung. Gleich in ihrer allerersten Aussprache vom 16. März 1715 wird diese thematisiert. Ursula Meyers Christozentrik ist für ihr Selbstverständnis als »Werkzeug« grundlegend. Ihre Aussprachen sind in dem Sinne durch und durch Christuszeugnis. Ohne diese tief empfundene, exklusive Liebe und das persönliche Ausgerichtetsein auf ihn, lässt sich Ursula Meyers Wirken nicht verstehen. Eine Beschäftigung mit den Lehren und Anschauungen ihrer Inspirationsreden unter Absehen von dem, was sie emotional zutiefst bindet, ist unmöglich. Die Aussprache auf der Ronneburg vom 16. März 1715 bildet den Einstieg in die prophetische Tätigkeit Ursula Meyers und soll hier als Ganzes analysiert werden. 4.2.2 Die Jesus-Liebe: Aussprache Nr. 1676 Anno 1715 I. Roneburg den 16. Merz. In der gewöhnlichen Abend-Betstunde geschahe diese allererste Bezeugung des Geistes des HErrrn durch das Werkzeug Ursula Meyerin:

Am gleichen Tag wie die erste im Druck belegte Aussprache Rocks, gehalten in Kelsterbach,677 fand diese allererste Aussprache Ursula Meyers auf der Ronneburg statt.

674 Arndt, WChr II, 6, 2. Vgl. ebd., II, 30, 3 u. 33, 13. 675 Vgl. Stählin, Dichtung, 50. 676 HA, (Nr. 1), 5–9. Der nun folgende Text erhält der Übersichtlichkeit wegen eine eigene Klassifizierung, die sich an den Druckseiten und -zeilen des Werkes orientiert. Jede Nummer beziffert eine Zeilenschaltung im Drucktext. Von der Klassifizierung ausgenommen sind die Datums- und Kontextangabe, die der Aussprache nachträglich beigefügt wurden, sowie die Gliederung und Zwischentitel, die von der Vfn. stammen. 677 Vgl. V. Sammlung (1740), Zugabe, 1–3; Ulf-Michael Schneider, Propheten, 193. Die erste, uns leider nicht überlieferte, schriftlich dokumentierte Aussprache Rocks fand am 31.12.1714 statt und »handelt[e] von Gott=Ergebenheit«, Historie II, 250.

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Einstieg: »Anfechtungen einer Jesum liebenden Seele« (5,1f.) 5,1 Ich lache678 aller Anfechtungen, die auf eine 2 Jesum liebende Seele loßstürmen: Die Aussprache beginnt mit einem kräftigen Ausspruch in präsentischer IchForm über die Anfechtungen »eine[r] Jesum liebende[n] Seele«. Sie macht gleich zu Beginn deutlich, wie Ursula Meyer ihre eigene Situation interpretiert, in welcher Rolle sie gesehen werden möchte und wer ihre bevorzugten biblischen Vorbilder sind. Wie der Apostel Paulus versteht sie ihre Anfechtungen679 als Leiden, die ihr aus ihrem Glauben oder besser: aus ihrer JesusLiebe erwachsen (vgl. II Kor 6).680 Leiden und Anfechtungen sind Bedingung für den späteren Triumph und beugen der eigenen Lauheit vor.681 Sie können gar selbst als »ein gewisses Zeichen der Liebe« Christi interpretiert werden.682 In deutlicher Aufnahme von Eliphas’ Worten an Hiob: »Über Verderben und Hunger wirst du lachen [. . .]« (Hi 5,22a) und die darin zu Tage tretende radikale Ausrichtung auf Gott signalisiert Ursula Meyer unverkennbar, in welcher Tradition sie ihr eigenes Wirken sieht. Sie gehört zu den Kindern Gottes und wahren Nachfolgern Jesu, deren Liebe zu ihm Leiden impliziert. Die Leidensnachfolge ist für Ursula Meyer wie schon für Arndt Bedingung zukünftiger Herrlichkeit.683 Mit dem schon von Arndt verwendeten Bild von der liebenden Seele684 wird die von Ursula Meyer vorausgesetzte, möglichst alle Anwesenden verbindende Intention und gemeinsame Wertbasis, nämlich die Liebe zu Jesus, angesprochen. Der Singular bewirkt, dass sich jede Person einzeln mit der Sprecherin identifizieren kann. Die Vehemenz dieser ersten Aussage wirkt wie ein Befreiungsschlag. Er lässt vielleicht auch rückschließen auf eine innere Anspannung und natürliche Hemmung, die als Anfechtungen empfunden und zunächst überwunden werden mussten, ehe Ursula Meyer als Aussprecherin wirken konnte.685 Zu den Auslösern dieser ersten Aussprache bzw. zu den 678 Vgl. HA, (Nr. 76), 161: »[. . .] wann wird unser Glaube die Macht unserer Feinde verlachen?«; (Nr. 89), 204; (Nr. 98), 226 passim. 679 Vgl. auch HA, (Nr. 13), 37: »Hindernisse[n] und Anfechtungen«, HA, (Nr. 78), 167: »Zeit der Anfechtung«. 680 Vgl. dazu den Abschnitt »von der Liebe zu Jesus« in: Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704). 681 Vgl. HA, (Nr. 13), 37f. 682 HA, (Nr. 13), 38. So verstand schon der aus Bern ausgewiesene Samuel König seine leidvolle Situation (Der Weg des Friedens [. . .], o. O. 1700, 3): »Proben offenbahren GOttes Liebe und Treue / JEsu Freundlichkeit und Süßigkeit / und unsers Glaubens Festigkeit und ungefärbtes Wesen [. . .].« 683 Vgl. Arndt, WChr I, 11–15; II, 13–19 passim. 684 Vgl. Arndt, WChr II, 27–33 passim. 685 Dazu passt auch das Lachen als Möglichkeit der Abfuhr psychischer Erregung. Vgl. schon

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konkreten Erfahrungen, auf die sie rekurrieren konnte, mag das in den Zusammenkünften der Inspirierten auftretende Phänomen ekstatischen Lachens gehören.686 Der Einstieg könnte in diesem Fall als biblische Interpretation dieses Phänomens verstanden werden. Zu erinnern ist, dass es sich hier um die erste dokumentierte Aussprache Ursula Meyers handelt, dass aber Meyer wie die anderen »Werkzeuge« auch eine Zubereitungszeit mit vertieften ekstatischen Phänomenen vor ihrem ersten dokumentierten Aussprechen durchgemacht haben wird.687

Hauptteil 1: Die ewige Liebe zwischen einer Seele und ihrem Heiland (5,2–7,2) 5,2 3 4 5 6 7 6,1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

dann sie währen nur eine kurze Zeit, und blei= bet ihr immer ihr JEsus übrig, wann sie schon alles lässet, was im Himmel und auf Erden ist.688 Es wird alles weichen müssen, und die Liebe ihres Heylandes wird bleiben.689 Solten sie auch alle geistliche Kräften verlassen, und solten sie von aus= sen ganz arm werden, so kan sie doch ihr JEsus nicht lassen: dann Er hat sie in seine Hände ge= zeichnet.690 O! so wird dann das wohl bleiben, was Er als einen Siegel=Ring691 an seiner Hand trä= get! Wer will dem Starken seinen Raub neh= men?692 Wer will sich erkühnen, in sein Haus zu brechen,693 und eine Seele zu nehmen, die ihre Glaubens=Augen694 auf Ihn gerichtet hat, und die nichts suchet, als Ihn um sein selbst willen lieb zu haben, die keine Gaben von ihm verlanget, son= dern nur nach seiner Liebe seufzet, welches zwar das grösseste ist,695 und doch aber auch das ist, das eine Seele ohne Gefahr verlangen darf: denn al= les wird aufhören, aber den HErrn JEsum

Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewussten (1905), in: ders., Studienausgabe. Psychologische Schriften, Frankfurt am Main 71970, 9–219, hier 138–142. 686 Vgl. etwa Rocks »fröliches Lachen« in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 26 oder seine »lächlende und spöttische Minen« (Buß=Weck= und Warnungs=Stimme [1718] 95). 687 Siehe oben S. 130. 688 Vgl. II Petr 3,7. 689 Vgl. I Kor 13,8. 690 Vgl. Jes 49,16. 691 Vgl. I Mos 38,18; Hag 2,23; Sir 17,22. 692 Vgl. Jes 49,24. 693 Vgl. Mt 12,29par. 694 Vgl. Eph 1,18; Langen, Wortschatz, 369. 695 Vgl. I Kor 13,13.

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lieb haben, wird ewig bleiben. Die Liebe ist auch ein Schatz,696 den einer Seele kein Feind wird rauben können,697 und der ist in dem innersten des Herzens verwahret, darum wird er wohl bleiben: dann so gewiß dem HErrn JEsu eine solche See= le nicht wird geraubet werden können, so gewiß wird auch einer solchen Seele ihren Heyland nie= mand rauben. Dann die Liebe ist stärker als die Hölle und der Tod:698 sie gehet durch alles hin= durch, sie achtet keine Anfechtung nicht, sie drin= get durch.699 Also saget unser lieber Heyland: Es wird meine Schaafe niemand aus meiner Hand reissen, denn der Vater, der sie mir gegeben hat,700 ist der Starke und Allgewaltige.701

Der einleitende Ausspruch wird begründet (kausales »dann«). Die die Endzeit kennzeichnenden Anfechtungen werden klar zeitlich limitiert (5,3; vgl. Mt 24,21f.) und mit dem Hinweis auf Jesus relativiert (5,3f.; vgl. Joh 12,34). Das Vorgetragene mündet in das theologische Leitthema (5,6f.). Es wird anhand zweier durch die Konjunktion »und« kopulativ verbundener futurischer, assoziativ aneinander gereihter Aussagen in Form eines Aussagesatzes vorgestellt: »Es wird alles weichen müssen, und die Liebe ihres Heylandes wird bleiben.« (Vgl. I Kor 7,31.13,8). In deutlicher Anlehnung an Jes 49 (V16: »Auf meine Hände habe ich dich gezeichnet«; V24: »Kann man einem Starken den Raub entreissen?«) wird die zweite Assoziation des hervorstechenden Themas entfaltet (5,7–6,14). Dabei wird deutlich, dass die Wendung »die Liebe ihres Heylands« (5,6f.) possessiv gemeint war. Die rhetorischen Fragen als stilistische Merkmale mündlicher Verkündigung wirken verstärkend.702 Die Aussprache führt über die eindringliche – an Arndt erinnernde – Beschreibung einer »Jesum liebenden Seele«, die »nichts suchet, als Ihn um sein selbst willen lieb zu haben«,703 zurück zum Leitthema, dessen zweite Assoziation nun 696 Vgl. Arndt, WChr IV, II, 27, 1: »Derhalben ist die gute Liebe unser einziger Schatz [. . .].« 697 Vgl. Lk 12,33. 698 Vgl. Hl 8,6. 699 Vgl. I Kor 13. 700 Vgl. Joh 10,29. 701 Vgl. Jes 28,2. 702 Vgl. Herbert Genzmer, Sprache in Bewegung. Eine deutsche Grammatik, Frankfurt a. M./Leipzig 1998, 62f.: »Fragen sind das Salz in der Suppe, sind die Würze des Vortrags. Sie sind das stärkste formale Mittel, das Redner zur Verfügung haben. [. . .] Rhetorische Fragen erleichtern es den Zuhörern, mit den Ausführungen und Meinungen des Sprechers übereinzustimmen. [. . .] Rhetorische Fragen manipulieren insofern, als sie die Antworten vorwegnehmen und sie durch die Fragen an sich schon geben.« 703 Vgl. Arndt, WChr II, 24, 4: »Denn er sollte Gott mehr lieben, denn sich selbst, ja über

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aber auffällig umformuliert wird: »[. . .] alles wird aufhören, aber den HErrn JEsum lieb haben, wird ewig bleiben« (6,14–16). Während in der Bibel die ewige Liebe und Treue Gottes zum Menschen betont wird (vgl. Mk 13,31parr.; Röm 8,39; I Kor 13,8), begegnet hier die umgekehrte Blickrichtung. Nachdem zuerst die Liebe des Herrn im Zentrum stand, ist es nun die Liebe zum Herrn. Erneut ist es nur die zweite Aussage, die assoziativ entfaltet wird, indem eine kurze Ausführung über die Liebe in Anspielung an Mt 6,20 (»Sammelt euch Schätze im Himmel«) und wörtliche Zitierung von Hl 8,6 und Versstücken aus I Kor 13 folgen (6,16–26).704 Dazwischen geschoben wird eine reziproke Beziehungsaussage zwischen Jesus und einer ihn liebenden Seele (6,20–23). Nun ergreift der Heiland selbst das Wort, indem er die Zusammengehörigkeit zwischen ihm und seinen »Schaafe[n]« mit Verweis auf den Vater in einem Satz in direkter Rede bestätigt (6,26–7,2; vgl. Ez 34,8; Joh 10,29). Hauptteil 2: Die Fischer und ihr »Liebes=Netz« (7,3–8,19) 7,3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

So waget denn euch, ihr Kinder der Liebe! und schonet eurer nicht: denn die Quelle der Liebe hat sich auch nicht allein für sich behalten, son= dern ist so mildiglich in euch ausgeflossen in euer aller Herzen,705 und seine Liebe soll in euch auch zu einer Quelle werden, die da ausfliessen soll, und andere Herzen erquicken, und sich in die Quelle der Liebe hinein führen, woraus alle Liebe geflossen ist, und wohin alles wieder muß gebracht wer= den.706 Das Liebes=Netz ist ausgespannet, um noch viele Seelen zu umwicklen und gefangen zu nehmen.707 Seelig sind,708 die das Netz führen, und die der liebe Heyland zu Fischern machet!709 Sie

Alles, und sollte alle Dinge lieben um Gottes willen«; ebd., 5: Wer »Gott nicht liebet als Gott, um sein selbst willen, [. . .] so hat er eine falsche betrogene Liebe«; II, 27, 2: »[. . .] ja wenn du gleich mir die ganze Welt geben wolltest, so will und begehre ich nichts Anders, denn dich allein und deine Liebe.« Zur »Natur, Eigenschaft und Frucht« dieser Liebe vgl. Arndt, WChr IV, II, 27. Vgl. auch Johann Arndt, Geist=reiches Paradeis=Gärtlein, Voller Christlicher Tugenden, Wie solche zur Übung wahren Christentums durch geistreiche Gebätte in die Seele zu pflantzen, Magdeburg 1612, 1. Klasse, 4. Gebet: »Zünde [. . .] in mir an [. . .] die reine unbefleckte Flamme deiner Liebe, daß ich dich um deiner selbst willen als das höchste Gut [. . .] von Hertzen lieb habe, [. . .] allein um deiner selbst willen.«; 2. Klasse, 5. Gebet: »Herzliebster Herr Jesu, laß mich in meinem hertzen nichts anders empfinden, dann deine liebe [. . .].« 704 Für Arndt (WChr IV, II, 27, 1) ist diese Liebe »unser einziger Schatz, unser ganzes Gut«. 705 Vgl. Röm 5,5. 706 Vgl. Joh 4,14. 707 Vgl. Hos 11,4; Hi 19,6; Mt, 13,47. 708 Vgl. Mt 5,3–11. 709 Vgl. Mt 4,19; Mk 1,17.

Thematische Schwerpunkte 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 8,1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

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werden alle mit Theil haben an der Beute;710 wie= wohl sie dem lieben Heyland alles wieder geben werden, und nichts vor sich behalten: denn Er hat sie selbsten in seinem Netz gefangen, und kön= nen nicht anders, als Ihme alles wieder zu seinen Füssen legen.711 So werden dann die Sclaven der Liebe kommen, und werden noch viele Liebes=Ge= fangene mitbringen, und sich selbst mit den Ge= fangenen dem Fürsten der Liebe712 hingeben: da wird dann JEsus selbsten ihr Lohn seyn,713 und ihr Theil in Ewigkeit, um deßwillen sie auch alles thun wer= den. So spricht der Fürst der Liebe! Ich will selb= sten der Lohn und das Loos seyn714 aller Kinder der Liebe, die Mich lieber als ihr Leben haben, und als alle ihre Gemächlichkeit. So haltet euch be= reit, weilen ihr nicht wisset, welche zu solchen Fischern werden gebraucht werden, und einen sol= chen Lohn empfahen; es möchte vielleicht an die kommen, die sichs am wenigsten versehen hätten. Darum wachet und betet,715 daß ihr würdig erfun= den werdet, auf Befehl eures Heylandes das Netz ins Meer zu werffen.716 Es haben zwar man= che schon die ganze Nacht gefischet, und keinen einzigen Fisch gefangen;717 was macht es aber? der HErr JEsus hat sies nicht geheissen; wer aber auf seinen Befehl das Netz hinein lässet, der wird es vor grosser Menge kaum fortbringen kön= nen:718 dann die Nacht vergehet, und der Tag kommt,719 an welchem die Arbeiter sollen ausgesandt werden.720

Der zweite, paränetische Teil der Aussprache, der im gedruckten Text als neuer Abschnitt kenntlich gemacht ist, wird mit dem ersten adverbiell (»So [. . .]«) verknüpft und als logische Folge des zuvor entfalteten Themas eingeführt. Er beginnt mit einer Aufforderung an die anwesenden, »Jesum liebenden Seelen«, 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720

Vgl. I Kor 6,2; Eph 5,5. Vgl. I Kor 15,25. Im Gegensatz zum »Fürsten der Welt« (HA, [Nr. 136] 333). Vgl. Joh 14,30. Vgl. Mt 5,12. Vgl. HA, (Nr. 123), 291. Vgl. Mt 26,41. Vgl. Lk 5,4f. Vgl. Lk 5,5. Vgl. Lk 5,7. Vgl. Jes 13,9. Vgl. Mt 20.

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die nun »Kinder der Liebe« genannt werden, zu aktivem Handeln.721 Der Einsatz mit »So waget denn euch« darf auch als Selbstaufmunterung der Aussprecherin verstanden werden. Die Aufforderung wird begründet mit dem Bild der »Quelle der Liebe [. . .], woraus alle Liebe geflossen ist, und wohin alles wieder muss gebracht werden«,722 und einer gleich anschließenden längeren Ausführung über das »Liebes=Netz« und seine »Fischer« (7,12–27) in deutlicher Verwendung von Mk 1,17parr. und Lk 5,1ff. Auffallend ist die Lokalisierung der Liebe Jesu Christi als inwendige Quelle des Menschen. Sie kommt dem Menschen nicht von außen zu, sondern ihr Sitz ist in seinem Innersten.723 Schon in der allerersten Aussprache begegnet die Lehre vom Christus in nobis. Auch Johann Friedrich Rock erwiderte die Anwürfe eines Specials, die Anhänger der Inspirierten besuchten nicht mehr die Kirche, mit dem Hinweis darauf, diese »suchten die Quelle in sich«.724 Die (Menschen-)Fischer, zu denen Jesus die Jünger einst machte und »die das Netz führen«, sind Identifikationsfiguren sowohl für die »besonderen Aufseher, Wortführer und Werckzeuge«725 wie auch für alle Zuhörenden. Diese »Sclaven der Liebe« fischen »Liebes=Gefangene« und erhalten Jesus selbst als Lohn (vgl. Mt 5,12).726 Gemeint sein dürfte hier auch das konkrete Kommunikationsgeflecht der Inspirierten, deren Verkündigung sich schnell ausbreitete und deren Gemeinschaft schnell anwuchs.727 Deutlicher wird das Bild in Aussprache Nr. 80 vom 1. Juni 1716: »Ich habe mein Netz ausgedehnet, und suche viele Herzen mit demselben gefangen zu nehmen: Ich habe auch in vielen Landen Stricke geleget und Seile geworffen, ob sich die Füsse meiner in der Irre herum laufenden Kinder und Geschöpffe darein verwickeln möchten, damit Ich sie zu Mir ziehen könte [. . .].«728 721 Vgl. dazu Arndt, WChr II, 31, 1: »Die Liebe Gottes will, daß die liebhabende Seele allen Menschen Gutes thue, [. . .] allein um der Liebe Gottes willen, welche macht, daß die unendliche Allmacht Gottes bewogen wird, sich herunter zu uns zu lassen; die auch aus ihrem unendlichen Schatz uns Allen giebt, zu dem Ende, daß wir es wieder geben sollen aus Liebe, was uns Gott aus Liebe aus dem Schatze seiner Allmacht giebt.« 722 Aus der Mystik übernommene Metapher für Gott. Vgl. Jer 2,13; Ps 36,10; Joh 7,38. 723 Vgl. auch HA, (Nr. 99), 229: »ihr seyd der Quelle des Lebens in euch ganz nahe«. Die Seele »darf sich nach keiner andern Quelle umsehen als nach der, die in ihrem eigenen Grunde entsprungen ist: dahinein versenket sie sich [. . .]«, HA, (Nr. 123), 290. 724 Wohl und Weh (1719), 170. 725 HA, Einleitung. 726 Demgegenüber erhalten die anderen »zuletzt Angst, Furcht, Zittern und Schrecken« als Lohn (HA, [Nr. 144] 356). 727 Zum »schnell entstehenden Kommunikationsgeflecht« (209) der Pietisten allgemein vgl. Schneider, unerfüllte Zukunft, 208f. 728 HA, (Nr. 80), 170f. Vgl. auch HA, (Nr. 95), 217f. (Nr. 111), 262. (Nr. 137), 337. Vgl. auch Arndt, WChr II, 33, 10: Gottes Sohn wurde Mensch, »daß er die Jrrenden wieder zurecht brächte, die Unwissenden lehrte, die Sünder zu sich lockte, und das Licht der Erkenntniß Gottes durch den Glauben und den heiligen Geist wieder anzündete, ja sich selbst mit des Menschen Seele vereinigte, und darin leuchtete.«

Thematische Schwerpunkte

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Nach dieser Aussage meldet sich der »Fürst der Liebe« sogleich selbst zu Wort und bestätigt wiederum in einem Satz in direkter Rede das zuletzt Gesprochene. Erneut schließen sich darauf gründende Aufforderungen an die Zuhörenden an – diesmal in Aufnahme des Fischzugs Petri (Lk 5). Auffallend ist die Unsicherheit, in der die Anwesenden hinsichtlich ihrer möglichen Berufung zu Fischern und des in Aussicht gestellten Lohnes belassen werden. Schlussparänese/Fazit: Wachen und Beten [8,19–9,5] 8,19 O so verberge sich niemand in die Winkel, 20 sondern lasse sich von seinem Heyland finden, 21 wann Er ausgehen wird, Arbeiter zu suchen:729 22 dann sie werden für die wenige Stunden, die sie 23 werden zu arbeiten haben, gleichen Lohn empfa= 24 hen mit denen, die des Tages Hitze getragen 25 haben;730 dann der König ist sehr gütig,731 und sie= 9,1 het nur auf die Treue in der Arbeit, und nicht 2 auf die viele Stunden. Wachen und Beten732 ist 3 das einige, das Er von uns fordert in diesen ge= 4 genwärtigen Stunden, damit Er uns tüchtig 5 machen könne, seine Arbeit zu verrichten.

Auf dem Hintergrund der belassenen Unsicherheit folgt zum Schluss eine mit einer expressiven Interjektion eingeleitete weitere Aufforderung zu mutigem Verhalten (»O so verberge sich niemand in die Winkel [. . .]«), womit Ursula Meyer wohl ihr eigenes öffentliches Auftreten beispielhaft versteht. Die Aufforderung wird mit der biblischen Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) verbunden. Die angehängte kurze Interpretation betont als Grund für die gleiche Lohnentschädigung nebst der Güte des Herrn auch die Treue der wenige Stunden werkenden Arbeiter, was einer interpretatorischen Akzentverschiebung gleichkommt. Die zahlreichen Imperative weisen auf die appellative Grundfunktion dieser Aussprache hin. Dominierendes Tempus ist das Futur. Diese erste Geistesbezeugung endet mit der Aufforderung von Mt 26,41, nämlich zum »Wachen und Beten«.

729 Vgl. zum Folgenden Mt 20,1–16. 730 Vgl. Mt 20,12. 731 Vgl. Mt 20,15. 732 Wachen und beten ist auch das einzige, das die »Werkzeuge« vor der Sünde bewahrt, vgl. HA, (Nr. 15), 41. Der Aufruf ergeht immer wieder, vgl. HA, (Nr. 16), 42 passim.

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Zusammenfassung und Auswertung Der fulminante Einstieg dieser allerersten Aussprache Ursula Meyers (»Ich lache aller Anfechtungen, die [. . .] losstürmen« [5,1f.]) nimmt gleich das Hauptthema auf, das im folgenden entfaltet wird: die Jesus-Liebe. Die Aussprache verfährt sowohl assoziierend als auch argumentierend. Im ersten Hauptteil folgt eine Meditation über die vom Herrn ausgehende und die ihm geltende Liebe. Ein Wort des Herrn selbst – hier im Bild des Hirten – leitet über zum zweiten paränetischen, von Mk 1,17parr. und Lk 5 motivierten Hauptteil. Die »Kinder der Liebe« werden hier mit den Jüngern identifiziert, die Jesus zu Fischern machte. Auch hier schließt sich wieder ein bestätigendes und bekräftigendes Wort des Herrn bzw. des »Fürsten der Liebe« an. Die Schlussparänese baut auf Mt 20 auf und endet mit der Ermahnung zum Wachen und Beten. Deutlich wird schon in dieser allerersten Aussprache Ursula Meyers, dass ihr wichtigster Traditionsstrom die Bibel selber ist. Ihre Reden sind sprachlich an das biblische Wort gebunden. Sie nehmen es wörtlich auf oder paraphrasieren es. Die gehäuften Imperative sind eine syntaktisch-grammatische Besonderheit der Aussprachen aller »Werkzeuge« und belegen ihre appellative Grundfunktion. Zentrale Intentionen der Aussprachen sind in der Regel das Belehren, Ermahnen und Trösten. Zu diesem Zweck werden die Hörer und Hörerinnen auch immer wieder direkt angesprochen und in die Kommunikation mit einbezogen. Direkte Anredeformen, Ausrufe und rhetorische Fragen erzeugen zudem eine suggestive Wirkung. Deutlich wird schon bei dieser ersten Aussprache Meyers, dass ihre Inspirationsreden der Textsorte der Predigten am nächsten kommen. Die Aussprachen Ursula Meyers und der anderen »Werkzeuge« reproduzieren gehörtes oder gelesenes Bibelwort. So erstaunt die Reaktion von Schultheiß Frisching nicht, als ihm am 28. Februar 1720 eine Aussprache Rocks überbracht wurde. Frisching las die Aussprache aufmerksam durch und meinte daraufhin: »ihre Prediger sagen ihnen das auch«.733 So wie Ursula Meyer in Ekstase verkündigt, haben Erweckungsprediger zu allen Zeiten gesprochen, nämlich assoziativ, biblische Bilder aufnehmend, verarbeitend und neu verknüpfend. Der Gedankenfortschritt entwickelt sich im Folgen der Assoziationen. Die schon in der allerersten Aussprache Meyers bezeugte innige Jesusliebe erfährt in den folgenden Aussprachen manche Vertiefung und Konkretisierung. Im einzelnen benutzt Ursula Meyer verschiedene kraftvolle Bilder und Ausdrücke zur Bezeichnung für Jesus Christus. Diese zeugen von einem persönlicheren und leidenschaftlicheren Verhältnis als zu Gott. Während Gott vornehmlich im Bild des Vaters, Schöpfers und züchtigenden Geistes erscheint, der weiß, was er seinen Kindern zutrauen kann, ist Jesus der »Seelen733 XXXIX. Sammlung (1786), 183.

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hirt« und »Seelenfreund«.734 Er ist der »Sohn der Liebe« und der »Liebesgeist«.735 Wie im Pietismus allgemein üblich kann Ursula Meyer ihn auch als »o du süsser JEsu«736 ansprechen oder als »de[n] Schönste[n] unter den Menschenkindern«737 bezeichnen. Er ist »derjenige, der bald, bald, bald in einem sanften Liebes=Sausen erscheinen und aller seiner Kinder Herzen damit anblasen und erfüllen wird«.738 Er ist das »sanfte Liebeslicht«,739 das in den Herzen aufgehen soll. Allein durch ihn geschieht Errettung. Auf ihn bezieht sich Ursula Meyer und zwar in seiner Funktion, Menschen aus ihrer Gottesferne zu befreien, da er selbst die ewige Liebe verkörpert. Gott kann bei den Inspirierten zwar auch einmal als »liebreiche Mutter«, die einen an die Brust drückt und in deren Armen man Ruhe findet (vgl. I Thess 2,7), erscheinen, doch noch in derselben Aussprache wird zum Schluss wieder zum Bild Gottes als Vater gewechselt, dessen Treue geglaubt wird.740

4.2.3 Vertiefung der Jesus-Liebe zur erotischen Christus- und Brautmystik Paul Alverdes unterschied zwei Wege, auf denen der Mensch die Vereinigung mit Gott immer wieder suchte. Der eine führte über den Verstand und der andere über das Gefühl. Letzterer bedürfte besonders der Bilder und Gleichnisse, wobei der unio mystica »kein anderes Gleichnis aus der empirischen Welt so sehr entsprach als das der liebenden Vereinigung [. . .].«741 So wurde der Bildkomplex der sinnlichen Liebe zur treffendsten Metapher für das Erleben der Gefühlsmystiker. Da nun eben nicht Gott-Vater, sondern der Sohn leibhafter Mensch geworden war, richteten sich die dem Hohelied entlehnten Bilder der Geschlechterliebe an ihn. »Denn der Eros bedarf des Leibes.«742 Traugott Stählin ging noch hinter das Hohelied zurück und sah die Wurzeln für die Interpretation der unio mystica als Verbindung der Seele mit dem himmlischen Bräutigam »[. . .] in der menschlichen Ursehnsucht nach der Verbindung des Auseinandergebrochenen, nach der Aufhebung des Fragmentarischen [. . .].«743 734 HA, (Nr. 2), 9, (Nr. 19), 48 passim u. (Nr. 5), 18. Zur nicht auf den Pietismus beschränkten Vorstellung von Christus als Seelenfreund vgl. Langen, Wortschatz, 305. 735 HA, (Nr. 17), 44 u. (Nr. 21), 53. 736 HA, (Nr. 8), 26. 737 HA, (Nr. 4), 14. 738 HA, (Nr. 21), 53. Vgl. Joh 20,22. 739 HA, (Nr. 10), 33. 740 Vgl. Wohl und Weh (1719), 207. 741 Paul Alverdes, Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, München 1921, 15f. 742 Ebd., 17. 743 Stählin, Dichtung, 61.

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Ursula Meyer interessiert primär der auferstandene, idealisierte Christus. Wie die Frau sich zum Mann verhält, so verhält sich die Seele zu ihrem Heiland.744 Es gilt, den eigenen Willen unter seinen Liebes-Willen zu stellen.745 Der Seelenhirte verlangt Gehorsam, denn: »Wer da sagt, er liebe JEsum, und ist Ihm nicht gehorsam, der ist ein Lügner.746 Der Gehorsam und Liebe sind mit einander so verbunden, daß keines ohne das andere seyn kan: wer liebet, der ist gehorsam; wer nicht gehorsam ist, der liebet nicht. Ein Weib kan nicht zu ihrem Mann sagen: ich liebe dich! wenn sie ihm nicht gerne will unterworffen seyn und gehorsamen. Also auch eine Seele, die da saget, sie liebe ihren Heyland, muß ihren Willen ganz unter seinen biegen, wann es ihr schon sauer wird, wann sie schon bittere Thränen darüber vergiesset; es hilfft nichts darvor, wer die Liebe des Bräutigams geniessen will, muß unter Ihn den ganzen Willen biegen und brechen, so oft Er etwas will, das Ihm zuwider ist; sie wird auch keine Ruhe haben eine Seele, die sich nicht beständig beuget unter seinen Liebeswillen. Denn weil seine Liebe ihr innige Freude machet, so wird sie, um diese Liebe zu bewahren und zu erhalten, ihren Willen so gerne brechen, und der Bräutigam wird sie nur desto lieber haben, wann Er siehet, daß sie offt Thränen vergiesset, und dennoch alles nicht achtet, es mag sie so sauer ankommen als es will, so sie um seiner Liebe willen gern alle eigene Liebe fahren lässet.«747

Um ihre Beziehung zu Jesus Christus auszudrücken, verwendet Ursula Meyer immer wieder die aus dem Hohelied stammende Terminologie von Bräutigam und Braut. Christus ist wie schon bei den Inspirés der »Bräutigam«,748 und die einzelne Seele ist die Braut. Alverdes stellte fest, man könne sich darauf verlassen, »wo immer in der bewegten Geschichte zumal der späteren protestantischen Kirchen eine neue Sekte, ein Kreis von Abwegigen und Schwärmern sich bildet, [. . .] der Bilder- und Formelschatz der cant. nicht allzuweit ist.«749 Die Bilder, die Ursula Meyer verwendet, sind aber auch im Zusammenhang mit den sowohl im Protestantismus als auch im Katholizismus im ganzen 17. Jahrhundert schon auflebenden mystisch-erotischen Motiven zu sehen.750 Schon für Johann Arndt war das erste Kennzeichen der »wahren Liebe« die Unterwerfung des eigenen Willens unter jenem des Geliebten.751 744 Vgl. Jes 54,5; Mk 12,25; Lk 20,36; Apk 14,4; Gal 3,28; Mt 25,1ff. 745 Zur Aufgabe des eigenen Willens als Bedingung der Hingabe an Gott vgl. Langen, Wortschatz, 112–117. Vgl. Arndt, WChr II, 6, 5: »Denn des Menschen Wille verderbt den Menschen immer weiter und weiter, Gottes Wille aber bessert immer mehr und mehr« u. 7: »Der Eigenwille ist nichts anderes, denn der Abfall von Gott.« 746 Vgl. I Joh 2,4. 747 HA, (Nr. 2), 9f. Vgl. Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), 787–799 [»Von der geistlichen Vermählung«]. 748 Vgl. etwa Alarm=Geschrey (1712), 231: »Herr Jesu / der du der Bräutigam der Erde bist [. . .]«. Vgl. auch HA, (Nr. 131), 316 passim; HA, (Nr. 14), 38f.: »Seelen=Bräutigam«. (Nr. 14), 39: »himmlische[n] Bräutigam«. (Nr. 131), 314: »Blut=Bräutigam«. 749 Alverdes, Eros, 18. 750 Vgl. ebd., 44. 751 Vgl. Arndt, WChr II, 24, 16: »Damit du aber ein Zeichen dieser Liebe haben mögest, so

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Die metaphorische Deutung des Hohelieds auf die Liebe zu Gott bildet einen sehr langen, auf die Zeit der Kanonisierung des Hohelieds selbst zurückreichenden Traditionsstrom. Christlicher Allegorese zufolge handelte das Hohelied vom Verhältnis der einzelnen Seele oder der Kirche zu Christus als ihrem Bräutigam. Diese Brautmystik und ihre dem Hohelied entlehnten Bilder finden ihren Höhepunkt bei Bernhard von Clairvaux in seinen sermones in cantica canticorum.752 Hier wird die Braut erstmals nicht mehr wie bisher mit der Kirche, sondern mit der einzelnen Seele identifiziert. Heinrich Seuse, dessen Bilderreichtum ebenfalls unzählige Vorstellungen aus dem Umfeld der sinnlichen Liebe enthielt, entwickelte wie Bernhard von Clairvaux eine große Anziehung für Jesu Wunden und für dichterische Schilderungen des Trinkens und Saugens von Jesu Blut und vom Baden darin. Doch darf dies nicht verwundern, denn nach Alverdes war Seuse »abgesehen hier von der dichterischen Leistung als solcher« auch kein »Vertreter ausgesprochener Männlichkeit«.753 Blut und Wunden Jesu sind für Ursula Meyer kein Thema, obschon Alverdes zufolge eine »gefühlsmäßige, aesthetische Betrachtung des schönen oder des leidenden Gottes, und das tränenreiche Beklagen seiner Wunden und seiner Leiden eine gewisse weibliche Grundstimmung der Seele voraussetzen.«754 Die Aussprachen Ursula Meyers zeigen, dass zeitgebundene traditionelle Rollenmuster in die Beziehung der Geschlechter zu Christus einflossen. In Meyers inspirativ empfangenen Reden wird die untergeordnete Position von Frauen aufrecht erhalten. Sie setzen in dieser Hinsicht also gerade keine emanzipatorischen Impulse frei.755 An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert stellte Alverdes »einen letzten späten Höhepunkt religiöser Erotik«756 fest, ehe der Rationalismus sie in den Hintergrund treten ließ.757 Im mystischen Spiritualismus wurde sie weiter rezipiert. Bei Jeanne-Marie de Guyon (1648–1717) ist sie anzutreffen, ebenso wie bei Juliane von der Asseburg, Zinzendorf,758 Tersteegen und auch beim merke diese vier Eigenschaften der wahren Liebe: 1) Unterwirft sich die Liebe dem Willen des Geliebten.« So schon Theologia Deutsch, hg. v. Gottlob Siedel, Gotha 1929, 1, 131ff; 32, 167. 752 Vgl. Eckart Otto, Art. Hohes Lied, in: RGG4 3 (2000), 1838–1840, hier 1840. 753 Alverdes, Eros, 22. 754 Ebd. 755 Vgl. oben S. 18. 756 Ebd., 25. 757 Ein letztes spätes Aufblühen begegnet uns in der herrnhutischen Sichtungszeit. Vgl. FranzHeinrich Philipp, der abmildert und findet, »die hochgemuthe[n] Sprache jener Jahre« sei »verständlich und aus der Verehrung des Hohenliedes und seiner Bildersprache erklärbar.« Ders., Zinzendorf und die Christusmystik des frühen 18. Jahrhunderts, in: Gerhard Müller/Winfried Zeller (Hg.), Glaube Geist Geschichte. FS Ernst Benz, Leiden 1967, 339–343, hier 341. 758 Vgl. dazu Gerhard Reichel, Zinzendorfs Frömmigkeit im Lichte der Psychoanalyse (1911), in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 2, Bd. XIII: Zweiter Sammelband über Zinzendorf, hg. v. Erich Beyreuther/Gerhard Meyer, Hildesheim/New York 1975, 765–960, hier 841–853 [Jesus als Bräutigam].

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väterlichen Freund Ursula Meyers: Hochmann von Hochenau. Dieser unterschied in Aufnahme von Anschauungen Jane Leades bzw. v. a. Jakob Böhmes759 fünf Arten von Ehe: »1. die privilegierte Unzucht zur Befriedigung sinnlicher Lust [. . .]; 2. den ehrbaren und moralischen heidnischen Ehestand zwischen Nichtbekehrten [. . .]; 3. die christliche Ehe zwischen Wiedergeborenen [. . .]; 4. die jungfräuliche Ehe mit dem rein geistlichen Zweck, Gott in Christus zu dienen [. . .]; 5. die Verlobung einer Seele an Gott und Christus durch ein Gelübde beständiger Keuschheit, das aber keine Ähnlichkeit mit katholischen Zwangsgelübden hat. Aus dieser Ehe werden geistliche Kinder erzeugt.«760 Diese fünfte Eheform ist, »wo sich eine Seele Gott und dem Lamm ganz allein verlobet und nur Jesum für ihren wahren Mann erkennet, und die Seelen, welche sich so ganz Christo zur Braut verlobet und konsekrieret haben, werden den allerhöchsten Grad der Glorie in dem Reich Christi erlangen, denn sie haben die Verheissung usw.«761 Sowohl Johann Henrich Reitz als auch Gottfried Arnold, der das Hohelied übersetzte und es seinen Poetischen Lob= und Liebes=Sprüchen hinzufügte, waren der Ansicht, dass Frauen für das Göttliche besonders empfänglich seien.762 Frauen fiele es leichter als Männer, sich in die Braut-Bräutigam-Metapher einzufühlen. Auch Alverdes konstatiert, dass »der Bestand der cant. und die Auslegungen derselben«, da Christus ein Mann sei, »der Sehnsucht weiblicher Herzen unmittelbarer und ursprünglicher entgegenkomme«.763 Reitz meinte, die Gründe kämen »von der Weibspersonen zärterem Affekt, von ihrer Liebe zu einem Ober-Haupt, von ihrem Gehorsam und Unterwürfigkeit an solches Haupt [. . .].«764 Jeannine Blackwell kommentiert diese Aussage folgendermaßen: »Mit anderen Worten, die angelernten Geschlechterrollen der Unterwürfigkeit und weiblicher Heterosexualität helfen den Frauen, die Ich-DuBeziehung der Mystik und des Hohen Lieds besser nachzuvollziehen.«765 Ganz wie Hochmann von Hochenau sieht Ursula Meyer in der umfassenden Hingabe an Christus ihr größtes Glück. Als Inspirierte und insbesondere noch als prophetisches »Werkzeug« entschied sie sich für die letzte, »vollkommene« Form der von Böhme beeinflussten Art von Ehe.766 Die innige Ver759 Vgl. Renkewitz, Hochmann, 358. 760 Ebd., 346. 761 Pless, Separatisten, 9. 762 Gottfried Arnold (Erste Liebe, VI, 2: 85) fand, dass Gottes »überschwengliche Barmhertzigkeit an denen zwar nach der Natur schwachen / aber auch ofte nach der Gnade starcken Werckzeugen« anzuerkennen und gar zu »rühmen« sei. 763 Alverdes, Eros, 24. 764 Reitz, Historie, Bd. 1, Zuschrifft, 5. 765 Jeannine Blackwell, Herzensgespräche mit Gott. Bekenntnisse deutscher Pietistinnen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, München 1988, 265–289, hier 269. 766 Vgl. Jonathan G. Andelson, The Gift to be Single: Celibacy and Religious Enthusiasm in the Community of True Inspiration, in: Communal Societies 5 (1985), 1–32, hier 5ff.

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bundenheit mit Christus lässt für Ursula Meyer alle anderen menschlichen Bindungen sekundär erscheinen;767 sie nivelliert aber keineswegs geschlechtsspezifische Zuschreibungen. 4.2.4 Christus in nobis Ursula Meyers Aussprachen beziehen ihre Bezeichnungen für Jesus Christus wie aufgezeigt aus verschiedenen Wortfeldern. Jenes Wortfeld, das mit Abstand am häufigsten benutzt und auch mit der Brautmystik verknüpft wird, ist bestimmt von der Lichtmetaphorik, zu der die Metaphern »Sonne« und »Strahlen« gehören.768 »Was für liebliche Strahlen gehen aus den Augen des ewigen Bräutigams!«769 Nur »mit eingekehrten Glaubens=Augen«770 sieht man Christus, der »im verborgenen, in ihrem tiefsten Grunde«771 ist. Wie schon Samuel König sah Ursula Meyer »de[n] Kern der Schrifft und des Christenthums« im »Christus in uns und wir in Christo / und in Demselbigen Fleisch und Welt besiegen«.772 Im Glauben, »der die Welt überwindet / und zum Sieg ausbricht in der neuen Creatur«, bestand König zufolge »der Weg des Friedens«.773 Auch für Ursula Meyer ist die Welt ein Ort des Kampfes zwischen Licht und Finsternis, dessen Ausgang von vornherein feststeht: »Wenn sich das Licht wird aufmachen, mit der Finsterniß einen Streit anzufangen, wie wird das dunkle bestehen können, wenn ein einiger Lichtesstrahl alles entdecken wird, was die dicke Finsterniß bedecket hat?«774

Die Ausdrücke Licht und Sonne sind tragende Lexeme für Christus.775 Die Gläubigen sind Kinder des Lichts (vgl. Mt 6,22; Lk 11,36; Joh 12,36.38a; Eph 767 Vgl. Renkewitz, Hochmann, 359. So war schon für Arndt (WChr II, 24, 16) das 2. Kennzeichen wahrer Liebe: »Verläßt die wahre Liebe alle andere Freundschaft, welche ihrem Geliebten zuwider ist.« 768 Vgl. zur zentralen Bedeutung der Lichtmetaphorik schon bei Arndt: Hermann Geyer, Verborgene Weisheit. Johann Arndts »Vier Bücher vom Wahren Christentum« als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie III (AKG 80/III), Berlin/New York 2001, 231–336. 769 HA, (Nr. 65), 145. 770 HA, (Nr. 59), 131 passim. 771 Ebd. »Ich habe meinen Sitz in dem Innersten der Herzen meiner Kinder [. . .]«, HA, (Nr. 88), 201. Vgl. auch HA, (133), 321: »Ich fliesse ein in ihr innerstes«. (Nr. 149), 367: »[. . .] um sie in den innersten Seelengrund einzuführen, allwo Ich meinen Sitz und Wohnung habe«. (Nr. 151), 371: »Ich bin immer mitten in euren Herzen in der Zeit der Angst!« So schon Jakob Böhme, De Regeneratione: oder von der neuen Wiedergeburt, 1622, in: Der Weg zu Christo, 4,7,5. »Ein Christ aber hat keine Secte [. . .]; er hat nur eine einzige Wissenschaft, die ist Christus in ihme.« Zit. nach Benrath, Lehre, 606. 772 König, Weg des Friedens, 7f. 773 Ebd., 9. 774 HA, (Nr. 29), 71. Zum Sieg des Lichts vgl. auch HA, (Nr. 29), 72. Zu Christus als Licht, das die Finsternis vertreiben wird (vgl. Joh 1,5), vgl. schon Arndt, WChr IV, I, 1, 22. 775 Vgl. HA, (Nr. 127), 300: »[. . .] wir folgen dir als unserer Sonne und unserm Lebenslicht.«

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5,8), deren Ursprung das ewige Licht ist.776 Die Licht-Metaphorik ist für Ursula Meyer Ausdruck des Sieges Christi. Der Kampf zwischen ihm und der Finsternis findet aber nicht bloß außerhalb des Menschen statt, sondern wird von Ursula Meyer mitten in den einzelnen Menschen hinein verlegt, in sein Herz. Mikro- und Makrokosmos entsprechen einander. Nicht nur in der Welt, sondern im einzelnen Herzen wächst entweder Licht oder Finsternis.777 So kann Ursula Meyer Gott ansprechen und dabei den Bereich des menschlichen Herzens und den der Schöpfung bruchlos nebeneinander verwenden: »Wir danken dir, o du Schöpfer und Erhalter aller geschaffenen Dingen! daß du Licht und Finsterniß in den Herzen deiner Kinder voneinander geschieden hast: daß du deiner Sonne befohlen hast, daß sie über der neuen Erde aufgehe, um deine neue Schöpfung zu umleuchten und sie mit ihrem Lichte zu umgeben.«778

Er ist das »verborgene[s] göttliche[s] Licht«, das sich mitten im menschlichen Herzen befindet.779 Er offenbart sich im Herzen des Gläubigen,780 in dem er zu ihm spricht: »Ich bin dein, und Du bist mein! Ich habe einmal angefangen deine Seele zu reinigen, und dich mir zu eigen zu machen; wer ist nun, der dich wiederum aus meiner Hand reisset?«781 Das Herz Jesu wiederum ist der einzige Ort, in dem seine Kinder vor den baldigen angekündigten Schrecken in Sicherheit sein werden.782 In HA, (Nr. 115), 272 wird der Ausdruck Licht für die Vorsteher der Gemeinde benutzt: »Schenke auch allen denen, die du erwehlet und deiner Gemeinde zu Lichtern vorgesetzet hast, die Gnade [. . .].« 776 Vgl. HA, (Nr. 108), 254. So schon Arndt, WChr II, 29, 3: »Die Sonne [. . .] erinnert dich des ewigen Lichtes, welches ist Christus und sein göttliches Wort, das soll deiner Seele Licht und Leuchte seyn, daß du sollst als ein Kind des Lichtes wandeln.« II, 30, 1 u. 5; König, Weg des Friedens, 9: »Dieser inwendige aus GOtt gebohrne Licht=Leib der Kindern des Lichts [. . .] giebet Ströme des lebendigen Wassers von sich«. Vgl. Joh 7,38; Apk 22,1. 777 Vgl. HA, (Nr. 121), 286. 778 HA, (Nr. 108), 253. 779 HA, (Nr. 109), 257. Vgl. HA, (Nr. 80), 171: »das Licht in ihnen suchen«. Trotz der Ähnlichkeit mit den Quäkern in der Ausdrucksweise, trennt sie von Ursula Meyer und Hochmann deren Eschatologie. Vgl. Renkewitz, Hochmann, 360: Hochmann »läßt nicht den Geist Christi in dem ›inneren Licht‹ aufgehen, sondern empfindet den Geist als etwas, das an den Menschen herantritt. Vor allem trennt ihn aber seine Eschatologie von den Quäkern [. . .].« 780 HA, (Nr. 64), 143. (Nr. 134), 326: »Ich offenbare mich in dem innersten des Herzens«. (Nr. 138), 342. Ganz in der Nachfolge Taulers stehend ist das Herz Ort der Begegnung mit dem Bräutigam. HA, (Nr. 59), 132: »Ich bin Kraft und Wesen, und kan mich nirgend anders, als in dem innersten Grunde der Seelen offenbahren.« Vgl. HA, (Nr. 137), 335: »in deiner dunkeln Herzenshöle auf die Offenbarung des ewigen Lichtes harren.« Vgl. zum »dunkle[n] deiner Herzenshöle« auch HA, (Nr. 137), 338. Nach Arndt (WChr II, 28, 4) offenbart sich Gott »in der gläubigen, liebhabenden Seele; je mehr das Herz von der Welt abgewendet wird zu Gott, desto mehr vereinigt sich Gott mit der Seele [. . .].« WChr III, 15, 5: »Wer mich liebt, dem will ich mich offenbaren, Joh. 14,21. Diese Offenbarung geschieht durch Eröffnung des Verständnisses, durch Erleuchtung des Herzens [. . .].« 781 HA, (Nr. 134), 324. 782 Vgl. HA, (Nr. 17), 45.

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Auch in Johann Arndts Vier Bücher[n] von Wahrem Christenthum nimmt das Herz eine herausragende Stellung als »der Ort und das Organ der Verinnerlichung«783 ein, die seine »geistliche Kernbotschaft und schriftstellerische Hauptmotivation und -intention«784 ist. Nach Arndt ist Gottes Sohn Mensch geworden, »auf daß er uns ein ganz neues Herz machte, Gottes Liebe einpflanzte [. . .] und das alte fleischliche Herz hinwegnähme, und sich mit uns vereinigte, daß wir mit ihme eines Herzens [. . .] würden [. . .].«785 Auch hier offenbart sich Christus in der Seele des Gläubigen.786 Nur ein innen im Herzen gefestigter und geprüfter Glaube ist wahrer christlicher Glaube. Grundlage für diese Betonung des Herzens sind biblische Texte wie etwa Lk 17,21 und Mk 7,14–23. Als Rock und Mackinet am 25. Juli 1717 mit der Behauptung konfrontiert wurden, Jesus müsste durch die Predigt zum Menschen kommen, replizierten sie: »Einen durch ihre Predigt von aussen in uns kommenden JEsum verlangten wir nicht / sondern er müste von innen heraus gebohren werden.«787 Auch Ursula Meyer betont immer wieder, dass der Heiland seine Kinder »gern allein, eingekehrt in ihre Herzen« hat, wo er seine »freundliche Stimme hören« lasse.788 Das wahre Glück besteht darin, ihm das Herz zu eröffnen.789 So fordert Christus die Menschen auf, in ihrem Grund »immer tiefer und tiefer zu graben« und bloß nicht nachzulassen.790 Es gelte, das Herz auszuleeren791 und zu 783 Behjat, »Wahres Christentum«, 119. 784 Ebd., 122. Vgl. auch Schneider, Arndt und die Mystik, 83. 785 Arndt, WChr II, 33, 12 [Hervorhebung im Original]. 786 Vgl. Arndt, WChr II, 27, 3: »Denn in derselben Seele wird Christus recht erkannt [. . .]«. Vgl. Joh 14,21. Vgl. dazu: Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. v. Ferdinand Vetter, 1910, 58 [30–34]. 787 Wohl und Weh (1719), 170. 788 HA, (Nr. 5), 17f. Vgl. die »Unterweisung wie man in sich kehren soll« anlässlich der Untersuchung auf der Ronneburg vom 23.11.1717: HA, (Nr. 137), 338–341. Vgl. auch HA, (Nr. 99), 229. (Nr. 151), 371: »die Stimme meines Freundes in meinem innersten«. Vgl. Arndt, WChr III, 15, 3: »so du Gott herzlich lieb hast, wirst du seine Stimme in dir hören. Denn wer mich liebt, spricht der Herr, Joh. 14,23., der wird mein Wort hören, nicht allein in äußerlichen Versammlungen der Kirchen, sondern in dem rechten Tempel des Herzens. Denn wenn es daselbst nicht gehört wird, wird das auswendige Hören nicht viel Frucht schaffen.« Vgl. Joh 10,27. Auch Poiret fordert seine Leser auf, »sich der inneren Sammlung hinzugeben, in Stille vor Gott hinzutreten«, Schering, Renaissance der Mystik, 60. Zur Notwendigkeit des in der Mystik verbreiteten In-sich-Gehens vgl. Langen, Wortschatz, 153f. 789 Vgl. HA, (Nr. 82), 179. 790 HA, (Nr. 132), 321. J. A. Gruber und J. C. Gleim schieden als »Werkzeuge« aus, weil sie sich weigerten »inniger ins Herz zu kehren und tiefer zu graben.« Rock, Zweytes Tag=Buch, in: XVI. Sammlung (1772), 176. 791 Vgl. HA, (Nr. 62), 136: »[. . .] ihre Herzen ganz auszuleeren, damit sie wesentlich möchten angefüllet werden.« Vgl. auch HA, (Nr. 72), 154: »ausgeleerte und Mir allein offene Herzen«. Er hat »gern nackete und entblößte Herzen«, HA, (Nr. 52), 122. Vgl. auch HA, (Nr. 97), 221. So schon Arndt, WChr II, 28, 4: »Je leerer das Herz von der Weltliebe, je mehr es Gott mit seinem Licht und Trost erfüllet.«

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reinigen792 und selbst »nichts seyn wollen als ein pures Nichts«,793 um allein ihm Platz zu schaffen,794 »denn das Herz ist ein Ort, ein Zimmer und ein Tempel,795 da die Seele mit ihrem Heyland ganz geheim und allein umgehen muß [. . .].«796

Das Herz ist der Ort, in dem das Liebesgespräch Christi mit der einzelnen Seele stattfindet.797 Er ist »ein freundlicher Liebhaber«, der sie reinigen wird, um sich anschließend mit ihr in Liebe zu vereinigen.798 Seine Liebe ist noch größer als die der Menschen: »Er kan uns noch weniger lassen als wir Ihn«,799 ja: »Er will in unsern Herzen aufgehen, da dörfen wir uns nur zu Ihme hinein wagen, und daselbst Licht, Leben, Liebe, Glauben, Hoffnung, Gedult holen; es ist alles in grossem Ueberfluß da, wenn wir schon viel nehmen werden, so wird die Quelle doch noch immer voll seyn.«800

Ursula Meyer nimmt hier Gedanken auf, die sich auch bei Böhme nachweisen lassen, der größeren Wert auf das Geborenwerden Christi im einzelnen Menschen legte als auf die Sündenvergebung durch Christus.801 Das Herz wird zum besonderen Bereich Christi. Es wird zum Ort des Heilsgeschehens. Im Innern des Menschen ist Christus zu suchen, zu finden, zu begegnen.802 Ihm wird alles Dunkle weichen müssen, durch ihn wird alles Verborgene ans Licht gebracht803 – »auch das innerste aller Herzen«.804 Christus der Wiederbringer wird als Licht die Seinen in ihren »ewigen Lichtes=Ursprung einführen«.805 Hier werden sie »reines Licht« in seinem Licht sein und bleiben.806 792 Vgl. HA, (Nr. 72), 155: »Lasset es euch gesagt seyn, und reiniget eure Herzen [. . .]«. (Nr. 23), 56f. Vgl. auch den Bericht des Pfarrers Schlierbach oben Kap. III. 1.1.2. 793 HA, (Nr. 34), 88. Zum mystischen Terminus »Nichts« als Ziel menschlichen Seins vgl. Langen, Wortschatz, 148. 794 Vgl. HA, (Nr. 34), 86. 795 Vgl. II Kor 6,19; Eph 2,22. 796 HA, (Nr. 5), 18. Das Herz ist seine »heilige[n] Wohnung«, HA, (Nr. 34), 86. Vgl. auch Arndt, WChr III, 14 zur christlichen Seele als »Wohnung Gottes«. 797 Vgl. HA, (Nr. 5), 18. Vgl. auch Arndt, WChr II, 39: »Ein Gespräch der gläubigen Seele mit Gott«. Ebd., 11: »Summa, die ganze heilige Schrift ist nichts anderes, denn ein Gespräch der gläubigen Seele mit Gott.« Vgl. das Gespräch zwischen der Seele und Jesus in: Freylinghausen (Hg.), Geistreiches Gesangbuch (1704), 377, 7. 798 HA, (Nr. 122), 288. Vgl. auch Arndt, Paradiesgärtlein, 2. Theil, 5. Gebet, wo Jesus als »Liebhaber meiner Seele« bezeichnet wird. 799 HA, (Nr. 5), 19. 800 HA, (Nr. 5), 20. 801 Vgl. Richard H. Grützmacher, Wort und Geist. Eine historische und dogmatische Untersuchung zum Gnadenmittel des Wortes, Leipzig 1902, 198. 802 Vgl. HA, (Nr. 135), 330. So schon Arndt, vgl. Behjat, »Wahres Christentum«, 141. 803 Vgl. HA, (Nr. 46), 113. 804 HA, (Nr. 31), 79. Vgl. auch (Nr. 46), 111. 805 HA, (Nr. 108), 254. 806 HA, (Nr. 108), 254.

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Die ausgesprochen persönliche und emotionale Verbundenheit mit Christus, die sich in der Betonung des Christus in nobis ausgestaltet, hat weit reichende ekklesiologische Konsequenzen. Schon Samuel König warf den Pfarrern vor, sie »predigten wohl Christum für uns / aber wenig Christum in uns«.807 Diese Konsequenzen sollen als nächstes untersucht werden.

4.3 Die Laodiceische Kirche oder: »sectirische Wälle und Mauern« Einer der Hauptvorwürfe, die gegen die Inspirierten erhoben wurden, lautete, dass sie die Leute »halßstarrigten«808 und dazu verleiteten, den regulären Gottesdienst nicht mehr zu besuchen. Die Inspirierten entfremdeten sie damit auch von der Teilnahme an den Sakramenten, hetzten sie gegen die Pfarrerschaft auf und säten in den Gemeinden Zwietracht. Es hieß, sie »verachteten die Gnaden=Mittel / das Wort Gottes / und die Heilige Sacramenta.«809 Die Inspirierten pflegten darauf zu replizieren, dass sie die Sakramente ganz im Gegenteil noch höher als allgemein üblich schätzten. Es ginge ihnen nicht darum, gegen diese selbst zu zeugen, sondern gegen ihren Missbrauch.810 So fragt Christus in einer Aussprache Rocks vom 6. April 1717: »Was soll Ich garstige Schweine, bellende und beissende Hunde, grimmige Löwen, brummende Bären, reissende Wölfe, giftige Schlangen, listige Füchse mein Abendmahl geniessen lassen? Sol Ich meine Kinder unter einer solchen Gemeinschaft dulden? Nein! Ihr Mahl ist mir ein Greuel. Solte ich in ein solch unrein Hertz eingehen? Solte Ich mich geniesen lassen von einem solchen stinckenden Mund, woraus Fluchen, Schwören, Zancken, Streiten, Lügen und Betriegen gehet? Solte Ich meine Kinder und des Teufels Kinder aus einem Becher trincken lassen? [. . .] Ich habe gesagt zu meinem Volck, und sage es noch: Gehet aus von ihnen, und sondert euch ab, und rühret kein Unreines an!811 Und diß ist eben die gröste Unrichtigkeit, sich vermengen mit dem Kelch der Huren, welche wider den HErrn gehuret und noch huret.«812

Die Aussprachen von Gruber, Rock und Gleim strotzen nur so von vernichtender Kirchenkritik, die in der Infragestellung ihres Alleinvertretungsanspruchs gipfelt.813 Sie verwerfen jegliche konfessionelle Polemik und über807 König, Weg des Friedens, 6. 808 Wohl und Weh (1719), 170. 809 Ebd. 810 Vgl. ebd. 811 Vgl. Jes 52,11; II Kor 6, 17; Apk 18,4. 812 Aussprache Rocks vom 6.4.1717 in Kelsterbach in: Zugabe zu V. Sammlung (1740), 7–11, hier 9. 813 Vgl. dazu das Urteil des ehemaligen Marburger Theologieprofessors Johann Henrich Hottinger, das primär auf der Lektüre des Geschreys zur Mitternacht beruhte. Hottinger »habe auch nicht gefunden / daß sie [sc. die drei »Werkzeuge« Gleim, Gruber und Rock; IN] den Stand der Obrigkeit wollen auffgehoben wissen / oder auch das nach Christi und den Aposteln Einsetzung

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kommene Dogmatik und haben sehr oft Pfarrer als Adressaten. So antwortet Eberhard Ludwig Gruber auf die 42. Frage in seinem Nöthige[n] und Nutzliche[n] Gespräch Von der Wahren und Falschen Inspiration (1716), worin denn der Inhalt der Aussprachen der Inspirierten bestehe: »Darin insonderheit / daß sie / nach Art der alten Propheten / gleichwie gantzen Ländern / Städten und Dörffern / der falsch=genannten Christenheit / also auch einzelen [sic] Personen / und darunter insonderheit denen ungetreuen Hirten und Regenten / Grossen und Kleinen / die ihnen nah=bevorstehende allgemeine und sonderbare Gerichte ankündigen [. . .].«814

Auch Ursula Meyer kündigt das Gericht an, dennoch hebt sich der Befund im Himmlischen Abendschein von der Antwort Grubers ab. Der Himmlische Abendschein überliefert nämlich weder eine einzige an einen amtierenden Pfarrer noch an Länder, Städte und Dörfer gerichtete Aussprache. Es findet keinerlei gegen die katholische Kirche oder die Sakramente gerichtete Polemik statt.815 Im Sommer 1715 kommt Ursula Meyer in einer Aussprache auf den sonst so exponierten Personenkreis christlicher Amtsträger zu sprechen und deutet Hl 2,15, wo Füchse den Reben eines Weinbergs Schaden zufügen, folgendermaßen: Die Füchse aber sind die Pfarrer, die sich hin und herzu schleichen, und die Knospen zu verderben suchen: Ich werde aber meine Hand am ersten an sie legen, Ich werde sie bey ihren langen schmeichlenden Schwänzen ergreiffen.«816

eingesetzte Lehr= und Predig=Amt; wol aber / daß sie Oberkeitlicher Personen / Lehrer und Prediger / Handlungen hart bestrafft: da dann Oberkeitliche und Geistliche Personen sich genau in der Forcht GOttes zu prüfen haben / wie weit sie mit Recht getroffen sind oder nicht.« HISTORIA FACTI oder Kurtze und wahrhaffte Erzehlung / Was sich mit Joh. Henrich Hottingers / Gewesenen Professoris Theol. & Antiq. Jud. Ordinarii bey der Heßischen Universität zu Marpurg / Theologischen Bedencken von denen Ausserordentlichen Offenbahrungen insgemein und von Einigen heutigen so genannten Jnspirirten insbesonder / Welches er auff wiederholten Hochfürstlichen Befehl auffsetzen müssen / zugetragen. [. . .], o. O. 1717, 15. 814 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 65. 815 Vgl. demgegenüber Ernst Wolf Neun in seinem Brief an einen Herrn Stannarius, in dem er den Sturz des Drachens, des römischen Tiers und der babylonischen Isabel voraussagt: » [. . .] davon aufs künfthige Jahr der Anfang wird gemacht werden.« Vgl. Brief aus Birstein vom 13.9.1716 von Neun an Herrn Stannarius [Forschungsbibliothek Gotha, Sign.: Chart. A 304, Bl. 713f.]. Wolf Ernst Neun († 19.2.1735) war seit 1707 Konrektor an der Lateinschule und Vorsteher der Gemeinde in Birstein und gehörte zu den Protokollanten Rocks. Vgl. Schneider, Rez. zu: Rock, Wie ihn Gott geführet, 255; Thilo Daniel, Johann Michael von Loëns Auseinandersetzung mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Brüdergemeine, in: Goethe und der Pietismus, hg. v. Hans-Georg Kemper/Hans Schneider, Tübingen 2001, 25–43, hier 29f. Zur erwarteten eschatologischen Wende im Jahre 1717 siehe auch oben S. 214 (Anm. 481) und Anhang 2. Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23. September 1715, 2r. 816 HA, (Nr. 39), 101.

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Nur mit der »Laodiceische[n] Kirche«817 – jedoch ohne Berücksichtigung bestimmter kirchlicher Hierarchien und institutioneller Strukturen – beschäftigt sich Ursula Meyer in ihren Aussprachen. Auch sie ist von der Verderbtheit der »lauwarmen« äußeren Kirche und ihrer staatlich geschützten Monopolstellung überzeugt.818 Natürlich propagiert auch sie mit den Inspirationsgemeinden die sichtbare überkonfessionell-philadelphische Gemeinschaft der wahren Kinder Gottes, die in der rechten Sukzession der urchristlichen Gemeinde steht, aber selten benutzt sie die Kirche als Negativfolie, um sich von ihr abzuheben. Ursula Meyer ist allen dogmatischen Fragen gegenüber völlig indifferent. In zwei ihrer Aussprachen, die nun ausschnittsweise betrachtet werden sollen, steht die Ekklesiologie deutlich im Zentrum. Das Moment des Belehrens ist bestimmend. Jesus Christus, der Wiederbringer, wird als Pädagoge geschildert. Er »gieng ihnen die Weg vor, die sie gehen solten:819 Er hinterließ ihnen Lehren, und gab allen denen, die diese Lehren gern annahmen, Macht, daß sie GOttes Kinder werden,820 und aus ihrem Fall wieder aufstehen821 konten. Es haben ihn in den ersten hundert Jahren viele Seelen wesentlich angenommen als ihren Führer und ihren Heyland, und wuchs nach und nach die Gemeine der Christen, daß sie groß wurde. Sobald aber die Kirche Ruhe hatte von ihren Feinden,822 vergassen die Kinder derer, die da wesentlich an Christum geglaubet hatten, daß sie einen wesentlichen823 und lebendigen824 Glauben haben solten, und liessen sich damit genug seyn, daß sie wissen, daß Christus einmal gestorben, und sie, so sie an Ihn glauben würden, das Leben ererbeten: 817 HA, (Nr. 31), 77. Vgl. Apk 3,14–22. 818 Vgl. HA, (Nr. 121), 285: »das verderbliche Gift [. . .], welches bis hieher meine Kirche so jämmerlich verderbet und geschändet hat«. 819 Vgl. Arndt, WChr II, 33, 11: Gottes Sohn ist Mensch geworden, »auf daß er uns ein Exempel des vollkommenen Gehorsams würde [. . .].« 820 Vgl. Joh 1,12; Röm 8,14–16; I Joh 3,1. 821 Vgl. Lk 2,34. 822 Vgl. Dtn 12,10 u. ö. Vgl. dazu Gottfried Arnolds These von der Konstantinischen Wende, die der Kirche Ruhe gebracht und zugleich ihren bis in die Gegenwart andauernden Verfall eingeleitet hätte, in seinem epochalen Werk: Unparteyische Kirchen= und Ketzer=Historie / von Anfang des Neuen Testaments biß auff das Jahr CHristi 1688, Franckfurt am Mayn 1699. – Teil 2: 1700; ders., Erste Liebe, Buch VIII: »Von dem Verfall des Christenthums / vornehmlich unter und nach Constantino Magno von der ersten Lauterkeit«. Vgl. Ernst Berneburg, Das Bild Konstantins d. Gr. in der Kirchengeschichtsschreibung Gottfried Arnolds, Diss. theol. Göttingen 1972 [masch.]. 823 Der häufig bei Ursula Meyer – und auch bei Rock – begegnende alte mystische Terminus »wesentlich« wird fast synonym mit »wahr« und »echt« verwendet. In diesem Sinn begegnet er schon bei den Petersens und bei Tersteegen. »Gott wesentlich zu besitzen, ist das Ziel.« Langen, Wortschatz, 345. Vgl. Johanna Eleonora Petersen, Kurtze Betrachtungen Von der Nutzbarkeit des lieben Creutzes / Wie solches Denen fleischlichen Menschen eine Thorheit und Aergerniße / Denen Glaubigen aber Göttliche Weißheit / und ein heilsames Mittel zur Seeligkeit ist, [. . .], Berleburg 1717, 3f.: »Du ô mein allerliebster Vatter bist die wesentliche Liebe«. 824 Das im Pietismus allgemein gebräuchliche Adjektiv »lebendig« bezeichnet das Gegenteil vom »toten« Glauben, Christentum, Gottesdienst etc. Vgl. Langen, Wortschatz, 35. Vgl. auch den Titel von Gottfried Arnolds Werk »Die Erste Liebe« oben S. 97 (Anm. 77).

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Textanalyse: »J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein [. . .]«

Sie meyneten, ihr Wissen vom Christenthum sey der Glaube, wann sie schon in ihrer alten Geburt und Natur bis an ihr Ende verharreten,825 so werde es ihnen dennoch durch das Blut des Lammes gelingen; lebten also verkehrt in Sünden, beteten die Bilder an, thaten äusserliche Dienste, creuzigten und casteyeten ihre Leiber,826 und thaten vieles, das ihnen kein nütze seyn wird in der Ewigkeit, weilen vor GOtt nichts gilt als eine Neue Creatur.827 [. . .] Allein gleichwie der Antichrist die erste Kirche verdorben hat, [. . .] also kam er auch in die zwey ausgegangene Gemeinden,828 und bildete ihnen ein, daß, weil sie nun ihr so genanntes Wort GOttes rein und lauter unter sich hätten,829 so hätte es mit ihnen keine Noth, sie solten nur fein feste an ihrer Kirchen hangen, und sich auf keinerley Art mehr von derselben und von ihren Lehrsätzen abwendig machen lassen, so werden sie schon behalten werden aus der Stunden der Versuchung,830 die da kommen soll auf dem ganzen Erdboden.831 Da fiengen sie an sicher zu werden, die Heiligung832 zu verlachen und zu verspotten, und meyneten mit ihren Sünden gleich vor das Angesicht GOttes zu kommen: ihre Kinder und Kindes=Kinder haben es bis daher immer ärger833 gemacht, so daß diejenigen nur für einen Spott834 geachtet werden, die da suchen Christo in der Wiedergeburt835 nachzufolgen, und seine Fußstapffen836 zu betreten.«837

In dieser Aussprache Ursula Meyers vom 25. Juli 1715 wird in Kurzform ein zusammenfassender Abriss der Kirchengeschichte aus radikalpietistischer Sicht geboten. Ihr zufolge hinterließ Christus den Menschen seine Lehren. Wer sie befolgte, erlangte die Möglichkeit der Gotteskindschaft. Die Gemeinde der Nachfolger wuchs. Doch diese standen nur »in den ersten hundert Jahren« ernsthaft im Glauben.838 Die Ruhe vor den Feinden verführte die Kirche dazu, sich auf ihr Wissen zu verlassen. Wissen vom Christentum und Glaube an Christus werden einander in der Aussprache geschickt gegenübergestellt. Die These, dass das Christentum nur in der Urkirche wahr und rein in Lehre und Kult war und – spätestens mit Kaiser Konstantin – zunehmend verfiel, stammt nun aber nicht genuin von Ursula Meyer bzw. dem durch sie sprechenden »Geist«, sondern gehört allgemein zum Repertoire des mystischen Spiritualis825 Vgl. Mt 10,22 passim. 826 Vgl. Arnold, Kirchen= und Ketzer=Historie I, 2, 3, 1. 827 Vgl. II Kor 5,17. 828 Gemeint sind die Lutherische und die Reformierte Kirche, die aus der Katholischen ausgingen. 829 Vgl. CA VII. 830 Vgl. Apk 3,10. 831 Vgl. Lk 21,26.35. 832 Heiligung bezeichnet im Pietismus die konkrete Lebenspraxis des wiedergeborenen Menschen. Vgl. I Kor 1,30 passim. 833 Vgl. II Petr 2,20. 834 Vgl. Hebr 11,36. 835 Vgl. Joh 3,7. Zum »Werk der Wiedergeburt« vgl. HA, (Nr. 137), 335f. 836 Vgl. I Petr 2,21; Arndt, WChr I, 17, 13; Arnold, Erste Liebe I, IIX, 12. 837 HA, (Nr. 35), 91–93. 838 Auch Pierre Poiret vertrat diese These. Vgl. Schering, Renaissance der Mystik, 42.

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mus und des radikalpietistischen Separatismus. Wegweisend wurde Gottfried Arnolds 1696 in Frankfurt am Main veröffentlichtes Werk Die erste Liebe, Das ist: wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben.839 In den reformatorischen Kirchen wiederholte sich Arnold zufolge der moralische Niedergang. Verursacht wurde er durch das Festhalten an dogmatischen Lehrsätzen und das darauf eingetretene Gefühl vermeintlicher Sicherheit. Auch diese Anschauung wird durch Ursula Meyer wiedergegeben: »Es bilden sich viele ein, Christus habe für uns genug gethan, wir haben nun nichts anders zu thun, als uns sein Verdienst zuzurechnen, so werden wir schon seelig werden, wir dörffen eben den Himmel nicht verdienen, Christus habe ihn ja schon vor uns verdienet! Sie bedenken aber nicht, daß Christus der Wiederbringer ist alles dessen, was durch den Fall Adams ist verlohren worden,840 und daß er Kräfte erworben hat, seine Gläubigen noch bey Leibes=Leben von allem Fluch wieder zu bringen, und sie in den Stand wieder zu setzen, darin der Adam gewesen ist, ehe der Schöpfer aller Dinge gesprochen hat: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sey!841 dieses Geheimniß können noch viele, die hier zugegen sind, nicht fassen;842 es ist genug, wenn sie wissen, daß durch den Sohn der Liebe alles aus dem Zorn und aus dem Fluch in GOtt, der die Liebe ist, wieder soll eingeführet werden.«843

Die negative Beurteilung der Reformation, die die Existenz dreier verdorbener Gemeinden zur Folge hatte, und die Wertlosigkeit aller äußerlichen Kirchlichkeit entsprachen genau der Ansicht Gottfried Arnolds und seiner Unparteyischen Kirchen= und Ketzer=Historie (1699/1700),844 die nicht bloß auf Dippel, König und Hochmann, sondern überhaupt auf das Geschichtsbild des Pietismus immensen Einfluss hatte.845 Die Notwendigkeit persönlicher Heiligung wurde vergessen, ja gar verlacht, und die Wiedergeburt nicht mehr gesucht, weil die Menschen sich auf die zugerechnete Gerechtigkeit (iustitia imputata) verließen. Doch all das Wissen und die verschiedenen Lehrmeinungen gelten Christus nichts, denn die Menschen 839 Zu dessen ekklesiologischen Konzeption vgl. Hans Schneider (Hg.), Gottfried Arnold: Die Erste Liebe, Nachwort, 187–208, hier v. a. 197f. Zum »Abfall«, der mit Konstantin eingeleitet wurde, siehe oben Anm. 822. 840 Vgl. Arndt, WChr II, 6, 9: »So tief aber der Mensch in Adam gefallen und verdorben, so hoch und viel höher ist er in Christo wieder erhöhet und wieder gut gemacht [. . .].« 841 Gen 2,18. 842 Wiederbringung wird hier wie bei Johann Arndt als Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes des Menschen verstanden. Vgl. Arndt, WChr I, 3,12; 6,9; 31,10. 843 HA, (Nr. 24), 58f. Der Ausdruck »einführen« macht deutlich, dass sich Gott auf den Menschen zu bewegt, auf ihn einwirkt und ihn selber in sich einführt, vgl. Langen, Wortschatz, 84, 91 u. 93. 844 Gottfrid Arnolds Unparteyische Kirchen= und Ketzer=Historie / von Anfang des Neuen Testaments biß auff das Jahr CHristi 1688. Franckfurt am Mayn / bey Thomas Fritsch. M.DC.XCIX. – Teil 2: 1700. 845 Vgl. Renkewitz, Hochmann, 357. Zum differenzierten Reformationsbild Samuel Königs, für den sie immerhin »der Anfang des Lichts / aber nicht der helle Mittag [war]«, vgl. Weg des Friedens, v. a. 4–9 [Zitat: 5].

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»[. . .] mögen auch noch stehen unter was vor einer Secte846 sie wollen, unter was vor Meynungen847 sie sich auch noch einschliessen, und in diesen gegenwärtigen Stunden sich bezeigen möchten gegen diejenigen, die Ich auf eine besondere Art ergreiffe. Ich werde alles das nicht achten, Ich werde [. . .] alle sectirische848 Wälle und Mauern zerreissen, mit meinem Liebesgeist durch alle Meynungen hindurch dringen, und eine reine Flamme anzünden auf dem Erdboden,849 die da aus allen Herzen meiner Kinder zusammen in eines schlagen wird [. . .].«850

Es spielt keine Rolle, welcher Konfessionskirche man angehört, es spielt ebenfalls keine Rolle, welchen Lehren und Meinungen man zuneigt: Christus wird alles Trennende aufheben. Die zu ihm Gehörenden sollen »aus allen drey Secten in Eins [. . .] gebracht werden.«851 Ursula Meyer teilt die kirchenkritischen, philadelphischen Ansichten der anderen »Werkzeuge« und Eberhard Ludwig Grubers. Auch sie glaubt daran, dass die wahren Gläubigen wie Samen in allen Nationen ausgestreut und in allen Sekten, unter allen Sprachen und Meinungen zu finden sind und sie die freie, konfessionelle Wälle und Mauern übersteigende Kirche Christi bilden.852 Auch in den ekklesiologischen Äußerungen setzt sich das universalistische Prinzip in Ursula Meyers Anschauungen wiederum durch: Einziges für sie relevantes Kriterium ist der Wille Christi, alles wieder zusammen zu führen und mit ihm zu versöhnen. Christus wird sich erbarmen und den ursprünglichen Zustand des Menschen wieder herstellen.853 Angesichts der überaus vehementen Auseinandersetzungen der männlichen »Werkzeuge« mit der Amtskirche und deren Pfarrern und obwohl auch Ursula Meyers Weg durch eine klare antikirchliche Haltung bestimmt war, wirken die ekklesiologischen Aussagen in ihren Aussprachen eher gemäßigt. Inhaltlich knüpft sie an dieselben ekklesiologischen Anschauungen an, die schon im frühen Pietismus in Bern vertreten wurden. Die Spannung zwischen »Kirche 846 D.i. Konfession. Vgl. Hans Schneider, Johann Arndts »verschollene« Frühschriften, in: PuN 21 (1995), 29–68, hier 41f. 847 Gemeint sind konfessionelle Lehrsätze, die »sectenbildend« wirkten. Vgl. zu diesem radikalpietistischen Schlüsselbegriff Hans Schneider, »Mit Kirchengeschichte, was hab’ ich zu schaffen?« Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, in: Hans-Georg Kemper/Hans Schneider (Hg.), Goethe und der Pietismus (Hallesche Forschungen 6), Halle/Tübingen 2001, 79–110, hier 85. 848 Siehe oben Anm. 846. 849 Vgl. Lk 12,49. 850 HA, (Nr. 46), 111f. Vgl. HA, (Nr. 153), 374: »Deine deinem Vater alles wieder zuführende Liebe wird zu unserer Freude alles wiederum in Eines bringen, was da zertheilet nun stehet.« 851 HA, (Nr. 35), 94. 852 Vgl. HA, (Nr. 102), 239: »Wir bitten dich auch vor allen diejenigen, die dich kennen und lieb haben, und in der ganzen Welt hin und her, unter allen Secten, Zungen, Sprachen, Meynungen und Nationen sich befinden, daß du doch ein genaues Auge auf deinen zarten in alle Lande ausgestreueten Saamen halten wollest [. . .].« 853 Vgl. auch Arndt WChr I, 3,12; 6,9; 31,10.

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der Getauften gegen Kirche der Wiedergeborenen«854 wird beibehalten. Von der ausgeprägten Kirchenkritik im frühen Pietismus in Bern855 wird die Essenz beibehalten, doch nicht die gegen einzelne gerichtete Vehemenz. Wie lässt sich diese eigentümliche Differenz in bezug auf die Ekklesiologie erklären? Den Grund in der eschatologischen Orientiertheit Ursula Meyers zu suchen, die eine Beschäftigung mit der zur Welt gehörenden Kirche angesichts der nahe bevorstehenden Endzeit als unnütz erscheinen ließe, wird von dem Hinweis widerlegt, dass auch Rock, Gruber und Mackinet von der Nähe des Endes überzeugt waren und ihnen die Beschäftigung mit ekklesiologischen Fragen dennoch sehr wichtig schien. Sie sahen – ganz in der Nachfolge von Johann Arndt stehend – in den Geistlichen die Hauptverantwortlichen für die angeprangerten Missstände.856 Eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Ausgestaltung der ekklesiologischen Aussagen wird in der Disparität kirchlicher Kontextbindung und der Genus-Zugehörigkeit zu suchen sein: Johann Adam Gruber und Rock waren Pfarrerssöhne. Als Männer und besonders als solche, die mit der institutionellen Ordnung der Kirche vertraut waren, gestaltete sich ihre Bezogenheit auf kirchliche Strukturen und Amtsträger ganz natürlich aus. Für Frauen war nicht nur die Kirche ein Ort patriarchaler Bevormundung und geschlechtlicher Segregation. Ihre Möglichkeiten der Einflussnahme und Partizipation waren gering. Vom öffentlichen theologischen Diskurs blieben sie ausgeschlossen. Wenn sich irgendwo ein geschlechtsspezifischer Unterschied in den Aussprachen der prophetischen »Werkzeuge« festmachen lässt, dann wohl in der Quantität ekklesiologischer Äußerungen und damit zusammenhängend im Stellenwert der Amtskirche und ihrer Pfarrer.

4.4 Die »Werkzeuge« als Propheten und die Lehre vom inneren Wort Die Inspirierten wurden als »neue Propheten«857 bezeichnet, und in der Tradition der alten bzw. biblischen Propheten stehend verstanden sie sich auch selber.858 Die Bibel selbst hatte das Auftreten von neuen Propheten kurz vor dem Weltende vorhergesagt.859 Mit ihnen erfüllte sich die in Joel 2 für die Endzeit verheißene Geistausgießung.860 Unterschiede zu den biblischen Pro854 Dellsperger, Anfänge, 162. 855 Vgl. ebd., 161–164. 856 Zur Theologiekritik von Johann Arndt vgl. Behjat, »Wahres Christentum«, 112–115; Geyer, Verborgene Weisheit, 79–139. Zu seinem spiritualistischen Kirchenverständnis vgl. Schneider, Arndt und die Mystik, 87–90. 857 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 5. 858 Vgl. ebd., 65: »nach Art der alten Propheten«. 859 Vgl. Mt 24,11.24. 860 Vgl. Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 3.

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pheten bestanden nach Ansicht der Inspirierten »mehr in den Graden und der Gabe der Wunder zu thun / welche der alten Propheten einige hatten / als in der Sache selbsten«.861 Bei ihnen selbst sei eben noch »alles in zartem und schwachem Anfang«.862 Die Inspirierten verstehen ihre außerordentlichen Erscheinungen als Zeitzeichen, die die bevorstehenden Umwälzungen ankündigen. Vorher sollen noch möglichst viele Menschen gewarnt werden und ihr Leben rechtzeitig ändern. Zu diesem Zwecke bemächtige sich Gott einiger ausgewählter Kinder »auf eine der Vernunft ganz entgegen und unbegreiffliche Weise.«863 Die »Werkzeuge« stehen im besonderen Dienste Gottes, der sie zur Durchführung seines Heilsplans benötigt und einsetzt. Sie verkörpern sein letztes Angebot an die Menschen, noch kurz vor dem Einbrechen des neuen Äons eine radikale Kehrtwende zu vollziehen und sich allein ihm zuzuwenden: »Ehe aber dieser grosse und erschröckliche Tag anbrechen wird, will Ich erst die Weissagung meines Knechts Joels zum theil in die Erfüllung gehen lassen, und meinen Geist über viele Seelen ausgiessen lassen, und sie hin und her senden, die Menschenkinder zu warnen, ob noch einige hören wolten, und sich bekehren möchten von allem ungöttlichen Wesen, und wolten streiten lernen wider die fleischliche Lüste: worzu allen denen, die es anfangen werden, Gnade und Kraft in vollem Maaß wird dargereichet werden.«864

Doch die weltumspannende Botschaft, die die »Werkzeuge« zu verkündigen haben, besteht nicht allein aus einer dringlichen Warnung. Gott lässt die Menschen durch seine inspirierten Boten auch einladen. Alle sollen an seinem »grosse[n] Abendmahl«865 teilnehmen. Warnung und Einladung, Drohrede und Verheißung sind die beiden Kehrseiten derselben Verkündigung, die z. T. mit typisch alttestamentlich-prophetischen Boten- bzw. Proklamationsformeln eingeleitet wird.866 Dem Prophetismus867 der Inspirierten liegt die der altprotestantischen Orthodoxie widersprechende Überzeugung zugrunde, dass die göttliche Offenbarung nicht abgeschlossen ist. Das Axiom der revelatio continua vertrat schon 861 Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 10. 862 Ebd.; vgl. ebd., 32. 863 HA, (Nr. 23), 55. 864 HA, (Nr. 35), 94. 865 HA, (Nr. 39), 100. (Nr. 57), 128. Vgl. auch HA, (Nr. 103), 241. (Nr. 103), 246. Die Einladung erinnert die Leser an die Einladung »der Glieder der Heilsgemeinde zum ›Hochzeitsmahl des Lammes‹ (Apk 19,9)«. Roloff, Offenbarung, 187. 866 Vgl. z. B. HA, (Nr. 11), 34: »So spricht der HErr dein GOtt: [. . .]«; (Nr. 17), 43: »Also spricht der Allmächtige: [. . .]« passim. 867 Der Begriff »Prophetismus« betont, dass das Auftreten besonderer Personen mit prophetischem Anspruch ein konstitutives Element fast aller Umbruchbewegungen ist. Vgl. Theissen, Jesus – Prophet, 405. Jesus selbst wurde für einen Propheten gehalten (vgl. Mk 6,15; 8,28; Lk 24,19).

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Petersen. Gott offenbart sich weiter. Ekstasen und Visionen sind Teil seiner Heilsgeschichte und treiben sie voran. Neben die Heilige Schrift tritt ein anderes, außerordentliches Wort Gottes, nämlich das innere Wort. Dieses »ist kein anderes Wort GOttes dem Sinn und Verstand nach / sondern nur der Art und Offenbahrung nach.«868 Sowohl die Heilige Schrift als auch die Erfahrung, deren Wert gegenüber tradierten Lehrsystemen herausgestrichen wird, bezeugen das innere Wort.869 Die Schrift selbst ist »aus dem Inneren Wort geflossen / und eigentlich davon zu reden, nichts anders als ein Ausdruck des Inneren Worts GOttes«.870 Immer wieder fordert Ursula Meyer in ihren Aussprachen dazu auf: »suchet die Worte des Lebens nirgends anders als in euch [. . .].«871

In sich selbst wird man zu Christus geführt.872 Der Verkehr mit ihm findet ausschließlich im Innern des Menschen statt. Diese klassisch mystisch-spiritualistische Konzentration auf das Innere als maßgeblichen Ort des Redens des Geistes in der Seele, die auch Arndt vertrat,873 bildet die Grundlage für das Verständnis der ekstatischen Phänomene der Inspirierten. So erstaunt es nicht, dass sie sich in Historie I u. a. auf Arndt als Vorgänger beriefen.874 Auf die Frage, ob denn nur die Propheten dieses innere Wort gehabt hätten, antwortet Eberhard Ludwig Gruber: »Obschon die Propheten als ausserordentliche Zeugen GOttes, freylich einen näheren Zugang zu GOTT / und demnach dieses Wort in einem höhern Grad und mehrerem Ein= und Ausfluß gehabt, so hat es doch auch andern frommen und GOtt getreuen Seelen daran nicht gefehlet, die es in gewisser Maasse [. . .] alle auch zu Propheten und GOttes Freunden gemacht.«875 In einer Aussprache Ursula Meyers spricht Christus von seinem inneren Wort, das er »insonderheit allen Vorstehern zu schenken beschlossen habe«.876 Identifizierte die altprotestantische Verbalinspirationslehre das Schriftwort mit dem Gotteswort, so erhält das innere Wort bei den Inspirierten diese Bedeutung. Es wird zur heilsvermittelnden Instanz. In ihm begegnet Gott unmittelbar. Neben die Schrift tritt als weitere autonome Offenbarungsquelle 868 Eberhard Ludwig Gruber, Kurze doch gründliche Unterweisung von dem inneren Wort GOttes; um der Einfältigen willen in Frag und Antwort gestellet von Einem Liebhaber desselbigen, o. O. 1712, 4. 869 Vgl. ebd., 6. 870 Ebd. 871 HA, (Nr. 80), 173. Vgl. ebd., 171. 872 Vgl. HA, (Nr. 102), 238. 873 Vgl. Arndt, WChr II, 39; III, 15. Vgl. Schneider, Arndt und die Mystik, 84. 874 Vgl. Historie I, 240. 875 Gruber, Unterweisung, 9. 876 HA, (Nr. 138), 344. Mit dieser Aussprache vom 28.11.1717 dokumentiert Ursula Meyer erneut ihre Unterwerfung unter Eberhard Ludwig Gruber.

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das innere Wort, denn wie bei Böhme ist der Heilige Geist nicht an die Bibel gebunden, sondern »redet noch heute mit der gleichen Freiheit wie ehedem«.877 Es besteht eine klare Kontinuität zwischen dem damaligen Wort, aus dem die Bibel entstand, und dem lebendigen inwendigen Wort.878 Als der »Herr Pfarrer Ruß zu Dürmüntz«,879 den Rock und Fischer am Montag, dem 25. Juli 1718 aufsuchten, weil sie schon so viel Gutes von ihm vernommen hatten, sie freundlich aufnahm, begann er von dem Verfall der Kirche zu erzählen und auch von seiner eigenen Gemeinde. Er bekannte sogar, »daß alles Kirchen=Wesen ein Tod=Werck wäre [. . .].«880 Die Frage drängte sich förmlich auf, wie dieser Pfarrer es denn unter solchen Umständen in seinem Amt aushielte. Er antwortete: »Weil GOtt solches in Gedult trüge / so thue er es auch [. . .].«881 Nach dem gemeinsamen Mittagessen geriet Rock in Inspiration und hielt – in deutlicher Anspielung auf Pfarrer Ruß – eine Aussprache über jene, »welche ein inneres Wort vorgeben / und doch dasselbe nicht haben«.882 Diese gälte es zu warnen. Rock erläutert in seiner Aussprache, »was die Salbung oder das innere Wort seye«883 folgendermaßen: »O! das innere Wort bestehet nicht in einer süssen Einbildung: es ist eine feurige und doch balsamische Krafft / welche Geist / Seele und wohl auch den Leib durchdringet. Welche diß Wort haben / sind gesalbete Priester Gottes; Derer aber sind wenige! Es ist bey einigen wohl eine Ermahnungs= und Aufweckungs=Krafft / aber das Göttliche Feuer fehlet ihnen [. . .] Darum geschiehet es gar bald / daß sie in eine falsche Ruhe kommen / stehen stille oder gehen wohl gar zurück: legen sich mehr auf die gute Wissenschafft als auf die Wesenheiten.«884

Auf die Frage, ob »dann auch so viel an diesem Inneren Wort gelegen«885 sei, antwortet Gruber: »Freylich, und zwar mehr als an Himmel und Erden; [. . .] ja so viel als an Christo JESU und seinem Heiligen Geist selbsten in uns / ohne den wir ja nicht selig werden können.«886 Diese ursprünglich von Tauler vertretene Anschauung vom inneren Wort Gottes und dem Einsprechen des Geistes in der Seele,887 die Arndt mit Verweis auf Tauler gelehrt888 und die 877 Grützmacher, Wort und Geist, 199. 878 Vgl. ebd., 200. 879 Wohl und Weh (1719), 215 [Dürmüntz, 25.7.1718]. 880 Ebd. 881 Ebd. 882 Ebd., 215f. [Dürmüntz, 25.7.1718]. Vgl. Das dritte Tage=Buch, in: XVII. Sammlung (1776), 145–232, hier 182–184. 883 Wohl und Weh (1719), 215. Zur Salbung vgl. I Joh 2,20.27 und Langen, Wortschatz, 55f. 884 Ebd., 216. 885 Gruber, Unterweisung, 15. 886 Ebd. 887 Volker Leppin spricht bei Tauler allgemein von »einer Frömmigkeit der inneren Erfahrung Gottes«. Ders., Art. Tauler, 746. 888 Vgl. Arndt, WChr III, 15, 1: »Davon Taulerus sagt: Wisset, daß das ewige Wort uns also

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Gruber schon 1712 – noch vor Entstehen der wahren Inspirationsgemeinden – mit seiner Schrift Kurze doch gründliche Unterweisung von dem inneren Wort GOttes propagiert hatte,889 gehört zu den theologischen Kernpositionen von Ursula Meyer. Gleichzeitig fordert Gott die Zuhörer in einer Aussprache Meyers vom 4. April 1715 dazu auf, sie sollen »auf keinen Menschen sehen, auch auf keine von denen, durch die Ich euch meine Worte verkündigen lasse: dann sie sind Menschen wie ihr, sie können so geschwind übereilet werden als ihr.«890

Die Lehre vom inneren Wort dürfte Ursula Meyer ebenfalls früher schon begegnet sein. Sie wurde auch während des Pietismusprozesses in Bern thematisiert. In der zweiten der zwanzig antipietistischen Thesen von 1699 wurde die Lehre vom inwendigen Wort – wie schon in jenen von 1696 – deutlich verworfen: »Hiemit verwerffen wir die Meynungen derjenigen / die [. . .] noch ein anders innerliches und lebendiges Wort erkennen und rühmen / in dessen Ansehen das geschriebene nur ein stummer und todter Buchstab / und also unvollkommen seye / daß es nach dem innerlichen Wort / als einer vollkommenen Glaubens- und Lebens-Regul / geprüfet / erkläret und ergäntzet werden soll.«891 Bei den Inspirierten war die zumindest offizielle Bestimmung des Verhältnisses zwischen innerem Wort und der Bibel zwar anders,892 aber zu ihrem gereiften Verständnis hatten sie sich erst nach den Erfahrungen mit den »falschen« Propheten und dem Aufbegehren des »Werkzeugs« Meyer gegen das Oberhaupt Gruber durchgerungen. Doch war es eben das innen empfundene Wort, das nach außen drängte, von Ursula Meyer Besitz ergriff und sie zumindest im Verständnis ihrer Gemeinschaft zur »Prophetin« machte. Wieweit man ihr Wirken tatsächlich als Prophetisches betrachten will, hängt von der Definition des Begriffs ab. Da es »über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg bisher keine konsensfähige Merkmalsliste«893 gibt, gestaltet sich diese als schwierig. Bezeichnet man mit Manfred Weippert eine religiöse Offenbarungsrede dann als Prophetie, unaussprechlich nahe ist inwendig in unserm Grunde, daß der Mensch sich selber, noch seine eigene Natur und Gedanken, noch Alles, was man sagen und verstehen kann, nicht so nahe und so inwendig ist, als das ewige Wort im Menschen ist, und sprich ohne Unterlaß in dem Menschen.« 889 Diese Schrift befindet sich auch im Anhang der zweiten Auflage der II. Sammlung (1745). 890 HA, (Nr. 15), 41. So ist Thomas Klingebiel zu widersprechen, der meinte, »Lehre und Leben« der Inspirierten hätten »ihre eigentliche Mitte im prophetischen Subjekt«. Thomas Klingebiel, Apokalyptik, Prodigienglaube und Prophetismus. Einführung, in: Hartmut Lehmann/Anne-Charlott Trepp (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), Göttingen 1999, 17–32, hier 25. 891 Zit. nach Dellsperger, Anfänge, 149 [Anm. 28]. 892 Siehe oben S. 198f. 893 Karl Hoheisel, Art. Propheten, Prophetie, I. Religionsgeschichtlich, in: LThK 8 (1999), 627f., hier 627.

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»wenn eine Person (a) in einem kognitiven Erlebnis (Vision, Audition, audiovisuelle Erscheinung, Traum o. ä.) der Offenbarung einer Gottheit oder mehrerer Gottheiten teilhaftig wird und ferner (b) sich durch die betreffende(n) Gottheite(n) beauftragt weiß, das ihr Geoffenbarte in sprachlicher Fassung (als ›P[rophetie]‹, ›Prophetenspruch‹) oder in averbalen Kommunikationsakten (›symbolischen‹ oder ›Zeichenhandlungen‹) an einen Dritten (oder Dritte), den (die) eigentlichen Adressaten, weiterzuleiten«,894

ist die Bezeichnung Ursula Meyers als Prophetin legitim. Dieselbe Definitionsstruktur weist auch Wassilios Klein mangels einer einheitlichen Terminologie auf.895 Ihm zufolge sind Propheten »charismatische Verkünder des göttlichen Willens, des im Sinne der Gottheit Richtigen und Wahren, auch zukünftiger Ereignisse, nachdem sie eine Botschaft durch Vision oder Audition empfangen haben [. . .] und von einer Gottheit zur Verkündigung des Offenbarten veranlaßt worden sind.«896 Im Prophetenverständnis der Inspirierten fehlt diesen Definitionen ein wesentlicher Aspekt. Sie selbst weisen in ihrer Definition auf die für sie entscheidende Implikation von Prophetie hin: »Inspirirt heißt auf Teutsch so viel als Prophet, das ist: Einer, der den Geist GOttes hat: daher der HErr JEsus, wo Er von denen redet, die Recht thun, und darüber Verfolgung leyden, das Wort Propheten brauchet [. . .].«897

Aus der Sicht der Inspirierten reicht es nicht, bloß charismatisch zu verkündigen und ekstatische Phänomene zu haben, um als Prophet bezeichnet zu werden. Zur Prophetin bedarf es ihrer Sicht nach auch das »Verfolgung leyden«. Hierin unterscheidet sich ihre Selbstdefinition von der Außenperspektive einer Fremddefinition. Letztlich wird wohl nur eine Definition, die dem Selbstverständnis des historischen Subjekts Rechnung trägt, ihm zugleich auch gerecht.898

4.5 Ergebnis und Kritik »Der Schwärmer macht oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget; und wünscht, daß sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, 894 Manfred Weippert, Art. Prophetie im Alten Orient, in: Neues Bibel-Lexikon, Bd. III (1997), 196–200, hier 197. 895 Wassilios Klein, Art. Propheten/Prophetie, I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 27 (1997), 473–476, hier 475. 896 Ebd., 473. 897 Historie I, 238. 898 Zum Prophetenbild in den Inspirationsgemeinden siehe unten Kap. V.2.1.

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soll in dem Augenblicke seines Daseins reifen. Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird?«899

Die Verkündigung des »Werkzeugs« Ursula Meyer ist explizit auf die bevorstehende Endzeit konzentriert. Ihre Aussprachen entstehen auf der Klimax ihres eschatologischen Enthusiasmus. Ihrer heilsgeschichtlichen Geschichtsdeutung zufolge steht der Anbruch des Tausendjährigen Reiches kurz bevor. Die gegenwärtige Zeit ist die Zeit der individuellen Bewährung und der Sammlung der entschiedenen Gläubigen, die mit Christus in seinem Reich herrschen werden. Aus ihrer eschatologischen Radikalisierung und heilsgeschichtlichen Einsicht in das bald bevorstehende Ende erwächst notgedrungen die Pflicht zur missionarischen Verkündigung. Fünf Punkte gilt es als Fazit festzuhalten: 1. Ursula Meyers Gedankenwelt und Anschauungen förderten theologisch keine neuen Lehren zutage. Sowohl ihre chiliastisch ausgeprägte Eschatologie, die Lehre von der Wiederbringung aller, die Christus- und Brautmystik als auch die Lehre vom inwendigen Wort gehörten zum Allgemeingut des mystischen Spiritualismus. Eine große Anzahl sprachlicher und inhaltlicher Gemeinsamkeiten teilte die radikale Pietistin Ursula Meyer u. a. mit Jakob Böhme, aber auch mit Johann Arndt, auf den sich die Inspirationsgemeinden ausdrücklich beriefen.900 Der einzige – geschlechtsspezifisch bedingte – Unterschied zu den männlichen »Werkzeugen« bestand in der auffallend geringen Anzahl ekklesiologischer Äußerungen Ursula Meyers. 2. Alle hier behandelten Themenkomplexe konnten bereits im frühen Pietismus in Bern nachgewiesen werden und fanden schon damals ihre Anhänger. Die thematischen Schwerpunkte der Aussprachen von Ursula Meyer weisen (evtl. mit Ausnahme der Sondertradition der Wiederbringungslehre) durchweg Analogien zum frühen Pietismus und seinen kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Traditionen in Bern auf. Auch wenn dieser als komplexes und keineswegs homogenes Gebilde betrachtet werden muss, vertrat er Lehren und Anschauungen, an die Ursula Meyer anknüpfen konnte und die ihre Weiterentwicklung zum radikalpietistischen Separatismus nicht als unerklärlichen Bruch, sondern als möglichen Weg verstehen lassen. Schon in den Unterschiedliche[n] Erfahrungs=volle[n] Zeugnisse[n] von 1715 wurde betont, dass die Kontinuität zu den früheren radikalpietistischen Ansichten bei den Inspirierten gewahrt bliebe.901 Der maßgebliche 899 Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, 1777, §90. 900 Vgl. Historie I, 240; Geyer, Verborgene Weisheit I, 50. 901 Vgl. Andreas Groß, in: Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 75: »Nicht / daß wir was Neues angenommen [. . .] hätten [. . .].« Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 214.

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Unterschied liegt darin, dass diese nun durch die Aussprachen mit einer neuen (ekstatisch-)religiösen Ausdrucksform einhergingen, mit einem neuen Körpererleben verknüpft wurden und als göttlich legitimiert erschienen. 3. Hauptquelle der Aussprachen Ursula Meyers ist die (Luther-)Bibel selbst, die den Inspirierten als norma normans galt. Die Aussprachen erhalten erst aufgrund ihrer Kompatibilität mit ihr letzte Gültigkeit. Wie ein Flickenteppich reihen die Inspirationsreden ein biblisches Zitatfragment nach dem anderen aneinander. Diese führen den Gedankengang assoziativ und doch mit einer inneren Logik weiter. Die biblizistische Sprache bedient sich in Folge der eschatologischen Radikalisierung vor allem der Johannesapokalypse.902 4. Die zahlreichen dem Luthertext entsprechenden Bibelzitate, die Anspielungen auf die Confessio Augustana und auch die auffällige Rezeption von Johann Arndts Vier Bücher von Wahrem Christenthum zeigen, wie intensiv Ursula Meyer während ihres Exils durch radikale Pietisten lutherischer Herkunft beeinflusst wurde.903 5. Da Ursula Meyers Aussprachen von so vielen verschiedenen Quellen und Traditionsströmen gespeist werden, ist auch der Himmlische Abendschein als Werk »ein[es] um Heterodoxie unbesorgte[n] Eklektizismus«904 zu bezeichnen. Die Inspirierten waren davon überzeugt, der Geist Gottes selbst spreche zu ihnen in den durch ihre »Werkzeuge« vermittelten Prophetien. Im Leben der frühen Christenheit spielte die Gabe der geistgewirkten Verkündigung eine anerkannte Rolle. Auch die Frage, wie ihre jeweilige Echtheit zu prüfen sei, beschäftigte schon die Urchristenheit. Auf die ihm schriftlich gestellte Frage, was von den Geistbegabten zu halten sei, antwortete Paulus den Korinthern in I Kor 12–14. Die Prophetien zählte er zu den Charismen (vgl. auch Röm 12) und wertete sie sogar höher als die ekstatische Zungenrede. Dennoch sah er in ihrer ekstatischen Äußerungsform nicht den Beweis für das Wirken des Geistes Gottes, denn auch die Heiden kannten ekstatische Erscheinungen. Entscheidendes Kriterium zur Beurteilung einer Geistesgabe war für Paulus nicht ihre ekstatische Form, sondern ihre inhaltliche Aussage: Zeugt die ekstatische Aussprache von Jesus Christus, bekennt sie ihn als Kyrios, dient sie der Liebe und dem Aufbau der Gemeinde – kurz: ist sie dem Glauben gemäß (vgl. Röm 12,6)? Der Wert der Aussprachen der Inspirierten lässt sich nur 902 Vgl. Gruber, Von der Wahren und Falschen INSPIRATION, 12. 903 Diese Beobachtung verdanke ich Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg. 904 Schneider, unerfüllte Zukunft, 209. So schon Thomas Klingebiel (Apokalyptik, 25): »Aus theologischer Sicht sind die Inspirierten, die aus vielen Quellen gleichzeitig schöpften, folglich als Eklektizisten zu betrachten [. . .]«.

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durch Überprüfen ihres Inhalts eruieren. Das Kriterium für eine gültige Aussage über ihre Validität ist also ihr Übereinstimmen oder Nichtübereinstimmen mit der Schrift. In der Vorrede zum Geschrey zur Mitternacht von 1716 wird der Leser gefragt, ob er in den gedruckten Aussprachen »was finden könne / das dem Buchstaben der heiligen Schrifft entgegen stehe / so wol quoad prophetica quam doctrinalia«.905 Auch Johann Jakob Strohe berichtete in seinem Brief an Johann Ludwig Frey, dass ihm der Inspirierte auf seine Frage, wie man denn erkennen könne, ob die Reden der »Werkzeuge« göttlich seien oder nicht, geantwortet hätte: »1. weilen die lehren und sachen so sie aussprechen mit Gottes wort überein kommen und demselben nichts zu wider in sich begreiffen [. . .].«906 Schon die Inspirés hielten im Alarm=Geschrey von 1712 fest, es ginge ihnen nicht darum, eine neue Lehre zu verbreiten.907 Genau das Gegenteil sei ihre Absicht, nämlich die Lehre Christi, wie sie die Bibel bezeuge, angesichts der nahe bevorstehenden kosmischen Umwälzungen wieder zur vollen Geltung zu bringen.908 Biblische Sprachformen, prophetische Botensprüche und Gottesreden in der Ich-Form untermauerten ihr Anliegen, mit der Heiligen Schrift in Einklang zu stehen. Der Marburger Theologieprofessor Johann Henrich Hottinger gelangte 1717 nach der Lektüre insbesondere des Geschreys zur Mitternacht zum Urteil, dass er bei den »Werkzeugen« Johann Carl Gleim, Johann Adam Gruber und Johann Friedrich Rock »keinen herrschenden gefährlichen Jrrthum / noch Gutheissung oder Zulassung eines gottlosen Wandels / gefunden habe: Vielmehr habe er sie gefunden in der Lehr orthodox, kräfftig antreibend zu einer christlichen Gottseeligkeit«.909 Noch 1900 behauptete Wilhelm Hadorn, die inspirierte Verkündigung der »Werkzeuge« sei »nicht über die Grundwahrheiten der Schrift hinausgegangen«.910 Die Lehren und Anschauungen der Inspirierten standen tatsächlich nicht dem Buchstaben der Schrift entgegen. Ihre Heterodoxie ergab sich aus ihrer spezifischen Applikation der biblischen Texte. Es war die Art der Akzentuierung, die ihr »Weitersagen der Botschaft«911 gegenüber anderen Akzentuierungen wie denen der Orthodoxen sachlich neu erscheinen ließ. Die nun folgende Kritik des Himmlischen Abendscheins setzt bei keinem der bisher besprochenen Themenkomplexe ein, sondern fokussiert auf seine Anthropologie und sein implizites Freiheitsverständnis. 905 Das Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), Vorrede [o.S.]. 906 Siehe unten S. 335: Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23.9.1715, hier 3r. 907 Vgl. Alarm=Geschrey (1712), 65. 908 So beschreiben sie immer wieder, wie sie die Bibel aufgeschlagen und konsultiert hätten, vgl. ebd., 137.155.166.180.184 passim. 909 HISTORIA FACTI, 15. 910 Hadorn, Die Inspirirten, 201. 911 Klaus Berger, Hermeneutik des Neues Testaments, Gütersloh 1988, 108.

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Die inspirativ empfangenen Reden von Ursula Meyer betonen nachdrücklich die Notwendigkeit jedes einzelnen Menschen, sich dem Heilsgeschehen gegenüber zu entscheiden. Sie halten an der unbedingten menschlichen Wahlfreiheit fest, die sich auch auf das Verhältnis zu Gott erstreckt. Das liberum arbitrium wird zum Attribut des Menschseins, das ihn befähigt, dem Anspruch Gottes zu entsprechen. Zwischen dem Bemühen, an der Unverfügbarkeit des Heils und der bleibenden Erhabenheit Gottes über den Menschen letztlich festzuhalten, und der Überzeugung, dass es dem Menschen dennoch möglich sei, sich selbst durch seine innere Umkehr und seine Taten als Anwärter auf sein Heil zu qualifizieren und zu begründen, besteht eine Spannung. Die Vorstellung der Wiederbringung aller behauptet bei Ursula Meyer nicht »konsequent die soteriologische Ohnmacht des allein auf die Gnade Gottes angewiesenen Menschen«.912 Dem Menschen ist seine Befreiung zu einem guten Teil selbst aufgegeben. Die Heiligung wird zur Mitbedingung, und das Wirken Christi wird an des Menschen Tun gebunden. Christus ist zwar immer im Inneren des Menschen vorhanden, aber er braucht dessen »völlige Willens=Kräfte[n]«.913 Stellt der Mensch ihm diese nicht zur Verfügung, so wird Christus dadurch gehindert.914 Gerade wegen der Selbstbestimmung des Menschen können von ihm höchste Glaubensanstrengungen ernsthaft gefordert werden. Die das aktive Handeln des Menschen fordernden Tendenzen der Anthropologie Ursula Meyers sind offenkundig. Die Ausrichtung Ursula Meyers auf die Zukunft lässt sie auch Gottes Gerechtigkeit für die Zukunft erwarten. Das Urteil Gottes über den Menschen ist nicht in Kreuz und Auferstehung Christi längst schon gefällt, sondern steht noch aus. Dies hat zur Folge, dass Christus im Himmlischen Abendschein als Pädagoge und Lehrer geschildert werden kann: »Ich schenkte dem Menschen zur Wiederbringung meinen einzigen Sohn, der gieng ihnen die Weg vor, die sie gehen solten: Er hinterließ ihnen Lehren, und gab allen denen, die diese Lehren gern annahmen, Macht, daß sie GOttes Kinder werden, und aus ihrem Fall wieder aufstehen konten.«915

Den Menschen wird die Macht zugesprochen, Gottes Kinder zu werden. Nehmen sie Christi Lehren an, können sie ihren Fall rückgängig bzw. wieder gut machen. Die Soteriologie der Aussprachen Ursula Meyers enthält einen klaren synergistischen Zug. Auch die Erlösung ist ein für die Zukunft erwartetes 912 Rosenau, Art. Allversöhnung, 322. 913 HA, (Nr. 59), 131. Zur bereits in der mittelalterlichen Mystik gelehrten Notwendigkeit, den eigenen Willen aufzugeben, um sich ganz Gott hingeben zu können, vgl. Langen, Wortschatz, 214f. u. 221. 914 So schon Arndt, WChr II, 6, 5: »Denn Eigenwille, eigene Liebe, eigene Ehre, eigene Weisheit und alles, was du dir selbst zuschreibest, das hindert Gott [. . .].« Vgl. auch Philipp Jakob Spener, Pia Desideria, hg. v. Kurt Aland, Berlin 31964, 52. 915 HA, (Nr. 35), 91.

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Geschehen, das der Wahlfreiheit des Menschen entsprechend im innersten Seelengrund, also in ihm selbst, seinen Anfang nehmen wird.916 Die Menschen müssen sich »mit aller Macht bemühen, diese Sonne [sc. Christus; IN] wesentlich in sich geoffenbaret zu bekommen«.917 So schließt der Himmlische Abendschein mit der Aufforderung Ursula Meyers: »versenket euch nur tief in dem innersten Grund eurer Seelen, allwo sich die Lebenskraft eröfnen wird zum Sieg und Durchbruch.«918

In Kapitel III.2 wurde behauptet, dass in den Aussprachen der Inspirierten zu Worte komme, was sich in ihren ekstatischen Körperbewegungen nonverbal äußere. In ihren Inspirationsreden artikuliere und verdichte sich der religiöse Protest des radikalpietistischen Separatismus. Zudem hieß es, dass sie der bestehenden und als übermächtig erfahrenen kirchlich-religiösen Ordnung und Organisation Neues und zugleich Altes, aber in Vergessenheit Geratenes entgegenstellen. Worin besteht nun dieser Protest, und woran erinnern die Inspirierten? Am Beginn der pietistischen Bewegung stehen die zutiefst prägende Ernüchterung und Enttäuschung über das Ausbleiben der ursprünglich intensiv angestrebten umfassenden geistlichen Erneuerung des Christentums. Die reformatorische Rechtfertigungslehre war aus pietistischer Sicht zu wenig wirksam oder letztlich wirkungslos geblieben.919 Das konkrete Leben der als gerecht erklärten Sünder veränderte sich faktisch kaum bis gar nicht. Im reformatorischen Verständnis waren iustificatio und sanctificatio noch »als lebendige Einheit verbunden«.920 Aus wahrem Glauben gehen Luther zufolge sponte et hilariter Werke der Liebe hervor. Doch genau diese Liebeswerke bzw. die behauptete praxisverändernde Kraft der iustificatio vermissten die Pietisten. Der von ihnen allgemein festgestellte Mangel an persönlicher Heiligung konnte rückwirkend bedeuten, dass die Menschen zwar zur Gerechtsprechung bestimmt sind, sich dieser aber als würdig erweisen müssen. Aus der von Luther umfassend verstandenen Rechtfertigungsgnade wurde eine forensische Gerechterklärung, und aus der sanctificatio konnte ein zeitlich nachfolgendes und im eigenen menschlichen Vermögen liegendes Verhalten werden. Sofern der Protest der Inspirierten in der Erfahrung wurzelt, dass der gültigen Zusage Gottes von seiten der Menschen nicht entsprechend geantwortet wird, stimmt er deutlich mit den gemein-pietistischen Gravamina überein. Er 916 HA (Nr. 59), 131f.: »Ich werde einmahl in dem innersten Seelengrunde das Erlösungs=werk anfangen und vollenden [. . .].« Vgl. HA, (Nr. 102), 239. (Nr. 145), 357. Vgl. auch HA, (Nr. 80), 170: »aber ihr habt mich bis dahero noch immer gehindert.« 917 HA, (Nr. 60), 134. 918 HA, (Nr. 154), 375. 919 Siehe unten S. 326: Brief des Niklaus von Rodt an seinen Bruder Samuel von Rodt, Juli 1699, hier 422. 920 Wilfried Joest, Dogmatik 2: Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1986, 443.

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kann folglich im weiteren Sinn auch als Leiden an der Macht der Sünde und der eigenen und fremden Gebundenheit an sie verstanden werden. Was nun den Protest des radikalpietistischen Separatismus auszeichnet, ist sowohl die Tiefe, mit welcher der unerträgliche Widerspruch zwischen Gottes vorgängigem Heilsangebot und des Menschen nachfolgenden Ablehnung empfunden wird, als auch seine spezifische Art auf ihn zu reagieren. Das immense Ausmaß der Enttäuschung und die durch sie erzeugte Spannung führte die Inspirierten in die Separation. Die Ablehnung Gottes von seiten der Welt lässt die Inspirierten nun die Welt selbst ablehnen. In ihrem Protest auch gegen eine auf dem mittelalterlichen Corpus-christianum-Modell fußende Staatskirche, die Glauben vermaßt, veräußerlicht und entsinnlicht und ihre Lehren vor allem kognitiv expliziert, erinnern die religiös hoch motivierten Inspirierten daran, dass christlicher Glaube bedeutet, aus einer spezifischen Begegnung heraus zu leben. Gottes Nähe und Präsenz wollen individuell erfahren sein. Die Inspirierten erinnern mit ihren ekstatischen Phänomenen zutiefst und geradezu provokativ an die sinnliche Komponente gelebter Religiosität, die auch den menschlichen Körper mit einbezieht und ihn zum Werkzeug von Gotteserfahrung werden lässt. Sie erinnern daran, dass Glaube sich nicht bloß im Gespräch und in der Reflexion, sondern auch in körperlich wahrnehmbaren Erfahrungen, in der konkreten Lebensgestaltung und in persönlichen Einstellungen äußert. Kurz: Glaube beansprucht die Ganzheit des Menschen. Insofern sind die ekstatischen Phänomene der Inspirierten auch ein Versuch, ihr Leiden an dem tief empfundenen Widerspruch zwischen Gottes Liebe und der Macht des Faktischen, nämlich der allgegenwärtigen Ablehnung der Menschen, religiös zu bewältigen und ihre gesteigerte Erwartung einer neuen Existenz sichtbar zu machen.

DrucklegungdesHimmlischenAbendscheins

V. Die Drucklegung des Himmlischen Abendscheins 1781 im Kontext der Geschichte der Inspirationsgemeinden Im Gegensatz zu der schon zwischen 1716 und 1719 gedruckten Auswahl an Aussprachen der drei männlichen »Werkzeuge« Gleim, Gruber und Rock wurden jene Ursula Meyers mit einer Verzögerung von über sechzig Jahren, nämlich erst 1781, herausgegeben. Schon in der Gemeindehistoriographie von 1776 wurde festgehalten, die vom »göttlichen Geist« empfangenen Eingebungen Ursula Meyers »könnten wohl noch einst gedruckt werden, wann Zeit und Gelegenheit es zu lassen«.1 Vermutlich in direktem Zusammenhang mit dieser Bemerkung steht folgende Anfrage aus der Schweiz, die es hier nun zu besprechen gilt: Da »ein ziemlich geschriebener Vorrath«2 der Aussprachen Ursula Meyers auch nach ihrem Tod aufbewahrt wurde und noch in gutem Zustand vorlag, »haben ihre nun lebende begnadigte, und in der Brüderlichen Gemeinschafft mitverbundene Landsleute sehnlich verlangt, selbige auf ihre Kosten doch auch mit gedruckt zu bekommen; welches nun gerne und willig bewerkstelliget wird.«3

Die Drucklegung der Aussprachen Ursula Meyers geschah demnach auf drängenden Wunsch von Berner Inspirierten. Wie drängend deren Wunsch war, zeigt ihre Bereitschaft, die finanziellen Kosten gleich selbst zu übernehmen. Die konkrete Anfrage der »mitverbundene[n] Landsleute« und die späte Drucklegung der inspirierten Reden Ursula Meyers in Form des Himmlischen Abendscheins sind auffällig und bedürfen der Erklärung. Zu diesem Zweck muss zunächst sowohl der Verlauf der weiteren Geschichte der deutschen als auch vor allem und schwerpunktmäßig der mit ihnen von Beginn an in regem Kontakt stehenden und eng verbundenen Inspirierten im Bernerland4 und die Vita Ursula Meyers nach dem Ende der Blütezeit der Inspirationsgemeinden (1714–1719)5 in Umrissen zur Darstellung gelangen. Da der Tod des lange Zeit einzigen und letzten »Werkzeugs« Johann Friedrich Rock am 2. März 1 Historie II, 244. 2 HA, 4. 3 Ebd. 4 Dass Ursula Meyer »einen ganzen Schwarm der Meyer aus dem Oberland nach sich gezogen« hätte, wie Wernle (Protestantismus 1, 201) und in seinem Gefolge Ward (Awakening, 183) – u. a. mit dem Hinweis auf einen jüngeren Bruder von ihr namens Jakob Meyer und einen Schweizer namens Johannes Meyer – behauptet, lässt sich jedoch nicht verifizieren. Ursula Meyer hatte nämlich gar keinen Bruder namens Jakob, und ein Johannes lässt sich in der Familie zur in Betracht stehenden Zeit ebenfalls nicht nachweisen. Die Übereinstimmung des Nachnamens liegt in dessen Verbreitung begründet. Vgl. genealogischer Ausschnitt oben S. 44. 5 Siehe oben Kap. II.2.

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17496 einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Inspirationsgemeinden bedeutete, wird im folgenden Abriss zwischen der Zeit von 1720 bis 1749 (1.) und jener ab 1750 bis zur Drucklegung des Himmlischen Abendscheins im Jahre 1781 (2.) unterschieden. Erst im Kontext dieser weiteren historischen Entwicklung ist die Frage, wie und weshalb es zur posthumen Drucklegung der Aussprachen Ursula Meyers gekommen war, zu erörtern. GeschichtederInspirationsgemeinden von1720–1749

1. Abriss der Geschichte der Inspirationsgemeinden von 1720–1749 Nachdem seit 1720 alle »Werkzeuge« mit Ausnahme von Rock verstummt waren, hatten die Inspirationsgemeinden vornehmlich die Aufgabe, ihre Gemeinschaft zu stabilisieren und das geistliche Leben zu vertiefen.7 Die überwältigenden Eindrücke der Blütezeit mussten sich setzen. Max Goebel nannte die Zeit zwischen 1720 und 1730 eine »Zeit des Stillstehens« und diejenige zwischen 1730 und 1749 eine »Zeit der Abnahme«, ohne auszuführen, ob er sich damit quantitativ auf die Mitgliederzahlen oder qualitativ auf das spirituelle Leben der Gemeinden bezog.8 Hans Schneider sieht in der ab 1725 eingestellten und erst über ein Jahrzehnt später wieder aufgenommenen Drucktätigkeit der Inspirierten »ein Indiz dafür, daß die Bewegung ihre anfängliche Werbekraft verloren hatte und stagnierte.«9 Nun waren gerade die Jahre zwischen 1720 und 1730 für die Anhänger der Inspirierten in der Schweiz auch eine Zeit des Ausbaus. Zudem bildeten die Jahre 1728/29 eine nicht zu unterschätzende Zäsur in der Geschichte der Inspirationsgemeinden und können nicht einfach unter »Stillstehen« subsumiert werden. Neue Kontakte wurden aufgenommen, alte abgebrochen. Die erste Phase nach der Blütezeit mit den ersten Reisen Rocks ins Bernerland und der allmählichen Distanzierung Ursula und Helena Meyers von den Inspirierten war eine klassische Übergangszeit. Die Bekanntschaft des Hofsattlers Rock mit dem Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) im Jahre 1730, ihre anfängliche Freundschaft und später erbitterte Feindschaft, überhaupt das Konkurrenzverhältnis zwischen den Inspirierten und den Herrnhutern in der Wetterau stürzte die Inspirationsgemeinden in einen Kampf ums Überleben und lenkte ihre missionarische Ausrichtung auf die Schweiz. Diese zentralen Aspekte berücksichtigend soll hier versucht werden, die Zeit zwischen 1720 und 1728/29 als »Zeit des Übergangs« 6 Vgl. XLII. Sammlung (1789), 224f. [Gelnhausen, 2.3.1749]. 7 So bezeichnet auch Walter Grossmann (European Origins, 148) die Jahre nach der Zeit der Inspirationserweckung als »a period of consolidation«. 8 Goebel, Inspirations=Gemeinden (1855), 127. 9 Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 218.

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(1.1) und die Jahre von 1730 bis zum Tode Rocks 1749 primär als »Zeit der Auseinandersetzung mit den Herrnhutern« (1.2) zu verstehen. In diesen Kontext hinein gehört der handschriftliche Auszug aus einem eindrücklichen Antwortschreiben Ursula Meyers an eine unbekannte Schwester aus dem Jahre 1738, der hier zum ersten Mal ediert und analysiert werden soll (1.3). 1.1 Zeit des Übergangs: 1720–1728/29 Nachdem Ursula Meyer am 24. September 1719 vor der ersten Schweizerreise Rocks und seines Begleiters und Dolmetschers, des Zürchers Johann Jacob Schulthess,10 ihre allerletzte Aussprache hielt, verliert sich ihre Spur fast vollständig. Wir erhalten nur noch sehr spärlich Auskunft über ihren weiteren Weg. Von Historie II erfahren wir, dass sie so lange »Werkzeug« geblieben war, »biß endlich auch dieser [sc. Ursula Meyer; IN] das reysen zu schwer= und die Anhänglichkeiten an ihre Schwester und Landsleute zu überwichtig wurden, die die Schärfe der Prüfung und Beschneidung (in hernach eingeführten Untersuchungen) zu mehrerer und besserer Fruchtbringung nicht länger vertragen wolten.«11

Folgt man der Sicht der Gemeindehistoriographie der Inspirierten, so scheinen sich Helena Meyer und weitere Schweizer Anhänger dem Druck der geistlichen Sozialdisziplinierung entzogen zu haben. Bei diesen strengen, im Sommer 1716 eingeführten Untersuchungen wurde jedes Mitglied der Inspirationsgemeinden einzeln auf seinen Herzenszustand und den Grad seiner Selbsterkenntnis geprüft. Dieser öffentlich stattfindende und psychisch belastende Prozess persönlicher Bloßstellung bedingte die völlige Unterwerfung unter die Ältesten.12 Dass sich offenbar nicht alle damit einverstanden erklären konnten, erschien dem Geschichtsschreiber als persönliches Versagen. Aus seiner Sicht waren sie den hohen Anforderungen der Inspirierten einfach nicht mehr gewachsen. Die folgende Reise Helena Meyers nach Bern, die sich zeitlich nicht mehr genau rekonstruieren lässt,13 und ihr dortiger Aufenthalt bedeuteten hingegen noch keinen Bruch mit den Inspirierten. Als Rock und Schulthess, die über Schaffhausen und Zürich reisten, am 20. November 1719 abends in Bern eintrafen, suchten sie nämlich als erstes »die Schwester Helena Meyerin auf, welche samt ihrer Hauswirthin, Namens Benedictin, über unsere Ankunft erfreuet war, uns alle Dienste anbot, und bey Herr Knopf14 10 Zu Johann Jacob Schulthess siehe oben S. 181 (Anm. 271). 11 Historie II, 253f. 12 Siehe oben S. 200ff. 13 Die letzte Nachricht über Helena Meyer vor ihrem Wiedersehen mit Rock in Bern ist die von ihrer Teilnahme am dritten Liebesmahl im Oktober 1715 zu Büdingen. Siehe oben S. 197. 14 Zu Daniel Knopf siehe oben S. 80. Vgl. auch XXXVII. Sammlung (1785), 58: »unser Hauswirth Hr. Knopf«.

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uns das Nachtquartier vor die ganze Zeit [. . .] ausmachte, und fast unsere beständige Wirthin ware.«15

Helena Meyer fühlte sich den Inspirierten demnach Ende 1719 in Bern noch sehr verbunden. Am Morgen hatten Rock und Schulthess in Burgdorf, wo sie am Tag zuvor angekommen waren, Hünig16 aufgesucht, den Stiefbruder von Ursula und Helena Meyer, um ihn – wohl auf Bitte Ursula Meyers – zu grüßen.17 In Bern selbst hatte Rock »Anlaß und Trieb« sich an Helena Meyer zu wenden und »ihr den doppelten Schaden, den sie durch den Aufschub ihrer Ab= und Zurückreise zu ihrer lieben Schwester erlitte, gründlich vor Augen zu legen, und wie es nicht nach dem Willen GOttes geschehen seye, daß sie ihre erste (in Ansehung dieser ihrer Reise in die Schweitz genommene) Resolution geändert und gebrochen; worauf sie in ein ziemliches Nachdenken darüber gebracht worden, und sich auch entschlosse oder doch versprache dem treuen brüderlichen Rath zu folgen.«18

Helena Meyer hatte also ursprünglich die Absicht, nur vorübergehend in die Schweiz zurückzukehren. Nun hatte sich ihr Aufenthalt in der Heimat offenbar in die Länge gezogen. Vielleicht stand ihre Heimreise selbst oder der Aufschub der vereinbarten Rückreise in die Wetterau in Zusammenhang mit dem ganz Thun erschütternden Schiffsunglück vom 12. Juni 1718, bei dem fast 30 Thuner »von den besten geschlechtern«19 – v. a. Hochzeitsleute – ertranken. Unter ihnen befanden sich auch nahe Bekannte von Ursula und Helena Meyer, nämlich eine Tochter und ein Sohn von Dr. Rubin und der Apotheker Koch und seine Schwester. Mit ihnen hatten Ursula und Helena Meyer in Thun vor ihrer Auswanderung ins Ysenburgische Privatversammlungen besucht.20 Nach dem Unfall entstand damals »ein solch großer Jammer in Thun [. . .], daß die Eltern und verwandte sich kaum wolten trösten laßen [. . .].«21 Der von Rock erwähnte »doppelte Schaden« dürfte sich auf Helena Meyer selber und auf ihre Schwester Ursula Meyer bezogen haben. Deren Verstummen als »Werkzeug« scheint mit dem Fehlen ihrer Schwester zusammengehangen zu haben. Diese Sicht vertritt auch Historie II.22 Ob sich im Aufschub der Rückreise schon Zweifel Helena Meyers gegenüber den Inspirationsgemeinden andeuteten? 15 XXXVII. Sammlung (1785), 3. 16 Siehe oben S. 42. 17 Vgl. XXXVI. Sammlung (1785), 108. Die Adresse hatte Rock sicher von Ursula Meyer und nicht – wie Wernle, Protestantismus 1, 203 vermutet – von Zürcher Freunden. 18 XXXVII. Sammlung (1785), 11 [Bern, 22.11.1719]. 19 Johann Rudolf Gruner, Berner Chronik von 1701–1761. Mitgeteilt und mit Anmerkungen versehen von J. Sterchi, in: BBG 2/1 (1913), 101–121, hier 115f. 20 Siehe oben S. 76f. 21 Gruner, Chronik von 1701–1761, 116. 22 Siehe oben S. 273.

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Exkurs: Rocks erste Reise ins Bernerland (1719/20)23 Die Berichte der Inspirierten über ihre Kontakte geben uns einen Einblick in die pietistische »Szene« Berns. Sie zeigen auch, dass die Inspirierten gegen zwei Fronten zu kämpfen hatten. Wernle spricht von einer »doppelten Gegnerschaft«, die ihre missionarische Arbeit erschwerte.24 Während seines mehrwöchigen Aufenthaltes in Bern focht Rock manchen Streit aus – so unter anderem mit Johann Heinrich Müslin.25 Rock warb in verschiedenen privaten Kleinversammlungen neue Mitglieder an. Den Schilderungen der Inspirierten zufolge wurden diese Versammlungen vor allem von Handwerkern und ledigen Frauen besucht. Am 21. November kam eine Freundin namens Maser zur Jungfrau Benedict zu Besuch, die Zeugin und Adressatin einer langen Aussprache Rocks wurde.26 Um die »Jungfer Maser« versammelten sich »seit einiger Zeit noch einige Seelen zum gemeinschaftlichen Gebet«,27 u. a. der Schneider Adam Kyburtz »mit zwey der Seinigen« und das Ehepaar Küpfer.28 Am 22. November kam jedoch nur »eine arme Jungfer Namens Magdelon«.29 Man sang ein Lied, betete lange und beschloss das Gebet mit dem Unservater. Nachher wurden ein Kapitel aus der Bibel und ein Psalm gelesen und schließlich wieder ein Lied gesungen. Rock und Schulthess fanden über solche schon bestehenden Privatzirkel Zugang zu potenziellen Anhängern und Gleichgesinnten, die als »Freunde des Orts«30 bezeichnet wurden. Nach der Versammlung wurden die beiden noch zum Mittagsbrot eingeladen. Am 25. November 1719 wurden Rock und Schulthess in Bern vom Helfer Morell besucht, der »ein naher Anverwandter und Freund von der 23 Der folgende Exkurs fasst Stationen und Begegnungen mit Personen zusammen, die in den Inspiriertenschriften zu dieser Reise erwähnt werden. Vgl. dazu Wernle, Protestantismus 1, 203f.; Schrader, Schweizerreisen, 366f. 24 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 204. 25 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 14–23. Der Berner Johann Heinrich Müslin (1682–1757) scheint wie Ursula Meyer im Zuge der gegen den Pietismus ergriffenen Maßnahmen in Bern erweckt worden zu sein. Er reiste 1705 aus und ließ sich in Schwarzenau nieder. Offenbar aus wirtschaftlichen Gründen kehrte er nach Bern zurück und lebte hier bis zu seinem Tod als Glaser. Mit zahlreichen führenden Vertretern der pietistischen Bewegung wie Annoni, König und Fleischbein stand er in Kontakt. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 314–317. 26 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 4–10. 27 XXXVII. Sammlung (1785), 10. Vgl. ebd., 45. 28 Ebd., 11. Das Haus von Adam Kyburtz bildete keinen »zweite[n] Mittelpunkt« und das Ehepaar Küpfer kein »zweites Zentrum«, wie Wernle, Protestantismus 1, 203 schreibt, sondern es handelt sich um denselben Zirkel, der sich bei der »Jungfer Maser« schon versammelt hatte. Offenbar traf man sich nicht immer am gleichen Ort, sondern lud einander je nach Platzverhältnissen im Wechsel ein. Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 11, 33, 36 u. 62. 29 Ebd., 10. 30 Ebd., 63 [fett gedruckt!].

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Schwester Helena Meyerin«31 war. Am 27. suchten Rock, Schulthess und Helena Meyer Frau Zeerleder auf.32 Ihr Bruder, »Capitain Lutz«33 genannt, und der noch verbannte Samuel König,34 der sich ebenfalls gerade in Bern aufhielt und im Haus von Frau Zeerleder logierte, gesellten sich zu ihnen. König begegnete den Inspirierten, die er schon als Inspektor und erster Pfarrer in Büdingen kennen gelernt hatte,35 ablehnend. Rock wiederum hielt ihm seine »Laodiceerey«36 in einer Aussprache vor. Er habe Gott nicht »wesentlich« in sich und sei drum »ein armer Sünder« und »leere[r] Schwätzer«, der »den Weg des Friedens« nicht fände.37 König wehrte sich vehement und hielt Rock das Vergehen von Schwanfelder vor.38 Die Inspirierten seien allesamt »liebloser als Juden, Türken und Heyden«.39 Weder Frau Zeerleder noch ihr Bruder griffen in den Streit ein. Sie »observirten weder ihr Hausrecht noch ihre Christenpflichten.«40 Die hitzige Auseinandersetzung und die massiven Anwürfe lasteten schwer auf Rock. Am 28. hatte er drum »einen harten Leidens=Tag«41 und blieb daheim.42 In der Versammlung am nächsten Tag bei der Jungfer Maser war ein »Freund von Diesbach« anwesend.43 Nach der Versammlung erschien auch ein Freund namens Bredelli,44 31 Ebd., 23. Die Mutter von Helena und Ursula Meyer war eine geborene Morell, vgl. den genealogischen Ausschnitt oben S. 44. Cousin Jacob Morell war von 1714 bis 1726 Prädikant an der St. Vinzenzkirche, der Hauptkirche der Stadt Bern. Vgl. Gruner, Deliciae, 222. 32 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 36. 33 Margret Zeerleder-Lutz hatte drei Brüder. Der jüngste, Karl Lutz (1670–1750), war Hauptmann im 2. Villmergerkrieg. Vgl. Bosshard-Höck, Margret Zeerleder-Lutz, 42. 34 XXXVII. Sammlung (1785), 36 wird zwar nur ein Simon König erwähnt, aber Wernle ist Recht zu geben, der den Namen stillschweigend in Samuel König ändert (Protestantismus 1, 315). 35 Siehe oben S. 87. 36 XXXVII. Sammlung (1785), 40. Siehe Kap. IV.4.3. 37 Ebd., 39 u. 42. Rock spielt hier auf einen Traktat Königs an: »Der Weg des Friedens gebahnet In einem Send=Schreiben an die Seinigen Durch Einen der geringsten Knechten des HERRN«, o. O. 1700. Vgl. dazu Dellsperger, »Weg des Friedens«. 38 Der aus Württemberg stammende Schwertfeger Schwanfelder gehörte zu den schließlich acht autorisierten »Werkzeugen« (siehe oben S. 108). Er wurde abtrünnig, heiratete »die Hagin« und zog mit ihr nach Berlin. Siehe oben S. 189. 39 XXXVII. Sammlung (1785), 44. 40 Ebd. 41 Ebd., 45. Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 84. 42 Vgl. a.a.O, 82: »Den 28ten war mein Hertz früh noch sehr verwundt wegen Samuel Königs seiner Lästerung, die er in der Frau Zerlederin Hauß über die so gute Würckung unsers GOttes gethan, da er recht den Gnaden=Geist geschmähet hat, und noch darzu spöttisch gelachet, worüber obbemeldte Frau nur geschwiegen, und der Wahrheit nicht beyfiele [. . .].« 43 Ebd., 45f. Es scheint sich um den später namentlich genannten »Helfer von Werth zu Diesbach« zu handeln (ebd., 62). Samuel von Werdt war ab 1716 als Helfer in Diessbach tätig und wurde 1725 Pfarrer in Blumenstein, wo er 1756 zurücktrat. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 86 u. 67. 44 Es handelt sich wohl um Samuel Pretelli, der bis 1719 Feldprediger in Holland war und

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der anderthalb Stunden von Thun wohnte und sich für die Inspirationssache interessierte.45 Am 2. Dezember hielt Rock eine Aussprache im Haus von Knopf.46 Am 4. Dezember 1719, dem Vortag ihrer Abreise, besuchten Rock und Schulthess Junker Gabriel von Wattenwyl und seine Frau.47 Dieser ließ sich die Aussprache Rocks diktieren, um auch eine Kopie von ihr zu besitzen.48 Am 5. Dezember reisten Rock und Schulthess weiter in Richtung Berner Oberland.49 Der Weg führte über Münsingen, Thun und Faulensee bis Leissigen. Ihre erste Anlaufstelle war der jeweilige Ortspfarrer. In Leissigen, wo sie am 7. eintrafen,50 verpassten sie Samuel Hopf,51 den Freund und späteren Nachfolger von Samuel Lutz in Amsoldingen, da er schon nach Bern abgereist war, um sie von sich aus aufzusuchen. Per Schiff fuhren sie zurück nach Faulensee und reisten von dort zu Fuß weiter ins Simmental.52 Abends erreichten sie Wimmis und zogen am nächsten Morgen nach Erlenbach, wo sie bei Pfarrer Kocher,53 der schon im Dezember 1716 Johann Adam Gruber herzlich bewirtet und seine Aussprache gut aufgenommen hatte,54 zu Mittag assen.55 Abends trafen sie in Aeschi bei Christian Helm ein, der ihnen »sein Lands=Tractament, Käß

von 1730 bis zu seinem Tod 1755 als Pfarrer in Wattenwyl wirkte. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 156. Er starb kinderlos und war »der letzte von diesem Geschlecht.« Gruner, Berner Chronik (1913), 260. 45 XXXVII. Sammlung (1785), 47. 46 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 87–90. 47 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 71. Zum Guyon-Anhänger Gabriel von Wattenwyl, der sich mutig für Täufer einsetzte, nach ihrer unmenschlichen Behandlung – und auch um sich vom Assoziationseid zu befreien – sein Pfarramt niederlegte und Hektor von Marsay 1715/16 Guyon-Schriften aushändigte, vgl. Wernle, Protestantismus 1, Reg. 48 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 78. 49 Ebd. Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 94. 50 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 79. 51 Samuel Hopf wirkte ab 1709 in Leissigen und ab 1739 bis zu seinem Tod 1751 in Amsoldingen. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 255 u. 186. 52 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 83. Ebd. steht die alte Namensform fürs Berner Simmental: »Siebenthal«. 53 Kaspar Kocher, früherer Spitalprediger zu Bern, war von 1701 bis zu seinem Tod 1739 Pfarrer in Erlenbach, vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 209. 54 Vgl. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme (1718), 306f. [Erlenbach, 13.12.1716]. Kocher hatte auch Samuel Lutz bei dessen ersten missionarischen Reise im Oberland dazu gedrängt, seine Kanzel zu besteigen. Vgl. Samuel Lutz, Das Schweitzerische Von Milch und Honig fliessende Canaan, Und hoch=erhabene Berg=Land; Mit seinen himmlischen Vortheilen, auch irrdischen Segen und Bequemlichkeiten beschrieben, Und wie diese sichtbare Sachen und leibliche Geschäffte nur Schatten=Bilder seyen geistlicher Verrichtungen / Paradisischer Vorrechten und ewiger Güter, Bern 1732 [StUB: H. X. 137], Vorrede, 45: »Es hat mir auch Herr Kocher, Pfarrer zu Erlenbach aus rechtschaffener Bruder=Liebe mehrmalen seinen Cantzel gleichsam auffgetrungen, da ich viel lieber hätte wollen Zuhörer seyn seiner gelehrten, schmackhafften, evangelischen Predigen [. . .].« 55 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 85f.

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ohne Brod, welches letzte gar rar daselbst ist«,56 vorsetzte.57 Sie übernachteten bei einem Freund namens Andreas Bühler, der sonst in Weissenbach im Simmental wohnhaft war.58 Am 8. Dezember kamen sie bis Weissenbach.59 Ein Boltiger Freund namens Hans Spori, der Rock schon im Württembergischen kennen gelernt hatte und später einem religiösen Wahn verfiel,60 begleitete sie am nächsten Tag eine Weile auf ihrem weiteren Weg, der über Saanen und Vevey nach Genf führte, wo sie am 23. Dezember eintrafen.61 Erst eineinhalb Monate später, am 31. Januar 1720, kehrten sie von Genf, wo sie François de Magny62 kennen gelernt hatten, und von Yverdon her kommend, wo sie wie einst Johann Adam Gruber Samuel Lutz vergeblich zum Verlassen des Pfarrdienstes zu überzeugen versuchten,63 wieder ins Berner Oberland zurück und erreichten am 31. Januar Zweisimmen.64 Sie waren froh, wieder im deutschen Bernergebiet zu sein und »die gefährliche[n] Gebirge da man leicht von den herunterfallenden Schneeballen in den engen Passagen kann bedecket werden«65 hinter sich lassen zu können. Ihr Weg führte sie am 1. Februar über Weissenbach zu Andreas Biel,66 über Erlenbach,67 Leissigen,68 Beatenberg,69 nach Diessbach, wo der Sattler Christian Christ Versammlungen hielt. Am 9.2. machten sie sich wieder auf den Weg nach Leissigen70 und Thun, wo sie 56 Ebd., 86. 57 Wieso sie nicht von Faulensee aus nach Aeschi gereist waren, sondern zuerst Wimmis und Erlenbach besuchten, hat wohl mit den souveränen Reiseordern des »Geistes« zu tun. 58 Dieser führte 1744 noch Privatversammlungen in Boltigen durch. Vgl. Samuel Reichenbach, Die Heimberger oder Oberländer Brüder. Die Geschichte einer pietistischen Laienbewegung im Berner Oberland, ev.-theol. Akzessarbeit, Bern 1988, 17. 59 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 99; XXXIX. Sammlung (1786), 101. 60 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 101f. Rock und Schulthess begegneten ihm Anfang Februar bei einem Freund namens P. Messerle in Wylar, vgl. ebd., 111. Spori trat in seinem elenden Zustand auch in Ernstmühl bei der Schwester Harder auf, vgl. ebd., 254. 61 Vgl. XXXVII. Sammlung (1785), 86; Rock, Lichte und Leichte (1749), 118. Rock besuchte Genf nur auf seinen ersten beiden großen Wanderzügen in die Schweiz von 1719/20 und 1727. 62 Vgl. zu Magny, Henri Vuilleumier, Histoire de l’Eglise réformée du Pays de Vaud sous le régime bernois, Bd. 3, Lausanne 1930, 324–404 passim (vgl. Bd. 4, Reg.). 63 Siehe oben S. 112. 64 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 155. 65 XXXIX. Sammlung (1786), 101. 66 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 157; XXXIX. Sammlung (1786), 101. 67 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 159. Am 3.2. besuchten sie in Erlenbach wiederum Pfr. Kocher, vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 112. Sie zogen am 4.2. weiter und nahmen den Weg über Diemtigen. Vgl. ebd., 121. 68 5.2. Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 161. Sie besuchten erneut Pfr. Hopf und trafen wiederum Herrn Kuhn und Pfr. Fasnacht »aus dem nächsten Dorf« an, vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 121. Es handelt sich um Samuel Fasnacht, von 1713 bis zu seinem Tod 1727 Pfr. in Gsteig bei Interlaken, vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 219. 69 6.2. Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 162. Sie besuchten Pfr. Keller, vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 128. 70 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 163; XXXIX. Sammlung (1786), 129.

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am 10. Februar eintrafen und »niemand[en] kannten«.71 Sie waren in Sorge, wie sie »von den Freunden selbiges Orts aufgenommen werden«,72 da schon der Befehl erteilt worden war, nach ihnen zu suchen. Sie fanden aber Aufnahme bei der Schulmeistersfrau Koch, und die Jungfer Salome Lanzrein73 stellte ihnen gar ihr Haus zur Verfügung. Am 11. Februar erhielten sie Besuch von der Jungfer Bürki.74 Sie wurden von mehreren Frauen der Familie Lanzrein bewirtet.75 Am 13. Februar hielt Rock eine an Priesterschaft und Obrigkeit Berns gerichtete Aussprache.76 Nachmittags besuchten sie Bredelli und Hug von Steffisburg, die ihnen erzählten, dass Müslin »eine Schrift von 12. Bogen« nach ihrer ersten Abreise von Bern verfasst und in Umlauf gesetzt hatte.77 Am 14. Februar reisten sie ab in Richtung Ralligen und trafen in Einigen Samuel Lutz.78 Am 16. kehrten sie wieder nach Thun zurück, wo sie erneut sehr freundlich aufgenommen wurden.79 Insbesondere »die alte Frau Landsreinin« nahm sich ihrer an.80 Am 20. kamen sie darauf zu sprechen, dass ein gewisser Rubel von Schwarzenau in Thun gewesen sei und »den alten Br. Gruber und die gute Verfassung der Gemeine anzuschwärzen gesucht« hatte. Zu diesem Zweck habe er aus einem Brief, der »vom Hallischen Matthes« verfasst worden war, und eine Aussprache der Elisabeth Harras in England vorgelesen.81 Am 22. verabschiedeten sie sich und wandten sich ihrem »neuen Kampfplatz nemlich Bern zu«.82 In Bern trafen sie am 22. Februar ein und besuchten Adam Kyburtz, der ihnen gegenüber plötzlich abweisend war. In der Stadt besuchten sie Helena Meyer und Jungfer Benedict. Das Nachtquartier bezogen sie bei Herrn Küpfer.83 Am 23. nachmittags besuchten sie Junker von Wattenwyl.84 Dieser überreichte ihnen die Schrift Müslins. 71 XXXIX. Sammlung (1786), 137. 72 Ebd. 73 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 138. Zu dieser Freundin von Ursula Meyer siehe oben S. 76 und Wernle, Protestantismus 1, 295 u. 298. 74 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 138. 75 »Auf den Abend musten wir mit der alten Frau Landsreinin zu Nacht essen, welche ihr gutes Wissen, daß sie sonderlich aus Lesung Hiels Schriften geschöpfet [. . .] an Tag gab [. . .]«. XXXIX. Sammlung (1786), 141. Zu Hiel vgl. oben S. 64. 76 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 142. 77 Sie enthielt u. a.: »daß dem Br. Neumann, als seine Frau einstens schwanger gewesen, durch Jnspiration verkündiget worden, es werde selbige ein Söhnlein gebähren, das solle Samuel heißen, sie wäre aber eines Mägdeleins genesen; Item: was mit Schwanenfelder und Hagin passiret [. . .]; ferner von einem Schneider in Himbach, welchen seine Sünden öffentlich zu bekennen man habe zwingen wollen etc.« XXXIX. Sammlung (1786), 151f. 78 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 152. 79 Vgl. ebd., 164. 80 Ebd. 81 Ebd., 172f. 82 Ebd., 174. 83 Ebd. 84 Ebd., 175.

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Am 25. kam es zur »Confrontation« beider im Hause des Junkers. Die Inspirierten berichten, Müslin hätte vieles vom Hörensagen zusammengetragen und die Verantwortung schließlich auf Samuel König abzuschieben versucht. Ihrer Ansicht nach offenbarte sich in der Konfrontation mit Müslin, »was er in der That sey, nemlich eine Maus,85 deren Signatur er auch in seiner Physiognomie habe, die alles, was ihr vorkomme, verrätsche, zerbeiße, und zernage etc.«86 Am 28. waren sie wiederum beim Junker eingeladen. Hier erwarteten sie der Sattler Christian Christ von Diessbach und Herr Haas aus Biel.87 Sie blieben bis Ende des Monats in Bern.88 Hier überbrachte Rock dem Schultheißen Samuel von Frisching (†1721) seine in Thun empfangene Aussprache über Obrigkeit und Geistlichkeit Berns.89 Am 29. besuchten sie Frau Zeerleder, »mit deren es Anfangs noch einen ziemlichen Strauß sezte«. Sie bekannte ihre Mühe mit den Aussprachen, die auch in ihrem Haus u. a. durch J. A. Gruber an ihre Töchter gehalten worden waren.90 Auf der einen Seite hatten sich die Inspirierten mit Anhängern orthodoxer Staatskirchlichkeit und auf der anderen Seite mit Pietisten, die ihre Inspirationen ablehnten, auseinander zu setzen. Am 1. März wanderte sie weiter.91 Sie verabschiedeten sich vorher noch von allen Freunden, u. a. von Helena Meyer. Auf der Weiterreise wurde in Zofingen noch eine Aussprache über die Stadt Basel gehalten.92 Am 14. März erreichten sie abends Basel.93 Am folgenden Morgen besuchten sie Jungfer Thierry und ihre ebenfalls ledige Schwester.94 Am 23. März trafen sie mit Werenfels95 zusammen.96 Der Rückweg führte sie am 26. März über Beringen ins Hurtersche Haus nach Schaffhausen.97 Rock traf erst am 24. April 1720 wieder auf der Ronneburg ein.98 Über Ursula Meyer erfahren wir während dieser Zeit nichts mehr. Einiges deutet hingegen darauf hin, dass ein langer Ablösungsprozess von den Inspirierten eingesetzt 85 Anspielung auf seinen Namen. 86 Ebd., 179. 87 Vgl. ebd., 180f. 88 Vgl. Rock, Lichte und Leichte (1749), 172 u. 175; XXXIX. Sammlung (1786), 174. 89 Vgl. ebd., 182f. 90 Ebd., 184. 91 XXXIX. Sammlung (1786), 185. 92 Ebd., 187. 93 Ebd., 219. 94 Ebd., 220. Vgl. dazu Dellsperger, Pietismus in der Schweiz, 606 u. 615 (Anm. 97). 95 Zu Samuel Werenfels (1657–1740), der ab 1711 Prof. für Neues Testament in Basel und Anhänger der »vernünftigen Orthodoxie« war, vgl. Rudolf Dellsperger, Der Beitrag der »vernünftigen Orthodoxie« zur innerprotestantischen Ökumene. Samuel Werenfels, Jean-Frédéric Ostervald und Jean-Alphonse Turrettini als Unionstheologen, in: Heinz Duchhardt/Gerhard May (Hg.), Union – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 2000, 289–300. 96 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 227. 97 Vgl. ebd., 229. Vgl. dazu Wernle, Protestantismus 1, 215. 98 Vgl. XXXIX. Sammlung (1786), 256.

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hatte. Noch im März 1721 versuchte Rock der Inspirations=Historie Scheuners zufolge, sie auf der Ronneburg mit seinen Aussprachen zu bewegen, doch Ursula Meyer, die seit dem 24. September 1719 keine Inspirationsrede mehr gehalten hatte, »konnte und wollte sich aber nicht mehr in diese enge Geistesschule hinein begeben, und konnte also der HErr Seinen Liebeszweck und Absicht, sie ferner zu Seinem Dienst zu gebrauchen, nicht mehr an ihr erreichen.«99

Ursula Meyer scheint sich wie ihre Schwester Helena, die inzwischen wieder aus der Schweiz züruckgekehrt war, den Anforderungen der Gemeinschaft nicht mehr im gewünschten Maße gebeugt zu haben. Rock bemühte sich vergeblich um das einstige »Werkzeug«. Vielleicht hatte auch der Tod Hochmanns in diesem Jahr (1721) einen Einfluss auf ihr bleibendes Schweigen. Am 1. Januar 1725 hielt Rock in der Versammlung auf der Ronneburg eine Aussprache, in der er sich direkt an Helena Meyer wendete und sie fragte: »Warum kommest du so lang ohne wahre Geistes=Gemeinschaft in diese Gemeinde? warum bleibest du so lang hochgesessen, und bringest dabey fremde Bilder unter dem Schein der Liebe mit herein? Siehe! es jammert mich deiner Seelen, spricht der Getreue! den du in deinem Grunde noch nicht wesentlich, wohl aber bildlich erkennest: Es beweget mich meine herzliche Liebes=Neigung, deiner Seelen, so du wilt, zu Hülfe zu kommen, um dich anfangen zu gründen in der Kinder=Schul;100 weil du aber eigene Freyheit liebest, und gerne nach deinem Gutfinden wandelst, wohlan! so sey dir die Wochen ein Freytag vergönnet [. . .]«.101

Wir wissen weder, was vorgefallen war, noch erfahren wir, was mit Helena Meyer weiter geschah. In derselben Aussprache forderte Rock Paul Groninger und Gottfried Neumann auf, den Willen Helena Meyers zu brechen.102 Einzig darüber besteht Gewissheit, dass Helena – und darum wohl auch Ursula – Meyer Anfang 1725 noch auf der Ronneburg weilten, ihre persönlichen Bedürfnisse nach einer gewissen Freiheit jedoch die engen Grenzen der Inspirationsgemeinden sprengten. Rock schien sich zu fragen, weshalb Helena Meyer überhaupt noch die Versammlungen der Inspirierten besuchte. Dennoch zeigt sein Kompromiss, ihr eine gewisse Auszeit (»Freytag«) zu gewähren, dass er sie noch nicht aufgegeben hatte. 99 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 105. Mir ist keine solche Aussprache Rocks begegnet. Auch Ulf-Michael Schneider (Propheten, 196) kennt keine solche. Die Aussprachen Rocks vom 16. u. 23.3.1721, die in der XI. Sammlung (1749) publiziert wurden, sind nicht an Ursula Meyer gerichtet. Ich halte es für sehr wohl möglich, dass sich solche Aussprachen im noch nicht erschlossenen handschriftlichen Quellenmaterial in Amana, USA finden lassen. 100 Jeweils am Donnerstag fand auf der Ronneburg eine Kinderversammlung statt, vgl. XVI. Sammlung (1772), 21. Der Ausdruck ist hier jedoch im metaphorischen Sinn gemeint: Helena Meyer müsse wieder eine Anfängerin werden. 101 XXV. Sammlung (1782), 4f. 102 Vgl. ebd., 6.

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Das Verhältnis zu den Inspirierten in Bern bestand unabhängig von den beiden Schwestern und ungetrübt fort. Auch wenn die Kontakte vornehmlich über sie geknüpft worden waren, entwickelten sich die Beziehungen zwischen den Wetterauer und den Berner Inspirierten selbstständig weiter. Dies zeigte sich bei Rocks zweiter Reise ins Bernerland.

Exkurs: Rocks zweite Reise ins Bernerland (1727)103 Rock unternahm 1727 mit Schulthess und Neun104 seine zweite Schweizer Reise, die sie erneut ins Welschland bis nach Genf führen sollte,105 wo die Auseinandersetzung mit dem Kreis um die junge Jeanne Bonnet (geb. 1693) den Schwerpunkt seiner Aktivitäten bildete. Bonnet war eine Anhängerin von Magny, den sie in Genf kennen gelernt hatte und dem sie nach Vevey gefolgt war. Vom »Geist« getrieben zog sie weiter nach Colombier, wo sie in Beat Ludwig von Muralt (1665–1749) und Johann Heinrich Bodmer (1669– 1743) selber glühende Anhänger fand, die auf ihr Geheiß im Januar 1725 nach Genf zogen. Nach ihren der Stadt und der Bevölkerung von Genf angekündigten Strafgerichte wurde Bonnet in Gewahrsam gebracht. Später erhielt sie in einer Inspiration den Befehl, Bourgeois – den Sohn des Pfarrers von Colombier – zu heiraten. Wenig später kamen Rock und seine Begleiter ins Land und stellten die Autorität und die Inspirationen von Bonnet in Frage.106 Ihre Reise in die Schweiz führte zunächst über Schaffhausen, Solothurn und Langnau nach Biel. Am 4. Oktober besuchten sie Bodmer107 im neuenburgischen Colombier, der sie herzlich empfing, den sie aber »samt den meisten Freunden dieses Orts von der Bonnetischen falschen Inspirations=Sache sehr eingenommen, und fast wie gefangen, angetroffen.«108 Am darauf folgenden Tag hielt 103 Vgl. dazu Wernle, Protestantismus 1, 204f.; Schrader, Schweizerreisen, 366f. u. 368f. 104 Zu Ernst Wolf Neun siehe oben S. 254 (Anm. 815). 105 Der von Wernle suggerierte Zusammenhang dieser Reise mit Nicolas Samuel de Treytorrens, der sich nach seiner Ausweisung aus Bern ins Exil nach Schwarzenau begeben und sich dort den Neutäufern angeschlossen hatte, ist spekulativ. De Treytorrens von Cudrefin verbreitete Anfang des 18. Jh.s Schriften der Bourignon. Seine mutige Fürsprache zugunsten der Täufer brachte ihm Gefangenschaft ein. Ende 1715 wurde er endgültig aus dem Bernbiet verbannt. Vgl. Pierre Barthel, Die »Lettre Missive« des Nicolas S. de Treytorrens, in: PuN 11 (1985), 1–39; Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 138f; Dellsperger, Pietismus in der Schweiz, 595f. Vgl. die Aussprache Rocks in Schwarzenau vom 24.6.1727 und die Rahmeninformationen in: XVI. Sammlung (1772), 72–78. Treytorrens lehnte die Aussprache ab. 106 Vgl. Eugène Ritter, Jeanne Bonnet, épisode de l’histoire du piétisme à Genève (1724–1726), in: Etrennes Chrétiennes 12 (1886), 114–147; Wernle, Protestantismus 1, Reg. 107 Bodmer wurde 1721 aus Zürich ausgewiesen und zog mit seiner Familie zu seinem Freund von Muralt nach Colombier. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, Reg. 108 XVII. Sammlung (1776), 37.

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Rock in von Muralts109 Haus eine Aussprache.110 Am 10. Oktober trafen sie in Genf ein und gedachten, Bonnet und ihren Mann Bourgeois aufzusuchen, doch hatte diese gerade vom »Geist« die »Reiseordre« erhalten, Genf zu verlassen, was die Inspirierten natürlich als Flucht vor der befürchteten Konfrontation mit Rock deuteten.111 Am 19. Oktober trafen Rock und seine Begleiter in Vevey »bey dem lieben Hrn. Magny« ein, der sich über ihren Besuch sehr erfreut zeigte.112 Er hatte einige Aussprachen aus »Wohl und Weh« schon ins Französische übersetzt und damit für deren Verbreitung gesorgt.113 In Chardonne besuchten sie am 21. Oktober Junker Johann Franz von Wattenwyl114 auf seinem Landgut, der ehemals deutscher Prädikant in Vevey gewesen war. Nachdem Bern 1723 die Geistlichkeit im Waadtland erneut dazu gedrängt hatte, den Assoziationseid abzulegen, setzte sich von Wattenwyl zur Wehr und ging schließlich seines Amtes verlustig. Am 28. kamen sie wiederum in Colombier an und besuchten zusammen mit Bodmer von Muralt, bei dem sich Bonnet und ihr Mann aufhielten.115 Rock und Bonnet hielten beide Aussprachen. Bonnet anerkannte die Gabe Rocks, wollte ihn aber »auf einen noch höheren Weg führen [. . .].«116 Dieser bestünde »in gänzlicher Überlassung an Gott«. Rocks Weg sei »ein activer Weg, und führe zum Reichtum, ihr Weg aber zur gänzlichen Armut [. . .].«117 Rock hielt daraufhin eine vehemente Aussprache118 gegen Bonnet und ihre »falschen« Inspirationen und Verkuppelungen »zu Fortpflanzung der Kinder GOttes«.119 Diese Aussprache bildete nach der Darstellung der Inspirierten den Anlass dafür, Heinrich Bodmer die Augen in bezug auf Bonnet zu öffnen.120 Am 1. November erreichten Rock und Schulthess Bern, wo sie schon erwartet wurden. Der Uhrmacher Haas schickte ihnen seinen Gesellen entgegen, sodass sie ohne weiteres zum Tor hineingelassen wurden. Unterkunft fanden sie – vermittelt durch den Studenten Kyburtz – beim Kaufmann Fas109 Beat Ludwig von Muralt musste 1701 Bern verlassen. 110 Vgl. ebd., 43–50 [Colombier, 5.10.1727]. 111 Vgl. ebd., 52f. [Genf, 10.10.1727]; 143. 112 Vgl. ebd., 82. Da Magny die Inspirierten erst 1719 kennen gelernt und sogar einige ihrer Aussprachen ins Frz. übersetzt hatte, wird er sich 1718 nicht von den Inspirationsgemeinden, sondern von Inspirés wie z. B. Donadille distanziert haben. Vgl. Dellsperger, Pietismus in der Schweiz, 595. Auch 1727 ist sein Verhältnis zu den Inspirierten herzlich. Als Jeanne Bonnet als Prophetin auftrat, war er darauf vorbereitet (vgl. ebd.). 113 Vgl. ebd., 87 [Vivis, 20.10.1727]. 114 Vgl. ebd., 90 [Chardonne, 21.10.1727]. Zu J. F. von Wattenwyl vgl. Wernle, Protestantismus 1, Reg. 115 Vgl. ebd., 103 [Colombier, 28.10.1727]. 116 Ebd., 104. 117 Ebd. 118 Ebd., 104–109. 119 Ebd., 104. 120 Vgl. ebd., 109f.

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nacht. Am folgenden Tag wurden sie von Frau Zeerleder aufgesucht, der sie schon auf ihrer ersten Reise 1719/20 begegnet waren. Sie »stund in der Inspirations=Sach fast eben so, wie vor 7. Jahren«.121 Am 4. November besuchten sie vormittags »die Frau Postmeisterin Fischerin,122 die dem Leibe nach etwas unpäßlich, dabey aber über diesen Besuch der Brüder herzlich erfreuet fanden, wie sie es dann auch nicht lassen konte, ihre Freundschaft gegen sie auf allerley Weise an Tag zu legen.«123 Nachmittags benötigten sie etwa eine halbe Stunde, bis sie in Melchenbühl auf dem Landgut des Junkers von Wattenwyl eintrafen, wo sie freundlich empfangen wurden.124 Während der Aussprache Rocks trat Christian Christ von Diessbach herein. Die Brüder blieben über Nacht. Am nächsten Tag, dem 5. November, besuchten sie »die arme Freundin Magdelon«, die sie schon von ihrem ersten Aufenthalt in Bern 1719 her kannten und »die sich sehr freuete, die Brüder wieder einmal zu sehen, und ihre Liebe nicht genug bezeugen konte«.125 Auch Knopf, Küpfer, Jungfer Benedict, Schneider Kyburtz, einem Studenten namens Vatter und dem Uhrmacher Hase begegneten sie. Am darauf folgenden Tag reisten sie ab in Richtung Schaffhausen. Auf dem Thorberg besuchten sie noch die blinde Christina Kratzer von Aeschi, die schon »binnen 6. Jahren Inspiration hatte«.126 Guggisberg vermutete, dass Schulthess, der Anfang der zwanziger Jahre drei Monate selbstständig und ohne Rocks Erlaubnis im Oberland missionarisch tätig gewesen war,127 die Gemeinde in Aeschi gegründet hatte.128 Deren Mittelpunkt bildete Christina Kratzer, die wegen ihren Inspirationen schließlich in Frutigen und nachher auf dem Thorberg gefangen gesetzt wurde.129 Es hieß, sie würde seit Jahren nur sehr wenig und seit 1725 überhaupt keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Gruner zufolge handelte es sich um einen Betrug, der schließlich aufgedeckt 121 XVII. Sammlung (1776), 119. Vgl. oben S. 63, 112 u. 276. Frau Zeerleder blieb den Inspirierten skeptisch bis ablehnend gegenüber. 122 Maria Elisabeth Fischer (geb. 1707) war die Tochter von Margret Zeerleder. Sie heiratete Victor Fischer von Oberried (1709–1750), den Enkel von Beat Fischer, dem Gründer der Berner Post, aber erst 1732. Mit »Frau Postmeisterin Fischerin« kann sie also 1727 nicht gemeint sein. Es handelt sich wohl um die Frau des Postherrn Beat Rudolf Fischer (1668–1714). Seine Gattin, Euphrosine Wurstemberger, wurde 1650 geboren und starb 1727. Vgl. Bernhard von Rodt, Genealogien burgerlicher Geschlechter der Stadt Bern, Bd. 2 u. 6, Bern 1950, [Bd. 6, siehe: von Wurstemberger], 224 u. [Bd. 2, siehe: von Fischer], 44. Bosshard-Höck, Margret Zeerleder-Lutz, 48f. 123 XVII. Sammlung (1776), 120. 124 XVII. Sammlung (1776), 120. 125 Ebd., 125. 126 Ebd., 126. Vgl. Scheuner, Inspirations=Historie 1, 142f. 127 Vgl. StAB, AII 680 (25.8.1723); StAB, BIII 174 (25.8.1723), 4; XIII. Sammlung (1758), 20 [12.2.1724]; XIV. Sammlung (1761), 77 [9.9.1725]. 128 Vgl. Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, 418. 129 Vgl. StAB, BIII 174 (25.8.1723), 6f.; (26.8.1723), 8; (30.1.1726), 52.

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wurde.130 Christina Kratzers Bruder Melchior war ein lediger Strumpfweber und musste im Oktober 1730 vors Vechiger Chorgericht wegen »fantästige Meinungen und irrthumen«.131 Am 20.2.1731 wurde ein Mandat wider den Separatismus erlassen.132 Schulthess und seine Frau wendeten sich den Inspirationsgemeinden erst im Spätsommer 1725 wieder zu. Rock war auf die Sprachkenntnisse von Schulthess angewiesen und konnte deshalb erst 1727 die Reise ins Welschland antreten. Wernle vermutete, Rock habe das Berner Oberland auf dieser Reise ausgelassen, weil ihn die vormaligen Agitationen von Schulthess »mancherlei Unangenehmes dort«133 erwarten ließen. Da die Erwartung von Unangenehmem Rock jedoch nie von einer Reise abgehalten hatte, scheidet diese Erklärung m. E. aus. Wernle vermutete weiter, dass die endgültige Ablösung des Schulthess von den Inspirationsgemeinden im Jahre 1728 Rocks Beziehungen zur Schweiz allgemein gelockert hätten.134 Das Jahr 1728 markiert in verschiedener Hinsicht einen deutlichen Einschnitt in der bewegten Geschichte der Inspirationsgemeinden. Der langjährige Führer und Garant zur Unterscheidung »wahrer« und »falscher« Inspirationen, sozusagen »der Papst der Gemeinde«,135 Eberhard Ludwig Gruber, verstarb.136 Sein Tod löste viele Fragen aus, wie Rocks Brief an die Himbacher Gemeinde belegt, in dem er schrieb: »Indessen ist unsers seel. Bruders End gewesen, wie sein Leben: er war unbekant den meisten, und so ist auch sein Ende den meisten unbekannt; es gehen vielerley Urtheile von seinem Tod, wie von seinem Leben.«137 Charismatisches Gewicht besass nun ausschließlich Johann Friedrich Rock. Im selben Jahr zog sich der Hofarzt Johann Samuel Carl (1676–1757),138 Gemeindeältester in Büdingen, von den Inspirierten zurück, was gerade auch für Rock einen weiteren schmerzhaften Verlust bedeutete und 1729 in einen literarischen Kampf ausartete.139 Noch im Rückblick schrieb Rock im Februar 1744 folgendes in sein Tagebuch: 130 Vgl. Gruner, Chronik von 1701–1761, 121 u. 184. 131 Zit. nach Markus Nägeli, Kirchliches Leben im Wandel der Zeit, in: ders. u. a. (Hg.), Geschichte der Gemeinde Vechigen, hg. v. der Gemeinde Vechigen, Boll 1995, 173–219, hier 191. Vgl. StAB, BIII 174 (19.2.1742), 420–422. 132 Vgl. StAB, BIII 174 (20.2.1731), 115–121. 133 Wernle, Protestantismus 1, 205. 134 Vgl. ebd. 135 Edelmann, Selbstbiographie, 258. 136 Vgl. »Von Bruder Eberhard Ludwig Grubers Leben und End«, in: XVIII. Sammlung (1780), 104–108. 137 Vgl. »Der Erste Brief des Br. J. F. Rocks über Br. E. L. Grubers End an die Brüder und Gemeinde zu Himbach (Friedenthal, den 17. Christmonat 1718)«, in: XVIII. Sammlung (1780), 108–113, hier 110f. 138 Siehe oben S. 86. 139 Vgl. Ulf-Michael Schneider, »Stroh=Kram und Wage«. Johann Samuel Carl in seinem Verhältnis zu den Inspirierten, in: PuN 16 (1990), 76–101.

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»Heute erinnere mich, daß ich vor etwa 10 bis 15 oder 20 jahren oft gesichte voraus gehabt, wie dieser und jener Bruder treu bleiben oder abweichen werde usw. und ist bei Einigen kurz, bei Andern über lang geschehen. Zum Exempel: [. . .] Dr. Carl und Neumann, da sie noch Mitarbeiter waren, wie Neumann sich zur Rechten hinter dicke Dorn= und Hecken=Büsch gestellet und ist stehen blieben; Dr. Carl aber ist zur Linken am Ende des Weinberges stehen blieben und außer dem Weinberg, und haben mich die zwei Brüder im Stich und stecken gelassen, daß ich allein, da es Abend wurde, durch einen Wald mußte, worin greuliche Mordthaten zu sehen waren, und ich [803] bin durchkommen, und die Sache ist, wie am Tage, in die Erfüllung gegangen, und sehe nun Alles mit hellen Augen.140

Noch in der Erinnerung blieb der Abschied von Carl, gegen dessen Heirat mit Johanna Sophie von Bülow am 17. Dezember 1726 im Berleburger Schloss Rock heftig opponiert hatte,141 als ein äußerst schmerzliches Ereignis für ihn haften. Die Trennung verschärfte die Problematik der Zukunft der Inspirationsgemeinden nach dem Tode Grubers. Rock fühlte sich in dieser Krisenzeit, in der 1729 auch noch seine Mutter, Anna Catharina Rock (1643–1729), in Himbach verstarb, allein und im Stich gelassen. Kein Wunder, dass er in dem auf Besuch weilenden Zinzendorf zunächst einen neuen Bruder und Verbündeten zu treffen vermeinte.

1.2 Die Auseinandersetzung mit den Herrnhutern und ihre Folgen: 1730–1749 1.2.1 Zinzendorf und Rock in der Wetterau Im September 1730 besuchte Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700– 1760) das Wittgensteiner Land.142 Dort lud man ihn dazu ein, auch die Wetterauer Gemeinden kennen zu lernen.143 So kam es, dass Zinzendorf in den Versammlungen der Inspirierten in Himbach, Büdingen und Marienborn Predigten hielt und am 24./25. September 1730 im ansehnlichen Hause Georg Melbers und nicht im Schloss übernachtete.144 Während dieses Aufenthaltes kam es auch zur sowohl für die Geschichte der Inspirierten als auch der Herrnhuter entscheidenden Freundschaft zwischen Zinzendorf und Rock. Angesichts ähnlicher Enttäuschungserfahrungen fiel es den beiden leicht, sich mit140 Erniedrigungslauf eines Sünders auf Erden in und durch Gnade, oder Tagebuch von Johann Friedrich Rock [. . .] von 1715 bis 1746. Zusammengetragen zum Nutz und zur Erbauung der Glieder der wahren Inspirations=Gemeinde, Amana 1886, 802f. [Privatbesitz von Herrn Dr. U. Bister]. Diese handschriftliche Version ist nicht identisch mit dem von Ulf-Michael Schneider (Rock, Wie ihn Gott geführet, 11–67) veröffentlichten Erniedrigungslauf. 141 Vgl. Ulf-Michael Schneider, Stroh=Kram, 88–93. 142 Vgl. dazu Pless, Separatisten; Dagmar Reimers, Sektenwesen und Herrnhuterbewegung in der Grafschaft Ysenburg, in: Büdingen. Wesen und Werden, Büdingen 1956, 255–276. 143 Vgl. Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 216. 144 Vgl. IV. Sammlung (1739), 3 u. 10f. Zu Georg Melber siehe oben S. 103.

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einander zu verbünden. In die Erzählung Zinzendorfs, »wie es so viele falsche Brüder gebe, die, wann sie von ihnen ausgehen und zurück weichen, hernach Ströme der Lästerung und Verdächtig=Machung wider sie ausschütteten«,145 konnte sich Rock bestens einfühlen. So bildeten gerade die Anfeindungen von außen ein starkes Band zwischen den Inspirierten und den Herrnhutern. Man einigte sich, fortan nicht mehr zwei, sondern eine Gemeinde zu sein, »welche durch den einigen Geist JEsu (ob gleich mit mancherley Gaben und Kräften) sich heiligen und führen lassen wolte.«146 Die freundschaftliche Verbundenheit wog anfänglich mehr als inhaltliche Differenzen. Zinzendorf, den die exaltierten Bewegungen, die die Aussprachen zu begleiten pflegten, abstießen,147 bat Rock, der wiederum die Kindertaufe ablehnte, Pate seiner Tochter zu werden. Rock reiste im Sommer 1732 – von Zinzendorf eingeladen – nach Herrnhut und blieb mit zwei Begleitern fast drei Wochen lang zu Besuch. Der ursprünglich intendierte Zusammenschluss beider Gruppierungen erwies sich jedoch als utopisch. Aus der anfänglichen Freundschaft wurde eine erbitterte Feindschaft. Zu groß waren die theologischen Differenzen. Zinzendorf bestritt die göttliche Herkunft der Aussprachen und Rock die Notwendigkeit der Sakramente. Zwei Jahre später – im Sommer 1734 – versiegte ihre bisherige Korrespondenz. Zu sehr hatten sie sich inzwischen voneinander entfremdet. Als sich der Graf Anfang Juni 1736 nach seiner Ausweisung aus Kursachsen in die Wetterau begab, erwartete ihn daher kein herzlicher Empfang von seiten der Inspirierten. Zinzendorf wählte als neuen Aufenthaltsort das Schloss Ronneburg aus – trotz seines miserablen Zustands, den Christian David ihm schilderte – und mietete es von dem Grafen Ferdinand Maximilian II. von Ysenburg-Wächtersbach.148 Am 9. Juni berichtete der »Burggraf« Otto Rudolf Balthasar Schuchart auf der Ronneburg Zinzendorf, »daß dermahlen sich in dem unterm schloß Ronneburg [d. i. die Vorburg; IN], 54 bewohnte logementer oder wohnungen befinden, worinnen lauter frembdlinge oder

145 Ebd., 12. 146 Ebd., 13. Zinzendorf wollte dies später nicht mehr wahrhaben. Vgl. sein Antwortschreiben an Rock vom 6.8.1739, in dem er sich zu vierzig ihm schriftlich gestellte Fragen äußerte: »Ich weiß auch nicht, daß ich gesagt habe: Die Inspirations=und Herrnhuter=Gemeine solte eine Gemeine seyn. Vielleicht habe ich gesagt: Ich wünschte es.« VI. Sammlung (1741), 139–149, hier 141. 147 Schon im Sommer 1731 bat Zinzendorf Rock schriftlich, gegen seine »Bewegungen« zu beten. Vgl. IV. Sammlung (1739), 41. 148 Die Ronneburg fiel zuerst an Ysenburg-Büdingen und gelangte bei der Teilung des marienbornschen Erbes an Ysenburg-Wächtersbach. Beim mehrfachen Besitzerwechsel litt der bauliche Unterhalt. Vgl. Jürgen Ackermann, Ein Leben in standesgemäßer Langeweile. Wilhelm von Ysenburg-Wächtersbach (1700–1747), zweitgeborener Sohn in der Nachfolge des Grafen Ferdinand Maximiliam I., in: Büdinger Geschichtsblätter 16 (1998/99), 247–264, hier 253; Peter Nieß, Baugeschichte Ronneburg, Marksburg 1935, hier v. a. 225–230.

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beysaßen um ihren zins wohnen [. . .]. Es können auch noch bis auff 15 logementer mit leidtlichen kosten zu recht gemacht werden, denen so hier wohnen ist das frey exercitium religionis sonsten auch alle real u[nd] personal freyheit verstattet [. . .]. Die einwohner ernehren sich theils mit dem feldtbau, theils mit verschiedenen fabriquen, theils mit allerhand handarbeit [. . .]. Bey diesem schloß befindet sich auch ein starckes guth, wießen, lenderey, schöne gärten, vieles obst, angenehme waldung, beholtzigung, most, fischerey, u[nd] was dergleichen nutzbarkeiten mehr seyn«.149

Am 14. Juni 1736 bezog Zinzendorf mit seiner Familie die Ronneburg, nachdem er mit dem amtierenden Pächter und Untervermieter Schuchart, der sich später den Herrnhutern anschloss,150 den Mietvertrag abgeschlossen hatte.151 Zinzendorf begann umgehend öffentliche Bet- und Singstunden und Versammlungen zu halten. Auf der Ronneburg hielt er Gottesdienste. Er errichtete eine kostenlose Schule für die Kinder der vielen armen Leute, die auf der Burg lebten, und bemühte sich auf allen Ebenen um eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse.152 Die Herrnhuter begannen, die Kinder der Inspirierten in ihre Versammlungen einzuladen, was notgedrungen zu Konflikten führte.153 Die neue Gemeinschaft der Herrnhuter wirkte anziehend, und mehrere Mitglieder der Inspirierten liefen zu ihnen über.154 Die Herrnhuter »breiteten sich in kurtzer Zeit so weit aus / daß andere neben ihnen keinen Raum mehr hatten / und die alte[n] Einwohner diesen neuangekommenen Gästen Platz machen musten.«155 Die Herrnhuter besetzten das Schloss und vertrieben aus Sicht der Inspirierten, denen die Ronneburg doch schon so lange als »Ort der Ruhe« bzw. »Ruhe=Platz«156 diente, alle anderen.157 Rock dichtete 1743/44: »Die Herrenhuter werben, – Die Inspirierten sterben.«158 Noch Ende Juni 1736 schrieb Zinzendorf Rock einen Brief, in dem er ihm mitteilte, er wüsste »zwischen dem Rock / als Inspirations-Werckzeugen, und zwischen dem Rock, als Christi Knecht, einen wesendlichen Un149 Amtmann Otto Schuchart auf der Ronneburg an Zinzendorf, Ronneburg, 1736 Juni 9 [UAHh, R 8.56]. Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg. 150 Vgl. IV. Sammlung (1739), 239 u. IX. Sammlung (1744), 9. 151 Vgl. dazu Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, hg. v. Hans-Christoph Hahn/Hellmut Reichel, Hamburg 1977, 132f. [Zinzendorfs Einzug auf der Ronneburg, von ihm selbst erzählt. Zit. nach Herrnhut 1936, 198]. 152 Vgl. Extracta IV (1739), 190f. 153 Vgl. ebd., 191. 154 So etwa Gottfried Neumann, siehe oben S. 104. Zur Geschichte der Herrnhuter in der Grafschaft Ysenburg vgl. Reimers, Sektenwesen; Klaus-Peter Decker, »Gemeine des Lammes« oder »Staat im Staate«? Der Herrnhaag als politisches Modell und sein Ende 1747–1750, in: JHKGV 52 (2001), 25–51. 155 IX. Sammlung (1744), 9. 156 Ebd. 157 Vgl. ebd., 9 u. 11. Schuchart machte Rocks »Ruhe=Platz in der That zum Tummel=Platz«, Aussprache Rocks vom 21.5.1742 in Gelnhausen, in: ebd., 19–25, hier 24. 158 VI. Sammlung (1741), 76.

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terscheid zu machen«.159 Am 22. Juli 1736 reiste Zinzendorf in Begleitung unterschiedlicher Herrnhuter Brüder und Schwestern von der Ronneburg über Hanau nach Frankfurt.160 Endziel seiner Reise waren Riga und Reval. Auf seinem Weg besuchte er noch am 24. Juli 1736 Rock in Himbach, bei dem er sich darüber beklagte, dass ihm und seinen Brüdern und Schwestern der Umgang mit den Inspirierten inzwischen verwehrt würde. Rock jedoch unterstützte diese von den Ronneburger Inspirierten mit gutem Grund beschlossene Trennung.161 Zinzendorfs allein zurückgelassene Frau zog am 11. Oktober 1736 nach Lindheim zum Vetter des Grafen, dem Freiherrn Ludwig Carl von Schrautenbach,162 und schließlich nach Frankfurt am Main. Zinzendorf, der in der Zwischenzeit lediglich zweimal auf der Ronneburg weilte, mietete zwei Jahre später das vom Grafen von Ysenburg-Meerholz von der ausgestorbenen Linie Ysenburg-Marienborn ererbte und seit 1725 leer stehende Schloss in Marienborn bei Eckartshausen. Noch vor dem Umzug kaufte er den bei Büdingen gelegenen Haag, der zum Zentrum der Brüderkolonie werden sollte, während er selbst in Marienborn residierte. Am 1. Januar 1747 verließ er seinen Wohnsitz im Meerholzer Stammteil und bezog auf Büdinger Territorium das neu erbaute Grafenhaus, auch »Lichtenburg« genannt, im Herrnhaag. »Mit der Aufnahme der Herrnhuter schien der Büdinger Graf einen Glücksgriff getan zu haben. Denn es handelte sich nicht, wie bei den bisherigen Exulanten, um schwierige Einzelgänger oder kleine, in sich zerstrittene Gruppen, sondern um eine wohlorganisierte Gemeinschaft, mit ökonomischem Potential ausgestattet und mit Kapital versehen.«163 Der Gemeinort Herrnhaag entwickelte sich zum Staat im Staate und wurde zum Zentrum für die Reformierten. Dadurch gewannen auch die Schweizer an Bedeutung.164 Als Ernst Casimir am 15. Oktober 1749 starb, übernahm sein zweiter Sohn Gustav Friedrich die Regierung. Am 12. Februar 1750 erließ er ein Emigrationspatent. Die Herrnhaager hatten innerhalb dreier Jahre abzuwandern.165 159 IV. Sammlung (1739), 197. 160 Vgl. ebd., 217. 161 Vgl. ebd., 211f. 162 Zu Schrautenbach vgl. Hermann Bräuning-Oktavio, Ludwig Carl von Weitolshausen genannt Schrautenbach, Herr zu Lindheim in der Wetterau, der »denkende philosophische Herrnhuter«, in: HJLG 13 (1963), 223–279. 163 Vgl. Decker, »Gemeine des Lammes«, 33. 164 Vgl. Rudolf Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz, Bd. 3, Zürich 1984, 29: »Wie Herrnhut für die Lutheraner, so wurde Herrnhag für die Reformierten Mittelpunkt der Brüdergemeine. Damit traten auch die Schweizer vermehrt ins Interessenfeld.« So auch Rudolf Dellsperger, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine zwischen Berner Patriziat und Heimberger (Oberländer) Brüdern, in: ders., Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit, Bern u. a. 2001, 133–162, hier 139. 165 Vgl. zu den Ursachen dieses Patents: Hans Schneider, Christoph Friedrich Brauer und das Ende des Herrnhaag, in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente, hg. v.

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Schon am 21. Februar emigrierte eine Gruppe von 90 ledigen Brüdern nach Pennsylvanien. Binnen kürzester Zeit waren die fast tausend Bewohner und Bewohnerinnen vom Herrnhaag weggezogen.166

Abb. 3: Herrnhaag und im Hintergrund die Ronneburg [UAHh, TS Mp. 88.1.a Herrnhaag, A. H. Dietrich, 1755]

1.2.2 Aufnahme der Edition der EXTRACTA Das anfänglich freundschaftliche Nebeneinander der Inspirierten und Herrnhuter entwickelte sich Ende der 1730er Jahre zu einem unerfreulichen Gegeneinander.167 Zwischen 1736 und 1789 wurde die 42-bändige Sammlung »J. J. J. Aufrichtige und warhafftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen« gedruckt. Die Aufnahme dieser Publikationstätigkeit von 1736 an als Form der Selbstvergewisserung und identitätsErich Beyreuther/Gerhard Meyer/Amedeo Molnar, Reihe 2, Bd. XVIII: Antizinzendorfiana V. Bericht der Büdingischen Grafschaft, Hildesheim/New York 1978, 1–103, hier 40. 166 Anders als der Herrnhaag hielt die Marienborner Kolonie bis 1773 aus. 167 Vgl. Goebel, Inspirations=Gemeinden (1855), 137–160.327–342; Hans Schneider, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, in: Orthodoxie und Pietismus, hg. v. Martin Greschat, Stuttgart u. a. 1982 (= GK 7), 347–372, hier v. a. 358f.

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sichernde Maßnahme wird in Zusammenhang mit der Niederlassung des vertriebenen Grafen von Zinzendorf auf der Ronneburg gesehen werden müssen und mit der dadurch entstandenen neuen Konkurrenzsituation.168 Zwischen 1715 und 1725 veröffentlichten die Inspirationsgemeinden mindestens dreizehn Publikationen; dann brach ihre Drucktätigkeit ab. Erst über zehn Jahre später wurde wieder ein Werk herausgegeben, nämlich Band 1 der EXTRACTA, Auszüge aus den handschriftlichen Gemeinde-»Diarien«, in dem Aussprachen Rocks die Kritik der beiden Separatisten Christoph Schütz und Theodor Krahl gegen die Inspirationen abzuweisen versuchen.169 Es handelt sich um dieselbe Kritik, die sie von seiten der Herrnhuter erfuhren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Aussprache Rocks in Hanau vom 4. März 1742, die deutlich auf die Herrnhuter anspielt: »Es war ein weiser Gärtner, der legete einen schönen Garten an, und nahm sich vor, allerley gute und fruchtbahre Bäume da hinein zu pflantzen. [. . .] Es kamen andere Gärtner, welche oben über den Zaun stiegen, und ihre Pflantzen auch in Garten setzeten. Diese ihre Pflantzen trugen schnell Frucht zu grosser Parade=Machung, daß dadurch der wahre Gärtner gering geschätzet und verachtet wurde, diese aber, die oben hinein gestiegene Gärtner, gelobet, geliebkoset, gerühmet wegen ihres schnellen Fleisses.«170 Die Herrnhuter wiesen einen größeren Erfolg auf als die Inspirierten und drängten diese ins Abseits. 1739 erschien der vierte Band der EXTRACTA.171 Dieser widmete sich ganz den Beziehungen zwischen den Inspirierten und Zinzendorf bzw. den Herrnhutern zwischen 1730 und 1739. Darin findet man Rocks Aussage von Anfang Februar 1739: »Bleibe du Graf, Bischof172 / und gar gros: ich wil Sattler bleiben [. . .].«173 Dass Rock als Hofsattler den Reichsgrafen duzte, wurde von den Gegnern Zinzendorfs gern gegen ihn verwendet. Am 13. Juni 1743 hatte Rock seine letzte Aussprache gegen die Herrnhuter und kam zum Urteil: »Wir dachten, du seiest eine reine Jungfrau, so aber bist du eine aufs greulichste befleckte Hure.«174

168 Vgl. Schneider, »Geheimer Brief=Wechsel«, 218f. 169 Wie oben S. 13 (Anm. 4). 170 I. Sammlung (21743), 85f. 171 J. J. J. Aufrichtige und warhaftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen DIARIO Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. IV. Sammlung / In sich haltend: Alle bisher an die Herrnhutische Gemeine und auch einige besondere Seelen ergangene Göttliche Zeugnüsse, Auf Befehl des Geistes des HERRN / dem Druck übergeben. Welchen, Zu desto deutlichern Erläuterung, die zwischen der Herrnhutischen und Inspirations-Gemeinen gewechselte Briefe, Auf vieler Ansinnen und Gutachten, beygefüget sind [. . .], o. O. 1739. 172 Zinzendorf wurde am 20.5.1737 zum Bischof geweiht. Vgl. Graf ohne Grenzen, 172–174. 173 Vgl. IV. Sammlung (1739), 315. 174 IX. Sammlung (1744), 32.

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1.2.3 Intensivierung der Missionstätigkeit im Bernerland Der dritte so genannte »Brüderbesuch«175 in der Schweiz erfolgte im selben Jahr, in dem Zinzendorf sich in der Wetterau niederließ und die Inspirierten mit der Edition der 42-bändigen EXTRACTA begannen, nämlich 1736. Die nun folgenden gehäuften Reisen Rocks in die Schweiz, die 1736, 1738 und 1741 stattfanden, müssen im Kontext der Niederlassung Zinzendorfs und seiner Anhänger in der Wetterau und der daraus entstandenen verschärften Konkurrenzsituation gesehen werden. Die deutschen Inspirierten, die Anhänger an die Herrnhuter verloren hatten, bemühten sich offenbar, den Terrainverlust in der Wetterau wettzumachen und neue Mitglieder im ab 1736 intensiv berücksichtigten Missionsgebiet der Schweiz zu gewinnen. Zudem suchten sie bei den dort schon bestehenden Inspirationsgemeinden Rückhalt in ihrer schwierigen Situation daheim. Die Inspirierten versuchten nicht der Konkurrenz auszuweichen, sondern ihr durch aktive Missionsarbeit zu begegnen, weshalb sie ihr Augenmerk auf das vernachlässigte Gebiet verlagerten. Von besonderem missionarischen Interesse war für sie das Bernbiet, und insbesondere das Berner Oberland. Schon am 4. Mai 1736 hielt Rock in Bergheim eine Aussprache in der Gegenwart von zwei »Freunden aus Bern in der Schweitz«.176 Anfang Oktober besuchte Rock mit Wernher177 und dem Schweden Wickmark zunächst Daniel Willi178 in Chur, von dessen Rücktritt vom Pfarramt sie wohl vernommen hatten. Anschließend suchten sie verschiedene bernische Inspiriertengemeinden vor allem in der Umgebung von Thun auf, wobei Samuel Lutz Adressat einer Aussprache Rocks war. Am 12. Oktober erreichten sie Diessbach und am Abend des 13. Oktobers 1736 hielt Rock begleitet von Wernher und Wickmark »in Br. C. Chr. Hause«179 eine Aussprache.180 Am 16. Oktober befanden sie sich in Aeschi bei Leissigen. Abends in des Freundes Hans Grafs Haus, im Beisammensein »viele[r] erweckte[r] Gemüther aus dasigen Gegenden«,181 kam Rock wieder in Inspiration.182 Seine Aussprache »erregte eine grosse Bewegung in und unter denen anwesenden 175 Diese dritte Schweizerreise Rocks wird in der II. Sammlung (1745), u. XXXII. Sammlung (1783) beschrieben. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 205f. 176 I. Sammlung (21743), 36. 177 Philipp Wernher und sein Bruder Friedrich waren Söhne eines reformierten Pfarrers im Zweibrückischen. Sie stießen etwa 1726 zu den Inspirierten ins Ysenburgische. Vgl. XVI. Sammlung (1772), 46. 178 Zum Bündner Pfr. Daniel Willi (1696–1755) vgl. Dellsperger, Der Pietismus in der Schweiz, 604 u. 606; Seidel, Pietismus in Graubünden, 117–270. 179 II. Sammlung (21745), 45 [Diessbach, 13.10.1736]. Es handelt sich um den Sattler Christian Christ. 180 Vgl. ebd., 45–49. 181 Ebd., 49. 182 Vgl. ebd., 49–53.

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Seelen, welche es mit vielen Thränen, Wintzeln und Seuffzen anhöreten«.183 Über zwei Stunden blieben sie nachher still beisammen. Auf der Rückreise von Aeschi legten sie einen Halt in Thun ein. Im Oktober 1736 schrieb Rock in sein Tagebuch: »Den 18. früh kam die Jungfer Lantzreinin zu uns; wir redeten von Mancherlei. Sie ist der U[rsula] Mayerin besondre Schwester.«184 Am 19. Oktober erreichten sie in Oberzelg bei Diessbach das Haus eines Chorrichters, wo eine stattliche Anzahl ihnen wohlgesinnter Leute zusammenkam.185 Auch von Muralt und Bodmer in Colombier statteten sie auf einem »kurze[n] Seitensprung« wiederum einen Besuch ab.186 Auf der Rückreise holte sie Niklas Vögele aus dem bernischen Ursellen nach einem über 22stündigen Marsch ein. Aber auch in Basel, wohin sie Christian Christ begleitete, wandten sie sich an Gleichgesinnte wie z. B. Annoni, der die Inspirierten in Himbach zuvor aufgesucht hatte.187 Von der Stadt Bern erfahren wir sowohl während dieser als auch der nächsten Reise nichts mehr. Hier wirkte sich offensichtlich die Gegenpropaganda von Müslin und Samuel König, der 1730 wieder hatte heimkehren dürfen, aus. Bei der 1738 stattfindenden Reise über das Württembergische in die Schweiz wurden Rock und Wickmark von Niklas Vögele begleitet, »welcher von Hürsellen188 aus dem Berner Gebiet gekommen war, die Brüder im Ysenburgischen und Wittgensteinischen etc. zu besuchen«.189 Vögele verließ Rock und Wickmark in Schaffhausen und reiste über Zurzach direkt ins Berner Oberland zurück.190 Als Rock und Wickmark am 8. September in Ursellen eintrafen, kehrten sie bei Vögele ein.191 In der Aussprache Rocks am nächsten Tag im Hause Vögeles erhielt dieser den Auftrag, mit Christian Christ, dem Diessbacher Sattler,192 zu besprechen, wer Rock und Wickmark zu Samuel Lutz ins Oberland begleiten sollte.193 An den darauf folgenden Tagen hielt Rock in Christian Christs Haus in Diessbach Aussprachen.194 Darauf reisten sie in seiner und des Oberhofner Christian Luginbühls Begleitung über Thun, Brienz, Meiringen bis auf Guttannen im Oberhasli – ein wahrlich »sehr be183 Ebd., 53. 184 Rock, Erniedrigungslauf, 604. Wie oben Anm. 73. 185 Vgl. II. Sammlung (21745), 53–59. 186 Wernle, Protestantismus 1, 205. 187 Vgl. Hildegard Gantner-Schlee, Hieronymus Annoni (1697–1770). Ein Wegbereiter des Basler Pietismus [Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft, Bd. 77], Basel 2001, 130. 188 D.i. Ursellen. 189 III. Sammlung (1739), 7. Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 206f. 190 Vgl. III. Sammlung (1739), 37. 191 Vgl. ebd., 71. 192 Vgl. XVII. Sammlung (1776), 120. 193 Vgl. III.Sammlung (1739), 76. 194 Vgl. ebd., 77–87.

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schwerliche[r] und gefährliche[r] Weg«.195 In Guttannen besuchten sie Christen Huber (1693–1739), Führer der dortigen Erweckten.196 Hadorn urteilte: »Die Aussprachen Rocks atmen den alten kräftigen prophetischen Geist, aber es liegt Rückzugsstimmung über ihnen.«197 Auf dem Rückweg hielt Rock am 15. September in Aeschi eine Aussprache, in der Samuel Lutz direkt angesprochen wurde: »O! Lutz! wie viele Seelen, wie viele Geister werden durch deine Verstellungen beflecket? Es wird dir schwer werden, wann sie dich anklagen werden: Sie seyen durch deinen Heuchel=Schein oder Schein=Heiligkeit / angesteckt und mit hingerissen worden [. . .] Dann wirst du sagen: Ja! Ich bin gewarnet worden; habe es aber nicht zu rechter Zeit geachtet.«198 Diese Aussprache wurde Lutz in Amsoldingen von den Inspirierten überreicht, der ihnen gegenüber zwar freundlich, aber dennoch unbeeindruckt blieb.199 Lutz hatte sich schon 1708 in einem Werk, das bis heute irrtümlich Georg Thormann zugeschrieben wird,200 ablehnend zu den neu auftretenden »unterschiedene[n] Geister[n] in allerley Religionen [. . .] / die sich dergleichen Träumen / Offenbahrungen / Erscheinungen und Gesichteren anmassen«,201 geäußert. Rock besuchte die Gemeinden im Berner Oberland zum letzten Mal 1741.202 Als »ein gewüßer Geisttreiber«203 kam er im Juni begleitet von Jonas Wickmark und Niklas Vögele von Ursellen ins Land. Am 8. Dezember 1741 wurde ein Haftbefehl gegen Rock erlassen,204 und Vögele und Christ, der »ohne die geringste beßerung«205 in seiner missionarischen Tätigkeit fortgefahren war, erhielten wegen Renitenz eine Buße. Noch im gleichen Jahr wurde Rock gefangen genommen und ausgewiesen. Den Beziehungen zum Berner Ober195 Vgl. ebd., 87. 196 Vgl. Reichenbach, Oberländer Brüder, 43f. Seine Lieder wurden 1745 in zweiter Aufl. gedruckt und mit seiner Biographie versehen, die Samuel Lutz verfasst hatte. Vgl. ebd., 43. 197 Hadorn, Die Inspirirten, 214f. 198 III. Sammlung (1739), 93f. 199 Vgl. ebd., 94 u. 100f. 200 [Samuel Lutz,] Wohlgemeinte Und in der Liebe abgefaßte Untersuchung Der so genandten Pietisterey / Und Auflösung der dißfalls vorkommenden vornehmsten Zweiffels=Fragen / Mit angehenckter treu=hertzigen Vermahnung zur wahren Pietet und Christlichen Einigkeit / Von einem Seligen Liebes=Jünger JESU, Verlag Niclaus Emanuel Hallers und Compagnie, Bern 1708 [StUB: H. IL. 424/Theol XVI. 165]. Die Verfasserangabe »Seliger Liebes=Jünger JESU« bildet das Kryptonym von Samuel Lutz Jn Jyverdon. Das Kryptonym »Liebes=Jünger« erinnert an Lutz’ späteres Pseudonym »Christo-philus«. Die Schrift wurde vermutlich deshalb Thormann zugewiesen, weil von einem Seligen Liebes-Jünger die Rede ist und Thormann 1708 gestorben ist. 201 Ebd., 60. Als Beispiele nennt er Petersen, Rosamunde Juliane von der Asseburg und Jane Leade. 202 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 207. 203 StAB, BIII 174 (10.7.1741), 374. 204 Ebd. 205 Ebd., 375.

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land tat dies jedoch keinen Abbruch. Anfang 1745 waren Jakob Christ von Diessbach bei Bern und Andreas Brühlmann vom schaffhausischen Lohnheim in Gelnhausen zu Besuch. Rock hatte 1740 Himbach aufgrund neuer Zunftverordnungen verlassen und nach Gelnhausen bei Hanau ziehen müssen, wo ihn der Ganerbe Gremp von Freudenstein in seine Burg aufnahm.206 Christ trug Briefe bei sich, »worinnen unter andern enthalten, daß die Freunde und Brüder im Oberland hoffeten, die Brüder hieraussen würden diesen 2 Reisenden einen Bruder mitgeben, der die Freunde und Brüder im Oberland wieder besuchte.«207 Rock wies die Bitte in seiner Aussprache vom 6. Februar 1745 zurück und meinte, der Bruderbesuch in die Schweiz sollte zu einem späteren Zeitpunkt geschehen.208 Erst im August 1746 wurde der Bitte der Inspirierten aus dem Oberland entsprochen. Jonas Wickmark trat zunächst mit Jacob Friedrich Rock, einem Neffen von Johann Friedrich Rock, »auf Befehl des Geistes« eine Reise in die Schweiz an, die er mit Paul Giesebert Nagel fortsetzte.209 Der Weg führte über Schaffhausen ins Bernerland. Am 11. Oktober 1746 erreichten sie Diessbach und verbrachten mehrere Wochen bis nach Weihnachten in der Gegend. Ihr Aufenthalt schien erfolgreich gewesen zu sein.210 Am zweiten Weihnachtstag 1746 waren wiederum verschiedene Schweizer bei Rock in Gelnhausen zu Besuch, darunter auch Niklas Vögele und Christian Christ aus dem Bernerland.211 Wernle wies schon auf die zentrale Rolle 206 Vgl. dazu Kurt Hermann, Die Auswanderung der Inspirierten, in: Heimat-Blätter für den Kreis Büdingen 17/7 (1954), 58f.; Jürgen Ackermann, Die Vertreibung der Rockischen Brüdergemeinde aus der Burg Gelnhausen, in: Büdinger Geschichtsblätter 15 (1995/96), 221– 227. 1753 mussten die Inspirierten wegen Kündigung des Schutz- und Wohnrechts die Burg verlassen und ließen sich in Lieblos auf dem Hof des Grafen Ysenburg-Meerholz nieder, wo sie eine Strumpfweberwerkstatt betrieben. Vgl. Wilfried Günther, Die Geschichte der Inspiranten in Lieblos, in: Grindaha. Veröffentlichungen des Geschichtsvereins Gründau e. V., Bd. 6 (1996), [o. S.]. 207 XLI. Sammlung (1788), 163. 208 Vgl. ebd., 164. 209 XLII. Sammlung (1789), 164. 210 Vgl. XLII. Sammlung (1789), 165: »Gott gab Gnade in dieser, der Belper und Richiger Gemeinde, daß die Glieder und älteste Brüder näher zusammen zu tretten angefasset und angewiesen worden, desgleichen auch unter den Kindern zu Richigen der HErr kräftlich mitwürkete; wir hielten unsere Abendstunden im Herausreisen unter Versammlung der benachbarten Seelen zu Sumiswald, Brittern, Oberburg, Ochleberg, im Boden, zu Mattiswyl, Langenthal, im Hungerzelt, im Bivan bey Zoffnigen, auf dem Bentzenhof bey Arau, und langten nach herzl. Abschied unter vielem Segen, den Gott bey diesen einfältigen und hungerigen Seelen häufig fließen lassen, zu Schafhausen an den 13 Jan. Der Jungfer. Thurnerin und Schw. Jetzlerin vorgehabter Besuch ins Deutschland verzögerte unsre Abreise von dannen bis den 2. Febr.« Die unverheiratete M. E. Imthurn war mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Jetzler Ende Juni 1748 in Gelnhausen bei Rock zu Besuch, vgl. XLII. Sammlung (1789), 205 u. 207. Sie reisten am 1.7. nach Homburg und von dort zurück nach Schaffhausen, vgl. ebd., 210. 211 Vgl. XLII. Sammlung (1789), 66.

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von Christian Christ und Niklas Vögele für die Aufrechterhaltung der Beziehungen der Inspirierten im Berner Oberland zu den deutschen Inspirierten hin.212 Am 7. April 1747 kehrten Jonas Wickmark und Paul Giesebert Nagel von ihrer Schweizerreise zu Rock nach Gelnhausen zurück.213 Ende Juni 1748 reisten Nagel, Wickmark und Löw214 ins Wittgensteinische und nach Neuwied.215 Es war das letzte Mal, dass Nagel Rock vor dessen Tod sehen sollte. Als Rock am 2. März 1749, nachdem er fast dreißig Jahre lang alleiniges »Werkzeug« gewesen war, schließlich in Anwesenheit seines Neffen Jacob Friedrich Rock und Jonas Wickmarks starb und im Beisein von vier Schweizer Inspirierten bestattet wurde,216 fehlte den Gemeinden fortan die letzte lebende, autoritative Verbindung zu den Anfängen. Mit dem Erlöschen der Prophetie war das konstitutive Merkmal der Inspirierten verschwunden. »Von nun an erlebten die Inspirationsgemeinden eine lange Zeit der Abnahme und des Aussterbens [. . .].«217 Trotz des Todes Rocks blieben die Inspirationsgemeinden und ihre Beziehungen untereinander bestehen. Der Separatismus hatte nicht bloß in Bern, sondern in großen Teilen der Schweiz starke Impulse durch die missionarischen Reisen der Inspirierten erhalten.

1.3 Auszug aus einem Brief Ursula Meyers an eine unbekannte Schwester vom 13. Februar 1738 Während der Ära Zinzendorfs in der Wetterau und den darauf folgenden Reisen Rocks in die Schweiz erfahren wir aus den Werken der Inspirierten weder etwas vom Verbleib Ursula Meyers noch von ihrem Ableben im Jahre 1743.218 Auf der Namensliste, die im Zusammenhang mit einer Bestandesaufnahme der Ronneburg im Jahre 1740 angefertigt wurde, erscheint sie nicht 212 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 206: »Rock hat die beiden Berner gleichsam ordiniert als Brüderpfleger im Sinn der Inspirationsgemeinden.« 213 Vgl. ebd., 166. 214 Zu Caspar Löw vgl. Br. Caspar Löws Eigene Erzählung, wie er zur Erweckung gekommen und wie sich das Inspirations=Wort an seiner Seele er- und bewiesen habe, in: Scheuner, Inspirations=Historie 2, 104–109. 215 Vgl. XLII. Sammlung (1789), 207. 216 Vgl. XLII. Sammlung (1789), 225f. 217 Max Goebel, Art. Inspirirte und Inspirationsgemeinden, in: REC 6 (21880), 764–769, hier 769. Donald F. Durnbaugh sieht in der Zeit nach dem Tod Rocks »eine lange Ära des Tiefstandes, während derer die Mitglieder darauf angewiesen waren, die Zeugnisse und Prophezeiungen der früheren Führer [. . .] immer wieder vorzulesen.« Ders., Radikaler Pietismus als Grundlage deutsch-amerikanischer kommunaler Siedlungen, in: PuN 16 (1990), 112–131, hier 124f. 218 Wie oben S. 44 (Anm. 53).

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unter den Beisassen.219 Ihr Tod wird weder in den EXTRACTA noch in der weitere Quellen verarbeitenden Inspirations=Historie Scheuners erwähnt. Ein Hinweis in einer Anmerkung in Renkewitz’ Monographie über Hochmann von Hochenau hilft uns weiter. Renkewitz erwähnt hier ein »Antwort-schreiben[s] der Schwester Ursula Meyerin«.220 Dieses ist im Archiv der Brüdergemeine Ebersdorf noch als handschriftliche Kopie vorhanden, die nun im vollen Wortlaut wiedergegeben und interpretiert werden soll: »Copia antwort-schreibens von der Schwester Ursula Meyerin an eine vertraute schwester, von der sie gefragt worden: was sie von dem geist der inspiration, u[nd] denen in diesen tagen sonderlich unter uns entstandenen bewegungen dieses geistes halte. d[e] d[ato] 13. febr[uaris] 1738 L[iebe] schwester. Ich kan dir nicht so darauf antworten, wie du verlangest, denn ich habe das unfehlbare innerl[ich]e erkenntnüß nicht davon. Sollte ich sagen, die inspirationen seyen eine wahre prophetische krafft gewesen, das kann ich nicht; dann viel dargegen lauffende dinge darunter erfahren müßen. Sollte ich dann sagen, es seyen vom versucher gewesen, so mußte ich glauben, der l[iebe] Gott habe mich mehr als 7 jahr lang von einem bösen geist besitzen laßen, wovor mich der l[iebe] Gott bewahren wolle. Was ich darunter erfahren, kan ich wohl sagen: 1) Daß es eine geistes krafft, u[nd] keine bloße phantasie221 gewesen, 2) daß sie mir zu starck, u[nd] ich mich durch meinen gegenstand,222 wie gern ich gewollt, nicht davon loß machen können, sondern die hülffe Gottes erwarten mußen, 3) daß ich von der ersten bewegung an biß zulezt immer ja beständigen zweifel dagegen gehabt, 4) daß ich durch die bewegungen fast allezeit sehr turbiret worden. 5) daß ich also den geist nicht so innig in mir erfahren, als etwan sonsten die gnaden-züge u[nd] besuchungen des l[ieben] Gottes vor= und nach der inspiration, da ich in meinen innerlichen ängsten, versuchungen, beym zunahen zum l[ieben] Gott gar offt in eine so tieffe ruhe u[nd] zufriedenheit gesetzet war, daß in meinem innern u[nd] eußern creutz getrost fortginge, als wann mich keine qual mehr rühren könnte,223 da hingegen der inspirations-geist mich in tausend ängsten [1r/1v] setzte, u[nd] ich gerne unterdessen gewißh[eit] haben oder davon looß seyn wollte. So viel habe ich aus erfahrung, daß es ein geist, der auf die sinnen u[nd] neigungen des gemüths wircken konnte, aber den Gott ergebenen innern willen nicht berühren konnte, dann zwischen der zeit, wie vor u[nd] nach, mein innerstes in gleichem verlangen nach Gott allein gewesen. Ich mußte nun eine grundliche erkenntnüß der geister haben, wann ich sagen wollte: diß ist von 219 Fürstlich Ysenburg-Büdingensches Archiv, Ronneburg 175. 17: Eine daselbst vorgenommene Besichtigung derer Gebäude zugl. Eine Untersuchung derer daselbst wohnenden Beysaßen betrf. [17. Dezember 1740] 38 Namen (Familienväter und ledige Männer und Frauen). 220 Renkewitz, Hochmann, 292 (Anm. 107). 221 Einbildung. 222 Innerer Widerstand, das Sich-dagegen-Stellen. Es handelt sich um einen im InspiriertenSchrifttum häufig für den Sachverhalt verwendeten Begriff, dass versucht wurde, eine hervorbrechende Aussprache willentlich zu unterdrücken. 223 Vgl. Sap 3.1: »Aber die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.«

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dem u[nd] dem geist gewesen. Wann es der M[ei]ster Krahl224 hat, so laße ichs ihme vor sich. Allein mein gemüth geht lieber in das ein, was ewig bleibend ist, u[nd] betrachtet lieber die unergründliche liebe des Gottes in unserem l[ieben] Heyl[and]. . . . Wann ich einmahl klärl[ich] sehen werde, aus wie viel versuchungen mich mein Gott erlöset, u[nd] wie die gefahren, worinnen ich auch in der inspiration geschwebet, größer gewesen als ich noch jetzt einsehe, so werde Ihm von s[ein]e gnädige bewahrung u[nd] hülffe desto mehr dancken. p[erge]»225

Der erste Abschnitt dieser Kopie des Antwortschreibens von Ursula Meyer bestätigt den Inhalt des Regests, aus dem hervorgeht, dass sich eine Schwester offenbar schriftlich an Ursula Meyer gewandt hatte mit der sie umtreibenden Frage nach dem »Geist der Inspirationen«. Die gewünschte Beantwortung dieser Frage entweder im Sinne einer klaren Befürwortung oder einer deutlichen Verwerfung der Inspirationen muss Ursula Meyer ausschlagen. Sie tut dies mit dem Hinweis auf ihr eigenes Unvermögen, ein gesichertes und endgültiges Urteil über die Inspirationen abgeben zu können. Dies führt sie aus, indem sie die gestellte Entweder-Oder-Möglichkeit einer Antwort expliziert. Eine positive Antwort, die in den Inspirationen eine »wahre prophetische Krafft« wirken sähe, lehnt Ursula Meyer mit der nicht näher erläuterten Begründung ab, dass sie vieles erlebt hatte, das einem solchen Urteil widersprechen würde. Eine negative Antwort, die die Inspirationen dem Teufel zuschriebe, lehnt Meyer jedoch ebenfalls ab. Diese bedeutete nämlich, dass Gott sie »mehr als 7 Jahr lang« der Macht eines bösen Geistes überlassen hätte. Ursula Meyer hatte ihrer eigenen Erinnerung zufolge also bis 1722 Inspirationen. Die letzte uns erhaltene Aussprache stammt aber aus dem Jahre 1719. Im März 1721 hieß es schon, Ursula Meyer hätte keine Aussprachen mehr.226 Es bleiben somit offene Fragen zum Ende des Wirken Meyers als prophetisches »Werkzeug«. Eine eindeutige Zuordnung der Inspirationen als »göttlich« oder »teuflisch« schließt Ursula Meyer aus. Statt ein normatives Werturteil über die Inspirationen abzugeben, antwortet sie, indem sie der Schwester schildert, was sie während ihren Aussprachen erfahren hatte. Es folgt also kein abschließendes Urteil, sondern ein Erfahrungsbericht. In fünf Punkten fasst Ursula Meyer das ihr wichtig Erscheinende zusammen:

224 Wahrscheinlich der Separatist Theodor Krahl, geb. am 3.8.1688 als Sohn des Schusters David Krahl in Cottbus, getauft am 5.8.1688 in der Oberkirche zu Cottbus, Schusterlehre, 1706 in Berlin in Hausversammlungen von Johann Porst, 1709 in Frankfurt, 1713 verheiratet mit NN, 20.2.1713 Übersiedlung nach Büdingen, gräflicher Hofschuster, literarische Kontroverse mit dem Frankfurter Pfarrer Johann Friedrich Starck, starb am 10.12.1736 in Büdingen. – Krahl war Handwerks-»Meister«, außerdem ist er schon 1736 gestorben, während der Brief von 1738 stammt. Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg. 225 P[erge]: fahre fort; usw. – Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine Ebersdorf, P. A. II R 8,7. 226 Siehe oben S. 281.

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Zuallererst hält sie fest, dass es sich bei den Inspirationen um »eine Geistes Krafft« handele und nicht um menschliche Einbildung. Zweitens betont sie die Übermacht der Kraft, gegen die sie keine Chance gehabt hätte. Drittens und viertens erinnert sie sich an ihre Zweifel und Ambivalenz den Bewegungen gegenüber, die sie nie verlassen hätten. Fünftens führt Ursula Meyer aus, dass sie während den Inspirationen weniger Ruhe und Zufriedenheit als etwa vor und nach ihnen empfunden hätte. Der Inspirationsgeist verursachte viel Leid und Schrecken. Er wirkte auf »sinnen u. neigungen des gemüths«, doch gelangte er nicht zum »Gott ergebenen innern willen«. Ihr »verlangen nach Gott« hätte er nicht stillen können. Ein Urteil über mögliche verschiedene Geister schließt Ursula Meyer erneut aus – diesmal mit einem kleinen Seitenhieb auf einen gewissen Krahl, der sich ein solches Urteil offenbar anmaßt. Ihr sei jedoch wichtiger, sich dem zuzuwenden, »was ewig bleibend ist«, und sich mit der »unergründliche[n] liebe des Gottes in unserem L[ieben] Heyl[and]« zu beschäftigen. Ursula Meyer fügt hinzu, dass sie Gott eines Tages, wenn sie erkennen werde, aus welchen Versuchungen er sie schon erlöst und aus welchen Gefahren er sie gerade auch während den Inspirationen bewahrt habe, erst recht danken werde. Die erste Frage, die sich nach der Lektüre dieses Briefauszugs stellt, ist die nach seiner Adressatin. Wer war diese »vertraute Schwester«? Drei Möglichkeiten stehen zur Diskussion: 1. Es handelt sich um eine Schwester aus den Inspirationsgemeinden. Dafür spricht gewiss die auffällige Wendung »[. . .] denen in diesen tagen sonderlich unter uns entstandenen bewegungen dieses geistes«. Eine solche Schwester – auch gesetzt den Fall, sie wäre erst seit kurzem Mitglied der Inspirationsgemeinden – hätte jedoch kaum derart grundsätzliche Fragen nach Wesen und Gestalt der Inspirationen gestellt. Ist demnach nicht die Schwester, sondern nur der Schreiber des Regests ein Inspirierter? Oder war die Schwester doch bei den Inspirierten und wünschte aus berufenem und eventuell weiblichem Munde eine Schilderung, was im Inspirationsvorgang beim »Werkzeug« vor sich ging? 2. Die Anfrage stammt von einer Herrnhuter Schwester. Dafür spricht der Umstand, dass die Briefkopie in einem Archiv der Brüdergemeine erhalten ist. Ursula Meyer könnte die Schwester auf der Ronneburg 1736/37 kennen gelernt haben. Die Inspirationen waren – wie schon erwähnt – ein Hauptstreitpunkt zwischen Herrnhutern und Inspirierten bzw. zwischen Zinzendorf und Rock. Diese Diskussionen, die mit der Wohnsitznahme der Herrnhuter auf der Ronneburg 1736 und der dadurch entstandenen räumlichen Nähe der beiden Gruppierungen verschärft geführt wurden, könnten den Hintergrund für die Anfrage einer Herrnhuter Schwester und der Antwort Ursula Meyers bilden. Dabei fällt auf, dass Ursula Meyer in ihrer Antwort keineswegs so sicher zu sein scheint wie Rock.

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3. Die »vertraute Schwester« ist eine Büdinger oder Frankfurter Separatistin. Darauf könnte die Erwähnung von »M[ei]ster Krahl« hinweisen, wenn es sich um Theodor Krahl handelt. Offenbar hatte die Schwester in ihrer Anfrage auf Krahl verwiesen, der ein Wortführer der Frankfurter und dann Büdinger Separatisten war. Von diesen drei Möglichkeiten scheint mir die zweite am wahrscheinlichsten zu sein. Die Konflikte zwischen den Inspirierten und den Herrnhutern kristallisierten sich um die Frage der Rechtmäßigkeit der inspirierten Aussprachen. Dass sich eine Herrnhuter Schwester wohl Ende 1737 bzw. Anfang 1738 mit solchen grundlegenden Fragen an ein noch lebendes »Werkzeug« weiblichen Geschlechts richtet, erscheint in diesem Kontext leicht nachvollziehbar, auch wenn sich die beiden vielleicht nicht von der Ronneburg her kannten. Die Erwähnung von Krahl weist nach Frankfurt, wo sich Ursula Meyer spätestens am Ende ihres Lebens aufgehalten hatte und auch gestorben war. Ursula Meyer wurde am Dienstag, dem 15. Januar 1743 in Frankfurt am Main beerdigt.227 Aus dieser Zeit existieren gemäß Auskunft des Instituts für Stadtgeschichte keine Konsistoriumsakten mehr. Die Kirchenbuchführung der einen Kirchengemeinde Frankfurt am Main lag damals beim Rat. Es lässt sich nicht mehr eruieren, wer sich zur Kirche hielt und wer in Distanz zu dieser beerdigt worden war.228 Ein möglicher Hinweis darauf, dass Ursula Meyer sich bis zum Ende ihres Lebens von der Kirche distanziert hielt, mag ein Vergleich der Einträge im Totenbuch liefern. So steht bei den aus der Schweiz kommenden und in Frankfurt beerdigten Beisaßen, sie seien »als ein reformirter Christ gestorben« oder »ref[ormirter] relig[ion]«.229 Diese Angaben fehlen bei Ursula Meyer. Da die Quellenbasis aber zu schmal ist, lassen sich keine eindeutigen Rückschlüsse ziehen.

227 Siehe oben S. 44 (Anm. 53). 228 So die schriftliche und mündliche Auskunft von Herrn Volker Harms-Ziegler, Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt a. M., vom 19.3.2002. »Bei diesen Amtsbüchern handelt es sich um Einträge für die Evangelische Kirche in Frankfurt, die von städtischen Behörden erledigt wurden [. . .]. Die Einträge geben keine nähere Auskunft zu den Umständen der Beerdigung und weisen mit dem am Kopfende des Blattes befindlichen Vermerk ›Beerdigt hierüber in Frankfurt‹ nur darauf hin, daß die Beerdigung auf der nördlichen Mainseite stattfand. Dabei ist für die in Frage kommende Zeit an eine Beerdigung auf dem Peterskirchhof zu denken, von dem es nur noch einige wenige Grabsteine von Prominenten gibt. Allgemeine Adreßbücher sind für das 18. Jh. überhaupt nicht vorhanden. Die Beerdigungseinträge nennen keine Adressen. Gesuche der beiden Frauen an den Rat, in denen zufälligerweise eine Adresse genannt werden könnte, sind nicht vorhanden.« 229 Vgl. Totenbuch der Stadt Frankfurt am Main Nr. 17 (1736–1743), S. 1220 (5.1.1743), Eintrag Caspar, Jacob und S. 1064 (22.1.1742), Eintrag Himlern [Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main].

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Helena Meyer verstarb am 7. Mai 1754 und wurde am 9. Mai 1754 im Alter von 75 Jahren ebenfalls in Frankfurt am Main beerdigt.230 Die beiden Schwestern dürften bis zum Lebensende zusammengeblieben sein. Im Zuge ihrer religiösen Weiterentwicklung scheinen sie sich zwar von den Inspirierten distanziert, aber nicht getrennt zu haben. Ihr Weg führte sie nach Frankfurt. Des öftern hielt sich auch Zinzendorf mit Herrnhuter Brüdern und Schwestern in Frankfurt auf.231 Schon seit 1730 hatte er Kontakte sowohl zu kirchlichen als auch separierten Erweckten in Frankfurt. Diese Kontakte intensivierten sich nach der Ansiedlung in der Wetterau ab 1736.232 Ursula Meyer und die »vertraute Schwester« hätten sich demnach auch im Frankfurter Umfeld kennen gelernt haben können. Dabei stellt sich die Frage, ob Ursula Meyer etwa wie Gottfried Neumann zu den Herrnhutern übergewechselt war.233 Eine Abwendung Ursula Meyers wird jedoch nirgends erwähnt. Dagegen spricht auch die später erfolgte Drucklegung des Himmlischen Abendscheins, die wohl bei einer Apostatin schwerlich erfolgt wäre. Ich rechne mit einem längeren Ablösungsprozess Ursula Meyers, in welchem sie sich zunehmend kritisch ihrer eigenen Zeit als »Werkzeug« gegenüber äußerte, ohne sich jedoch gegen die Inspirierten zu wenden. Sieben Jahre lang, also bis ca. 1722, scheint Ursula Meyer ihrer Erinnerung nach Inspirationen gehabt zu haben. Der Stellenwert der Inspirationen hat sich für sie aber offenbar geändert, wie sich in folgender Äußerung zeigt: »Allein mein gemüth geht lieber in das ein, was ewig bleibend ist, u. betrachtet lieber die unergründliche liebe des Gottes in unserem L. Heyl[and]. [. . .]«. Auch folgende Aussage Rocks in seinem schon erwähnten Tagebuch vom Februar 1744 weist nicht auf eine Abkehr von den Inspirierten, sondern lediglich auf eine andere Einschätzung der Inspirationen hin: »Heute erinnere mich, daß ich vor etwa 10 bis 15 oder 20 jahren oft gesichte voraus gehabt, wie dieser und jener bruder treu bleiben oder abweichen werde usw. und ist bei einigen kurz, bei andern über lang geschehen. Zum exempel: [. . .] Die Ursula Mayerin, wie sie außer der schönen ernte gestanden, wo ich mit herzenslust zwischen weizen und korn ginge, daß es mir über dem haupt zusammen ging; und da ich durchs feld mit freuden ging, stund sie gar elend zwischen feld und wald und wollte mich durch eine freundliche falschheit irr an meiner vergnügung über den so schönen samen machen, daß ich ganz nicht mit ihr zufrieden war.«234

230 Zum Sterbedatum vgl. Extract des Todten Rodels der Stadt Thun betreffend die burgerlichen Familien allda, J. Fr. Deci, o. O. o. J. 46 (dep. BAT 511a), zum Datum der Beerdigung siehe oben S. 44 (Anm. 52). 231 Vgl. IV. Sammlung (1739), 225 u. 231. 232 Vgl. Schneider, Brauer, 18. 233 Im Herrnhagischen Kirchenbuch [UAHh, R.8. Nr. 35a] findet sich während dieser Zeit kein Hinweis auf Ursula Meyer. 234 Siehe oben Anm. 140 [Erniedrigungslauf, 803].

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Ursula Meyer machte eine andere Entwicklung durch als Rock. Sie hatte sich wohl von den Inspirierten mit der Zeit langsam zurückgezogen, ohne deren Anliegen in Frage zu stellen und ohne gegen sie Partei zu ergreifen. Dass die bernischen Inspirationsgemeinden auf Ursula Meyer zurückgriffen, zeigt, dass sie ihr Ansehen als ehemaliges prophetisches »Werkzeug« auch weiterhin behielt. GeschichtederInspirationsgemeindenab 1750

2. Abriss der Geschichte der Inspirationsgemeinden ab 1750 und die Drucklegung des Himmlischen Abendscheins Mit dem Tode Rocks im Jahre 1749 starb das letzte der ursprünglich acht legitimierten »Werkzeuge«. Die Versorgung der Inspirationsgemeinden mit neuen, aktuellen geistgewirkten Reden war abgebrochen. Max Goebel vertrat die Meinung, die Brüder seien darauf vorbereitet gewesen, eines Tages ohne die Aussprachen Rocks bzw. ohne ein berufenes »Werkzeug« ihre Gemeinschaft weiterführen zu müssen. Er bezeichnete die anschließenden Jahre einerseits als Zeit des »Schlummern[s] [. . .] der Inspiration«235 und als »lange Zeit der Abnahme und des Aussterbens«,236 andererseits hielt er fest, dass der Tod Rocks »durchaus keine wesentlichen Veränderungen in dem Leben und in der Verfassung der Inspirationsgemeinden«237 zur Folge hatte. Als Beleg dafür zitierte er Historie I von 1772.238 Dass Rocks Ableben keinen Wandel im Leben der Gemeinden auslöste, ist angesichts der langjährigen und zutiefst prägenden Stellung Rocks und der Bedeutung der Aussprachen für die Inspirierten eher unwahrscheinlich. Im Gegensatz zur Darstellung Goebels gerieten die Inspirationsgemeinden dem Urteil Wilhelm Hadorns zufolge nach dem Tode Rocks in eine existenzielle Krise. Sie »fristeten [. . .] das kümmerliche Dasein einer Sekte, die ihren Höhepunkt überschritten hat und weder leben noch sterben kann, die nicht weiß, welchen Zweck sie noch hat und nur deshalb nicht zu existiren aufhört, weil sie einmal zu existiren angefangen hat.«239 Die Inspirationen wurden ja als Zeichen für den Anbruch der Endzeit gedeutet und bildeten die wichtigsten identitätsstiftenden Grundpfeiler der Inspirierten; blieben sie plötzlich aus, wurde das Geschichtsbild der Inspirierten in Frage gestellt, und es mussten sich grundlegende Probleme einstellen. Der abrupte Übergang zur inspirationslosen Zeit affizierte mit Notwendigkeit alle Bereiche des gemeinschaftlichen Lebens der Gemeinden. Eine genauere Untersuchung der 1772 und 1776 gedruckten Gemeindehistoriographien 235 236 237 238 239

Goebel, Inspirations=Gemeinden (1855), 383. Ders., Art. Inspirirte, 769. Ders., Inspirations=Gemeinden (1855), 384. Vgl. ebd. Hadorn, Die Inspirirten, 221.

Geschichte der Inspirationsgemeinden ab 1750

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spiegelt diese sich mit der Zeit von selbst ergebenden Probleme und widerspricht der Darstellung Max Goebels.

2.1 Die Gemeindehistoriographien von 1772 und 1776 In der bisherigen Forschung wurde durchweg davon ausgegangen, dass die der XVI. und XVII. Sammlung angehängten Historien von 1772 (= Historie I)240 und 1776 (= Historie II)241 eine Einheit bildeten.242 Max Goebel vermutete, dass Jonas Wickmark Autor der Historien war,243 und Ulf-Michael Schneider meint, sie stammten beide von Paul Giesebert Nagel.244 Hans-Jürgen Schrader erwähnt nur Historie I und schreibt diese mit Verweis auf Ulf-Michael Schneider ebenfalls Paul Giesebert Nagel zu.245 Doch dagegen sprechen äußere und innere Gründe: 1. Die von U.-M. Schneider erwähnten Initialen »P. G. N.« stehen nicht am Ende von beiden Anhängen, sondern nur nach dem zweiten (Historie II, 268), und hier erst nach einer von Historie II selbst im Druck – durch Querstrich, Beendung der Paragraphenzählung und Neunummerierung – getrennten und gattungsmäßig differierenden Paränese über Lk 16,31. Wenn ich Historie II dennoch Nagel zuschreibe, so aufgrund des 1779 kurz vor seinem Tod an die Gemeinde gerichteten letzten Anliegens: »Lasset euch brauchbar machen zum gemeinen Nutzen [. . .]«.246 Diese Aufforderung entspricht wörtlich der Grundintention von Historie II, die gleich im ersten Paragraphen formuliert wird: »Es waren wol deren mehr, die Prophezeyungen hatten, allein wir sind in unserer Schule nicht auf Prophezeyungen gewiesen, sondern auf die Gabe zum gemeinen Nutz, zum Nutz der Gemeinden [. . .]«.247 Der Ausdruck »zum gemeinen Nutz« oder »zum Nutz der Gemeinde[n]« klingt an Röm 12,6 und I Kor 12,7 an und kommt in Historie I nie vor, in Historie II weitere drei Mal – davon zwei Mal für die Gabe Ursula Meyers benutzt – und immer fett gedruckt.248 240 Wie oben S. 22 (Anm. 55). 241 Wie oben S. 22 (Anm. 56). 242 Scheuner, Inspirations=Historie 1, verarbeitete beide Historien. Vgl. z. B. die Angabe ebd., 14, dass Rock zur Gabe der Inspiration »in oder gleich nach den Christfeiertagen« kam, mit Historie I, 246: »um Weihnachten« und Historie II, 250: »nach den Christ=Feyertagen«. Vgl. auch Erfahrungs=volle Zeugnisse, 26: »nach den Christ=Feyertagen«. 243 Vgl. Goebel, Inspirations=Gemeinden (1854), 279. 244 Vgl. U.-M. Schneider, Propheten, 23 (Anm. 1), 40 u. 166f. 245 Vgl. Schrader, Schweizerreisen, 358 (Anm. 10). 246 J. J. J. Treue und brüderliche Nachrichten von unseres [. . .] entschlafenen, [. . .] Bruders Paul Giesebert Nagel [. . .], o. O. 1779, 15 [Sign.: UB Bonn, Gi 404]. Vgl. auch ebd., 14. Vgl. auch WChr I, 33, 5: »Gott [. . .] prüfet den Geist des Menschen, ob er seine eigene Liebe und ehre oder Gottes Ehre und des Nächsten Nutz suchet.« 247 Historie II, 235. 248 Ebd., 241, 244 u. 253.

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2. Die beiden Historien bilden keine Fortsetzung, sondern behandeln denselben Zeitraum (I: bis zum fünften Liebesmahl im November 1716 und II: bis zum vierten Liebesmahl im September 1716), aber mit unterschiedlicher Ausrichtung und Ausführlichkeit. 3. Die »Werkzeuge« werden verschieden gezählt: In Historie I ist Rock und in Historie II Mackinet das 7. Werkzeug, in Historie I ist Schwanfelder und in Historie II Rock das 8. Werkzeug, in Historie I ist Mackinet und in Historie II Schwanfelder das 9. Werkzeug. Ursula Meyer ist in beiden Nr. 10 und Johan[n] Carl Gleim Nr. 11. Während in Historie I Christina Kratzer als 12. Werkzeug gezählt ist, wird sie in Historie II gar nicht erwähnt. 4. Johanna Margaretha Melchior verlor nach Historie I, 247 schon nach dem 23. Februar 1715 ihre Gabe und hörte auf zu sprechen, nach Historie II, 240 hingegen erging ihr letztes Wort am 6. Januar 1716 zu Berlin. 5. Rocks Todesdatum wird Historie I, 246 korrekt mit dem 2. März 1749 und in Historie II, 242 fälschlicherweise mit dem 2. Februar 1749 wiedergegeben. Doch handelt es sich hier vermutlich nur um einen Druckfehler, denn S. 254 wird das richtige Todesdatum genannt. 6. Historie II vermittelt ein ganz anderes Bild von Johann Tobias Pott als Historie I. Historie II hat das Bedürfnis, die in Historie I vertretene Meinung, nach der die Potts »durch Versuchung« (247) ihre Gabe der Weissagung verloren hätten, zu korrigieren. Abschied und Wegzug des älteren Potts »geschahe also durch Verfolgung, nicht in Unordnung [. . .]«, (Historie [1776], 251). Historie II legt Wert darauf, die nachmalige Heirat mit Melchior ohne negativen Beigeschmack erscheinen zu lassen. Vgl. als Gegensatz dazu die Schilderung des Liebesverhältnisses zwischen Schwanfelder und der Hag (251). Offensichtlich gab es in den Gemeinden verschiedene Auffassungen hinsichtlich der Verbindung des älteren Potts und der Melchior. 7. Nach Historie II, 264 fand das vierte Liebesmahl am 16. September 1716 statt, nach Historie I, 248 hingegen am 24. September 1716. Die Angabe in Historie II, 264, das dritte Mahl sei am 20. Oktober 1717 und nicht 1715 durchgeführt worden, muss ein simpler Druckfehler sein. 8. In Historie I wird »Johan«, »Friederich« und »Liebes=Mal« und in Historie II immer »Johann«, »Friedrich« und »Liebes=Mahl« geschrieben.

Trotz verschiedener weiterer Differenzen249 lehnt sich Historie II z. T. bis in die Wortwahl hinein deutlich an Historie I an, ist aber viel ausführlicher und detailreicher und verfolgt offenbar das Ziel, auf Fragen, die nach der ersten Darstellung aufkamen, Antworten zu geben. Diese Fragen scheinen primär die »Werkzeuge« betroffen zu haben. Vermutlich bereitete es einigen Mitgliedern Mühe, dass die »Werkzeuge« ihre Gabe mit Ausnahme Rocks wieder 249 Johann Arndt z. B., der in Historie I, 240f. zwei Mal würdigend erwähnt wird, kommt in Historie II nicht mehr vor.

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verloren hatten (vgl. ebd., 251f.: »Niemand lasse sich das befremden, daß diese und jene nicht ausgehalten [. . .]«). In Historie II dringt das Anliegen durch, die »Werkzeuge« als besondere, aber nicht unfehlbare und deshalb zu prüfende Instanzen zu betrachten. Es gilt, »nicht alles von den Werckzeugen allein zu erwarten, sondern in ihnen selbst auf das innere Wort, Zeugniß und Gefühl [. . .] aufmercken zu lernen« (ebd., 257). Ihr Versagen darf nicht als Infragestellung der Inspirationen an sich bewertet werden, sondern wird als Gottes fürsorglicher Planung und Willen entsprechendes Verhalten dargestellt; kaum ermüdet ein »Werkzeug«, scheint ein anderes durch Gottes Vorsehung schon in der »Zubereitung« zu sein. Man gewinnt den Eindruck, der Verfasser habe eine heilsgeschichtliche Interpretation der ersten Historie nachgeliefert und dabei Fragen und Reaktionen auf die erste Darstellung verarbeitet. Wichtig scheint ihm dabei auch eine Art »Demokratisierung« innerhalb der Gemeinde gewesen zu sein. Bei der Ernennung der Vorsteher und Mitältesten wird dem Wort der »Werkzeuge« »die Wahl und Zustimmung der Brüder« gleichwertig zur Seite gestellt (ebd., 264; vgl. Historie [1772] 249). Die Bedeutung der »Werkzeuge« wird neu gewichtet, denn »also macht die Gabe nicht seelig, so wenig, als das anvertraute Pfund, womit man nichts erwuchert, eigen wird.« (ebd., 240) Die einzelnen Mitglieder werden dadurch auf- und die »Werkzeuge« geringer gewertet, denn »[. . .] wir sind [. . .] nicht auf Prophezeiungen gewiesen, sondern auf die Gabe zum gemeinen Nutz [. . .].« Machte es der Gemeinde, v. a. der Jugend (vgl. ebd., 234), auch Mühe, dass sie keine neuen »Werkzeuge« mehr hatte, und reagiert der Verfasser darauf, indem er klarstellt, dass sie diese gar nicht benötige? Dafür spricht erstens seine Erläuterung, dass die Bezeichnung »Inspirations=Gemeinden« eine Fremdbezeichnung sei und ihre Gemeinschaft doch viel mehr auf dem Gebet beruhe, weshalb der ursprüngliche Name auch »kleine Gebeths=Gemeinden« geheißen habe (ebd., 239). Dafür spricht zweitens der Wandel im Verständnis eines »Inspirierten«. Historie I, 238 beginnt gleich mit der Definition: »Inspirirt heißt auf Teutsch so viel als Prophet, das ist: Einer, der den Geist GOttes hat [. . .]«, während Historie II, 236 folgende Übersetzung gibt: »Ein Christ; ein Gesalbter, Einer, der die Salbung hat, der den Geist hat [. . .]« – aus dem Propheten wird ein Christ! Und dazu passt drittens die Veränderung der Überschrift von Historie II in: »Kurze Historie der so genannten Inspirirten [. . .] Der Propheten=Kinder und Propheten=Schule [. . .]« [Hervorhebung IN]. Paul Giesebert Nagel, der Verfasser von Historie II, bemüht sich inständig, das Gebet und nicht die »Werkzeuge« und ihre Inspirationen ins Zentrum der Gemeinden zu stellen. Als Folge dieses Bemühens um ein neues Verständnis der zeitlich und für die Gemeinden begrenzten Bedeutung der Propheten erscheinen auch kleinere redaktionelle Veränderungen in einem neuen Licht: Historie II, 256 schreibt z. B. den Namen des Bruders (Mauchard) aus, dessen Frau als Falschprophetin erkannt worden war, während Historie I, 247 noch zurückhaltend

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bloß den ersten Buchstaben des Namens und Auslassungszeichen druckte. Historie II, 253 zitiert aus einem Tagebuch Rocks und verändert die Aussage über das Aussprechen: »Wie leicht [kann; IN] es geschehen, wan man sich früh heraus läst locken, etwa durch Aussprach=begierige Herzen, oder wan die Eigen=Liebe etwas seyn will, daß hernachmal ein unzeitig Wort herfür komt [. . .]«250 in: »da man sich wol zu früh (schreibt Br. Rock XVI. Saml. bl. 179.) heraus locken läst [. . .].« Ob diese kleinen redaktionellen Eingriffe bloß Zufall oder Ausdruck des veränderten Prophetenbildes sind, muss letztlich offen bleiben. Deutlich ist hingegen die Tendenz des Autors, die Bedeutung der Propheten zu begrenzen. Die Propheten benötigten einer Schulung! Ein ausführlicherer, hier nicht zu leistender Vergleich der beiden Historien ließe wichtige Rückschlüsse auf die Geschichte der Inspirationsgemeinden zwischen 1772 und 1776 zu. Weiter ließen sich durch Aufzeigen der redaktionellen Bearbeitung Unterschiede in der theologischen Beurteilung der historischen Anfänge der Inspirierten von Paul Giesebert Nagel und dem Verfasser von Historie I festmachen.251 Der kurze Vergleich der beiden Historien lässt den Rückschluss zu, dass am Vorabend des Drucks der Aussprachen Ursula Meyers eine Phase intensiver Beschäftigung mit der eigenen Geschichte stattfand, die in den 1770er Jahren zum Druck zweier Gemeindehistoriographien führte und überhaupt eine auffällige Dichte der Publikationen zur Folge hatte252 und die aus einer Situation zumindest der Verunsicherung und Neuorientierung heraus entstand. Die Korrekturen und die zusätzlichen Ausführungen der nur vier Jahre später gedruckten Historie II lassen erkennen, dass die aktuellen Fragen und Probleme innerhalb der Gemeinden von den »Werkzeugen« der Vergangenheit und vom Fehlen von »Werkzeugen« in der Gegenwart handelten. Zudem lassen die redaktionellen Bearbeitungen durch Paul Giesebert Nagel die in den Gemeinden durch die Drucklegung autorisierte theologische Beurteilung der historischen Anfänge der Inspirierten erkennen sowie das Bemühen um eine Rückbesinnung der Gemeinschaft auf die ursprüngliche Grundlegung im gemeinsamen Gebet und um den allgemeinen Zusammenhalt der Mitglieder (»zum Nutz der Gemeinde«). Das Aufhören der Prophetie bedrohte offenbar den eschatologischen Deutehorizont und überhaupt die Daseinsberechtigung der Gemeinden. Um sie vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, musste der Verlust der mündlichen Prophetie aufgefangen und ihre Bedeutung theologisch abgemildert werden. 250 Johann Friedrich Rock, Zweytes Tag=Buch vom 27. Jenner biß 20. May des Jahres 1718, in: XVI. Samlung (1772), 175–237, hier 179. 251 Ob tatsächlich Jonas Wickmark der Verfasser von Historie I war, wie Max Goebel vermutete, muss letztlich bis auf Weiteres offen bleiben. 252 Zwischen 1776 und 1789 wurden 38 Werke herausgegeben. Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 215–221.

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Dies konnte nur geschehen, indem man von der Einmaligkeit der Propheten abrückte und an ihrer Stelle die vorhandenen schriftprophetischen Zeugnisse verwendete. Sie federten den Verlust weiterer mündlicher Inspirationen ab und wirkten systemstabilisierend. Die Schriftprophetie bewahrte die Gemeinden demnach vor dem Zerfall. Der erst 1781 mit einem Abstand von über 60 Jahren erfolgte Druck der Aussprachen Ursula Meyers ist im größeren Zusammenhang der innergemeindlichen Auseinandersetzungen um die »Werkzeuge« zu sehen und des Versuchs, das Fehlen weiterer Inspirationen durch Zurverfügungstellen der vorhandenen kompensatorisch aufzufangen. Die Edition des Himmlischen Abendscheins erfolgte jedoch auf ausdrücklichen Wunsch bernischer Landsleute und ist deshalb nun als nächstes auch im Kontext ihrer konkreten Situation zu betrachten.

2.2 Das Berner Oberland im Spannungsfeld konkurrierenden Wettstreits Der Tod des letzten »Werkzeugs« Johann Friedrich Rock im Jahre 1749, dessen uneingeschränkte Autorität aufgrund seiner fortwährenden Aussprachen bis zuletzt einmalig geblieben war, hinterließ auch in den bernischen Inspirationsgemeinden eine empfindliche Lücke. Der Tod führender Gestalten bildete überhaupt eine markante Zäsur: 1750 starben sowohl Samuel König als auch Samuel Lutz und seine Cousine Margaretha Zeerleder. 1751 verschieden Pfarrer Samuel Hopf in Amsoldingen und 1757 Johann Heinrich Müslin in Bern. Das Ableben dieser meinungsbildenden Persönlichkeiten hinterließ ein Vakuum in der Berner pietistischen Bewegung. Es waren vor allem vier Gruppierungen bzw. Personenkreise, die danach trachteten, den neuen Freiraum für sich zu nutzen und dabei miteinander konkurrierten: die separatistischen Inspirationsgemeinden, die überkonfessionellen Herrnhuter, die der Reformation verpflichtete und kirchentreue Gemeinschaft der so genannten »Heimberger oder Oberländer Brüder« und die kirchlich-pietistischen reformierten Pfarrer und ihre Anhänger.253 Insbesondere das Berner Oberland stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Spannungsfeld dieser rivalisierenden 253 Nimmt man das Bild des »Reformationsparlaments« von Heinold Fast auf, das wiederum »auf die politische Praxis, in der die Parteien nach dem Grad ihrer Bereitschaft, mit dem Althergebrachten zu brechen, von rechts nach links in konservative und radikale Gruppen eingestuft werden«, zurückgeht, so könnte man die Gruppen folgendermaßen platzieren: links außen die separatistischen Inspirationsgemeinden, Mitte links die überkonfessionellen Herrnhuter, Mitte rechts die kirchentreue Gemeinschaft der Heimberger oder Oberländer Brüder und rechts außen die kirchlich-pietistischen reformierten Pfarrer und ihre Anhänger. Ders. (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier [Klassiker des Protestantismus IV, hg. v. Christel Matthias Schröder], Bremen 1962, Einleitung, X.

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Gruppierungen. Die beiden Gemeinschaften, die die Inspirationsgemeinden jedoch bei ihren Bemühungen, im Missionsgebiet des Berner Oberlandes neue Mitglieder zu gewinnen, am meisten konkurrierten, waren (2.2.1) die innerbzw. nebenkirchlichen »Heimberger oder Oberländer Brüder« und (2.2.2) die Herrnhuter Brüdergemeine. Das Wirken dieser Konkurrenten im Berner Oberland gab den Ausschlag für den Druck des Himmlischen Abendscheins, der – wie (2.2.3) aufzuzeigen versucht wird – der inneren Selbstvergewisserung und der Steigerung der Konkurrenzfähigkeit der Inspirierten dienen sollte.

2.2.1 Die Heimberger oder Oberländer Brüder254 Während Wilhelm Hadorn noch einen Einfluss der Inspirierten auf die so genannten bernischen Heimberger oder Oberländer Brüder ausgeschlossen hatte,255 stellte Paul Wernle in seiner Würdigung der Bedeutung Rocks für die Schweiz eine Verbindung von diesem zu den Heimberger Brüdern her. Er hielt es für möglich, dass diese Rock »eine gewisse Anregung, weniger in ihrem Glauben als in der freien Weise ihrer Vereinigung, in ihrem Ernstmachen mit dem allgemeinen Priestertum (verdankten)«.256 Auch Kurt Guggisberg rechnete mit einer Beeinflussung der Heimberger von seiten der Inspirierten257 und Reginald Ward behauptete gar, die Heimberger seien »a body created by converts of Lutz and the Inspired.«258 Rudolf Dellsperger wiederum schloss sich dem Urteil Hadorns an und meinte: »Die Inspirierten [. . .] dürften als Wegbereiter ausscheiden, haben sich die Heimberger Brüder doch immer dezidiert als eine Gemeinschaft innerhalb der Staatskirche verstanden.«259 Es wird sich jedoch zeigen, dass diese Gruppierungen größeren Einfluss aufeinander ausübten als vordergründig sichtbar und dass sie sich nicht streng voneinander trennen lassen. Doch wer waren diese Heimberger Brüder, deren Verhältnis zu den Inspirierten so unterschiedlich eingeschätzt wird? Samuel Reichenbach stellte die These auf, dass die Reformation mit ihrer Konzentration auf Wort und Schrift religiöse Bedürfnisse mystischer Natur vernachlässigt und damit auf die Dauer ein Defizit verursacht habe, das zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt für die Entstehung der Heimberger bzw. Ober254 Vgl. zum Folgenden die nach wie vor ausführlichste – leider ungedruckte – Darstellung zum Thema von Samuel Reichenbach (wie Anm. 58). Vgl. weiter: Dellsperger, Zinzendorf, 133–162; Ders., Pietismus in der Schweiz, 607f. 255 Vgl. Hadorn, Pietismus, 332f. 256 Wernle, Protestantismus 1, 208. 257 Die Prophetin Susanna Kaufmann sei »zuerst von Rock beeinflußt« worden, ehe sie zu den Heimberger Brüdern stieß und bei ihnen großen Anklang fand. Kurt Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, 425. 258 Ward, Awakening, 191 [Hervorhebung IN]. 259 Dellsperger, Zinzendorf, 154.

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länder Brüder geworden sei.260 Nach der Spaltung der Täufer Ende des 17. Jahrhunderts und der Auswanderung von Jakob Ammann und der »Ammischen«, denen sich die Täufer im Oberland mehrheitlich anschlossen, habe seit 1711 keine Alternative mehr zur Staatskirche bestanden.261 Ein »Vakuum im Bereich vom verbindlichen [. . .] Glaubensleben«262 war das Resultat. Überall traten Erweckungen auf. Eine der wichtigsten hatte ihren Ursprung auf dem Heimberg bei Thun. Hier entstand die pietistische Laienbewegung der Heimberger oder Oberländer Brüder. Sie wurde vom Hafner David Tschanz (1717–1784) initiiert, der auf dem Heimberg lebte und zum Führer der Bewegung im Oberland avancierte. Für sein Leben bestimmend wurde ein Gottesdienstbesuch im Jahre 1739 oder 1740 bei Samuel Lutz in Oberdiessbach. Tschanz wurde durch die Predigt von Lutz »in seiner seelen gerühret, vom sündenschlaff auffgewekt und zu eiffrigem vorsatz einer schleunigen lebensbeßerung gebracht«.263 Er änderte sein bisheriges Leben und bildete mit anderen einen Zirkel, zu dem auch eine »Prophetin« namens Susanna Kaufmann gehörte, die »großen zulauff« hatte.264 Das Auftreten einer Prophetin im Berner Oberland scheint ein Indiz für die Beeinflussung der Heimberger durch die Inspirierten zu sein. Außer Tschanz und Kaufmann gehörten noch der Ammann Vögeli von Wichtrach, Michael Stettler von Herbligen, Rudolf Gasser und die beiden Brüder Christ und Hieronymus Stübi dazu. Unter freiem Himmel hielten sie Erbauungsversammlungen ab. Wernle hielt es für »möglich, daß die eben beginnende Erweckung auf dem Heimberg durch den Propheten Rock bei dessen letztem Besuch im Berner Oberland 1741 noch geschürt wurde«.265 Wegen der raschen Ausbreitung der Bruderschaft sah sich die Obrigkeit genötigt einzuschreiten. Der Schultheiß von Thun erstattete Meldung nach Bern, dass die schwärmerischen Versammlungen in der Umgebung stark zunähmen und sich immer neue Personen als Lehrer aufspielten, wobei namentlich David Tschanz und Susanna Kaufmann erwähnt wurden. Als Tschanz am 17. April 1741 vor der Religionskammer erscheinen musste, weil er die Leute vom Gottesdienstbesuch abhalte und als Lehrer auftrete, erkannte man schnell, dass er keinerlei heterodoxen Meinungen vertrat und willig war, die Berleburger Bibel, die er von Abraham Kyburtz266 erhalten 260 Vgl. dazu Dellsperger, Zinzendorf, 154. 261 Vgl. Reichenbach, Oberländer Brüder, 50. 262 Ebd., 51. 263 StAB, BIII 174 (17.4.1741), 362–364, hier 363. 264 Vgl. StAB, BIII 174 (28.4.1741), 365; (10.5.1742), 428f.; AII 755 (12.4.1741), 456. 265 Wernle, Protestantismus 1, 306. 266 Abraham Kyburtz, der 1750 abgesetzte Pfarrer zu Schwarzenegg, wurde 1755 Pfarrer in Saanen. Im Juni 1756 wurde er jedoch auch hier abgesetzt »wegen einer auf den Amtmann und die Pfarrherren abgehaltenen anzüglichen Visitations=Predigt.« 1757 wurde er Feldprediger bei der Reichsarmee. Lohner, Die reformirten Kirchen, 279. Vgl. StAB, AII 817 (31.5.1756), 255–257; (7.6.1756), 309; (15.6.1756), 373; (19.6.1756), 393–395.

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hatte,267 mit der offiziellen Piscatorbibel auszutauschen. Zu seinen Lieblingsbüchern gehörten die Vier Bücher von Wahrem Christenthum von Johann Arndt.268 Tschanz, den Lutz sehr wertschätzte und gerne nach Diessbach als Lehrer geholt hätte, wurde freigesprochen,269 Kaufmann hingegen im Schloss Thun in milde Haft genommen.270 Tschanz musste noch mehrfach vor der Religionskammer in Bern aussagen. Auch eine Buße von 20 Gulden im Jahre 1743 blieb ihm nicht erspart, weil er sich weigerte zu versprechen, keine Versammlungen mehr zu halten.271 Samuel Lutz, »gleichsam der Pietisten Abgott«,272 übte den größten Einfluss auf die neue pietistische Laienbewegung aus. Mit seiner Predigttätigkeit im Berner Oberland hatte er den Boden der neuen Gemeinschaft bereitet. 1741 – im Zusammenhang mit den Verhören von Tschanz und Kaufmann – wurde Lutz dazu aufgefordert, keine weiteren Reisen mehr zu unternehmen,273 und 1742 musste er schriftlich erklären, seine Predigttätigkeit auf seine Gemeinde zu beschränken.274 Sein Erbe führten Tschanz und die Heimberger Bruderschaft weiter. Mit ihrem »Lutzische[n] Christentum von stark evangelischer Färbung mit dem Zentrum der Jesusliebe und des Vertrauens auf Jesu stellvertretende Gerechtigkeit«275 fanden sie trotz des staatskirchlichen Monopols in weiten Teilen des Berner Oberlands schnell Gleichgesinnte. Diese zog die »fröhliche, zuversichtliche Haltung Gott gegenüber, eine herrliche Freiheit von der Gesetzlichkeit und Aengstlichkeit, die sonst zur Signatur des Pietismus gehören«276, stark an. Mit ihnen blieben sie sowohl durch regen Schriftverkehr als auch durch häufige Besuche etwa an Markttagen in Kontakt.277 Rudolf Gasser vom Heimberg und Daniel Hopf von Thun reisten ins Simmental und hielten Versammlungen.278 Sie setzten sich für die Ausbreitung der Bruderschaft auf dem Heimberg und ihre freien Erbauungsversammlungen im Berner Oberland ein. 1757, also nicht einmal zwanzig Jahre nach Tschanzens Bekehrung, wurden dem auf Besuch weilenden Herrnhuter Georg Wallis allein fürs Simmental und Saanenland, wo die Brüderkreise hauptsächlich gebildet wurden, 300 bis 400 Brüder angegeben.279 Die kleine Berner Sozietät der Herrnhuter zählte damals etwa 70 Anhänger. 267 Vgl. StAB, BIII 174 (17.4.1741), 363. 268 Vgl. ebd., 363f. 269 Vgl. ebd., 364. 270 Vgl. StAB, AII 755 (12.4.1741), 456. Zu ihrer Flucht am 25.4.1741 vgl. StAB, BIII 174 (10.5.1742), 428f. 271 Vgl. Reichenbach, Oberländer Brüder, 13. 272 Gruner, Berner Chronik, 247. 273 Vgl. StAB, AII 755 (12.4.1741), 457 u. BIII 174 (23.11.1741), 398. 274 Vgl. StAB, BIII 174 (10.4.1742), 427f. 275 Wernle, Protestantismus 1, 320. 276 Ebd. 277 Vgl. Reichenbach, Oberländer Brüder, 21f. 278 Vgl. ebd., 20. 279 Vgl. ebd., 19.

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Zu den zentralen Quellen, auf die sich die Heimberger Brüder beriefen, zählten der Berner Synodus von 1532, Luthers Galaterbriefkommentar280 und die Köthnischen Lieder.281 Zutiefst von der reformatorischen Rechtfertigungslehre überzeugt bemühten sie sich trotz ihres Heiligungsstrebens jeder Werkgerechtigkeit zu widerstehen. So bezeichnete Paul Wernle die Gemeinschaft der Heimberger Brüder als »den merkwürdigsten Absenker lutherischen Geistes auf Schweizerboden«.282 In den siebziger Jahren versuchte die Bruderschaft, die über keine vollamtlichen Mitarbeiter verfügte, auch im Emmental Fuß zu fassen.283 Als im ländlich-handwerklichen Milieu operierende Sammelbewegung innerhalb der Kirche richtete sie sich jedoch vor allem an schon bestehende Gruppen von Erweckten im Berner Oberland aus dem Wirkungskreise Lutzens.284 Ihre Zusammenkünfte, als »Abendsitze« bezeichnet, bzw. die »Dorfet«, ihre sonntäglichen Versammlungen, dienten der gemeinsamen Erbauung, dem Ausrichten auf Gottes den Sünder rechtfertigende Gnade, dem stundenlangen Gesang und dem persönlichen freien Zeugnisablegen. 1749 verfassten die Brüder ihre »Rechtfertigungslehre der Heimberger«, die von Tschanz, Gasser und den beiden Brüdern Stübi unterzeichnet wurde und mit der sie sich explizit als Anhänger der Reformation auswiesen. Anfang der siebziger Jahre nahmen die Brüder vom Heimberg, von Thun und vom Berner Oberland gemeinsam ihre Versammlungstätigkeit in Bern, die etwa 1749 eingesetzt hatte, wieder auf, nachdem sie sie einige Zeit niedergelegt hatten.285 Die zahlreichen rivalisierenden Gruppierungen im Berner Oberland veranlassten die Heimberger Brüder 1776 zur Formulierung einer »Heilsordnung«286 und eines eigenen Bekenntnisses,287 das sie erneut als Reformierte auswies. Die kürzere Fassung des Bekenntnisses stammt vom 19. Oktober 1780 und die längere vom 27. April 1781, bei dem noch ein Abschnitt über den die Heimberger Brüder kennzeichnenden Obrigkeitsgehorsam eingefügt wurde. Der Bekenntnisentwurf von 1780 wurde unter anderem unterschrie280 Vgl. Außlegung der Epistel St. Pauli an die Galater / mit zweyen Vorreden von Martin Luther; Und mit einer andern außführlichen Vorrede vermehret durch Samuel Lucius, Franckfurt/Leipzig: Haller, 1717. 281 Vgl. Rudolf Dellsperger/Markus Nägeli/Hansueli Ramser, Auf Dein Wort. Beiträge zur Geschichte und Theologie der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern im 19 Jahrhundert, Bern 1981, 2. 282 Wernle, Protestantismus 1, 325. 283 Vgl. Reichenbach, Oberländer Brüder, 17f. u. 19. 284 Vgl. ebd., 33. 285 Vgl. ebd., 15f. u. 19. 286 Die Heilsordnung von 1776 ist abgedruckt im Anhang von Reichenbach, Oberländer Brüder, 77–86. 287 Das Bekenntnis von 1781 ist abgedruckt ebd., 87–90.

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ben von David Tschanz und Hieronymus Stübi.288 Zu den Auslösern des Bekenntnisses muss u. a. die so genannte »Brüggler Sekte oder Brüggler Rotte« gezählt werden, die auch namentlich in der Einleitung des Bekenntnisses aufgeführt wurde.289 Man befürchtete durch ihr ungutes Beispiel den Verlust der Gewissensfreiheit.290 Im bernischen Brügglen bei Rüeggisberg hatten die beiden Handwerker Christen Kohler (geb. 1710) und sein vier Jahre jüngerer Bruder Hieronymus (1714–1753) eine Erweckung ausgelöst. Ihr waren Kinder- und Jugenderweckungen vorausgegangen, von denen auch die Kinder der Gebrüder Kohler erfasst wurden. Auch eine Frau, Elisabeth Kissling, zog als apokalyptische Sonnenfrau (Apk 12) und vermeintliche Gottesgebährerin mit ihnen herum.291 Sie predigten die Wiederkunft Christi vor 1749. Die Erlösten könnten nicht mehr sündigen und seien deshalb völlig frei in ihrem Tun. Die Folgen ihres krassen Libertinismus und Antinomismus waren Exzesse verschiedenster Art. Ihre Anhänger legten ihre Arbeit angesichts der vor der Tür stehenden Parusie nieder. Samuel Lutz warnte vor ihnen. Nach mehreren Bußen und Verwarnungen wurden die Brüder von der Regierung 1749 verbannt, traten aber weiterhin immer wieder heimlich im Oberland auf. Hieronymus Kohler wurde im Gegensatz zu seinem Bruder gefasst. Er »spottete der Obrigkeit, ward vieler Ehebrüchen überwiesen, hatte viele Menschen verführt [. . .]«292 und wurde schließlich im Januar 1753 erhängt und verbrannt. Die Berner Geistlichen hatten daraufhin ein Mandat zu verlesen, dass alles Lehren von Laien in Versammlungen verboten sei. Die Verehrung als Märtyrer blieb Hieronymus Kohler über lange Zeit bei den Brügglern sicher.

2.2.2 Die Herrnhuter Die erste Botschaft aus Herrnhut erreichte die Schweiz gleich Ende der zwanziger Jahre. Friedrich von Wattenwyl brachte die von Zinzendorf 1727 verfasste neueste Historie deren Brüder aus Mähren mit und trug zu deren Verbreitung in der Schweiz bei. Über seinen gleichnamigen Vater Friedrich von Wattenwyl in Montmirail wird Samuel Lutz eine Abschrift erhalten haben. Dieser nahm sie voller Begeisterung zur Kenntnis und leitete sie auch an Annoni in Basel weiter.293

288 Vgl. ebd., 17. 289 Vgl. ebd., 87. 290 Vgl. ebd., 52. 291 Willi Temme weist auf die Parallelen zur Sozietät der Eva von Buttlar hin. Vgl. ders., Krise, 426f.; ders., Art. Brüggler Rotte, in: RGG4 1 (1998), 1799f. 292 Gruner, Berner Chronik, 250. 293 Vgl. Hellmut Reichel, Die Anfänge der Brüdergemeine in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Sozietät in Basel, in: UF 29/30 (1990), 9–127, hier 12f. u. 30.

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Schon 1730 kamen mit dem späteren Syndicus David Nitschmann (1703– 1779) und seinem Begleiter Friedrich Riedel die ersten Abgesandten von Zinzendorf in die Schweiz.294 Diese Herrnhuter Reiseprediger fanden im August Aufnahme im Amsoldinger Pfarrhaus bei Lutz. Er führte sie am darauf folgenden Tag zu Pfarrer Samuel Hopf_295 nach Leissigen. Nitschmann durfte auch zu den Erweckten in Amsoldingen sprechen, und am 28. August wurde er sogar Junker Albrecht von Wattenwyl in Diessbach vorgestellt. Von dem Besuch dieser Herrnhuter Brüder datiert der Beginn des Briefwechsels zwischen Lutz und Zinzendorf. Dieser fiel gleich so herzlich aus, dass Zinzendorf den älteren Lutz 1732 zum Paten seines Sohnes Johannes Ernst machte. Von Johann Samuel Carl in Berleburg und Andreas Groß in Frankfurt hatten Nitschmann und Riedel am 25. Juli 1730 ein Empfehlungsschreiben mit Namen von Erweckten in Deutschland und in der Schweiz erhalten, an die sie sich auf ihrer Reise nach Lausanne, wo sie sich mit den Waldensern in Verbindung setzen sollten, wenden konnten. Auf der Ronneburg wurde außer Fischer eine »Majerin« vermerkt.296 Reichenbach vermutet, dass es außer Samuel Lutz diese Herrnhuter Reiseprediger waren, die »Menschen im Berner Oberland durch Sammlung der Erweckten und vielleicht auch durch eine gewisse evangelistische Tätigkeit für die Fortsetzung dieser Arbeit durch die Heimberger Brüder mit vorbereitet [hatten]«.297 1739 wurde im Zusammenhang des Besuchs von Friedrich Wilhelm Biefer (1706–1779) und seiner Frau die – im Vergleich zu Basel kleine – Berner Sozietät gegründet. Ihre Anhänger entstammten im Gegensatz zu den Heimberger Brüdern dem städtisch-patrizischen Kontext. Auch Biefer fand Aufnahme bei Lutz, der eben erst in Diessbach sein neues Amt angetreten hatte. In den vierziger Jahren zählten unter anderem folgende bernische Persönlichkeiten mit gesellschaftlichem Ansehen und Einfluss zur Herrnhuter Sozietät:298 Friedrich und Nikolaus von Wattenwyl mit ihren Familien, Junker Albrecht von Wattenwyl und seine Frau Salome geborene Tscharner, Postmeister Beat Rudolf Fischer299 von St. Blaise, Landvogt zu Wangen, Schultheiß zu Unter294 Vgl. zu dieser Reise: Hahn/Reichel (Hg.), Zinzendorf, 385–387 [Aus dem Reisetagebuch von D. Nitschmann und F. Riedel Juni 1730]. 295 Siehe oben Anm. 51. 296 Johann Samuel Carls Empfehlungsschreiben für die Herrnhuter Boten, Berleburg, 1730 Juli 25 [UAHh, R 21 A 112a, II 3 und R 20 C 35d.81]. Freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg. 297 Reichenbach, Oberländer Brüder, 42. 298 Vgl. Dellsperger, Zinzendorf, 149f. 299 Beat Rudolf Fischer wurde 1706 in Bern als Enkel des Postgründers Beat Fischer geboren. Nach seiner Erweckung wurde er 1741 in die Genfer Gemeine aufgenommen und organisierte mit Friedrich von Wattenwyl (Watteville) 1744 die Berner Gemeine. Nach Besuchen im Herrnhaag und in Herrnhut starb er schließlich 1759 in Bern. Vgl. Reichel, Anfänge, 43 (Anm. 35).

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seen mit seiner Frau Anna Fischer300 und seinen drei Töchtern, Margret Zeerleder-Lutz und ihre drei verheirateten Töchtern, die Frauen Fischer, Wyttenbach und Knecht, die Ehepaare Funk, Küpfer und Jenner, Frau Tschiffeli301 und zwei Damen Kirchberger, die Witwe Barbara Lutz geborene Fischer, Pfarrer David von Greyerz mit Gemahlin und David Fueter. Einen gewichtigen Gegner fanden die Herrnhuter in Samuel König: »Wie auch hätten der Bußernst des alten Kämpfers und die Erlösungsgewissheit der beschwingten Geschwister leichthin zusammenpassen sollen?«302 Aber auch Güldin und Johann Heinrich Müslin setzten sich aktiv gegen die Ausbreitung der Herrnhuter in Bern ein. Zahlreiche Antizinzendorfiana und Antiherrnhuteriana fanden ihren Weg in die Schweiz. Außer dem Druck der IV. Sammlung der Inspirierten von 1739 und Andreas Groß’ Vernünftiger Bericht von 1740 dienten auch die Invektiven des Berner Theologieprofessors Johann Georg Altmann dazu, die Herrnhuter in ein schlechtes Licht zu rücken.303 Vehemente Kritik löste das durch die begeisterten Schilderungen Biefers verursachte Abwerben wohlhabender Berner und lediger Bernerinnen wie der Jenner nach Herrnhaag aus. Aber auch der Neffe von Samuel Lutz, Johann Friedrich Lutz, der 1742 den Herrnhaag erstmals besucht hatte, zog 1744 endgültig in die Gemeine in der Wetterau, die in den vierziger Jahren zum Zentrum der weltweiten Brüdergemeine wurde.304 Mitte der vierziger Jahre bemühten sich Friedrich von Wattenwyl und Johann Ludwig von Marschall (1720–1800) um eine neue grobe Organisation der Berner Gemeine, die jedoch erst mit dem Diasporadienst des Johann Georg Wallis (1720–1776?) und seiner aus Schaffhausen stammenden Frau Maria Barbara geborene Deckler im Jahre 1747 wirklich zum Tragen kam. Strukturell »als Sozietät im Vollsinn« lässt sich die Gemeinschaft erst ab 1753 bezeichnen.305 Zinzendorf selbst besuchte die Schweiz insgesamt sechs Mal.306 Über Friedrich von Wattenwyl (1700–1777), den er in Halle im Adelspädagogium kennen gelernt hatte und der mit der Zeit zu seinen engsten Mitarbeitern gehörte, fand er auch Zugang in Bern. Als er zu seinem dritten Besuch 1740 nach

300 Anna Fischer war Tochter des Schultheißen Fischer von Burgdorf und heiratete Beat Rudolf Fischer 1731. 301 Es handelt sich möglicherweise um Maria Elisabeth Tschiffeli, die zweite Frau von Friedrich von Wattenwyl, der sie nach dem Tod seiner ersten Frau 1711 geheiratet hatte. Sie starb am 30.8.1737. 302 Dellsperger, Zinzendorf, 142f. 303 Vgl. ebd., 144–146. 304 Vgl. Reichel, Anfänge, 86. 305 Vgl. Dellsperger, Zinzendorf, 140f. 306 Vgl. dazu Rudolf Dellsperger, Zinzendorf und die Schweiz, in: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Ausstellung im Völkerkundemuseum Herrnhut und im Heimatmuseum der Stadt Herrnhut vom 26.5.2000–7.1.2001, Herrnhut 2000, 65–69.

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seiner Reise in die Karibik in die Schweiz kam, begegnete er Samuel Lutz in Diessbach persönlich, der ihn freudig empfing.307 Herrnhuter Reiseprediger und Heimberger Brüder trafen immer wieder aufeinander. 1745 besuchten Herrnhuter erstmals die Brüder auf dem Heimberg. 1757 kam es zur erstmaligen Begegnung zwischen dem Herrnhuter Georg Wallis und den beiden Heimberger Brüdern David Tschanz und Rudolf Gasser. Man fühlte sich schnell verbunden und glaubte sich in den wesentlichen Glaubensinhalten einig. Die Bewegung der Heimberger strahlte etwas »Fröhliches und Naives«308 aus. Sie war jedoch im Gegensatz zu den Herrnhutern im Berner Oberland entstanden und hier auch sprachlich verwurzelt. Erst langsam zeigten sich unüberwindliche Lehrgegensätze im Verständnis der Sündenvergebung und der Gerechtmachung, die für die Heimberger in einem zeitlichen Nacheinander bestanden, während die Herrnhuter den Akzent auf das stellvertretende Leiden Christi, die durch seinen Tod geschehene Sündenvergebung und das Heil des Sünders legten. Den Herrnhutern zufolge »ging das Christentum im Glauben des armen Sünders an seinen blutigen Heiland restlos auf, während die Heimberger darin nur den Anfang des Christenlebens erblickten und durch tiefere Versenkung in das Geheimnis der Versöhnung auch reichere Heilsgüter zu erlangen hofften.«309 Die Herrnhuter »scheinen in den sechziger und siebziger Jahren insgesamt die initiativere der beiden Seiten gewesen zu sein. Sie haben jedenfalls ihre Besuche im Oberland intensiviert.«310 Zu Beginn der achtziger Jahre fand die Leitung der Oberländer Brüder, es sei nun Zeit, sich mit den Herrnhutern um der Sache willen näher zu verbinden, wobei kaum an eine eigentliche Vereinigung gedacht wurde. Ein näheres Zusammenrücken der Gemeinden scheiterte. Als Tschanz 1784 starb und unter seinem Nachfolger, dem Landschreiber und Erlenbacher Notar David Schmid, der gleich 1784/85 das Amt antrat, eine regelrechte Anbindung an die Herrnhuter gefordert wurde, kam es zur Spaltung der Oberländer Brüder. Zahlreiche Brüder wechselten zu den Herrnhutern. Die Gründe für das Misslingen der Fusion sieht Reichenbach in folgendem: Den Herrnhutern Predigern habe die Form der Gemeinschaftspflege der Oberländer Brüder mit ihrem »mystische[n] Sich-Versenken«311 missfallen. Die Herrnhuter »drängten auf mehr Kürze, Klarheit und Verbindlichkeit.«312 In deren Relevanzkriterien sahen die Oberländer hingegen wiederum eine subtile Form von Werkgerechtigkeit. Allgemein weist Reichen307 Vgl. zu dieser Begegnung und ihrem Kontext: Dellsperger, Zinzendorf, in: Kirchengemeinschaft, 141ff. 308 Wernle, Protestantismus 1, 320. 309 Ebd., 324. 310 Dellsperger, Zinzendorf, in: Kirchengemeinschaft, 155. 311 Ebd., 156. 312 Reichenbach, Oberländer Brüder, 69.

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bach auf die zu wenig stabile Vertrauensbasis zwischen den Anhängern der beiden Gemeinschaften hin. Man war sich ja bisher nur sporadisch begegnet und kannte sich schlichtweg zu wenig. Dellsperger fügt diesen Beobachtungen noch den wohl entscheidenden – sozialen – Grund hinzu, der zum Scheitern der Fusion führte. Die Heimberger waren auf dem Land verwurzelt, und die Herrnhuter rekrutierten ihre Anhänger in Bern vornehmlich aus dem städtisch-patrizischen Umfeld.313 Verschiedene Welten prallten hier aufeinander. Dass in diesem Umfeld Frauen andere Möglichkeiten als im ländlich-handwerklichen Milieu der Heimberger zugestanden wurden, erklärt die Feststellung Dellspergers, »die Berner Sozietät habe mehrheitlich aus Frauen bestanden.«314 Die ungewohnte Stellung, die die Frauen bei den Herrnhutern einnahmen, wurde ja Zinzendorf auch in Bern vorgehalten. So hieß es in einem anonymen Sendschreiben:315 »Hr. Graf hat den Weibern in seiner Kirche einen grossen Gewalt eingeraumet, und derowegen ist sich nicht zu verwundern, wann er von diesem schönen Geschlecht erhoben wird. Es ist auch bekannt, daß er kein Hasser von demselben ist, und die meisten Lehrer seiner Kirche treiben fleißig in ihres Hr. Bischoffen Fußstapffen.«316 Auch die unterschiedliche Stellung von Frauen in den Gemeinden stand einer völligen Fusion der Herrnhuter mit den Heimbergern im Weg.

2.2.3 Der »Himmlische Abendschein« im Dienst radikalpietistischer Konkurrenz 1777 berichtete der Herrnhuter Bruder Klawe über seinen Aufenthalt bei David Tschanz auf dem Heimberg, zu dem Stübi ihn am 24. Juli hingeführt hatte. Während des dreistündigen Gesprächs war auch von den Inspirierten die Rede. Tschanz »klagte unter andern über die obenangeführte[n] Inspirierte[n], welche auch in diesiger Gegend gekommen waren, dass ein Mann zu ihnen gegangen und dieselbe gefragt hätte, welches doch eigentl[ich] die falschen Propheten wären? Darauf ihm die Inspirierte geantwortet, dass es die Oberländer od[er] Heimberger und die H[errn]huter wären, vor welche man 313 Vgl. Dellsperger, Zinzendorf, in: Kirchengemeinschaft, 156f. 314 Ebd., 151. 315 Sendschreiben An einen Vornehmen Mann, über die Frage: Was von denen so häuffig in der Schweitz sich befindenden Geisttreibern, Seperatisten, Schwermern, und Herrenhuttern zu halten sey. Aus Anlaß des gegenwärtig in der Schweitzerischen Bottmäßigkeit sich befindenden Herrn Bischoffs von Wattenweil entworffen, vgl. BHZ, Teil B, Nr. 157. Dieses Pamphlet wurde angeblich am 10.3.1744 in Straßburg von einem »J. K. L.« verfasst. Mit Rudolf Ischer (Johann Georg Altmann [1695–1758]. Die Deutsche Gesellschaft und die moralischen Wochenschriften in Bern, Bern 1902, 79) weist Rudolf Dellsperger diese Schrift jedoch dem Berner Theologieprofessor Georg Altmann zu, der sie anonym habe erscheinen lassen. Vgl. Dellsperger, Zinzendorf, in: Kirchengemeinschaft, 144f. 316 Ebd., 2.

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sich in Acht nehmen und sie nicht nahe kommen müsse.«317 Die Klage Tschanzens zeigt deutlich, in welchem Verhältnis Heimberger und Inspirierte im Berner Oberland zueinander standen. Geht man davon aus, dass Tschanz die Erwähnung der Herrnhuter den Inspirierten nicht in den Mund legte, um sich etwa mit Klawe durch Ausmachen eines gemeinsamen Feindes im Gespräch zu verbünden, so zeigt die Klage auch, in welchem Verhältnis Herrnhuter und Inspirierte standen. Diese divergierenden Gruppen – nur geeint im Erwähltheitsbewusstsein zum Aufbau des Reiches Gottes – konkurrierten miteinander. Insbesondere die Missionsbestrebungen der Inspirierten wurden offenbar als besonders dreist und aggressiv empfunden. Bei den von Tschanz erwähnten Inspirierten handelte es sich wohl um die 1777 bei Aarburg gesichteten Inspirierten von der Ronneburg und von Lieblos.318 Noch im Sommer 1779 führten sie während des Gottesdienstes eine Versammlung auf freiem Feld durch.319 Ob die Intensivierung ihrer Bemühungen ums Berner Oberland in Zusammenhang mit dem Tod des jahrzehntelangen Verbindungsmannes Niklas Vögele im Jahre 1775 steht? Die von der Obrigkeit eingeleitete Untersuchung stellte zumindest die Beziehung der erwähnten Inspirierten zu Paul Giesebert Nagel heraus.320 Dieser war schon vor über zwanzig Jahren, nämlich 1755, mit dem Neffen Rocks ins Berner Oberland gereist, wo sie sich einige Wochen in Diessbach aufhielten.321 1766 besuchte Nagel ebenfalls das Bernbiet und zwar zu einer Zeit, da »große Erweckungen an vielen Orten« geschahen, weshalb sich der Aufenthalt in die Länge zog.322 Bern blieb »Lieblingsfeld« der Inspirierten, »weniger mehr das Oberland, wo ihnen die Heimberger das Wasser abgegraben hatten, als die Gegend dem Oberaargau zu«.323 Auch 1771 waren Nagel und Jacob Friedrich Rock wieder in der Schweiz, im baslerischen Känerkinden, anzutreffen, wo sie Versammlungen durchführten.324 Die Klage des David Tschanz weist deutlich auf die näheren historischen Umstände hin, in denen es zur Anfrage der Landsleute Ursula Meyers nach dem Druck ihrer Aussprachen gekommen war. Nach Hadorn und Wernle hatten sich die Inspirierten großteils den Heimbergern angeschlossen. In ihrer Gemeinschaft hätten sie Ersatz für Rocks Aussprachen gefunden. Damit seien sie auch »der Kirche wieder zugeführt worden.«325 Der Erfolg der Heimberger erklärte, weshalb die Inspirierten so heftig vor ihnen warnten. Das Bedürfnis 317 UAHh, R 19 C 18a, »Geschwister Klawens Bericht vom 14n Juny bis 11. August 1777«. Zit. nach Reichenbach, Oberländer Brüder, 53. 318 Vgl. oben Anm. 203. 319 Vgl. Wernle, Protestantismus 1, 209. 320 Vgl. ebd. 321 Vgl. ebd. 322 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 325. 323 Wernle, Protestantismus 1, 209. 324 Vgl. ebd. 325 Hadorn, Die Inspirirten, 222.

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der Heimberger Brüder, sich den Herrnhutern anzuschließen, das schließlich zur Spaltung führte, zeigt jedoch auch, dass die beiden Gruppierungen trotz aller Unterschiede ähnliche Ziele verfolgten, dass die Heimberger sich bedroht fühlten und mit den Herrnhutern gemeinsame Sache gegen die Inspirierten machen wollten. Der gewünschte Zusammenschluss ist also auch vor dem Hintergrund der Konkurrenzsituation zu sehen. Die Heilsordnung von 1776 und das Bekenntnis von 1781 weisen auf eine starke innergemeindliche Auseinandersetzung um die eigene Identität hin. Ihr entspricht das Verlangen der Inspirierten nach dem Druck der Aussprachen Ursula Meyers. Die bernischen Inspirierten hofften, ihre eigene Position mit dieser neuen Schrift, die die Aussprachen einer Berner Oberländerin enthielt, zu festigen. Der Himmlische Abendschein war die Antwort auf die Selbstbesinnung der Heimberger, die sich in der Abfassung einer Heilsordnung und dem Formulieren eines eigenes Bekenntnisses äußerte. Hinzu kommt, dass die Inspirierten, die einst als Erste im Berner Oberland neben dem kirchlichen Pietisten Samuel Lutz gezielt zu wirken begonnen hatten, bald feststellen mussten, dass genau jene, deren mächtige Anziehungskraft sie schon in der Wetterau erfahren hatten, ihnen auch in der Schweiz den Platz streitig machten. Mit Erstaunen muss man auch hier die enorme missionarische Kraft und die integrierende Wirkung der Herrnhuter im Berner Oberland feststellen. Man darf davon ausgehen, dass sich auch hier Inspirierte wie in der Wetterau den Herrnhutern anschlossen. Die Übermacht der Herrnhuter gründete nicht zuletzt in ihrer finanziellen und organisatorischen Festigkeit. Städtisch-patrizische Mitglieder verfügen über andere Möglichkeiten als ländliche Handwerker. Zudem waren erstere eingebettet in eine weltweit operierende »recht homogene und geschlossene kirchliche Gemeinschaft in verfaßten Formen und Institutionen [. . .].«326 Die Veröffentlichung des Himmlischen Abendscheins stellte offenbar eine Gegenoffensive dar zur Tatsache, dass im Oberland die Heimberger den Inspirierten »das Wasser abgegraben hatten«.327 Mit dem Besitz des »Nachzüglers«, eines neuen Buches voller geistgewirkter Inspirationsreden, hoffte man wohl, die eigene radikalpietistische Konkurrenzfähigkeit im Spannungsfeld der anderen Gemeinschaften zu vergrößern. Die Publikation der Aussprachen eines Berner »Werkzeugs« stand also im Zusammenhang mit der Propaganda der Inspirierten in der Schweiz. Gestützt wird diese Beobachtung noch durch die merkwürdige Publikationsabfolge der XXX. bis XXXII. Sammlung. Nach der XXX., die 1783 gedruckt wurde, folgte im gleichen Jahr zunächst die XXXII. Sammlung, die »Bezeugungen des Geistes des HErrn, zu Chur in Graubünden, im Berner Gebiet an unterschiedlichen Orten, zu Basel [. . .] durch Br.

326 Schneider, Brauer, 27. 327 Wernle, Protestantismus 1, 209.

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Joh. Friedrich Rock ausgesprochen« enthielt.328 Offenbar war es wichtiger, diese Aussprachen zu drucken als jene der XXI. Sammlung von »einer Reise im Würtembergischen bis Augsburg«.329 Unter Berufung auf die von einer Landsmännin empfangenen Eingebungen des »Geistes«, die verdichtet in der Form einer neuen Schrift vorlagen, hoffte man, die eigene Position im Berner Oberland zu stärken. Gerade die subjektive Erwähltheitsgewissheit, die sich in der Sprachgewalt der Aussprachen ausdrückte, wirkte mächtig und anziehend. Doch verfügten die Inspirierten im Vergleich zu den Herrnhutern nur über bescheidene Mittel und mussten sich auf ihr Sendungsbewusstsein verlassen. Die Hoffnung der bernischen Inspirierten ging nicht in Erfüllung. Die Publikation des Himmlischen Abendscheins verfehlte ihr beabsichtigtes Ziel. Die Inspirierten vermochten das verlorene Terrain nicht zurückzugewinnen. Sie waren noch bis Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts im Gebiete Berns anzutreffen. Im Februar und März 1810 besuchten zwei Schweizer Inspirierte aus Unterholz namens Johann Wagner und Samuel Schmitter die Unterredungen in Lieblos, auf der Ronneburg, in Himbach und in Büdingen. Sie reisten schließlich ins Elsass und kehrten übers Württembergische zurück in die Schweiz. »In Rodrist, Roggwyl, Rummeldingen, Richigen und Diesbach besuchten sie überall (sic) und wohnten den dasigen Unterredungen bei. Es hatten sich hier überall noch kleine Häuflein von der früheren herrlichen Erweckungszeit in dasiger Gegend, aus den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, erhalten.«330 Anders als die Inspirationsgemeinden lassen sich die Oberländer Brüder bis tief ins 19. Jahrhundert hinein nachweisen, und die Herrnhuter existieren in Bern bis auf den heutigen Tag.

328 XXXII. Sammlung (1783) [Hervorhebung IN]. 329 XXXI. Sammlung (1784). 330 Scheuner, Inspirations=Historie 1, 419f.

RückschauundAusblick Rückschauun dAusblick

Rückschau und Ausblick Mein Interesse bei der vorliegenden Untersuchung galt sowohl der Frage nach den biographischen, religiösen, sozialen und kirchenpolitischen Voraussetzungen, unter denen eine junge Frau aus dem Berner Oberland im 18. Jahrhundert zur autorisierten endzeitlichen Prophetin einer neuen Gruppierung werden konnte, die dem radikalpietistischen Separatismus zuzuordnen ist, als auch der Frage nach den inhaltlichen Schwerpunkten ihrer in Ekstase gehaltenen Inspirationsreden. Die Fokussierung auf den mikrohistorisch erschlossenen Einzelfall der Ursula Meyer förderte unter erstmaliger Einbeziehung unbekannter handschriftlicher Materialien neue historische Erkenntnisse nicht bloß zu den Inspirationsgemeinden zu Tage, sondern auch zur pietistischen Bewegung allgemein, in deren Kontext ihr Entstehen zu erklären ist. Es wurde aufgezeigt, wie früh schon nach dem rechten Verständnis und der Bedeutung der Aussprachen gerungen wurde und wie die Beschäftigung mit diesem für die Inspirierten höchst bedeutsamen hermeneutischen Problem, das sich im Sommer 1715 innergemeindlich im Streit zwischen dem »Werkzeug« Ursula Meyer und dem Leiter der Gemeinden, dem ehemaligen Pfarrer Eberhard Ludwig Gruber, manifestierte, schließlich in eine strukturelle Verfestigung des gemeinschaftlichen Lebens mündete. Der Machtkampf zwischen »Prophetin« und »Priester« trug mit dazu bei, dass im Mai 1716 ein Kontrollritus, »Untersuchungen« genannt, und eine neue, als »Einordnung der Gemeinden« bezeichnete, hierarchische Organisationsform eingeführt wurde. Der Machtkampf leitete den bewussten Konsolidierungsprozess der Gemeinschaft ein. Dabei war es nicht zufällig gerade Ursula Meyer, die Eberhard Ludwig Gruber bei der Untersuchung der Schwarzenauer Gemeinde in ihrer Funktion als »Werkzeug« zur Seite stand. Spätestens in dieser auch äußerlich sichtbaren Unterordnung klärten sich die jeweiligen Funktionen und Verantwortlichkeiten. Die Analyse der inhaltlichen Schwerpunkte des Himmlischen Abendscheins ließ zahlreiche Analogien erkennen zwischen radikalpietistischen Anschauungen im frühen Pietismus in Bern und jenen der separatistischen Inspirationsgemeinden Deutschlands. Diese Gemeinsamkeiten ließen den Weg Ursula Meyers zur Prophetin nicht als Bruch, sondern als Steigerung, Verarbeitung und Vertiefung dieser vor allem vom mystischen Spiritualismus geprägten Ansichten zeichnen. Gerade diese nachgewiesenen Analogien halfen zu verdeutlichen, dass die Inspirationsgemeinden keine abwegige Randerscheinung der pietistischen Bewegung sind, sondern ein unübersehbarer Teil derselben. Die Ursachen der mit auffällig großer Verspätung erfolgten Drucklegung der Aussprachen Ursula Meyers ließen sich sowohl auf die innergemeindlichen Auseinandersetzungen zurückführen, die durch das Verebben inspirativer Verkündigung bzw. das Fehlen neuer »Werk-

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zeuge« erfolgten,1 als auch auf die verschiedenen missionarisch wirkenden und einander konkurrierenden Gruppierungen im Berner Oberland im 18. Jahrhundert. Die religionspsychologische Fragestellung nach Deutungen ekstatischer Phänomene zeigte, wie diese in der Regel pathologisiert und als Ausdruck eines Defizits verstanden wurden. Unter Aufnahme der erkenntnistheoretischen Einsicht, dass jede Beschäftigung mit der Vergangenheit von Fragen und Interessen geleitet wird, die dem Heute entspringen, und der Perspektivismus deshalb unvermeidlich ist,2 wurde festgestellt, dass ekstatische Phänomene im nachaufklärerischen eurozentrischen Kontext Ängste und Abwehrreflexe evozieren und der Anerkennung und Neubewertung als vollwertige religiöse Äußerungsformen nach wie vor harren. Während der Fertigstellung dieser Untersuchung erscheint gerade die neueste Auflage des von Oswald Eggenberger begründeten Handbuchs Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen im deutschen Sprachraum.3 In ihrer Einleitung weisen die beiden Herausgeber Georg Schmid und Georg Otto Schmid darauf hin, dass die Darstellung von Pfingstgemeinden und charismatischen Gruppen den meisten Platz in ihrem Werk beanspruche. Es handele sich bei ihnen um »die weltweit erfolgreichste Strömung des Christentums im 20. Jahrhundert«.4 Pfingstlerische, charismatische oder neucharismatische Gruppierungen zählen heutzutage etwa 600 Millionen Mitglieder. Ihren enormen Erfolg, der zu den Hauptentwicklungen der gegenwärtigen religiösen Landschaft gehört, feiern die Pfingstbewegung und ihre Tochterbewegungen bei »Christen mit einer kulturellen Prägung, die gegenüber Emotionen nicht so zurückhaltend ist wie die europäische«.5 Die Herausgeber 1 Es war die Erweckungsbewegung in Deutschland, die den Inspirierten zu neuem Leben verhalf. Mit dem Straßburger Schneider Michael Krausert, dem Schreiner Christian Metz (1794–1867) und Barbara Heinemann (1809–1883) erhielten die Inspirierten wieder neue »Werkzeuge«. Probleme mit den hessischen und preußischen Behörden führten schließlich dazu, dass etwa tausend Inspirierte 1842/43 in die USA emigrierten. Sie ließen sich zuerst im Bundesstaat New York nieder und zogen Mitte der 50er Jahre des 19. Jh.s nach Iowa im Mittleren Westen. In Amana (in Anlehnung an Cant 4,8) leben sie bis heute in sieben Teilsiedlungen. Vgl. Heinrich Heppe, Kirchengeschichte beider Hessen, Bd. 2, Marburg 1876, 424–435. Zum Fortleben in den Vereinigten Staaten von Amerika vgl. Shambaugh, Amana; Barthel, Amana; Durnbaugh, Radikaler Pietismus, 123–125. 2 Vgl. dazu Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 31995, 176–207. Der britische Historiker Edward Hallet Carr wies aufgrund dieser Einsicht seine LeserInnen an, man müsse »den Historiker studieren, bevor man seine Fakten studiert«. Zit. nach Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt a. M./New York 1999, 213. 3 Georg Schmid/Georg Otto Schmid (Hg.), Kirchen, Sekten, Religionen. Religiöse Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psychoorganisationen im deutschen Sprachraum, Zürich 72003. 4 Ebd., 117. 5 Ebd.

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streichen den auffälligen Unterschied heraus zwischen so genannten Entwicklungsländern und Industrienationen in ihrer Empfänglichkeit für ekstatische, geistgewirkte Phänomene.6 »Die [. . .] ›mitteleuropäisch-verhaltene‹ Neigung zu charismatischen Gebetsweisen [. . .] ist nur ein blasser Abklatsch der Geisterfahrungen in anderen Weltgegenden.«7 Dennoch bildeten »neocharismatische[n] Gemeinschaften trotz ihrer Kurzlebigkeit und ihrer nie nur zufälligen Medienpräsenz mitunter die erstaunlichsten Zentren leidenschaftlicher jugendlicher Spiritualität im Herzen Europas. Kurz – auch Mitteleuropa wird vom Geist berührt, und manchmal auch ergriffen. Aber spirituelle Ekstasen überschwemmen uns nicht.«8 Die Beschäftigung mit den Inspirationsgemeinden im 18. Jahrhundert lieferte einen möglichen Ansatz zur Neubewertung ekstatischer Phänomene, die eine positive Verbindungslinie vom radikalen Pietismus etwa zu modernen Pfingstbewegungen zu Tage förderte. Sie erhielten einen neuen Stellenwert innerhalb der Kirchengeschichte. Wilhelm Hadorn sah wie viele vor und nach ihm in den Bewegungen und Aussprachen der Inspirierten »Krankhafte[s] und Ungesunde[s]«9 und wollte ihnen den so genannten »christlichen Verstand«10 entgegensetzen. Gerade angesichts des Übergangs unserer traditionellen mitteleuropäischen Volkskirchen in eine neue, stärker missionskirchlich geprägte Situation,11 in der nicht nur die reformierten Schweizer Kirchen sich auf grundlegende »Änderungen in ihrem Kirchesein gefasst machen und sich für einschneidende mentale Veränderungen in ihrem Selbstverständnis öffnen (müssen)«,12 könnte der Weg einer »gedachten« zu einer »gelebten Religion«13 heißen, es zu wagen, sich vermehrt mit neuen und zugleich urchristlichen Äußerungsformen zu beschäftigen. Noch pointierter äußerte sich just 1968 nicht zufällig ein Neutestamentler. So schrieb Ernst Käsemann in seinem berühmten Werk Der Ruf der Freiheit: »Es gibt die christliche Freiheit nicht ohne einen Schuß von Enthusiasmus, und heute sollte man diesen Schuß nach langer Abstinenz eher zu reichlich als zu dürftig bemeßen, selbst wenn ein kleiner Rausch die Folge sein sollte. Man kann die Temperenz übertreiben und hat es in der protestantischen Vergangenheit unseres Landes nur dem Alkohol gegenüber nicht getan. Wer Freiheit will, muß dem heiligen Geist die Zügel etwas mehr überlassen [. . .].«14 6 Ebd., 23. 7 Ebd., 24. 8 Ebd. 9 Hadorn, Geschichte, 218. 10 Ebd. 11 Vgl. Heinz Rüegger, Volkskirche oder Bekenntniskirche? Herausforderungen an die traditionellen Volkskirchen im Übergang zu einer neuen, stärker missionskirchlich geprägten Situation. Überlegungen am Beispiel der Situation in der reformierten Schweiz, in: ZMiss 1–2 (2003), 58–69. 12 Ebd., 64. 13 Vgl. Fulbert Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 21985, 11. 14 Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1968, 75.

Anhang Briefe

Anhang Briefe 1. Briefwechsel zwischen Samuel von Rodt und Niklaus von Rodt, 1699 Halle, Archiv der Franckeschen Stiftungen: AFSt/H, D 90, S. 418–428 (Abschrift)1

a) Samuel von Rodt2 an seinen Bruder Niklaus von Rodt,3 20. Juni 1699 Insonders vielgeliebter Herr Bruder Landvogt Gleichwen ich schon seidt langem mit anderen beklagt daß große übel, so der zu bösem zwek von aufgeblasenen neüwlingen erdachte und aberglaubischen treiberen angebrachte pietismus, in unsere kirchen gebracht: so muß ich auf dißmahl solches noch um so vielmehr beklagen, weil ich vernimmen, daß diß übel in unser hauß und geschlecht selbst so tieff eingerißen, und es disen schmeichlerischen betriegeren hierinnen so weit gelungen, daß sie sich auch beÿ dem H[errn] Brueder Landvogt selbst so tieff eindringen und sein herz gewinnen können, daß er auch noch jezunter,4 da dise neüe lehr erforschet und daß gifft derselben endtekt und von einer christl[ichen] oberkeit die nothwendige remedur5 darwider gemachet worden, sich dem verlaut nach zu jedermanns entsetzung und noch sonderlich jezunter6 sich für dise leüth alzu1 Es handelt sich um eine Abschrift, da beide Briefe dieselbe Handschrift aufweisen. S. 418 ist vermerkt, dass ein Herr Balber den Brief 1722 an Prof. A. H. Francke geschickt habe. Es wird sich um den bekannten Pietisten Christoph Balber handeln, der später Pfarrer in Schwerzenbach wurde und auch mit Prof. Johann Jakob Hottinger in Marburg, wo Balber einst studiert hatte, in Kontakt stand. Vgl. Hanimann, Nonkonformisten, Reg. 2 Es handelt sich um Samuel von Rodt (1659–1708), stud. theol. 1674, Candidat 1680, ab 1688 Pfarrer in Bargen und ab 1699 in Walperswil. 1706 Dekan der Klasse Nidau. Vgl. Lohner, Die reformirten Kirchen, 466 u. 534; Bernhard von Rodt, Genealogien burgerlicher Geschlechter der Stadt Bern, Bd. 4, Bern 1950, [von Rodt: 287–307], 292 [8.], [BBB, Mss.h.h. LII. 9.1]. 3 Siehe oben S. 78–80. 4 Jetzunter = jetzt. 5 (Gerichtliche) Abhilfe, Abstellung; Anspielung auf die Berner Maßnahmen gegen den Pietismus. Vgl. oben S. 75. 6 Wie Anm. 4.

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Anhang

hefftig ereÿ feret, sich für sie an den spiz stellet und alles für sie waget etc. Der Herr Bruder Landvogt vergebe mir, daß ich auß bruderlicher liebe komme, ihne aufs höchste eineß anderen zuermahnen und zuerbätten. Er gedenke doch, ob er nit in vorigen zeiten beÿ verrichtung seiner habenden ambtsgeschäfften und loblich erwisenen liebe zum wort Gottes und seiner dieneren in einen Gott und den menschen gefälligen stand habe gelebt. Er überlege auch zugleich, ob der, so ein schönen talent empfangen7 zum dienst der kirchen Gottes und zum besten des werthen vatterlands und auch daßelbe albereit darzu angewändt hette, nun daßelbe mit gutem gewüßen könne vergraben8 und auß so verkehrten ursachen, theils um einbildischen und ungegründeten, theils gar irrigen [419] und allen ständen nachtheiligen und zweÿ tracht aller orthen anzurichten, allein dienlicher meinung halber sich alleßen so leichtlich zu entschütten etc. Der Herr Bruder Landvogt laße sich doch um Gottes und seiner in Gottes wort wohl gegründeten warheit willen, so weit von disen irrgeisteren nit bezauberen, daß er seinen beÿ jedermann gehabten ruhm, ehr und ansehen, ja gunst und gnad Gottes in disem geschäffte so liederlich verscherzen und disen seinen betrieglichen lehreren zu gunsten und gefallen sich selbst verderben und mich eines so lieben und werthen bruders hiemit berauben wolle. Der allgüetige Gott laße ja solches nicht zu und gebe ihm die gnad, daß er diser argen menschen verkehrter zweck möge einsehen, und mit überigen glideren unserer G[ottes]g[ele]h[rten] H[erren] dise schädliche und gefährliche lehr hintertreiben helffen und alles helfen dahin verleiten, damit wir alle in einigkeit deß glaubens nach Gottes wort und warheit heiliglich Ihme dienen, und den gnadenlohn deß ewigen reichs darvon tragen mögen. Diß bittet von herzen und wünschet in aufrichtigkeit seiner seelen

den 20.ten Junÿ 1699.

deß Herren Bruder Landvogts getreuer bruder. Roht.

b) Niklaus von Rodt an seinen Bruder Samuel von Rodt, Juli 1699_9 [420] Geliebter Bruder! Die absterbung des alten und auferstehung deß neuen menschen10 zum freundlichen gruß. 7 Vgl. Mt 25,14–30. 8 Vgl. Mt 25,18.25. 9 Vgl. auch BBB, Familienarchiv von Rodt (Nachtrag), Familienkiste 1, Nr. 13, wo sich ein Auszug des Briefes befindet, welcher selber als »sehr langer Brief« (ebd.) bezeichnet wird. 10 Vgl. Kol 3,9f.

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Was der bruder eigentlich durch das wort pietismus verstahe, ist mir so genau nit bekant. Aber daß weiß ich wohl, das gleich wie zu Christi zeiten beÿ seiner verurtheilung alles durch die aufwiglung der obersten der priesteren wider ihn geschrauen, und als Pilatus gefraget, was er dann übels gethan habe, sie ihm einfältig geantwortet, wäre er nit ein übelthäter, wir hätten ihn dir nit überantwortet.11 Dißmahl auch alles wider den pietismum schreÿ et, und wenn man fragt, was derselbe seÿ e und worinnen er bestehen thue, niemand nichts sagen kan und will. Fraget man die clerisey, so weisen sie uns auf das rathhauß, fragt man die weltlichen, so wird man zur clerisey geschikt. Unterdeßen heißt es dennoch, es muß etwas sein, da man sich aller orthen wider denselben aufmacht. Ich für meinen theil habe denselben seiner derivation12 nach à pietate für die gottseligkeit jederzeit genommen, und einen, der gotselig lebt und Gott förchtet, für einen pietisten gehalten und noch; ist also kein wunder, wenn solche verfolget werden, denn solches der Apostel Paulus zu seiner zeit schon geweißaget, daß alle, die gottsellig leben werden, müssen verfolgung leiden.13 Desto grundlicher aber von der sach zureden, so sind zweÿ zuwüßen: daß erste, daß wir nit, wie aber mehrentheils menschen sich einbilden, christen gebohren werden, sondern von natur und der fleischlichen geburth her sowohl als türken und heiden unter dem fluch und verdamnuß ligen und also in dem reich des Sathans sind, sonder erst dann christen werden, wann wir durch den geist Gottes durch den wahren glauben [421] an Christum widergebohren, und also was wir in Adam verlohren, in Christo widergefunden, und hiemit auß dem reich des Sathans in das reich Christi versezet werden.14 So wenig aber Nicodemus ein oberster der juden zur zeit Christi dise widergeburth verstanden, also daß Christus ihm selbsten seine grobe unwüßenheit deßwegen verwisen und gesagt, bistu ein lehrer in Israel15 und weißest gleichwohl diese ding nicht Joh 3:3–10, ebensowenig verstehen viel von heütigen priesteren auch nicht, worinnen die widergeburth in der krafft und wesen bestehe, gleichwohl wollen sie lehrer deß volks sein. Wie dann Herr Decan Bachmann16 einem gewißen herren selbst gesagt haben soll, er könne nicht sagen, daß er widergebohren seÿ e. Was will er dann und andere mit ihm von geistlichen dingen urtheilen, denn der natürliche mensch faßet die dinge nicht, die des geistes Gottes sind, denn sie sind ihm eine torheit, und er kan sie nicht erkennen, dann sie werden geistlich geurtheilet, I Cor 2: v 14. Daß man aber 11 Vgl. Joh 18,29f. 12 Her-, Ableitung. 13 Vgl. II Kor 4,8–10. 14 Vgl. I Kor 15,22. 15 Vgl. Joh 3,10; hier: ein Prediger. 16 Zu Samuel Bachmann, der ab 1696 Oberster Dekan in Bern war, vgl. Dellsperger, Anfänge, Reg.

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sagen will, man könne nicht wißen, ob einer widergebohren seÿ e oder nit, so ist solches wider die heilige schrifft; dann Christus vermahnet ja selbsten seine zuhörer, daß sie sich vorsehen sollen vor den falschen propheten, die zu ihnen kommen in schaafskleidern, inwendig aber seÿ ind sie reißende wölf. An ihren früchten sollen sie dieselbigen erkennen Math 7:15. Nun wird man ja nicht sagen dörfen, daß ein falscher prophet ein widergeborener prophet seÿe; die früchte nun der widergeburth sind glaube, liebe Gottes und deß nächsten, friede, langmuth, barmherzigkeit, verachtung der welt etc.17 Hingegen die früchte deß natürlichen oder unwidergebohrenen menschen sind, haß gegen Gott und den nechsten, neid, ehr und gelt=geiz, unbarmherzigkeit, hoffart, wollust, eigenliebe: nun urtheile der bruder selbst, welche früchte mehr in schwang gehen. [422] Zum anderen muß man nicht glauben, daß die eußerliche kirche nicht auch verfallen könne, und hiemit wider zuerneueren niemahlen ermangle; denn solches bezeuget genugsam die jüdische kirche, da beÿ dem geschribenen wort Gottes daß priesterthum von den propheten ihrer unbußfertigkeit wegen bestrafft werden müesen. Deßwegen aber nit nur diese von den priesteren getödet und gesteiniget, sondern auch der Messias selbst, welcher sie in den schuhlen gelehret18 und ermahnet und sein Amt durch so viele wunderwerck bestätiget hat, von ihnen gekreüziget worden ist. In was für ein abscheuhlich monstrum die römische clerisey, deren glaube dennoch zurzeiten deß Apost. Pauli in der ganzen welt berümt war,19 durch ehr= und gut=geiz, herrschsucht und wollüstigkeit, beÿ besiz= und nieß=ung deß heil[igen] worts Gottes a[lten] u[nd] n[euen] testaments, verfallen, das ist am tag. Wie weit unsere u[nd] andere kirchen von der einfalt, demuth, handel und wandel Christi und unserer reformatoren und ihrem geist, darauf man dennoch jederzeit schreÿ t, abgearthet, daß bezeüget das tägliche thun und laßen, also daß der gottesdienst mehrentheils sich nur im aüßeren und nit im inneren deß menschen aufhaltet. Daß wort Gottes wird zwar im buchstaben geprediget, die krafft deßelben aber durch daß leben verleügnet; sie geben für,20 sie erkennen Gott, aber mit den werken verleügnen sie ihn, sittenmahlen sie greülich und ungehorsam und zu allem guten werk untüchtig sind. Tit 1.v.16. Nicht ein jeder, der da sagen wird: herr, herr, wird in daß himmelreich kommen, sonder der den willen deß himmlischen vatters thut. Math 7: 21. Also machet nit daß wißen deß worts Gottes selig, sonder daß leben nach dem wort Gottes. Wenn nur der bruder alle praejudicia21 eigener ehre, eigener weisheit und gelehrte und eigener gerechtigkeit wird können hindan setzen [423] und alles 17 18 19 20 21

Anklang an Gal 5,22. Vgl. Mk 1,39parr. Vgl. Röm 1,8. Für = vor. Vorurteile.

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in lauterkeit deß geistes und der warheit erforschen, so wird er gewüßlich finden, daß unser heütiges christenthum ein todtes heuchel= und maul=christenthum seÿ e nach der weißagung Jesaja: diß volk nahet sich zu mir mit seinem mund und ehret mich mit seinen lefzen, aber ihr herz ist fern von mir,22 Math 15: 8. Und also wenig leben Christi sich darinn befinde. Nun wer den geist Christi nit hat, der ist nit sein, maßen also unser christenthum zu einem anti=christentum worden, darinn Gott und Mammon, Christus und Belial23 vermenget wird, daher so wohl der wehr=nehr=alß lehr=stand in höchster verderbnuß und corruption stehet.24 Nun hat Gott, der Herr, auß seiner unerforschlichen weißheit und nach seiner unermäßlichen liebe und barmherzigkeit in disen lesten zeiten, eine zeit her, seine knecht und diener aller orthen außgesant, dise verwüßtung und greuel25 seiner kirchen, die nit velohren gehen soll, zu offenbahren, und daß volk einzig und allein durch den wahren glauben an Christum zur seligkeit zu loken und ihme darinn die vergebung der sünden ohn allen eigenen verdienst und werken anzukünden,26 sie von ihrem falschen vertrauen auf den eußerlichen gottesdienst abzukehren und ihr vertrauen allein auf den Herrn Christum zusezen und ihme zuleben. Wie nun durch die pure lautere glaubenslehr dem reich deß Satans ein grosser streichen versezet wird, also machet sich derselbe aller orthen mit seinen spießgesellen, den hochaufgebrüsteten, mit eigener heiligkeit angefülleten phariseren und aufgeblasenen schrifftgelehrten auf und widersezet sich denselben mit beylegung allerhand lügenhafften lästerungen und schmähungen: [424] wie er solches zu den zeiten deß ersten christenthums durch die heiden und zur zeit der reformation durch die pabisten gethan, welche der warheit widerstehen gleichwie Jannes und Jambres Mosi widerstunden.27 Dann der glaube, nemlich der wahre glaube, der durch den heil[igen] geist in den herzen versiglet wird28 / und nit der in den bücheren und auf den universitaeten gestudierte dißmahlen sehr im schwang gehende wort und hirn=glaube / ist nit jedermans ding,29 sonder eine gnadengaab Gottes, als welcher glaube der sieg ist, der die welt überwindet;30 diß alles aber hat Christus zuvor gesagt: haben sie mich verfolget, so werden sie euch auch verfol-

22 Jes 29,13. 23 Vgl. II Kor 6,15. 24 Vgl. Philipp Jakob Spener, Pia Desideria, hg. v. Kurt Aland, Berlin 31964, 14,10–43,30; Wehrstand: 14,10ff; Nährstand: 28,4ff.; Lehrstand: 15,20ff. 25 Vgl. Dan 9,27; 11,31; 12,11; Mk 13,14par. 26 Vgl. Act 13,38f. 27 Vgl. II Tim 3,8. 28 Vgl. II Kor 1,22. 29 Vgl. II Thess 3,2. 30 Vgl. I Joh 5,1.

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gen:31 wer euch verfolgen, verweisen, verbannen und töden wird, der wird meinen, er thue Gott einen dienst daran.32 Was nun diser zeit geschihet, hat Christus zuvor verkündiget. Math C[ap]. X. so der bruder mit andacht lesen und in dem geist betrachten wölle; und bleibt also, was Christus sagt, Math V. v. 10,11. Selig sind, die um der gerechtigkeit willen verfolget werden, dann das himmelreich ist ihr: selig seit ihr, wenn euch die menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerleÿ böses wider euch, so sie daran liegen. Diß ist nun ein kleiner concept deß warhafftigen zustands heütiger religions-sachen, welche, wenn sie völlig beschriben werden solten, nit nur einen bogen, sonder einen ganzen risen33 papier occupieren würden; ist aber genug, wann man nit muthwilligerweise blind und verstokt sein will, um darauß zuerkennen, daß diejennige zulagen,34 so der bruder solchen glaubenslehrern als schmeichleren, betriegeren, aufgeblasenen neülingen irrgeisteren u[nd] zauberen zuschreibet, mit unrecht beschehen, und wäre zuwünschen, daß man dem Apostel [425] Paulo folgen thäte, welcher befohlen, alles zuvor zuerforschen und zu prüfen und ‹das› gute zubehalten,35 so würde man nit zu seiner zeit eine so grosse rechenschafft zu geben haben. Wenn man dann aber fraget, warum sie denn seÿ ind verurtheilet worden,36 so frag ich widerum: warum hat Cain seinen bruder Abel ermordet?37 Warum Esau seinen bruder Jacob verfolget?38 Warum Christus von den obersten priesteren und eltesten des volks verdammet?39 Viel sind berufen, aber wenig außerwehlet.40 Der weg, so zum verderben führet, ist weit und breit, und viel sind, die darauf wandlen. Der weg aber, so zum himmel führet, ist eng und schmahl, und wenig sind, die ihn finden, sagt Christus der Herr selbsten.41 Wer von der welt ist, der redet von der welt, und führet zu der welt. Wer aber auß Gott ist, der redet von Gott und führet zu Gott. Welcher partheÿ nun der bruder zugethan, endeket klar seine irrdische ermahnung; daß ich meinen beÿ jederman gehabten ruhm, ehr, ansehen und gunst nit so liederlich verscherzen wolle. Aber ô thorheit und blindheit, ist

31 Joh 15,20. 32 Vgl. Joh 16,2. 33 Das Ries, zwanzig Buch, ist eine Maßbezeichnung im Papierhandel. Vgl. Art. »Ries«, in: DWb, Bd. 8 (1893), 929f. 34 Attribute. 35 Vgl. I Thess 5,21. 36 Nämlich: im Pietistenprozess. 37 Vgl. Gen 4. 38 Vgl. Gen 27. 39 Vgl. Mk 14, 53–65parr. 40 Mt 22,14. 41 Mt 7,12f.

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die freundschafft der welt nicht Gottes feindschafft?42 Als ich der welt mich gleichgestellet43 und in derselben geheüchlet und ein unpietist ware, hat die welt mich geliebet, und der bruder sich gefreüet. Nachdem aber Gott, der Herr, durch seine wunderbahre gütte meine natürlich blinden augen eröfnet,44 den dummen verstand erleüchtet und mir in seinem geist zuerkennen gegeben, wenn ich nit mit der gottlosen welt ewiglich zugrund gehen wollen, ich selbige verlaßen und zu Christo meinem erlöser kehren soll: sihe, so aenderet daß blat auch. Und warum solten wir nit um seinetwillen alles aufgeben,45 was wir zuvor so mit freuden beseßen, [426] nach den worten des Apost. Pauli: was mir zuvor gewinn ware, so achte ich alles für schaden u[nd] koth um Christi willen,46 der mich geliebet hat, und muß hier gelten, was Christus sagt: wer vatter, mutter, bruder, hauß, hoff, ehr und ansehen mehr liebet denn mich, der ist mein nicht werth;47 alles was wir verliehren, daß wird in Christo tausendfältig wider gefunden;48 und muß ich mich um so viel mehr verwunderen, daß dergleichen zumuthungen vom bruder als von einem lehrer in Israel49 beschieht, deßen pflicht sein soll, jeder mäniglichen von der welt ab und zu Gott und nit von Gott ab und zu der welt zuführen, denn es sagt Christus: wer mein jünger sein will, der verlaügne sich selbst und nemme sein kreutz auf sich und folge mir nach und nit der welt.50 Heißt also wohl: wenn ein blinder den anderen leitet, so fallen sie beyde in die gruben.51 Und diß ist das lockmaß deß Satans gewesen, dadurch er Christum den Herren versucht hat, als er ihn auf einen sehr hohen berg geführet und ihme alle reich der welt und ihre herlichkeit gezeiget und gesprochen hat: daß alles will ich dir geben, so du niderfallest und mich anbättest. Math. 4 v 8,9. Gleichwie aber Christus zu ihm gesprochen: heb dich weg, Satan, also sprich ich auch auß seiner krafft im geist zu diser versuchung, hebe dich Satan etc. Über den einwurf so man gemeiniglich machen thut, ob ich dann meine, daß der oberkeitliche und regentenstand wider daß christenthum seÿ e, so antworte ich dißmahlen kürzlich dahin, daß gleichwie daß einte nit universaliter falsum,52 also auch der gegensaz nit universaliter verum,53 will sagen: 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. Jak 4,4. Vgl. Röm 12,2. Vgl. Mt 9,30. Vgl. Mk 10,28par. Phil 3,1.7. Vgl. Mt 10,37. Mt 19,29. Siehe oben Anm. 15. Mt 16,24. Mt 15,14par. Gänzlich falsch. Gänzlich richtig.

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wenn es mit einem regentstand durch corruption derzeiten so weit gekommen, [427] daß man sich eidlich verbinden54 soll, den worten und nahmen nach die wahre allein seligmachende religion55 zuhandhaben, in der that aber die, welche den glauben an Christum lauterlich und in der krafft predigen,56 zuverfolgen, heißet es dannzumahlen, man muß Gott mehr gehorchen als den menschen,57 und so ist es alsdann die höchste zeit, die hand abzuziehen, und sich davonzumachen, damit man nit in den gerichten Gottes, so unfehlbarlich kommen werden, mit aufgerieben werde, dann wer mit58 pech umgehet, der komt unbesudlet nit davon. Werde also deß außgangs mit freuden erwarten, und alles mit danksagung annemmen, was der Herr will, denn diser zeit leiden ist nicht werth der herrlichkeit, die an den kinderen Gottes soll geofenbahret werden59 an jenem großen tag, wenn Christus mit der herlichkeit seines vatters erscheinen wird,60 nit nur den anti=christen abzuschafen und den Satan anzufeßlen,61 der bißher die kinder der finsternuß verblendet,62 sondern auch sein triumph=reich, welches dißmahlen von den spöteren verlachet und verlesteret wird, mit seinen glaübigen aufzurichten.63 Diß ist daßjenige, was ich auß trieb meines gewüßens, und deß bruders künfftiger überzeugung unter der leitenden hand Gottes über sein schreiben in andtwort habe bedeüten wollen, mit freundlicher bitt um seiner und der seinigen seelen ewigem heil willen alles in liebe und [428] sanfftmuth unpartheÿ isch und ohnpraeoccupieret64 an der schrifft zuerforschen, und den alten saurteig65 der phariseeren und schrifftgelehrten fahren zulaßen,66 nit zweiflend, denn daß Gott beÿ aufrichtigem vorhaben die warheit zuerkundigen, und [?] auch seinen segen und geist geben werde, gleichwie anderen, wie ich dann den grundgütigen Gott bitte, daß Er ihme daß nothwendige licht darzu auß gnade und barmherzigkeit durch Jesum Christum schenken wolle, und verbleibe 54 Verpflichten. Anspielung auf den Assoziationseid von 1699, siehe oben S. 75. 55 Vgl. die erste der 20 antipietistischen Thesen von 1699, in: StAB, A I 462, 436–454, hier 436 [Lehrsätze / gezogen aus etlichen Articlen Helvetischer Confession / aus befelch Mnghh. Rhät und Burgeren aufgesetzt und under / dem praesidio der hochgeachten Herren der Religions Commitierten / von gesamter Geistlichkeit zu Bern und Herren Deputierten Capitulsbrüederen erleütert und in gegenwertige Zeit eingerichtet beschehen den 5. Julij 1699]. 56 Vgl. I Thess 1,5. 57 Vgl. Act 5,29. 58 Schreibfehler: »mich« statt »mit«. 59 Vgl. Röm 8,16. 60 Vgl. Mk 8,38parr. 61 Vgl. Apk 20,2 (für tausend Jahre!). 62 Vgl. II Kor 4,4; I Joh 2,11. 63 Vgl. Apk 20. 64 Unvoreingenommen. 65 Vgl. I Kor 5,7f. 66 Mk 8,14parr.

Briefe Bern, den Julÿ 1699

331 deß bruders nach dem fleisch verlohrener, nach dem geist aber in Christo widergefundener bruder67 Nic. Roht.

2. Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey, 23. September 1715 [Auszug]68 UB Basel, Johann Jakob Strohe69 an Johann Ludwig Frey70 Eschborn,71 23. September 1715 [5 Bl. 4°]

Hochachtbahr und wohlehrwürdiger Herr Doctor, sonders wohlgelehrter und berümhter Herr Professor, großgünstiger Herr und Patron! [. . .] Es werden sich Ihro Excell[enz] vielleicht noch zuerinnern wißen, wie ich mich einmahl verwichenen winter wegen der affaire gewißer inspirirten, so [1v] sich in hiesiger gegendt und dem meisten theil von Teutsch= und Hollandt befinden, unterredet, mein damahls erhaltener bericht begrieff meistentheils generalia,72 so daß die sach nach allen ihren umbständen ich nicht vortragen, mithin auch Ih[ro] Excell[enz] dero sentiment73 nicht völlig davon geben konte. Es ist 67 Vgl. Lk 15,32. 68 Ich verdanke den Hinweis auf diesen Brief Herrn Dr. Hanspeter Jecker, Basel. 69 Johann Jakob Strohe stammte aus der Pfalz, immatrikulierte sich am 29.5.1711 in Basel und schloss da sein Theologiestudium am 12.6.1715 ab. Vgl. Die Matrikel der Universität Basel, hg. v. Georg Wackernagel/Max Triet/Pius Marrer, IV. Bd.: 1666/67–1725/26, 415 [Nr. 2412]. Kurz vor ihm, am 17.3.1711 hatte sich Hieronymus Annoni in Basel immatrikuliert. Vgl. ebd. [Nr. 2410]. Strohe erscheint nicht in der Eschborner Pfarrerliste. Vgl. Theodor Niederquell, Die Bevölkerung von Eschborn 1650–1775: zur Sozialgeschichte und Demographie eines Dorfes im östlichen Vortaunus [Veröffentlichungen der Historische Kommission für Nassau, Bd. 34], Wiesbaden 1984, 372. 70 Zu Johann Ludwig Frey (1682–1759), der am 15.9.1711 Prof. für Geschichte und außerordentlicher Prof. der Theologie in Basel wurde und somit Lehrer von Strohe war, vgl. ebd., 273f. [Nr. 1595]; Otto Gass, Art. Frei, Frey [C. Kanton Basel], in: HBLS 3 (1926), 244f. hier 244; Ernst Staehelin, Johann Ludwig Frey, Johannes Grynaeus und das Frey-Grynaeische Institut in Basel. Zum zweihundertjährigen Jubiläum des Instituts, Basel 1947; Andreas Urs Sommer, Zwischen Aufklärung und Reaktion: Johann Ludwig Frey (1682–1759), in: ders. (Hg.), Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel 1747–1997, Basel 1997, hier: 33–50. 71 Ortschaft westlich von Frankfurt am Main. 72 Allgemeines. 73 Empfindung, Gefühl.

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sich warhafftig über dieße inspirirten zuverwundern, und lohnet sich der mühe wohl die sach, so viel es sich thun läßt, genau zuuntersuchen. Diese pretendirende74 inspirirten fast alle weiblichen geschlechts sindt mehrentheils von denen personen, welche ehe dießem unter dem nahmen der pietisten bekant worden, außer etlichen wenigen, welche sagen, daß dieser geist der weißagung damahls über sie gekommen, alß sie in den standt der widergeburt gesezt worden. Dieße inspirirte personen gerahten, bevor sie etwas in dem nahmen Gottes außprechen in eine große und fast entsezliche bewegung des leibs mit schüttlen, niderwerffen und beümmen des leibs, tretten und stampfen der füß, vagiren75 und klopfen der hände, schreÿ en etc. währender welcher zeit sie so schwerl[ich] athmen, daß man alle athem=züge wie weit hören kan; dieße bewegungen des h[eiligen] geistes /: wie sie solche nennen:/ haben nicht allein diejenigen, welche würklich das wort des Herrn außprechen, sondern auch andere, welche die gabe der würkl[ichen] außprachen nicht haben, wiewohl sie beÿ diesen lezteren so hefftig nicht sindt und mehrentheils in einem schautern und starckem schüttlen oder zukung des leibs bestehen, ohne einige andere bewegungen außer dem leib alß e.g.76 tretten mit den füßen oder stampfen oder hände vagiren77 zuverüben, nachdem aber jemandt solche bewegungen von sich verspüren läßt, hoffen sie die fernere gabe des außprechens oder weißagens werde auch baldt folgen, und ist solches bewegen schon ein gradus der übernatürlichen würckung des geistes Gottes. Wan nun die bewegungen an denen personen, welche die fernere gabe der außprache würcklich haben, eine ziemliche weile, doch zu unterschiedenen zeiten mit ungleicher währung etwan einer 4.stundt78 oder weniger, und mit ungleicher hefftigkeit einmahl mehr einmahl weniger angehalten, nachdem nemlich die sach, wovon sie reden werden, von wichtigkeit ist, wan sage ich dieße bewegungen eine zeitliche weile gedauret, fangen sie ahn zureden, entweder in 1. pers(ona) also: ich der H[err] etc. oder in 3. pers[ona] also: der H[err] sagt etc. Alles dasjenige, was sie außprechen, sindt entweder lehren /: verstehe dardurch alles, was den eigentlich genanten weißagungen von zukünftigen dingen entgegengesezt wirdt:/ oder weißagungen von zukünftigen dingen. Ihre lehren [2r] sindt nach unterscheidt der personen, welche sie anreden, eingerichtet, sindt aber in genere79 ernstliche und kräfftige ermahnun74 Vorgeben, behaupten. Evtl. in Anlehnung an die offizielle herabwürdigende Bezeichnung der Reformierten durch die französischen Behörden als Anhänger der »religion prétendue réformée«. Zur Bezeichnung der Inspirierten als »prétendus inspirés« vgl. Walter Grossmann, Elie Merlat, ein Hugenotte im Exil. Über wahre und falsche Inspiration, in: PuN 16 (1990), 102–111, hier 105. 75 Umherschweifen, -streifen. 76 D.i. exempli gratia: zum Beispiel. 77 Wie oben Anm. 75. 78 Viertelstunde. 79 Im Allgemeinen.

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gen zur buß, ernstlicher fortsezung des wercks der heiligung und beharrliche beständigkeit in dem guten, mit den allerfestesten gründen vorgestellet, es sindt abmahnungen vom bösen und allem heüchelwesen der so genanten christen, welches alles sie mit den kräfftigsten verheißungen und drohungen Gottes aus der h[eiligen] schrifft bekreftigen; kommen also warhafftig und in der warheit ihre lehren mit Gottes wort gänzlich überein. Ihre weißagungen gehen mehrentheils auff die zerstörung des geistlichen Babels /: das ist, des verdorbenen christenthums:/ welche durch den könig in Schweden mit beÿ hülffe der Türcken noch vor anno 1718. beschehen solle, da Gott die seinigen an den stirnen zeichnen würde, damit ihnen die feinde nichts thun, welche sie im gegentheil unter ihren schuz nehmen würden, worauff die samtliche fülle der heÿ den eingehen und Israel sich belehren werde, und weilen sie das tausendtjährige reich Christi glauben, so sezen sie dieses jahr zu deßelben anfang. Etliche wenige unter ihnen, haben neben der gabe der weißagung /: latius sumto hoc vocabulo80:/ auch die gabe, mit frembden sprachen zureden, ich habe zwar dergleichen keinen gehört, kenne aber einen gewißen strumpfweber,81 von welchem vernehme, daß er solche habe, anbeÿ sagendt, daß dieses die sprache eines ausländischen volcks seÿ e, wohin ihn Gott dermahleins verschicken wolle, und daß Gott in kurzem eben dieße sprach und die darin beschehene außprach durch ihn werde außprechen laßen, damit also auch die gemeinde, so ihn in hiesigen landen höret, dardurch erbawet werde. Sonsten gehen sie auff befehl Gottes, welcher allemahl laut ausgesprochen wirdt, auß in unterschiedliche stätt und länder, wie dan auch erst kürtzlich 4 aus Hollandt82 in hiesiger gegendt angekommen, so ist auch neülich eine inspirirte weibsperson83 en compagnie84 eines mans85 auff befehl Gottes nach Thun ins Bernergebiet verreißt [welches ihr vatterlandt],86 hat aber alldorten keine außprach offentl[ich] gehabt, hir zurückkommendt hat sie vorgegeben, daß Gott ihrer noch dißmahl verschont hätte, weilen er gewußt, daß sie würde haben leÿ den müßen, wäre also solches nur geschehen zur prüffung ihres gehorsams. Sonst ist zumercken, daß schon etliche dießen profetischen geist zusamt den bewegungen verlohren, solche gestehen daß es nicht der reine geist Gottes, sondern ein magisches werck seÿ e, welches den menschen überfalle, ohne deßelben [2v] natur und eigentliche beschaffenheit zuerkennen, obgedachte Schweitzerin ist auch unter diesen, und ist die sach also zugegangen: diese Schweitzerin hatte einsmahls eine außprach wider einen vormahls gewesenen 80 Dies Wort im weiteren Sinn gebraucht. 81 Johann Carl Gleim, vgl. Das Geschrey zur Mitternacht (1715 [recte: 1716]), 1. 82 Siehe oben S. 190 (Anm. 318). 83 Ursula Meyer. 84 In Begleitung. 85 Christoph Adam Jäger von Jägersburg. Siehe oben S. 104. 86 Meyer reiste Anfang April 1715 über Württemberg in die Schweiz nach Thun und kehrte spätestens Anfang Juli 1715 auf die Ronneburg zurück. Siehe oben S. 187ff.

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pfarrer im Württenberger landt87, welcher auch dieses inspirations=wesen vor göttlich erkant und auch würklich schon bewegungen hatte, in dieser außprach zeigte sie ihm auff göttlichen befehl ahn, daß der geist, welcher ihn antriebe, nicht von Gott, sondern eine eigengewürckte bewegung seÿ , der pfarrer leügnete dieses, sagendt, daß in ihm der geist Gottes, in ihr aber der falsche geist seÿ ; hierauff gerahtet die weibsperson in einen zimlichen zweifel, ob dan auch sie warhafftig eine »theopneusta«88 seÿ e? Da bekomt sie in einer außprach befehl, die wider den pfarrer beschehene und auff papier geschriebene außprach auff kohlen zulegen, würde sie ohnversehret bleiben, so wäre es göttlich, wo nicht, so wäre es falsch. Das papier aber ist verbrant, und sie erkennet dan, daß sie nicht theopn[eusta]89 gewesen seÿ e. Wan man von diesen inspirirten grundt ihrer göttlichen gesandschafft begehret, antworten sie, daß sie von dieser gesandschafft vollige versicherung in ihrem gewißen hätten, könten aber jemandt anders nicht obligiren,90 eben das zuglauben, man solle ihre lehren prüffen, woraus man verstehen würde, welcher geist durch sie rede, benebens solle man Gott bitten, daß er die erkantnus und versicherung, daß die sach göttlich seÿ , auch in derer herz legen wolle, welche sie hören. Ich habe mit einem ehemals gewesenen stud[ioso] theolog[iae] von Herborn, nachmahls pietisten, nunmehro aber gefährten der inspirirten91 gesprochen und ihn gefragt: ob er dann vestiglich glaube, daß diese inspirirten von Gottes geist getrieben reden, so daß die worte, welche sie sprechen, nicht menschliche, sondern Gottes ohmittelbahre worte seÿ en auff die weis, alß sie die inspirirten vorgäben. Er antwortete ja, und wäre er deßelben so fest überzeügt, daß er diesen seinen glauben auch mit seinem blut nach dem willen Gottes versiglen wollte, dieses seÿ e ja ein erfolg der weißagung Joelis 2:28.29 welche an dem ersten pfingsttag des n[ovum] t[estamentum] angefangen habe in die erfüllung zugehen Act. 2:17 welche auch fernerhin in der ersten kirche seÿ e continuiret92 worden 1.Cor 12 et 14 daß aber nach der apostolischen Zeit solches Gott gänzlich auffzuheben gesinnet, könne nicht bewiesen werden, zumahlen es nicht minder

87 Eberhard Ludwig Gruber. 88 Mit Gottes Geist Erfüllte. 89 Wie Anm. 88. 90 Verpflichten. 91 Es handelt sich vermutlich entweder um den Kandidaten Johann Eberwein Scriba aus Herborn, der mit Johann Jacob Schulthess (vgl. oben S. 181 [Anm. 271]) im Haus der Frau Castell in Schwarzenau wohnte (vgl. Hartnack, Schwarzenau 75), um Jacobus Conradus Frölich von Herborn, der sich am 2.11.1709 an der Hohen Schule in Herborn eingeschrieben hatte oder um Johannes Fridericus Cruciger aus Deciensis, der 1711 in Herborn studierte. Vgl. Die Matrikel der Hohen Schule und des Paedagogiums zu Herborn (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, V.), hg. v. Gottfried Zedler/Hans Sommer, Wiesbaden 1908, 154 (Nr. 3854) und 156 (Nr. 3898). 92 Fortgesetzt.

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nötig seÿ beÿ dem jezig großen verderben der christenheit und derer vielfältigen bauchdiener und reisenden wölffen. Ich fragte ferner, woher kan man aber wißen, daß in specie93 diese inspirirten solche sindt, welche Gott mit seinem geist begaben und durch sie reden [3r] will, woher bin ich versichert daß Gottes geist würcklich durch sie rede. Antwort: dieses kan man wißen aus 3 Stücken: 1. weilen die lehren und sachen so sie aussprechen mit Gottes wort überein kommen und demselben nichts zu wider in sich begreiffen, wie nun dieses nur beweißet, daß es möglich seÿ e, daß die sach von Gott ist, so sezte er hinzu: 2. weilen ihre außprachen sich an das herz der hörenden legitimiren, dieses ist obscur94 und ambigue95 geredet, fragte demnach was er dardurch verstünde, ob es so viel seÿ e: weilen etliche der hörenden es vor göttlich halten und davon überzeügt sind? Antwort: ja; doch erklärte er diese legitimation ferner noch also, die worte, die Christus redet, sindt krafft und leben Joh. 6:64 und das wort Gottes in genere96 ist lebendig und kräfftig, schärffer dan kein zweÿ schneidig schwert etc. wan nun jemandt Gottes wort gemäß redet und ich verspüre die effecten dieser krafft alß neml[ich] eine überzeügung von meinem elendem Zustandt, ein herzliches verlangen nach einem besseren leben und eine inbrünstige liebe zu Gott, so könne ich sicher schliessen, daß dieses wort ohnmittelbahr von Gott geredet seÿ . Dieses bewieste er mit dem exempel Christi, welcher ob er gleich eben die schrifft erkläret und die lehren gelehret, welche die pharisäer auch gelehret hatten, so ware doch das wort durch Christum alß der geist Gottes geredt viel kräfftiger, und legitimirte sich an dem herz der hörenden alß ein wort durch höhere alß menschliche krafft geredet en Matth: 7:28; Marc 1;22, Luc 4:32. So dan mit dem exempel der apostel, welche durch eine predigt viel mehr nuzen außgerichtet alß heütiges tags die prediger, welche doch eben die lehren verkündigen. Auff diesen zweiten grundt antwortete ich, 1. Es scheine, daß er confundire97 die characteres der warheit mit der überzeügung von der warheit, die überzeügung seÿ e kein character der warheit, dan auch ein Türck kan überzeügt seÿ n, daß der Mahomed ein profet ist; müßte also noch etwas anders seÿ n, woraus ich wißen muß nicht ob diese überzeugung an und vor sich selbst warhafftig seÿ e, sondern ob diese überzeügung seÿ e von einer warhafftigen sach. 2. Es scheine, daß er die predigt des evangelii gantz ohnkräfftig mache, es seye dan, daß Gott solche ohnmittelbahr außpreche 3. gabe zur antwort, daß man noch keinen ohnbußfertigen zeigen könne, welcher wäre durch ihr predigt bekehret worden, daß aber einige seelen dardurch ermuntert und in die liebe brünstiger wären gemacht worden, wäre sich nicht zu verwundern, weilen sie den samen der widergeburt das wort Gottes schon vorher, nach ihrer 93 94 95 96 97

Im Besonderen. Dunkel. Zweideutig. Im Allgemeinen. Vermischen, verwirren.

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eigenen bekantnus, in sich haben würcken laßen. 3. weilen er nicht glauben könne, daß Gott die liebe seiner kinder alß solche die inspirirten wären also solte umbtreiben und umführen laßen entweder von ihrem eigenen phantastischen geist oder vom teüffel, zumahlen da Gott seine kinder, die sie höreten, in die größte gefahr eines irrthums sezte, weilen ihre lehren im übrigen der schrifft gemäß wären; der irrthum wäre dieser, daß sie [3v] glaubten die personen wären von Gottes geist getrieben, die es doch nicht wären. Ich stellte ihm vor die bekantnus derer, welche von diesem wesen abgegangen sindt, Er antwortete: 1. deßen müßte man sich nicht verwunderen, dan Judas hätte auch evangelische warheiten gepredigt wie die übrigen apostel en Marc 3:14. So hätte auch Paul den geist des H[errn] gehabt, ob ich aber glaubte, daß sie dieses alles zur zeit ihres abfalls nicht vor falsche sachen gehalten hatten. 2. wüßten sie ja selbsten nicht, was es für ein geist seyë, solten also nichts affirmiren.98 Die Schweitzerin99 betreffendt, hätte solche Gott versucht und ein zeichen von ihm begehrt.100 Deßwegen er sie zu ihrem gericht hätte fallen laßen. 3. wüste ja ein jeder christ auß eigener erfahrung, daß der Satan fast niemahls feÿ re, auch die warheiten von welchen er die gröste versicherung gehabt zweiffelhafftig zumachen, und erhalte er solches wan der mensch nicht fleißig wache und bete.101 Ich sagte ferner daß dieße profeten einander refutiren,102 da doch des einten seine außprachen so wohl mit Gottes wort überein kämen alß des andern? Antwort: Gestehe gern, daß das weßen nicht gantz lauter, aber eben daraus schließe ich, daß etwas göttliches beÿ einigen seÿ , weilen sich der teüffel durch andere opponiret,103 und eine verwirrung anzurichten suchet, damit also das ganze werck zweiffelhafftig gemacht werde, wäre aber die sach gantz auß dem teüffel, so würde er in seinem eigenen geschäfft keine verwirrung machen. Except[io]104 Ich aber kan nicht wißen, welcher von beeden profeten indem ein jeder gute warheit redet, durch den trieb Gottes oder auß seiner eigenheit, oder vielleicht auch durch den trieb eines bößen geistes spricht /: dan auch der böse geist kan solches thun ex Act 16:18 muß also der wahre prophet etwas thun woraus ich schließen könne, daß Gott in ihm rede. Antwort: Solches ist nicht vonnöhten, mir ist genug, daß ich weiß, ob die lehre von Gott seÿ , ist nicht nöhtig die frag zu decidiren105 ob der welcher die lehre außpricht von Gottes geist immediate106 getrieben rede, und seÿ e solches deß98 99 100 101 102 103 104 105 106

Bekräftigen, bestätigen. Sc. Ursula Meyer. Vgl. Mt 4,7par. Vgl. Mt 26,41. Zurückweisen, abweisen. Entgegenhalten. Ausnahme, Einschränkung. Entscheiden. Unmittelbar.

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wegen nicht nöhtig, weilen die kinder Gottes die stimme ihres vatters kennten weilen sie den geist hätten der sie in alle warheit leitet, dan die weißagung geschehe nicht den unglaubigen sondern den glaubigen welche keiner zeichen bedarfften ex 1Cor 14:20 Es könne sich auch ein mensch sehr versündigen, wan er vor einem die Gottes nahmen freÿ mühtig außpricht starck auf deßen creditiv107 dringe, eben wie das exempel Jeremia cap. 20:12.13.14.15 [?], welcher sich doch durch ein wunderwerk am besten hätte können legitimiren108 weilen so viele falsche profeten damahls waren, habe aber auf nichts anderst provocirt109 alß auff das zeugnus seines herzens, und so seÿ e es auch heütiges tags, dieße profeten könten auff kein anderen beweißtum geben, alß auf das zeugnuß ihres gewissens und der schrifft, welche von der richtigkeit ihrer lehr zeügete, die aber, so sie höreten, müsten nicht so fest dringen auff wunderwercke, dan die könte auch ein falscher profet [4r] thun, alß Gott bitten, daß er die versicherung, so die inspirirten hätten, auch ihnen verleihen wolle. Ich bitte Ihr Excell[enz] wollen mir ihr sentiment110 hierüber geben. H[err] Professor Lang111 von Hall schreibt es, wie vernehme in einem herausgegebenen buche,112 dem teüffel zu. Ob es durch bloße menschliche kräfften vermittelst einer starcken imagination113 geschehen könne, ist schier unglaublich, dan etliche einfältige leüthe reden die schönsten sachen auß der schrifft mit schöner connexion114 und beredsamkeit, und zwar schüttlen sie mehrentheils die köpfe unter währendem reden so hefftig, daß man das angesicht nicht erkennet, da es sich dan gewißlich nicht meditiren läßt. Ob es aber Gottes geist thue, kan ich auch nach nicht glauben, weilen ich kein argument sehe das convinquant115 ist, dan Gottes wort gemäß reden und schon bekehrte menschen dardurch im tugendkampff auffmuntern, oder auch bekehren, von auch vermittelst ordentlicher gaaben des geistes geschehen. Frage demnach, ob es nicht der weißheit Gottes gemäß seÿ e solche bothen, wan er sie je schützen will, mit der krafft wurde zuthun außzurüsten, damit man sehe, nicht ob ihre lehr wahr seÿ e, wan sie anders mit dem geoffenbarten wort überein komt, sondern ob sie von Gott gesandt 107 Glaubwürdigkeit. 108 Berechtigen, ins Recht setzen. 109 Herausgefordert. 110 Wie Anm. 73. 111 Joachim Lange (1670–1744), vgl. Udo Sträter, Art. Lange, Joachim, in: RGG4 5 (2002), 70. 112 Es handelt sich um das eben erst von Joachim Lange verfasste Werk mit dem Titel »Nöthiger Unterricht von unmittelbaren Offenbarungen; Und zwar Erstlich insgemein; und dann insonderheit, Von den gantz sonderbaren Agitationibus, Inspirationibus et Effatis, Leibes=Bewegungen, auch vermeinten prophetischen Ein= und Aussprachen, Welche anfangs in Cevennes, einer Landschafft in Franckreich, entstanden, und hernach durch etliche Cevenneser in Engel= und Schottland, auch Hol- und Teutschland, fortgepflanzet worden: Zur heylsamen Prüfung und Warnung [. . .], Halle 1715. Vgl. oben S. 102f. 113 Einbildung. 114 Verbindung, Verknüpfung. 115 Überzeugend.

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seÿ en, und damit sie von den menschen könten fordern und heißen daß ihrer göttlichen sendung glauben zugeschrieben werde, welches dieße inspirirte gestehen daß sie es nicht thun können; dieße frag im gegentheil zu affirmiren116 scheinet zu streiten mit dem exempel Johannis welcher nie keine wunder gethan, und Jerem. ex Jer:cap: citato. dießer studiosus affirmirte117 ferner, daß es wohl geschehen könne, daß einer welcher zu weilen durch Gottes geist getrieben redet, zuweilen auß seiner eigenheit rede, dieses schließt er ex 1Thess 5:20 weilen sonst die prüffung nicht nöhtig wäre, wan sie allezeit durch Gottes geist redeten, und ex 2Sam 7:3 welches er der profet ohne zweiffel in Gottes nahmen würde außgesprochen haben, da es doch Gottes willen nicht geweßen daß David sollte ein hauß dem Herrn bauen; diese assertion118 [?] dahin, damit wan ein inspirirter von dem anderen refutiert119 wird, man nicht sagen könne daß er vorhin nie seÿ e von Gott getrieben worden; daß aber auch der gute geist der weißagung gar von einem könne genommen werden, beweißt er mit dem exempel Saulis et Judas, wan sich nemlich der mensch etwan überhebe, oder uff die einsprachen des geistes Gottes nicht genaw achtung gebe. Ja er sagt, wan schon ein profet lehren ausspricht in Gottes nahmen und auch weißagungen, und die weißagungen nicht erfüllt werden, so wäre solches kein argument, daß die lehren, so er außgesprochen, nicht immediate120 von Gottes geist seÿ en außgesprochen worden, welcher ein böses ascertio121 ist, und mit der erklärung Gottes Deut 18:20 nicht kan concidiiret122 werden. [4v] Es sindt einige, welche auß denen wunderlichen grimaßen der inspirirten ein argument wider ihre göttliche sendung herleiten, anziehende daß sich die liebe nicht ungebärdig stelle, und obgleich die profeten öffters alß Jeremias und im n[ovum] t[estamentum] Agabus123 vorstellungen gemacht hätten nun die sach so sie außprechen wollen desto beßer zu erklären, so wäre doch vermuhtlich solches nicht auß würckung Gottes, sondern auff befehl deßelben auß eigenen kräfften der natur geschehen, zugeschweigen daß sie beÿ allen außprachen, ja auch alßdan wan sie eine außprach vor sich allein gehabt, solten solche bickelhärings=possen124 gemacht haben. Aber sie antworten: Gott laße sich vom vernunffts=geist der menschen nicht gesätze vorschreiben.

116 Wie Anm. 98. 117 Wie Anm. 98. 118 Behauptung. 119 Wie Anm. 102. 120 Wie Anm. 106. 121 Wie Anm. 118. 122 Vereinbart, zusammengebracht. 123 Vgl. Act 11,28; 21,10. 124 Pickelhäring, bickelhering. Vgl. Art. »Bickelhäring«, in: DWb, Bd. 1 (1854), 1809. Bikkel=Zweispitz, Spitzhacke.

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Einige der pietisten /: dan sie halten es nicht alle vor göttlich / argumentiren auß diesen brodgrümlen125 ./. dieses wort der inspirirten habe wenig krafft, indem es nur etliche wenige sterke, welche schon warhafftig wären bekehret gewesen, erwecket, die stimme Gottes aber weiter auch die geistlich toden auß Joh 5 et Act 2. Wäre auch so überzeugendt, daß niemandt deßelben göttlichkeit würde können in zweiffel ziehen sonderlich von solchen seelen, welche wie sie, Gott schon erkant hätten. 2. Seÿ e es nicht probabel,126 daß Gott solche menschen zu einem so wichtigen amt destiniren127 würde, welche in den wegen des heils wenig erfahrung haben, und in der verlaügnung geringe profeity gemacht, mithin von dem teüffel starck versucht und also abfällig könten gemacht werden wie die erfahrung lehrete, so daß hernach das wort Gottes verlästert werde. Mein grundt, daß ich noch zur zeit ihre sendung nicht vor immediate128 göttlich erkennen kan, ist dießer, nicht weilen es nicht vonnöthen Gott aber nicht ernstlich alß in summo necessitatis casu129 etwas extra ordinem130 thue, dan Gott kan vermög seiner unaussprechlichen liebe beÿ dem fast aller orthen verdorbenen ministerio wohl ein solches thun, und hätten wir es mit dank anzunehmen; sondern weilen ich glaube, daß Gott alß ein allweises und allmächtiges weßen niemahls einen profeten, schicken könne, welcher, wan seine sendung kan den menschen in zweiffel anhangen: 1. thun diese profeten viele verheißungen von großer glückseeligkeit und ruhe von allen feinden so die frommen noch auff erden genießen würden, welche nun in der verläugnung ihrer selbst und der welt nicht weitgekommen, können sich hirdurch leichtlich in dem lauff der heiligung einschlaffen. 2. Remarquire,131 daß das bibeln leßen zimlich unter die banck komt beÿ denen, welche dießem weßen anhangen, meÿ nende, es seÿ e beßer auß der quelle selbst zuschoepfen, alß sich in dem bloßen vorbildt der heÿ lsaamen worten zubesiglen, und ist zubeförchten daß wan dießer probirstein den menschen aus den händen komt, endlich alle ihre außprachen vor göttliche warheiten angebetten werden, da sie doch in theti selbst gestehen daß sich vielunlauteres und menschenwerck mit einmischen könne. Ich bin versichert daß diese heÿ lsame arzneÿ auß keines menschen schaz beßer könne hergenommen werden, alß auß dem schaz der erfahrung Ihrer Excell[enz]. Undt wollte ich im fall Ihro Excell[enz] sich zu etwas dergleichen resolviren132 wollten, alle von dieser sach pro et contra, außgegebenen schrifften worin ich wenig vergnügung antreffe, Ihnen übermachen. [. . .] 125 126 127 128 129 130 131 132

Brotkrümel. Möglich. Bestimmen. Wie Anm. 106. Äußerster Fall der Notwendigkeit. Außerhalb der Ordnung, Außerordentliches. Bemerke, nehme wahr. Beschließen.

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Eschborn, den 23. September 1715.

Meines hochwürdigen Herrn Doctor und großgünstigen Patronen unterthänigst gehorsamster diener und discipul133 Johann Jacob Strohe

3. Brief des Dr. Johann Jakob Reich an Nicolay Bartmann, 25. März 1718 Senckenberg-Archiv, Frankfurt a. M., 3. Brief von J. J. Reich134 [Sign.: M 87e]

An den lieben Bruder Bartmann135

Laubach, den 5 Mertz 1718

Geliebter Bruder in dem Herren. Sein angenehmes schreiben vom 19 ten passato ist mir erst den 2ten dieses zu handen kommen, woraus ich ersehen, daß die lieben brüder auß deme, waß neülichst an den lieben Br. Dr. Carl, auff das an mich abgelassene (darinnen er gemeldet, daß wo ich noch einige dubia136 hätte, ich ihme solche berichten möchte) geschlossen: daß ich wiederum anderes sinnes geworden, alß ich beÿ ihnen auff der Ronnenburg gewesen. Alleine ich kann sie in auffrichtigkeit des hertzens vor Gott versichern, daß wie ich damahlen in der conferentz137 erbauet und auffgemuntert worden bin: ich seider138 der zeit hier nicht träger worden: sondern täglich ja stündlich in der gegenwart Gottes mit wachen und beten zu wandeln trachte, auch beÿ aller gelegenheit, die brüder hier zum ernst und wachsthum in der gnade und heyligung auffzumuntern suche; auch bißhero viele barmhertzigkeit und frieden vor Gott in meiner seelen empfunden und genoßen: worüber die brüder hier, wo es nöthig wäre, einiges zeugnis geben könten. Daß ich aber in oberwehnten schreiben an Br. Dr. Carl gemeldet: daß zu besorgen, daß es mit dieser neuen erwekung ergehe möchte, wie mit anderen vor unß mehr, solches streitet mit meiner gethanen bekantnus: daß ich nemlich auff das äußere zu viel gesehen, gar nicht, und bleÿ bet der grund beÿ mir feste und 133 Siehe oben Anm. 70. 134 Johann Jakob Reich (†1747) war Leibarzt der Grafen von Solms-Laubach. Siehe oben S. 164 (Anm. 59). 135 Zu Bartmann siehe oben S. 177 (Anm. 231). 136 Zweifel. 137 Vgl. oben S. 111. 138 Seit.

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unbeweglich: daß außer Christo kein heÿ l zu suchen, noch zu finden, und daß das reich Gottes inwendig zu suchen und zu erlangen seÿ .139 [1v] Weilen ihnen aber geliebte Brüder meine rede von der secte140 so anstössig vorgekommen, achte ich mich verbunden zu seyn, mich etwas deutlicher über diesen puncten zu erklären; alß in meinem vorigen geschehen; nicht auß meÿ nung oder sinn mit jemanden zu disputiren, sondern nur, daß man mich besser fasse und verstehe wie ich es eigentlich meine. Das wort secte heisset eigentlich eine trennung oder absonderung, und kan also in einem guten Verstande genommen werden; es wird aber auch zuweilen in einem harten und widrigen verstandt genommen, und von einigen wohl gar alß eine ketzereÿ . Nach dem ersten verstande kan man, ohne jemanden zu beleÿ digen sagen, daß jede absonderliche art der religion eine secte seÿ . Zum exempel die 3 grosse,141 und dann viel kleinere, derer Menonisten142 Quacker etc. Labadisten u. d. g.143 von welchen man mehrentheils sagen kan, daß sie einen redlichen grund und absichten gehabt. Das wort sectirer aber wird meines wissens allezeit in einem solchen verstande, vor einen solchen genommen, der alle andere religionen verwirfft und sich einbildet, man könne sonst in keiner anderen partie, alß in seiner selig werden, und alle andere alß ketzer ansiehet und gegen solche widerig gesinnet ist. So kan [2r] man nun wohl in einer secten stehen, und doch dabeÿ gar kein sectirer seÿ n. Der hauptpunct aber beÿ unserer frage wird nun darauff ankommen: ob diese unsere neue erweckung eine solche allgemeine144 seÿ e, wodurch sich eine gantz neue oeconomie des heiligen geistes,145 der grosse sabbath, das 1000=jährige reich unsers H[errn] Jesu Christi anhebe: oder ob es nicht nur eine etwas nähere particuläre zubereitung einiger seelen seÿ , das reich Gottes sonderlich inwendig in sich zu suchen; es seÿ e nun daß die allgemeine erweckung und außbreitung des reiches J[esu] C[hristi] nahe oder noch wohl 2 a 300 jahr ferne von unserer zeit seÿ e. Das letztere nun komt mir wahrscheinlicher vor alß das erstere. Dabeÿ lasse ich nun einen jeden nach seiner maas seiner erkantnus urtheilen, ob es unß nicht eben so ergehen könne, alß andern redlichen gottliebenden seelen, Quackern, Labadisten etc. Mann wird mir antworten, daß ein grosser unterscheidt zwischen unß und ihnen seÿ e. Alleine liebe Brüder ich will lieber hierüber nicht weiter disputiren: Es bleÿ bet mir genug, wann ich mein heÿ l und seligkeit in Christo finde und erhalte: wann ich gleich von dem anderen 139 140 141 142 143 144 145

Vgl. Lk 17,21 (Luther: Das Reich Gottes ist inwendig in euch). Vgl. oben S. 258 (Anm. 846). Die drei großen Konfessionen, Katholiken, Lutheraner, Reformierte. Mennoniten. U. d. g. = und dergleichen. Im Original doppelt unterstrichen. Siehe oben S. 14 (Anm. 14).

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keine feste gewißheit habe. Ich unterlasse aber nicht, den vatter der lichtern und geber aller guten [2v] und vollkommenen gaben146 beständig, inständigst anzuflehen, mir zu geben erlaüchtete augen des gemüthes147 umb zu prüfen, welches da seÿ sein heiliger wohlgefalliger und vollkommener guter wille;148 und mein hertze allezeit zu lencken, seinen heiligsten willen recht gehorsam und unterthänig zu werden und selben zu vollbringen. Hoffe also, sie werden mit meiner schwachheit gedult haben; und von mir keinen andern außdruck und erklärung begeren, alß es mir gegeben ist. Die liebe und der glaube Jesu Christi soll auff meiner seite, durch Gottes gnade, je länger je fester, beständiger und unpartheÿ ischer gegen alle menschen in mir gegründet werden. Daß man allezeit wachen und beten soll und muß,149 daß der listige feind einen nicht betrüge und übervortheile, damit bin mit dem lieben bruder und allen, die es ernstlich meinen, gantz einig; Gott erhalte unß dabeÿ beständig. Dessen ewigen liebe ihn sampt seiner frau und allen brüdern und geschwistern meinen hertzlichen gruß gantz erlassend, verharre Sein treu verbundenes mitglied JJReich Der liebe bruder wird dieses alle diejenige lesen und wissen lassen, denen es zu wissen nöthig, sonderlich die mitältesten auff der Ronneburg und Büdingen.

4. Brief des Nicolay Bartmann an Johann Friedrich Rock, 1718 Senckenberg-Archiv, Frankfurt a. M., Bartmann,150 Nicolay, Schneidermeister in Eckardshausen, Brief an Bruder Friedrich [Sign.: M 87e]

Lieber Bruder Friedrich! Br[uder] Fischer hat mir einen brieff von dir gezeiget, darinnen du mich einen falschen br[uder] heißest. So frage dich: was ich doch falsches an dir oder anderen begangen habe. Bistu du aber durch falsche zeugen, die mir auß bekandten ursachen nicht günstig geweßen, eingenohmen worden, was ver146 147 148 149 150

Vgl. Jak 1,17. Vgl. Eph 1,18. Vgl. Röm 12,2. Vgl. Mt 26,41. Zu Bartmann siehe oben S. 177 [Anm. 231].

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mag ich deßen, daß du nicht beßer über dein hertz gewachet hast, oder erst deinen br[uder] oder freundt deß wegen gefraget, ob es wahr oder nicht wahr seÿ e. Ich würde dir nichts verhälet151 haben. Ursel M152 hat es mir auß freÿ en153 gesaget, auch wann ich es verlangte, vor allen brüdern zu bekännen, daß sie dir viele falschheiten von mir beÿ gebracht hätte. Neuman154 aber und seine frau155 hetten dir graülige dinge von mir beÿ gebracht. Ob dem also ist, muß freÿ lig auß deinem begingen schließen. Fahre du nur fein hoch her und fodere auf zum streitt und krieg, weilen du lust darzu hast, wie es scheinet, ich aber nicht also, weilen ich weiß, daß unß die liebe allesampt im frieden beruffen hat, daß wir sollen einerleÿ gesinnet seÿ n, wie Jesus Christus auch war, und seine treue apostel und alle nachfolger, wie unß alle bekant bewißen haben. Hastu eine gute sach oder gabe von Gott empfangen, so sei du treu in [1v] derselbe und demütig auch beständig. Ich wünsche dir allen seegen von oben darzu von hertzen. Mögte nur das reich Gottes in allen menschen her vor grünen wachsen und sich auß breiden auf der gantzen erden, ich wolde mich deßen mit dir erfreuen und den gerne loben u[nd] danken für u[nd] für. Daß aber jetzo nicht so wir ehe deßen beÿ euch bin, bistu ja nit schuld daran, hastu nicht auf novembr. angefangen von hauß zu hauß zu gehen, um alle glieder der gemeinde vor mir zu warnen, hastu nicht nach F[rank]furt gebungen und andere orten geschrieben, um mich schwartz und verdächtig zu machen, und so lange mit anderen deines gleichen in widrigkeit gewürcket u[nd] gestanden, daß man sich genötiget gefunden sich eure zu enthalten, biß etwann eine andere zeit kommet, und die anstoßsteine, so sich zwischen unß geleget, wider außen wege geräumet seindt zu unsrer aller seÿ tigen besten und freude, welches ich von hertzen wünsche p.156 Der alte br[uder] Gruber157 hatte es auch gleich wie du gemachet in seinem langen brieff, den er an die zwei schwestern Meÿ erin158 geschrieben, darinnen er meines nahmens ohne ursach und nicht zum besten [2r] gedacht hat. Dann ich wegen seines sohns159 ja ohne schuld bin und Gott und menschen zu 151 Verschwiegen. 152 Ursula Meyer. 153 Aus freien Stücken=freiwillig, von sich aus. 154 Gottfried Neumann. Siehe oben S. 104. 155 Vgl. oben S. 174. 156 P. = perge = etc. 157 Eberhard Ludwig Gruber. 158 Helena und Ursula Meyer. 159 Johann Adam Gruber. Vgl. zum Konflikt zwischen Vater und Sohn, der Ende 1717 ausgebrochen war und 1718 Johann Adam Grubers Funktion als »Werkzeug« beendete: Donald F. Durnbaugh, Eberhard Ludwig Gruber & Johann Adam Gruber: A Father & Son as Early Inspirationist Leaders, in: Communal Societies 4 (1984), 150–160, hier v. a. 157f. Walter Grossmann (European Origins, 143) hält mit Verweis auf diesen Konflikt fest: »The society had a paternal or authoritarian side to it.« Johann Adam Gruber heiratete später gegen den Willen seines Vaters

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zeugen habe, daß ihme wegen abschied zu machen und in frieden von seinen lieben eltern zu reißen oder gar beÿ ihnen zu wohnen, recomendirt,160 das er auch so traurig damals geworden daß er in trenen zerfloßen und seine reiße zurücke gestellet, die doch fast beschloßen und alles schon bestelt geweßen ist, da durch habe verdienet alß er sich aber mal resolfirt161 zu reißen daß er ohne abschied ist fort gegangen, er ist und bleibet mir doch lieb und gedenke seiner im besten. Wehstu so in ruhe u[nd] frieden geweßen, wie der beschluß deines bittern brieffs lautet, du soldest meines nahmens nicht gedacht haben. Auch siehet man wohl, daß der wind eben so sanfft nicht wehet auß eurem schreiben, wann man an die tro und scheld worde162 gedencket, so ihr schon schriftlich alß mündlich gegen mich und andere außgelaßen, so nicht allein in die zeit sonder gar in die ewigkeit reichen sollen, so weiß man fast nicht, was man darzu sagen soll. Eÿ , lieber, wißet ihr denn nicht, oder wold nicht wißen, wes geistes kinder wir sindt oder seÿ n sollen under einander? Sehet ihr fehler und schwachheiten an unß, nach unserm schalcks aug163 könden wir derer so viel an euch sehen und anzeigen, alß ihr an unß finden werdet. [2v] Und halte davor, wann man unß bederseits164 würde gegen ein ander abwegen165 nach der gerechtigkeit, daß keines dem andern viel könnte von frömmigkeit oder heiliges vor zeigen, denn die früchte zeigen die beume an,166 wie weit es mit einem jeden gekommen in der neüen geburt etc.167 Du sorgest ohne ursach, alß suchte man ritter zu werden an der inspiration.168 Ich halte es der mühe nicht werd, meine zeit damit zu verbringen, und wann ich lust zum streitt hette, wie schon gedacht, so wolde dir deine eigne außprachen vorlegen. Dasoltu sehen und sagen müßen, dastu so wohl gefehlet alß andere deines gleichen, die so manchen fehlschoß gethan haben. Dieße sache ist ja nichts neues, dann schon vor 100 und mehr oder weniger jahren sich der gleichen genug hervor gethan hat, und haben wir ja in kurtzer zeit so viel erfahren müßen, daß was wir vor gottlich gehöret und [erkannt?] haben, dennoch sich falsch befunden worden, wie mir und dir und unß wohl und wanderte mit seiner Frau und zwei Kindern und in Begleitung von Gleim und Mackinet nach Germantown in Nordamerika aus. 160 Recomendirt = empfohlen. 161 Resolvirt = entschlossen. 162 Droh- und Schelt-Worte. 163 Schalksauge Mk 7,22 (Luther). 164 Beiderseits. 165 Abwägen. 166 Vgl. Mt 7,16. 167 Anklang an II Kor 5,17. 168 Vgl. die 2. Strophe von Gottfried Arnolds Babel Grablied [in: ders., Göttliche LiebesFuncken aus dem großen Feuer der Liebe Gottes in Christo Jesu entsprungen [. . .], Frankfurt a. M. 1698, Nr. 126], in welchem blosse »Quacksalber« »Ritter« werden wollen. Ritter bezeichnet eine Art Meisterschaft.

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bekant ist. Wir leben hier in dieser weld, da bald diße bald eine ander tragete169 gespillet wird und gutte und bößes sich her vor thut und offenbahret, da wir dann die erlaubniß haben alles zu prüffen und daß gutte zu behalten,170 was ich beÿ durchleßung der Bonedovia171 von dem lieben Commenius172 und ihrem damaligen zustandt angemercket hat mir wohl gefallen, indem einige, die sonst vor gutt die andern aber nicht gehalten hatten, als es ihnen aber ging, wie es uns auch gegangen ist, vereinigeten sie sich und beschloßen, von dieser sach weder pro oder contra zu sprechen, sondern in der liebe ihren kampf im glauben biß ans ende zu kämpffen. Vale,173 dein bekanter falscher br[uder] oder pietisten174 bidel175 wie du ihn ehmal u[nd] jetzo zu nehnen176 beliebet hast N. Bartmann

169 Tragödie (B. weiß nicht genau, wie man das Wort schreibt). 170 Vgl. I Thess 5,21. 171 Christina Poniatovia, böhmische Prophetin des 17. Jh.s. Vgl. Carl, Historische Umstände (1715), 20; Erfahrungs=volle Zeugnisse (1715), 16. 172 Amos Comenius (1592–1670) publizierte Prophezeiungen u. a. der Poniatovia in seinen Werken: Lux in tenebris, [Amsterdam] 1657, 21665 und Historia revelationum [Amsterdam] 1659. Vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, 395. 173 Lebe wohl! 174 B am Anfang in p korrigiert. 175 Büttel=Häscher, Scharfrichter. 176 Nennen.

Anhang Abkü rzungen

Abkürzungen Benutzte Abkürzungen, die nicht im Abkürzungsverzeichnis zur Theologischen Realenzyklopädie, hg. v. Siegfried M. Schwertner, 2., überarb. u. erw. Aufl. Berlin/New York 1992 verzeichnet sind: AFSt/H AP BAT BBB BBG BT BüdA CM HBLS HLS KTP PB PuN RELATION RM SBB StAB StAZH StUB UAHh WM ZB ZH

Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle a.d.S. Johann Rudolf Gruner, Acta Pietistica (BBB, M.h.h. X 62) Burgerarchiv Thun Burgerbibliothek Bern Blätter für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde Berner Taschenbuch Fürstlich Ysenburgisches Archiv Büdingen Chorgerichts-Manual Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz Historisches Lexikon der Schweiz Kleine Texte des Pietismus Policey-Buch der Statt Bern Pietismus und Neuzeit Hauptrelation der Religionskommission über das gegenwärtige Wesen, 1699 (StAB, B III 178) Raths-Manual der Statt Bern Sammlung Bernischer Biographien Staatsarchiv des Kantons Bern Staatsarchiv des Kantons Zürich Stadt- und Universitätsbibliothek Bern Unitätsarchiv Herrnhut Waisen-Manual Zentralbibliothek Zürich

Quellen-undLiteraturverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Handschriftliche Quellen Amana: Museum of Amana History, Research Library, Main Amana, Iowa, USA 1714–1715 [ff.], Bezeugung des Geistes des Herrn, 24 [ff.] Bad Laasphe: Fürst-Wittgensteinisches Archiv (Schloss Wittgenstein) Acta des Fürst Wittgenstein’schen Archivs zu Wittgenstein, N 72: Actum Schwartzenau den 4. Juli 1721 wurden die sämtlichen Schwartzenauer Einwohner vorgefordert und nachfolgender gestalt gefragt und notiret, 27v. Basel: Universitätsbibliothek Brief des Johann Jakob Strohe an Johann Ludwig Frey vom 23. September 1715, 5 Bl. Bern: Burgerbibliothek Burger Tauff Rodel Nr. X von 1671–1689 Todten-Rodel 1 (1719–1772) Mss.h.h. IX 127: Familienarchiv von Rodt (Nachtrag), Familienkiste 1, Nr. 13 Mss.h.h. X 62: Johann Rudolf Gruner, Acta Pietistica Mss.h.h. XII 60: Theses, oder Nohtwendige Lehrsäze und Erinnerungen teihls aus der Helvetischen Glaubens Bekantniß, teihls aus der Handlung des Berner Synodi, per consequentiam gezogen, und zu derer mehrer Erläüterung in gegenwertige zeit eingerichtet Mss.h.h. LII 9.1: Bernhard von Rodt, Genealogien burgerlicher Geschlechter der Stadt Bern, Bd. 2, 4 u. 6, Bern 1950, Bd. 2 [siehe: von Fischer], 44; Bd. 4, [siehe: von Rodt], 287–307, hier 292 [8.], Bd. 6 [siehe: von Wurstemberger], 224. [Mikrofichen] Bern: Staatsarchiv AI 462: Policey-Buch der Statt Bern (29.12.1691–11.12.1709) AI 464: Policey-Buch der Statt Bern (7.2.1710_–2.2.1723) AI 636: Gross eyd buch (1686 [sic]) AII 557 – 649: Ratsmanuale (1695–1715) BIII 151a: Acta capituli Bernensis 1648–1699 BIII 174: Manuale der Religionskammer der Stadt Bern (1723–1744) BIII 178: Hauptrelation der Religionskommission über das gegenwärtige Wesen, 1699 [= RELATION] BIII 195: Akten über Wiedertäufer & Separatisten im 18. Jahrhundert (1755–1786) BIII 604 – 618: Chorgerichts-Manuale (1700–1716) BXIII 443: Rodel weggezogener Mann- & Landrechte (1694–1754) Büdingen: Fürstlich Ysenburg- und Büdingensches Archiv Stadt und Land 24/182 b): PRIVILEGIA und Freyheiten / So Der Hoch=gebohrne Graf und Herr / HERR Ernst Casimir / Graf zu Ysenburg und Büdingen / etc.

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Anhang

etc. Allen denjenigen / welche sich in der Stadt und Vor=Stadt Büdingen häußlich niederlassen und bauen wollen / sub Dato Büdingen / den 29. Martii / 1712. Druck durch Bonaventura de Launoy, Hof- und Canzlei-Buchdrucker des Ysenburgischen Gesamthauses zu Offenbach am Mayn 1712 Ronneburg 175. 17: Eine daselbst vorgenommene Besichtigung derer Gebäude zugl. Eine Untersuchung derer daselbst wohnenden Beysaßen betrf. [17. Dezember 1740] 38 Namen (Familienväter und ledige Männer und Frauen) Dodenau/Eder: Kirchengemeinde Dodenauer Kirchen Buch [. . .] Angefangen Anno 1697: Bericht des Dodenauer Pfarrers Konrad Schlierbach Ebersdorf: Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine P. A. II R 8,7: Brief der Ursula Meyer an eine unbekannte Schwester vom 13. Februar 1738 Eckartshausen: Kirchenbücher Kirchen=Buch der Pfarreÿ Eckartshausen 1702–1756, enthaltend Geborene, Copulirte und Gestorbene Kirchen=Buch der Pfarreÿ Eckartshausen 1673–1715, enthaltend Taufen, Kommunion und Konfirmationen Frankfurt am Main: Institut für Stadtgeschichte Totenbuch der Stadt Frankfurt am Main Nr. 17 (1736–1743), S. 1220 (5.1.1743), Eintrag Caspar, Jacob. Totenbuch der Stadt Frankfurt am Main Nr. 17 (1736–1743), S. 1225 (15.1.1743), Eintrag Meyer, Ursula. Totenbuch der Stadt Frankfurt am Main Nr. 19 (1751–1754), S. 1076b (9.5.1754), Eintrag Meyer, Helena. Frankfurt am Main: Senckenberg-Archiv M 87e: Brief des Dr. Johann Jakob Reich an Nicolay Bartmann, 25. März 1718 M 87e: Brief des Nicolay Bartmann an Johann Friedrich Rock, 1718 Gotha: Forschungsbibliothek Chart. A 304, Bl. 713f.:

Brief des Ernst Wolf Neun aus Birstein an Herrn Stannarius, 13. September 1716 Chart. A 304, Bl. 717–723: Briefauszug Nikolaus Tscheers an die Freunde in Schwarzenau Halle: Archiv der Franckeschen Stiftungen D 41, 4 [94–103]: D 90, 418f.: D 90, 420–428:

Abbildung der allertugendsamsten, Frau Elisabetha Tscharner, eine geboren von Graffenriedt, Herren General u[nd] Venner Tscharners, zu Bern, Ehegemahlin Schreiben des Herrn Roth an seinen Bruder Niclaus Roth, Landvogt, Bern, den 20. Juni 1699 Antwortschreiben des Landvogt Niclaus Roth an seinen Bruder, Juli 1699

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Herborn: Privatbesitz Dr. Ulrich Bister Wilhelm Weck, Geistliche Liebesbrocken II (1771) Erniedrigungslauf eines Sünders auf Erden in und durch Gnade, oder Tagebuch von Johann Friedrich Rock [. . .] von 1715 bis 1746. Zusammengetragen zum Nutz und zur Erbauung der Glieder der wahren Inspirations=Gemeinde, Amana 1886 Herrnhut: Unitätsarchiv R 8 Nr. 35a:

Herrnhagisches Kirchenbuch

R 20 C 35d.81 Johann Samuel Carls Empfehlungsschreiben für die Herrnu. R 21 A 112a II 3: huter Boten, Berleburg, 25.7.1730 Marburg: Staatsarchiv Plesse-Archiv: Nachlass Cuno Nr. 77. Wächtersbacher Archiv [Kirchenbücher], Wächtersbach 1640–1761, hier: F 1237 Thun: Burgerarchiv 54–64: RM 4 (1643) – RM 9 (1709) 169–171: WM 2 (1685–1704) – WM 4 (1723) 504: Genealogia Civium Thunensium 1576–1886 508: Taufrodel 1578–1728 [Auszug von Johann Friedrich Deci] 1478: Sey-Rodel zu Thun, 1688–1714 o. N.: Deci, Johann Friedrich: Genealogieen der gegenwärtig florierenden und vorzüglichsten seit den zwei letzten Saeculis ausgestorbenen burgerlichen Geschlechter von Thun, Thun 1816 o. N.: Extract des Todten-Rodels der Statt Thun betreffend der burgerlichen Familien von allda [Auszug Johann Friedrich Deci], Thun o. J. o. N.: Schrämli, Johann Gottlieb: Chronik der Stadt Thun aus einer Menge authentischer, meistens Handschriftlicher Dokumente zusammengetragen [. . .], Bd. IX: 1700–1748, Thun o. J. o. N.: Lohner, Carl Friedrich Ludwig: Genealogien der vorzüglichsten seit 1600, ausgestorbenen burgerlichen Geschlechter von Thun, Thun 1822 o. N.: Aemter-Buch der Stadt Thun, bearb. durch Carl Friedrich Ludwig Lohner, Thun o. J. o. N.: Lohner, Carl Friedrich Ludwig: Chronik der Stadt Thun, Bd. 2, Thun o. J. Zürich: Staatsarchiv Kundschaften und Nachgänge, A.27.115: Antwort Speyer 10.10.1689

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Anhang

2. Gedruckte Quellen und andere Literatur a) Drucke der Inspirierten im 18./19. Jahrhundert1 [Fende, Christian (Hg., zugeschr.)] Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse / Welche Einige in Gott verbundene Freunde Von der so sehr verhassten und verschreyten INSPIRATIONS=SACHE / nach ihrem Gewissen / und wie sie vor GOtt und Menschen davon Red und Antwort zu geben getrauen / abgefasset; und an statt einer buchstäblichen Apologie gegen die weitläufftige Schrifften so von Hall und anderstwoher dagegen herauß gekommen / Jederman zur gründlichen und unpartheyischen Prüfung und Einsicht hiermit offentlich dargeleget haben, o. O. 1715. [Carl, Johann Samuel (zugeschr.):] Historische Umstände Zur Prüfung des Geistes Der so genannten Inspirirten und INSPIRATION; Ob das Werck von GOtt oder vom Satan sey?, o. O. 1715. [Gleim, Johann Carl:] Das Geschrey zur Mitternacht / Durch den Geist der Weissagung gewürcket und verkündiget / und jetzo Als ein Zeugnüß Der wahren INSPIRATION, jederman / Absonderlich denen Glaubigen / Zur Prüfung und Erweckung dargelegt, o. O. 1715 [recte: 1716]. [Groß, Andreas u. a.] Summarischer gründlicher Erweiss [. . .], o. O. 1715.2 –: Zweyter summarischer Erweiss, o. O. u. J. [1716].3 [Gruber, Eberhard Ludwig:] J. J. J. Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen INSPIRATION: auffgesetzt Von Einem Lichts=Genossen [. . .]., o. O. 1716. [Gruber, Johann Adam:] J. J. J. Buß=Weck= und Warnungs=Stimme / Welche der Geist der wahren INSPIRATION In dem Dietzischen / Zweybrückischen / Elsaß und in der Schweitz insonderheit erschallen lassen / Im Jahr 1716. und 1717. Durch Johann Adam Gruber / Begleitet von Sigmund Heinrich Gleim / und Blasius Daniel Mackinet; Nebst Vorausgesetzter Beschreibung Eines Vor dieser und anderer Aussendung auf der Ronnäburg in dem Büdingischen gehaltenen Liebes=Mahles [. . .], o. O. 1718. Davidisches Psalter=Spiel Der Kinder Zions / Von Alten und Neuen auserlesenen Geistes=Gesängen; Allen wahren Heyls=begierigen Säuglingen der Weißheit / Insonderheit aber Denen Gemeinden des HErrn / zum Dienst und Gebrauch mit Fleiß zusammen getragen / Und in gegenwärtig=beliebiger Form und Ordnung / Nebst einem doppelten darzu nützlichen und der Materien halber nöthigen Register / ans Licht gegeben [. . .], o. O. 1718.4 [Gruber Johann Adam:] J. J. J. Das Gebet des HErrn / Nebst der Göttlichen Antwort darauf / Erläutert Jn Unterschiedlichen Bezeugungen Des Geistes / Geschehen zu Leisingen und Battenberg Jm Berner–Gebieth / Jm December. 1716. [. . .], o. O. 1718. [Rock, Johann Friedrich:] J. J. J. Wohl und Weh / So der Geist der wahren INSPIRATION In Denen Schwäbischen Landen und Reichs=Stätten Insonderheit / Durch Jo1 Die folgende Bibliographie enthält nur von mir zitierte Quellen. Für ein beinahe vollständiges Verzeichnis aller Inspiriertenwerke mitsamt den Standortnachweisen vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten, 207–225. 2 Vgl. Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, 161 u. 193 (Anm. 397). 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. ebd., 187 (Anm. 298).

Quellen- und Literaturverzeichnis

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hann Friderich Rock / Sattlem / In Begleitung Unterschidlicher inn=ermeldter Gehülffen / Anno 1716. 1717. und 1718. Ausposaunen lassen, o. O. 1719. [Gruber, Eberhard Ludwig:] J. J. J. Kurtze und deutliche Grund=Sätze Von der Wahren allgemeinen Liebe; Zur Unterscheidung deren Von der Eingebildeten und Falschen. Um der Unberichteten willen Entworffen / Und nebst einem Anhang Etlicher Lieder Mitgetheilet, o. O. 1719. –: J. J. J. JEsus=Lieder Für seine Glieder / sonderlich Für seine Kleine und Reine / Die mehr im Wesen haben als im Scheine: Und ihre Freude und Weyde an seinem Nahmen und Saamen den sie empfangen / Und nach dessen Auffschluß in ihnen sie immer weiter verlangen; gelallet Von einem Der nur suchet wie Er der Ewigen Liebe Gefalle, o. O. 1720. Gemeinschafftliches Antwort=Schreiben auf Herr Georg Michael Preuen / (Lohn=)Dieners am (äussern) Wort Gottes in Oettingen / Falsche Prüfung des INSPIRATIONS=Geistes in Johann Friedrich Rocken / [. . .] von gedachten Rockens Consorten, o. O. 1720. J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario, Der wahren INSPIRATIONS–Gemeinden im Isenburgischen / dé Anno 1733 & 1735. Auf Verlangen guter Freunden / und aus besondern Ursachen heraus gegeben, Von einem Liebhaber der Wahrheit. [. . .], o. O. 1736. J. J. J. Fortgesetzte aufrichtige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gerneinden, Im Ysenburgischen / De Anno 1734=5= 6=7=und 1738. dem geneigten und abgeneigten / glaubigen und unglaubigen Leser / Zum Spiegel und Stachel, ans Licht gestellt, Mit GOTT, o. O. 1738. J. J. J. Aufrichtige und wahrhaftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. III. Sammlung / Innehaltend: Eine Reise durchs Würtemberger=Land und die Schweitz, etc. im Jahr 1738. geschehen / Auf Verlangen guter Freunden, der Welt / Samt Wahren und falschen Brüdern / Zum Zeugniß / ans Licht gestelt, o. O. 1739. J. J. J. Aufrichtige und warhaftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen DIARIO Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. IV. Sammlung / In sich haltend: Alle bisher an die Herrnhutische Gemeine und auch einige besondere Seelen ergangene Göttliche Zeugnüsse, Auf Befehl des Geistes des HERRN / dem Druck übergeben. Welchen, Zu desto deutlichern Erläuterung, die zwischen der Herrnhutischen und Inspirations-Gemeinen gewechselte Briefe, Auf vieler Ansinnen und Gutachten, beygefüget sind [. . .], o. O. 1739. J. J. J. Aufrichtige und wahrhaftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. V. Sammlung / Enthaltend: Einige besondere Oeffnungen Des Geistes des HERRN / De Annis 1715.16.17.18.19.20. An und bey Verschiedenen Orten und Gelegenheiten geschehen. [. . .], o. O. 1740. J. J. J. Aufrichtige und warhaftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. Vl. Sammlung / Worinnen Die Begebenheiten / so nach der IV. Sammlung / zwischen der Herrnhutischen und Inspirations-Gemeinen, im Jahr 1739. und 1740. etc. vorgefallen, etc. Ans Licht gestellet werden, o. O. 1741. J. J. J. Aufrichtige und warhaftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. VII. Sammlung / Worinnen zu finden Alle die Bezeugungen des Geistes des HErrn, so auf der Reise im Würtemberger= und Schweitzer=Land geschehen im Jahr 1741, o. O. 1741.

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Anhang

J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. VIII. Sammlung, Enthaltend: Einige Gefährlichkeiten nüt und unter Falschen Brüdern, o. O. 1742. J. J. J. Aufrichtige EXTRACTA aus dem Diario der wahren INSPIRATIONS-Gemeinden. Das ist: Auszüge Aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinden Vom Jahr 1733. biß 1742. Erste Sammlung. Auf Verlangen guter Freunde Und aus besondern Ursachen herausgegeben 1736. Nunmehro aber zum Zweytenmahl gedruckt, und mit vielen Zeugnissen vom Jahr 1735. bis 1742. vermehret. Nebst einer Zugabe bestehend in einem Nöthigen und Nutzlichen Gespräch von der Wahren und Falschen Inspiration, o. O. 21743. J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. IX. Sammlung, Worinnen zu finden: Die Bezeugungen des Geistes des HERRN, Welche nach der IV. und Vl. Sammlung im Jahr 1741.1742 und 1743. an die unter dem Nahmen bekannte Herrnhutische oder Mährische Brüder / Wie auch An die Glieder der so genannten Inspirations–Gemeine ergangen sind; [. . .] Zuletzt folgt: J. F. Rocks Tage=Buch bey seinem Bein=Bruch, o. O. 1744. J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA, Aus dem allgemeinen Diario Der Wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. II. Sammlung, Worinnen: Einige besondere Oeffnungen und Bezeugungen des Geistes des HErm zu finden, vom Jahr 1734.5=6=7= und 1738. [. . .] Bey dieser zweyten Auflage aber mit einer gründlichen Unterweisung Von dem Inneren Wort GOttes Vermehrt und heraus gegeben, o. O. 21745. J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. X. Sammlung, Worinnen man findet: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen Des Geistes des HERRN, In und über unsere Gemeinschafft / Der Jahre 1741.42.43.44.45. und 46. Und zuletzt: J. F. Rocks Tage=Buch, bey einem Besuch oder Reyß, bis auf Genf und in die Schweitz [. . .], o. O. 1749. [Rock, Johann Friedrich:] Lichte und Leichte, Auch Dunckele und Schwehre Stunden, Bey Mit=Berufenen Freunden und Feinden aus Gnaden gefunden, Auf der Reyß Biß nach Genf, und in der Schweitz. Nach dem innern Zustand und Zeugniß des Hertzens Einfältig und ohnverstellt aufgezeichnet In Fort=währendem Reisen, o. O. 1749. [= Anhang zur X. Sammlung] J. J. J. Aufrichtige und Wahrhafftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS-Gemeinen. XI. Sammlung, Enthaltend: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen des Geistes des HERRN, [ . . . ] Geschehen im Jahr 1721 und 1722. [. . .] Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß, Durch Schwaben in die Teutsche und Welsche Schweitz [. . .], o. O. 1749. J. J. J. Aufrichtige und wahrhafftige EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der Wahren INSPIRATIONS-Gemeinen XII. Sammlung, Worinnen zu finden: Bezeugungen des Geistes des HERRN, [. . .] Im Jahr 1723. ausgesprochen. Der Anhang ist: Ein Anfang des Erniedrigungs=Lauffs eines Sünders auf Erden in= und durch Gnade. Aufgeschrieben und hinterlassen Von Johann Friedrich Rock. [. . .], o. O. 1751. J. J. J. XIII. Sammlung Das ist: Der XIII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften Aufrichtig und wahrhafftig heraus geschrieben und in Druck gegeben. Enthaltend: Bezeugungen des Geistes des HErrn [. . .] Ausgesprochen im Jahr 1724. [. . .] Zuletzt wird beygesetzt Zu dem Erniedrigungs=Lauff eines Sünders auf Erden in= und durch Gnade, Was in einem Reyß=Büchlein nach Bayreuth, Breßlau und Prag etc. Aufgeschrieben von Tag zu Tag Von J. F. Rock, o. O. 1758. J. J. J. XIV. Sammlung, Das ist: [. . .] Der XIV. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften Aufrichtig und wahrhafftig heraus geschrieben und

Quellen- und Literaturverzeichnis

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in Druck gegeben. Enthaltend: Bezeugungen des Geistes des HErrn [. . .] Auf der Reyse ins Würtenbergische biß Schafhausen etc. Ausgesprochen im Jahr 1725. [. . .] Auf dem übrigen Platz ist ein Zusatz Von dem Erniedrigungs=Lauf eines Sünders auf Erden in= und durch Gnade, So auf obiger Reyß in einem Tag=Büchlein aufgeschrieben worden Von Johann Friederich Rock, o. O. 1761. XV. Sammlung, Das ist: Der XV. Auszug Aus denen Jahr=Büchem Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften Aufrichtig und wahrhafftig heraus geschrieben und in Druck gegeben. Enthaltend: Bezeugungen des Geistes des Herrn, [. . .] Ausgesprochen im Jahr 1726. Auch ein Bericht einer Ehelichen Verbindung in der Brüder Gemeinschaffts=Mitten. Von dem Erniedrigungs=Lauf eines Sünders auf Erden in= und durch Gnade: Reimelein, da im gefangen=seyn die Gnade floß mit ein. Und Unmittelbare Erweckungs=Umstände unter Indianern in Nord=America, o. O. 1764. Wege und Wercke Gottes in Indianern Oder Sogenannten Wilden und Heyden, meistens aus dem Minusive=Stamm oder Geschlecht in Nord=America nächst Pensilvanien, o. O. 1764. J. J. J. XVI. Samlung. Das ist: Der XVI. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften Aufrichtig und warhaftig heraus geschrieben, und von der Gemeinschaft ans Licht gestellt. Worinnen Bezeugungen des Geistes des HErrn [. . .] Hie und da in der Bruder=Mitten, und im Würtembergischen auf der Reyß Ausgesprochen im Jahr 1727. J. J. J. XVII. Samlung, Das ist: Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften Aufrichtig und warhaftig herausgeschrieben und zum Druck befördert. Bestehend in Bezeugungen des Geistes des Herrn [. . .] zur Unterscheidung des fremden, und Schlangen=Worts der Falsch=Inspirirten in der welschen Schweiz. Ausgesprochen durch Br. J. F. Rock auf der Reyse nach Geneve 1727. Zum Erniedrigungs=Lauf eines Sünders auf Erden in= und durch Gnade Br. Rocks Drittes Tag=Buch vom 25. May, biß zu End des Jahrs 1718. Sodann: Zweytes Stück Kurzer Historie der Inspirirten oder Propheten=Kinder etc., o. O. 1776. J. J. J. Dritte Sammlung oder Auszug, Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften; Aufrichtig und wahrhafftig heraus geschrieben. Enthaltend: Bezeugungen des Geistes des HErrn an erweckte und begnadigte Seelen in= und ausser unserer Gemeinschafft, Auf einer Reise durchs Würtemberger Land und in die Schweitz etc. im Jahr 1738. Der Zusatz ist bey diesem zweyten Abdruck: [. . .] Rocks Wahrheits= und Erfahrungs=volle Erzehlung; Wie Er zu dem besonderen Werck der Inspiration gekommen [. . .]. Endlich auch Seine allerletzte Göttliche Aussprache auch Sterbens=Umstände und Abschiedslied [. . .], o. O. 1777. J. J. J. [ . . . ] Treue und brüderliche Nachrichten von unseres nun in Gnaden still und friedlich entschlafenen, in und vor Gott herzlich geliebten Bruders Paul Giesebert Nagel. Im Anfang von Ihme selbst überschriebenen Schwächlichkeits= und leiblichen Krankheits=Umständen. Und dann weiter, wie Seine und unsere geliebte Mitverbundene Neuwiedische Brüder den übrigen Verlauf von Seinen letztem gnädigen Krankheits= und Absterbens=Stunden bis an die Beendigung Seines zeitlichen Lebens berichtet haben, o. O. [1779]. J. J. J. XVIII. Sammlung oder Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der wahren Inspirations= Gemeinschaften Redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn sind zu finden: [. . .] Ausgesprochen im Jahr 1728. Von J. F. Rock, o. O. 1780. J. J. J. XIX. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften, redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet.

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Anhang

Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn, Im Hoch=Gräflich=Ysenburgischen und Wittgensteinischen und auch bey einem kurtzen Besuch im Hoch=Fürstlich=Würtembergischen ausgesprochen, durch Johann Friedrich Rock. Im Jahr 1729, o. O. 1780. J. J. J. XX. Sammlung das ist: Ein Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften, redlich und aufrichtig herausgeschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn, in Unserer Bruder= und Gemeinschafts=Mitten, bey Versuchungs, Besuchungs= und Unterredungs=Vorfallenheiten, Proben, Arbeiten und mancherley Anliegen; Wie auch auf einer Reise und Besuch im Zweybrückischen geschehen und ausgesprochen im Jahr 1729. von Johann Friedrich Rock. 2. Thes. 3. Der Glaube ist nicht jedermanns Ding, o. O. 1780. J. J. J. XXI. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften, redlich und aufrichtig herausgeschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des Herrn [. . .] Ausgesprochen durch Br. Johann Friedrich Rock im Jahr 1730, o. O. 1781. J. J. J. XXII. Sammlung, oder Auszug, aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations= Gemeinschaften; redlich und aufrichtig herausgeschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn, Welche alle in der Gemeinschafts=Mitten hin und wieder ausgesprochen, bis auf Eine im Würtenberger=Land, allwo sechs Herrn Pfarrer etc. versammlet und gegenwärtig waren; welche auch alle mit dem Br. Johann Friedrich Rock, als dem Aussprecher gar wohl bekannt. Und geschehen im Jahr 1731, o. O. 1781. J. J. J. Aus dem Dunckelen ins helle Licht gestellet; nemlich: Bruder Johann Friederich Rocks Reise=Beschreibung, von der Ronneburg im Hochgräflich=Ysenburgischen über Bayreuth durch Sachsen=Land bis Breslau und zurück; Im Jahr 1723. bis im Jenner 1724. [. . .] Nebst denen auf der Reise geschehenen und auch übergebenen Aussprachen und Zeugnissen des Geistes der wahren Inspiration, o. O. 1781. Meyer, Ursula: J. J. J. Ein Himmlischer Abendschein, Noch am Feyerabend In und mit der Welt; Ans Tages=Licht gestellt. Zu Innigster Prüfung und Erweckung vor Sehende, und den Blinden, Lebende, und doch Todten; Im Reich der Gnaden und auch im Reich der Natur. Welchen der Geist der wahren Inspiration, durch Ursula Meyerin hat bezeugen und verkündigen lassen, o. O. 1781. A und O! Was schriftlich verwahrt, wird endlich hier durch den Druck offenbahrt; und ist die Gnädige und innige Erkantniß und Bekantniß nebst Wahrheitsvollen Kennzeichen und Gründen von der Göttlichkeit der wahren Inspiration, welche Br. Johann Adam Gruber, Der Brüderlichen Gemeinschaft von eigner Hand hinterlassen; da er im Jahr 1726. mit den Seinigen nach Pensilvanien abreisete, o. O. 1782. A und O! XXX. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften. Worinnen Bezeugungen des Geistes des HErrn, im Hochgräflich= Ysenburgischen, wie auch auf einer Reise und Besuch im Hochfürstlich=Würtenbergischen, bis auf Schafhausen. Ausgesprochen durch Br. Joh. Friederich Rock, o. O. 1783. J. J. J. Die XXXII. Sammlung. oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften vom Jahr 1736. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn, zu Chur in Graubünden, im Berner Gebiet an unterschiedlichen Orten, zu Basel, und zuletzt zu Ibenhausen im Hochfürstlich=Würtenbergischen; durch Br. Joh. Friederich Rock ausgesprochen, o. O. 1783. A und O! Die XXXI. Sammlung, Oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften vom Jahr 1736. Worinnen Bezeugungen des Geistes des

Quellen- und Literaturverzeichnis

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HErrn, An verschiedenen Orten [. . .] Auch auf einer Reise im Würtembergischen bis Augsburg. Durch Br. Joh. Fried. Rock ausgesprochen, o. O. 1784. J. J. J. Die XXXIV. Sammlung, oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften auch vom Jahr 1737. Worinnen: Bezeugungen des Geistes des HErrn [. . .] Durch Br. Johann Friederich Rock ausgesprochen [. . .], o. O. 1784. B. cum D! Die XXXV. Sammlung. Ist eine Beschreibung von Bruder Johann Friederich Rocks Reise und Besuch, Durch Bretten in der Pfalz, auch Würtenberger= und Schwaben=Iand bis auf Memmingen, im Jahr 1719. Seine zwey Reißgefährten waren Br. J. Fischer, und J. J. Schulthes als Schreiber. Und haben ganz unverfälscht [. . .] aufgeschrieben [. . .] von allen göttlichen Inspirationen oder Geistes=Aussprachen durch unsern nun in Gott ruhenden Br. Johann Friederich Rock, o. O. 1784. B cum D! Die XXXVI. Sammlung, Das ist Die zweite Fortsetzung von Br. Johann Friederich Rocks Reise und Besuch Im Jahr 1719. Von Memmingen über Co[n]stanz, Schafhausen, Zürch, Villmergen, Leutweyl, Birrweyl, Zoffingen und Burgdorf, ohnweit Bern. Und Br. J. J. Schulthes als Schreiber [. . .] nebst allen göttlichen Inspirationen und Geistes=Aussprachen, durch unsern nun in GOtt ruhenden Br. Joh. Fried. Rock, o. O. 1785. B cum D! Die XXXVII. Sammlung, Das ist Die dritte Fortsetzung von Br. Johann Friederich Rocks Reise und Besuch Imjahr 1719. Von Bern, Leisingen, Wimmis, Vivis und Lausanne. Und Br. J. J. Schulthes war allein Begleiter und Schreiber; weil Br. Rock alle göttliche Aussprachen und Bezeugungen in teutscher Sprache ausgesprochen, Br. Schulthes aber selbige auf Verlangen begnadigten Gemüthern, Freunden und Freundinnen, gründlich ins Französische übersetzen konte, welche die teutsche Sprache nicht verstunden; [. . .], o. O. 1785. B. cum D! Die XXXVIII. Sammlung, Ist eine Beschreibung und Fortsetzung von Bruder Johann Friedr. Rocks Reise und Besuch, Von Laussanne auf Morsee, Roll, Copet und von dorten auf Genf oder Geneve; im Jahr 1719., Sein Reißgefärth ware nun Bruder J. J. Schulthes alleine als Schreiber. Weil Bruder Rock alle göttliche Aussprachen und Geistes Bezeugungen in teutscher Sprache ausgesprochen; Bruder Schulthes aber selbige auf Verlangen gründlich ins Französische übersetzen konnte und übergeben; wurden aber zuletzt vom Herrn Syndico Jouet aus Geneve verwiesen, o. O. 1785. B cum D! Die XXXIX. Sammlung, Ist eine Beschreibung, Fortsetzung und Beschluß von Bruder Rocks und Bruder J. J. Schultes Reise und Besuch bis Geneve; In sich haltend die Rückreise vom ersten Januar 1720. bis den 24ten April [. . .], o. O. 1786. J. J. J. XL. Sammlung oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations= Gemeinschaften redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen Bezeugungen des Geistes des Herrn sind zu finden: Ausgesprochen in den Jahren 1738. 39. und 40. durch F. Rock, o. O. 1787. J. J. J. XLI. Sammlung oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations= Gemeinschaften redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen Bezeugungen des Geistes des Herrn sind zu finden: Ausgesprochen in den Jahren 1741.42.43.44. und 45. durch J. F. Rock, o. O. 1788. J. J. J. XLII. Sammlung oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations= Gemeinschaften Redlich und aufrichtig heraus geschrieben und ans Licht gestellet. Worinnen Bezeugungen des Geistes des Herrn sind zu finden: [. . .] Ausgesprochen in den Jahren 1746.47.48. und 49. durch J. F. Rock. [. . .], o. O. 1789. Von dem ersten Zustand des Menschen nach dem Bilde Gottes und wie er in Adam gefallen, aber in Christo wieder aufgerichtet werde aufgeschlossen in einigen höchstwichtigen

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Anhang

Bezeugungen des Geistes des Herrn wie auch von der Wiederbringung aller Dinge nebst 24 Regeln der Gottseligkeit und des Gnadenbundes, so die Glaubigen in denen Gemeinden zu beherzigen haben, Büdingen 1804. Scheuner, Gottlieb: Inspirations=Historie [. . .], 1. und 2. Teil, Amana, Iowa 1884.

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Personenregister Personenregister

Personenregister Aellen, Katharina 70 Aellen, Madlena 70 Albrecht, Ruth 33f. Allut, Jacques 96 Allut, Jean 96 Altheer, Ursula 44 Altmann, Johann Georg 314, 316 Alverdes, Paul 245–247 Ammann, Jakob 309 Anneler, Elsbeth 70 Annoni, Hieronymus 293, 312 Arndt, Johann 22, 58, 232, 234–237, 239f., 246, 249–252, 259, 261, 265f., 304, 310 Arnold, Gottfried 22, 131, 196, 231, 248, 255, 257 Arnoldi 79, 101 Asseburg, Rosamunde Juliane von der 228f., 247 Bachmann, Samuel 325 Barth, Karl 136 Bartmann, Anna 172 Bartmann, Nicolay, 177f., 180, 198, 208, 340–345 Baxter, Richard 56 Becker, Otto Heinrich 86f. Becker, Peter 90 Benad, Matthias 135 Benedict, Jungfer 275, 279, 284 Bengel, Johann Albrecht 225 Benrath, Gustav Adolf 198 Beutel, Albrecht 14 Biefer, Friedrich Wilhelm 313 Biermann, Pfr. 176 Blackwell, Jeannine 30, 248 Bodmer, Johann Heinrich 282, 293 Bodmer, Johann Jacob 27 Böhme, Jakob 64, 93, 220, 234, 248, 252, 262, 265 Bohni, Andreas 89 Bona, Johannes 64 Bonnet, Jeanne 282

Bourignon, Antoinette 64, 94 Bräker, Ulrich 27 Braun, Johanna Margaretha 166, 174 Breithaupt, Joachim Justus 22 Breitinger, Johann Jacob 27 Breuning, Conrad Ludwig 164, 166 Brühlmann, Andreas 295 Bühler, Andreas 278 Bülow, Johanna Sophie von 286 Bürki, Johann 76 Bürki, Jungfer 112f., 279 Canstein, Carl Hildebrand von 98 Carl, Johann Samuel 86, 103, 127, 131, 147, 155, 177, 209, 223, 285f., 313 Castell, Petrus 167 Cavalier, Jean 94 Charras, Elizabeth 98 Chifelle, Susanne 116, 119–121 Christ, Christian 278, 280, 284, 293–296 Christ, Jakob 295 Cirta, Fronto aus 73 Clairvaux, Bernhard von 247 Comenius, Amos 345 Corrodi, Heinrich 134, 210 Critchfield, Richard 31f. Cruciger, Familie 173 Cuno, Friedrich Wilhelm 116–122, 125 Dachs, Johann Jakob 72 Dante, Magdalena 44 Daut, Johann Maximilian 92 David, Christian 287 Deci, Johann Friedrich 38 Delius, Walter 97 Dellsperger, Rudolf 26, 30, 33, 54, 56, 68, 74, 80, 309, 316 Dick, Samuel 57f., 67f., 78, 80 Dippel, Johann Konrad 220, 225 Donadille, Jean-Jacques 75 Duill, Johann Niklaus 103, 105, 198 Durnbaugh, Donald F. 21, 25 Dusimetière 53

378

Personenregister

Duysing, Bernhard 214 Edelmann, Johann Christian 124f. Eggenberger, Oswald 321 Elsässer, Johann Jacob 104f., 163 Engeler, Peter 175 Ensign, Chauncey David 25, 210 Erb, Christian 167, 200 Erb, Johannes 56, 211 Erbach, Johann Ernst Graf von 84 Erbach, Johann Ludwig Graf von 84 Erbach, Marie Charlotte, geb. Gräfin von 84 Fage, Durand 75, 94 Fankhauser, David 41f., 44 Fankhauser, Rosina 41f., 44 Fast, Heinold 307 Fatio, Nicolas 96 Feller, Richard 55 Fiore, Joachim von 223 Fischer, Anna 314 Fischer, Beat 46–48, 54, 81 Fischer, Beat Rudolf 313 Fischer, Gottlieb Friedrich 179, 181 Fischer, Johannes 180, 209 Francke, Anna Magdalena, geb. von Wurm 97 Francke, August Hermann 22, 56–60, 90, 96–99 Frensdorff, Frau Rat 167 Freud, Sigmund 238 Frey, Johann Ludwig 21, 192, 331–340 Freylinghausen, Johann Anastasius 184 Friedrich II., König von Preußen 88 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg 85, 100 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 100 Frisching, Schultheiß Samuel von 244, 280 Frölich, Daniel 162 Fueter, David 314 Gasser, Rudolf 309–311, 315 Geyer, Johann Henrich 166, 170f., 178, 202, 209 Gichtel, Johann Georg 14, 97 Gipser, Caspar 166 Gladigow, Burkhard 142

Gleim, Heinrich Sigmund 148, 150, 177, 197, 206, 209 Gleim, Johann Carl 109, 113, 128, 130, 147, 152, 155, 171, 197, 199, 207f., 251, 253, 267 Gleim, Philipp 109 Goebel, Max 25f., 110, 135, 210, 272, 302f. Goertz, Hans-Jürgen 21f. Goethe, Johann Wolfgang von 27, 42 Goodman, Felicitas D. 139 Graffenried, Emanuel von 65 Graffenried, Maria Magdalena von, geb. von Werdt 65 Greyerz, David von 314 Groninger, Paul 281 Groß, Andreas 104f., 107, 163, 171, 313f. Gruber, Eberhard Ludwig 27, 101–110, 126–129, 140, 147, 164, 170, 190–194, 197f., 200f., 203, 208, 254, 258, 261, 263, 285f., 320, 334 Gruber, Johann Adam 29, 103, 105, 108, 110, 112f., 130, 148, 150f., 152f., 155, 166, 169, 197, 199, 204, 206–208, 251, 253, 259, 267, 277f. Gruner, Johann Rudolf 284 Güldin, Samuel 57f., 63, 68, 71, 74, 78, 80, 314 Guggisberg, Kurt 284, 308 Gunkel, Hermann 144 Guyon, Jeanne-Marie de 66, 94, 247 Hadorn, Wilhelm 26, 267, 294, 302, 308, 317, 322 Hag 109, 188f., 279, 304 Haller, Albrecht von 42 Harras, Elisabeth 279 Hartschi, Familie 76 Haug, David 104f. Haug, Johann Friedrich 104f. Helm, Christian 277 Herder, Johann Gottfried 27 Herrliberger, Felix 173 Hiel, Immanuel 64 Hirsch, Emanuel 23 Hoburg, Christian 22, 64 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 16, 79, 88f., 164, 167, 169, 195–198, 200, 216, 220, 225, 231, 234, 248, 281

Personenregister Hofer, Peter 66 Hoffmann, Barbara 21 Hoffmann, Eva Elisabeth 89 Hopf, Daniel 310 Hopf, Samuel 277, 307, 313 Horb, Johann Heinrich 57 Horch, Heinrich 109 Hottinger, Johann Henrich 253f., 267 Huber, Christen 294 Hünig, Franz 42 Hünig, junger 42, 44f., 274 Hugo, Susanne Catharina, geb. von Burckhardt 66 Irwin, Joyce L. 32f. Jäger von Jägersburg, Christoph Adam 104f., 163, 188, 333 James, William 13 Josuttis, Manfred 138 Jung-Stilling, Johann Heinrich 27 Karlstadt, Johann Andreas Bodenstein von 220 Käsemann, Ernst 322 Kaufmann, Susanna 309f. Kempen, Thomas von 64, 217 Kinet, Johann Melchior 167 Kissling, Elisabeth 312 Klingebiel, Thomas 93 Klöti, Thomas 47 Knecht, Johann Jakob 73, 196 Knopf, Daniel 66, 80, 112, 273, 284 Knopf, Frau 66 Knox, Ronald A. 18 Koch, Familie 76, 274 Koch, Frau 113, 279 Koch, Landschreiber 71 Koch, Johann Heinrich 38 Kocher, Kaspar 277 Köhle-Hezinger, Christel 30 König, Samuel 64, 71f., 73, 78f., 87, 90, 195, 219, 229–231, 249, 253, 257, 276, 280, 293, 307, 314 Kohler, Christen 312 Kohler, Hieronymus 312 Konstantin, Kaiser 256 Kracauer, Siegfried 20 Krafft, George Henry 79 Krahl, Theodor 291, 298, 300

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Kratzer, Christina 61, 109, 150, 284f., 304 Kratzer, Melchior 285 Krumm, Anna Maria 41, 44 Küng, Markus 53f. Küpfer, Ehepaar 275, 279, 284 Kyburtz, Abraham 309 Kyburtz, Adam 275, 279, 284 Lange, Joachim 103, 337 Lanzrein, Familie 76, 279 Lanzrein, Salome 279, 293 Lauth, Heinrich 176 Leade, Jane 64, 71, 94, 107, 229, 248 Lee, William 53 Lehmann, Hartmut 25 Lewis, Ioan Myrddin 139, 141f. Lind, Juliana 169 Locher, Heinrich 64 Lohner, Carl Friedrich Ludwig 38 Louis XIV 52, 72, 81, 227 Luginbühl, Christian 293 Luther, Martin 215, 266, 269, 311 Lutz, Barbara, geb. Fischer 314 Lutz, Christoph 57f., 72 Lutz, Johann Friedrich 314 Lutz, Samuel 28, 63, 66, 80, 112, 213, 277–279, 292, 294, 307, 309–315, 318 Mack, Alexander 89f., 156, 164, 167 Mack, Phyllis 94 Mackinet, Blasius Daniel 109, 140, 142, 148, 150f., 157, 194, 197, 204, 206, 208, 251, 304 Magny, François de 278, 283 Malacrida, Elisäus 62 Manuel, Carl 41, 45 Marchand, Abraham 96, 118, 130 Margrethli, blindes 61 Marion, Elie 94, 96 Marmor, Johann Heinrich 86 Marschall, Johann Ludwig von 314 Martin, Elisabeth Charlotta 169 Martin, Franz 169 Maser, Jungfer 275f. Matthes, Maria Elisabeth 96–100, 167, 198 Melber, Barbara 173f. Melber, Georg 103, 105, 166, 168, 173f., 199, 286 Melchior, Johanna Margaretha 101f., 104f., 107–109, 116–121, 304

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Personenregister

Melchior, Metzger 101 Mesmyn, Pierre 53, 71, 82 Meyer, Caspar [Grossvater] 42–44 Meyer, [Vater] 41–54, 71, 81 Meyer, [Bruder] 44, 48–51, 76, 82, 209 Meyer, Georg 44, 51 Meyer, Hans Ruprecht 43 Meyer, Helena 44, 49, 76f., 82f., 87, 101, 132, 197, 208, 272–274, 276, 279– 281, 301 Mirjam 191f. Morell, Helene 42, 44 Morell, Helfer 275 Mose 191f. Müller, Johannes 61, 80 Müslin, Johann Heinrich 275, 279f., 293, 307, 314 Muralt, Beat Ludwig von 27, 230, 282, 293 Mussart, Uhrmacher 163 Nagel, Paul Giesebert 152f., 156, 295, 303, 305f., 317 Neumann, Gottfried 90, 101, 104, 107, 147, 152, 171, 197, 281, 286, 301 Neumann, Frau S. E. 174 Neun, Ernst Wolf 254, 282 Nitschmann, David 313 Ösch, Andreas Franz 51 Paulus 237, 266 Pentaz, Anne Elisabeth de 66 Petersen, Johann Wilhelm 71, 78, 107, 220, 225, 228f., 231 Petersen, Johanna Eleonora 64, 71, 78, 107, 228f., 231, 255 Poiret, Pierre 64, 220 Poniatovia, Christina 345 Portalès, Charles 96 Pott, August Friedrich 97–102 Pott, Dorothea Sophia 99–102 Pott, Franziska Sophia Louysa 100 Pott, Johann Heinrich 100–102, 157 Pott, Johann Tobias 100–102, 107, 116–121, 304 Pretelli, Samuel 276f. Püntiner, Carl Anton 73, 196 Raschke, Joachim 69f.

Rauchbar-Lengsfeld, Juliane Charlotte geb. von 169 Reich, Johann Jakob 164, 169, 214, 340–342 Reichenbach, Samuel 308, 313, 315f. Reichle, Erika 32, 34 Reineck, Rat 15, 163, 171 Reitz, Johann Henrich 30, 248 Renkewitz, Heinz 297 Riedel, Friedrich 313 Ritschl, Albrecht 26 Rock, Anna Catharina 286 Rock, Jacob Friedrich 295f., 317 Rock, Johann Friedrich 15, 17, 27, 29, 83, 102f., 108, 113f., 124f., 129f., 132f., 146f., 148f., 152f., 155f., 177, 181, 183, 188f., 195, 198f., 203, 206–210, 236, 242, 251, 253, 259, 262, 267, 272–296, 299, 301f., 304, 307, 342–345 Rodt, Niklaus von 21, 78–80, 89, 195, 323–330 Rodt, Samuel von 21, 323–331 Römeling, Christian Anton 92 Rosenbach, Johann Georg 92 Roth, John D. 70 Rousseau, Jean-Jacques 42 Roux, Jean 53 Rubin, Johannes 38, 43, 53, 71, 76–78, 82, 113, 274 Rudolf, Johann Rudolf 72, 229 Schaer-Ris, Adolf 28 Scharffenorth, Gerta 32, 34 Scheuner, Gottlieb 35, 132, 194f. Schiess, Gemeindevorsteher 208f. Schlierbach, Konrad 73, 122–125, 140 Schlöpfer, Caspar 178 Schmid, David 315 Schmid, Georg 321 Schmid, Georg Otto 321 Schmidt, Frau Kammerrat 165 Schmidt, Jungfer 165f. Schmidt, Martin 23 Schmidt, Rat 164f. Schmitter, Samuel 319 Schmitz, Frau A. D. 174 Schneider, Hans 25f., 34, 85, 272 Schneider, Ulf-Michael 26f., 34f., 133, 151, 153, 303

Personenregister Schrader, Hans-Jürgen 26, 303 Schrautenbach, Ludwig Carl von 289 Schütz, Christoph 291 Schütz, Johann Jakob 57 Schuchart, Otto Rudolf Balthasar 287f. Schulthess, Johann Jacob 181, 210, 273, 275–285, 334 Schumacher, Samuel, 56–70, 72, 74 Schwanfelder, Johann Melchior 108, 188f., 279, 304 Schwartz, Hillel 95, 125, 193 Scriba, Johann Eberwein 181, 201, 334 Seebach, Christoph 168 Seitz, Gertrauth 176 Seitz, Johannes 176 Seuse, Heinrich 247 Shaftesbury, Anthony Earl of 27 Siebicke, Johann Christian 174 Sloterdijk, Peter 13 Solms-Laubach zu Wildenfels, Benigna von 86 Spener, Philipp Jakob 22f., 57, 86, 227f. Speyer, Johann Friedrich 62f. Speymann, Zephanias 169 Spori, Hans 278 Sprüngli, Anna Veronica 44, 48 Sprüngli, Daniel 44 Stähli, Familie 76 Stähli, Rudolf 49f. Stählin, Traugott 245 Stech, Theodor 99, 148f. Steiger, Christoph I. von 65 Stettler, Jungfer 66 Stettler, Michael 309 Stipp, Carl 147 Stipp, Caspar 197 Stoeffler, F. Ernest 212 Stolberg-Wernigerode, Christine, Gräfin zu 86 Stoll, Brigitta 64 Strauss, Johann Rudolf 62 Strähl, Frau 179 Strähl, Johann Justus 177 Strohe, Frau 171 Strohe, Johann Jakob 171, 192, 267, 331–340 Stübi, Christ 309, 311 Stübi, Hieronymus 309, 311f. Tauler, Johann 64, 108, 232, 250, 262

381

Teissier, Antoine 55 Tennhardt, Johann 15f., 92 Tersteegen, Gerhard 247, 255 Tertullian 223 Theissen, Gerd 226 Thierry, Jungfer 280 Thormann, Georg 56, 58, 61f., 67 Tiedemann, Jacob 99f., 102, 109 Trautmann, Frau E. M. 175 Treytorrens, Nicolas Samuel de 230 Tschanz, David 309–312, 315–317 Tscharner, Bernhard 65 Tscharner, Elisabeth 65f. Tscharner, Emanuel 65 Tscharner, Niklaus 65 Tscheer, Nikolaus 14–16, 19 Uckermann, Anna Catherina 109 Überfeld, Johann Wilhelm 14 Ulrich, Jacob 104, 109, 171, 178, 206–208 Undereyck, Theodor 57 Ungemut, Hans Georg 209 Vögele, Niklas 293–296, 317 Wagner, Eva Catharina 108, 168, 183, 197 Wagner, Johann 319 Wagner, Michael 108, 175 Wallis, Johann Georg 310, 314f. Wallis, Maria Barbara, geb. Deckler 314 Wallmann, Johannes 23, 56 Ward, Reginald 308 Wattenwyl, Albrecht von 313 Wattenwyl, Friedrich von 312–314 Wattenwyl, Gabriel von 277, 279 Wattenwyl, Johann Franz von 283 Wattenwyl, Nikolaus von 313 Wattenwyl, Salome von, geb. Tscharner 313 Weigel, Valentin 64 Weippert, Manfred 263 Werdtmüller, Familie 76 Werenfels, Samuel 280 Wernher, Philipp 292 Wernle, Paul 26–29, 210, 233, 308, 311, 317 White, Ellen Gould 138 Wickmark, Jonas 153, 155, 292–296, 303, 306 Wiesner, Merry E. 94

382

Personenregister

Willi, Daniel 292 Witt, Ulrike 30 Wittgenstein-Hohenstein, Anna Sophia, Gräfin von 167, 205 Wolleb, Johann Jakob 64 Wolters, Herr 61f. Wyss, David 72, 229 Ysenburg, Johann Ludwig, Graf von 84 Ysenburg-Büdingen, Ernst Casimir I., Graf von 85–88, 289 Ysenburg, Johann Ernst, Graf von 84 Ysenburg, Marie Charlotte, Gräfin von, geb. Gräfin von Erbach 84

Ysenburg-Wächtersbach, Ferdinand Maximilian II., Graf von 287 Ysenburg, Wilhelm, Graf von 17, 28, 86f. Zeerleder-Lutz, Margret 63, 66, 112, 276, 284, 307, 314 Ziegler, Hans Georg 70 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig, Graf von 17, 247, 272, 286–292, 299, 312–314, 316 Zurschmiede, Urs 80 Zwingli, Huldrych 215

Pietismus und Neuzeit Inhalt von Band 31 – 2005:

Hans-H. Krummacher: FriedrichWilhelm Krummacher und die Religionskritik des 19. Jahrhunderts / Ernst Koch: Die »Neue geistlich-fruchtbringende Jesus-Gesellschaft« in Rudolstadt / Wolfgang Sommer: Arndt und Spener. Die Predigten Philipp Jakob Speners über die Leittexte von Johann Arndts »Wahrem Christentum« / Marcus Meier: Der bekräfftigte ORIGENES. Origenesrezeption im radikalen Pietismus / Claudia Drese: Der Berliner Beichtstuhlstreit oder Philipp Jakob Spener zwischen allen Stühlen? / Hartmut Lehmann: Erledigte und nicht erledigte Aufgaben der Pietismusforschung. Eine nochmalige Antwort an Johannes Wallmann / Paul Raabe: Rede zur Vollendung der »Geschichte des Pietismus« / Friedrich-Franz Mentzel: »Wir sind Franckes lebendige Briefe und solange wir leben, auch lebende Denkmale seiner Treue«. Der pietistische Briefwechsel zwischen den Residenzstädten Berlin, Potsdam und Königsberg mit Halle.

Pietismus und Neuzeit Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Martin Brecht, Friedrich de Boor, Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Hartmut Lehmann, Arno Sames, Hans Schneider, Udo Sträter und Johannes Wallmann.

Band 31 – 2005 2005. Ca. 330 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-55903-8

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Christian Bunners, Martin Brecht und Hans-Jürgen Schrader

Band 45:

Band 47:

Ruth Albrecht

Martin Brecht / Paul Peucker (Hg.)

Johanna Eleonore Petersen

Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung

Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus 2005. 432 Seiten, gebunden ISBN 3-525-55830-9

Johanna Eleonora Petersen (1644– 1724) gehört zu den prägendsten Gestalten des frühen Pietismus und zu den produktivsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. Zeitgenössischen Pietismus-Kritikern galt sie als Inbegriff einer pietistischen Frau, die sich über alle kirchlichen und gesellschaftlichen Normen hinwegsetzte. Sie selbst kämpfte für das Recht von Frauen, sich zu theologischen Fragen zu äußern. Die Studie untersucht ihr von der Forschung bislang wenig beachtetes theologisches Werk. Petersen veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter Gebete, Andachten, theologische Abhandlungen sowie autobiographische Texte, und beschäftigte sich vorrangig mit Themen, die auch im Pietismus als umstritten galten. Dazu gehören der Chiliasmus und die Idee der Wiederbringung aller, der Apokatastasis.

2005. Ca. 296 Seiten, gebunden ISBN 3-525-55832-5

Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf und Pottendorf (1700– 1760) ist als Begründer der Herrnhuter Brüdergemeine eine der zentralen Figuren des europäischen Pietismus. Im Zentrum der internationalen Beiträge dieses Bandes stehen aktuelle Forschungen zur kirchen-, theologie- und literaturgeschichtlichen Einordnung Zinzendorfs sowie Untersuchungen zu wichtigen Vorgängen aus seinem Leben und Wirken. Daneben wird der Blick auf die wesentlichen Außenbeziehungen Zinzendorfs zu den Böhmen und Schwenckfeldern, zu den Engländern und den lutherischen Kritikern bis hin zu Goethe und Karl Barth gerichtet. Gemeinsam ist allen Beiträgen die Frage nach der Wirkungsgeschichte und der in die Gegenwart reichenden Aktualität Zinzendorfs.